Hungern – Hamstern – Heimkehren: Erinnerungen an die Jahre 1918 bis 1921 [1 ed.] 9783205206866, 9783205206569

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Hungern – Hamstern – Heimkehren: Erinnerungen an die Jahre 1918 bis 1921 [1 ed.]
 9783205206866, 9783205206569

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Damit es nicht verlorengeht … 69

Begründet von Michael Mitterauer. Herausgegeben vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien

Hungern – Hamstern – Heimkehren Erinnerungen an die Jahre 1918 bis 1921

Herausgegeben von Peter Eigner und Günter Müller

2017 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Titelseite: Im Kleiderlager der schwedischen Hilfsorganisation „Rädda Barnen“ (Rettet das Kind) in Wien I, Gonzagagasse (1920) Rückseite: Verabschiedung eines Kindertransports nach Schweden (1920)

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, 1010 Wien, www.boehlau-verlag.com

Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz und Layout: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20656-9

Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Szenen des Umbruchs Elise Kirchner (1862–1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 „Wie lange sie das noch so weitermachen wollen?“ . . . . 18 Karl Schovanez (1894–1987) . . . . . . . . . . . . . . . . 21 „Ich war furchtbar aufgeregt …“ . . . . . . . . . . . . . . 21 Ulrike Pilger (1902–1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 „Besser wir verfressen das Geld jetzt …“ . . . . . . . . . . 26 Anna Prath (1908–2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 „Meine Zeit ist morgen um …“ . . . . . . . . . . . . . . . 29 Marianne Jarka (1889–1980) . . . . . . . . . . . . . . . . 33 „Die hässlichste Zeit war der Übergang …“ . . . . . . . . 34 Gottlieb Pomberger (1892–1979) . . . . . . . . . . . . . 39 „So hüteten wir die Magazine …“ . . . . . . . . . . . . . 39 Anton Hanausek (1898–1984) . . . . . . . . . . . . . . . 45 „Alles zusammen eine grausliche Symphonie …“ . . . . 45 Als Zigarettenschleichhändler . . . . . . . . . . . . . . . 50

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Karolina Weiss (1893–1982) . . . . . . . . . . . . . . . . 52 „Die Grippe muss sich ausbluten …“ . . . . . . . . . . . 53 „Der Staub ist nur so gewirbelt …“ . . . . . . . . . . . . . 54 Alois Rezac (1892–1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 „Unser Oberleutnant ist ein anständiger Mensch“ . . . . 59 Leo Schuster (1889–1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 „Und nun stehe ich vor dem Nichts!“ . . . . . . . . . . . 64 Richard Seeger (1896–1997) . . . . . . . . . . . . . . . . 70 „Ich bin über all das so empört …“ . . . . . . . . . . . . . 70

Begegnungen mit einer veränderten Welt Paul Schinnerer (1869–1957) . . . . . . . . . . . . . . . . 75 „Meine Stellung hatte ich nun zum zweiten Male verloren …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Lotte Pirker (1877–1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 „So wurde ich eine der vielen Novembersozialistinnen …“ . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Hertha Günste (1882–1958) . . . . . . . . . . . . . . . . 107 „… aber wir spürten sie nicht so sehr“ . . . . . . . . . . 108 Oskar Kahn (1886–1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 „Jetzt war der Krieg wirklich aus …“ . . . . . . . . . . . 120

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Albert Lang (1892–1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 „… um auch im Hinterland meine Pflicht gegenüber dem Vaterland zu erfüllen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Adolf Gaiswinkler (1895–1967) . . . . . . . . . . . . . . 159 „Der Dank des Vaterlandes …“ . . . . . . . . . . . . . . 159 Richard Seeger (1896–1997) . . . . . . . . . . . . . . . . 170 „Zu dieser Zeit eine Ehe zu schließen war unmöglich …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Erzählungen vom Hungern und Hamstern Karolina Weiss (1893–1982) . . . . . . . . . . . . . . . . 185 „Wir essen Brennnessel, Katzen, Rüben …“ . . . . . . . 185 Maria Langegger (1908–2003) . . . . . . . . . . . . . . . 193 „Ich wurde zum Hamstern abgerichtet …“ . . . . . . . . 193 Marie Toth (1904–2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 „So klein und schwach ich war …“ . . . . . . . . . . . . 200 Leo Schuster (1889–1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 „Wir mussten diese Hamsterei bekämpfen ...“ . . . . . . 209 Ludmilla Fiala (1910–1995) . . . . . . . . . . . . . . . . 220 „Auf der Straße steht die hungernde Bevölkerung …“ . 220 Elsa Björkman-Goldschmidt (1888–1982) . . . . . . . 225 Mitten im Gewühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

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Szenen des Aufbruchs Anton Hanausek (1898–1984) . . . . . . . . . . . . . . . 239 Ohne Marken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Marie Toth (1904–2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 „Als ich 1921 im Konsum anfing …“ . . . . . . . . . . . 241 Karolina Weiss (1893–1982) . . . . . . . . . . . . . . . . 246 „Auch der Mut will gelernt sein!“ . . . . . . . . . . . . . 246 Annemarie Fossel (1905–2003) . . . . . . . . . . . . . . 249 „Dass Menschen und Völker so verschieden sein können!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Gustav Linert (1887–1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 „Das Volk wartete auf ein Wunder …“ . . . . . . . . . . 259 Ludwig Pullirsch (1897–1957) . . . . . . . . . . . . . . . 263 Der Krieg prägte mich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Peter Eigner Zwischen Umbruch und Aufbruch. Die Jahre 1918 bis 1921 in Selbstzeugnissen . . . . . . . 271 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

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Vorwort der Herausgeber Kriegs- und Krisenzeiten hinterlassen tiefe Einschnitte in ­Lebensgeschichten. Sie gehen mit Grenz- und Verlusterfahrungen einher, bedingen Trennungen und Brüche und prägen so nachhaltig die Biographien und Erfahrungswelten der betroffenen „Generationen“. Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert waren Kriegs- und Krisenerfahrungen auch entscheidende Antriebe für lebensgeschichtliches Schreiben – sei es ereignisnah in Form von Briefen und Tagebüchern oder retrospektiv in autobio­graphischen oder familiengeschichtlichen Texten, die das Erlebte biographisch reflektierend verarbeiten. Im Manuskriptbestand der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien, der seit Anbeginn den wichtigsten Fundus für Texteditionen in dieser Buchreihe bildet, lässt sich dieser Zusammenhang nach dreieinhalb Jahrzehnten des Sammelns von privaten Lebensaufzeichnungen deutlich erkennen. Überlassene Tagebücher beziehen sich in der großen Mehrzahl auf die Zeit der beiden Weltkriege, zu einem kleineren Teil auch auf die Krisenzeiten im Anschluss daran. Und nachträglich, oft erst im Abstand von vielen Jahrzehnten abgefasste Lebenserinnerungen räumen den zeitgeschichtlichen Zäsuren von 1918 und 1945 einen gewichtigen Stellenwert ein. Beide sind heute dank vielfältiger medialer Aufarbeitung als wichtige Wendepunkte im historisch-kulturellen Gedächtnis Österreichs verankert. Aber waren sie das auch schon zu Lebzeiten der Menschen, die noch aus eigenem Erleben darüber erzählen konnten? Welche konkreten Ereignisse und Wahrnehmungen dieser Zeit fanden in persönlichen Aufzeichnungen und Erinnerungen tatsächlich Niederschlag? Welche persönlichen Erfahrungen aus diesen Umbruchszeiten wurden schriftlich aufbewahrt und weitergegeben? 9

Einige der in den 1980er und 1990er Jahren erschienenen Bände dieser Buchreihe vermitteln bereits vielfältiges lebensgeschichtliches Alltagswissen rund um den Ersten Weltkrieg und dessen gravierende Auswirkungen auf das persönliche und gesellschaftliche Leben1. In drei Fällen werden thematisch entsprechende Textausschnitte aus früheren und zum Teil vergriffenen Bänden im Rahmen dieser Edition von neuem zugänglich gemacht; 2 in drei weiteren Fällen wird durch die Wiedergabe von kurzen Textausschnitten auf andere bemerkenswerte Publikationen3 über diese Zeit verwiesen. Der vorliegende Band legt aus Anlass des hundertjährigen Gedenkens an das Kriegsende und die Gründung der Ersten Republik im Jahr 1918 den Fokus auf persönliche Selbstzeugnisse mit Aussagekraft für die unmittelbare Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs; ihre Verfasser/innen haben die fraglichen Jahre überwiegend im Raum des heutigen Österreich verbracht. Leitlinie bei der Erstellung dieser Textedition war es, eine möglichst breite Palette von autobiographischen Texten aus verschiedenen Gruppen und Schichten der Bevölkerung zu präsentieren: schriftliche Erzählungen von Männern und Frauen, von Heimkehrern und Daheimgebliebenen, von Menschen unterschiedlichen Alters aus unterschiedlichen Herkunftsregionen, sozialen Herkunftsmilieus usw. Neben den im Bestand der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ deutlich überwiegenden Erinnerungstexten, die retrospektiv aus dem Blickwinkel und Erfahrungshorizont eines späteren Lebenszeitpunkts abgefasst wurden, verdient hier eine zweite Textsorte besondere Erwähnung. Vor allem Männer konnten sich bei der Niederschrift der autobiographischen Texte, die diesem Band zugrunde liegen, öfter auf eigene Tagebuchaufzeichnungen oder zumindest Kalendernotizen stützen. Die in der Zeit des Ersten Weltkriegs recht verbreitete Praxis des Tagebuchschreibens wurde nach Kriegsende zwar nur selten fortgeführt. In vielen Fällen 10

aber wurden Kriegstagebücher – de facto waren das häufig stark abgegriffene, mit Bleistift in winziger Schrift dicht beschriebene Taschenkalender – von den Verfassern selbst nachträglich ins Reine geschrieben. Im Zuge dessen wurden die Schriften meist auch überarbeitet, bisweilen ergänzt und abgerundet, um das eigene Kriegserleben möglichst umfassend in besser lesbarer Form zu dokumentieren und so die Überlieferung an die Nachkommen zu erleichtern. Abgesehen von den sich daraus ergebenden Abstrichen vom Originalcharakter eines Kriegstagebuches bedingt der Rückgriff auf erlebnisnahe Notizen zumeist doch entsprechend detailreichere Ausführungen über die Lebenswirklichkeit der Jahre 1918 bis 1921, als es in rein retrospektiven Aufzeichnungen der Fall sein kann. Allerdings erfordert ein solcher differenzierter Umgang mit eigenen autobiographischen Texten insgesamt eher eine fortgeschrittene Schreibpraxis der Verfasser/innen, wie sie sich unter den Angehörigen jener Generationen, die hier vornehmlich zu Wort kommen, doch vorwiegend noch in bürgerlichen Bildungsschichten fand (vgl. im Besonderen die Beiträge von Paul Schinnerer, Richard Seeger und Oskar Kahn bzw. Elsa Björkman-Goldschmidt). Außerdem lassen die Originaltexte von Adolf Gaiswinkler und Gottlieb Pomberger sowie die Erzählungen von Karolina Weiss zum Teil frühere diaristische Notizen als Grundlagen erkennen. Weitere drei Beiträge (Elise Kirchner, Albert Lang, Ludwig Pullirsch) geben Aufzeichnungen wieder, die relativ zeitnah zum Erlebten abgefasst wurden. Die Fülle an vorhandenen Textmaterialien erforderte einen pragmatischen Zuschnitt der vorgestellten Beiträge. Einerseits sollte die reale Bandbreite an persönlichen Erfahrungen so weit als möglich zur Geltung kommen, andererseits inhaltliche Redundanzen vermieden und wesentliche thematische Aspekte pointiert zur Darstellung gebracht werden. Dieser Band folgt somit nur zum Teil dem grundsätzlichen 11

Anspruch dieser Editionsreihe, persönlichen Erzählungen möglichst breit und originalgetreu Raum zu geben. Vielmehr wird in mehreren Abschnitten montageartig versucht, eine Auswahl von typischen Eindrücken und Erlebnissen rund ums Kriegsende, von häufig thematisierten Begleit- und Folgeerscheinungen des Krieges in szenenhaft verknappter Form zusammenzustellen. So etwa im einleitenden Abschnitt „Szenen des Umbruchs“, wo charakteristische Erfahrungen von der Auflösung der Fronten, von Heimkehr, von Verlust und existenzieller Not, von Krankheit, Gewalt und sozialen Konfliktsituationen in kurzen Episoden dargestellt werden. Desgleichen sollen mit den am Ende des Editionsteils stehenden „Szenen des Aufbruchs“ unterschiedliche Aspekte der Konsolidierung, der individuellen Verarbeitung und Neuorientierung oder sich abzeichnende neue gesellschaft­ liche Entwicklungslinien thematisiert werden. Die ausführlichsten Beschreibungen von allgemeinen Lebensumständen und individuellen Formen der Bewältigung der krisenhaften Nachkriegssituation finden sich in den Beiträgen des Abschnitts „Begegnungen mit einer veränderten Welt“. Hier soll die Gegenüberstellung von Erfahrungsberichten aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten die Auseinandersetzung mit den zahlreichen Herausforderungen des Alltags und die persönliche Identitätssuche unter materiell wie kulturell grundlegend veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen veranschaulichen. Ein ehemaliger Oberst der k. u. k. Armee, ein sozialdemokratischer Lehrer, ein Postbeamter und ein junger Leutnant, der erst drei Jahre verspätet sein angestrebtes Studium beginnen kann, berichten über die Umstände ihrer Heimkehr und ihre Bemühungen um die Neuordnung des Lebens. Ergänzt werden ihre Geschichten durch die Erzählungen zweier Offiziersgattinnen, die höchst unterschiedliche Lebenskonzepte zu realisieren versuchen, und eines Mannes, der aus einer relativ gesicherten familiä12

ren und beruflichen Situation heraus, die er sich während der Kriegsjahre erarbeiten konnte, die Geschehnisse rund um sich kritisch beobachtet und kommentiert. Sämtliche persönlichen Erzählungen über die Jahre 1918 bis 1921 drehen sich in irgendeiner Form um die zentrale Frage der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern. Angehörige aller Bevölkerungsschichten mussten Abstriche bei der Ernährung und anderen elementaren Bedürfnissen in Kauf nehmen und sich mit der Situation des Mangels auf allen Gebieten auseinandersetzen. Die unter dem Titel „Erzählungen vom Hungern und Hamstern“ zusammengefassten Geschichten sollen die Omnipräsenz dieser Thematik unterstreichen und einige prägnante bzw. wiederum divergente Perspektiven dokumentieren. Die Sicherung des Lebensunterhalts in einer Situation des allseitigen Mangels stellte für Mitglieder ehemals gutsituierter Familienhaushalte eine andere Herausforderung dar als für Personen, die das „Nagen am Hungertuch“ schon von Kindheit an gewohnt waren. Personen, die überhaupt nur durch eigene Hamstertouren ihr Überleben sichern konnten, oder Personen, die sich selbst aktiv im Schleichhandel be­ tätigten, werfen einen anderen Blick auf ihren Existenzkampf als ein Vertreter der Exekutive, dessen Hauptaufgabe in jener Zeit darin bestand, derartige Aktivitäten zu unterbinden. Entsprechend „gelassener“ und vielschichtiger fällt die Be­ urteilung der damals herrschenden Verhältnisse aus der Sicht einer Vertreterin der schwedischen Hilfsaktionen für die notleidende Bevölkerung im Nachkriegsösterreich aus. Diese thematische Gliederung des Bandes bringt es mit sich, dass manche Verfasser/innen mit mehreren Beiträgen an unterschiedlichen Stellen des Bandes vorkommen. Kurze biographische Informationen über die Schreiber/innen, Anmerkungen zur Entstehung und Beschaffenheit der Originaltexte sowie allfällige weitere editorische Notizen werden in einem Vorspann jeweils dem ersten bzw. Hauptbeitrag einer Person im Buch 13

vorangestellt. Als Beitragstitel wurden, sofern nicht von Autorenseite ein Titel vorlag, von uns kurze aussagekräftige Zitate aus den Erzähltexten ausgewählt. Die Reihung der Beiträge erfolgte teilweise nach dem Geburtsjahrgang der Schreiber/ innen, im Bereich der „Szenen“ wurden Texte stärker nach inhaltlichen Kriterien nebeneinander platziert, um Parallelitäten oder Kontraste besser sichtbar zu machen. Heute nicht mehr gebräuchliche fach-, fremd- oder umgangssprachliche Begriffe sind im Text mit einem Sternchen gekennzeichnet und werden in einem Glossar am Ende des Buches erläutert. In einem Nachwort werden allgemeine historisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Jahre 1918 bis 1921 skizziert und auf manche sozial- oder zeithistorisch bedeutsamen Aspekte in den autobiographischen Beiträgen hingewiesen. Wie bei jeder wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit persönlichen Erzähltexten gilt es, aus der Fülle der dargebotenen Einblicke in bestimmte Lebensausschnitte Individuelles und Verallgemeinerbares herauszuarbeiten, unterschiedliche Positionen und Perspektiven zu verdeutlichen. Mit dieser ergänzenden Zusammenschau von Eindrücken aus den persönlichen Erlebnisberichten hoffen wir, einige Anregungen zur genaueren Lektüre geben und zum Verständnis der historischen Lebenswirklichkeit in Österreich an der Wende von der Monarchie zur Republik beitragen zu können. 1 Neben einigen Monographien mit den schriftlichen Lebenserzählungen von Anfang des 20. Jahrhunderts geborenen Personen sind besonders zu erwähnen: Christa Hämmerle (Hg.): Kindheit im Ersten Weltkrieg (1993) und Hannes Leidinger/Verena Moritz (Hg.): In russischer Gefangenschaft. Erlebnisse österreichischer Soldaten im Ersten Weltkrieg (2008). Der Band „Des Kaisers Knechte. Erinnerungen an die Rekrutenzeit im k. (u.) k. Heer, 1868 bis 1914, herausgegeben von Christa Hämmerle 2012, beleuchtet die Praxis der militärischen Ausbildung in der Habsburgermonarchie als eine strukturelle Vorbedingung für den Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg. 2 Vgl. die Beiträge von Leo Schuster, Richard Seeger und Marie Toth. 3 Vgl. die Beiträge von Elsa Björkman, Anna Prath und Ludwig Pullirsch.

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Szenen des Umbruchs

Elise Kirchner ( 1862 – 1938 ) wurde als Elisabeth Huber am 13. Juli 1862 in Kramsach in Tirol geboren. 1884 heiratete sie in Brixlegg den Junglehrer Hans Kirchner, geboren am 24. Dezember 1856. Etwa zur selben Zeit legte Hans Kirchner eine Familienchronik an und stellte sie unter das Motto „Kinder! Es war stets unser eifriges Bestreben, Euer leiblich und geistig Wohl zu pflegen.“ Dementsprechend nehmen Eintragungen über die Geburt und das Heranwachsen der sieben Kinder, über persönliche Eigenheiten, Lernfortschritte, Krankheiten usw. in dem Buch großen Raum ein. Als jüngster der vier Buben und drei Mädchen wurde Sohn Hermann am 2. November 1899 geboren. Als Hans Kirchner nach einer Operation im Juni 1913 überraschend an Blutvergiftung verstarb, führte seine Witwe Elise, wenn auch anfangs zögerlich, in seinem Sinne die Familienchronik weiter. Die weiteren Aufzeichnungen sind von Angst und Verzweiflung der Frau über den Beginn und die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf ihre Familie geprägt. Als ihr jüngster Sohn Hermann im Frühjahr 1918 eingezogen wurde, waren ein älterer Sohn und der Verlobte einer Tochter bereits im Krieg umgekommen. Die „Cronik der Familie Hans Kirchner“ umfasst 86 handschriftliche Seiten, wurde von Marilen Wallner, einer Enkelin, transkribiert und 2013 für Bildungs- und Forschungszwecke zur ­Verfügung gestellt. Der folgende Beitrag gibt die letzten beschriebenen Seiten des Buches wieder.

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„Wie lange sie das noch so weitermachen wollen?“ (...) Die Weihnachten [1917] verbrachten wir, so gut es die traurige Zeit erlaubt. Fräulein Elli Jäger war zu Gast bei uns, und wir bemühten uns, keine Trauer aufkommen zu lassen. Auch Silvester verbrachten wir gut, sogar Blei gegossen wurde. Wenn ich nur nicht immer so Angst um meine Buben hätte! Besonders um Hermann, weil der sich gar nicht helfen kann und auch auf Enthebung nicht rechnen kann. Wird er behalten, so muss er weiß Gott wie lange bleiben, doch das würde ich ertragen, wenn er nur nicht hinaus müsste. Zweimal wurde er zurückgestellt wegen allgemeiner Körperschwäche, im März muss er sich wieder stellen. (Innsbruck, am 30. 1. 1918) (...) Wann werde ich dieses Buch auftun, um wieder einmal etwas Freudiges einzuschreiben. Heute und wohl länger nicht. Am 15. Mai muss Hermann einrücken, der arme, schwache Kerl, der mitten im Wachsen ist. Müsste ich jemand meine Gefühle beschreiben, es wäre unmöglich. Es ist, als ob ein großer Stein auf mir läge und mich langsam erdrücken möchte. Man will uns langsam aushungern. Wir bekommen für Woche und Kopf 6 Deka Butter, 25 Deka Polenta, 40 Deka Fleisch, ein Achtelliter Milch, alle vier Wochen für eine Karte 10 Deka Käse und ½ K. Marmelade. Ob da ein Mensch leben kann, lasse ich der Beurteilung der Nachwelt über. Würde die Verteilung nach Gerechtigkeit geschehen, hätten wir alle genug, aber da fehlt es eben. Die Sorge, was und wie koche ich, zu all dem anderen, macht einem wirklich so viel Kopfzerbrechen, dass man schon ganz müde wird. Das ganze Geld brauche ich nur zum Essen und es reicht nicht, mit was werde ich nur dem armen Hermann helfen, der beim Militär auch Hunger leiden muss. Mit Angst und Sorge denke ich an die Zukunft; was wird sie uns noch alles bringen (28. 4. 1918) Am 14. Mai fuhr mein Hermann nach Salzburg ab und kam am 15. schon nach Wels. Am 17. war Assentierung* und 18

er ist C-diensttauglich, also kann er in den Kanzleien herumsitzen, der arme Bub. Vorher fuhr er noch zu Elsa und Hans nach Bischofshofen und Lend, wenigstens hatte er da eine nette Erinnerung. Am 10. August 1918: Hermann machte die Ausbildung in Freistadt und kam am 8. August wieder nach Wels zurück. Man sagte ihnen in Freistadt, sie kommen in die Aspirantenschule nach Innsbruck, und er und ich freuten uns sehr, aber leider war das Lüge. (...) Die Verpflegung wird immer schwerer und wir haben tagelang kein Brot, wochenlang kein genießbares Mehl, keine Eier seit Monaten, Kartoffeln ein Kilo für Kopf und Woche. Wie lange sie das noch so weitermachen wollen? Am 29.  März [1919]: Seit meiner letzten Eintragung hat sich so viel verändert, dass ich gar nicht mehr weiterschreiben wollte. Hermann kam im September zurück und musste zur Verpflegsstation am Bahnhof. Er musste fast Tag und Nacht arbeiten, hatte dann 24-stündigen Dienst, musste für den Oberjäger, der abberufen wurde, eintreten und in acht Tagen lernen, was der in Monaten lernte. Dort bekam er die Ruhr, war drei Tage zu Hause und wurde mir, trotzdem mir der Militärarzt versprochen hatte, er dürfe bei mir bleiben, einfach durch drei Soldaten weggenommen. Dann lag er 36 Stunden im Mansardenzimmer in der Klosterkaserne ohne jede Hilfe, obwohl wir den Pfleger zahlten, dass er ihm helfen solle. Nachdem im Garnisonsspital kein Platz mehr war, kam er nach Reichenau*, musste sich dort, todkrank, baden und wurde geschoren, dann erst kam er ins Bett in die Baracke. Am gleichen Abend starben zwei Mann neben ihm und lagen bis zum anderen Tag dort. Er war vierzehn Tage dort, bekam Angina und Rotlauf, wurde ganz abgesondert und durch die Güte von Fräulein Betty, die ihn pflegte und sehr gern hatte, in das Wäschezimmer gelegt. Die Ärzte taten so wenig als möglich, was für ihn geschah, tat Fräulein Betty. 19

Wir durften ihn besuchen, weil Anny und ­Richard den Ökonomieverwalter Leutnant ­Weger kannten, aber Hermann fürchtete immer, wir bekommen irgendetwas Ansteckendes von ihm. Als er am 11. und 12. Oktober schon sehr schlecht war, gingen wir zu ihm, mussten aber auf sein Bitten und seine Aufregung hin heraußen bleiben. Richard und ich waren abends am 12. hernach bei ihm, und nur Abb. 1: Elise Kirchner vor ihrer Wohnach langem Bitten durfnung in Innsbruck (um 1925) ten wir seine Hand fassen und uns auf diese Weise verabschieden. Er starb um dreiviertel 10  Uhr abends in Anwesenheit von Fräulein Betty, die der Herrgott für alles Liebe belohnen möge. Ich hätte an alles gedacht, nur nicht an das, dass ich Hermann verlieren müsste, und glaubte es auch am 12. abends nicht, dass er sterben muss. Und heute, wenn ich daran denke, drückt es mich zusammen, aber glauben muss ich es wohl, nur darüber reden kann ich nicht. Mein Hermann, du, mein Hermann, schlafe wohl! Ich mag in diesem Buche nimmer weiterschreiben.

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Karl Schovanez ( 1894 – 1987 ) wurde am 5. September 1894 in Wien geboren und wuchs mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester im Bezirk Hernals auf. Die Eltern waren aus Mähren zugewandert, sozialdemokratisch orientiert und bestritten mit verschiedenen Dienstleistungsberufen den Lebensunterhalt. Nach Volks- und Bürgerschule konnte Karl Schovanez ab 1908 auf eigene Initiative hin eine Lehre bei einem Fotografen absolvieren und bis zu seiner Einberufung im Oktober 1914 in diesem Metier weitere wechselvolle Erfahrungen sammeln. Nach einer 1915 in Serbien erlittenen Verwundung war Karl Schovanez einige Zeit mit der Bewachung von Kriegsgefangenen und bei einer Stelle der Heeresbauleitung beschäftigt, bevor er in den Ostkarpaten neuerlich zum Fronteinsatz kam. Aufgrund einer Ruhrund einer grassierenden unbestimmten Hauterkrankung konnte er im Frühjahr 1918 mit einem Lazarettzug nach Wien zurückkehren. Nach seiner Genesung fand Karl Schovanez eine Lebensstellung als Eisenbahnbediensteter. Mit seiner Frau, die er 1917 bei einem Wienaufenthalt geheiratet hatte, bekam er einen Sohn. Für ihn und seine Nachkommen brachte er in den 1960er Jahren sehr ausführlich in einem gebundenen Buch auf knapp 600 Seiten in Druckschrift seine Lebenserinnerungen zu Papier. Darin findet sich die folgende Erzählung.

„Ich war furchtbar aufgeregt …“ (...) Fast zwei Tage dauerte die Fahrt dieses Traumzuges. Ich konnte von meiner aufgehängten Bahre recht gut beim Fenster hinausschauen, dadurch wurde ich in meinen Gedanken 21

abgelenkt. Die Zeit rann dahin, und schon sah ich in der Ferne das helle Licht über Wien. Stadlau – Brücke über unsere Donau – Simmering. Tränen standen mir in den Augen, immer mehr  … ich weinte vor Freude, ich schämte mich meiner Tränen nicht. Jetzt wusste ich, dass der Krieg für mich aus ist. Eine förmliche Freude, dass es nun doch bald Frieden geben werde, so oder so. Alle Anzeichen waren gegeben. Es muss doch auch für uns wieder die Sonne scheinen. Fürwahr, für uns alle, ob Freund, ob Feind, für alle soll sie scheinen. Majestätisch fuhr unser „Malteser“ im Frachtenbahnhof Simmering ein, immer langsamer, ein feines Zittern durchläuft die Wagen, der Zug steht. Wir wurden gleich darauf auf zweirädrige Gummikarren gelegt und in das nahegelegene Kriegsspital Nr. 6, Hasenleitengasse, gebracht. Ich kam auf Baracke 17 und schlief sofort ein. Am nächsten Morgen war das Erste, was ich verlangte, eine Korrespondenzkarte, um mein liebes Steffi-Kind von meiner Ankunft zu verständigen. Wir wurden gebadet, bekamen frische Wäsche und warteten nun ab, was weiter sein werde. Die Ärzte waren jung und versuchten ihr Möglichstes, um uns zu imponieren. Die Betreuung hatten durchwegs geistliche Schwestern über und sie war, im Ganzen gesehen, gut. Nur das Beten, in der Früh, zu Mittag und abends, das ging mir anfänglich stark auf die Nerven. Doch ich überlebte auch das, man gewöhnt sich ja schließlich an alles. Das Essen war gemäß dem vierten Kriegsjahr frugal* und nährwertlos. Im Stillen beobachtete ich das jesuitische* Treiben der Nonnen. Jeder Patient wurde liebenswürdig präpariert, doch zu beichten und zu kommunizieren. Die Mehrzahl ließ sich so langsam dazu herbei. Auch bei mir versuchten diese zwielichtigen Gestalten ihr Glück, natürlich ohne Erfolg. Die Folgen konnte ich ab sofort spüren, sie äußerten sich in der Betreuung. Alle eingefangenen Schäflein wurden ange22

lächelt, die Behandlung auf Stufe 1, also „sehr gut“, gestellt. Bei mir war bereits Stufe 3, „ujeh“, eingestellt und sollte noch tiefer sinken … Ich lag nun schon den dritten Tag im Bette und hoffte sehnlichst auf Steffis Besuch. Hoffentlich hat man die Karte ins Postkastl geworfen. Genau vor einem Monat verließ ich meine Kameraden, und jetzt liege ich, durch zweimaligen Ruhranfall ein lebendiges, mit Haut überzogenes Knochengerüst mit einem Lebendgewicht von 42 Kilogramm, in einem Wiener Kriegsspital und warte auf das erste Wiedersehen nach fast neun Monaten Frontdienst. Wird sie, mein kleines, liebes SteffiMädl kommen? Bangigkeit überfiel mich. Ich hatte ja durch meinen so plötzlichen Abgang von der Front von Steffi keine Post mehr bekommen. All das regte mich jetzt furchtbar auf. Jetzt, wo ich am Ziel meiner Wünsche, in Wien, war. Jetzt trat jene Reaktion ein, die Angst hieß. Was ist los zu Hause? Was macht Steffi, ihre Familie, all die dummen Gedanken überkamen mich und machten mich sehr nervös, übellaunig und überspannten meine Nerven ins Unermessliche. Ich fühlte, dass eine Entladung bevorstand: aufspringen, anziehen und weglaufen. Dieser Gedanke beherrschte mich immer mehr, aber leider … ich war ja momentan viel zu schwach, um diesen Gedanken auszuführen, zumal die Untersuchungen der letzten zwei Tage auch noch chronischen Lungen­spitzenkatarrh ergaben – auch nicht gerade erfreulich für mich. Ich versuchte es tagsüber öfters, aufzustehen, aber ich musste diese Versuche nach einigen Sekunden wieder aufgeben, da ich Schwächeanfälle bekam. Langsam ging der Uhrzeiger sein Stundenpensum durch, das Essen kam, noch eine Stunde – mein Herz pochte nervös – endlich kamen die Besucher … aber leider, meine Steffi kam nicht. Ich war furchtbar aufgeregt, trotzdem musste ich eingeschlafen sein – und ich schrak auf, als mich jemand am Kopf berührte. Meine Steffi war mit Neffen Rudi gekommen. 23

Das Wiedersehen brauch ich nicht zu schildern, es ging über meine Kräfte, beide weinten wir in unserem großen Glück des Wiedersehens. Nun erfuhr ich auch, warum Steffi mich nicht gleich gefunden hatte. Meine desolate Feldmontur hing über meinem Bett, der Mantel gerade über meinem Namen. Später gekommen waren sie auch, und drittens war ich ja so mager und halb verdeckt durch die Bettdecke. Steffi und Rudi erkannten mich ganz einfach nicht, gingen bereits dreimal an mir vorüber, bis ihnen irgendwer sagte: „Schovanez, dös is der G’selchte* do vis-à-vis …“ Und so fand sie mich. Das war genau am 20. Mai 1918.

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Ulrike Pilger ( 1902 – 1982 ) wuchs mit einem jüngeren Bruder in einer Wiener Beamtenfamilie auf, die jedoch aufgrund der Alkoholkrankheit des Vaters nicht unbedingt Mittelschichtstandards entsprach. Die Tochter stand dem Vater kritisch-distanziert gegenüber und ging früh eigene Wege. Nach Besuch der Unterstufe eines Realgymnasiums verzichtete sie auf eine höhere Schulbildung, gab Nachhilfestunden, nahm Schauspielunterricht und trat im Sommer 1919 als Siebzehnjährige ein einjähriges Engagement an einer bayerischen Provinzbühne an. Nach Wien zurückgekehrt, lebte sie weiter von Gelegenheitsarbeiten, absolvierte einen Lehrgang in einer Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt und eine zweijährige Ausbildung in Bildhauerei. Anschließend war sie in Tirol und Salzburg vor allem im kunstgewerblichen Bereich beschäftigt. Sie fand Anschluss an die Kommunistische Partei und unterstützte politisch Verfolgte und den Widerstand gegen Austrofaschismus und den Nationalsozialismus. In späteren Jahren war sie als Sekretärin und redaktionelle Mitarbeiterin der Zeitschrift „Stimme der Frau“ und der „Volksstimme“ tätig. Sie blieb unverheiratet und kinderlos. Ulrike Pilger – auf Wunsch der Verfasserin erscheint der Beitrag unter einem Pseudonym – hinterließ einer Berufskollegin ein 475-seitiges maschinschriftliches Manuskript, das den Zeitraum von ihrer Geburt bis 1945 umfasst und in 105 Kapitel untergliedert ist. Einige Abschnitte daraus wurden bereits in dem 1993 von Christa Hämmerle herausgegebenen Sammelband „Kindheit im Ersten Weltkrieg“ (Band 24 dieser Buchreihe) veröffentlicht. 25

„Besser wir verfressen das Geld jetzt …“ Zu Anfang des Jahres 1917 brachten zwei Bürokollegen Großvater zu uns, weil er im Büro der Versicherungsgesellschaft, bei der er angestellt war, infolge eines Schwächeanfalles zusammengebrochen war. Der sofort herbeigerufene Arzt stellte eine Kreislaufstörung fest. Ein Schlaganfall war es nicht. „Nur Ruhe braucht Großvater“, sagte der Arzt. Sogleich nach dem Weggang des Arztes übergab Großvater Mutter den Schlüssel zu seinem möblierten Zimmer bei einer Witwe im 3. Bezirk und trug Mutter auf, aus der Schmuckschatulle nicht nur allen darin aufbewahrten Schmuck, sondern auch alle Kriegsanleihepapiere* an sich zu nehmen und ihm zu bringen. Die leere Schatulle aber sollte Mutter versperrt im Wäschekasten stehen lassen, um die Zimmervermieterin nicht zu einer unehrenhaften Handlung zu verleiten, nämlich Wäsche und Kleidungsstücke verschwinden zu lassen, weil eine Rückkehr des Untermieters nicht mehr zu erwarten sei. (...) Unterwegs in der Straßenbahn riet ich Mutter, der Zimmervermieterin nichts von Großvaters Zusammenbruch zu erzählen, sondern unser Erscheinen damit zu begründen, dass Großvater für seine Versicherungsgesellschaft einen Lokalaugenschein in einem Schloss durchführen müsse und deshalb stante pede mit einem Wagen, den man für ihn geschickt hatte, hingefahren sei. Wir sollten ihm seine Toilettesachen, ein Nachthemd und sonstige Kleinigkeiten nachschicken. Er werde sofort einen Hausdiener vom Schloss zu uns beordern, um die Sachen abzuholen. „Das bringe ich nicht über die Lippen“, sagte Mutter. Na schön. Ich brachte es fertig, und anscheinend glaubte mir die Zimmervermieterin sogar. Den Schmuck und die Kriegsanleihepapiere verbarg ich unter meinem Kleid, über das ich dann noch den Wintermantel anzog. Mutter trug in einem kleinen Koffer das Rasier26

zeug, ein Nachthemd und etliche andere Wäschestücke. Sie vergaß auch die gestrickte Zipfelmütze nicht, die Großvater über Nacht aufsetzte. Außer dem stets nachwachsenden Bart an den Wangen und am Kinn hatte Großvater kein einziges Haar am Kopf. Daheim angekommen, wollte Mutter alles Mitgebrachte Großvater übergeben. „Lass das“, lehnte er ab, „das gehört alles dir. Ich brauche nichts mehr, mein Leben ist zu Ende. Ich will auch gar nicht mehr leben. Wozu? Vorläufig bekomme ich noch Gehalt von der Versicherungsgesellschaft und in zwei bis drei Wochen brauche ich nichts mehr. (...) Nach dem Begräbnis drängte ich Mutter, die Kriegsanleihe ab sofort in Raten zu verkaufen. „Österreich kann diesen Krieg nicht mehr gewinnen. Der alte Kaiser ist tot und den Karl mit seiner Zita nimmt kaum noch jemand ernst. Wer soll nach Kriegsende die Kriegsanleihe zurücknehmen und uns das Geld dafür geben?“, argumentierte ich. „In Russland wurde der Zar schon gestürzt“, frohlockte ich, „auch bei uns wird man das Kaiserhaus abschaffen.“ – „Woher hast du diese Ideen?“, begehrte Mutter auf. „Du bist jetzt fünfzehn Jahre alt und du brauchst entweder Geld für ein Hochschulstudium oder eine Mitgift für eine Heirat“, sagte Mutter. „Aber wer soll uns denn nach dem Krieg diese Anleihe­ papiere abkaufen?“, bohrte ich stur weiter. „Den Krieg hat das Kaiserhaus angefangen, und wenn es dieses Kaiserhaus nicht mehr gibt, wer soll die Anleihe zurückzahlen? Außerdem brauche ich keine Mitgift, denn ich werde nie heiraten. Wen denn? Ich bin Jahrgang 1902, alle annähernd brauchbaren, nämlich tauglichen Burschen und die Männer aller vorhergehenden Jahrgänge werden bei Kriegsende gefallen, krank oder verkrüppelt sein. Es wird also gar nicht jede Frau einen Mann zur Ehe erwischen können, weil es viel mehr Frauen als Männer geben wird.“ 27

Diese Argumente schienen Mutter einzuleuchten. Trotzdem wehrte sie sich noch immer, den vermeintlichen Reichtum quasi zu verschleudern. „Deine Schwarzmalerei ist übertrieben“, sagte sie. „Deine Firmpatin, Tante Betti, hat ihr großes Miethaus in Mariahilf mitsamt dem Textilgeschäft verkauft und alles Geld in Kriegsanleihe angelegt.“ – „Ja, weil der siebengescheite Mann Tante Bettis, der Herr Ingenieur, geglaubt hat, in Wien verhungern zu müssen“, spottete ich. Außerdem hat er Angst gehabt, dass die Russen Wien erobern. Davor haben sich viele Leute gefürchtet, wie sie gesehen haben, dass rund um Wien im Wienerwald Schützengräben ausgehoben und Menschen in Stellung gebracht worden sind.“ – „Woher weißt du das?“, fragte Mutter erstaunt. Aber davon haben die Leute ja schon beim Begräbnis vom alten Franz Joseph geredet“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ich habe das eben auf der Gasse gehört.“ – „Ach so“, staunte Mutter, „die Leute reden schon ganz offen davon? Ja, dann verkaufen wir die Kriegsanleihe. Besser wir verfressen das Geld jetzt, als wir verheizen es später als Altpapier.“ Ich riet Mutter, auf keinen Fall alle Papiere in ein und derselben Bank zu verkaufen. Damals stellte ein Betrag von 3000 Kronen noch ein beträchtliches Guthaben dar. Wozu also Bankleute durch den Verkauf der Papiere alarmieren. Eine Woche lang ging ich mit Mutter zu verschiedenen Banken in verschiedenen Bezirken. So verkauften wir die Papiere kleinweise. Ich fragte Mutter auch, ob wir Tante Betti auf ihrer Kriegsanleihe sitzen und verarmen lassen oder sie rechtzeitig warnen sollen. Aber wie warnen? – Ihr schreiben? – Sehr riskant, denn so ein Schriftstück konnte ja geradezu als Aufforderung zum Hochverrat ausgelegt werden. Und Tante Bettis Mann war ein viel zu selbstherrlicher alter Trottel, um eine Warnung oder einen Rat von Frauen ernst zu nehmen. Wir warnten Tante Betti also nicht. (...) 28

Anna Prath ( 1908 – 2003 ) wurde am 26. November 1908 als Anna Hartl in Deutsch-Kaltenbrunn im südlichen Burgenland (damals Ungarn) geboren und erlebte als Zehn- bis Zwölfjährige die Auseinandersetzungen um die politische Zugehörigkeit dieser Grenzregion mit. Als uneheliches Kind wuchs sie bei Verwandten auf, die teils mit eigener Landwirtschaft, teils als Tabakarbeiterinnen ihre Existenz bestritten. Sie selbst war später als Landarbeiterin und wie schon ihre Großmutter als Arbeiterin in der Tabakfabrik in Fürstenfeld in der Oststeiermark tätig, wo sie ab 1947 auch lebte. In der Zeit zwischen 1976 und 1980 erzählte Anna Prath ihrer früheren Arbeitskollegin Maria Kraincz ausführlich aus ihrer Kindheit und Jugend und letztere hielt die Lebenserinnerungen handschriftlich in mehreren Schulheften fest. Diese Aufzeichnungen wurden erst nach dem Tod beider Frauen im Nachlass von Maria Kraincz entdeckt und anschließend von Rosemarie Feistritzer in Buchform gebracht: Rosemarie Feistritzer (Hg.): Freud und Leid an Lafnitz und Feistritz. Die Lebensgeschichte der Anna Prath, geb. Hartl, Gösing am Wagram: Edition Weinviertel 2008. Wir danken der Herausgeberin und dem Verleger für die Genehmigung zum Abdruck der nachfolgenden Textpassagen.

„Meine Zeit ist morgen um …“ Mein geliebter Onkel war an der italienischen Front eingesetzt. Er kam wie durch ein Wunder mit dem Leben davon. Nun bekam er einige Tage Urlaub. Es war dies der erste Urlaub seit vier Jahren. Als er heimkam, waren wir, seine drei 29

Töchter und ich, vor dem Hause. Als er näher kam, riefen wir: „Oma, Oma, ein Bettler ist gekommen!“ Die drei Kleinen liefen fluchtartig davon. Nur ich blieb stehen. Nun sagte er: „Annerl, kennst du mich auch nicht?“ Nun erkannte ich ihn an der Stimme. Er hatte einen Bart, der bis zur Brust reichte, die Haare hingen wirr um seinen Kopf und hatten auch eine ungewöhnliche Länge. Der Gesichtsausdruck war verhungert, herabgekommen und verschmutzt, die Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leibe. Die Schuhe waren zerrissen. Über der Schulter hing ein Bündel, in dem seine Habseligkeiten in einer zerrissenen Decke eingeschlagen waren. Auf das Geschrei der Kinder hin kam die Großmutter heraus, die ihn sofort erkannte und schrie: „Mein Gott, Franz, wie siehst du aus? Komm doch herein.“ Nun sagte er: „Nein, in die Wohnung kann ich nicht, ich bin voller Läuse und Ungeziefer. Bitte richte mir in der Scheune einen Bottich mit Wasser, dass ich mich reinigen kann und bringe mir frische Kleider.“ Rasch besorgte sie alles und richtete ihm ein Essen, so gut sie konnte. Nachdem er sich rasiert hatte, erkannten ihn auch seine verschreckten Kinder und es war ein Jubel. Abends um acht Uhr kam seine Frau von der Arbeit nach Hause. Ihre Freude war riesengroß. Ihr blieb auch der entsetzliche Anblick seiner Armut erspart. Bald darauf kamen auch die Nachbarn, die erfahren hatten, dass endlich einer gekommen war und etwas vom Zustand der Lage berichten konnte. Aber die Freude dauerte nicht lange. Nun arbeitete er in der Landwirtschaft und half den Großeltern so gut er konnte. Nachdem die Urlaubszeit um war, herrschte laut der durchgesickerten Hiobsbotschaften die Meinung, dass der Krieg verspielt sei und dass es nur noch kurze Zeit bis zum Zusammenbruch dauern könne. Als er bei seiner Einheit nicht eintraf, wurde er gesucht. Er arbeitete auf dem Feld und ich war bei ihm. Er führte den Pflug, um die Wintersaat anzubauen. Ich half ihm, indem ich die beiden Kühe die Furche ein 30

und aus führte. Als wir den Pflug und die Egge auf den Wagen geladen hatten und heimwärts fuhren, kamen zwei Männer (Feldgendarmen in Uniform). Sie sagten auf Ungarisch, er solle seinen Urlaubsschein zeigen. Er gab zur Antwort, dass er ihn zu Hause liegen habe. Nun forderten sie ihn auf, zum Bürgermeister mitzukommen. Er aber sagte: „Meine Zeit ist morgen um; ich fahre morgen zu meiner Einheit. Ich werde den Schein sofort bringen.“ Mir flüsterte er zu: „Bring die Tiere heim und sag dem Großvater, dass ich nicht heimkomme, sie mögen sich nicht sorgen.“ Er verschwand und gelangte in die nahe Steiermark, die sein Ziel war. Nun waren circa zwei Wochen vergangen. Allgemein hörte man, dass der Krieg zu Ende sei und dass einige Männer doch heimkommen würden. Unsere Felder lagen an der Grenze zur Steiermark. Eines Tages trieb ich die Kühe dahin zur Weide, da hörte ich rufen und erkannte den Onkel an der Stimme. Er rief mir zu, dass er in der Steiermark gut aufgehoben sei und dass er zurückkommen werde. Die Eltern sollen sich nicht erschrecken, wenn er nachts anklopfen werde. Wöchentlich zweimal kamen ungarische Soldaten und der Gemeindediener, der sie begleiten musste, und suchten das Haus und das Wirtschaftsgebäude nach dem Onkel ab. Alles wurde durchgekämmt. Das Heu und das Stroh durchstach einer mit einem langen Degen. Sie fanden ihn nicht. Dann klopfte Franz eines Nachts am Fenster. (...) Als er einige Tage daheim war und sich nichts rührte, arbeitete er im Haus. Er war gerade im Kuhstall beim Melken. Ich kontrollierte immer um das Haus herum, um zu melden, wenn die Gendarmen kamen. Ich kam gerade in den Hof, da stürmten zwei Männer herein. Ich schrie auf und der Ungar sagte: „Ich dir nichts tun, nur Papa muss mitkommen.“ Nun stürmten sie in den Stall und trafen ihn an. Er sollte sofort mitkommen. Er aber sagte: „Ich muss mich erst waschen“, was ihm gestattet wurde. Sie flankierten ihn, damit er ja nicht 31

auskomme. Da kam ein Nachbar und meldete, dass in seiner Scheune ein Mann, ein Deserteur liege. Nun haben sie auf den Onkel vergessen. Als der Ungar die Papiere des anderen studierte, nützte der Onkel die Zeit, ging in den Nebenraum und sprang aus dem Zimmerfenster. (Während er sich wusch, sagte er leise zur Mutter: „Wenn ich kann, werde ich verschwinden, denn sterben muss ich so und so. Wenn ich Glück habe, komme ich durch.“) Die Rettung winkte ihm in der vier Kilometer entfernten Steiermark. Das Zimmerfenster, aus dem er sprang, war circa zweieinhalb Meter vom Boden. Der Onkel stürzte beim Sprung aus dem Fenster und konnte momentan nicht aufstehen. So kollerte und robbte er eine Strecke und die Todesangst verlieh ihm Kräfte. Er kam durch die Maisfelder glücklich bis in die Nähe der die Grenze zur Steiermark bildenden Lafnitz, die ziemlich viel Wasser führte. Die ungarischen Posten hatten die Brücken besetzt und kontrollierten in Abständen das Gebiet genau. Die furchtbare Angst, die wir in diesen Tagen durchmachten, war unbeschreiblich. Denn wir bekamen erst nach circa zwei Wochen Nachricht, dass er lebte. Er überquerte die Lafnitz in den frühesten Morgenstunden und gelangte bei Altenmarkt auf steirischen Boden. Er wurde in Altenmarkt bei Bauern gut aufgenommen und arbeitete daselbst nur um die Verpflegung, um sein Leben zu erhalten. (...) Der Krieg war zu Ende. Aber es war nicht geklärt, ob unser Gebiet an Österreich komme, da wir ja ein rein deutschsprachiges Gebiet waren, oder ob es ungarisches Hoheitsgebiet bleibe. Der Jubel kannte keine Grenzen, als es hieß, dass unser Gebiet nun ein Landesteil Österreichs mit dem Namen Burgenland sei. Nach der Zerschlagung der Monarchie und der Festsetzung der Grenze 1919 wagte es der Vater, nach Hause zu kommen, trat aber noch längere Zeit nicht öffentlich auf, da er noch immer als Deserteur vogelfrei für einige Fanatiker war. 32

Marianne Jarka ( 1889 – 1980 ) wurde am 27. Dezember 1889 geboren und wuchs mit einer älteren Schwester in Gloggnitz in Niederösterreich auf, wo ihr Vater eine Zeitlang als Förster und Gutsverwalter beschäftigt war. Nach einer Ausbildung als Handarbeitslehrerin war Marianne Jarka von 1907 bis 1914 als „Kinderfräulein“ in gutsituierten Familien beschäftigt. Mit Kriegsbeginn meldete sie sich für eine Ausbildung als Krankenschwester und war fast vier Jahre lang an der Isonzofront im heutigen Slowenien und Friaul als Operationsschwester im Einsatz. Die Zeit ums Kriegsende, über die Marianne Jarka im folgenden Beitrag berichtet, erlebte sie in den Räumlichkeiten eines Klosters in Udine, wohin ihr mobiles Feldspital Nr. 211 zuletzt verlegt worden war. Nach ihrer Rückkehr nach Wien arbeitete Marianne Jarka vor allem als Näherin und zog als Alleinerzieherin zwei Kinder groß. Dieser Aspekt ihrer Lebensgeschichte steht im Mittelpunkt eines Beitrags der Autorin zum 2008 erschienenen Sammelband, „Ledige Mütter erzählen. Von Liebe, Krieg, Armut und anderen Umständen“ (Band 59 dieser Buchreihe). Zum Schreiben angeregt wurde Marianne Jarka von ihrem Sohn Horst, nachdem sie mit dessen Familie Anfang der 1960er Jahre in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. Horst Jarka, Professor für Germanistik an der University of Montana und Verfasser zahlreicher Werke zur österreichischen Literatur, erstellte aus einer Mehrzahl von handschriftlichen Erinnerungstexten seiner Mutter eine Editionsfassung im Umfang von 111 Seiten, der die folgenden Passagen entnommen sind.

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„Die hässlichste Zeit war der Übergang …“ Wir hatten unsere Spitäler im Kloster untergebracht in der Nähe der Via Aquileia. (...) Ich selbst hatte fast nichts zu tun. Wenn ich in die kalten Räume ging, war es öde. Auf den Gängen standen die Särge übereinander. Wir hatten keinen eigenen Friedhof und mussten die Toten im städtischen begraben. Udine liegt in der Ebene, und wenn vom Norden der Wind kam, war es im Freien bitter kalt. In den wenigen heizbaren Häusern eine richtige Feuerstelle. Ich hatte damals mit Bertha ein gemeinsames Zimmer. Wir hatten einen genesenen Soldaten, der uns half. An einem sehr kalten Tag hatte er irgendwo Kohlen aufgetrieben und heizte unseren Ofen – mit Kohle. Wir legten uns nieder, es war angenehm durchwärmt, und wir schliefen ein. Durch einen Ruf vermutlich wachte ich auf, wollte mich im Bett aufsetzen, um zu Bertha hinzuschauen, fiel aber zurück, hörte noch, wie Bertha sagte: „Was ist denn das?“, dann sah ich noch, wie sie aufstand, die Tür aufriss und der Länge nach hinfiel. In dem Ofen, der aus Ziegeln gemacht war und vermutlich auch kein Abzugsrohr für Gase hatte, hätte man nur Holz heizen dürfen. Aufgewacht bin ich in einem großen Krankensaal, alle Fenster waren offen, ebenso die Türen. Kein Mensch zu sehen, und mir war übel. Bertha ging es schon besser. Ich aber hatte eine pfundige Kohlengasvergiftung. Als ich mir später unser Zimmer ansah, waren sie eben dabei, den Sachschaden auszubessern. Die Kohlenhitze muss sehr arg gewesen sein, denn die Mauer war ganz schwarz. Ich denke auch, ich habe von damals ein Emphysem* als Denkzettel mitbekommen, denn ich spuckte nachher etwas Blut. Der Schwesterngarten gehörte zu einem niedrigen alten Haus, in der Via Aquileia gelegen, und gehörte zwei alten Damen. Sie stellten uns den Garten zur Erholung zur Verfügung. 34

Abb. 2, 3: Marianne Jarka als Kindermädchen (1914) und als Krankenschwester an der Front (1917)

Schildkröten krabbelten dort herum. Eine jede hatte einen Namen; wenn man sie rief, kamen sie aus dem Grünen heraus. So wie Zutrauen und Güte meist schlecht belohnt werden, geschah es auch hier. Irgendeine Schwester hatte einen Patienten, der im Zivilberuf Drechsler war. Eines Tages ging ich bei den niederen Fenstern vorbei, in einem baumelten die Schildkrotpanzer. Was war und ist vor der Kriegsfurie sicher? Man merkte, es geht dem Ende zu. In einer Allee in der Umgebung hingen auf einigen Bäumen schon abtrünnige Soldaten mit der Tafel „So geht es jedem Verräter“. Auch im Spital fanden sie einen. Im Überschwung* im halbierten Leder fanden sie angeblich den Beweis. Schon wurden die mobilen Spitäler nahe der Front aufgelöst. Viele, viele Kranke gab es zu dieser Zeit mit sogenannter Lungenpest*, einer epidemisch auftretenden Krankheit. Auch 35

im Hinterland starben die Leute wie die Fliegen – wird wohl eine schwere „Grippe“ gewesen sein. Die wenigen, die durchkamen, hatten auf dem Brustkorb Hauttaschen. Bertha ging weiter durch die Reihen der Feldtragen, auf denen die Fiebernden im Freien lagen. Zu dieser Zeit hatte ich einen kleinen weißen Hahn unter einer italienischen Gebirgsjägerpelerine. Durchs Armloch schaute er immer heraus. Soldaten haben ihn mir gestohlen. Er war bestimmt ein guter Brocken. Ein Mediziner kam zu uns, ein Wiener? Völlig unbrauchbar. Waren unsere Ärzte blind oder tatsächlich so leichtgläubig? Der Neue versprach einem jeden in der Heimat einen wunderbaren Posten, da sein Onkel sehr einflussreich sei. Was der Wahrheit entsprach, war, dass niemand wusste, was ihn zu Hause erwartete, war der Krieg einmal verloren. Beim Verbinden sah ich dem Neuen einmal zu – unglaublich, wie ungeschickt. Dann sollte er eine Kugel, die ganz oberflächlich steckte, entfernen. Er vermochte es nicht. „Sagen Sie, sind Sie wirklich ein Mediziner?“ – „Aber Schwester, ich kann Ihnen mein Diplom zeigen.“ Im Unbehagen gingen die Tage dahin. Dann kam eine neue Zimmerschwester. Als sie den Mediziner sah und erfuhr, dass er als Arzt galt, bereitete sie dieser Einschätzung ein rasches Ende. Er war als Patient in das Spital gekommen, in dem sie war. Als er gesundgemeldet worden war, hatten sie ihn als Kanzleikraft zurückbehalten. Ein Arzt hatte Urlaub bekommen und seinen Koffer mit Papieren und Büchern zur Aufbewahrung in der Kanzlei zurückgelassen … Wie der Betrüger zu uns gekommen war, weiß ich nicht mehr. Er wurde gleich in unserem Spital eingesperrt. Jedenfalls hatte er auch den Sold eines Arztes eingesteckt. Er hatte auch die Unverfrorenheit, mir einen Zettel zu schreiben, ich solle ihm etwas Lesbares schicken, weil ihm langweilig sei. Das allgemeine Durcheinander war ja der richtige Boden für solche Gaunereien. Da niemand wusste, wie es im Hinter36

land aussehen mag, war jeder beunruhigt, was er wohl vorfinden würde. Dennoch bezweifle ich, dass die Ärzte diesem Dampfplauderer tatsächlich glaubten, er habe durch die Güte seines Onkels gut bezahlte Stellen in einem Sanatorium zu vergeben. Der Betrug wurde aber erst in der Gefangenschaft aufgeklärt. Der Waffenstillstand war auf österreichischer Seite um etliche Stunden früher proklamiert worden. Wie war das damals an der Piave? Das Wasser war niedrig, unsere Truppen wollten durch, da wurden die Schleusen geöffnet, und viele, viele ersoffen. Noch immer schossen die Italiener auf unsere zurückflutenden Truppen. Auch die Zivilisten, Frauen und halbwüchsige Knaben, schossen aus den Kellerfenstern. Etliche Sprunggelenkschüsse etc. waren ihr trauriger Ruhm. Auch aus den Luken österreichischer Panzer wurde geschossen bei ihrem Rückzug ins Hinterland. Ordinär schimpfende Weiber kamen zu uns, um ihre an der Oberfläche steckenden Projektile entfernen zu lassen. Im Stechschritt marschierten die Katzelmacher* durch die Via Aquilea. Die Zivilbevölkerung war auf unser Militär nicht gut zu sprechen. Ich wunderte mich nicht darüber. Es wurde gestohlen, im Krieg heißt es „requiriert“. Je höher hinauf, desto wertvoller die Wahl. Der einfache Soldat stahl wohl meistens Lebensmittel. Kurz vor dem Zusammenbruch gingen Pendelzüge zwischen Front und Heimat. Als jeder bemüht war, der Heimat näher zu kommen und die feindlichen Truppen schon im Anrücken waren, da stellte man Wachen beim Bahnhof auf – nicht um die Kranken und Verwundeten vor Gefangenschaft zu bewahren. Nein! Um das Beutegut sicher befördern zu können. Da war ein großer, derber Soldat, der wollte unbedingt noch in den Zug. Er hatte eine schwere Oberschenkelverletzung mit Fraktur. Mit Gurten hatte er das kaputte Bein wie ein Joch am Hals befestigt, und so war er zum Bahnhof ge37

humpelt. Der Zug fuhr ohne ihn. Auf einer Tragbahre brachten sie ihn zurück, vollkommen verzweifelt. Bertha und ich blieben bei den armen Teufeln. Wir blieben dann zusammen mit den Soldaten als Gefangene zurück. Die hässlichste Zeit war der Übergang zwischen der Flucht unserer Truppen und der Übernahme des Spitals durch die Italiener. Wir hatten viele Tote, die beerdigt gehörten – knapp vorher war eine Grippewelle gewesen –, wir durften aber das Kloster nicht verlassen. Bis in die Verbandsäle kamen verabscheuungswürdige Elemente, die den Verwundeten ihre Auszeichnungen gegen Schokolade abhandelten. Wenn ein einfacher Soldat eine Auszeichnung bekam, dann hatte er bestimmt irgendetwas getan, was in Kriegszeiten als Heldentat bewertet wurde. Ein von den Österreichern gefangener italienischer Offizier übernahm vorübergehend das Spital, und durch seine Fürsorge und die seiner Mutter haben wir auch das überstanden. Noch immer sehe ich diesen großen Mann, der seine Mutter um vieles überragte und ihr wie ein folgsames Kind gehorchte, für ehemalige Feinde sorgen. Welch ein Kontrast zwischen unserem Kommandanten, der alle kostbaren Sachen requirierte, und diesem edel denkenden Menschen! So weit die Erde von Menschen bevölkert ist – und ich lernte ein ganz schönes Stück davon kennen –, überall gibt es vornehme Menschen, nur sind sie in der Minderheit. Der Großteil sind schamlose Egoisten. (...)

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Gottlieb Pomberger ( 1892 – 1979 ) wurde am 23. Oktober 1892 als ältester Sohn einer Bauernfamilie in Gosau im oberösterreichischen Salzkammergut geboren. Nach der Pflichtschule absolvierte er eine Lehre am örtlichen Gemeindeamt, wo er auch nach der Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg bis zu seiner Pensionierung als Gemeindesekretär tätig war. Die Zeit seines Militär- und Kriegsdienstes ab September 1913 hielt Gottlieb Pomberger in einem Tagebuch fest, das er später in erzählender Form in ein 166-seitiges Typoskript umarbeitete. Ausgewählte Erzählungen daraus sind bereits in den Bänden 66 (Des Kaisers Knechte. Erinnerungen an die Rekrutenzeit im k. (u.) k. Heer 1868–1914, herausgegeben von Christa Hämmerle, 2012) und 56 dieser Buchreihe (In russischer Gefangenschaft. Erlebnisse österreichischer Soldaten im Ersten Weltkrieg, herausgegeben von Hannes Leidinger und Verena Moritz, 2008) veröffentlicht. Der hier präsentierte Textausschnitt schließt direkt an den letztgenannten Beitrag an. Drei Monate nach seiner Flucht aus russischer Gefangenschaft, nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in einem Heimkehrerlager und zwei Wochen Heimaturlaub, muss Gottlieb Pomberger im Oktober 1918 nochmals zum aktiven Dienst in der k. u. k. Armee antreten und wird nahe Doboj in Bosnien-Herzegowina als Aufseher in einem Gefangenenlager eingesetzt.

„So hüteten wir die Magazine …“ Am 11. Oktober kam ich zur Präsentierung. Ein Oberjäger schickte mich in die Kommandiertenbaracke. Dort blieb ich volle zwei Wochen und musste einem alten Tiroler Landstürm39

ler Zwetschkenschnaps brennen helfen. Das Geschäft war leidlich, aber die Kameradschaft passte mir nicht, weshalb ich mich langweilte. Schließlich wurde der Dienstführende aufmerksam, dass ich ein Heimkehrer sei. „Na, aber höher geht es doch nimmer – ein Heimkehrer bei solch einem Schwindel“, sagte er, Abb. 4: Gottlieb Pomberger als wären wir Heimkehrer (um 1914) ausgesprochene Schwerverbrecher gewesen. Und trotz dieser Ungerechtigkeit durften wir uns nicht im Geringsten mucksen, zumal wir bei den Offizieren ausnahmslos schwarz angeschrieben waren, da diese in uns den hochgradigsten Bolschewismus vermuteten. Noch am gleichen Tage bekam ich einen Schießprügel, und um 6 Uhr abends war ich schon dem Marschbataillon zugeteilt. Zwei Tage mussten wir nichts als exerzieren. Hierauf kamen wir, da wir für die Front momentan nicht benötigt wurden, in das ungefähr vier Kilometer von Doboj entfernt gelegene Gefangenenlager zur Gefangenenwache. Also, zuerst selbst Kriegsgefangener und kaum ein Vierteljahr danach: Kriegsgefangene bewachen. Wir Heimkehrer waren sicherlich nicht die schlechtesten Posten, natürlich für die Gefangenen, da wir ja die Leiden der Kriegsgefangenen zur Genüge kannten. War die Möglichkeit vorhanden, den Gefangenen nur irgendwie zu helfen, so versäumten wir diese Gelegenheit sicher nicht. Eines Tages kaufte ich mir in Doboj in der Bahnhofsrestauration das „Neue Wiener Journal“, um auf dem Posten 40

einen Lesestoff zu haben. Als ich am 31. Oktober um 10 Uhr vormittags auf den Posten ging – ich hatte einen zwei Meter breiten und ungefähr 600 Meter langen Gang zu bewachen, der beiderseits mit einem vier Meter hohen Stacheldrahtzaun begrenzt war –, lehnte ich das Gewehr an den Drahtzaun an, setzte mich auf einen Stein und begann die Zeitung zu lesen, ohne mich viel um die Gefangenen – linksseitig Serben, rechtsseitig Russen und Italiener – zu kümmern. Wohl habe ich bemerkt, wie ein Angehöriger eines bosnischen Infanterie-Regimentes auf mich zuschritt. Ich schenkte aber diesem nicht viel Achtung in der Meinung, es sei ein Mann aus dem Mannschaftsstande. Als aber der Mann vor mir stand, erkannte ich den Oberleutnant. Er frug mich, was ich hier mache. Ich wollte pflichtgemäß die Ehrenbezeugung machen, konnte dies aber nicht tun, weil ich das Gewehr nicht in der Hand, sondern beiläufig drei Meter von mir entfernt am Zaun lehnen hatte. Er ließ mich gar nicht zu Worte kommen, ja, ich konnte eigentlich keine finden, denn ich war mir selbst bewusst, dass ich meinen Dienst auf das Gröbste vernachlässigte, und diese Nachlässigkeit zu rechtfertigen war ich keineswegs im Stande. Ich musste meinen Namen angeben, und der Befehl lautete: „Morgen zum Rapport!“ Hierauf wandte sich der Offizier von mir ab. Meinem Kommandanten, einem Heimkehrer-Leutnant, wagte ich nicht von dem Vorfalle Meldung zu erstatten, wenngleich dies ein überaus guter und rücksichtsvoller Offizier war, mit welchem man fast in kameradschaftlichem Ton und Sinn sprechen durfte. Nächsten Tag, es war der 1.  November, trat ich im Lagerhof zum Rapport an. Jetzt natürlich musste ich meinem Kommandanten das Vorgefallene melden. Er meinte nicht viel dazu. Wir standen eine lange Reihe im Hofe; zuerst die Diensthabenden, die Dienstübernehmenden, die Bittsteller, dann die Beschwerdeführer und zuletzt wir Befohlenen. Wir 41

standen schon eine halbe Stunde, aber kein Offizier kam; wir standen schon eine volle Stunde, und noch kein Offizier kam. Endlich kam ein bosnischer Fähnrich im Eilschritt auf uns zu und befahl abzutreten. Warum dieser Befehl erging, war uns nicht bekannt. Als wir in unsere Ubikation* kamen, stand schon unser Leutnant in dieser und befahl, alles anzutreten. Wir standen in ungeordneten Reihen vor dem Offizier, als er die Frage an uns richtete, wer von uns 70 Mann für die Ausrufung einer österreichischen Republik stimmen würde. Mit Ausnahme eines alten Tirolers hob alles die Hände hoch. Der Leutnant frug den Alten, warum er ein Gegner sei. Dieser antwortete ganz ruhig: „Warum soll’s denn jetzt nimma tuan, hat so lang nix g’habt …“ Wir lachten alle hellauf, dieser Spruch war doch mehr als gelungen: „Es hat so lang nix g’habt …“. All die Schikanen, die Entbehrungen und Leiden und alles andere Niederdrückende konnte dieser „Musterpatriot“ und „Held im Hinterland“ nicht ermessen. Der Leutnant gestand uns hierauf, dass der Ausbruch einer Revolution fast unvermeidlich und das Kriegsende vor der Türe sei, die Heimfahrt und Abrüstung stehe bevor. Diese Mitteilung löste ein nicht zu beschreibendes Hurrageschrei aus. Die Bosniaken in ihren nebenan liegenden Baracken schrien mehr als barbarisch, warfen die Waffen, soweit sie diese nicht mit nach Hause nahmen, auf die Straße und riefen dem Lager ein Lebewohl zu, ehe sie sich restlos entfernten. Die großen Massen Kriegsgefangenen und Inhaftierten lehnten sich auf und verlangten die Freiheit. Die Mitteilung unseres Leutnants verbreitete sich nämlich augenblicklich in alle Winkel. Die im Lager eingesperrten Verbrecher wurden ebenfalls rebellisch und verlangten Amnestie. Nicht nur das bosnische Militär ließ alles im Stich und nahm Reißaus in die Heimatdörfer, sondern auch von unseren Leuten traten mehrere gleich die Heimreise an, ohne auf 42

den geschlossenen Heimtransport zu warten. Die Mehrzahl aber wartete die weiteren Befehle ab. Wir öffneten die stark verriegelten Türen zu den Arresten und Gefangenenbaracken. Alles strömte wild heraus. Im Nu waren alle Räume leer, und sowohl Gefangene als auch Arrestanten entschwanden unseren Augen. Die Zivilisten kamen in Mengen heran, um unsere gefüllten Magazine zu stürmen. Der bosnische Oberleutnant, welcher mich tags zuvor zum Rapporte befohlen hatte, kam in unsere Baracke und bat uns – weil seine Leute alle davongelaufen waren – wir möchten die Magazine so lange bewachen, bis eine Nationalgarde zusammengestellt sein würde. Es waren aber von den 70 Mann kaum mehr 50 Prozent, welche wir bereit waren, die Magazine vor dem Überfall der Zivilisten zu bewahren. Die Waffen fürchteten sie ungemein, und nur aus diesem Grunde wagten sie nicht, uns anzugreifen, obwohl sie sich sehr nach den aufgestapelten Waren sehnten. Für das Versehen dieses Dienstes bekamen wir Brot, Konserven und Zigaretten nach Bedarf. Aber auch unsere Mannschaft verlor teils schnell die Freude am Dienst, was sich schon am 2. November bestätigte. Ich hatte die Posten aufzuführen, und zwar acht Mann. Wir marschierten ab in der Richtung gegen die Magazine. Als wir am ersten Posten ankamen, lachten die mir nachmarschierenden Kameraden laut auf. Ich sah mich um und musste bemerken, dass nur mehr drei Mann hinter mir waren. Die übrigen fünf hatten sich sozusagen „gedrückt“. Dies stand auch jedem frei, da es einen Zwang nicht mehr gab. (...) Es ließen sich auch gleich wieder andere herbei, Dienst zu machen, weil ja vielen das lange Kartenspielen auch schon lästig wurde. In einer großen Umfriedung vor unseren Baracken befanden sich 116 Stück Ochsen, die alle für die Armee in Albani43

en bestimmt waren. Wir verfielen auf den Gedanken, während unserer freien Zeit einen solchen zu verschleppen, was ja ohne Schwierigkeit möglich war, nachdem wir selbst die Überwachung derselben innehatten. Unser drei Mann beteiligten sich an dem Raubzug. Die Tat brachte uns aber nicht den gewünschten Erfolg. Wir erhofften uns nämlich ein sauberes Sümmchen Geld hiefür. Wir trieben das Tier abends hinaus zur Branntweinschank, deren Wirt wir gut kannten und von dem wir uns eine preiswerte Ablösung des Tieres sicher erhofften. Er aber erkannte genau, dass wir mit dem Mordstrumm Rindviech doch nicht viel anfangen können und bot uns daher pro Mann nur ein Buderl* Schnaps an. Alles Zureden half nichts, wir mussten schließlich einwilligen, um das Tier nicht wieder zurücktreiben zu müssen. So hüteten wir die Magazine, die vor Waren nur so strotzten, bis Sonntag Mitternacht. Um 12 Uhr kam die unterdessen zusammengestellte Nationalgarde, die uns ablöste. Zugleich kam auch der Befehl, dass wir sogleich zum Bataillon nach Doboj einzurücken haben. Beim Bataillon kamen wir um 2 Uhr nachts an. Da wir wussten, dass wir nächsten Tag heimfahren werden, hatten wir begreiflicherweise nicht den geringsten Schlaf. Wir saßen in den Baracken beisammen, sangen frohe Lieder, erzählten Witze und kamen schließlich noch auf die Idee, das in unserer Nähe gelegene Magazin, welches nicht bewacht war, selbst zu stürmen, um uns für die Heimfahrt noch mit Sachen versehen zu können. (...)

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Anton Hanausek ( 1898 – 1984 ) wurde am 19. September 1898 in Wien geboren, hatte zwei jüngere Schwestern und wuchs ab 1905 in ärmlichen Verhältnissen in Wien-Ottakring auf. Für den Lebensunterhalt sorgte vor allem die Mutter mit Hilfsarbeiten, während der Vater den Verlust einer leitenden Stellung in einem Betrieb in der Slowakei und des damit verbundenen relativen Wohlstands nicht verkraften konnte. Nach dem Besuch der Volks- und Bürgerschule absolvierte Anton Hanausek eine Lehre als Elektriker und wurde unmittelbar nach dem Lehrabschluss im Frühjahr 1916 zum Militärdienst eingezogen. Als Mitglied einer Telegraphenabteilung stand er in Rumänien, in den Karpaten und in Oberitalien im Kriegseinsatz. Im Anschluss an die im Folgenden beschriebene glückliche Heimkehr versuchte Anton Hanausek mit verschiedenen Arbeiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ende der 1920er Jahre konnte er sich schließlich als Kohlenhändler selbständig machen. Seine 1931 geschlossene Ehe blieb kinderlos. Die in diesem Band vorgestellten Erzählungen sind einem umfangreichen lebensgeschichtlichen Manuskript entnommen, das Anton Hanausek Mitte der 1970er Jahre handschriftlich für eine Wahlnichte abgefasst hat. Seine von vielen Alltagsbeschreibungen geprägten ­Lebenserinnerungen reichen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, den der Autor wiederum zur Gänze als Soldat mitgemacht hat.

„Alles zusammen eine grausliche Symphonie …“ (...) Um keine Zeit zu verlieren, waren wir die ganze Nacht durchmarschiert, rauchten lediglich eine Zigarette an der an45

deren und leerten die Likörflasche vollends. Der Karabiner war uns schon sehr lästig, aber in solcher Lage konnte man nicht wissen, ob er gegebenenfalls noch nötig war. In den Vormittagsstunden erreichten wir den Tagliamento und freuten uns, dass die Brücke intakt war, und nach deren Überschreiten entledigten wir uns der Karabiner. Nach kurzer Wanderung stießen wir auf ein Eisenbahngeleise, das einen großen Bogen beschrieb. Einige Soldaten saßen hier und sagten, dass sie erfahren haben, dass sehr bald der letzte Zug von der Front in Richtung Villach kommen werde. Ob dies stimmte, konnten wir natürlich nicht beurteilen, aber müde und übernächtig, wie wir waren, war dies Grund genug, hier zu rasten und eventueller Dinge zu harren, die da kommen sollten. Wir saßen zu fünft neben dem Geleise, wobei stets einer von uns ein Ohr auf die Schiene legte, um rechtzeitig die Annäherung eines Zuges wahrzunehmen. Nach kaum einer Stunde war es so weit. Nun galt es zu handeln. Wir verteilten uns und hofften, dass der Zug in dieser Kurve nicht allzu rasch fahren werde. Endlich tauchte er auf und fuhr tatsächlich mit nur mäßigem Tempo. Ja, aber wie sah dieser Zug aus? Schon an der Lokomotive klebten rundum Leute, wo immer sie Stand und Halt fanden. Auch an den Waggons, auf allen Trittbrettern standen dicht die Männer, wo immer sie einen Halt erblickten – und da sollte ich hinaufkönnen? Als nun der Anfang eines Waggons auf meiner Höhe war, rannte ich ein Stückchen mit, um aufzuspringen. Dies wäre mir aber niemals gelungen, wenn mich nicht helfende Hände erfasst und emporgezogen hätten. Als ich wenigstens für einen Fuß etwas Stand fand und auch Griffstangen fassen konnte, wusste ich, dass ich es geschafft hatte. Langsam musste ich mich mehr und mehr heranziehen, was aber nicht leicht war, da mich bei diesem Gedränge der prall gefüllte 46

Rucksack stark behinderte. Unglaublich, was sich abspielte, als wir Gemona erreichten. Da der Zug niemanden mehr aufnehmen konnte, blieb er gar nicht stehen, sondern fuhr langsam weiter, obwohl noch einige hundert Mann mitkommen wollten. Den Moment des Langsamfahrens benützte ich, um auf das Waggondach zu klettern, was nun auch noch viele andere taten. In Fahrtrichtung gesehen, lag ich ganz vorne auf dem Waggondach, ganz flach, sodass ich wegen der Unvorsichtigkeit eines anderen keinesfalls im Tunnel heruntergestreift werden konnte. Auch meinen Rucksack platzierte ich so neben mir, dass er, wenn er an der Tunnelkante stecken blieb, mich nicht mitnehmen konnte. In solch aufregender Situation muss man an alles, aber auch rasch denken. Das ist kein Zeitpunkt zum Träumen und Duseln. Ein Blick den Zug entlang zeigte mir nun, dass bereits alle Waggondächer voll belegt waren. Weiter nördlich in Richtung Villach gab es manche Tunnel – wenn dies nur gut geht. Ein schlimmes Gefühl empfand ich, als der Zug in den Tunnel hineinfuhr. Wie sehr ich auch Kopf und Körper an das Waggondach presste, hatte man ein ungutes Gefühl, die Tunneldecke so knapp oberhalb des Körpers zu wissen. Zudem kamen die Finsternis, der atemberaubende, dichte Rauch, der höllische Lärm des Zuges, verbunden mit dem Gebrüll und Gesang der mitfahrenden Soldaten. Alles zusammen eine grausliche Symphonie, verschlimmert durch die langsame Fahrt des Zuges. Da nun der erste Tunnel hinter uns war, ohne dass etwas passierte, blickte ich den anderen völlig gleichgültig entgegen. In Villach angekommen, musste alles aussteigen, da die Maschine abgekoppelt wurde. Als ich noch am Waggon­dache saß, war ich Zeuge, wie eben die Zivilbevölkerung einen Güterzug, der auf einem Nebengeleise stand, plünderte. Dieser Zug war für die Front bestimmt und wurde vornehmlich von 47

Frauen geplündert. Ein mit Filzstiefeln beladener Waggon wurde ausgeräumt, obwohl aus seinem Innern dichte Rauchschwaden drangen. Auch Mehl- und Schnapswaggons wurden geplündert – aber wie sahen die plündernden Weiber aus? Wegen geborstener Gefäße im Waggoninnern rann der Schnaps am Waggonrande herunter und wurde mit allen möglichen Gefäßen aufgefangen. Zwischendurch trank man den Schnaps, wurde bei dem Gedränge bis in die Haare nass, und da das Plündern gleich bei den Mehlwaggons fortgesetzt wurde, waren alle, einschließlich ihrer wirren Haare, verschmiert mit Schnaps und Mehl. Dazu ein förmliches Geheul verbunden mit Tätlichkeiten; alles zusammen infernalisch, und niemand gebot Einhalt. Das Bedenkliche beim Plündern ist, dass der weitaus größte Teil der Güter ruiniert wird und verlorengeht. Genau genommen registrierte ich zwar diese Vorgänge, ohne dass mir dieselben allzu tief unter die Haut gingen. Schließlich ist das eben eine der üblen Seiten eines Krieges. Da von niemandem bezüglich der Weiterfahrt eine Auskunft zu erlangen war, schritt ich den Bahnhof ab, um vielleicht die Zusammenstellung eines Zuges zu bemerken. In solchem Falle wollte ich früher daran sein, um nicht abermals auf dem Waggondache liegen zu müssen. Während dieser Bahnhofspromenade gelangte ich zur Verpflegsstation, wo ich schwarzen Kaffee und ein Marmeladebrot erhielt. Genau genommen kannte ich mich noch nicht recht aus. Ist der Krieg aus oder nicht? Ich wollte Klarheit. War dies nur ein Rückzug, wie er an der Ostfront einige Male erfolgt war und wo es ebenso zuging, oder war dieser Krieg tatsächlich zu Ende. Und so frug ich den Feldwebel bei der Verpflegsstätte: „Bitte, wo soll ich mich da melden?“ – Owa Menschenskind, lebst du am Mond? Da Kriag is aus, fohr ham, owa schnöll!“ Ich dachte es mir ja, aber nun bekam ich’s bestätigt. Nachdem ich den Kaffee getrunken und das Marmeladebrot verzehrt hat48

te, schlenderte ich weiterhin am Villacher Bahnhof umher. Da sah ich auf einem Seitengeleise eine aus acht oder zehn Waggons bestehende, zusammengekoppelte Garnitur, allerdings ohne Lok und demnach völlig unbesetzt. Als Folge der enormen Strapazen, die ich seit Vittorio ertragen hatte, stellte sich nun eine heftige Reaktion ein. Ich bestieg kurzerhand diese leerstehende Garnitur, setzte mich an ein Fenster, nahm sicherheitshalber den Rucksack auf den Schoß und … schlief sofort ein. Wie lange es währte, weiß ich nicht, denn meine Uhr war seit langem kaputt, aber plötzlich wurde ich durch allerhand Krach und Getöse geweckt. In Minutenschnelle waren die Waggons zum Bersten gefüllt, da die Leute auch bei den Fenstern eindrangen. Diesmal hatte ich eine gute Nase, denn ich hatte einen schönen Fensterplatz und brauchte bis Wien nicht hinaus. Sollte ich aber trotzdem hinausmüssen, ginge ich natürlich nicht hinaus, denn wozu saß ich beim Fenster … Es dauerte noch Stunden, bis der Zug abfuhr. Mittlerweile waren die Waggons so gefüllt, dass die Leute auch in den Gängen so eng zusammengedrängt waren, dass jeder wohl stehen, aber kaum einen Schritt gehen konnte. Aus dem Gepolter ober uns erahnten wir, dass auch die Waggondächer bereits wieder voll besetzt waren. Da aus den Frontgebieten pausenlos Militär herbeiflutete, war das Bahnhofsgelände mit Soldaten überfüllt. Endlich, endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Das Bewusstsein, der Krieg ist aus, es geht der Heimat entgegen, stimmte die Männer närrisch vor Freude. Lieder aller Sprachen der Monarchie erschollen, Schnaps- und Weinflaschen wurden geleert, und jene, die ihr Gewehr bei sich hatten, schossen vor Freude zum Fenster hinaus, ohne allfällige Folgen zu bedenken. Die Fahrt nach Wien verlief nicht ungestört, da zwei- oder dreimal ein Mann wegen Unachtsamkeit bei einer Tunneleinfahrt vom Waggon abgestreift wurde. Ob sie beim Wegschaffen noch lebten – wir erfuhren es nie. 49

Als Zigarettenschleichhändler (...) Kurz vor dem Abzug unserer Kompanie aus Vittorio hatte ich einen Rucksack voll Rauchmaterial erbeutet. Als wir hörten, dass das Offiziersfassungsdepot geplündert wurde, eilten wir in der Annahme, dass dies die Zivilisten tun, dorthin. Es stimmte, dass geplündert wurde, aber nicht von Zivilisten, sondern von einer Horde betrunkener, grölender österreichischer Soldaten. Die Leute wateten unsinnigerweise buchstäblich in Zigaretten, Keks und Sonstigem. Sie zertrümmerten volle Wein- und Schnapsflaschen und ruinierten weit mehr, als weggetragen werden konnte. Nun war es egal, wir sahen, dass es zu Ende ging, und taten auch mit. In einen leeren Jutesack, den ich fand, warf ich hinein, was ich erwischen konnte. Als wir abzogen, war das Magazin leer, soferne man von den ruinierten Sachen absah. Als ich meinen Rucksack füllte, stellte ich fest: 50 Pakete Zigarettentabak, circa 360 Zigaretten, zwei Flaschen Likör, etwas Polenta, Offizierskeks, Konservenkaffee. (...) Da ich nach meiner Heimkehr noch vielerlei zu erledigen hatte, ging ich nicht gleich arbeiten, sondern beabsichtigte, mein Rauchmaterial zu Geld zu machen – zu Schleichpreisen, versteht sich. Da es ja viele solcher Zigarettenschleichhändler gab, hatte sich bald ein einheitlicher Schleichpreis eingependelt. Die auf Marken erhältliche Ration war derart gering, dass in der Folge die Schleichware rasch wegging. Vorerst kaufte ich einige Schachteln Zigarettenhülsen, wobei ich mich sehr wunderte, dass man solche überhaupt erhielt. Hatte ich eine Schachtel mit hundert Stück gestopft, begab ich mich zum Westbahnhofe, dem Schleichhandelsmarkt für Verkäufer und Käufer. Jeder sprach jeden mit dem vertraulichen Duwort an, was mir jetzt, da in Zivil, so gar nicht passte. Auf die Dauer konnte ich mich für die Schleichtätigkeit nicht erwärmen. Es war ja verboten, und dies mit Recht. 50

Aber wie heißt es doch immer: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! So tat ich’s halt weiter, war aber heilfroh, als in zirka zwei Wochen alles Rauchmaterial versilbert war. Mit diesem Schleichhandelserlös konnten wir nun zum Schleichpreis Lebensmittel kaufen, die das Zehn- bis Zwanzigfache des Normalpreises kosteten, sodass auch dieses Geld bald vertan war. (...) Unmittelbar nach der Heimkehr gab es für mich wie auch jeden anderen Heimkehrer eine ganze Menge von Laufereien: Beheben eines Abrüstungsscheines, Anmeldung bei der Polizei zwecks Erhalt der Lebensmittel- und sonstigen Bezugsscheine. Weiters musste ich in den 3. Bezirk fahren, wo Heimkehreranzüge ausgefolgt wurden. Übrigens, die Qualität dieser aus Ersatzmaterialien hergestellten Anzüge war derart, dass diese Anzüge das Straßenbahnfahrgeld nicht wert waren. Weiters musste ich zum Invalidenamt, um zu melden, dass mein Vater in Trautenau, nunmehr Ausland, in einem Lazarett lag. Innerhalb zweier Wochen war all dies erledigt, so dass ich mich bei der Firma Promper & Ferner, bei der ich ausgelernt hatte, meldete. Mit dem Ausrufe „Na, dass’ schon do san!“ begrüßte mich Herr Promper, mein unmittelbarer Chef. Und so ergab es sich, dass ich, der ich schon am 1. Oktober 1912 in die Lehre eintrat, jetzt erst, Ende November 1918, den ersten Wochenlohn erhielt.

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Karolina Weiss ( 1893 – 1982 ) wurde als Karolina Kittl am 5. März 1893 in Stuhlfelden im Pinzgau geboren und wuchs mit sechs großteils jüngeren Geschwistern in ländlicher Umgebung auf. Nach Abschluss der Pflichtschule war sie anfangs auf nahe gelegenen Dienstplätzen und in einer Badeanstalt in Bad Gastein beschäftigt. Durch eine Anstellung als Handelsvertreterin lernte sie Nord- und Südtirol kennen und kam als „Kinderfräulein“ einer begüterten Münchener Familie im Deutschen Reich herum. Während eines Besuchs bei ihrer Herkunftsfamilie in der Obersteiermark im letzten Kriegsjahr ergriff sie die Gelegenheit, eine Schutzhütte in den Schladminger Tauern und kurzzeitig auch ein Wirtshaus im Tal zu bewirtschaften. Die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen verbrachte Karolina Weiss mit ihrem Mann und zwei Kindern (eines davon das Kind einer früh verstorbenen Schwester) in Holland. Nach der Rückkehr im Jahr 1939 ließ sich die Familie in Korneuburg, Niederösterreich, nieder und betrieb eine Schneiderei. Die Autorin führte ab ihrem 14. Lebensjahr Tagebuch, nach diesen Aufzeichnungen fasste sie später ihre Lebenserinnerungen in Romanform ab. Den ersten Teil wahrscheinlich in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, eine Fortsetzung über ihre Erlebnisse im Jahr 1945 in den Jahren 1957/58. Das Typoskript des ersten Teils, aus dem in diesem Band mehrere Episoden wiedergegeben werden, umfasst 287 Seiten und gelangte 2005 in die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“.

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„Die Grippe muss sich ausbluten …“ Der Hunger, die Armut, das Elend hatten mit dem Ende des Krieges erst richtig begonnen. Die Menschen darbten und hungerten und starben … Haus an Haus wütete die Spanische Grippe – sie leerte die Häuser und füllte die Gräber. Der Feind war ein Sieger ohne Gnade. Es war Friede, aber der Hunger ging um – er fraß sich in die Eingeweide, und was noch ärger war: Er fraß sich in die Herzen der Menschen. „Der Arzt kann nicht kommen“, sagte die Mutter, „es starb ihm die Frau, es starb ihm der Sohn und gestern starb ihm die Tochter.“ Das Blut, welches unaufhaltsam aus meiner Nase strömte und hinter meine Ohren rann, stoppte die Mutter mit Leinenlappen, dann quoll es aus meinem Mund … „Die Grippe muss sich ausbluten“, sagte eine Nachbarin. Dann legte sich Mutter hin, neben die Mutter legte sich meine Schwester Franzi und ein Bruder legte sich dazu. Aus dem Bergwerk kam Vater heim, sein Gesicht war aufgedunsen, sein Bauch war dick, verquollen waren seine Augen – Hungerpest*. Entlang der Straße schleppte ich mich mühsam in die kleine Stadt. Pferdefleisch – ich musste es um jeden Preis haben – für Vater, damit er nicht hungers starb. Das Pferd musste erst geschlachtet werden, und der Pferdemetzger musste erst aus dem Wirtshaus geholt werden. Er zog einen Revolver und schoss auf das Pferd. Ich sprang auf einen Tisch, denn das Pferd hatte auf einmal hundert Beine und alle diese Beine schlugen Funken aus dem Stein­boden der Schlachthalle. Nach einem zweiten Schuss brach das Tier zusammen. Ich weinte – ein Pferd, „ein Kamerad“. Dann trug ich das warme Pferdefleisch nach Hause. Ungarn, die auf Kriegswägen heimwärts zogen, nahmen mich ein Stückchen mit, denn ich war noch zu schwach für den weiten Weg. In einer glühend heißen Eisenpfanne rösteten wir das Fleisch, denn Fett hatten wir keines. 53

„Es ist aus mit den Brennnesseln, weit und breit keine mehr zu finden“, sagt Franzi. „Und im ganzen Dorf und in den Nachbardörfern sind keine Katzen mehr zu erwischen“, klagt ein Bruder. Die Buben essen alles, was sie finden, ihre Körper sind über und über mit Ausschlag bedeckt.

„Der Staub ist nur so gewirbelt …“ Frau Beranger, die Wirtin vom „Goldenen Stern“, liegt im Krankenhaus. Ihr Mann und ihr Sohn liegen irgendwo in Russland begraben. Bis sie wieder heimkehrt, hüten wir ihr Haus, meine Schwester Franzi und ich, und warten* die ­Gäste. Ich bin noch sehr wackelig auf den Füßen, aber: „Wo ein Wille ist …“ – und ich habe viel Willen. Das Wirtshaus „Zum Goldenen Stern“ liegt in der Stadt, in der wir zur Kirche gehen. Zwar haben wir auch im Dorf eine Kirche, meine Schwester und ich aber gehen in die Stadtkirche. Und jetzt wohnen wir da im „Goldenen Stern“ und machen die Geschäfte für Frau Beranger. Zu essen gibt es wenig, zu trinken nicht viel. Heute aber war der Bürgermeister bei mir und erklärte mir, dass ich eine extra Bierzuteilung erhielte – weil eine Abteilung Bayern käme. Die wollten den Schutz der Stadt gegen die zurückflutenden Horden übernehmen. In unserem großen Saal sollte Einquartierung kommen. Nachts kamen die Bayern, es waren ihrer viele. „Wir haben Kranke mit“, sagte einer, „können die wo schlafen, wo es nicht so kalt ist?“ – „Es ist überall kalt im Hause, denn wir haben nichts zum Heizen, nur in der Küche ist es warm. Da müssten wir halt etwas von dem Stroh aufschütten, das wir für euch im großen Saal aufgeschüttet haben.“ Morgens, als ich dann in meine Küche kam, war sie so voller Soldaten, dass ich nicht wusste, wo ich meinen Fuß hinsetzen sollte. „Mein Gott“, sagte ich zu meiner Schwester, „ich glaube, die haben nur Kranke mit.“ Sie waren aber ganz 54

gut beieinander, nachdem sie sich die Augen ausgerieben hatten. Ich erhielt zum Bier noch eine magere Ziege, um die Bayern etwas zu laben. Das Bier und der Geruch von Ziegenfleisch zogen aber auch andere Gäste an. Es kam der Schiffer Heiner mit seinem Anhang, und den sah ich nicht gerne, weil er ein Stänkerer und Raufbold schlimmster Sorte war. Es dauerte auch nicht lange und seine stänkerigen Reden züngelten um die Tische der Bayern, die hinter ihren Bierkrügen saßen und am zähen Ziegenfleisch nagten. Anfangs gaben die Bayern nicht viel Acht auf die Stichelreden, mit der Zeit aber stieg ihnen der Zorn hoch und böse Worte flogen zurück. „Du musst etwas tun“, sagte Franzi, „denn lang dauert’s nicht mehr, dann haben wir die schönste Rauferei und koan Außischmeißa.“ Ich ging zum Tisch vom Heiner: „Du“, sagte ich, „du hast deinen Teil vom Bier gehabt, und auch von der Goaß* – obwohl dir gar nichts zukäme, denn es war nur für die Bayern bestimmt. Wenn du aber jetzt mit Stänkern nicht aufhörst, lass ich dich von den Gendarmen abführen – ich habe dich gewarnt.“ Heiner und sein Trupp wieherten vor Lachen und bezogen mich dann auch noch in ihr übles Gerede ein. Als ich sie dann wirklich von den Gendarmen entfernen ließ, bedrohten sie mich mit ihrer Rache. „Die Bayern haben Appell“, sagte Franzi, „da muss ich dabei sein!“ Und Franzi war dabei. Sie lehnte im offenen Saalfenster und hörte zu. Ein Offizier erklärte, dass es mit dem Kaiserreich zu Ende sei und dass sie des Eides entbunden wären, den sie geleistet hatten. Er sagte noch vieles mehr und riss dann als Erster die Abzeichen von seiner Mütze. Die Soldaten aber rührten sich nicht, keiner folgte dem Beispiel. Der Offizier wollte der Sache etwas Nachdruck verleihen, trat an einen Soldaten heran und wollte eigenhändig von dessen Mütze die Abzeichen entfernen … 55

„Der Staub ist nur so gewirbelt“, berichtete Franzi, „ein Durcheinander war das! Ich hab geschrien: ‚Da her, da her!‘, und wirklich ist er beim Fenster außeg’hupft – und i mit ihm davon. Koa Mensch hot uns g’sehn, und bei der narrischen Rosl werden s‘ ihn bestimmt nicht suchen – und morgen ist er schon fort. Den Befehl hat jetzt ein älterer Unteroffizier übernommen, der hält sie schon im Zügel.“ Abends wusste Franzi dann wieder eine andere Neuigkeit. Ungarn lagerten vor der Stadt, man konnte ihre Feuer sehen. Überall hatten die Bayern Wachen aufgezogen, damit sie nicht plündern und rauben konnten. Zur Vorsicht versteckte Franzi aber doch die Riesengeldtasche in der kalten Asche des Ofens. Auf die Bayern war aber Verlass, die Stadt blieb unter ihrem Schutz von jedem Einfall verschont. Aber in einer Nacht, nachdem die Bayern abgezogen waren, schmiss der Schiffer Heiner mit seinem Anhang uns alle Fenster ein. Wohl erstattete ich Anzeige, da ich es aber nicht beweisen konnte, dass er es war, geschah ihm nichts. Dafür hat Franzi ihn dann aber mitten in einer Gesellschaft geohrfeigt. Wir waren sehr froh, als Frau Beranger ihre Wirtschaft wieder selber weiterführen konnte, und so verschwanden wir wieder aus der Stadt. Nur mit Schiffer Heiner sollte ich noch einmal eine Begegnung haben. Wir hatten mit Frau Beranger noch etwas zu verrechnen und hielten uns im „Goldenen Stern“ auf. An einem der Tische im Gastzimmer saß Schiffer Heiner, den Schwarzen Heiner nannte man ihn auch. Er war einer der dämonisch aussehenden Männer und immer arg hinter den Weibern her. Schnaps, Weiber, dunkle Geschichten und das Messer – das war Heiner. „Ein schöner Räuberhauptmann!“, sagte Franzi immer. Er selber war durch seinen schlechten Ruf noch „jemand“. Aber seine Kumpane waren bloßes Gesindel. 56

An einem anderen Tisch saßen Offiziere des österreichischen Militärs. Sie trugen zwar kein Rangabzeichen mehr, aber in ihrer Haltung, in ihren Manieren und im Tuch ihrer Uniformen waren sie es immer noch. Franzi und ich saßen mit der Kellnerin, die Frau Beranger eingestellt hatte, allein an einem Tisch. Ich beobachtete Heiner und an seinem Gehaben merkte ich, dass er etwas im Schilde führte. Er tat sehr wichtig, flüsterte und begleitete sein Flüstern mit seitlichen Blicken nach dem Offizierstisch. Dann stand er auf und ging hinaus, seine Kumpane blieben sitzen und machten Gesichter, als ob etwas Besonderes bevorstünde. „Nichts Gutes“, dachte ich mir, „aber was?“ Weil die Glocke für die Kellnerin im Hausgang anschlug, ging diese hinaus. Bierverkauf über die Straße, nahm ich an. Die Kellnerin kam wieder in die Gaststube zurück, ging zum Tisch der Offiziere und teilte einem von ihnen mit, dass draußen ein Herr wäre, der ihn einen Augenblick zu sprechen wünschte. Der Offizier stand sofort auf und folgte der Kellnerin. Wohl war er sehr überrascht, wer hier von seiner Anwesenheit wusste, denn die Herren waren nicht aus unserer Gegend, sie waren auf dem Heimmarsch. „Heiner?“, dachte ich, aber was konnte der von dem Mann wollen? Franzi und ich verabschiedeten uns von der Kellnerin. Im Hausflur, ganz nahe der Türe, stand Heiner, eigentlich stand er mit seinem Rücken im Türrahmen. Vor ihm stand der Offizier. „Wirklich“, hörte ich im Vorübergehen den Offizier sagen, „ich kenne Sie nicht.“ Weil uns Heiner den Weg nicht freigab, mussten wir stehen bleiben. Groß, frech, mit gespreizten Beinen, stand Heiner in der Türe. In seinem Gesicht war eine Hässlichkeit, die aus seiner Seele kam, denn er hatte ein gut geschnittenes Gesicht, nur seine Laster entstellten es. „Erinnern Sie sich denn gar nicht mehr“, frug Heiner lauernd. „Da muss ich dem Herrn 57

Leutnant schon nachhelfen. Es war am 20. März 1917. Ließen Sie da nicht einen gewissen Heiner Schiffer anbinden?“ – „Sie sind der Mann? Ja, daran erinnere ich mich – aber Sie müssen zugeben …“ – „Ja, ich gebe zu: das – und das – und das geb ich Ihnen auch noch zu.“ Nach jedem Wort schlug Heiner dem Offizier die geballte Faust in das Gesicht, sodass das Blut sogar noch uns bespritzte. Durch den Umstand, dass der Offizier zurückwich und Heiner nach vorne sprang, wurde für uns die Türe frei. Ich sah noch, dass die Kumpane des Heiner sich im Rücken des Offiziers postierten und dass Heiner abermals auf sein Opfer zusprang. Dieser aber hatte seine Überraschung über den plötzlichen Anfall überwunden und wollte sich zur Wehr setzen. Hinter ihm aber standen Heiners Spießgesellen … Franzi und ich liefen um das Haus herum zum Fenster des Gastzimmers und riefen durch dasselbe: „Euer Kamerad wird verdroschen. Schnell, nehmt Stühle mit und haut zu!“ Dann machten wir noch einen Gang auf die Polizei, um das zu melden, was wir gesehen hatten.

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Alois Rezac ( 1892 – 1987 ) wurde in Sinj, Kroatien, nach drei älteren Schwestern als einziger Sohn des Alexander von Řezàč, eines in den Adelsstand erhobenen k. u. k. Offiziers (später Generalmajor), am 28. März 1892 geboren. Entsprechend den dienstlichen Versetzungen seines Vaters verbrachte er seine Kindheit und Jugend in verschiedenen Garnisonsstädten der Habsburgermonarchie. Ab dem zwölften Lebensjahr besuchte Alois Rezac die Militärunterrealschule in St. Pölten, später die ­Pionierkadettenschule in Hainburg. Während der gesamten Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs befand er sich im Kriegseinsatz und avancierte vorerst zum Oberleutnant und später zum Major. Seine Anfang der 1980er Jahre auf 32 Seiten maschinschriftlich abgefassten Lebenserinnerungen mit dem Titel „Lebenslauf von Major Alois von Rezac. Die Erlebnisse und Erinnerungen eines k. u. k. Offiziers“ spiegeln den hohen Stellenwert militärischer Ideale im Leben des Verfassers. Seine Tätigkeiten als Finanzbeamter in der Zwischenkriegszeit und später als selbständiger Unternehmer, der kunstgewerbliche Produkte herstellte und bis ins hohe Alter eigene Erfindungen patentieren ließ, treten demgegenüber in den Hintergrund. Alois Rezac heiratete nach der Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg und war Vater zweier Söhne.

„Unser Oberleutnant ist ein anständiger Mensch“ (...) Mir passte dieser Dienst im Hinterland nicht und ich bat, bei einer Fronteinheit eingeteilt zu werden. Ich kam im Mai 1918 zur 1/44 Sappeurkompanie*, unterstellt der 44. Schützendivision, die am Isonzo eingesetzt war.“ 59

Der Kompaniechef war ein sehr strenger Mann und bestrafte die Leute wegen jeder Kleinigkeit. Da es im Feld keine Arrestzellen gab, wurden die Leute angebunden, das heißt, es wurden ihnen die Hände am Rücken zusammen- und an einen Baum oder Pflock festgebunden, manches Mal so, dass der Mann auf den Zehenspitzen stehen musste. Einmal bestrafte er einen Mann, der bei einem Bauern Obst von einem Baum gerissen hatte, mit zwei Stunden Anbinden. Ich hatte die Aufsicht. Da ich diese Art der Bestrafung hasste, band ich den Mann los und sagte ihm, wenn der Kompaniechef kommen sollte, sage ich, ihm sei schlecht geworden. Einmal bestrafte ich selbst einen Koch auf diese Weise, da er einem Hund Paprika und Pfeffer in den After gestreut hatte. Der Hund fuhr ununterbrochen Schlitten und jaulte, worüber sich der Koch köstlich amüsierte. Ich ließ den Koch sofort anbinden. Wenn ich am Abend wegging, sah ich öfters Leute auf den Bäumen sitzen, um sich Äpfel zu holen. Da nahm ich kleine Steinchen und bewarf sie damit. Als sie wieder unten waren, kamen sie mir mit vollgestopften Blusen, die unten abgebunden waren, entgegen. Es war ja kein Wunder, wenn sie das machten, denn die Verpflegung bestand aus Dörrgemüse. Nur alle zwei bis drei Wochen gab es ein ganz kleines Stück Fleisch. Ich sagte dem Mann: „Du bist aber dick geworden, iss nicht alle Äpfel allein, sonst wird dir schlecht!“ Er versprach mir, seinen Kameraden auch Äpfel zu geben. Anschließend sagte er mir noch, dass ich ein wunderbares Ziel hätte, denn die Steinchen, die ich nach ihm geworfen hatte, gingen haarscharf an seinen Ohren vorbei. (...) Bei dieser Kompanie erlebte ich auch den Zusammenbruch der Front, also den allgemeinen Umbruch. Mein Kompaniechef befahl mir, das Kommando über die Kompanie zu übernehmen, da er die feindliche Einstellung der Mannschaft ihm gegenüber verspürte. 60

Obwohl sich schon alle Einheiten aufgelöst hatten, marschierte meine Kompanie geschlossen hinter mir. Da kam ein Soldat daher und rief meinen Leuten zu: „Da is a no so aner, der umg’legt g’hört.“ Die Antwort meiner Leute war: „Verschwind, sonst legen wir dich um! Unser Oberleutnant ist ein anständiger Mensch.“ Ich war erst vier Monate bei dieser Kompanie. Viele Soldaten hatten ihre Offiziere erschossen. In der Kompanie waren fünf Sprachen vertreten. So kam es, dass die Ungarn, als eine ungarische Einheit auch geschlossen vorbeimarschierte, mich baten, ob sie sich anschließen könnten. Wir verabschiedeten uns, und die Ungarn rückten ab. Auf der Hauptstraße angelangt, sah man erst die Folgen des Zusammenbruchs. In hellen Scharen marschierten die Soldaten, ihre Nationallieder singend, ihrer Heimat zu. Jetzt kamen die Italiener zu mir und baten, abtreten zu können, da diese Straße direkt in ihre Heimat führte. Wir verabschiedeten uns, und einige Kroaten schlossen sich an. Wir waren 18 Deutsche und eine größere Anzahl von Tschechen. Wir marschierten zum nächsten Bahnhof nach Laibach. Von Glück konnten wir reden, denn im Bahnhof stand eine leere Zugsgarnitur. Doch mussten wir die slowenischen Bahnhofssperren passieren, die sich schon gebildet hatten. Ich erfuhr, dass den Offizieren alle Gebrauchsgegenstände abgenommen wurden. Ich verteilte daher meine Wertsachen an die Mannschaft und diese gab sie mir später im Zug zurück. So fuhren wir der Heimat entgegen und während der Fahrt hörte ich wieder, dass in Wien am Bahnhof die neugeschaffene Volkswehr* auch alle Sachen abnimmt. Ich stieg daher eine Station vor Wien aus und fuhr mit der Straßenbahn nach Wien. Wie war ich glücklich, als ich am 18. 11. 1918 Mama gesund in der Wohnung antraf. Meine nächste Tätigkeit war – 61

da ich ja nach Zusammenbruch der Monarchie keine Kaution* benötigte – zum Feldsuperiorat* in der Rossauerkaserne zu gehen und meine Eheschließung anzumelden, die für den 23. Dezember festgesetzt wurde. Wir feierten in aller Stille und unser Festbraten war ein australisches Kaninchen, das ich von einem Schneider im Schleichhandel erwarb. Da das Pionierbataillon in Klosterneuburg nicht mehr bestand, meldete ich mich beim Platzkommando, das mich zur Bewachungsmannschaft für die Lebensmitteltransporte einteilte. Unsere Aufgabe war, die Lebensmittelzüge, deren Inhalt aus Amerika kam, vor Plünderungen zu schützen. Wir fuhren die Strecke Innsbruck – Wien. In Innsbruck trugen die Offiziere noch die Sterne am Kragen, während in Wien dies von der neuen Regierung ver­ boten war. Und nun folgende Begebenheit: Wir vom Transportkommando trugen natürlich auch in Wien die Sterne. Einmal ging ich in die Stiftskaserne, in der unsere vorgesetzte Dienststelle amtierte. Schon beim Hineingehen starrten mir die Soldaten der Wachmannschaft auf den Kragen, natürlich ohne den militärischen Gruß einem Offizier zu leisten. Als ich wieder die Kaserne verließ, genau dasselbe Benehmen der Soldaten. Nachdem ich 50 Meter gegangen war, hörte ich hinter mir jemanden rufen: „Hörn S’, bleiben S’ stehn, wann i ruf, ham S’ stehn zu bleiben!“ Natürlich reagierte ich nicht darauf. Da kam ein Mann der Wachmannschaft gelaufen, stellte sich mir in den Weg und sagte: „Nehmen S’ die Stern abi, sonst reiß i Ihna die Stern abi!“ Ich handelte ganz kurz, drückte ihm die Pistole, die ich immer in der Tasche trug, in die Magengrube und sagte: „Sie reißen und ich drücke, wer schneller fertig ist.“ Wortlos drehte er sich um und ging zur Wache zurück. Später hörte ich ein Gelächter aus dieser Gegend.

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Ein andermal ging ich beim Franz-Josefs-Bahnhof in eine Konditorei, Mama blieb vor der Auslage stehen. Da sah ich, wie sich zwei Männer neben sie stellten und sie belästigten. Ich ging hinaus und erklärte, dass sie meine Frau sei, worauf die zwei Männer, da ich noch Uniform trug, mich mit folgenden Worten beschimpften: „Du schwarzgelber Hund, du Monarchistenschädel, wir haun dir den Schädel ein …“ Auch in diesem Falle konnte ich die Männer mit der Pistole in der Hand abhalten. Als wir weitergingen, kam ein Herr auf mich zu und sagte mir, ich solle vorsichtig sein, denn die beiden Männer hätten vereinbart, mich bei der nächsten Hausecke abzufangen. Ich ging mit Mama sofort auf die Straßenmitte, damals war noch kein Verkehr. Tatsächlich standen beim nächsten Hauseck diese zwei Männer. Wäre ich auf dem Gehsteig gegangen, hätten sie mich leicht überrumpeln können. Nun zog ich wieder die Pistole aus der Tasche und sagte laut, dass ich sofort schießen würde, wenn einer näher als fünf Schritte herankommt. So kamen wir anstandslos nach Hause. Dies war der Wandel von der Monarchie zur Demokratie. (...)

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Leo Schuster ( 1889 – 1974 ) wurde am 11. April 1889 geboren und wuchs in einer Kleinhäuslerund Heimweberfamilie in Wachtl, einer deutschen Sprachinsel in Mähren, auf. Als Vierzehnjähriger kam er zu einem älteren Bruder nach Wien, um ein Handwerk zu erlernen. Nach Abschluss einer vierjährigen Schneiderlehre gelang ihm kein dauerhafter Berufseinstieg, er verbrachte die Jahre bis zum Antritt seines Militärdiensts im Jahr 1910 teils beschäftigungslos, teils mit Gelegenheitsarbeiten. In der k. u. k. Armee machte er keineswegs nur positive Erfahrungen (vgl. den Beitrag „Kein Wunder, dass es alle Jahre Selbstmorde gab“ von Leo Schuster in Band 66 dieser Buchreihe, Christa Hämmerle (Hg.): Des Kaisers Knechte. Erinnerungen an die Rekrutenzeit im k. (u.) k. Heer, 1868 bis 1914, Wien-Köln-Weimar 2012), er avancierte aber zum Rechnungsunteroffizier und strebte auf Basis einer freiwillig verlängerten Militärdienstzeit eine Anstellung im Staatsdienst an. Anschließend war er bis nach dem Zweiten Weltkrieg als Gendarm, vor allem in Niederösterreich, tätig. Die hier wiedergegebenen Textausschnitte sind dem von Peter Paul Kloß zusammengestellten und längst vergriffenen Band 8 dieser Buchreihe, „… Und immer wieder mußten wir einschreiten“. Ein Leben „im Dienste der Ordnung“, Wien-Köln-Graz 1986, entnommen.

„Und nun stehe ich vor dem Nichts!“ Im März 1918 kamen wir nach Palmanova bei Grado. Dort wurden wir bald gänzlich aufgelöst, und ich kam nach vierzehnmonatigem ununterbrochenem Frontdienst zum Ersatz64

kader nach Josefstadt in Böhmen. Ich war mit den Nerven ziemlich kaputt und kam bald ins Lazarett nach Pardubitz in Böhmen, wo ich bis Kriegsende verblieb. Zwischen Palmanova und Pardubitz hatte ich dreiwöchigen Urlaub, und in dieser Zeit habe ich am 9. April 1918 geheiratet. Im Lazarett ging es mir als hochgradigem Neu­ rastheniker* sehr gut. Ich bekam vorzügliche Verpflegung, musste täglich ein Brombad nehmen, und von Abb. 5: Leo Schuster an der russiJosefstadt hatte ich mir ein schen Front (1915) Päckchen Urlaubsscheine, die ich schon dort abstempelte, mitgenommen. So stellte ich mir jede Woche einen Urlaubsschein aus, den ich mit meiner Unterschrift versah. Ich fuhr also übers Wochenende immer unentgeltlich nach Hause. Auf diese Weise hätte ich den Krieg noch eine Weile aushalten können. Aber es kam anders. Als ich wieder einmal von Wachtl nach Pardubitz fuhr, musste ich einen Lastzug benützen, wo ich im Paketwaggon mitfahren konnte. Auf der Fahrt schmückten die Eisenbahner – es waren natürlich Tschechen – die Lok mit Reisern und Blumen. Ich konnte mir den Grund nicht erklären, und da ich nicht Tschechisch verstand, konnte ich mich mit ihnen auch nicht verständigen. Auf den Bahnhöfen gab es Menschenansammlungen und erregte Debatten, so dass mir schließlich der Gedanke kam, dass wohl am Ende gar schon der Krieg aus sei. Daran wagte man ja gar nicht zu denken. 65

Als ich in Pardubitz den Bahnhof verließ, wurde in Gegenwart einer riesigen Menschenmenge eben der Kaiseradler des Bahnhofs auf einen Mistwagen verladen und damit ein Leichenbegängnis markiert. Ein treffendes Symbol für den Untergang des alten Österreich! Ich stand starr vor Enttäuschung und dachte: ,,Das ist also das Ende. Wozu all das Leid und die vielen Toten?“ Ich trachtete aus dem Wirbel herauszukommen, denn ich war in meiner Uniform bereits unliebsam aufgefallen. Einige riefen mir zu: „Rosetti dolu!“ Das hieß: ,,Ab mit der österreichischen Kokarde* von der Mütze!“ Schon riss mir irgendein Lausbub die Kappe vom Kopf und trat auf ihr herum. Ich wollte jetzt nur schnell diesem Trubel entfliehen, und schließlich gelang mir das auch. Einige Schläge musste ich natürlich einstecken. Auf dem Weg zum Lazarett begegnete ich einem bekannten Offizier tschechischer Nation. Er hatte die Sterne schon vom Kragen herunten und grüßte mich mit ,,Nazdar!“, das heißt „Heil!“. Ich gab keine Antwort und wollte weitergehen. Da packte er mich am Ärmel und sagte, ich soll die Sterne abnehmen, der Krieg sei aus, es gäbe kein Österreich mehr. Da ich es nicht tat, schnitt er sie mir ab. Mir war speiübel: Was wird jetzt sein, was wird mit mir geschehen? Ich war erst einige Monate verheiratet, und ein Kind war unterwegs. Ich ohne Existenz! Wir sind im Kaiserreich aufgewachsen, und das sollte es nun nicht mehr geben? Ich war Berufsunteroffizier, das heißt, nach zwölf Jahren hätte ich Anspruch auf einen Beamtenposten im Staatsdienst gehabt. Das waren keine schlechten Aussichten, und auf dieser Basis haben wir auch geheiratet. Und nun stehe ich vor dem Nichts! Als ich ins Spital kam, wurden eben die Magazine von den Patienten geplündert, und alle, auch die Geschlechtskranken, liefen davon. Das konnte ich aber nicht tun: Es war gerade vor dem Monatsersten, und ich hoffte, noch mein Monatsgehalt 66

zu bekommen. Auch wollte ich ordnungsgemäß entlassen werden. Ich verschaffte mir also einen ärztlichen Befund und begab mich damit in die Kanzlei, wo man mir einen Urlaubsschein, gültig bis zur Einberufung, ausstellte. Merkwürdigerweise hatten sie schon tschechisch vorgedruckte Formulare sowie tschechische Stampiglien vorbereitet. Dann fuhr ich nach Josefstadt zu meinem Kader um mein Monatsgehalt. Dort erregte ich großes Aufsehen, weil ich keine Distinktionen* mehr besaß, und auf erregte Fragen schilderte ich ihnen, was draußen los war. Josefstadt kam mir wie eine Insel im Chaos vor. Alles hatte dort seinen gewohnten Lauf, so als ob nichts geschehen wäre. Sogar die Posten standen vor den Kasernentoren, dabei war Josefstadt eine rein tschechische Stadt. Mein Eintreffen verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Kaserne, und ich wurde auch schnell zum Kommandanten gerufen. Dieser belehrte mich, dass es sich nur um einen vorübergehenden Aufstand handeln könne, und in wenigen Tagen würde wieder Ruhe herrschen. Ich möge mir die Sterne wieder annähen lassen und keine beunruhigenden Gerüchte verbreiten. Ich ließ sie mir nicht mehr wieder annähen, denn ich musste ja wieder wegfahren, und zu meinem Schutz wollte ich mir noch eine Waffe besorgen. Ich ging daher ins Monturmagazin, wo ein tschechischer Feuerwerker als Leiter amtierte. Ich verlangte eine neue Uniform und einen Revolver mit Munition. Er wollte mir aber weder das eine noch das andere ausfolgen. Meiner Ansicht nach wollte er alles für die Tschechen aufbewahren, was ich ihm auch vorhielt. Dabei kam es zu einem heftigen Streit, und schließlich gab ich ihm einen Faustschlag, dass er in eine Stellage fiel. Ich hielt ihn mit der Pistole in Schach, nahm mir, was ich brauchte, und entfernte mich. Gehalt habe ich keines bekommen. Ich fuhr also am nächsten Tag nach Hause – mit welchen Gefühlen, kann man sich vorstellen. Bei meinen Schwieger67

eltern hatten sie wenig zu essen, nun kam noch ein Hungriger dazu. Ich fühlte, wie ungern ich hier – mit Ausnahme von meiner Frau – gelitten wurde. Es war zum Verzweifeln. Zum Glück las ich nach etwa zwei Wochen in einer Zeitung, dass in Wien Soldaten zu einer neu aufgestellten Volkswehr* aufgenommen werden: Ich fuhr gleich nach Wien. Dort las ich Plakate mit der Aufschrift: „Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere melden sich im Freihaus*!“ Ich meldete mich dort und bekam endlich mein ausstehendes Gehalt vom Tag der Entlassung aus dem Spital an sowie Verpflegsgeld – pro Tag fünf Kronen –, dann wurde ich in die Unteroffiziers-Dirigierungsstelle in der Stiftskaserne gewiesen. Dort waren jene Berufsunteroffiziere untergebracht, die auf eine Existenz außerhalb des Militärs warteten. Wir schliefen in einem großen, ungeheizten Saal, ohne Betten und ohne Decken. Ich lag in meiner Uniform auf einer Bank und deckte mich mit dem Mantel zu. Die Verpflegung war sehr schlecht. Als beim Volkswehrbataillon in Korneuburg ein Rechnungsunteroffizier gesucht wurde, meldete ich mich dorthin in der Hoffnung, hier ein besseres Leben zu finden. Meine Dienststelle befand sich in der Klosterkaserne. Als verheirateter Unteroffizier hatte ich Anspruch auf eine Wohnung mit Beheizung und Beleuchtung. Ich mietete mir daher in der Bahngasse ein möbliertes Zimmer und es wurde mir auch Holz, geschnitten und gehackt, zugestellt. Dort wäre es mir eigentlich ganz gut gegangen, aber es war eben nur eine Übergangsstelle. Als nunmehriger Ausländer hatte ich nämlich keine Aussicht, ins österreichische Heer übernommen zu werden. Außerdem gefielen mir als altem Unteroffizier die Verhältnisse bei der Volkswehr nicht, denn das war eine Horde von Kommunisten. Mit der Zeit erfuhr ich, dass sich in Korneuburg eine Gendarmerieschule befand. Da kam mir die Idee, dass dies eine gesicherte Existenz wäre, inzwischen war ja schon unser ers68

tes Kind, eine Tochter namens Ernestine, zur Welt gekommen. Optiert* hatte ich auch schon für Österreich. Ich ging also zur Gendarmerieschule, und am 12. April 1919 wurde ich vom Heer beurlaubt und zur Gendarmerie aufgenommen. Ich bekam von da an mein Gehalt sowie Kostgeld von der Armee weiter, und bei der Gendarmerie bekam ich in ziemlich gleicher Höhe auch meinen Lohn, ungefähr fünfhundert Kronen pro Monat, außerdem die Verpflegung in natura. Mein Zimmer konnte ich auch weiterhin behalten. Es war also zum Aushalten, und ich war meine Existenzsorgen los, was mir besonders wohltat. Im September 1919 machte ich die Abschlussprüfung und wurde nach Hainburg zum Grenzschutz gegen die Ungarn versetzt. In Ungarn herrschte damals der Kommunist Béla Kun*. Ich war nun Probegendarm. Aber da hieß es wieder, dass nur diejenigen Aussicht hätten, definitiv angestellt zu werden, die das Heimatrecht im nunmehrigen Österreich hatten, und dieses besaß ich natürlich nicht. Und wieder stand ich vor der Sorge, auch hier den Posten zu verlieren. Unsere Aufgabe bestand darin, die Flüchtlinge aus Ungarn zu kontrollieren. Natürlich musste aber auch die Bevölkerung aus Hainburg, die sich aus Ungarn Lebensmittel – besonders Milch – holte, kontrolliert werden. Dabei lernte ich den Gemeindesekretär von Hainburg kennen. An seiner Aussprache erkannte ich, dass er aus meiner Heimat Mähren stammen dürfte, und als ich danach fragte, stellte sich heraus, dass er sogar aus der Nähe meines Heimatortes, aus Sternberg, stammte. Dieser Gemeindesekretär verschaffte mir das Heimatrecht für Österreich. Das war von ihm eine große Gefälligkeit, und mich kostete das nur hundert Kronen. Nun war ich österreichischer Staatsbürger und in Hainburg heimatberechtigt.

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Richard Seeger ( 1896 – 1997 ) (Näheres zum Autor und zum Originalmanuskript siehe S. 170)

„Ich bin über all das so empört …“ Ich erlebte den Ausgang des Krieges in Linz und lasse nun mein Tagebuch reden, in das ich am 1. November 1918 Folgendes eintrug: „Revolution! Das haben wir von unserem Durchhalten. Böhmen, Kroatien und die Nebenländer sind seit Tagen selbständig. Deutschösterreich seit gestern. Die arme Dynastie! Ich hatte immer viel übrig für den sozialen Fortschritt, war „sozialistisch“ angehaucht, aber jetzt ist es ein Graus. Hier fand heute eine Demonstration statt. Um 11 Uhr schon war der Franz-Josephs-Platz dicht gedrängt von Leuten. Sozialdemokraten, die den Zug führten, und viel Gesindel, auch halbwüchsige Burschen nahmen an dem Aufmarsch teil. Auf mitgeführten Tafeln stand zu lesen „Hoch die Republik“, „Her mit dem Frieden“ und „Nieder mit dem Militarismus“. Rote Fahnen wurden geschwungen, man brüllte. Offizieren wurden die Rosetten heruntergerissen, sie wurden beschimpft und verhöhnt. Als ob wir uns den Krieg je gewünscht hätten! Ich gewiss nicht. Es ist mir auch eine Genugtuung, dass ich mich nicht überanstrengt habe im Einsatz. Ein Haschen nach Auszeichnungen und Belobigungen war mir stets fremd. Ich war Patriot in meinem Sinn; habe immer im Kriegführen unser Verderben gesehen, den bevorstehenden Zusammenbruch Österreichs. 70

Was wird nun geschehen, wenn die Soldaten der sich auflösenden Fronten nach Hause strömen? Werden Geld und Banknoten Zahlungskraft bewahren? Eine furchtbare Unruhe hat alle Menschen erfasst. In Wöllersdorf sind die Häftlinge ausgebrochen; auch in Linz ziehen jetzt am Abend entwichene Häftlinge durch die Straßen. Man schwankt zwischen Freude, dass das Blutvergießen beendet ist, und Schmerz über den für uns unglückseligen AusAbb. 6: Richard Seeger in gang des Völkerringens. Leutnantsuniform (um 1917) Eingestürzte Luftschlösser allenthalben. Seit Jahren sah ich mich, wenn nicht als Arzt, so als altösterreichischen Regierungsbeamten, habe mich gefreut, altösterreichisches Staatsrecht zu studieren, wollte Tschechisch lernen, um einmal eine gute Ministerialkarriere zu machen. Aber vielleicht ist der jetzige Zustand nur von kurzer Dauer und stellt eine maßvolle Reaktion wieder gesunde Verhältnisse her. Vater ist voll Zuversicht, er habe ein Hochgefühl, sagt er; aber Mutter ist ängstlich, und wie oft hat sie schon recht gehabt. Klara aber sieht in allem eine „Hetz“. Manchen aufgeblasenen, von Standesdünkel erfassten Menschen mag’s allerdings gut tun, die neue Zeit zu erleben. Aber wie bedaure ich die anständigen, lobenswerten, verständigen, regierungsund dynastietreuen Beamten und Offiziere, die zur Zeit den 71

Insulten* der Lausbuben ausgesetzt sind. Ich bin über all das so empört, dass ich nichts anderes zu denken vermag. Nie noch habe ich so warm für unser Kaiserhaus empfunden. Und gerade jetzt schiebt man von allen Seiten die Schuld für das Debakel auf die Krone. Niederträchtig, den friedliebenden Monarchen zum Sündenbock zu stempeln. Die jetzt „weise“ reden, hätten von Anfang an schon erkennen können, dass alles schiefgehen wird. Die Kriegsbegeisterung vor vier Jahren war groß, hat den Mittelstand fast ausnahmslos erfasst und steckte bald alle Klassen an. Das wird zu Unrecht jetzt geleugnet von denen, die zu zittern beginnen um ihr Geld und Wohlergehen. So manchen halte ich jetzt ihre begeisterten Reden von anno dazumal vor und erinnere sie an meine Prophezeiung, wohin unser Durchhalten führen wird.“ (...)

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Begegnungen mit einer veränderten Welt

Paul Schinnerer ( 1869 – 1957 ) wurde als erstes von sieben Kindern einer Wiener Textilhändlerfamilie am 19. Dezember 1869 geboren und verbrachte seine Kindheit und auch seine Schulzeit in einem Realgymnasium mit der Perspektive, einmal das väterliche Geschäft zu übernehmen. Nachdem eine rasch fortschreitende Krankheit und der frühe Tod des Vaters sowie ungünstige wirtschaftliche Entwicklungen diesen Plan zerschlagen hatten, meldete sich Paul Schinnerer 1888 als Einjährig-Freiwilliger und trat eine militärische Laufbahn an. 1901 heiratete er Lydia Hardy; zwischen 1902 und 1911 wurden drei Kinder, Paul, Erich und Alma, geboren. Schon früh in seiner aktiven Dienstzeit begann Paul Schinnerer detaillierte tagebuchartige Aufzeichnungen zu führen, die er nach seiner Pensionierung, Mitte der 1920er Jahre, in ein kohärentes lebensgeschichtliches Manuskript umarbeitete. Seine Schwiegertochter Lorle Schinnerer-Kamler erstellte um 1980 eine Abschrift dieser Aufzeichnungen, die aus drei Bänden mit jeweils knapp 300 Maschinschreibseiten besteht. Die hier vorgestellten Ausschnitte geben in gekürzter Form den Anfang des dritten Bandes wieder, der die Zeit von 1919 bis 1938 umfasst. Im Ersten Weltkrieg war Paul Schinnerer anfangs an Kämpfen an der Ostfront beteiligt. Ab Februar 1915 war er als Kommandant des k. k. Landwehr Infanterie Regiments „Marburg“ Nr. 26 vorerst in den Karpaten, anschließend bei den Kämpfen im Isonzogebiet in Slowenien und Oberitalien im Einsatz, wobei er zweimal lebensgefährlich verwundet wurde. Die im Juni 1918 erlittene Verletzung (vgl. den entsprechenden Auszug aus den Erinnerungen Paul Schinnerers auf der Website http://ww1.habsburger.net/de/medien/ 75

verwundung-der-zweiten-piaveschlacht-auszug-aus-kriegserinnerungen-von-paul-schinnerer-seite) hatte dauerhafte Invalidität und das Ausscheiden aus dem aktiven Dienst im Rang eines Generalmajors zur Folge. Die letzten Kriegsmonate verbrachte Paul Schinnerer in einem „Marodenhaus“ in Marburg. Im Frühjahr 1919 kehrte er mit seiner Familie nach Österreich zurück.

„Meine Stellung hatte ich nun zum zweiten Male verloren …“ (...) Am 13. Februar [1919] wurde ich in Graz zur Superarbitrierung* vorgeladen und auch als „invalid zu jedem Landsturmdienste ungeeignet“ erkannt. Damit endete nun auch formell meine aktive Dienstleistung. Pensioniert wurde ich bald danach rückwirkend mit 1. Jänner 1919 mit einem Ruhegehalt von 730 Kronen monatlich. Sofort nach Öffnung der Grenze für den Verkehr trachtete ich, eine Wohnung in einem Orte Österreichs zu erhalten, wo ich die Möglichkeit hätte, die Kinder dort die Schule besuchen zu lassen. Wir wollten ja nicht auf Jahre hinaus sorgen, sondern gerade nur für die nächste Zeit. Wir hofften, dann später einmal ein wirkliches Definitivum zu finden. Noch in den Vorstellungen befangen, wie wir sie von früher hatten, stellten wir uns die Sache höchst einfach vor. (...) Am einfachsten wäre es gewesen, nach Wien zu fahren, dort wäre uns Mamas Wohnung [die Wohnung der Schwiegermutter] zur Verfügung gestanden. Doch dahin wollten wir nicht. Die Schilderungen über die Verpflegsnot in Wien waren so erschütternd, dass wir dachten, für die Kinder wäre das Leben in einer kleineren Stadt zuträglicher. Auch für uns erhofften wir dort bessere Verhältnisse. An die Notwendigkeit, einen Erwerb zu suchen, dachte ich damals noch nicht; auch war ich körperlich und seelisch so heruntergekommen, dass ich nur mehr ein Schatten meiner früheren Persönlichkeit war. Außerdem hatte sich Mamas Befinden derart verschlech76

Abb. 7: Familie Schinnerer in Marburg (um 1918) (Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

tert, dass wir sie nicht mehr länger allein in einer Pension leben lassen konnten und sie zu uns nehmen mussten, um ihr die notwendige Pflege teilwerden zu lassen. Durch die Vereinigung der beiden Haushalte wäre auch alles für beide Teile billiger gekommen. Dazu aber war Mamas letzte Wiener Wohnung zu klein und auch unbequem. Am liebsten wären wir wieder nach Innsbruck gezogen, doch alle Versuche, dort eine Wohnung zu bekommen, schlugen fehl; ebenso war alles Suchen in Linz, Salzburg, Graz etc. vergeblich. Endlich erhielten wir Anfang März von Lydias Tante Nachricht, dass in Gmunden eine schöne Wohnung mit fünf Zimmern und allem Zubehör zu haben sei, wenn wir sofort zugriffen. Dies war gerade das, was wir brauchten, und kurz entschlossen telegraphierte ich, dass ich die Wohnung sofort nehme. Wir wollten auch Anfang März übersiedeln, mussten dies aber aufschieben, da Lydia an einem schweren Ischiasanfall erkrankte und mehr als vier Wochen im Bette liegen musste. 77

Die Kinder hatten eine große Freude, als sie hörten, dass wir nach Gmunden übersiedeln sollten. Der See war für sie der größte Ansprechungspunkt, sie träumten von Bootfahrten, Baden im Sommer, Eislaufen im Winter. Sie fertigten sich ein Plakat an – „Hoch Gmunden!“ – und zogen damit in Prozession in der Wohnung umher. Anfang April, zu Ostern, konnte Lydia endlich wieder aufstehen und nun ging es an das Einpacken. Wir mussten trachten, so bald als möglich damit fertig zu werden. Ein Spediteur hatte uns zwei Patentmöbelwägen versprochen; sowie die eintreffen würden, musste sofort verladen werden. Man suchte in Jugoslawien den fortziehenden Deutschen die Abreise so leicht als möglich zu machen. Nur die allernotwendigsten Formalitäten seien zu erfüllen, und die waren in wenigen Tagen zu erlangen. Man erlaubte uns, eine ziemlich reich bemessene Menge Lebensmittel mitzunehmen, die ich offen in zwei große Kisten verpackte. Dass ich daneben versteckt in anderen Kisten und Kästen mindestens ebenso viel mitnahm, war bei den Nachrichten, die über die Not in der Heimat einliefen, nur natürlich. (… ) Mit Mama wurde vereinbart, dass wir vorerst übersiedeln und die Wohnung fertig machen sollten. Dann würde ich sie von Wien abholen und zu uns bringen. Am 3. Mai trafen unsere Möbelwägen ein. Vor der Verladung besichtigte eine Kommission der Finanzbehörde unsere Effekten*. Sie ging äußerst kulant vor und machte nicht die geringsten Anstände. Als Aufsichtsorgan bei der Verladung wurde ein Finanz-Inspizient delegiert, der am 5. Mai den ganzen Tag dabeistand, bis das letzte Stück verladen war. Aber auch er machte uns keine Schwierigkeiten. Ich muss zur Ehre dieses Mannes bezeugen, dass er nicht das Geringste annahm, nicht einmal eine Zigarre. Nur am Nachmittag weigerte er sich nicht, eine Tasse Kaffee zu nehmen. 78

Als wir sahen, wie leicht die Kontrolle war, wurde Paul noch einige Male in die Stadt geschickt. Er brachte mehrere Rucksäcke voll Reis, Makkaroni und so manche andere gute Dinge mit, die wir noch rasch hinter dem Rücken unseres Aufsichtsorgans in die Kästen verstauten. Am 6. Mai nachmittags wurden die beiden Möbelwägen sowie ein großer Streifenwagen mit Kisten und unserer Salongarnitur zur Bahn befördert. Wir hatten einen großen 10-Tonnen-Güterwagen und zwei Loris. Auf letztere wurden die beiden Möbelwägen verladen; den Güterwagen, der in der Mitte einrangiert war, richteten wir als Wohnraum ein, denn in ihm machten Lydia und ich, die drei Kinder und unser Dienstmädchen die Reise mit. Ich wollte mich von unseren Sachen nicht trennen, da Nachrichten über die Beraubung der Eisenbahnwagen beständig einliefen und man seine Effekten ohne verlässliche Bewachung der Bahn nicht anvertrauen konnte. Wir hatten noch zwei Klippen zu umschiffen. Die erste war in Spielfeld bei der Ausreise, wo uns die jugoslawischen Grenzorgane noch recht unangenehm werden konnten; die andere in Leibnitz bei der Einfuhr, wo man Gefahr lief, dass die österreichische „Volkswehr“* aus eigener Machtvollkommenheit Beschlagnahmen ausführen könnte, die meistens nicht dem Staate, sondern den Betreffenden selbst zugute kamen. Leider muss ich angeben, dass die letztere Klippe mit Recht die gefürchtetere war. Noch am 5. Mai traf ich auf der Straße den Major Vanpotić, der den Grenzposten in Spielfeld befehligte. Ihm sagte ich: „Ich fahre am siebenten früh bei euch durch. Das Einzige, was ich noch von euch verlange, ist, dass man mich ungeschoren hinauslässt.“ Er versprach mir, dass er die entsprechenden Weisungen geben werde. (...) Nachdem wir uns noch ausreichend für die bevorstehende lange Reise vorproviantiert hatten – ein großer Schinken, viel Brot und köstliche Mehlspeisen, die wir zum Teil von unseren 79

Freunden erhalten hatten, einige Liter Milch waren geladen worden –, bestiegen wir selbst gegen 8 Uhr abends unseren Salonwagen. In der Mitte des Waggons stand das große Sofa und die beiden Lehnstühle der Salongarnitur, dann hatten wir noch einen Tisch und ein Klappbett mit Matratze sowie mehrere Stühle aufgestellt. In einem Winkel zwischen den Kisten war ein Verschlag hergestellt, der mit einem Leibstuhl zum Klosett eingerichtet war. Unsere Wagen sollten an einen Lebensmittelzug angehängt werden, der von Triest aus über Graz, Leoben, Selzthal, Linz in die Tschechoslowakei fahren sollte. Bis Selzthal hatte uns dieser mitzunehmen, von dort aus mussten wir schauen, wie wir weiterkommen konnten. Mit Einbruch der Dunkelheit schlossen wir unsere Wagen, legten uns nieder und harrten der Dinge, die da kommen sollten. (...)

Ankunft in Gmunden Um 1 Uhr nachmittags kamen wir in Gmunden an, gerade recht, denn unser Mundvorrat war mit dem letzten Mittagessen in Ebensee voll aufgezehrt worden. Die Kinder waren entzückt von dem herrlichen Anblick, den uns der See und der Traunstein während der Fahrt geboten hatten. Trotzdem ich von Stainach-Irdning aus dem Spediteur Huber telegraphisch unsere Ankunft bekanntgegeben hatte, war niemand von ihm auf dem Bahnhofe, um uns zu erwarten. Ich ersuchte daher den diensthabenden Beamten, einen jungen, netten Mann, um die Erlaubnis, telefonieren zu dürfen, was mir auch ohne weiteres gestattet wurde. Da jedoch gerade Mittagszeit war, konnte ich den Spediteur nicht erreichen. Es blieb mir also nichts übrig, als selbst hineinzugehen und das Weitere mündlich mit ihm abzumachen. Ich ließ Resi bei den Waggons; sie sollte auch dort übernachten, während ich 80

mit Lydia und den Kindern in die Stadt gehen wollte. Bevor ich wegging, fragte mich der diensthabende Beamte, ob ich vielleicht den Obersten Koralik kenne; dieser sei vor einigen Monaten von Marburg gekommen und habe hier gleich nach seiner Ankunft eine Schlaraffia* gegründet. So traf ich denn abermals Koralik hier, seit Jahren kommen wir stets zusammen. Am meisten freute es mich, dass ich hier gleich wieder in ein Schlaraffenreych eintreten oder eigentlich bei einer Neugründung als Erzschlaraffe fungieren könne. Ich erfuhr auch, dass die Sitzungen jeden Montag stattfänden. Da der 9. Mai auf einen Freitag fiel, konnte ich schon in drei Tagen meine zukünftige Gesellschaft finden. (...) Nun ging ich mit Paul, unsere Wohnung zu besichtigen. (...) Als ich in die Traungasse kam und in das alte Haus eintrat, waren meine ohnehin nicht sehr hoch gespannten Erwartungen noch mehr enttäuscht. Die Wohnung selbst, die sich zum größeren Teile in dem neu gebauten Teile des Hauses befand, war an und für sich nicht schlecht, die Zimmer geräumig und licht; ein schönes, großes Badezimmer bildete den Glanzpunkt, aber die Aussicht war geradezu entsetzlich. Die eine Seite der Wohnung ging auf die enge Traungasse, die andere Seite auf schmutzige Höfe, nur von ferne sah man die Kette des Höllengebirges und einen Teil des Traunsteins. Eines der Zimmer, das wir für Mama bestimmt hatten, war durch drei hohe Stufen mit den anderen verbunden, ebenso die große, aber finstere Küche. Das Zimmer war dunkelgrün gestrichen und sah wie eine Totenkammer aus. So waren wir in einer kleinen Stadt – ohne die Annehmlichkeiten einer solchen. Wir waren mit unseren früheren Wohnungen sehr verwöhnt; besonders die letzte in Marburg mit ihrem schönen Garten hatte es uns angetan, und jetzt sollten wir in solch einer Umgebung leben. Tief herabgestimmt holte ich Lydia und die Kinder ab und führte sie in unsere neue Behausung. War 81

ich schon wenig zufrieden, so war Lydia niedergeschmettert und wollte gar nicht einziehen. Nur meine Vorstellung, dass sich da gar nichts machen ließ und dass wir unter den gegebenen Verhältnissen zufrieden sein müssen, überhaupt eine Wohnung mit fünf Zimmern zu haben, bewog sie endlich, mit schwerem Herzen zu bleiben. Damals haben wir nicht gedacht, dass wir so lange Jahre bleiben würden, länger als irgendwo anders. Wir gingen mit unserem Gepäck in den Gasthof „Zur Sonne“, wo wir mehrere Tage wohnten. Die nächsten Tage vergingen mit dem Einrichten der Wohnung. Da alles neu hergerichtet war, hatten wir in dieser Hinsicht keine besonderen Auslagen. Nur das untere Zimmer ließ ich hell streichen, um es für Mama wohnlicher zu machen. (...)

Einleben in die neuen Verhältnisse Die nächsten drei Wochen bis Ende Mai benützten wir, um uns gänzlich einzurichten und einzuleben. Letzteres war aber nicht so leicht. Ich war wenige Tage vor meiner Pensionierung 49 Jahre alt geworden, stand also in einem Alter, in dem man sich für gewöhnlich noch nicht zur Ruhe setzte. Meine Stellung hatte ich nun zum zweiten Male verloren und dieses Mal knapp vor meiner Beförderung zum General. Die Generalsgebühren, die ich bereits mehr als ein halbes Jahr bezogen hatte, waren mir aberkannt worden – ein Gewaltstreich, dem noch so manche folgen sollten. Mit meiner Pension und den Zinsen unseres Vermögens hatten wir damals ein Einkommen von rund 20.000 Kronen – ein Betrag, der früher mehr als ausreichend gewesen wäre, ein bequemes Leben zu führen. Dazu kam noch Mamas Einkommen von ca. 24.000 Kronen, das ja für den gemeinsamen Haushalt zuzurechnen war. Bei der Geldentwertung, die als 82

Folge des verlorenen Krieges eingetreten war (die Krone war damals auf den fünften Teil ihres Werts gesunken), mussten wir uns schon sehr einschränken, um unser Auskommen zu finden. Immerhin machte mir dies wenig Sorgen; ich dachte, dass die Entwertung kaum weiter fortschreiten würde und rechnete sogar, wie fast alle Leute, mit einer Erholung der Valuta, wenn nur erst der Friede geschlossen sein werde. Nach den Versprechungen der Wilson*’schen 14 Punkte konnte er doch nicht allzu hart ausfallen. Darauf setzte alles seine Hoffnung. Ich sah mich deshalb gar nicht weiter um, eine Zivilstellung zu bekommen, die Verdienstmöglichkeiten waren ja in Gmunden äußerst geringe. Geld hatten wir genug, da mir meine Gebühren und die Zinsen seit November 1918 ausbezahlt wurden und die Preise mit der Geldentwertung noch lange nicht Schritt halten konnten. Dazu kam noch, dass sich die Folgen meiner Verwundungen und der Marburger Erlebnisse nunmehr doch recht fühlbar machten; ich war sehr abgemagert und bedurfte dringend der Erholung. Am Niederdrückendsten für uns alte Offiziere, die wir doch unsere Pflicht getan hatten, wenn auch der Ausgang so traurig war, war aber die offene Missachtung und die skandalöse Behandlung, die wir allenthalben erdulden mussten. Wenn auch offene Anrempelungen und Misshandlungen seitens des Pöbels nicht mehr so oft vorkamen wie im Herbste nach dem Umsturz, so war man doch stets der Gefahr von solchen ausgesetzt. Im Staate herrschte völlige Anarchie; jede Autorität war untergraben. Die eigentlichen Herrscher waren die Arbeiter- und Soldatenräte oder eigentlich deren meist jüdische Führer. Als ihr ausübendes Organ fungierte die Volkswehr. Man hatte alle im Felde gestandenen Leute nach Hause entlassen und sich aus Hinterlandssoldaten Truppen gebildet, die die ganze Bevölkerung terrorisierten und ausplünderten. 83

In Gmunden, wo doch nie eine Garnison war, befand sich auch so eine Kompanie, bestehend aus lauter Gesindel, das den ganzen Tag herumlungerte und seine Hauptbeschäftigung darin fand, einesteils selbst mit ergaunerten Lebensmitteln Geschäfte zu treiben, andernteils Haus- und Personsdurchsuchungen zu machen, um sich damit zu bereichern. Als Losungswort für alle Handlungen dieser Machthaber diente der Ausspruch: „Für jeden Frontsoldaten einen Strick!“ Wenn dies auch wörtlich nicht durchführbar werden konnte, so taten diese Drückeberger doch ihr Möglichstes, um uns das Leben so sauer wie möglich zu machen. In Gmunden herrschte damals fast unumschränkt der Führer des Arbeiter- und Soldatenrates, ein ehemaliger Rechnungsunteroffizier vom 6. Landwehrregiment, der sich selbst gern den „ungekrönten König“ nannte. Und doch war dieser Mann zu schlau, um es sich mit der Bürgerschaft ganz zu verderben. Umso gefährlicher waren die Verhältnisse dadurch, dass einesteils in Ebensee und in der Steyrermühl bei den Fabrikarbeitern kommunistische Zentren waren, von denen man das Äußerste zu befürchten hatte. Diesem organisierten Terror stand damals das Bürgertum und die Bauern machtlos gegenüber. Durch den verlorenen Krieg und die erlittenen Verluste an Menschenleben und Vermögen niedergedrückt, jeglichen Zusammenhaltes bar, wagte dieser Teil der Bevölkerung gegen die straff organisierte Minderheit nichts zu unternehmen und ließ alles geduldig über sich ergehen. Die Verpflegsverhältnisse waren trostlose; es war fast eine Hungersnot. Wir kamen aus Marburg, wo bereits alles wie im Frieden war, wo der Markt mit Lebensmitteln in Hülle und Fülle beschickt war, und fühlten umso mehr den traurigen Abstand. Es gab Brot-, Mehl, Milch-, Fett- und Zuckerkarten; man bekam kaum das Notwendigste zum Leben. Fleisch war nur an drei Tagen in der Woche zu bekommen, und da nur 84

15 Dekagramm pro Person; Eier waren kaum erhältlich. Wir hatten zwar eine hübsche Menge Lebensmittel mitgebracht, die bei sparsamer Verwendung bis zum Herbste ausreichen würden, aber wir mussten bald darangehen, es den Übrigen gleich zu machen, um Milch, Butter und Eier zu bekommen, also ebenso zu hamstern. (...)

Verpflegung – Hamstern Lydia begann Verbindungen mit Bauern aufzusuchen, um Butter, Eier, Milch und womöglich auch Mehl zu erlangen. Diese Artikel waren im freien Handel nicht zu bekommen und die zugewiesenen Mengen auf Grund der Karten waren so geringe, dass die Kinder buchstäblich hätten Hunger leiden müssen. Unsere mitgebrachten Lebensmittel konnten bei den zu verpflegenden Köpfen nicht länger reichen, und gerade die unentbehrlichsten hatten wir gar nicht. Zuerst bekam sie gar nichts, denn für Geld gaben die Bauern nichts her. Da fuhr sie eines Tages mit der Vorchdorfer elektrischen Bahn nach Falkenohren zur Schmiedbäuerin, wie die Frau hieß, mit einem Rucksack voll Sachen, und kehrte jedes Mal voll bepackt mit Essbarem zurück. Es glückte mir dort, noch zwei weitere Bauern kennenzulernen, mit denen ich die gleichen Geschäfte betrieb. An Tagen, an denen ich voraussetzte, dass viel eingebracht werden würde, begleitete mich Lydia, denn allein hätte ich die Menge nicht schleppen können. So fuhr ich denn durch mehr als zwei Jahre jeden Montag hinaus. Bis Ende September 1921 dauerte diese Tortur; von da an wurde die Zwangswirtschaft aufgelassen, und alles war wieder erhältlich wie früher im Frieden. Dann war es nur mehr eine Geldfrage, ob man sich die Sachen kaufen konnte. Im Winter 1921/22 fuhr ich noch einige Male hinaus, das letzte Mal im Juli 1922, dann hörte dies ganz auf. 85

Durch eine Ankündigung im hiesigen Lokalblatte ersahen wir noch im Mai 1919, dass ein Bauer gegen ein Sofa Lebensmittel eintauschen wolle. Lydia suchte auch diesen auf. Wir gaben ihm unser Schlafzimmersofa, für das wir in der Wohnung ohnehin keinen Platz hatten, und erhielten dafür durch drei Monate jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag je vier Liter Milch und einmal in der Woche ein halbes Kilogramm Butter. Als das Sofa abbezahlt war, besuchte ich die Leute bis zum Herbste 1925 jede Woche einmal und brachte stets zwei Liter Milch nach Hause. Den Verkehr mit ihnen habe ich aber nicht aufgegeben, denn ich habe in ihnen eigentlich wahre Freunde erworben, mit denen ich sehr gerne verkehre. Auch heute, Herbst 1926, besuche ich sie, meistens mit Lydia, gewöhnlich einmal im Monat. Sie zeigen stets eine ungeheuchelte Freude, wenn wir zu ihnen kommen, und manche gemütliche Stunde habe ich mit ihnen bei einem guten Glase Obstmost verplauscht. Es glückt mir auch, den Leuten manchmal kleine Gefälligkeiten zu erweisen, um mich für ihre Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen. Eine andere Bäuerin fand ich in der Gegend von Traunkirchen, die uns jede Woche vier Liter Milch und einige Eier gab, natürlich auch gegen Tausch. Dieser Hamstergang war der anstrengendste, denn ich musste jedes Mal eindreiviertel Stunden hin und ebenso viel zurück zu Fuß gehen. Ein ganzes Jahr machte ich diese Tour. Da trotz alledem unser Bedarf an Eiern in der ersten Zeit nicht vollkommen gedeckt wurde, machen wir noch außertourliche Bettelfahrten in die weitere Umgebung, gaben sie aber sehr bald auf, da das Ergebnis im Verhältnis zu den Mühen und den oft erlittenen Demütigungen in keinem rechten Verhältnis stand. Bei diesen Hamsterfahrten musste man sehr Acht geben, denn man lief Gefahr, zuerst von der Volkswehr, die sich das Recht angemaßt hatte, und später – als das Gesindel endlich 86

aufgelöst und die Garnison eingezogen wurde – von der Gendarmerie während der Rückfahrt auf der Bahn durchsucht zu werden. Dabei wurden so manchem Hamster seine mühsam erbettelten Vorräte weggenommen. Die unglaublichsten Verstecke in den Kleidern wurden gemacht, um die Visitierenden zu hintergehen. Wir hatten Glück, denn uns nahm man nie etwas ab. Diese Hamsterfahrten sind eine wenig schöne Episode in meinem Leben. Wenn ich auch im Allgemeinen mit den Bauern keine schlechten Erfahrungen gemacht habe, so ist es doch für einen Mann mit meiner Lebensstellung und meines Alters kein Vergnügen, beständig als Bittsteller zu kommen, wenn ich auch die Sachen mit Waren gut bezahlt, vielleicht sogar überbezahlt habe. Ich habe sehr bald den Ton getroffen, in dem man mit dem oberösterreichischen Bauern verkehren muss. Beweis dafür ist, dass meine ehemaligen „Kunden“, so oft sie mir auf dem Wochenmarkte begegnen, mich stets auffordern, sie wieder einmal draußen aufzusuchen. Die Schmiedbäuerin kommt übrigens stets zu uns, sooft sie in die Stadt kommt, und so manches Tauschgeschäft wurde auch später noch mit ihr abgemacht. Jene Städter aber, die den Ton nicht trafen oder die vielleicht sogar die schlauen Bauern zu übertölpeln versuchten, erreichten nichts und beklagten sich stets bitter über die Rohheiten, die sie sich gefallen lassen mussten. Trotz alledem war ich herzlich froh, als ich nicht mehr hamstern gehen musste. Ich habe mich bei diesen Fahrten auch recht überanstrengt, und mein schlechtes Befinden im Herbste 1921 ist wahrscheinlich zum größten Teile darauf zurückzuführen. Unsere Verpflegung wurde, solange Mama lebte, von einer Seite ganz unerwartet unterstützt, von der wir es am wenigsten erwartet hatten, und zwar von Lydias Bruder Fritz, der in Amerika lebte. (Er war in jungen Jahren ausgewandert, 87

nachdem er nicht studieren wollte, um nicht die Nachfolge in der Kanzlei seines Vaters antreten zu müssen. Der typische Fall des jungen Mannes aus gutem vermögenden Hause, der streng gehalten wurde und dies nicht verstand, der die Tradition nicht achtete und eigene Wege gehen wollte.) Kurz nach Mamas Eintreffen in Gmunden, nachdem der Postverkehr mit Amerika eröffnet wurde, traf ein Brief von ihm ein, mit dem er die Verbindung mit ihr suchte. Auf die Schilderungen von unserer Lage sandte er uns eine große Anzahl Pakete mit allen möglichen guten Dingen (sogar Tabak für mich), die trotz der allgemeinen Unsicherheit der Sendungen und ihrer oftmals vorgekommenen Beraubung zum größten Teile unversehrt in unsere Hände gelangten. (...) Als die sogenannten Dollarpakete aufkamen, in denen nach bestimmten Typen Mehl, Fett, Kakao von Amerika aus verschifft werden konnten, erhielten wir einige von ihm; auch Paul bekam nach Wien eines. Mit Mamas Tode hörten diese Sendungen aber auf. Auch an einzelnen Wohltätigkeitsaktionen, die von Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland und den Vereinigten Staaten unternommen wurden, um die hungernde Bevölkerung unseres armen Landes zu unterstützen, nahmen wir teil. Wir erhielten einige solcher Pakete, dann wurden unsere Kinder Erich und Alma in der amerikanischen Hilfsstation im Josefsheim in den Schuljahren 1920/21 und 1921/22 täglich mit einem kräftigen zweiten Frühstück beteilt, wofür wir nur einen geringen Regiebeitrag leisten mussten. Mit Hilfe aller dieser Unterstützungen brachten wir uns und die Kinder heil über diese schweren Jahre hinüber und konnten uns vor den Folgen der sonst unvermeidlichen Unterernährung bewahren. Besonders die armen Leute in den größeren Städten litten unsäglich darunter. Tuberkulose, Knochenerweichung rafften große Scharen von Kindern und auch Erwachsene dahin, und bei vielen war ewiges Siechtum 88

und früher Tod die Folge der unmenschlichen Kriegsführung und des noch unmenschlicheren Friedensdiktates unserer Feinde.

Gesundheitsumstände Die vielen schweren Verwundungen, die ich erlitten habe, machten mir merkwürdigerweise wenig Beschwerden. Das Einzige, an dem ich noch heute wirklich leide, sind die Sehstörungen infolge der dunklen Flecken im Sehkreis, die mich hindern, Personen auf mehr als zehn Meter Entfernung zu erkennen. Diese Sehstörungen waren in der ersten Zeit meines Aufenthaltes in Gmunden infolge des feuchten und sehr oft nebeligen Wetters recht lästig, doch haben sie im Laufe der Jahre sich bedeutend gebessert. Ein weiteres Übel entstand erst zwei bis drei Jahre nach meiner letzten Verwundung. Ich begann plötzlich starke Entzündungen auf dem linken Auge zu haben, die der behandelnde Arzt als Regenbogenhautentzündungen bezeichnete. Er konnte sich lange nicht die Ursache erklären, bis ich ihn aufmerksam machte, dass der linke Nasenkanal infolge der Zerschmetterung der Nase sehr wenig durchlässig sei. Seitdem muss ich jede Woche einmal die Nase putzen lassen. Seit der Behandlung haben sich die Entzündungen nicht wiederholt. Trotzdem ich mich im Ganzen in den Jahren 1919, 1920 und 1921 nicht unwohl fühlte, nahm ich doch körperlich immer mehr ab. Ich war zuletzt im Sommer 1921 zum Skelett abgemagert und zeitweise so schwach, dass ich mich kaum weiterschleppen konnte. Das war gerade zu der Zeit, als ich die vielen Lebensmittel auf meinem Rücken nachhause tragen musste. Mein Gesicht war der reinste Totenschädel geworden. Anfang Oktober bekam ich urplötzlich ein Exzem im Gesicht, das mich veranlasste, mich in das hiesige Gemeindespital aufnehmen zu lassen. Häusliche Pflege war nicht mög89

lich, da wir damals kein Dienstmädchen hatten und Lydia selbst mit einem schweren Ischiasanfall im Bette lag. Auch sie kam tags darauf in das Spital, und so waren wir dann beide zu gleicher Zeit dort. Erich wurde inzwischen bei Dr. Kolisko aufgenommen, während Alma in der Familie eines Kameraden, des Generalmajors d. R. Zhuber-Okrog, Unterschlupf fand. Wir blieben einen ganzen Monat in dem gut geleiteten Spitale. Bei der genauen Untersuchung fand sich bei mir ein veralteter Lungenkatarrh, auch Lydia litt außer ihrem Ischias an diesem Übel. Wir benützten die uns gegönnte Zeit der Ruhe, um uns gründlich auszukurieren und bei der guten Kost aufzufüttern. Seit dieser Zeit kann ich mich über meinen Gesundheitszustand nicht mehr beklagen und habe auch meine frühere Körperfülle wieder erlangt. (...)

Einkommen – Vermögensverhältnisse Nach Beendigung der Verlassenschaftsabhandlung nach Mama betrug unser Vermögen ungefähr 500.000 Kronen, alles in pupillarsicheren* Papieren, zum Teile alte österreichische Rente, Obligationen der Stadt Wien, Hypothekenanleihen des Landes Oberösterreich und Kriegsanleihe*. Damals war der Wert der österreichischen Krone auf ungefähr ein Hundertstel gesunken. Wie alle Offiziere verstand auch ich, dass eigentlich schon alles verloren war, und behielt diese Papiere, anstatt sie noch rechtzeitig abzustoßen und dafür Sachwerte irgendwelcher Art anzuschaffen. In den zwei folgenden Jahren wurden die Verhältnisse noch viel schlechter, bis zuletzt im September 1922 der Wert der Krone auf den 14.500sten Teil gesunken war. Dabei blieb es, und die Krone wurde stabilisiert. Unsere Kriegsanleihe, im Ganzen 175.000 Kronen, wurde zu diesem Kurse eingelöst, ebenso die Obligationen der Ge90

meinde Wien und die oberösterreichische Anleihe. Die alten Renten hatte ich über Veranlassung des Leiters der Filiale der Bank Oberösterreich verkauft und dafür oberösterreichische Hypothekenanleihen gekauft, die auch damit verloren waren. So bekam ich für unser schönes Vermögen in entwerteten Papierkronen gerade so viel, dass ich mir zwei Paar Schuhe kaufen konnte. (...) Die Zinsen unseres Vermögens haben überhaupt seit dem Jahre 1921 keine Rolle mehr bei unserem Einkommen gespielt. Wir haben alles verloren, was wir besaßen, mit Ausnahme der Einrichtung unserer Wohnung und ein paar Schmuckstücken. Auch alle unsere Ersparnisse sind denselben Weg gegangen. Wir haben für den Fall einer schweren Erkrankung oder eines sonstigen plötzlichen Geldbedarfes nicht einmal eine kleine Reserve. Meine Pension betrug noch im Jahre 1920 730 Kronen im Monat. Man hatte uns von Zeit zu Zeit kleine Aushilfen gegeben, und erst im Jahr 1920 wurde diese Pension auf 6.000 Kronen erhöht. Während nun die Gehalte der aktiven Beamten immerhin mit der Geldentwertung halbwegs Schritt hielten, so war dies bei uns armen Pensionisten nicht der Fall. Ich erhielt im Frühjahr 1921 im Ganzen ca. 30.000 Kronen im Monat, Pension und Aushilfe, zur selben Zeit, als ein Beamter der VII. Rangklasse 150.000 Kronen erhielt und ein Briefträger nicht viel weniger. (...) Eine kleine Erleichterung bekam ich seit dem Jahre 1922 durch die mir bewilligte Invalidenrente, die von monatlich 20.000 Kronen bis zum 1. Mai 1925 auf 1,500.000 Kronen anstieg, doch mit diesem Tage durch ein neues Gesetz wieder aberkannt wurde. Da ich mit diesem Einkommen unmöglich meine Familie erhalten konnte, sahen wir uns gezwungen, im Laufe der Jahre alles, was wir halbwegs entbehren konnten, zu veräußern. 91

So verkauften wir Mamas Schlafzimmer, alle Teppiche, Pelze usw., zum Schlusse den größten Teil von dem Schmucke, den sich Lydia noch gerettet hatte. Auch sah ich mich gezwungen, einen Nebenerwerb zu suchen. Es gelang mir, die Buchhalterstelle beim Wirtschaftsund Sparverein der deutschen Festbesoldeten zu erhalten. Durch einen Zufall wurde ich im März 1920 mit dem Obmann dieses Vereins bekannt, Steueroberverwalter Simel, den ich vorerst ein Jahr lang ohne Bezahlung in seinen Obliegenheiten unterstützte. Als im April 1921 der Kassier des Vereines starb und der Buchführer infolge dienstlicher Überbürdung sein Amt niederlegte, frage mich Simel, ob ich geneigt wäre, die beiden Geschäfte zu übernehmen. Mir wurden zuerst 1.500 Kronen im Monat bewilligt, die damals bei meiner Pension von 6.000 Kronen ein willkommener Zuschuss waren. Außerdem bot mir diese Stellung, bei der ich ganz unabhängig war, die Gelegenheit, mich beschäftigen zu können. Ich hatte ja gar nichts zu tun, und die völlige Tatenlosigkeit war schrecklich. (...)

92

Lotte Pirker ( 1877 – 1963 ) wurde am 11. August 1877 als Karoline Schneider geboren und wuchs in einer Beamtenfamilie – der Vater war Landesgerichtsrat – in Marienbad und Karlsbad (Mariánské Láznĕ, Karlovy Vary) in Böhmen auf. Von Jugend an war sie eine begeisterte Sportlerin (Schwimmen, Tennis, Bergsteigen), ihre Erziehung war nicht auf einen bestimmten Beruf, sondern auf die Förderung ihrer künstlerischen Talente ausgerichtet (Malerei, Schauspiel, Literatur). Während eines zweijährigen Studiums der Malerei in München kam sie mit Künstlerkreisen wie auch mit frühen Vertreterinnen der Frauenbewegung in Kontakt. 1902 heiratete sie Friedrich Pirker, einen österreichischen Offizier, und wurde Mutter eines Sohnes, Renatus. Ab 1908 lebte die Familie in Wien, wo der Ehemann als Beamter im Eisenbahnministerium beschäftigt war. Lotte Pirker war von 1919 bis 1934 als Bezirksrätin für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei tätig und auch darüber hinaus im Rahmen der Arbeiterbewegung für die Volksbildung engagiert. Ihr politisches Engagement steht auch im Mittelpunkt des folgenden Textbeitrags, der einem 225 Seiten umfassenden autobio­ graphischen Manuskript mit dem Titel „Mein buntbewegtes Leben“ entnommen ist. Auslassungszeichen im Beitrag beziehen sich hauptsächlich auf journalistische und literarische Werke (vor allem Gedichte, Sketches, Zeitungsartikel, Reiseimpressionen), welche die Autorin in den Erzähltext eingefügt hatte. Teilnachlässe von Lotte Pirker (Vortragsmanuskripte, Zeitungsartikel, Reiseberichte, literarische Werke) werden in Wien im Bezirksmuseum Hietzing, in der Wienbibliothek im Rathaus und 93

in der Theodor-Kramer-Gesellschaft aufbewahrt. Auszüge aus ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen wurden bereits im Band 44 dieser Buchreihe, Hannes Stekl (Hg.): „Höhere Töchter“ und ­„Söhne aus gutem Haus“. Bürgerliche Jugend in Monarchie und Republik, 1999, veröffentlicht.

„So wurde ich eine der vielen Novembersozialistinnen …“ (...) Die Jahre verflogen im Kampf gegen Hunger und Kälte. Im vierten Kriegsjahre kam Fritz, von der russischen Roten Armee befreit, nach einer abenteuerlichen Reise aus Sibirien heim. Er begegnete uns auf der Straße, aber wir erkannten ihn nicht. Die sibirische Landschaft hatte ihm ihren Stempel aufgedrückt. Auch er konnte es kaum fassen, dass der junge Mann, der ihn an Körpergröße überragte, der kleine, rundliche Bub sein sollte, den er in der Heimat zurückgelassen hatte. Kurz, die beiden standen sich fremd gegenüber. (...) Nach einer sechswöchigen gründlichen Kur in Marienbad, mit Bädern, Massage, Bestrahlungen und Gymnastik, erholte sich Fritz so weit, dass er neuerlich eingesetzt wurde, abwechslungshalber diesmal an der serbischen Front. Gegen Kriegsende wurde er in schwere Bandenkämpfe verwickelt. Im letzten Augenblick gelang ihm die Flucht. Alle Zufahrtsstraßen und Schienenwege waren mit Truppen verstopft. Tage­lang standen die Züge in Purkersdorf und anderen Westbahnstationen. Da in Wien arge Lebensmittelknappheit herrschte, suchten wir auf dem Tauschweg Esswaren zu ergattern. Demjenigen, der genügend Rauchmaterial hatte, gelang dies auch. Außerdem gab es für Brot und Zigaretten Decken und Mäntel. In manchen Zügen duftete es verlockend nach spießgebratenem Fleisch, und wer viel Geld hatte, bekam auch davon. Einmal hielt ein Transportzug, der von Ungarn besetzt war. Die Leute mussten in einer besonders nahrhaften Gegend ge94

Abb. 8: Lotte Pirker mit Ehemann Friedrich und Sohn Renatus (1909)

wesen sein, denn sie hatten alles. Jedoch erklärten sie, weder Schuhe, Decken noch Lebensmittel herzugeben. Wir machten sie darauf aufmerksam, dass in Wien allgemeine Abrüstung stattfinde. Aber sie antworteten, dass sie ihr Eigentum gewaltsam verteidigen würden. Und um uns gleich eine Probe von ihrem Vorhaben zu geben, schossen sie aus dem Waggon heraus und eine Kugel sauste haarscharf an meiner Schläfe vorbei. Erst wollte die Menge den Waggon stürmen, dann überlegten wir aber und setzten friedlich unsere Tauschgeschäfte fort. Am Westbahnhof hätte ein Maler seine helle Freude gehabt. Da gab es ein buntes Durcheinander all der Völker und Typen, die das große Österreich bewohnten. Türken, Montenegriner, Bosniaken und Albaner kochten am Boden und warteten wie alle anderen tagelang auf den Weitertransport. Immer neue Menschenfracht spieen die ankommenden Züge aus. Das Rote Kreuz mit tausenden Helfern war in fieberhafter Tätigkeit. (...) Die folgende Zeit war schwer. Lebensmittel- und Brennmaterialmangel, Teuerung, Epidemien. Fritz siechte dahin. 95

Da kam ein Ereignis, so groß, so überwältigend, dass alle kleinlichen Sorgen schwiegen und die fortschrittlichen Menschen wieder an die Zukunft glaubten. Österreich wurde Republik. Ich hatte für ein monarchistisches System nie viel übrig, und die Monarchie im eignen Land sterben zu sehen war mir ein freudiges Ereignis, das mich jauchzen und frohlocken ließ. Deshalb stand ich auch ganz vorne beim Parlament und sah überglücklich die roten Fahnen wehen, die sich allerorts hervorwagten. Plötzlich fiel ganz nahe von mir ein Schuss und Panik setzte ein, die jedem Beteiligten gewiss in Erinnerung geblieben ist. Es gab kein Halten. Wie ein Bergstrom, der aus seinen Ufern tritt und alles mitreißt, was ihm den Weg verstellt, so riss dieser Menschenstrom alles mit sich in die Gassen, die zum Gürtel führten. Eine bekannte Frau klammerte sich an mich an und flehte, sie nicht zu verlassen. Da sie schlecht zu Fuß war, drohte Gefahr, dass sie niedergerannt und zertreten werden würde. Also versuchte ich sie in ein Haus zu jonglieren. Leider aber waren alle Haustore, alle Restaurants und Kaffeehäuser versperrt und verrammelt. Es blieb nichts anderes übrig, als sich vom Strome treiben zu lassen bis in die Gefilde der äußeren Bezirke, wo die Flut abebbte. In der Folge überstürzten sich die Ereignisse. Monarchen wurden entthront, Bürgerkriege tobten, zwei Systeme prallten hart aneinander und ließen die Menschen nicht zur Ruhe kommen. Eine mächtige Arbeiterpartei bewahrte uns Österreicher damals vor dem drohenden Bürgerkrieg. Gleich nach dem Umsturz hatte ich mich brieflich an Dr. Renner* gewendet und ihn gebeten, mir die Wege zu zeigen, um der sozialistischen Partei beitreten zu können. Postwendend bekam ich ein sehr nettes Antwortschreiben mit einer Empfehlung an die Bezirksleitung in der Missindorfstraße. So wurde ich denn eine der vielen Novembersozialistinnen und kämpfte an der Seite des am gleichen Tage wie ich 96

zur Partei gestoßenen Dr. Heinrich Steinitz einen schwierigen Kampf gegen die Vorurteile, die besonders die älteren Genossen gegen alle nicht manuellen Arbeiter hegten. Vielleicht ­waren diese Vorurteile sogar berechtigt, denn es drängten sich Leute in die Reihen der Partei, die mit Sozialismus aber schon gar nichts zu tun hatten. Was meine Person betrifft, wurde ich mit offenen Armen in der Sektion aufgenommen und einige sehr gescheite Industriearbeiter nahmen sich meiner warm an, setzten meine Wahl in den Arbeiterrat* durch und brachten mir die ersten theoretischen Kenntnisse bei. Alle Funktionen, die es in einer Sektion gibt, lernte ich von Grund auf praktisch kennen. Ich hatte in großen Häusern die Monatsbeiträge zu kassieren, warb neue Mitglieder oder Zeitungsabonnenten, half des Nachts Plakate ankleben, wurde von der Sektion zu allen nur erdenklichen Ämtern ausersehen und bei den ersten Wahlen im republikanischen Staate, am 4. Mai 1919, als Bezirksratskandidatin aufgestellt und auch gewählt. 15 Jahre bekleidete ich dieses Amt, das damals jedem Einzelnen von uns eine Fülle von Arbeit und Pflichten auferlegte. Noch denke ich oft an den Tag zurück, als ich meine erste Wahlrede im Restaurant Sauer in der Linzerstraße halten musste. Hätte mich damals jemand um meinen Namen gefragt, ich wäre ihm die Antwort schuldig geblieben. Ein hochgradiges Lampenfieber raubte mir jeden klaren Gedanken. Das war auch ganz leicht erklärlich, denn obzwar ich aus innerster Überzeugung gefühlsmäßig Sozialistin war, mangelte es, trotz der Bemühungen einzelner Genossen, immer noch an theoretischem Wissen. Es fehlte mir die Zeit, mich in Bücher zu vergraben und somit auch das Verständnis der Zusammenhänge aller Ereignisse. Erst viel später, als man mich mit der ehrenvollen Aufgabe betraute, Lichtbildvorträge für die Bildungszentrale zu halten, und ich ernste und gründliche Studien betrieb, wurde mir vieles klar. Auch in den in97

teressanten Sitzungen des Arbeiterrates, die wir gemeinsam mit der jungen kommunistischen Partei hatten, lernte ich eine ganze Menge Neues. Zu jener Zeit zog ich mir übrigens den ersten Tadel unseres Bezirksobmannes Kurz zu. Genosse Mitis und ich hatten eigenmächtig einen Aufbauplan für Österreich ausgearbeitet, der, ich muss es gestehen, von der Parteilinie abwich, indem er statt des industriellen Aufbaues den landwirtschaftlichen in den Vordergrund stellte. Ja, wir machten damals im Arbeiterrat hohe Politik! Der Antrag Pirker-Mitis kam zur Abstimmung und wurde von der Majorität abgelehnt. Nur ein kleiner Teil des linken Flügels und die gesamte kommunistische Vertretung des Arbeiterrates standen hinter uns. Von diesen wurden wir beglückwünscht und zum Eintritt in die KP aufgefordert. Öfter noch kamen Mitglieder in meine Wohnung und suchten mich zu überreden, bei ihnen zu arbeiten. Aber erstens passte mir der ewige Wechsel ihrer leitenden Funktionäre nicht, zweitens hatte ich im Bezirksrat und der Unterrichtsorganisation Tätigkeitsfelder gefunden, die mich voll ausfüllten. Über die Anfänge meiner bezirksrätlichen Laufbahn möchte ich einiges erzählen. Mein erster Akt, den ich zu erledigen hatte, beinhaltete die Zahlung von fragwürdigen Alimenten. Dabei geriet ich in eine schwierige Situation. Der Mann, ein Chauffeur, leugnete jede Schuld. Er sei einer von vielen, die mit dem Mädchen flüchtig verkehrt hatten, und sei nur deshalb zum Vater bestimmt worden, weil sie bei ihm Geld spürte. Er redete sich in eine maßlose Wut hinein, begann zu toben, schleuderte das Geschirr auf die Erde, versperrte die Tür und schrie und schimpfte auf das Mädel, auf die Behörde, auf die ganze Welt. Es war kein Kinderspiel, den Wüterich zu besänftigen, doch ich hatte es im Leben ja gelernt, derartige Situationen zu meistern. Eine halbe Stunde später vertraute mir der gezähmte Mann seine Lebensgeschichte an und oft, 98

wenn er Sorgen hatte, suchte er mich auf und gemeinsam berieten wir, wie ihm zu helfen wäre. Eine Bezirksrätin war damals so etwas Ähnliches wie ein Geistlicher im Beichtstuhl. Schicksale entrollten sich vor unseren Augen. Wir hatten zu entscheiden, ob eine Dispensehe* zu befürworten sei oder nicht. Oft kamen die Ehepartner gemeinsam zu mir und verlangten einverständlich die Trennung. Dann war die Sache einfach. Oft aber widersprachen sich ihre Aussagen. Jeder Ehepartner lastete die Schuld dem andern an und ihre Aussagen differierten in krasser Weise. Ein sehr interessantes Kapitel bildeten auch die zahlreichen Kommissionierungen und Feuerbeschauen in den Betrieben des großen Bezirkes. Dadurch hatte ich ständige Fühlung mit der Arbeiterschaft – ein großer Vorzug gegenüber allen anderen gewählten Mandataren, die meist nur im Amt oder von der Rednertribüne aus mit ihren Wählern zusammenkamen. Bisweilen aber, so zum Beispiel bei den Platzzinsvermessungen, bei Baukommissionen, kam man sich unter all den Fachleuten höchst überflüssig vor. Ich schrieb damals, beeindruckt von solch einer Regelung, eine kleine Groteske, die ich bei der AZ* einreichte. Sie wurde nicht genommen, erschien aber acht Tage später in der „Muskete“*. Die Kommission Der Herr Hofrat, noch ein Hofrat, der Herr Oberbaurat, der Herr Baurat, der Herr Amtsrat und noch viele Räte stehen vor der Einfahrt eines Hauses. Sie sind zu einer Kommission hier zusammengekommen. Es handelt sich um die Übernahme eines neuangelegten Kanals. Der Kanalräumer steigt in den Kanal. Die Kommissionsteilnehmer unterhalten sich. Sie unterhalten sich über alles, worüber man sich in Wien seit dem Kriege unterhält. Die Zeit vergeht, der Kanalräumer kommt zurück. Er ist beschmutzt. Er hat alles in Ordnung gefunden. Der Herr Schriftfüh99

rer zieht ein Protokoll aus der Aktentasche, worin bestätigt wird, dass der Kanal in vollster Ordnung übernommen wurde. Es unterschreiben: der Herr Hofrat, noch ein Hofrat, der Herr Oberbaurat, der Herr Baurat, der Herr Amtsrat und noch viele Räte. Nur der Kanalräumer unterschreibt nicht. Zwei Spatzen sitzen ober der Einfahrt des Hauses und pfeifen sich wispernd etwas zu. Was kann das nur gewesen sein? Na, weiter hatte ich nichts gebraucht! Genosse Austerlitz* befahl mich zur Audienz und er und Dr. König* machten mir den Standpunkt klar und wuschen mir gründlich den Kopf. Ich sah mein Unrecht ein. Wir trafen einen Kompromiss: Die AZ brachte von da ab viele meiner Grotesken und Luitpold Stern* und Dr. König nahmen sich bei der Herausgabe meines Groteskenbuches der Sache warm an. Außerdem beschäftigte ich mich eifrig mit der Verfassung von zahlreichen Lichtbildvorträgen für die Bildungszentrale, die sehr populär wurden und hunderte Male im In- und Ausland, in Dorf und Stadt von mir und andern Referenten gelesen wurden. Glänzende Rezensionen erschienen in verschiedenen sozialistischen Zeitungen und jede einzelne meiner Vortrags- oder Lichtbildtourneen war für mich eine Quelle der Freude. Gewiss, es ist nicht einfach, im Winter bei Sturm und Schneegestöber in entlegenen Orten der Steiermark, Tirols, Vorarlbergs, des Burgenlandes stundenlang zu sprechen und dann im ungeheizten Zimmer frierend ins kalte Bett zu kriechen, aber die leuchtenden Augen der Zuhörer entschädigten reichlich für alle Strapazen. (...) Einmal wurde ich von der Arbeiterkammer mit einem meiner Vorträge, die natürlich alle auf sozialer Grundlage aufgebaut waren, in kleinere Orte Vorarlbergs geschickt. Der Lichtbildvortrag „Das Blütenland Japan“ fand im Saale der christlichen Vereinigung statt und der Herr Pfarrer führte den Vorsitz. Er trat ihn sehr bald an einen anderen Herrn ab 100

und unter eisigem Schweigen der Besucher las ich den Text zu Ende. Der Unruhen befürchtende Operateur drängte zum Aufbruch. Da kamen drei Arbeiter auf uns zu, drückten uns die Hände und sagten: „Das war endlich einmal ein Vortrag, der uns Arbeitern gefallen hat. Sonst hören wir immer nur Sachen der andern, der reichen Leut. Schön war’s, wir danken euch!“ Das Lob der drei hat mich mehr gefreut als der stürmische Applaus, den wir sonst einheimsten. Eine bleibende Erinnerung blieben mir auch die Frauentagsfeiern in der Provinz. (...) Ich durfte das Erwachen der Frauen aus vielhundertjährigem Dornröschenschlaf miterleben, durfte Erweckerin sein! Wer kann es mir nachfühlen, wie grenzenlos glücklich ich war? (...) In Städten mit großer sozialistischer Mehrheit, wie zum Beispiel Hainburg an der Donau es war, entfaltete man bei den Frauentagsfeierlichkeiten schon einen gewissen Prunk. Mit Musik wurde die Referentin am Bahnhof abgeholt und in den reich geschmückten Festsaal geführt. Jugendliche, Kindergruppen, Musiker und Turner bereicherten die Programme. Und heute noch, wenn ich in einen dieser kleinen Orte komme, erinnere ich mich voll Stolz und Freude an die Frauentagsfeiern. (...) Nach Wien zurückgekehrt, fand ich, dass das Leben in der Großstadt noch immer schwer zu meistern war. Der Gesundheitszustand meines Mannes ließ viel zu wünschen übrig. Er konnte seinen Dienst im Ministerium kaum versehen. Da traf ein Brief aus Amerika ein, der ihm eine feine Stellung als Abteilungsleiter einer Bank in Chicago verhieß. Rasch entschlossen griff er zu, denn er versprach sich schon von der Seereise eine günstige Wirkung. Vom Eisenbahnministerium wurde ihm ein einjähriger Urlaub bewilligt und einige Tage später reiste er mit seiner Schwester von Hamburg, wohin ich ihn begleitete, ab. 101

Nun konnte ich mich noch mehr als bisher der politischen Arbeit widmen. Renatus, ständiger Vorzugsschüler, benötigte keine Nachhilfe, jede Prüfung war für ihn ein Kinderspiel. Da ich durch meine Vortragstätigkeit eine ganz hübsche Nebeneinnahme hatte, nahm ich mir eine Hilfe, meine liebe Frau Stöhr, die lange Jahre täglich zwei Stunden die Wohnung säuberte. Früh von 6 bis 7 Uhr hatte ich Sprechstunden. In der Frauenorganisation häufte sich die Arbeit mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit. Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Deutschnationale arbeiteten gemeinsam bei der Verteilung der vom Ausland gestifteten Lebensmittel und Textilien. Gemeinderätin Partisal (S.P.) war erste Leiterin, Gräfin Resigue (Christlichsoziale) zweite und ich die dritte (ebenfalls S.P.). Da erstere oft im Gemeinderat zu tun hatte, die zweite alt und kränklich war, blieb mir sehr häufig die Gesamtleitung. Aber wie das leider unter Frauen ist, gibt es da immer klein­ liche Eifersüchteleien, Neid und Tratsch. Darum liebte ich die Frauenarbeit nicht gerade heiß und verlegte mich mehr auf die Unterrichtsorganisation. Das war das richtige Betätigungsfeld für mich. Ebenso wie in der Sektion lernte ich alle Arbeit von Grund auf: die Betreuung der Bibliothek, die Vertragsvermittlung, die künstlerischen Veranstaltungen, Festkultur und Kassagebarung. Auch den Vertrieb der Theaterkarten führte ich längere Zeit. Mit dem Anwachsen der Partei bekam jeder Funktionär sein eigenes Ressort, und ich blieb viele Jahre lang die Verantwortliche für künstlerische Abende. Es gab einmal einen Monat, in dem ich vier solcher Abende oder Nachmittage vermittelte. Unser Bezirk war groß. Er umfasste das Territorium des heutigen XIII. und XIV. Bezirkes. Eine meiner Lieblingsarbeiten war die Versorgung der Altersheime mit geistiger und künstlerischer Nahrung. Unsere langjährige Tätigkeit in Lainz, Baumgarten, der Meldemannstraße und anderen Heimen, schenkte den alten kranken Leu102

ten viele schöne, glückliche Stunden. Heute noch bin ich den Künstlern, die sich damals gratis zur Verfügung stellten, von Herzen dankbar. Eines Tages ließ mich Stadtrat Breitner* in seine Kanzlei bitten. Ich musste ihm ausführlich von meiner Arbeit im Lainzer Versorgungshaus erzählen, die Programme zeigen, die er genau studierte. Er sprach sich sehr lobend über das, was er von den Insassen der Anstalt gehört hatte, aus und wunderte sich, was für erstklassige Kunstkräfte uns zur Verfügung standen. Nur damit, dass all dies auf Kosten der Künstler gemacht wurde, war er nicht ganz einverstanden und beauftragte mich, ihm jedes Mal einen Kostenvoranschlag zu bringen. Das wurde eine Zeitlang so gehandhabt, später bewährte sich wieder das alte System. Jedenfalls waren mir die Viertelstunden, die ich mit diesem genialen Wirtschaftspolitiker verbrachte, ein Erlebnis. Auch Prof. Tandler* und Gemeinderat Max Winter* zeigten für dieses Arbeitsfeld warmes Interesse. Ich besitze einen ausführlichen Artikel, in der AZ von Genossen Winter verfasst. Der Bezirksvorsteher Franz Schimon, ein einfacher Eisenbahner, aber warmherziger Idealist, den wir alle hoch schätzten und verehrten, veranstaltete, als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Lande verschlechterten, Bilderverkaufsausstellungen. Der Rahmen dazu war das Glashaus in Schönbrunn. Inmitten der tropischen Pflanzenwelt leuchteten, farbigen Edelsteinen gleich, Bilder von heute schon längst weltberühmten Künstlern, darunter auch Egon Schiele. Vielen Interessenten war es auf diese Art möglich, bei Bezahlung kleiner Monatsraten große Kunstwerke zu erwerben. Der beste Abnehmer blieb entschieden Dr. Heinrich Steinitz, wie er überhaupt für Künstler immer eine offene Hand hatte. Als die Arbeitslosigkeit in Wien anstieg, nahm sich die Frauenorganisation der am meisten davon betroffenen Heimarbeiterinnen und Kunstgewerblerinnen an. Ich wurde damit 103

betraut, im halben November eine vierwöchige Verkaufsausstellung in der Wienzeile zu machen, die ich vollkommen selbständig leitete. Jedes Jahr bekam die Ausstellung ein anderes Gesicht und niemand redete mir in das Arrangement drein. Zugegeben, es waren anstrengende Wochen, aber ich hatte Glück. In all den Jahren kam kein wertvolles Stück abhanden, obwohl hohe Werte ziemlich unübersichtlich in einem Saale vereint waren. Jedenfalls interessierten sich von Jahr zu Jahr mehr Wiener Frauen für die wundervollen gestrickten Kleider und Mäntel, die gemalten und gebatikten Tücher, die Teppiche, Vorhänge, Handtaschen, Lampenschirme, die märchenhafte Wäsche, kurz für all die Dinge, die das Dasein verschönern, für arbeitende Menschen aber meist unerreichbar sind, weil sie durch zehn Hände gehen, die sich daran bereichern. Hier aber war der Weg von der Erzeugerin direkt zum Käufer gefunden und für viele, die noch das Glück hatten, in Arbeit zu stehen, auch gangbar. Eine der besten Kundschaften blieb alljährlich unsere liebe Genossin Seitz, die Frau des Bürgermeisters, welche all ihre zahlreichen Weihnachtsgeschenke bei uns kaufte und mit todsicherem Geschmack auswählte. Immer mehr Interessentinnen fanden sich unter den Wiener Frauen für die geschmackvollen Mäntel und Kleider, die sonst nur nach dem reichen Amerika geliefert wurden. Selbstverständlich standen mir Bürokräfte und freiwillige Helferinnen tatkräftig zur Seite, aber ich musste trotzdem immer am Platze sein, da ich die Künstlerinnen abfertigte, die Besucher empfing, das Arrangement täglich ergänzte usw. Kam ich gegen acht Uhr heim, erwarteten mich häusliche, politische oder bezirksrätliche Arbeiten und die Nacht wurde für mich sehr kurz. Hätte ich nicht einen so hilfsbereiten, einsichtsvollen Mann gehabt – denn Fritz war inzwischen wieder aus Amerika heimgekehrt – und wäre ich nicht zeit­lebens 104

Frühaufsteherin gewesen, ich würde die Fülle der Arbeit nicht bewältigt haben. In den frühen Morgenstunden kochte und räumte ich auf und empfing meine bezirksrät­lichen ­Klienten. Anscheinend hatte ich mir aber doch zu viel zugemutet, denn ich erkrankte infolge Unterernährung an einem doppelseitigen Spitzenkatarrh. Die Krankenkasse schickte mich zur Erholung nach Neumarkt in der Steiermark. Ein Arzt, der mir sympathisch war, behandelte mich. Er war ebenso wie ich ein Feind der Bettruhe und akzeptierte meinen Vorschlag, jeden Tag einen der vielen Berge besteigen zu dürfen. Nach Tisch allerdings musste auch ich eine Ruhestunde einhalten. Mein Ruhesessel stand neben dem des Malers Carry Hauser und seiner Frau und es waren weltumspannende Probleme und hitzige Streitfragen, die wir damals erörterten. Auch zwei sehr kluge Wiener Juristen beteiligten sich an den lebhaften Diskussionen. Es kam vor, dass wir am Abend die vorgeschriebene Sperrstunde weit überschritten. Aber schön waren die Wochen in Neumarkt, und meine Krankheit habe ich dort gelassen. Nach sechs Wochen wurde ich gesund entlassen und kam gerade noch zurecht, einige Frauentagsveranstaltungen abhalten zu können. (...) Es ist nun aber hohe Zeit, wieder einmal auf unser Familienleben zurückzukommen. Fritz war, wie schon erwähnt, aus Amerika heimgekehrt, hatte Ersparnisse mitgebracht, so dass wir uns aller finanziellen Sorgen entledigen konnten, aber gesundheitlich ging es mit ihm von Jahr zu Jahr bergab. Die schweren Kriegsverletzungen wirkten sich aus und die Aussicht auf Genesung schwand. Er fühlte sich unfähig, weiter dem Dienste im Eisenbahnministerium nachzukommen, und reichte um seine Pensionierung ein. Nach längerer Wartezeit wurde ihm diese auch gewährt. Nun führte er ein stilles Leben im Haus, las viel, legte schwierige Patiencen, bastelte allerhand schöne Gebrauchs105

gegenstände und machte sich auf vielerlei Art nützlich. Oft aber musste er die Häuslichkeit mit dem Spital vertauschen. Streit gab es nur sehr, sehr selten zwischen uns, wir lebten wie zwei gute Kameraden nebeneinander. Er hatte es gerne, wenn ich ihm von meiner politischen Arbeit und meinen Vortragsreisen erzählte, nur durfte ich nie von ihm verlangen, mich irgendwohin zu begleiten, und wenn es auch nur in die schräg gegenüber unserer Wohnung gelegene Sektion gewesen wäre. Was Renatus angeht, machte er uns keinerlei Sorgen im Gymnasium. Er war wie immer Vorzugsschüler, aus diesem Grunde von der Zahlung des Schulgeldes befreit, und was er benötigte, verschaffte er sich durch Stundengeben. Ich arbeitete nach wie vor fleißig im Elternrat. Mit einigen der Kollegen des Renatus, zum Beispiel mit Dr. Paul vom Wiener Radio, bin ich noch heute in Fühlung. Zwischen Vater und Sohn herrschte auch weiterhin ein andauernd kühles Verhältnis. Der schöne freundschaftliche Verkehr zwischen der männlichen und weiblichen studierenden Jugend, der sich in der Nachkriegszeit herangebildet hatte, wurde von Fritz gänzlich missverstanden. Er glaubte nicht an Freundschaft zwischen Mann und Weib, und wenn die jungen Menschen gemeinsam Ausflüge veranstalteten, gemeinsam lernten, gemeinsam Theater und Konzerte besuchten, sah er in ihnen den Verführer und die Dirne früherer Zeiten. Ich aber erfreute mich an dieser Jugend, die in der Tat umsetzte, was wir ersehnt hatten. Ja, ich glaubte an Freundschaft zwischen den Geschlechtern. (...)

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Hertha Günste ( 1882 – 1958 ) wurde als Hertha Wihard auf Schloss Wildschütz (Vlčice) im Bezirk Trautenau (Trutnov) in Nordböhmen geboren. Sie war die jüngste von drei Töchtern eines Tuchfabrikanten und verbrachte ihre Kindheit auf verschiedenen Besitzungen der Familie in der Region; ab dem elften Lebensjahr wurde sie wie ihre Schwestern in einem Pensionat in Dresden erzogen. 1905 heiratete die Verfasserin Moritz von Partyka, Oberstleutnant in einem Telegraphenregiment der k. u. k Armee, und bekam von ihm eine Tochter. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs nahm sie auf Wunsch ihres Gatten in der Nähe seines Einsatzortes in Südtirol Quartier und lernte so weitere hochrangige Vertreter des Militärs kennen, unter ihnen auch Oberst Franz Putz (1873–1922), ihren späteren zweiten Ehemann und engen Vertrauten des Generalstabschefs Franz Conrad von Hötzendorf. Zwischen August 1916 und Mai 1917 war Oberst von Partyka Kommandant des 1. Tiroler Kaiserjägerregiments, erwies sich aber den erlebten Kriegsgräueln nicht gewachsen und erkrankte psychisch. Oberst Putz entwickelte sich in dieser Zeit zusehends zu einer wichtigen persönlichen Stütze der Verfasserin; der unvermeidliche Konflikt mündete 1918 in eine Scheidung des Paares Hertha und Moritz von Partyka, die für die Verfasserin zugleich eine weitgehende Trennung von ihrer Tochter bedeutete. Im Mittelpunkt des folgenden Textbeitrags steht die bald darauf geschlossene zweite Ehe mit Franz Putz, der ebenfalls mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte und sich wegen einer chronischen Mittelohrentzündung wiederholt Operationen unterziehen musste. Nach dem frühen Tod des Gatten im Sommer 1922 107

heiratete die Verfasserin ein drittes Mal, den General Karl Günste (1870–1928). Nach dessen Tod gab Hertha Günste den Landsitz nahe Waidhofen in Niederösterreich auf und verbrachte ihren Lebensabend vor allem in Meran, Südtirol. Dort verfasste sie in den Jahren 1937/38 ihre Lebenserinnerungen für ihre Tochter und die weit verstreute Verwandtschaft mit dem Ziel, „mein Leben verständlicher zu machen“. Das Manuskript liegt in einer mit handschriftlichen Korrekturen versehenen typographischen Abschrift im Umfang von 75 Seiten vor.

„… aber wir spürten sie nicht so sehr“ (...) Den wunderschönen Aufenthalt in Innsbruck, bei dem ich auch Gelegenheit hatte, meinen lieben Franzl viel wohler und besser gefärbt zu sehen, musste ich leider vorzeitig abbrechen, da mich die Vorbereitung zu unserer späteren Verheiratung nach Budapest rief, wo ich, da die katholische Kirche keine Wiederverheiratung gestattet, vorerst einmal Ungarin werden musste und meinen Adoptivvater, den mir meine Freunde Liebieg vermittelt hatten, einen freundlichen Herrn Ruby, kennenlernen sollte. Dieser adoptierte mich und verzichtete in demselben Moment auf alle seine Rechte. Es war also eine leere Formsache, doch nahm ich alles sehr ernst. Außerdem musste ich später noch Protestantin werden, was mir viel schwerer fiel, da es sich nicht mehr ändern ließ, während ich durch meine Verheiratung automatisch wieder Öster­reicherin wurde. Obwohl ich allen Behörden innerlich aufrichtig dankbar war für die Möglichkeit, die rechtmäßige Frau des von mir erwählten Mannes zu werden, muss ich doch sagen, dass es mir nie gelingen wird, innerlich dem katholischen Glauben abzuschwören. Ich fühlte mich nur in katholischen Kreisen zu Hause und schlage nach wie vor das Kreuz, obwohl mich die Mutter Kirche ja eigentlich verstoßen hat. Jugenderinnerungen sind zähe! 108

Nun waren alle Vorbereitungen getroffen, da auch in der letzten Gerichtsverhandlung in St. Pölten die einverständliche Scheidung ausgesprochen war. Mein einziger beweglicher Besitz waren nunmehr die weißen Schlafzimmermöbel, die ich mir in Liebau* hatte machen lassen; die standen aber dort, also weit von mir. Meine gesamte Einrichtung, Schlafzimmer, Herrenzimmer aus Palisander, Speisezimmer aus Ahorn mit Mahagonifütterung und Kücheneinrichtung hatte Oberst von Partyka beansprucht; ebenso das ganze schöne bei Wallis in Wien für mich extra angefertigte Porzellan und das wunderschöne Lobmeyer’sche Glas und mehrere echte Teppiche. Ich behielt nur das silberne Besteck und die Silbergegenstände, die ich mir seinerzeit für mein Häuschen mit nach Liebau genommen hatte; auch wurden mir zwei Wandteppiche aus Seide und mein lieber Steinway-Flügel bewilligt. Einen Sessel besaß ich demnach nicht mehr, und es kam mir nach der lieben Fürsorge meiner Eltern gelegentlich meiner Ausstattung recht herzlich wenig vor, was mir blieb. Als ich meinem Advokaten Vorwürfe machte, dass er mein Hab und Gut so großzügig verschenke, antwortete er: „Was wollen Sie haben? Ihre Freiheit – die muss man zahlen.“ Außer der Einrichtung musste ich für meine Tochter einen Betrag von 200.000 Kronen – angeblich „mündelsicher“* – anlegen. Es geschah aber so, dass der Betrag einige Jahre nachher als 20 Schilling zurückgezahlt wurde – ein Raub des Staates, über welchen ich mich niemals beruhigen werden. Allerdings war es ja eine Umsturzregierung. Außer diesen Abgaben musste ich Oberst von Partyka noch meine Heiratskaution überlassen, was ich sehr ungern tat, da das Geld ein Erbe meiner Tante Hedwig, der Schwester meiner Mutter, war, die selbst keine Kinder gehabt hatte und uns drei Schwestern mit 100.000 Gulden bedacht hatte. Zum Überfluss musste ich auch noch die Papiere hergeben, die wir 109

uns im Laufe der dreizehn Jahre, die wir verheiratet gewesen waren, langsam durch Sparnisse gekauft hatten. Ich fand, dass ich ein recht kostbarer Gegenstand sein müsse, und der jetzt noch in St. Pölten lebende Richter Soos machte meinen Gefühlen in ziemlich strengen Worten gegen die ihm so habsüchtig erscheinende Gegenpartei Ausdruck. Ein Onkel von Maria Liebieg und ehemaliger Freund meiner Eltern, Herrenhausmitglied und Tuchfabrikant Willi Ginzkey aus Reichenberg, sagte mir danach in seiner launigen Art, als im Familienkreis bei Liebiegs alles besprochen wurde: „Ja, ist denn ein Mann so viel Geld wert?“ Er meinte die Opfer, die ich für die Ehe mit Oberst Putz gebracht hatte. Leicht hat man es mir wirklich nicht gemacht, aber ich war am Ziel, und nun hieß es, ein Nest bauen, wenn auch noch so bescheiden. Oberst Putz, der inzwischen mit Feldmarschall Graf Conrad* nach Wien versetzt worden war, da er dem neu ernannten Chef aller Garden als Flügeladjutant* beigegeben worden war, hatte jederzeit Zutritt bei meinen Freunden Liebieg (...). So hatte ich doch ein Haus, wo ich ihn manchmal sehen konnte. Wir gingen zusammen zu Vermittlern, da Oberst Putz mir geraten hatte, nur rasch den Rest meines Geldes in Grund und Boden anzulegen, sahen uns Bilder von Häusern an, doch wollte Oberst Putz auf meine Entscheidung keinen Einfluss nehmen, weil er meinte, es solle nur mir gefallen, er wäre dann sicher zufrieden. So fuhr ich dann ganz allein nach Zell am See, wo uns eine Villa preiswert und verlockend erschien. In Wirklichkeit entsprach sie mir aber nicht, da sie zwischen Bahndamm und Seeufer eingeklemmt lag und ich berechnete, was der pilotierte Schutz des Seeufers wohl jährlich an Reparatur kosten möge. Da ich aber schon einmal in Zell am See war, sah ich mir auch andere Objekte an, doch gefiel mir der ganze Ort nicht. 110

Ich fuhr also, ohne zu übernachten, zurück, und wer beschreibt mein Erstaunen, als mir Franzl am Bahnhof in Wien entgegenkam. Er war im Dienst, empfing seinen Feldmarschall, der mit demselben Zug wie ich angekommen war, und wir konnten doch wenigstens rasch über meine Eindrücke sprechen, da sein gütiger Chef uns dies erlaubte. Da aus Zell am See nichts geworden war, erinnerten wir uns an die Bilder eines Häuschens bei Waidhofen an der Ybbs, bei welchem uns nur die vierzehn Zimmer geschreckt hatten, da wir ja so viele keineswegs brauchten. Aber die zwei Häuschen, aus denen der Besitz bestand, waren vollkommen eingerichtet und die Bauart erinnerte mich an meine Johannisbader Mühle. Ich fuhr also dorthin und kaufte den Besitz sofort, da er wirklich sehr lieb war, mit einem schönen, zwei Joch großen Garten und zwischen Wald und Wiesen gelegen, von jeher meine größte Schwärmerei. Oberst Putz war froh, dass ich etwas gefunden hatte, wo ich mich gerne niederließ. Ich erlegte die verlangten 105.000 österreichischen Kronen und sollte die Häuser erst einige ­Wochen später von der Besitzerin übernehmen. In der Zwischenzeit fuhr ich nach Liebau, um dort meine Sachen zu ­packen, die ich in das neue Heim schicken ließ. Ungefähr am 18. August übernahm ich dann den Waidhofner Besitz; darin befanden sich zwölf Betten, Waschgeschirr und Wäsche, ein nettes Speiszimmer und ein Wohnzimmer. Wenn auch alles weder antik noch modern, also einfach altmodisch und zum Teil verbraucht war, konnte ich doch etwas damit anfangen und hatte genug Beschäftigung, alles durchzusehen und einzuteilen. Für Franzl richtete ich im sogenannten Gästehaus, das über den Bach lag, ein Zimmer ein, da er ja jetzt in Wien Dienst machte und sonntags immer herauskommen konnte. Das Haupthaus nannte ich „Hohenetsch“, in Erinnerung an Südtirol, aus welchem ja auch die Familie von Oberst Putz stammte. 111

Mit dem Geld ging es mir damals eher knapp, doch war es ja überhaupt eine sehr arme Zeit. Man war im Lebensmittelankauf sehr beschränkt, und da ich immer gerne bescheiden gelebt hatte, litt ich nicht unter der Sparerei. Im Gegenteil, ich war selig, wenn Franzl mir ein Stück Fleisch mitbrachte, das er als Militärperson zu fassen berechtigt war und das sein netter alter Offiziersdiener, Franz Bertolini, der von Überetsch stammte und jetzt noch dort mit seiner Familie lebt, immer schon abkochte, damit es nicht schlecht wurde. Nur sonntags, wenn Franzl kam, gab es echten Kaffee, sonst trank ich die schreckliche Masse, die in Pappschachteln ausgefasst wurde und vom Volk ob seiner zweifelhaften Güte „Schusterpech“ genannt wurde. Am Sonntag trank ich dann mit Genuss den Nachguss von Franzls Frühstück. Die ganze Woche rahmte mein nettes Mädchen die zwei Liter Milch ab, die wir täglich bekamen, und präsentierte mir mit Stolz sonntags ein kleines Stritzerl Butter, das wir Franzl nach Wien mitgaben. Er brachte mir dagegen zum Anbau Kartoffel im Koffer mit und nahm Unterzündholz nach Wien mit. Mir machte das alles eine Riesenfreude. Ziemlich bald nach meinem Ankauf verkaufte meine Schwester ihren Besitz auf den Windischen Büheln, der jetzt schon in Jugoslawien liegt. Die Bevölkerung waren fast durchwegs Slowenen, und es fing dort, kurz vor dem Zusammenbruch der Monarchie, an zu gären. Ich bot ihr an, in meinem kleinen Gästehäuschen, das immerhin Raum für mehrere Menschen bot, unterzuschlupfen, bis sie sich für einen neuen Ankauf in Innerösterreich entschieden hätte. So zogen alle in mein Gästehäuschen, das außer dem für Franzl reservierten Raum drei größere und drei kleinere Zimmer barg. Als der Tross meiner Schwester in unser bescheidenes Bergtal einzog, war es allerdings wie ein Zug aus dem Gelobten Land. Es kamen außer meiner Schwester und den beiden Söhnen die Jungfer Judith, ein Offiziersdiener, ein Kü112

chenmädchen und ein Stubenmädchen. Es kamen 20 bis 25 Hühner und Truthühner, für die in Ermangelung eines Stalles meine Holzlege als Unterkunft dienen musste. Es kamen Hunde und ein ungeheures Gepäck. Tische wurden unter den Kastanien vor meinem Wohnhaus aufgestellt und mit großen Mengen Rexgläsern, in die ganze Braten von allerhand Getier verschwunden waren, beladen. Eingekochte Marmeladen und Kompotte türmten sich, Säcke mit Mehl und Getreide verschwanden in die Dachkammer des Gästehauses, und es sah nicht aus, als ob die Familie trotz Nahrungsmittelnot im Innern Österreichs bald verhungern sollte. Meine Schwester hatte wirklich erstklassig vorgesorgt. Warum hätte sie auch die gesammelten Früchte ihres verkauften Gutes den Slowenen überlassen sollen? Sie nahmen sich ja ohnehin später alles. Mir selbst verursachte dieser Überfluss aber eher Sorgen. Ich war neu in diese Gegend gekommen, lebte ganz still mit einem Mädchen und wollte keinerlei Aufsehen erregen – oder den Neid, der ohnehin durch den Krieg arg in Mitleidenschaft gezogenen Bevölkerung erwecken. Ich musste aber die Dinge gehen lassen, wie sie gingen, und war froh, meiner Schwester doch ein provisorisches Heim bieten zu können. Die Einquartierung dauerte auch nur einige Wochen, dann entschloss sich Gertrud, mit ihrem Mann, der inzwischen auf Urlaub gekommen war, das wunderschöne Schloss Kassegg in Steiermark zu kaufen, wo zwanzig Zimmer waren, also Platz genug zum Ausbreiten. Die Folgen des fabelhaften Aufzugs blieben aber für mich nicht aus. Eines Tages umstellte die Volkswehr* mit ziemlicher Rücksichtslosigkeit mein Haus und verlangte, den ganzen Besitz untersuchen zu dürfen. Ich konnte sie nicht hindern, war nur ungemein erbittert, dass uns das Arbeiten in der Heimat so schwer gemacht wurde und dass das augenblickliche Heer gegen seine ehemaligen Offiziere aufstand, um sie auszurauben. 113

Wir hatten uns am 11. März 1919 in aller Stille in Hohenetsch durch den protestantischen Pfarrer aus Steyr in Oberösterreich trauen lassen und hatten dazu ein ganz herrliches, sonniges Frühlingswetter gehabt. Acht Tage danach luden wir unsern immer hilfsbereiten Gutsnachbar Kunitzer mit Frau zum Nachtmahl ein. Dieses konnte aber nicht in aller Form stattfinden, da mein armer Franzl, als er vor dem Essen die Kleider wechselte und sich wusch, von einem furchtbaren Blutsturz befallen wurde, sodass wir mit Hilfe der schon anwesenden Gäste Ärzte kommen ließen, von denen zuerst keiner zu errufen war. Mein armer Franzl lag am Bett und blutete aus Nasen und Ohren, es war ein furchtbarer Anblick. Als er noch schwach von diesem Blutverlust lag, kam die Volkswehr. Niemand wird erwarten dass ich sie freundlich begrüßte, war es doch wieder ein Anlass, der Franzl schaden konnte. Ich führte die Leiter dieser Expedition zu seinem Bett, um zu beweisen, dass er keinen Dienst machen könne, verbat in aller Eile meinen drei Mädchen, verängstigte Gesichter zu machen, gab ihnen allerhand Aufträge, um sie wieder aus ihrer Erstarrtheit zu wecken, und lief ganz allein auf den Boden, wo ich sämtliche Jalousien schloss, von oben auf die Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett herabsehend, die uns Ein- und Ausgang verwehrten. Als es am Boden dunkel war, türmte ich alles, was ich an Bettzeug und Teppichen erreichen konnte, vor und über meinen größten Schatz, die volle große Mehlkiste, deren Inhalt wir uns rucksackweise von den Bauern erhamstert und stundenlang geschleppt hatten, um uns und unsere Leute ernähren zu können. Deren Zahl hatte sich, seit ich mit Franzl verheiratet war, auf sieben Personen vergrößert. Als ich mein Werk betrachtete, sah ich noch einen Fuß der Mehlkiste vorschimmern und konnte ihn mit den Teppichen nicht mehr decken. Da fiel mein Blick auf einen übermannshohen Spiegel, der in schwerem Holzrahmen auf der anderen Seite des Bo114

dens lehnte. Rasch entschlossen hob ich mit fast übermenschlichen Kräften, die mir die Gefahr gab, dieses Monstrum von Spiegel und schleppte ihn, so rasch ich konnte, einen Fuß darunterklemmend und ihn vorwärtshebend, Schritt für Schritt hin zur Mehlkiste, wo ich ihn vor das vorwitzige Kistenbein stellte. Ich rechnete damit, dass der etwas eitel aussehende Kommandant dieses Streifzuges auf seine Mission vergessen würde, wenn er sich in voller Größe in dem schönen Spiegel betrachten könne, und so geschah es – die Nachsuche am Boden war rasch beendet. Es fiel niemandem ein zu fragen, ob man nicht die Jalousien öffnen oder das elektrische Licht aufdrehen könnte. Das Mehl war gerettet, nur einige Stangen Seife, die ich von Liebiegs bekommen hatte und die damals auch eine große Kostbarkeit darstellten, sowie viele Schachteln von dem grässlichen Schusterpech, genannt Kaffee, nahmen sie mit. Dann erfolgte die Untersuchung des unbewohnten Gästehauses, wo ich die Kommission so führte, dass sie den Keller, in welchem meine eingelegten Eier standen, gar nicht sahen. In dem kleinen Häuschen war dies gar nicht so leicht, aber doch möglich, indem ich sie vorn zur Waschküche hinunterführte und zwei leere Räume zeigte, einen dritten vom Hausinnern her beging und dadurch verwirrte, sodass sie nicht merkten, dass noch ein vierter – und zwar der wichtigste – Raum vorhanden war. Ich zeigte auch die vier Dachkammern, in denen meine Schwester ihr Getreide aufbewahrt hatte. Gottlob war inzwischen alles schon abgeholt worden, und sie merkten nicht, dass ein kleines Türchen, welches nur mit einer Leiter vom Balkon des Dachzimmerchens zugänglich war, einen fünften Raum verschloss, in dem einige durch befreundete Offiziere an Oberst Putz gesandte Kisten feines russisches Mehl standen. Unser eiserner Bestand war gerettet. Ich muss noch berichten, dass ich inzwischen auf Anraten meines lieben Franzl, der stets bemüht war, aufs Beste 115

für mich zu sorgen und vorzudenken, einen Bauernbesitz gekauft hatte, der eine Viertelstunde von Hohenetsch, im Graben gegen das Rothschild’sche Jagdgebiet grenzend, lag. Er hatte einem Kriegsgewinner* namens B. gehört, und ich konnte ihn mit meinen restlichen 100.000 Kronen Kriegsanleihe* zahlen, die für mich schon entwertet waren, da sie nach dem Umsturz niemandem angerechnet wurden, der noch anderen Besitz hatte. Dieser Kriegsgewinner aber war berechtigt, seine Steuern damit zu zahlen, und brauchte hierzu Geld. Ich war also nun Besitzerin eines rund achtzig Joch großen eingezäunten Gutes mit Jagdrecht, einem Bauernhäuschen mit Stall und Scheune, einigen Kühen, einer Haflingerstute, einer Herde Schafe und immerhin hinreichend viel Wald zur Eigenversorgung mit Holz. Mir machte dieses Wald- und Wiesengütchen einen Riesenspaß, obwohl ich mangels getreuer Wirtschafter in der Folge reichlich Mühe damit hatte. Anfangs behielten wir alle Milch für uns und unsere Leute, machten Butter und Käse und wirtschafteten, wie wir konnten. Im ersten Sommer hatte ich so viele Äpfel von den 300 Bäumen, dass Franzl mit dem Wirtschafter Waschkörbe voll in das Gästehaus trug und dort am Fußboden der unbenutzten Zimmer auflegte, bis wir eine Verwendungsmöglichkeit dafür hätten. In diesem Moment sagte sich Franzls väterlicher Freund und hochverehrter Vorgesetzter Conrad von Hötzendorf an, den wir schon oft eingeladen, jetzt aber nicht erwartet hatten. Wir schleppten also mit Hilfe des Gärtners, der alleine im Gästehaus wohnte, aus zwei Zimmern alle Äpfel wieder heraus und verteilten sie auf die übrigen. Wir richteten ein schönes Wohnzimmer und ein sehr nettes Schlafzimmer, ließen alles reiben und heizen, da es schon kühl war, und harrten des Gastes. Wer beschreibt aber mein Entsetzen, als ich vom Fenster der Begrüßung zusehend im Abenddämmer zwei Herren 116

vom zur Bahn geschickten Wagerl absteigen sah! Feldmarschall Conrad hatte, durch viele, viele Jahre an einen Adjutanten* gewöhnt, nicht allein fahren wollen und seinen jüngsten Sohn Giesel mitgebracht; und er hatte nicht telegraphieren wollen, wie dieser im vorschlug, „um keine Umstände zu machen“. Ich bemühte mich, ihn nicht merken zu lassen, dass die Umstände durch seine Rücksichtnahme wesentlich vergrößert waren. Meine Gedanken, die beim Servieren des möglichst festlichen Nachtmahls hätten sein sollen, wanderten ständig zu den Äpfeln, die vom Gärtner allein jetzt in der Nacht wieder vertragen werden mussten, bis eines der Mädchen Zeit hatte, ihm zu helfen und den Boden zu reiben. Dann musste erst vom Dachboden Bettzeug geholt und das völlig ausgeräumte Zimmer eingerichtet werden. Es war ein schlimmer Abend für die Hausfrau, und ich war wie erlöst, als endlich drüben alles in festlicher Reinlichkeit erstrahlte und das Feuer brannte. Nur der wunderbare Duft der Äpfel lag noch in den Räumen. Giesel vertrieb mir die Zeit mit seinem reizenden Klavierspiel und die beiden Herren hatten viel zu plaudern. In seiner charmanten Art lobte Feldmarschall Conrad auch alles in unserem Haus, das dann wirklich mit Hilfe vieler Bilder und Sachen, die Franzl aus seiner Junggesellenwohnung in Wien gebracht hatte, wesentlich gemütlicher geworden war. Bei jeder Fahrt nach Wien brachte er schöne Sachen mit: Teekannen, Tabletts, viele, viele Bücher, die damals spottbillig zu haben waren und die den Stock seiner vorhandenen Bibliothek verbesserten. (...) Auch kaufte er statt der von mir mit meinem Waidhofner Haus übernommenen altmodischen Fabriksteppiche wunderschöne Perser, jedes Mal für ein anderes Zimmer, sodass ich wirklich langsam ein schönes Heim besaß. Er war ja so gut und umsorgte mich so, dass meine vielen noch offenen Wunden mindestens wie in einem ständigen warmen 117

Bad möglichst schmerzfrei gehalten wurden. Er sagte mir auch manchmal, ich könne mich ganz auf ihn verlassen. Er habe Frauen der ganzen Welt gesehen und gekannt und habe vorher nie den Wunsch gehabt, zu heiraten, jetzt aber sei er glücklich. (...) Auf seinen Wienfahrten nahm Franzl mich nicht gerne mit. Er sagte, ich würde entsetzt sein, wie sich diese schöne Stadt verändert habe. Auch atmete er selbst wieder freier, wenn der Wagen in unser Bergtal einfuhr. Wir hatten doch keine Not an Brennmaterial, weil wir mitten im Wald saßen. Auch durften wir schrankenlos elektrisches Licht brennen, während in Wien Petroleum benutzt werden musste, sodass eine Freundin von Gina Conrad, die er besuchte, zum Beispiel nur auf einen Augenblick einschaltete, um zu sehen, ob er gut aussehe. Die Not kroch langsam als Kriegsfolge über ganz Österreich, aber wir spürten sie nicht so sehr. (…)

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Oskar Kahn ( 1886 – 1940 ) wurde am 10. Oktober 1886 im damaligen Wiener Vorort Hernals geboren und wuchs mit drei älteren Schwestern und einer jüngeren Halbschwester auf; eine Schwester und seine Mutter starben früh an einer Lungenkrankheit. Nach Abschluss der Pflichtschule und der Ausbildung in einer Lehrerbildungsanstalt war er ab 1906 und bis zu seiner Einberufung zum Kriegsdienst im Jahr 1915 als Volksschullehrer in Wien-Ottakring tätig. Seine spätere Frau, Luise Depisch, lernte er dort als Kollegin kennen. Den Kriegsdienst leistete Oskar Kahn anfangs an der Ostfront. Nach Ausheilung einer Schussverletzung am Unterschenkel war er – im Rang eines Leutnants – auf dem Balkan, vor allem in Albanien, im Einsatz. Zu Beginn des Textbeitrags begibt er sich, datiert mit 27. August 1918, von Zelenika in Montenegro aus auf Heimaturlaub. Nach dem Ersten Weltkrieg war Oskar Kahn im Schuldienst des Roten Wien tätig, bis er nach den Ereignissen des Februars 1934 wegen seiner sozialdemokratischen Gesinnung von den ständestaatlichen Behörden zwangspensioniert wurde. Er verstarb frühzeitig im Alter von 54 Jahren an Herzversagen, einer Spätfolge seiner Malaria-Erkrankung zu Kriegsende. Schon früh führte Oskar Kahn über seine Freizeit- und Reiseaktivitäten Tagebuch. Ebenso dokumentierte er die Schauplätze und wichtige Ereignisse seines Kriegsdiensts und schrieb diese Tagebücher, versehen mit zahlreichen Illustrationen, ab Mitte der 1930er Jahre ins Reine. Seine handschriftlichen Aufzeichnungen unter dem Motto „Mein Lebenslauf war nicht immer Lieb’ und Lust“ wurden von seinem Sohn, Dr. Peter Kahn, transkribiert und 1997 für Forschungs- und Bildungszwecke zur Verfügung gestellt. 119

„Jetzt war der Krieg wirklich aus …“ (...) Bis Budapest hatte ich guten Platz; das Mittagessen nahmen wir im Speisewagen. Von Budapest nach Wien benützte ich den Urlauberzug, um nun recht schnell in Wien zu sein. Mit dem fahrplanmäßigen Schnellzug hätte ich wahrscheinlich Zeit verloren. So ging es halt schlecht und recht nach Wien. Hier traf ich Elly und Rudi (die am 29. VI. 1918 geheiratet hatten) allein an. Mama, Franzi und Lotte waren mit Schulkindern in Ungarn zur Sommerfrische (dort gab es noch Schlagobers!). Zu meiner „freudigen“ Überraschung hatte ich Fieber. Ich dachte, es sei von den Anstrengungen der letzten Tage. Am 30. VIII. machte ich früh bei Dr. Kattor einen Besuch und bekam dort auch einen Schwindel- und Fieberanfall; nun wusste ich, dass ich in den letzten Stunden meines Albanienaufenthaltes Malaria erwischt hatte. Nachdem dieser Anfall abgeflaut war, machte ich mich auf den Weg zum Landwehr-Platzkommando. Eben als ich ins Haus wollte, wurde es mir wieder schwarz vor den Augen und ich lehnte mich in die Ecke des Haustores. Dunkel sah ich, dass jemand an mir vorbeiging. Da hörte ich schon die schnarrende Stimme: „Ja, Herr Leutnant, können Sie nicht grüßen, was muss man denn sein, dass Sie salutieren? Marschall, oder was? Und ich sah trübe die scharlachroten Lampas* eines Generals. Ich stand Habt-Acht und nach kurzer Zeit war die Sache erledigt. Ich hätte ja reden können, dann aber hätte er mich zur Labung ins Platzkommando geführt, und wenn dort ein Arzt meine Transportfähigkeit ausgesprochen hätte, wäre ich ins 1. Feldspital (Sarajewo oder Brod) abgeschoben worden. So ließ ich also den Dingen ihren Lauf. Im Tagebuch steht noch „Polizei“ – habe ich mich dort auch melden müssen? 120

Abb. 9: Oskar Kahn (links außen) neben seiner Verlobten Luise Depisch; weiters deren Geschwister Reli und August sowie eine Bekannte

Am 31. August hielt ich bei Luisens Eltern um ihre Hand an. Am Abend hatte ich wieder hohes Fieber. Am 1. September trafen wir uns bei der Endstation des 49ers. Wir gingen zu Luisens Freundin Martha Gruner in die Cottagegasse. Auf einer Bank wurde mir wieder furchtbar übel. Immer noch wollte ich vom Spital nichts wissen. Auf dem Heimweg war mir wieder ganz gut. Nachmittags waren wir bei Martha. In dem herrlichen Garten genoss ich den Abend und den Rest des Tages war ich fieberfrei. Am 2. IX. war ich in der Schule und zeigte mich dort mit einem herrlichen Fieberanfall. Vom 2. bis 5. IX. behandelte mich Dr. Gruber, ohne Chinin*! Am 7. September endlich ließ ich mich ins Garnisonsspital No. II transportieren und kam dort auf Zimmer No. 235. Mit der Kost war ich zufrieden (immer die Hauptsache beim Militär). Am 7. und 8. IX. hatte ich Anfälle; weiters nicht mehr. 121

Mama Depisch sandte mir durch Luisl Zwetschkenknödel ins Spital – dabei muss man wissen, was das zu dieser Zeit bedeutete. Mittwoch erfuhr ich, dass ich nach „Klosterbruck“ komme. Wo liegt das? Der eine glaubt in Tirol, andere sagen bei Waidhofen an der Ybbs. Der offene Befehl gibt Aufklärung – bei Znaim. Am 14. IX. soll ich nach Klosterbruck fahren, bleibe Samstag aber schwarz in Wien. Am 13. IX. ging ich mit Luisl nach Schönbrunn, am 14. IX. machten wir Sonnenrast auf der Petersdorfer Heide, am 15. IX. (wahrscheinlich Sonntag) gingen wir von Purkersdorf-Ort durch den Wald zur Schneebergaussicht, in der Sonne legten wir uns zur Rast. Zum Sonnenuntergang waren wir in Weidlingau und von da ging’s nach Hütteldorf. Ich dürfte großen Durst gehabt haben, wenigstens ist er im Büchlein verzeichnet. Abends nahm ich Abschied von Luisl. Am Montag, den 16. IX. fuhr ich nach Znaim und suchte mir Klosterbruck. Es ist dies ein südlich von Znaim am rechten Ufer der Thaya gelegenes aufgelassenes Klostergebäude, weitläufig und protzenhaft. Es war alles bequem, die Kost von allen Seiten als sehr gut bezeichnet. Znaim lag ja mitten in einer fruchtbaren Ebene. Die Bauersleute gaben allerdings gegen Geld nichts, gegen Waren gerne ab. Nachmittags besichtigte ich Znaim. Nun wurde das Leben einförmig, aber nicht langweilig. Vormittags nach der Visite konnte man schon ausgehen, ich blieb aber im ausgedehnten Garten; nach dem Mittagessen und nach dem Schläfchen ging man in die Umgebung, so nach Edelspitz. Hier im Spital lag ich mit circa acht bis zehn Kameraden in einem Zimmer, meistens Malariakranke, also solche, die außerhalb der Anfälle pumperlgesund waren. Die Chininkur war ansteigend und abnehmend. Wir mussten die Pillen einnehmen. Ich bekam heftiges Ohrensausen auf das Chinin. So 122

eine Kur dauerte vier Wochen, darauf folgten vier Wochen zur Beobachtung, dann war man entlassen. Bekam man in dieser Zeit wieder einen Anfall oder war die Blutprobe positiv, so fing die Kur von vorne an. Acht Wochen war man versorgt. Ich bekam von den Erfahrenen sofort Unterricht, wie man einen Anfall künstlich hervorrufen könne, brauchte aber diesen Schwindel nicht, weil die Natur ihn mir „leider“ bescherte, wie ich noch erzählen werde. (...) Nun [Ende Oktober 1918] überstürzen sich die Ereignisse. Revolution! Manifest, Nationalversammlung, Staatsrat; Österreich eine Republik, der Kaiser flieht, dankt ab – nein, dankt nicht ab; ist in der Schweiz – nein, in Eckartsau. 31. X. Abends Wirbel in der Albrechtskaserne. Offiziersversammlung mit Radau. Die alten Herren sind verzweifelt und ratlos; wir Jungen wollen handeln; es wird gebrüllt. Pifke (ein Oberleutnant aus Dresden) und ich besetzen das Znaimer Postamt. In dem von uns besetzten Raum macht eine ältere Frau Dienst, hämmert in Windeseile auf ihrem Taster. Für uns ist es eine Unmöglichkeit, festzustellen, ob sie zu uns positiv oder negativ eingestellt sei. Wir haben nur ganz geringe Mannschaft und können natürlich nicht ernstlich an Widerstand denken. Wir haben keine Weisungen, keine Befehle; es heißt, tschechisches Militär soll im Anrollen sein. Als es Morgen geworden ist, wissen wir nicht, wem wir den Rapport einsenden sollen. Wir rücken ins Spital nach Klosterbruck ein. Auf der Gasse grüßt die Mannschaft nicht mehr, wir kümmern uns nicht mehr darum. Die Urlaube sind wieder nach Bedarf geöffnet. In diesem Wirbel sind die Bahnen gesperrt für Zivil, das heißt, Luisl kann nicht kommen. Gerüchte einer „roten“, „gelben“ (?) Garde durchschwirren die Luft. Luise kommt wieder nicht. Post verkehrt nur mit großer Verzögerung. Ich habe den Urlaubsschein für fünf Tage in der Hand. Vom 3. bis 8. November in Wien, wo es verhältnismäßig ruhig ist. 123

Am 11. XI. feiern wir im Café Corso einen Abschiedsabend mit fünf oder sechs Bürgertöchtern (gutsituiert und anständig, aber blöde: „Kennen Sie nicht Schillers Glocke von Goethe?“ – „Nein.“). In dieser Zeit, etwas früher, verkehrte ich auch in einer Bohème-Gesellschaft, die sich als Pseudo-Dadaisten bezeichnete. Jede Willensäußerung musste mit einfachen Naturlauten bekanntgegeben werden. Es war sehr lustig, aber unsagbar blöde – so wie die obigen Bürgerstöchter. Merkwürdig berückte es mich, als ich im Café Corso in den Zeitungen aus Prag die Rubrik „Nachrichten vom Feinde“ las; unter dem „Feinde“ waren … wir gemeint. Dabei müssen das deutsch geschriebene Zeitungen gewesen sein, da ich ja nicht tschechisch kann. (...) Nach und nach verliefen sich alle Patienten, auch die behandelnden Ärzte gingen in ihre Heimat; zurück blieben nur vereinzelte Patienten. So ging auch ich am 14. XI. in die Kanzlei, als einer der Letzten, nahm mir selbst zwei Monate Krankenurlaub, ließ mir die Gebühren auszahlen und fuhr am 14. November 1918 von Znaim nach Wien. Jetzt war der Krieg wirklich aus, aber anders, als wir es uns vier Jahre lang vorgestellt hatten. Am 20. XI. fuhr ich in die Breitenseer Kaserne und rüstete ab vom Schützenregiment No. 1. Am 23. XI. trat ich beim Bezirksschulinspektor Wohlbach dem Dienst an und ließ mir (Gebühr für jeden Heimkehrer) zwei Monate Urlaub geben. In mein Tagebuch schrieb ich: „Mir! Hvala bogu!“ Das heißt auf Deutsch: Friede/Ruhe! Gott sei Dank! Der oberflächliche Beobachter wird sich wundern, wenn er liest, wie ich von einem Urlaub in den andern ging. Wer uns Soldaten aber damals sah, der findet unser Bedürfnis nach Ruhe begreiflich. Auch vergingen keine vierzehn Tage, ohne dass ich einen Malariaanfall hatte. Ich benützte die Zeit, indem ich fleißig mit Luise oder allein spazieren ging. An 124

Sonntagen gingen wir zu Martha Gruner und sonnten uns in ihrem Garten. Oft war auch lustige Gesellschaft dabei. Da ich zu dieser Zeit kein Tagebuch mehr führte, sind mir die kleinen Erlebnisse entschwunden. Weihnachten feierten wir zusammen, die Geschenke haben wir aber nicht mehr verzeichnet. Ich kaufte Luisl bei Krupp-Berndorfer am Graben silberne Bestecke, leider nicht eine ganze Kassette, weil ich glaubte, die Waren werden billiger. Wie sehr täuschte ich mich. Die Überführung aus der Militärkost in die Zivilkost war eine eigene Sache. Obwohl wir daheim nicht Mangel litten, da Franzi gute Beziehungen hatte, und ich unter allen der stärkste Esser war, konnte die Kost doch nicht so kräftig sein wie beim Militär. Von manchen Artikeln konnten wir sogar an die Familie Depisch abgeben. Bei Luisens aber ging es manchmal recht knapp her, weil dort etliche Männer und noch dazu starke Esser waren. Trotzdem teilte Luise ihren Teil immer noch getreulich mit mir und ich hatte stets das Nachtmahl bei ihr und daheim auch noch. Ob sie aber satt war? Da waren die Brotkommissionen, bei diesen bekam man einen Bogen und nach diesem die Lebensmittel, schlecht und surrogiert*, zugemessen. Es war das Verdienst Englands und Frankreichs, dass man uns noch jahrelang nach dem Friedensschluss hungern ließ. Als Friedensfreund soll man das vergessen, als Historiker soll man es der Nachwelt erhalten. Es gab Lebensmittelkarten für Brot, Mehl, Fett, Fleisch, Zucker, Milch; außerdem Petroleum-, Kohlen- und Tabakkarten. Meine Zigaretten überließ ich stets Luisl; es waren in der ­Woche 25 Stück. Die kaufbare Marmelade war ein Rübengebräu, die wenige und teure Schokolade schmeckte nach Seife und war sandig. Es war eine gräuliche Zeit. Butter aus Dänemark war gesalzen, Speck aus Amerika war auch gesalzen. Corned Beef war ganz gut. 125

In dieser Zeit haben die Wiener Haufrauen gelernt, mit wenig Zutaten gute Speisen äußerst sparsam zu kochen; leider haben sie diese Kunst wieder vergessen. (...) Ich erinnere mich an die guten Gemüsesuppen, die Mama zubereitete, in denen nicht einmal ein Knochen mitgekocht war; oder das Bohnengulasch, das meine Schwiegermutter – damals in spe – mir auftischte. Wie geschmackvoll konnten die Frauen das sonst recht eintönige Corned Beef zubereiten! Dabei wurden die Verhältnisse eher schlechter als besser, da die edelmütigen Sieger uns noch immer blockierten. Man musste erzogener Menschenfreund sein, um die Franzosen, Engländer von damals an nicht zu hassen. Diese hysterische Hasspolitik betrieben aber nur die führenden Köpfe, während die Arbeiter und die Leute aus dem Volk – nicht nur der neutralen Staaten, sondern auch der Siegerstaaten – Beweise großer Menschenliebe und -achtung gaben. In der Schweiz leitete die Frau des dortigen österreichischen Konsuls, Frau von Einem, eine großzügige Aktion ein. Sie sammelte Gelder und lud österreichische Kinder auf zwei Monate in die Schweiz ein, wo diese in geschlossenen Heimen untergebracht und von Lehrpersonen beaufsichtigt wurden. Zu so einer Aktion bekam auch ich die Einladung. Eines Tages kam Kollege Heinrich Martinek zu mir und ließ mir sagen, ich möge Freund Katolicky verständigen, dass am nächsten Vormittag bei mir eine Besprechung sei. Wir trafen uns und Martinek teilte uns mit, dass wir beide für die Kinderfreunde* als Begleitpersonen ausersehen seien, um mit Kindern in die Schweiz zu fahren. Die Vorbereitungen waren schnell getroffen. Der damals fast allmächtige Verein, die Kinderfreunde, verschaffte uns sofort den nötigen Urlaub, so dass ich meinen Dienst im Jänner gar nicht antrat. Wir mussten uns schnell Pässe besorgen, denn vor dem Kriege konnte man die ganze Welt durchreisen, ohne einen 126

Pass und ohne ein Visum zu benötigen. Ich verschaffte mir zur Sicherheit noch eine Dosis Chinin, dann war ich bereit. Am 3. Feber 1919 ging es von Wien um 12 Uhr 35 Minuten ab über Salzburg, Innsbruck. Die Nacht mussten die Kinder im Eisenbahnwagen verbringen. Vom Militär her hatten wir Erfahrung genug, um allen Kindern einen Liegeplatz zu verschaffen, auf dem sie die Füße ausstrecken konnten. An Proviant hatten wir nichts als Käsebrot. Erst in Buchs, am 4. II. in der Frühe, bekamen die Kinder zum ersten Mal etwas Warmes, Schokolade und Kuchen, reichlich und vorzüglich. Gleichzeitig wurden sie von Geschenken aus der Bevölkerung heraus überhäuft, meist Schokolade, so dass die armen Kindermägen, die nur ans Fasten, nicht aber ans Prassen gewöhnt waren, mehr zu leisten hatten als je in ihrem Leben. In Zürich mussten wir mit den Kindern durch ein dichtes Menschenspalier hindurch, um zum Speisesaal zu gelangen. Die Menge beschenkte wieder die Kinder reichlich, so dass diesen ganz ungewohnt zumute wurde. Die Fahrt nach Bern war schon sehr ermüdend, da die Kinder ja schon seit 24 oder gar 30 Stunden unterwegs waren. Der Empfang in Bern war das Großartigste von allem. In dichtem Spalier stand die Bevölkerung hinter einer Kette von Schutzleuten. Diese Kette wurde durchbrochen und die Waggons gestürmt, und wieder wurden die Kinder überhäuft mit Gaben. Sie wussten nicht mehr, wohin damit, etliche übergaben sich bereits. Schnell wurde noch das Stück bis Thun zurückgelegt. Soldaten nahmen uns kurzerhand die Kinder ab. Die Kinder kamen von uns fort, jedes in ein blütenweißes Bett; Pflege und Nachtwache hatten die Soldaten und Damen in mütterlicher Weise übernommen. Wir wurden in einen schönen Saal zum Festmahl geführt. Aufmachung und Essen seit Jahren ungewohnt für uns. Am nächsten Morgen wurden uns die Kinder wieder wohlbehalten (einige angespieener Weise) übergeben. Die Bahnfahrt ging weiter bis Frutigen und mit Autos ging 127

Abb. 10: Oskar Kahn (rechts außen) mit einer Kindergruppe auf Erholungsaufenthalt in Adelboden, Schweiz; in der Mitte: Gerta Louise von Einem, die Initiatorin der karitativen Kindertransporte in die Schweiz

es dann bis Adelboden, wo wir bei Hari (Schlögeli) sehr fein Unterkunft fanden. Dort blieben wir zwei Monate. Unser Dienst war nicht schwer – sechs Tage Dienst, zwei Tage frei – und auch nicht anstrengend. Wir machten Ausflüge zum Engstligenfall, zum Bütschelegg, zur Schermtanne, ins Gilbachtal, wo wir eine Rodelbahn fanden. Da man für eine Krone nur 21 Rappen bekam, waren weitere Ausflüge unmöglich. Von Frau von Einem hatten wir einmalig für 100 Kronen 100 Franken erhalten. Nach dieser Zeit wurde eine Aktion unternommen, damit die Kinder weiter bleiben könnten. Die Aktion hatte Erfolg, die Aufsichtspersonen mussten nach Wien, die Lehrpersonen sollten noch weiter bleiben. Ich verzichtete darauf und fuhr ebenfalls nach Wien heim, wo ich Anfang April eintraf. In Adelboden hatte ich nicht einen Malariaanfall, aber kaum in Wien angekommen, kam diese heimtückische Krankheit wieder daher. Ich trat gleich den Dienst in der Schule wieder an; nach vierjähriger Unterbrechung stand ich 128

Abb. 11: Oskar Kahn (hinten Mitte) mit dem Personal des Kinderheims Weißenbach (1920)

wieder in der Klasse; man kann sich denken, dass mir das Unterrichten nicht leicht fiel. Ich blieb auch nur kurze Zeit in der Klasse und machte dann einen Sportlehrerkurs mit, der bis zu den Ferien dauerte. In den Ferien leitete ich ein Ferienheim in Weißenbach an der Triesting. Wir logierten im Bahnhofhotel. Dazu ist zu bemerken, dass wir Lehrer und Erzieherinnen für den Dienst in den Ferien kein Entgelt hatten – nur freie Kost – für die damalige Zeit schon etwas. Als Entschädigung zahlten uns die Kinderfreunde im Oktober eine sechs- bis achttägige Tour ins Salzkammergut. Proviant mussten wir mitnehmen. Hieke, der Sekretär, hatte ich der Küche manches erspart, und so rückten wir aus: 25 Laibe Brot, 5 Kilo Grammelschmalz, 25 Dosen Kondensmilch etc. Jeder von uns musste einen circa 25 Kilo schweren Rucksack tragen. So ging es von Ebensee über Langbathsee, Großalm, Steinbach, Atterseerundfahrt, Unterach, Mondsee, Schörfling, ­Gipfel des Schafberges, Wolfgangsee, Ischl, Ebensee, Hallstadt, Aussee, Altaussee, Stainach-Irdning zurück nach Wien. 129

Den übrig gelassenen Proviant teilten wir noch auf der Fahrt nach Wien auf. Quartier bekamen wir überall leicht und auf dem Gasthausherd kochten die Frauen unser Essen. Unsere Hochzeit fand am 15. Juli 1920 statt. Als Ort suchten wir uns Melk, die Stiftskirche, aus. Ich schrieb hin und erhielt vom Stadtpfarrer, Pater Isidor Krenn, die Nachricht, seit 25 Jahren sei keine Trauung in der Stiftskirche gewesen und es bedürfe der Erlaubnis des Bischofs von St. Pölten. Ich ließ nicht locker und schrieb ihm; es werde ihm leicht sein, diese Erlaubnis zu erwirken, und ich werde ihn am 15. Juli aus der Sakristei abholen. Im größten Gedränge, fuhren wir nun um 5 Uhr von Wien ab. Wir waren von meiner Seite: Mama, Rudi, Lotte und ich; von Luisens Seite: Papa und Mama Depisch, Reli, Lunzi (Franz) und Luisl. Im Gasthof zur Post (Ebner) zogen wir uns um. Ich sandte Lunzi in den Pfarrhof, um Erkundigungen einzuziehen, und erfuhr, dass die Trauung in der Stiftskirche sei. Leider entstand ein Missverständnis: Der Pfarrer wartete unten auf uns und wir oben auf ihn. Um eine Stunde verzögerte sich die Trauung, dann kam er atemlos angetrippelt (er war 79 Jahre alt), brummte mit mir, hielt dann eine sehr schöne Ansprache, traute uns und brummte nachher wieder weiter. Eine kräftige Spende für den Vinzenzverein, 100 Kronen („Die Tax sind 10 Kronen, die Tax.“), versöhnte ihn vollends. In Frieden gingen wir auseinander. Im Gasthaus wurde ein prächtiges Mittagessen mit Fleisch, Schweinsbraten – für die damalige Zeit eine Kuriosität! – aufgetragen. Nachher wurde ein Spaziergang zur Donau und in die Auen unternommen, und um circa sechs Uhr fuhren unsere Leute nach Wien, während wir blieben. Abends trafen wir Familie Ressel, Abendessen war ein Schwammerlgericht. Den andern Tag fuhren wir auf dem Lokalschiff nach Spitz, wo wir bei Jedek gut unterkamen. Nachmittags gingen wir zum Roten Tor (Schwedentor). Am 17. VII. faulenzten wir und fuhren nachmittags nach 130

Wien. Lokal- und Eilschiff überfüllt. Nur in der ersten Klasse fanden wir noch Platz. Die Fahrt nach Nußdorf/Wien, kostete 96 Kronen. Um halb sieben Uhr kamen wir in Wien an. Jedes fuhr in sein Elternhaus. Ich musste den andern Tag bereits wieder in Weißenbach an der Triesting in dem Kinderheim der Kinderfreunde den Dienst antreten. Luise ordnete in Wien noch einige Dinge und kam am Mittwoch der nächsten Woche nach. Auch diese Ferien verliefen ruhig. Infolge Nahrungsmangel mussten viele Leute in Wien bleiben. Wir hatten, wenn auch einfache Kost, so doch reichlich – wenig Fleisch, gute Luft, nicht sehr viel Anstrengung und in diesem Sommer sogar Bezahlung – ich glaube 360 Kronen. (...) Von den Ferien kam Luise einige Tage früher nach Wien und richtete unser Heim provisorisch in der kleinen Wohnung der Tante Hermine am Schuhmeierplatz in Ottakring ein. Dort verlebten wir einige Monate bis zu den Ostern 1921. Luise führte nicht nur mir die Wirtschaft, sondern sie kochte auch für ihren Bruder Friedl, der die Filiale der väterlichen Werkstätte auf dem Schuhmeierplatz leitete, das Mittagsmahl mit. Alles neben der Schule. Luisens Lage war insofern verschlechtert, als sie vor und nach der Schule einkaufte, die schwere Einkaufstasche und die Schultasche heimschleppen musste und daheim nach der Schule erst zum Kochen beginnen konnte. Trotzdem aßen wir kaum später als um viertel oder halb zwei Uhr. Wenn man bedenkt, dass sie bis zur Verlobung von der Kocherei keinen blauen Dunst hatte, dann einen Schnellsiederabendkurs im Hausfrauenverein mit lauter Ersatzstoffen (Nachkriegszeit!) durchmachte, muss man ihre Leistung ganz groß nennen. Missglückt sind ihr in der ersten Woche einmal eingebrannte grüne Bohnen, wo die Einbrenn nicht so war, wie sie sein sollte, und einmal, Juni 1921, ein Erdäpfelteig; da waren die Erdäpfel zu nass und sie völlig schuldlos. Ich packte 131

ihn, wickelte ihn in eine Zeitung und trug das Packel auf die Schmelz*. Einstweilen hatten wir bei einem Tischler unsere Möbel bestellt. Dieser Tischler, der sich nachher bald als ein ausgemachter Gauner erwies, hatte seine Werkstätte in der Freudenau, einen Kilometer vom Lusthaus weiter hinunter; zu diesem fuhren wir ein- bis zweimal wöchentlich. Von einem Mal zum anderen vertröstete er uns damit – wir hatten sie bereits vor einem Jahr beangabt. Endlich lockte ich sie ihm halbfertig heraus. Er versprach sie fertig zu machen, hielt aber nicht sein Versprechen. Ich übergab die Arbeit einem anderen Meister und klagte beim Landesgericht den Schaden ein und gewann – aber im entwerteten Gelde. Durch die Vermittlung des Stadtrates Franz Siegel wurde uns eine kleine Wohnung in Fünfhaus, Possingergasse 21, erster Stock, Tür 6, zugesprochen. Bei dieser Wohnung war auch ein Garten, auf den wir aber verzichteten. Wenn die Wohnung auch klein war, so war sie doch unser Heim und Eigen. Wir wohnten lange Jahre friedlich in ihr, wenn wir auch vom ersten Moment bis zuletzt immer das Gefühl hatten, wir wollen hier nicht bleiben. Anfangs war gegen unseren Arbeitsbezirk Ottakring hin nicht einmal eine Straße, der Weg führte über die Schmelz und durch die Schrebergärten, das bedeutete bei Regen einen grundlosen Weg. Wir haben uns jedes Stückchen unseres Haushalts erwerben müssen. Von teuren Dingen bekam Luise nur ein altes Klavier und eine alte Stockuhr, ich einen alten Kasten für Kleider mit in die Ehe. (...) Zu Ostern 1921 waren Wohnung und Einrichtung fertig, so dass wir den Einzug vornahmen. In die Wohnung der Tante Hermine zog August, der Bruder Luisens, und heiratete später in sie hinein, wo er auch heute noch wohnt. 132

Albert Lang ( 1892 – 1972 ) wurde am 12. November 1892 als dreizehntes Kind einer Schuhmacher- und Tagelöhnerfamilie in Pottenstein im Bezirk Baden, Niederösterreich, geboren. Nach der Pflichtschule absolvierte er eine Maschinenschlosserlehre und konnte in verschiedenen metallverarbeitenden Betrieben im niederösterreichischen Industrieviertel wie auch bei Aufenthalten in Bayern und der Schweiz in den Jahren 1913/14 seine Kenntnisse erweitern. Aufgrund einer Wirbelsäulenverkrümmung war er für den Militärdienst untauglich. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs bekam Albert Lang eine Anstellung in einem Industriebetrieb im Süden Wiens, wo er in den Folgejahren nach entsprechenden Kursen seinen Traumberuf als Chauffeur fand. Durch mehr als drei Jahrzehnte war er bis Ende des Zweiten Weltkriegs, ob als Kraftfahrer, Garagenmeister oder Privatchauffeur, ein treuer Diener der Unternehmerfamilie. 1945 flüchtete er vor der herannahenden Sowjetarmee in den Westen und gründete im Land Salzburg eine neue Existenz. Albert Lang war zweimal verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Bereits ab Beginn seiner Lehrzeit im Jahr 1906 hatte Albert Lang relativ regelmäßig, in Abständen von einer bis vier Wochen, seine wichtigsten beruflichen und privaten Erlebnisse aufgeschrieben und diese Schreibpraxis über Jahrzehnte beibehalten. Aus den Jahren 1939 bis 1945 liegen nahezu tägliche Aufzeichnungen vor, da der Verfasser, einer Anregung des NS-Ortsgruppenleiters folgend, darum bemüht war, eine lokale „Kriegschronik“ zu führen. In den frühen 1950er Jahren wurden die ursprünglichen Notizen vom Autor selbst mit Schreibmaschine auf lose A4-Blätter übertragen. Aus dem Zeitraum bis Ende 1945 sind rund 2000 eng beschriebene Maschinschreibseiten erhalten. 133

„… um auch im Hinterland meine Pflicht gegenüber dem Vaterland zu erfüllen“ 10. 5. 1918 (...) In den Fabriken wollen die Leute nicht mehr recht arbeiten. Überall machen sich Widerstände bemerkbar, denn das heutige Leben ist schon mehr wie schlecht. Man bekommt nichts zu essen, nichts zum Anziehen, und obwohl eigentlich viel verdient wird, haben die Leute doch nichts davon. Denn wenn sie sich dafür etwas kaufen wollen, dann ist es etwas zum Essen oder zum Anziehen. Das bekommt man aber wieder nur im Schleichhandel und ist dadurch so teuer, dass gleich der Geldüberschuss draufgeht. Im Anfang haben die Leute auch ganz gerne Kriegsanleihe* gezeichnet, doch jetzt, wo man sieht, dass wir den Krieg wahrscheinlich nicht mehr gewinnen können, tun sie auch das nicht mehr, sondern geben alles den Schleichhändlern. Die Bauern nehmen überhaupt kein Geld mehr für ihre Sachen, sondern nur Wertsachen oder auch noch Kleider und Wäsche. Die deutsche Offensive ist auch nach anfänglichen Erfolgen wieder zum Stehen gekommen, denn die Materialüberlegenheit der Gegner ist halt doch zu groß, während sich auf deutscher Seite der Materialmangel und nun auch schon sehr stark der Menschenmangel bemerkbar machen. (...) Die Italiener drängen auch wieder an unseren Fronten, um weiter zu kommen, aber es gelingt ihnen nicht, obwohl unser Soldatenmaterial schon ziemlich schlecht ist. Die Tschechen kann man überhaupt nirgends mehr einsetzen, die Ungarn wollen auch nicht mehr kämpfen, besonders in Italien im Gebirge nicht, und die paar Mandln Deutsche, welche noch übrig geblieben sind – die deutschen Regimenter wurden ja immer und immer wieder an allen gefährdeten Punkten der Fronten eingesetzt –, machen das Kraut auch 134

nicht mehr fett. Es wäre halt schon Zeit, dass der Krieg ein Ende hätte. 10. 6. 1918 Die deutschen Truppen haben einen großen Durchbruch in Richtung Marne, Paris erzielt. Anscheinend wurden die Engländer und die Franzosen davon ganz überrascht, und hoffentlich kann der Durchbruch auch vollkommen ausgenützt werden, denn jetzt geht es um die letzten Minuten des Kampfes. Wenn nämlich die Amerikaner rechtzeitig ihre Unterstützung einsetzen können, dann ist der Krieg für uns nicht mehr zu gewinnen, während jetzt doch noch eine Möglichkeit dazu vorhanden wäre. Hoffen wir halt das Beste. Nun habe ich auch schon den 5-Tonnen-Wagen bekommen, mit welchem ich fest fahren muss. Ich habe wirklich sehr viel zu tun, denn ich muss nicht nur das ganze Fuhrwerk für die Fabrik machen, sondern auch für unseren Fabrikskonsum, von welchem alle, die in der Fabrik arbeiten, mitsamt ihren Familien verpflegt werden. Außerdem muss ich für die Fabriksküche die Lebensmittel holen, was eine langwierige Prozedur ist, weil man immer an mehrere Stellen fahren und überall sehr lange warten muss. In Wien kenne ich mich jetzt schon ziemlich gut aus. Zuerst machte ich es immer so, dass ich mir am Abend meine Kommissionen nach dem Plan von Wien zusammenstellte und diesen überhaupt immer vor mir liegen hatte. Das ist jetzt vorbei, das brauche ich nicht mehr zu machen. Ich muss auch für die Herrschaften immer allerhand Lebensmittel und auch Wein nach Wien mitnehmen für die Wiener Wohnung, was nicht so einfach ist, denn ich muss ja beim Linienamt* durchfahren, wobei diese Sachen zu versteuern wären, was wieder viel Zeit beanspruchen würde. Da haben wir einen bekannten Finanzer dort – der ist ein Mühlbautischler, welcher für sich selbst eine kleine Mühle gebaut hat, die er mit einem Benzinmotor 135

betreibt. Weil er aber kein Benzin bekommt, denn das ist sehr knapp, steht die Mühle öfter, als er will. Damit wir immer schnell und unbehindert durchkommen, bekommt er von mir öfters einen Liter Benzin. Sicherlich beeinflusst dies auch seine Kameraden, denn seit dieser Zeit, können wir immer sofort nach dem Stehenbleiben, wenn der amtshandelnde Beamte einen Blick über den Wagen gemacht hat, weiterfahren. Auch mit den dortigen Wachebeamten stelle ich mich sehr gut. Die müssen zu Fuß über den ganzen Wienerberg bis zur Elektrischen* gehen, aber ich nehme sie immer mit, wenn ich sie auf dem Weg treffe. Ich rechne dabei zwar bestimmt nicht darauf, dass sie mir gegenüber zu etwas verpflichtet wären, aber eine solche Freundschaft kann bestimmt nicht schaden. (...) Mit den Kartoffeln geht es uns jetzt schon sehr schlecht, sodass wir den Anschluss an die neue Ernte nicht erlangen werden, und weil es auch mit dem Mehl und dem Fett ganz schlecht ist, werde ich halt auch einmal hamstern gehen, mit Wäsche und Zucker, weil man angeblich für den Zucker das meiste bekommen soll. 2. 7. 1918 Heute Früh bin ich von meiner Hamsterfahrt heimgekommen und kann mich nun kaum rühren. Gestern Früh sind wir weggefahren, denn ich hatte mir den Samstag, wo wir sowieso nur bis ein Uhr arbeiten, für diesen Zweck freigenommen. Wir waren zu viert – ich ein ganzer Neuling auf diesem Gebiet – und fuhren bis Aspang, von wo wir dann zwei Stunden weit gingen, um dort unsere Betätigung aufzunehmen. Aber es war alles anders, als wir gedacht hatten. Wir hatten offene Türen und freudige Täuschler erwartet, aber als wir mit unseren Rucksäcken auftauchten und uns die Kinder von Weitem sahen, fingen sie gleich zu schreien an: „Muida, d‘ Haumstara kemman!“, rannten in die Häuser, die Türen 136

flogen nur so zu, der Riegel wurde überall sorgsam vorgeschoben, und wir standen da mit langen Gesichtern. Ein erfahrener Hamsterer verstand sich auf die weitere Abwicklung und begann an der Haustüre unaufhörlich zu klopfen, bis von innen eine zornige Stimme schrie: „Mia haum nix!“ Nun aber begann er schnell von seinen Schätzen zu erzählen, welche er zum Tauschen hatte, und siehe da: Sesam tat sich auf, er ging hinein. Nun versuchten wir anderen auch auf diese Weise unser Glück, aber meistens mit mehr Unglück. Ich kam dabei zu einem Müller, welcher mir für eine ganz neue Leinenunterhose ein Kilo und für ein neues Hemd eineinhalb Kilo Mehl geben wollte. Dem sagte ich anständig meine Meinung und dann ging ich. So gingen wir den ganzen Nachmittag hausieren, auch noch in einige weitere Ortschaften, bis wir spät am Abend alles, was man für gute Sachen, gutes Geld und gute Worte bekommen konnte, beisammen hatten. Ich hatte halt für meinen Zucker und für die Wäsche drei Kilo Mehl und dreißig Kilo Kartoffeln zusammengebracht, aber kein Deka* Fett, welches wir uns so ersehnt hätten. Meine Kameraden hatten auch ihr Quantum, und so konnten wir mit unserer Last zur Bahn marschieren. Für den Weg brauchten wir vier Stunden, worauf wir mit dem ersten Zug von Aspang wieder heimfuhren. Wenn es nicht unbedingt sein muss, dann fahre ich nicht mehr hamstern, denn abgesehen von den Strapazen und den wertvollen Sachen, welche man den habgierigen Leuten für das bisschen Essen hingeben muss, auch noch diese Behandlung wie ein Bettler hinnehmen zu müssen, das ist mir zu viel. Lieber leide ich noch mehr Hunger, als wieder einmal so betteln zu gehen. In den Betrieben gärt es nun schon sehr stark, und ich bin der Meinung, dass es bald einmal zu einem Streik kommen wird. Die Leute wollen alle vom Krieg nichts mehr wissen, weil sie ja doch – und nicht mit Unrecht – diesen für das gan137

ze Elend, die vielen Toten und Invaliden, vor allem aber für den Mangel an dem Nötigsten die Schuld zuschreiben. Sogar auf der Bahn kann man fast nicht mehr fahren. Denn wegen dem Kohlenmangel und dem Mangel an rollendem Material – es wird ja nichts erzeugt und fast nichts repariert –, wozu noch der große Bedarf der Fronten kommt, bleibt für den Personenverkehr fast nichts übrig. Die Züge sind immer so voll, vor allem die Arbeiterzüge, dass die Leute nicht nur auf den Puffern sitzen und stehen, sondern auch auf den Waggondächern, wodurch es dauernd Unfälle beim Gumpoldskirchner Tunnel gibt. Jetzt im Sommer geht das ja alles noch, aber es war schon im Winter so mit der Überfüllung. Auch gibt es fast kein einziges Fenster mehr, das ganz ist, und überhaupt kein Licht in den Waggons und auf den Bahnhöfen. Die Straßenbeleuchtungen sind überall schon so heruntergesetzt, das man von einer Beleuchtung fast überhaupt nicht mehr sprechen kann. In Wien ist das direkt eine Katastrophe und da ist es auch nicht zu verwundern, dass die Leute alle mit Scheinwerfern anstatt mit der Stadtbeleuchtung fahren. Weil es aber auch sehr, sehr wenig Karbid* gibt, ist das Nachtfahren fast überhaupt nicht möglich. Es gibt ja auch schon Wagen mit voller elektrischer Beleuchtungsanlage und auch elektrischen Startvorrichtungen, doch das haben nur ganz reiche und bevorzugte Leute in Personenwagen eingebaut. Es ist nur schade, dass der deutsche Durchbruch nicht ganz geglückt ist, denn im letzten Moment, als Paris bedroht war und die Leute dort auch schon kräftig nach dem Frieden schrien, kamen in Frankreich neue Leute an das Ruder, mit neuem Kampfgeist. Die Engländer und vor allem die Amerikaner kamen mit Verstärkungen zu Hilfe, und es war wieder einmal nichts aus dem erhofften großen Sieg geworden. (...) Die Fronturlauber – es kommen ja sehr wenige, weil immer großer Truppenmangel herrscht – sagen alle, dass es so nicht 138

mehr lange weitergehen kann. Fast nichts zu essen, sehr wenig Munition und dauernd im Einsatz, weil es keine Ablöse mehr gibt, das kann niemand auf die Dauer aushalten. Es gibt viele Prophezeiungen und Voraussagen über den Friedensschluss, aber bisher haben sich fast alle blamiert. Meinem Bruder Leopold geht es sehr gut, denn der ist schon seit längerer Zeit Stabsmaschinenmeister und als solcher auf einem Donaudampfer eingesetzt, welcher hauptsächlich die ungarische Strecke befährt. Da kann er immer seiner Familie Feldpostpackerln schicken mit nahrhaftem Inhalt, wodurch diese keinen Mangel zu leiden hat. Ich habe kein Glück mit solchen Sendungen. Mein Vetter ist in Rumänien beim Unterwasserdetachement, als Taucher räumen sie die gesprengten Brücken auf. Als er vor längerer Zeit im Urlaub hier war, sah er meinen Fotoapparat, welchen er natürlich gleich haben wollte. Ich wollte diesen aber nicht hergeben, weil ich der Meinung war, vielleicht doch einmal von einem Bauern Lebensmittel dafür zu bekommen. Da hakte er ein und versprach mir, dass er aus Rumänien Weizen schicken würde noch und noch, wenn ich ihm den Apparat überlasse. Dort bekäme man Weizen sehr billig und so viel man nur wolle. Ein einziges Packerl mit zwei Kilo kam, aber dann war es aus damit. Er hatte den Apparat und ich das Nachsehen für mein Vertrauen, weswegen ich natürlich auch noch verschiedene Vorwürfe von meiner Frau anhören musste. So geht es mir immer, weil ich nie die Schlechtigkeit der Menschen begreifen kann. 15. 8. 1918 (...) Die Lage spitzt sich jetzt ganz ernsthaft zu, denn bei uns ist schon ein Generalstreik vorüber, während sich in Deutschland ebensolche Strömungen bemerkbar machen. Der Generalstreik wurde bei uns nicht vollständig durchgeführt, denn es gibt ja Gott sei Dank bei uns auch noch Leute mit so viel 139

Verständnis, dass man die sowieso hart kämpfenden und dabei schwer an allem Nötigen darbenden Truppen an den Fronten nicht durch Streiks noch mehr Mangel leiden lassen sollte. Ich habe beim Streik nicht mitgetan, denn ich stand auf dem Standpunkt, dass doch alle etwas zu essen haben wollen, und wer sollte die Lebensmittel für die Küche und den Konsum bringen, wenn nicht ich diese mit dem Auto brächte? Einmal ging ich sogar zu einer Versammlung in das Arbeiterheim. Da wurden sehr große Reden geschwungen, und die längste Rede hielt der Vertrauensmann der Semperit*, wobei er hauptsächlich über die Solidarität der Arbeiter sprach, sodass es einem direkt schon fad wurde. Das Schönste war nämlich, dass die Semperit sich nicht am Streik beteiligte, sondern erst darüber noch beraten wollte. Diese Falschheit von dem Manne reizte mich, und als er wieder recht tönend von der Solidarität sprach, dass sich die Arbeiter zusammenschließen müssten, damit der Krieg beendet würde, welcher sowieso nur von den Kapitalisten geführt würde, damit sie sich bereichern könnten, da stach mich der Hafer und ich machte den Zwischenruf: „So wie die Semperitler!“ Damit hatte ich alle vorher andächtig Zuhörenden rebellisch gemacht. Es erhob sich sofort ein ganz arger Tumult, und unter stürmischen Pfui-Rufen und Ziach*-o-Pfiffen musste der tüchtige Mann nicht nur das Rednerpult, sondern auch gleich den Saal verlassen, weil er sonst sicherlich seine Hiebe bekommen hätte. So sind diese argen Schreier und Anstifter. Sie selbst bleiben schön heraußen, damit sie sich die Hände in Unschuld waschen können, wenn es zu irgendetwas Ernstem kommen sollte. Bei den Semperitlern ist es halt so, dass ein sehr energischer militärischer Kommandant seines Amtes waltet, der alle, welche nicht richtig arbeiten wollen, sofort einrückend macht, weil er auf dem Standpunkt steht, dass, wer im Hin140

terland unzufrieden ist, es unbedingt zum Vergleich an der Front zu leben versuchen soll. Das ist wirklich ein vollkommen richtiger Standpunkt, der auch der meine ist, und darum arbeite und tu ich, was ich nur kann, um auch im Hinterland meine Pflicht gegenüber dem Vaterland zu erfüllen. Jeder Betrieb, welcher für die Armee arbeitet, hat einen militärischen Kommandanten, darum haben wir auch einen. Aber das ist schon ein alter Herr, welcher in Baden wohnt und nur alle Wochen einmal kommt, wo er sich dann mit den Herren bei einem Glas Wein und einer guten Zigarre unterhält. Dafür bekommt er auch von der Fabrik das Brennmaterial, damit er nicht frieren muss und seine Frau ihm etwas kochen kann. In unserem Betrieb gibt es nämlich keine Schwierigkeiten, weil wir lauter anständige Leute beschäftigt haben. An fremden Arbeitern haben wir nur zwei evakuierte Italiener aus Triest und zwei kriegsgefangene Serben, mit welchen es auch keinerlei Anstände gibt. Von den zwei Serben ist der eine von mittlerer Größe mit einem kugelrunden Gesicht, trotz der Hungerleiderei, während der andere wie eine Bohnenstange aussieht. Wie Pat und Patachon* sehen sie aus. Der magere von den beiden wäre vorige Woche bald verunglückt. Wir hatten viel von der Bahn zu fahren, und weil ich mit dem Lastwagen nicht nachkam, nahmen wir einen Pferdewagen als Anhänger, um schneller weiterzukommen. Da riss auf einmal trotz der abschüssigen Strecke die Anhängekette. Der lange Serbe, welcher als Bremser auf dem Wagen saß, konnte diesen nicht zum Stehen bringen, und so flog er mitsamt dem beladenen Kohlenwagen in den Straßengraben. Ob er sich dabei wirklich wehgetan hatte, das konnte man nicht erkennen, aber auf jeden Fall sagte er immer nur: „Oj-jo-joj!“, wobei er mit seinen Händen die linke Brustseite hielt. Der Doktor konnte auch nichts finden, aber er ließ ihn doch drei Tage im Krankenstand. Das war sehr unüberlegt von mir, dass ich mich zur Fahrerei mit einem solch 141

primitiven Anhänger überreden ließ, denn es hätte ein viel größeres Unglück dabei entstehen können. Meine Bekannten sind schon wieder hamstern gewesen, haben jedoch nicht viel bekommen, weil auch die Bauern fast für sich selbst nichts mehr haben. Die neue Ernte ist noch nicht richtig zu verwerten, und alte Vorräte gibt es fast keine, weil ja die Leute, verführt durch die glänzenden Angebote, alles nur halbwegs entbehrliche Essbare hergegeben haben. Für mich ist das lästige Hamsterngehen für einige Zeit vorüber, weil wir ja jetzt wieder unsere eigenen Erdäpfel haben, mit welchen man sich den Hunger stillen kann. Den Herrschaften geht es besser als uns, denn die haben in Böhmen einen Verwandten, welcher Müller ist. Zu diesem fährt immer der Hausdiener, ein Tscheche, mit drei Koffern hin und bringt diese voll mit Mehl zurück, wobei ich ihn immer in Wien von der Bahn abholen muss. Natürlich muss er auch den Finanzern immer was schmieren, damit er vom Bahnhof herauskommt. Manches Mal sind schon so fade Zipf darunter, welche sogar den Leuten, welche mit Rucksäcken kommen, etwas wegnehmen wollen. Aber da mengen sich auch gleich die anderen Leute ein, und oft kommt es zu einem Negeraufstand* auf den Bahnhöfen, wenn die Hamsterer ankommen. Im Großen und Ganzen aber wird die Sache ja von den Behörden toleriert, denn wovon sollten denn die Leute leben, wenn sie sich nicht nebenbei etwas verschaffen würden. Wir hatten jetzt einen General als Ernährungsminister, welcher wirklich so anständig war, nur von dem zu leben, was er vorschrieb. Er wollte sogar wirklich durchhalten damit und legte seinen Posten erst zurück, als er wegen totaler Unterernährung seinen Dienst nicht mehr versehen konnte. So unglaublich das klingt, aber es ist wahr, dass es auch heute noch anständige Menschen gibt. Wenn man dagegen wieder sieht, wie die Schieber und Schleichhändler prassen und mit dem Geld nur so herumwerfen, die nichts kennen als ihren Profit, 142

welchen sie dadurch erzielen, dass sie ihren anständigen Mitmenschen jeden Bissen, den sie in den Mund stecken, um das Doppelte verteuern, genauso wie alle anderen Bedarfsartikel des täglichen Lebens. Wenn sich der arme Teufel überhaupt nichts mehr kaufen kann, dann muss man sich wohl fragen, warum der Herrgott nur die guten Menschen mit der harten Not an allem straft und nicht diese argen Sünder gleich vom Erdboden vertilgt. Ich bin immer so ein halbwegs guter Christ gewesen, aber jetzt könnte man bald wankend werden. 15. 9. 1918 (...) Mit der Hamsterei im Großen hatte ich in der letzten Zeit viel zu tun. Zuerst einmal hatte der Herr Direktor von einem mit ihm sehr gut bekannten Gutsbesitzer die Zusage erhalten, dass er ihm einige Hundert Kilogramm Weizen zukommen lassen könnte, nur müsste er ihm ein Fuhrwerk schicken, welches zur Tarnung Kohl, wohl auch von ihm, laden könnte. Selbstverständlich wurde ich gleich mit dem 5-TonnenWagen zu dieser Fahrt beordert, wobei ich mich natürlich auch schon an der Sendung beteiligt sah. Noch dazu hoffte ich, mir dort im Marchfeld bei den vielen Bauern doch etwas verschaffen zu können, und darum ging ich freudig auf diese Fahrt. Aber die Freude dauerte nicht lange, denn als ich in den Gutshof kam, wusste kein Mensch etwas davon, dass ich auch Weizen laden sollte, nur ein Berg Wirsingkohl lag für mich bereit. Ich wollte natürlich ohne Weizen nicht wegfahren und rief telefonisch daheim an, dass man mit dem Besitzer deswegen in Verbindung treten möge. Zum Schluss musste ich dann aber doch nur mit dem Kohl allein wegfahren, weil sich der Besitzer auf Kontrollen herausgeredet hatte, welche angeblich neu eingeführt seien usw. usw. Bei den Bauern bekam ich ebenfalls aber schon gar nichts. Mir wurde erzählt, dass die Bauern dort nur mehr Gold und Brillanten zum Tausch annehmen, weil die Wiener immer ei143

ner den anderen überbieten, damit sie nur ja etwas bekommen. Die Bauern aber scheren die Schafe, solange sie Wolle haben. Der gute Herr Direktor war auch gar nicht gut aufgelegt, als ich ihm Bericht erstattete, denn er hatte schon das Fell des Bären verkauft, bevor er noch den Bären selbst hatte, und diesem und jenem schon ein Sackerl Weizen versprochen, den sie sich auf der Kaffeemühle herunterreiben können. Alle Leute sind während der Ernte Ähren klauben gegangen, auch wir gingen einige Male, und nun reiben auch wir den Weizen auf der Kaffeemühle. Mehl bekommt man ja kein richtiges davon, aber so wie es herunterkommt, kann man gleich ein gutes Schrotbrot davon backen, welches viel besser ist als das Kukuruzbrot*, welches wir jetzt immer bekommen. Das ist so hart, dass man es gar nicht schneiden kann, und bröckelt dann so auseinander, dass man es eigentlich mit dem Löffel essen müsste. Aber nun kamen noch zwei solcher Fahrten. Eines Tages lag ich schon im Bett, als auf einmal jemand bei der Haustüre hereinwollte. Als ich hinausging, stand draußen der Nazl, ein Gumpoldskirchner Schleichhändler, welcher mir sagte, dass er vom Herrn Direktor S. geschickt sei, um mich zu holen, denn ich müsste gleich mit ihm nach Hundsham um Körndl fahren. Nun hatte ich aber auf dem 2-Tonnen-Wagen kein Licht und nur eine Karbid-Handlampe zur Verfügung, mit welcher ich nicht wegfahren wollte. Aber der gute Mann versprach mir so viel Weizen, Korn und Gerste, sogar Fleisch und Fett, dass ich mich doch dazu überreden ließ. Er kannte sich nicht richtig aus und bei mir war’s nicht viel besser, dazu die finstere Nacht und keine Beleuchtung, aber zum Schluss standen wir doch auf freiem Feld bei einer Bildsäule in Hundsham. Der Nazl ging fort, nachdem wir beim Stehenbleiben sofort ganz finster gemacht hatten, und kam nach einer guten Weile mit einem Fuhrwerk zurück, welches sich an unsere Seite stellte. Das Umladen der Fruchtsäcke 144

war schnell geschehen, dann kam die Plache darüber und als Schmäh* einige leere Kisten obenauf, so dass sie etwas über die Bordwände vorstanden. Darauf ging es sofort wieder heimzu. Noch einmal machten wir eine solche Tour, aber das Ganze, was ich dafür erhielt, war jedes Mal ein Stück Bauernbrot mit einem Stück Geselchtem, für eine Mahlzeit halt, welches ich aber jedes Mal nach Hause brachte, damit alle davon kosten konnten. Angeblich soll ich ja Mehl von der Frucht bekommen, wenn diese – natürlich schwarz – vermahlen ist. Vorläufig aber sehe ich ganz schwarz. In der nächsten Zeit soll ich auch mit unserem Einkäufer für die Kriegsküche und den Konsum um allerlei Gemüse und vor allem um Kartoffel für die Wintereinlagerung fahren, wozu wir vom Ernährungsamt die Bezugsscheine erhalten sollen. Hoffentlich schaut da einmal etwas dabei heraus. Ich weiß nicht, wie das kommt – ich habe nie die Gelegenheit, dass ich außertourlich zu etwas komme, wahrscheinlich bin ich zu dumm für solche Sachen. 6. 10. 1918 (...) Nun fahren wir schon öfters für die Fabrik einkaufen zu den Bauern und Gutsverwaltungen. Bei den Gutsverwaltungen ist ja gar nichts zu bekommen, aber bei den Bauern bekommt man wenigstens ein Stück Brot zu essen, und wenn es ganz gut geht, ein Stückchen Fleisch dazu. Als wir das erste Mal fuhren, hatte ich gleich besonderes Glück, denn die Bäuerin, wo wir waren, verkaufte mir auf mein Sudern* hinauf zwei Gänse für Zuchtzwecke. Diese waren wohl teuer, aber wir haben nun Aussicht, dass wir nächstes Jahr selbst Gänse haben, welche unsere magere Kost etwas aufbessern werden. Da wir nur mehr eine Kuh haben – die zweite mussten wir dem Fleischhauer geben, weil sie schon zu alt war, und eine andere konnten wir uns wegen Geldmangels nicht kaufen –, brauchen wir über den Winter 145

nicht mehr so viele Burgunder* und konnten uns deshalb etwas Kukuruz anbauen, welchen wir als Geflügelfutter sehr gut verwenden können. Viele Leute essen den Kukuruz auch als sogenannten Polenta wie die Italiener, aber wir haben noch keinen gegessen, weil das ja ein Schweinefutter ist. Bei den Bauern sind überall die Schrotmühlen versiegelt, damit sie nicht schwindeln können. Das macht denen aber nichts, weil man im Schleichhandel neue Schrotmühlen zu kaufen bekommt, welche natürlich nicht versiegelt sind. Ich habe mir auch eine kleine verschafft von der Gießerei, wo ich immer den Guss hole. Von dort bekam ich den Rohguss und ausgefertigt habe ich mir diese selbst, denn das geht doch viel schneller zum Reiben als mit der Kaffeemühle, nur sollte ich halt recht viel Weizen dazu haben. Vom Nazl habe ich bis heute noch immer nichts für die beiden Nachtfahrten bekommen, und ich habe auch schon das Kreuz darüber gemacht, denn diese Schleichhändler sind alle Gauner. Wo er mich sieht, weicht er schon von Weitem aus, obwohl ich ihn erst einmal um meinen Teil gefragt habe. Anbetteln werde ich ihn deswegen auch nicht und mit Gewalt fordern, das schon gar nicht, denn am besten ist es, wenn man an solches Gesindel nicht einmal anstreift, und Rosen wird es ihm bestimmt nicht bringen. Ich bin nur froh, dass ich jetzt endlich meine Bienen in Ordnung habe. Es hatte fast ausgesehen, als ob wir keinen Zucker zum Auffüttern bekommen würden, aber nun bekamen wir diesen und auch ich bekam meinen Teil, obwohl ich keinen Honig abliefern konnte. Der Herr Obmann hat es schon so eingeteilt, dass auch die Anfänger für ihre Völker etwas bekamen. Mit der Ernte war ich sehr zufrieden, denn obwohl ich ja mit nichts angefangen hatte, konnte ich doch acht Kilogramm Honig ernten und vier komplette Stöcke einwintern. (… ) Nach dem Schleudern waren die Bienenfeinde alle versöhnt, die Poldi und auch die Schwiegermutter, welche im146

mer über die Viecher, die nichts bringen und so gefährlich sind, und das viele Geld, das sie kosten, geschimpft haben. Ja, der Honig ist doch wirklich etwas ganz Gutes, besonders wenn man diesen aus eigener Ernte bekommt, so dass man an seiner Echtheit nicht zu zweifeln braucht. Ich freue mich schon darauf, wenn man wieder weißes Brot und Butter bekommen wird, denn einmal wird das ja auch wieder kommen. (...) Nun sind sich aber die Frauen nicht einig darüber, was wir mit dem Honig anfangen sollen. Verkaufen kommt nicht in Frage; vertauschen – man soll angeblich ein Kilo Fett für ein Kilo Honig bekommen – klingt schon besser, aber am besten wird es sein, wenn wir ihn für uns selbst behalten, denn die Poldi braucht doch bestimmt für ihre Lunge ein gutes Kräftigungsmittel. Für das Letztere sprachen wir uns alle – bis auf Poldi – einstimmig aus, und dabei bleibt es nun. (...) 15. 11. 1918 Das war ein Durcheinander in den letzten zwei Wochen! Am 4. November fuhren wir nach Rohrau, den Geburtsort Haydns, wo wir bei dem größten Schleichhändler der ganzen Gegend unseren Wagen schwer mit Frucht und obenauf mit etwas Kartoffeln beluden. Ich bekam für mich persönlich sogar einen ganzen Sack Weizen, welchen ich mir gleich im Kettenkasten versteckte. Wir bekamen sogar ein ganz anständiges Frühstück – Geselchtes, Brot und Wein –, wobei uns aber bald die Bissen im Munde stecken geblieben wären, als auf einmal ein Soldat hereinkam, welcher die Kokarde* von seiner Kappe heruntergerissen hatte und uns erzählte, dass die Revolution ausgebrochen sei. Die Soldaten haben überall die Waffen weggeworfen, sich die Kokarden (denn es gibt ja keinen Kaiser mehr) heruntergerissen und den Offizieren und höheren Unteroffizieren die Sterne und Rangabzeichen. Denn nun werden Soldaten- und Arbeiterräte die Macht ergreifen und so fort … 147

Wir glaubten zuerst, dass der Mann betrunken sei, aber als dann noch ein anderer kam, der gleich von Wien bei der nächsten Gelegenheit heimgefahren war und nun sogar schon in Zivil ging und dasselbe erzählte, dann mussten wir das schon glauben. Darauf machten wir uns sofort auf den Heimweg, denn man wusste ja doch nicht, was sich alles ereignen konnte, noch dazu, wo wir eine solch gefährliche Ladung hatten. In den bäuerlichen Orten bemerkte man nicht viel von der ganzen Sache, aber als wir in das Industriegebiet kamen, da wurde es schon lebhafter. Überall sah man Gruppen auf den Straßen stehen, welche lebhaft diskutierten, aber die Ordnung sah man nirgends gestört. In der Fabrik sollte wohl gearbeitet werden, aber an Arbeit war nicht zu denken, denn nur die Revolution beherrschte an diesem Tag alle Menschen. Nun hörte man auch schon Genaueres über das ganze Ereignis. Die Ungarn hatten der Entente einen Separatfrieden angeboten und hatten sich ganz einfach aus der Front zurückgezogen, die anderen Nationen hatten sich angeschlossen, wodurch so große Lücken in der Front entstanden, dass sie von den Haltung bewahrenden deutschen und österreichischen Truppen nicht mehr geschlossen werden konnten. Aber obwohl im Hinterland die Revolution im Gang war, hielten die Truppen doch noch aus, bis der Waffenstillstand mit Italien unterzeichnet war. Nun aber kam für die Braven noch ein schweres Verhängnis dazu. Alle waren der festen Überzeugung gewesen, dass mit dem Abschluss des Waffenstillstandes auch die Kriegshandlungen zu Ende seien, und hatten deshalb die Waffen als wertloses Zeug weggeworfen. Die Italiener aber hatten den Vertrag so gemacht, dass dieser erst 24 Stunden nach der Unterzeichnung in Kraft trat. Nun konnten sich die Italiener austoben und billige Siege feiern. (...) 148

Die politischen Parteien hatten Hochbetrieb, denn die schnell gewählten Arbeiter- und Soldatenräte verlangten die Abdankung des Kaisers und die Errichtung einer Republik. Das ging so schnell, dass ich, als ich an meinem Geburtstag, am 12. November, mit dem Wagen durch Mödling fuhr, gerade dazukam, als Dr. Renner* auf dem Schrannenplatz unter dem Jubel der Bevölkerung die Republik ausrief. Es gibt schon noch Leute, welche dem Kaiser nachweinen, der angeblich nicht gerne abdanken wollte, aber die Mehrzahl der Bevölkerung – ich ja auch – ist doch der Meinung, dass man in der Republik freier und besser leben kann. Dem Kaiser selbst gegenüber sind ja die Leute nicht feindlich eingestellt, aber die Kaiserin hat sich mit ihrer Italien- und Franzosenfreundlichkeit, noch mehr mit ihrem Friedensangebot, welches sie heimtückischerweise ohne Wissen Deutschlands durch ihren Bruder unseren Feinden übermittelte – ein Bruder von ihr kämpfte ja sogar in den Reihen der Feinde gegen uns –, so unbeliebt gemacht, dass kein Mensch von ihr etwas wissen will. (...) Ich bin auch zum Arbeiterrat* gewählt worden, womit ich aber nicht viel Freude habe, denn schon bei der ersten Sitzung hat es mir nicht sehr gut gefallen, weil immer nur von der Politik, der Partei und den Forderungen nach Achtstundentag, bezahltem Urlaub, Arbeiterräten, welche in der Leitung der Fabrik maßgeblich mitzusprechen haben, einer Neuordnung der Gemeinde, Aufteilung des Großgrundbesitzes usw. die Rede war, wobei aber kein Wort über die Arbeit selbst gesprochen wurde. Ich kann mir nicht helfen – macht es meine Erziehung oder der Umgang mit den Herrschaften, dass ich so ganz andere Ansichten als meine Kreise habe, dass ich nämlich immer schon im Voraus denken muss, was kommen wird. Wir haben den Krieg verloren, darum werden wir zahlen müssen, dass wir schwarz werden. Aber woher sollen wir das Geld nehmen, wenn wir durch so große soziale Forderungen den Arbeitslohn fast um die Hälfte erhöhen? 149

Nun hat aber jeder sozusagen sein letztes Hemd und die letzte Hose am Körper, überall muss alles neu geschaffen werden, und wenn wir Arbeiter so viel mehr verlangen, werden die Bauern auch den Achtstundentag fordern, die Staatsangestellten, die Post, die Eisenbahn, alles wird fordern, und niemand wird da sein, der wirklich arbeiten will. Noch dazu drängen sich überall Leute in Stellungen, von denen sie nichts verstehen, und mit ihrem Mundwerk gelingt es ihnen auch, die Fachleute von dort zu verdrängen, wo für sie ein fettes Amterl herausschaut. Die Leute werden ganz einfach als arbeiterfeindlich bezeichnet, und es wird so lange gegen sie gehetzt, bis sie gehen müssen. Was für ein Durcheinander jetzt herrscht, kann man auch daraus ersehen, dass unsere Strafanstalt bis auf den ehemaligen Oberleutnant Hofrichter vollkommen leer ist, nur die leitenden Militärbeamten sind auch noch da. Während der Revolution fuhren die Soldaten der Bewachungsmannschaft ganz einfach nach Hause und kümmerten sich um nichts Weiteres, worauf sich die Sträflinge unter Mitnahme von allem möglichen Zeug, welches sie tragen konnten, aus der Anstalt entfernten und sozusagen auch abrüsteten. Wenn es nur lauter Leute gewesen wären, welche rein militärische Verbrechen begangen hatten, aber es sind auch viele kriminelle Verbrecher darunter und sogar sehr schwere, welche in der jetzigen Zeit sicherlich ihr altes Geschäft wieder beginnen werden. So etwas wird heute gar nicht bemerkt, weil die Leute in ihrem Freiheitstaumel glauben, dass von nun an nur noch Milch und Honig fließen, ja ich glaube, sie sind der Meinung, schon im Schlaraffenland zu sein. Leider sind wir aber Besiegte, welche erst das Friedensdiktat abwarten müssen. Eines steht schon fest, dass das zukünftige Österreich nur mehr aus den rein deutschsprachigen Ländern bestehen wird, denn alle anderen wollen von uns nichts mehr wissen. Ich bin nur neugierig, wie es weiter mit 150

der Lebensmittelversorgung sein wird, denn ohne Arbeit kein Brot. 8. 12.1918 Schön langsam lässt die große Erregung nun doch schon nach, und wenigstens den paar Vernünftigen, welche es noch gibt, werden die Augen geöffnet. Ich bin von meiner Stelle als Arbeiterrat schon enthoben, weil ich angeblich ein Bremser bin. Ich hatte nämlich bei einer Versammlung, wo immer nur von ganz übertriebenen Forderungen die Rede war, gesagt, dass wir auch einmal von der Arbeit sprechen sollten, denn nur mit Forderungen nach weniger Arbeit und mehr Lohn kann man keinen Staat aufbauen. Uns wird aber gar nichts anderes übrig bleiben, denn nicht nur unsere Feinde, sondern auch die Ungarn, Tschechen, Polen, Kroaten, Slowaken, Slowener und wie sie noch alle heißen mögen, werden Forderungen gegen uns geltend machen, dass uns die Spucke wegbleiben wird. Das wurde natürlich nicht mit Applaus begrüßt, nach der Versammlung wurde ich von allen geschnitten, und am nächsten Tag wurde mir gesagt, dass ich von den Arbeitern für einen Bremser gehalten werde und meine Stelle als Arbeiterrat zurücklegen müsse, was ich natürlich auch gleich machte. Unsere Herren haben diese Entwicklung schon lange vorausgesehen und – wie es schon immer bei den Jagden war – auch in meinem Beisein über solche möglichen Entwicklungen gesprochen. Daher bin ich auch viel besser im Bilde wie die gewöhnlichen Arbeiter, welche nur die Parteizeitung lesen und die nicht richtig. Sie lassen sich mit Schlagworten betäuben, anders kann man das gar nicht sagen. Mir kann es gleich sein, ich habe ihnen nach bestem Wissen und Gewissen das gesagt, was ich für das Beste halte, und mehr konnte und kann ich nicht tun. (...) Nun sind schon viele Frontkämpfer zurückgekommen, welche alle Arbeit haben wollen, um sich etwas zu verdie151

nen, aber keine Arbeit finden, weil ihre Stellen besetzt sind und überhaupt eine Stagnation in der Erzeugung eingetreten ist. Diese musste ja unbedingt eintreten, da sich die Industrie nicht so schnell von den Kriegslieferungen auf Friedenserzeugnisse umstellen kann. Für viele der Heimkehrer ist es besonders bitter, dass sie sich nichts verdienen können, weil ihre Frauen während ihrer Abwesenheit die Kleider und die Wäsche für Lebensmittel verhamstert haben in der Meinung, dass ihr Mann – sehr gefühlvoll so etwas – wahrscheinlich sowieso nicht mehr zurückkäme. Nun stehen die armen Teufel da und haben sonst nichts zum Anziehen als ihr altes Soldatengewand. Die Kleider, welche man jetzt zu kaufen bekommt, bestehen ja alle nur aus Nesselfasern, Papier und Stroh, denn Leinen, Baumwolle und schon gar Schafwolle sind seit langem schon unbekannte Artikel. Die guten Sachen haben die blöden Leute alle verhamstert, und nun müssen sie die Fetzen sündteuer kaufen und auch selbst tragen, was ihnen am meisten wehtut. Weil unsere Ernährungslage ganz katastrophal ist, sollen wir von Amerika Lebensmittel bekommen, was wirklich sehr notwendig wäre. (...) 8. 5. 1919 (...) Ich bin ja so dumm, weil ich mir wegen dem allem [dem nationalen und internationalen politischen Geschehen] immer Sorgen mache – was geht das mich an? Die Menschen sind eben alle immer unzufrieden und darum wird es niemals Ruhe und Frieden auf der Erde geben. Nun haben wir den so lange und schwer umkämpften Achtstundentag erreicht, auch bezahlten Urlaub wird es für uns Arbeiter geben, aber die Leute sind doch nicht zufrieden und wollen während der kurzen Arbeitszeit auch noch nicht voll arbeiten, weil sie fürchten, dass dadurch die Arbeitslosigkeit noch größer 152

­ ürde. Dass die Arbeitslosigkeit zum Teil auch darin eine w Ursache hat, weil durch die niedere Leistung die Produktion verteuert wird, das verstehen sie nicht. Ich kümmere mich nicht mehr um die Politik, mache meine Arbeit, so gut ich kann, und damit komme ich am schönsten weg. Die Arbeitslosigkeit ist ja sehr arg, aber die Leute bekommen jetzt auch eine Arbeitslosenunterstützung, damit sie leben können. Die Arbeitslosen aber gehen nebenbei auch noch auf die ehemaligen Versuchsschießstände, um nach Blei zu graben, wodurch sie sich einen schönen Nebenverdienst verschaffen. Das Geld ist fast schon nichts mehr wert, denn eine Teuerung haben wir – nicht zum Sagen! Die Hausherren wollten auch die Mietzinse steigern und die Leute, welche den Zins nicht bezahlen konnten, an die Luft setzen, weil bei der heutigen Wohnungsnot viele weiß Gott was bezahlen würden, wenn sie eine Wohnung bekommen könnten. Dagegen wurde das sogenannte Mieterschutzgesetz geschaffen, welches die Mieter vor solchen Ausbeutern schützt. Wir haben ja auch zwei Parteien im Haus und ich selbst muss auch meinen Schwiegereltern Zins zahlen, daher weiß ich, wie die ganze Sache steht. Für uns Parteien ist das ja recht angenehm, wenn wir im Verhältnis zu früher weniger als die Hälfte an wahrem Geldwert Zins zahlen müssen. Aber meine Schwiegereltern, welche zum Großteil von den Zinseinnahmen ihren Lebensaufwand bestreiten mussten, jammern sehr arg über diese Angelegenheit. Noch dazu darf man nicht vergessen, dass dadurch die Bautätigkeit schwer eingeschränkt werden wird, denn ein Hausbau war immer eine sichere Kapitalanlage. Wenn aber die Zinse nun so niedrig gehalten werden, wird niemand mehr sein gutes Geld für so etwas hergeben. Es wird sich aber auch niemand selbst ein Haus bauen, wenn er eine Wohnung hat, mit welcher er zufrieden ist, weil ihm das Wohnen im eigenen Haus bestimmt teurer kommen würde als in der Wohnung mit dem Mieterschutz. 153

Mit der Esserei ist es noch nicht besser geworden. Es gibt immer noch nur das Kukuruzbrot, welches so hart ist, dass man es nicht einmal schneiden kann, weil es sofort in Brösel zerfällt. Dabei ist die Menge noch dazu so gering, dass ich mich nun doch entschlossen habe, von meinem Sack Weizen jede Woche fünf Kilo zum Brotbacken freizugeben. Es wird halt ein Grahambrot, weil man die Kleie nicht sauber herausbekommt, aber das ist entschieden besser als das Kukuruzbrot, und vor allem wird dadurch die Menge erhöht. Den Sack Weizen werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Erstens war ich wirklich überrascht, als ich diesen zu kaufen bekam; während des Kaufes kam der Soldat mit der Mütze, von welcher die Kokarde fehlte, und der uns von der Revolution erzählte, und dann dauerte es drei Wochen, bis ich diesen Sack aus meinem Wagen endlich sicher und ohne gesehen zu werden in unser Haus bringen konnte. Während der ganzen drei Wochen saß ich aber immer wie auf Nadeln, wenn ich mit dem Wagen fahren musste, weil ja die dauernden Kontrollen zu fürchten waren. Zum Glück bin ich aber auf den Strecken, welche ich immer fahre, so gut bekannt bei den Amtsorganen, dass sie mich immer gleich wieder fahren lassen, was ja eine Zeitlang, als die Volkswehr* viel zu reden hatte, leider nicht der Fall war. Mit einem Wort, ich kam durch damit – aber dann begann daheim der Kampf darum, welchen ich auch noch durchhalten musste – und das sehr zu unser allem Vorteil, weil gerade jetzt, vor der neuen Ernte, alles ganz besonders knapp ist. Nachher wird sicher alles besser werden und darum habe ich auch schon zwei Ferkel gekauft, damit wir im Winter endlich wieder einmal ein Stück Fleisch bekommen. Ich habe zufällig Kartoffeln zu kaufen bekommen, dazu kommt unsere Weizenkleie – es ist herzlich wenig –, Futterrüben haben wir auch noch genügend, da gedeihen die braven Viecherln ganz schön. Auf einem Acker haben wir Kukuruz angebaut, da154

mit wir sie im Herbst fett füttern können, was will man noch mehr. Hoffentlich bekomme ich heuer noch etwas mehr Honig als im Vorjahr – die Völker habe ich sehr gut über den Winter gebracht –, damit ich mir auch für den Honig etwas eintauschen kann. Arbeiten muss ich natürlich von früh bis spät am Abend, weil ich auch am Acker mithelfen muss, aber die Hauptsache ist doch, dass wir etwas zu essen haben. Unserem Einkäufer für den Konsum ist eine böse Sache passiert. Er kaufte im Schleichhandel 500 Kilo Zucker, welcher auf einer einsamen Straße in Wien überladen wurde. Dabei wurde der Inhalt der Säcke bei einem durch Anschneiden kontrolliert – es kam Kristallzucker heraus –, aber leider nur aus einem eingenähten Sackerl, während der übrige Inhalt aller Säcke aus Sand mit Schlacke bestand, wie man daheim beim Ausleeren erkannte. Das war bös, denn die Schleichhändler waren nicht mehr zu finden. (...) 15. 6. 1919 Vor zwei Tagen wurden unsere zwei Ferkel gestohlen. Vor der großen Schupfentüre hing ein handgroßes Vorhängschloss, welches die Diebe glatt mit einem Brecheisen öffneten. Unser Hund ist schon alt und der junge, welchen wir auch haben, der ist noch zu dumm gewesen, als dass er gemeldet hätte. Auf jeden Fall fanden wir am Morgen nur mehr die Gedärme im Stall, worauf ich sofort die Gendarmerie und einen Polizeihundeführer alarmierte, doch war alles umsonst. Anhaltspunkte waren keine vorhanden und der Hund folgte einer Spur, welche zum Bahnhof führte, worauf es hieß, dass die Diebe wahrscheinlich mit der Bahn am Morgen weggefahren seien. Mit einem Wort, nichts zu machen. (...) In der Fabrik gibt es jetzt sehr viel Arbeit. Als Übergangsartikel wurde die Erzeugung eines ganz kleinen Spar- und Schnellkochers aufgenommen, welcher sich sehr bewährt und dadurch reißenden Absatz findet, denn der Brennstoffmangel 155

ist ganz fürchterlich. Da es fast überhaupt keine Kohlen gibt – unsere früheren Versorgungsländer sind ja nun feindliches Ausland –, wird nur Holz geheizt, und das holen sich sogar die Wiener – am Land ist das etwas Selbstverständliches – direkt aus dem Wald. Wenn das so weitergeht, dann wird im Wienerwald bald kein Baum mehr stehen. Mit meinen Bienen bin ich sehr zufrieden, denn ich habe sie sehr gut über den Winter gebracht, dadurch haben sie sich im Frühjahr gut entwickelt, und hoffentlich bringe ich sie auch ohne Schwarm über den Sommer. Auf Vermehrung kann ich nicht rechnen, weil ich kein Wachs für die Mittelwände und nicht einmal einen Draht zum Eindrahten derselben zur Verfügung habe. Hoffentlich kann ich bald schleudern, aber ich will auch nicht zu früh schleudern, damit ich wirklich erstklassigen Honig bekomme. Die Herrschaften wollen mir auch welchen abkaufen, und da will ich mich nicht etwa blamieren. Die Zusammenarbeit im Bienenzuchtverein gefällt mir sehr gut. Gut die Hälfte der Mitglieder sind ja Außenseiter, welche nur auf nackten Profit ausgehen und sich auch danach benehmen, aber die andere Hälfte sind wirkliche Bienenväter, mit welchen man sich so richtig verstehen kann. Meine Frau und meine Schwiegermutter schimpfen schon wieder über die Bienen, welche sie am liebsten anzünden möchten. Denn beide wurden vor einiger Zeit gestochen, worüber natürlich arg geschrien wurde. Da muss man nur eine dicke Haut haben, dann hält man alles aus, auch die ärgste Schimpferei. 12. 9. 1919 Wir haben in der Fabrik wieder sehr viel zu tun, und besonders die Hausfreund-Erzeugung – so heißt nämlich der bei uns erzeugte Sparkocher – geht auf Hochtouren. Es gibt auch Konkurrenzfabrikate, aber die bewähren sich nicht so gut wie der unsrige, und vor allem haben wir eine sehr gute Rekla156

me. Für die Werbung haben wir ein Plakat, auf welchem ein eleganter Herr zu sehen ist, der in einer Hand seinen Zylinder, in der anderen aber anstatt eines Blumenstraußes einen Hausfreund-Sparkocher hält, aus welchem die Flammen in Form eines Herzens herausschlagen. Vor einer Türe stehend, fragt er die ihm öffnende junge Frau: „Haben Sie schon einen Hausfreund?“ Das wurde direkt zu einem geflügelten Wort und macht für uns die beste Reklame. Nun haben wir schon unseren Friedensvertrag, welchen unsere Unterhändler – der Sozialist Dr. Renner war der Chef der Friedensdelegation – nach langem Eingesperrtsein und nur halben Möglichkeiten, zu Wort zu kommen, in St. Germain entgegennehmen mussten. Der Vertrag ist so, wie man sich diesen doch nicht erwartet hätte, denn die Deutschen von Böhmen und Mähren wurden trotz allen Vorstellungen den Tschechen ausgeliefert und mit einem Wort: Alles, was unsere ehemaligen Länder, die sich jetzt von uns losgelöst haben, verlangt haben, haben sie bekommen, und wir müssen ihnen noch so viel ausliefern, dass wir wirklich arm werden dabei. Nur die Ungarn haben mit ihrem Verrat draufgezahlt, sie haben damit nichts erreicht, sondern ihr Friedensvertrag ist nicht besser als der unsrige. Deutschland hat es ganz arg erwischt. Es hat nicht nur ­Elsass-Lothringen, sondern auch alle Kolonien und wahrscheinlich auch das Saarland an die Alliierten, große Teile von Ostpreußen und ganz Oberschlesien aber an die Polen verloren, muss vollkommen abrüsten, auch die Marine, wofür es dann ein 100.000-Mann-Reichswehr-Heer aufstellen darf, welches nur mit leichten Waffen ausgerüstet sein darf, und muss natürlich so viele Reparationen bezahlen, dass sich jeder vernünftige Mensch frägt, ob Deutschland insgesamt überhaupt solche Werte besitzt. Noch dazu wird es lange Jahre von den Siegertruppen besetzt bleiben, für deren Unterhalt das Land auch aufkommen muss. (...) 157

Mit einem Wort, man will Deutschland direkt ausradieren, was aber bestimmt nicht gelingen wird, denn Wissen und Fleiß ist etwas, womit man sich in allen Lagen wieder in die Höhe arbeiten kann, und das besitzt der deutsche Mensch in reichem Maße. Wir wollten uns an Deutschland anschließen, denn Wilsons* 14 Punkte garantieren ja die Freiheit aller Nationen. Doch da wurde so stark Feuer geschrien und alle nur möglichen Machtmittel dagegen eingesetzt, dass an eine Vereinigung von uns Deutschen wohl lange nicht gedacht werden kann. Aber kommt Zeit, kommt Rat – wer weiß denn heute schon, wie sich die Weltlage einmal gestalten kann, und ohne Deutschland kann man sich kein Europa vorstellen. (...) Auf jeden Fall bin ich stolz darauf, ein Deutscher zu sein und werde das auch mein ganzes Leben lang bleiben – mag kommen, was nur will. Die Parolen des Sozialismus, in der Hauptsache mit dem „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ usw. sind genauso ein Windgebläse wie die wahre Nächstenliebe, welche alle Kirchen predigen und doch ihre nationalen Waffen segnen, damit ja recht viele Feinde mit diesen umgelegt werden können. Ich hatte bisher neben der Österreichischen Volkszeitung auch die Arbeiter-Zeitung abonniert, doch habe ich diese nun abbestellt, weil mir dieses ewige Fordern und Unzufriedensein sowie das Geschimpfe auf die anderen Parteien schon wirklich zuwider geworden ist. Während des ganzen Krieges und jetzt beim Friedensschluss erst recht hat man wirklich gesehen, dass nur unsere Sozialisten so dumm sind und an solche Phrasen glauben. Aber mich können die Parteien alle gernhaben, weil eine wie die andere nichts wert ist. (...)

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Adolf Gaiswinkler ( 1895 – 1967 ) wurde am 5. März 1895 als zweites von vier Kindern eines Briefträgers in Altaussee im steirischen Salzkammergut geboren und trat nach Abschluss der Bürgerschule 1910 ebenfalls in den Postdienst ein. Die lange Unterbrechung durch Militär- und Kriegsdienst machten den beruflichen Wiedereinstieg für den Spätheimkehrer unerwartet schwierig. Erst Mitte der 1920er Jahre konnte er die angestrebte Stelle als Postamtsdirektor in Altaussee antreten, die er dann bis zur Pensionierung innehatte. 1927 schloss er eine Ehe, aus der drei Kinder hervorgingen. Adolf Gaiswinkler begann mit der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen im Alter von siebzig Jahren und konnte diese wegen eines plötzlichen Todes nicht vollenden. Daher nehmen der Kriegsdienst an der Ostfront und vor allem die mehr als fünf Jahre dauernde Kriegsgefangenschaft in Sibirien darin relativ großen Raum ein. Das lebensgeschichtliche Manuskript, das sein Sohn Erich Gaiswinkler der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ 1997 überließ, umfasst 95 maschingeschriebene Seiten. Ausschnitte daraus wurden bereits 2008 im Band 56 dieser Buchreihe, „In russischer Gefangenschaft. Erlebnisse österreichischer Soldaten im Ersten Weltkrieg“, von Hannes Leidinger und Verena Moritz herausgegeben. Der nachfolgende Beitrag schließt inhaltlich unmittelbar an diesen früheren Beitrag an.

„Der Dank des Vaterlandes …“ Die Landung in Triest muss am Vormittag des 4. November 1920 erfolgt sein. Bis zum Nachmittag hatten wir Gelegenheit 159

zu einer Stadtbesichtigung – und zur Erinnerung an das zerbrochene Habsburgerreich, dessen größter Handelshafen Triest ja bis zum Jahre 1918 gewesen war. (...) Am Nachmittag erfolg­ te unsere Abfahrt mit drei von Österreich bereit­g e ­­ stellten Personen­z ügen. Wir trauten unseren Augen fast nicht, dass wir diesmal sogar in Personen­wagen und nicht wie früher in Viehwaggons befördert Abb. 12: Adolf Gaiswinkler in werden sollen! Die Reise russischer Kriegsgefangenschaft ging über Udine, Pontebba/ (1917) Pontafel, Arnoldstein nach Villach. In Villach wurden wir offiziell von einer Abordnung der Landesregierung begrüßt und hatten einige Stunden Zeit, um die Stadt zu besuchen. Wir trafen dabei auch mit jungen Leuten zusammen, die einige Zeit vorher an den Kärntner Abwehrkämpfen teilgenommen hatten und auf diese Weise verhindern konnten, dass sich die Südslawen noch weiter in deutsche Gebiete hineingedrängt hätten. In Steiermark wurde dies leider übersehen, obwohl es vielleicht auch zum Ziele hätte führen können, wenn man Widerstand organisiert hätte. Unsere Reise ging in drei Transporten vor sich: a) Wiener, b) Oberösterreicher, Salzburger, Tiroler und c) Steirer. Wir Steirer kamen zunächst einmal nach St. Michael in Obersteiermark, dort befand sich die Heimkehrer-Zerstreuungsstation für Steiermark. Ich weiß heute nicht mehr genau, wie viele wir waren, aber einige Hundert werden es schon gewesen sein. 160

Wir mussten also unseren Kram nach dem Lager tragen, welches sich genau unterhalb des Kriegerdenkmales neben der Bahnlinie gegen Leoben befindet. Dort empfingen wir unsere Entlassungsscheine, womit uns bescheinigt wurde, dass wir aus dem Heeresverband entlassen seien. Dann wurde uns noch eine Garnitur Uniform aus sogenanntem Brennnesselstoff ausgehändigt, als etwaiger Ersatz für eingebüßte Zivilkleider. Die Heimat war arm geworden. Ein kleiner Betrag als Handgeld wurde uns ausgezahlt. Von der rückständigen Löhnung für fünf Jahre und circa fünf Monate sprach man vornehmerweise überhaupt nicht. Erst nach einiger Zeit erfuhr ich, dass man darum hätte ansuchen können. Mein Antrag kam aber zu spät. Der Dank des Vaterlandes … Der militärische Kommandant der Zerstreuungsstation St. Michael/Obersteiermark war ein Major. In seinem Büro saßen noch einige jüngere Offiziere. Die alten österreichischen Rangabzeichen waren jetzt verschwunden. Statt der goldenen Sterne trugen die Offiziere nunmehr Litzen, die man wahrscheinlich der deutschen Reichswehr abgeschaut haben dürfte. Die Offiziere beklagten sich bei ihren eben aus Sibirien heimgekehrten Kollegen bitter über die Schmach, jetzt ohne Sterne durch das Leben wandeln zu müssen. Sorgen haben diese Leute gehabt, wirklich zu bedauern! Der morgendliche Kaffee, der uns von der Küche verabreicht wurde, war an innerem Gehalt und Geschmack der empfangenen Brennnesselmontur durchaus ebenbürtig. Die Fahrt wurde angetreten und sie dauerte ziemlich lange, bis wir endlich in Selzthal einlangten. Ein Anschluss nach Bad Aussee war erst am Abend. Nun war ich wieder da, von wo ich fünfdreiviertel Jahre vorher eingerückt war. Mit Fähnrich Vitzthum ging ich spazieren und besuchte meine ehemaligen Quartiergeber und Wirtsleute. 161

Ich verständigte durch Telegramm meine Mutter und Schwester und bat, mir einen Wagen zur Bahn zu senden. Ich sah es als selbstverständlich an, dass ich die sieben Kilometer nicht zu Fuß heimwandern werde. Mutter und Schwager fanden dies nicht, sondern fürchteten, ich sei gehbehindert. Anders hätten sie sich meine unerhörte Verschwendung, einen Einspänner zu nehmen, gar nicht erklären können. Als ich dann aber springlebendig eintraf, waren alle Befürchtungen weggeblasen. Ich hatte auch einiges Gepäck – einen Holzkoffer, der heute noch vorhanden ist, und in einem Blechkanister Zigaretten und Tabak, Gewürze und derlei Kram, den ich in Wladiwostok teuer kaufte, weil es hieß, in Österreich herrsche an allem bitterer Mangel. Aber zu Schwarzmarktpreisen hätte ich mir diese Sachen auch hier beschaffen können. Meine Schwester Berta hatte im März dieses Jahres ihren zweiten Sohn Alfred zur Welt gebracht, er war daher acht Monate alt. Der ältere Sohn Franz zählte siebeneinhalb Jahre. Mein Vater war vor eineinhalb Jahren (am 25. Mai 1919) gestorben, und es wurde peinlich jedes Wort darüber vermieden. Erst daheim brach der Schmerz durch, als ich die elterliche Wohnung betrat. Da wurde es mir erst bewusst, dass er nicht mehr unter uns weilte und für mich verloren sei. Ein junger Mensch tröstet sich aber bald, und das Leben geht auf jeden Fall weiter. Die Wunde vernarbte. Aber ich musste oft an meinen Abschied von ihm denken, als ich im April 1915 von meinem Kurzurlaub von drei Tagen wieder zurückreisen musste nach Hartberg, meinen Garnisonsort. Bisher habe ich mit keinem Wort Mädchenbekanntschaften erwähnt. Das soll natürlich nicht den Eindruck erwecken, ich wolle mich als Tugendbold tarnen, den Sittlichen, Unverdorbenen oder Unerfahrenen spielen. Das liegt mir vollkommen ferne. In all den Jahren vor dem Kriege lernte ich da und dort wohl Mädchen kennen, aber ich blieb nicht fest verhängt. Es 162

waren immer nur flüchtige Bekanntschaften, die bald kürzer, bald länger dauerten. Als ich einrückte, war ich eigentlich so ziemlich frei. Vom Militär aus schrieb ich wohl an manche Mädchen und erhielt in den wenigen Wochen auch ab und zu ein Lebenszeichen oder Liebesgabenpäckchen. Einmal kamen Zigaretten, die mir ja sehr erwünscht gewesen wären. Aber zum Unglück waren sie in eine Seifenschachtel verpackt und hatten den Wohlgeruch angezogen. Es war kein reiner Genuss, sie zu rauchen. Als ich dann in Russland war und die erste ganz harte Zeit vorüber war, begann ich auch wieder zu korrespondieren. Meine Briefpartnerin war mir früher nie besonders nahe gestanden und ich ihr halt auch nicht. Das zog sich mehr als vier Jahre hin, die Briefe wurden zärtlicher und inniger – ähnlich wie es bei Anton Wildgans in „Kirbisch“ geschildert ist, wo ein Fähnrich aus der Front einem Dienstmädchen glutheiße Liebesergüsse schrieb. Nur die letzte Konsequenz war bei mir anders. Nach meiner Rückkehr verebbte alles, was vorher zu keimen begonnen hatte. Das Idealbild zerrann in nichts und in ganz wenigen Wochen begann der Reigen, nur die Partner waren andere, immer wieder andere. Das ist entschuldbar, ich hatte ja fünfdreiviertel Jahre versäumt und musste allerhand nachholen. Was mich nach meiner Heimkehr auch sehr betrübte, war, dass das Elternhaus meiner Mutter nicht mehr im Besitz der Familie war. Mein Onkel Franz hatte den ganzen Besitz um 100.000 Kronen an einen Fabrikanten aus Brünn verkauft. Dieser hatte im Sommer 1918 oder 1919 als Sommergast hier gewohnt und hatte es verstanden, sich bei den Besitzerleuten sehr gut einzuführen. Der Verkaufserlös wurde nach Abzahlung der verhältnismäßig unerheblichen Schuldenlast und Auszahlung eines Teiles an die drei Kinder auf ein Sparkassenkonto eingelegt. Dort schlummerte es der völligen Geldentwertung entgegen, die ja schon begonnen hatte. Onkel 163

Franz war nicht der Einzige, der seinen Besitz verkaufte und dann das Geld durch die Inflation zerrinnen sah. Und schließlich fanden sich Nebennutznießer, die ihm noch zum Verkauf zuredeten, was sie gewiss nicht ohne ausgiebige Entschädigung getan haben dürften. Beide waren sonst sehr national eingestellt. Aber das hinderte sie keineswegs, einen unerfahrenen, armen Teufel um Judaslohn falsch zu beraten, um den Besitz einem Juden in die Hände zu spielen. Im Allgemeinen hat sich der neue Besitzer, der im Kriege Oberleutnant gewesen war, anständig benommen. Wir kamen später auch gut mit ihm aus. Als mein Vater bzw. unser Vater im Mai 1919 gestorben war, übernahm die Mutter den Besitz und musste laut Gerichtsbeschluss für mich und wahrscheinlich auch für meine Schwester einen gewissen Geldbetrag sicherstellen. Für mich bestimmte das Gericht 2.000 Kronen, die auf ein Sparbuch einzuzahlen waren, das gegen Abhebungen gesperrt wurde. Die Sperre wurde erst nach meiner Heimkehr im November 1920, ebenfalls vom Bezirksgericht Bad Aussee, wieder aufgehoben. Meine Mutter war damals 58 Jahre alt, und da sie ihr ganzes Leben in Genügsamkeit und Sparsamkeit zugebracht hatte – der Verdienst des Vaters war ja äußerst bescheiden –, konnte sie für die fortschreitende Inflation kein Verständnis aufbringen. Es ging ja vielen älteren einfachen Menschen so. Das eingelegte Geld benützte ich, um notwendige Nachschaffungen an Kleidung und dergleichen vornehmen zu können. Zum Teil wurde es auch für Vergnügungen ausgegeben, denn es waren ja noch viele Sachen bewirtschaftet* und der Markt bot nicht viele Waren, vor allem auch keine guten. Die Tatsache meiner Heimkehr war die Sensation des Ortes, war ich doch einer der Letzten, die dieses Glück genießen durften. Einige Zeit vor mir kam Josef Haim, ebenfalls aus Russland, zurück. Ihn traf das Schicksal gleich hart wie mich, denn kurze Zeit vorher war seine Mutter zu Grabe getragen 164

worden, wovon er noch nichts wissen konnte. Eine bittere Heimkehr ward ihm zuteil. Mein Schicksalsgenosse aus Totzkoe*, Franz Resch aus Grundlsee, kam erst einige Wochen nach mir heim. Meine Mutter und ich machten einen Besuch bei seinen Eltern, die ja auch Tag für Tag auf seine Heimkehr warteten. Einige Tage nach meiner Heimkehr meldete ich meiner vorgesetzten Dienstbehörde, der Post- und Telegraphendirektion für Steiermark in Graz, meine Heimkehr. Ich nahm es als selbstverständlich an, dass man mir vorerst wohl nach so vielen Jahren einen Urlaub gönnen würde und bat in der Meldung auch – zwar nicht wörtlich, aber dem Sinne nach – darum. Der Bürokratismus war aber härter, als man gemeinhin annehmen konnte. Wieder einmal der Dank des Vaterlandes, abgestattet von jenen hohen Herren, die im Kriege als unabkömmlich daheim geblieben waren. Von ihnen konnte ein heimgekehrter Frontsoldat wahrlich kein Entgegenkommen erhoffen. Ihnen wäre es vermutlich viel lieber gewesen, wenn wir nicht mehr zurückgekommen wären. Das hätte die Lage wesentlich vereinfacht. Ich nahm auch als selbstverständlich an, dass ich entweder in Altaussee oder in Bad Aussee eingestellt werde. Das war ein Irrtum. (...) Ich zählte zum „Offiziantenstand“ und wir konnten nun mit unserer Postoffiziantenprüfung bestenfalls Postmeister auf kleinen Postämtern (mit einem oder zwei zugeteilten Beamten) werden oder nach Ablegung der „Postmeisterprüfung“ oder der „Verkehrsprüfung“ Oberpostmeister werden und Ämter leiten, welche drei oder vier zugeteilte Kräfte hätten. An den Avancementvorschriften hatte sich vorderhand noch nicht viel geändert; es war doch so, dass Aussichten vorhanden waren. Als ich in Altaussee meine Kollegen im Amte besuchte, fiel mir die unglaublich geringe Arbeitsmoral auf, die sich nun nach dem Kriege eingeschlichen hatte. Früher hätte doch 165

kein Beamter zu Mittag den Dienst verlassen, ehe er nicht zur Beförderung vorliegende Telegramme abgesetzt hatte. Wir mussten unsere Telegramme nach Graz, Bad Aussee oder Linz absetzen. Konnte der Partner gerade nicht mit uns arbeiten, weil er auf der anderen Leitung zu tun hatte, so hieß es warten; keinesfalls aber durfte man fortgehen und das Telegramm bis nach der Mittagspause liegen lassen. Ich war entsetzt, als ich sah, mit welcher Gleichgültigkeit der Amtsvorstand und der zugeteilte Anwärter das Amt schlossen und fortgingen. Es dachte keiner daran, dass er für diese Leistung ja angestellt war und dafür auch bezahlt wurde. Meine Meldung geschah am Tag nach meiner Heimkehr, also am 7. November 1920. Mit Bescheid vom 15. 11. 1920 teilte die Post- und Telegraphendirektion Graz mit, dass meine Meldung zur Kenntnis genommen worden sei, ich bis Ende November des Jahres als beurlaubt geführt würde und am 1. Dezember 1920 dem Dienst beim Post- und Telegraphenamt Liezen anzutreten hätte, da meine zukünftige Bezugsbehandlung vom tatsächlichen Dienstantritt abhänge. In der Zwischenzeit meldete ich mich in Bad Aussee beim Invalidenamt an, um für ärztliche Behandlung einen Schein zu bekommen. Ich litt an einem Folgezustand nach der Ruhr und an einer Sehnenscheidenentzündung. Meine Bezüge erhielt ich tatsächlich erst ab 1. Dezember 1920. Die Zeit bis dahin war ein unbezahlter Urlaub. Nach Kriegsende sind auch Gewerkschaften als Personalvertretungen entstanden. Es gab damals mindestens deren drei: eine sozialistische, eine christlichsoziale und eine sogenannte Fachgewerkschaft, die vorgab, unpolitisch zu sein, und ich glaube, auch eine deutsch-völkische. Ich weiß heute nicht mehr, welcher ich beitrat, später war ich bei der sozialistischen Postgewerkschaft. Beim Postamt Bad Aussee waren Leute in Verwendung, die viel jünger waren als ich und daher auch später in den Postdienst eingetreten. Sie alle wurden mir 166

vorgezogen. Ich beschwerte mich darüber. Die Entgegnung war, dass diese Kräfte auf keinem definitiven Dienstposten stünden und ihre Tätigkeit in Bad Aussee nur vorübergehend sei. Im Übrigen sei ich für eine Verwendung beim Postamt Bad Aussee ja auch nicht vorgemerkt gewesen wie die anderen. Ich hätte ja von Wladiwostok aus kein Gesuch an die Postdirektion einreichen können, weil ja vorschriftsmäßigerweise der Dienstweg einzuhalten gewesen wäre. Es war mir auch nie eingefallen, einen Brief direkt an die Behörde zu schreiben. So etwas war zu jener Zeit einfach undenkbar, das wäre ein grober Verstoß gegen alles Herkommen gewesen. Im Juni des Jahres 1921 wurde der Amtsvorstand des Postamtes Altaussee, Oberpostmeister Karl Theußl, als Amtsvorstand zum Postamt Kapfenberg versetzt. Natürlich bewarb ich mich um die ausgeschriebene Stelle – leider vergeblich, denn diesmal wurde wohl das höhere Dienstalter eines anderen Bewerbers, der allerdings nicht eingerückt gewesen war, voll berücksichtigt. Er erhielt das Amt und traf Ende Juni 1921 in Altaussee ein. Am 2. Jänner 1921 trat ich meinen Dienst, wie befohlen, beim Postamt Liezen an. Ich versah Telegraphen- und Fernsprechdienst. (...) Es gelang mir nicht, in Liezen ein Privatzimmer aufzutreiben, und auch die Verpflegung war noch immer schwierig. Die Wirte hatten mit Abonnenten und Dauergästen für Fremdenzimmer nicht viel Freude. Ihnen waren Holzhändler und Schieber, die viel Geld ausgeben konnten, lieber. Damals blühte auch allenthalben der Holzhandel. In einigen Orten (wie Hieflau) wurde sogar das Holz in Postpaketen nach großen Städten verschickt. Dazu wurde das Brennholz nach dem Gewicht verkauft. Ich musste daher gezwungenermaßen dauernd im Gasthaus wohnen, was keineswegs nach meinem Geschmack war. Es gelang mir auch sehr schwer und äußerst langsam, mich an 167

das Zivilleben zurückzugewöhnen. Ich ging zu keiner Unterhaltung in Liezen, obwohl dort sehr schöne Bälle stattfanden und ein vorzügliches Orchester spielte. Die Ballmusik war auf alle Fälle viel schöner als in Altaussee, aber ich konnte nicht recht warm werden. Auch schloss ich mich erst viel später an andere junge Leute an. So schwer hatte ich mir die Rückkehr ins Zivilleben nicht gedacht. Ich hatte das Gefühl, völlig entwurzelt zu sein. Daheim in Altaussee fühlte ich das weniger, wenngleich auch hier der Übergang nicht so ohne weiters ging. Im Frühjahr erhielt ich einen kurzen Krankenurlaub, anschließend daran wurde ich zum Postamt Altaussee als Sommerverstärkung exponiert. (...) In Altaussee ging ich wohl sehr viel mit Kollegen aus, aber zu keiner Tanzunterhaltung. Das aber änderte sich im Handumdrehen, plötzlich fand ich wieder Geschmack daran. Um diese Zeit lief mir ein Mädchen buchstäblich über den Weg. Sie machte nicht viel Eindruck auf mich und ich hatte nicht die geringste Absicht, diese zufällige Bekanntschaft weiterzupflegen. Aber ich konnte am Abend gehen, wohin ich wollte – sie traf mich, und ich hätte oft viel lieber etwas anderes getan, als mit ihr zu spazieren. Aber der Mensch entgeht seinem Schicksal nicht. Sie war einfach nicht abzubeuteln, bis ich schließlich doch Geschmack daran fand. Sie war Säuglingsschwester, und sobald der Säugling schlief, hatte sie viel Zeit für mich. Und sie wollte mich absolut bessern: Ich sollte weniger Bier trinken, dies nicht tun und das nicht. Ich glaube, sie wollte mich präparieren als ihren zukünftigen Ehemann. Aber schließlich gelang es ihr doch nicht. Der Sommer ging vorüber, die Sommergäste reisten wieder ab, und schließlich schlief auch der Briefwechsel wieder ein. Das war die erste länger währende Mädchenbekanntschaft nach dem Kriege. (...) Mein erstes Bewerbungsgesuch um die Postmeisterstelle in Altaussee war auch deshalb abschlägig beschieden worden, 168

weil ich noch keine vertretungsweisen Amtsleitungen besorgt hatte, die aber vorgeschrieben waren. Ich konnte diese auch nicht haben, da ich doch so lange eingerückt war. Das „gute Vaterland“ aber nahm darauf keine Rücksicht. Mein Bestreben blieb es aber, so rasch als möglich Postmeister zu werden, und in den folgenden zwei Jahren hatte ich viele Monate Gelegenheit zu Vertretungen in Amtsleitungen. Ich glaube jedoch nicht, dass dies eine bewusste Förderung war, sondern eine Notwendigkeit. Im Jahre 1923 wurde eine neue Prüfungsordnung erlassen, wonach man mit der Postoffiziantenprüfung allein keine Postmeisterstelle mehr erhalten konnte, sondern mindestens noch die Verkehrsdienstprüfung III abzulegen habe. Diejenigen Beamten jedoch, welche vor dem Jahre 1914 die Postoffiziantenprüfung abgelegt hatten und seither mindestens acht Jahre in fachtechnischem Dienst standen, konnten unmittelbar zur Verkehrsleiterprüfung zugelassen werden. Ich dachte, dies träfe auf mich zu – und besorgte die Lernbehelfe für die Leiterprüfung. Dann wurde mir klargemacht, dass wohl acht Jahre seit meiner ersten Prüfung verflossen seien, ich aber nicht im Dienste stand, sondern ja eingerückt war, was eben einen Unterschied ausmache. Also wieder eine Benachteiligung des eingerückten Beamten gegenüber jenen, die daheim geblieben waren und keine Entbehrungen und Gefahren zu bestehen hatten. (...)

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Richard Seeger ( 1896 – 1997 ) wurde am 7. Februar 1896 in Perg, Oberösterreich, geboren und wuchs mit einer jüngeren Schwester in Linz auf, wo der Vater als Richter am Bezirksgericht tätig war. Unmittelbar nach Ablegung der Reifeprüfung am Akademischen Gymnasium wurde Richard Seeger 1915 zum Militärdienst eingezogen und diente als Leutnant der k. k. Artillerie. Der hier vorgestellte Text ist ein Auszug aus Richard Seegers insgesamt 238 Seiten umfassenden maschinschriftlichen Lebenserinnerungen, die er 1967 unter dem Titel „Augenblicksbilder von meiner Lebenswanderschaft“ verfasste. Im folgenden Beitrag ist vor allem die Zeit seines Jusstudiums beschrieben, das er im Herbst 1920 mit dem Doktorat abschloss. Nach Absolvierung des Gerichtspraktikums war Richard Seeger an den Magistraten von Linz, Steyr und Villach als Verwaltungsbeamter und zuletzt als Magistrats­ direktor von Salzburg tätig. Im ersten Jahr nach Kriegsende lernte er seine Frau Marianne kennen, die er 1923 heiratete und mit der er drei Kinder großzog. Die Ehe bestand knapp 64 Jahre, Richard Seeger überlebte seine Frau noch um zehn Jahre und verstarb am 26. Februar 1997 in Salzburg. Teile der Kindheits- und Jugenderinnerungen Richard Seegers wurden zuvor schon in den Bänden 12 und 44 dieser Buchreihe veröffentlicht (Andrea Schnöller, Hannes Stekl (Hg.): „Es war eine Welt der Geborgenheit …“ Bürgerliche Kindheit in Monarchie und Republik, 2. Auflage, 1999; Hannes Stekl (Hg.): „Höhere Töchter“ und „Söhne aus gutem Haus“. Bürgerliche Jugend in Monarchie und Republik, 1999). 170

Abb. 13: Richard Seeger mit seinen Eltern und Schwester Klara (um 1917)

„Zu dieser Zeit eine Ehe zu schließen war unmöglich …“ Studium – Verlobung

Immer wieder während des verflossenen Krieges hatte ich Gelegenheit, mich tageweise in Wien aufzuhalten. Schien es uns Soldaten so, also ob die ganze Jugend ausnahmslos unter den Fahnen stände, ein Hinsehen nach der monumentalen Fassade des Baues der Alma* Mater mochte einen anders belehren. Immer strömten Scharen von Stundenten in die Aula oder standen vor der Rampe. Niemals war ich in meinem Leben derart von Neid erfüllt als zu diesen Zeiten auf die Studierenden. Nicht so sehr, weil ihnen Strapazen, Gefahren und Ungemach erspart blieben, sondern weil ich im Gegensatz zu ihnen nach acht Jahre langem, mit allem Fleiß und aller Hingabe hinter mich gebrachtem Mittelschulstudium jetzt ausgeschlossen davon schien, weitere Bildung zu beziehen von dieser höchsten ersehnten Stätte. Wie lange noch würde ich warten müssen? (...) 171

Maßgebend für meine Erwägungen, allenfalls Jus zu studieren, war das für diesen Fall weiter gesteckte Ziel, zur Verwaltung zu gehen, bei der Statthalterei oder einer Bezirkshauptmannschaft irgendeines Kronlands einzutreten. Im alten Österreich drängten auch die Aristokraten sehr zu diesem Beruf, ohne häufig den erforderlichen Fleiß mitzubringen, so dass einem Bürgerlichen, der es auch im Gesellschaftlichen mit ihnen einigermaßen aufnehmen konnte und Ehrgeiz verriet, gute Karriere winkte. Ganz besonders gesucht waren tüchtige Regierungsbeamte in Böhmen und Mähren, weil die dort lebenden Deutschen nur ungern Tschechisch lernten. Als dann im Jahre 1918 den Frontsoldaten Urlaube gewährt und im Fall der Wahl des Jusstudiums namhafte Vorteile geboten wurden, bedurfte es keines Überlegens mehr, diese Möglichkeiten zu nutzen. Vom rumänischen Kriegsschauplatz nach Innsbruck gekommen, empfand ich es nicht mehr so erlösend, endlich zur Wissenschaft zu gelangen. Ich war schon irgendwie resigniert und sah in den bevorstehenden Universitätsjahren nur mehr die Zeit des Brotstudiums. Es hatte sich in dem letztvergangenen halben Kriegsjahr viel gewandelt. Die Gesamtlage deprimierte. Alles war auch schon vom Hunger gezeichnet. Dabei hatte ich noch das Glück, bei der Tante Ida Strele kostenlos wohnen zu können. Im Haus Maria-Theresien-Straße 4, das später im Zweiten Weltkrieg völlig zerbombt worden ist, bezog ich ein kleines Zimmer. Tante Ida war eine gütige, wenn auch etwas herbe Frau; sie betreute mich, so gut es möglich war. Morgens tranken wir täglich einen aus wenigen Getreidekörnern gerösteten Kaffee mit einem zerbröselnden harten Maisbrot und einen aus Zwetschken zubereiteten ungesüßten käseartigen Aufstrich. Zu Mittag speiste ich im Bahnhofsrestaurant, wo die Abgabe von Lebensmittelkarten ein wenig günstiger gehandhabt wurde als anderswo – immer etwas 172

aus Maisgrieß – und abends daheim auf dem Zimmer eine Kleinigkeit aus den von Rumänien mitgebrachten Vorräten. Mit solch bescheidener Unterlage saß ich den ganzen Tag intensiv arbeitend vor den Büchern. Aus diesen, aus Repetitorien*, Skripten und den Instruktionen des ausgezeichneten Einpaukers* und ehemaligen Rechtsanwalts Dr. Maritschnig sammelte ich meine Weisheit. Vorlesungen hörte ich nicht viele. Der Vortrag des Professors, das ganze Milieu auf der Universität, das ich mir einst so erhaben vorgestellt hatte, enttäuschte mich bitter. Ein Vergleich ließ die neuen Lehrer zum Teil weit im Schatten hinter einigen meiner Gymnasialprofessoren, mit denen man sich unbefangen kritisch auseinandersetzen konnte. Aber einzelne der Hochschullehrer an unserer Fakultät waren von der Richtigkeit ihrer Anschauungen so durchdrungen, dass jeder Zweifel des Hörers daran als ein Beweis von dessen Denkunfähigkeit gewertet worden wäre. (...) Zur Ersten Staatsprüfung trat man begreiflicherweise in Uniform an. Damit hatte man schon einen Gutpunkt. Mein zweiter waren die exzellenten Gymnasialzeugnisse. Und da ich überdies tüchtig gelernt hatte, war es kein Wunder, aber für mich und die Eltern in Linz schon eine sehr große Freude, dass ich ihnen zu Sommerbeginn 1918 telegraphieren konnte: „Prüfung gemacht, Auszeichnung“. Wenige Wochen nachher war mein Studienurlaub beendet, aber ich durfte in der Heimat bleiben und wurde zu keinem Fronteinsatz mehr herangezogen. Bald machte ich mich wieder ans Studium und gegen Ende des Jahres, während der Unruhen des Umbruchs, stak ich bereits mitten im Stoff der Zweiten Staatsprüfung. Gleichzeitig besuchte ich auch den sogenannten Abiturientenkurs, einen einjährigen kaufmännischen Lehrgang an der Handelsakademie. Es war mir und einigen Mitschülern aus der früheren Zeit gelungen, diesen Kurs erstmalig in Linz ins Leben zu rufen. Nun 173

war ich allerdings arbeitsmäßig tüchtig ausgelastet. Denn ich musste das Jusstudium so weit vorantreiben, dass ich ein Jahr später für die Examina nur mehr alles zu wiederholen brauchte. Dabei las ich immer französische Journale und besuchte einen Englischkurs, den der Gagistenverband, eine Vereinigung ehemaliger Offiziere, abhielt. Oberleutnant in Ruhe, Dr. Ernst Koref, nachmaliger angesehener Politiker und Bürgermeister von Linz, eine Sprachenbegabung von Format, war unser Lehrer. Äußerst prosaisch und ernst verlief unsere Studienzeit. Keinen Schimmer bekamen wir ab von der Studentenherrlichkeit, die wir wenige Jahre zuvor noch meinten erwarten zu dürfen. Knappe Lebensführung und Mangel an allem, drückten der Zeit den Stempel auf. Umso mehr freilich und mit umso größerer Lebensgier genossen wir Augenblicke, die nur das Jungsein bietet. Die Geselligkeit ist nicht eingeschlafen. Ich pflegte aus der Zeit der Tanzstunde und vom Militär her Verkehr mit vielen jungen Leuten, die dank der Gastlichkeit meiner Mutter oft und gern in unser Haus kamen. Unter uns, im ersten Stock, lebte Familie Schweiger. Die Franzi, inzwischen seit Jahrzehnten vermählt mit August Göllerich*, dem Sohn des Musikers, war mir eine liebe Kameradin. Ihr Foto zierte eine Zeit lang auch meinen Schreibtisch, bis es dem Bild einer Bevorzugteren weichen musste. Das veranlasste Klara, als sie des Wechsels gewahr wurde, zu dem Ausspruch: „Die Franzi ist schon in der Lad’“, und es entstand für die abgetanen Angebeteten der klassische Ausdruck „Ladenmädchen“. Wenn eine fröhliche Gesellschaft bisweilen lustige Abende im Café Schönberger bei Wein und Champagner verbrachte (eine Ungeheuerlichkeit in der dürren Zeit!), dann bezahlte ausnahmslos ein junger Mann: Rüdiger Fürst Starhemberg*. Er sollte später in der österreichischen Politik als Heimwehrführer und Vizekanzler eine bedeutende Rolle spielen. Er 174

besuchte uns auch oft daheim. Eine kleine Begebenheit sei erzählt, die ein Licht auf die Dürftigkeit der Zustände wirft, unter denen wir in diesen Jahren lebten: Starhemberg ist wieder einmal unser Gast gewesen. Tags darauf vermisste Vater seinen Kamm. Der vermeintliche Verlust war peinlich, da die Nachbeschaffung solcher Kleinigkeiten fast ausgeschlossen war. Er suchte überall vergebens und gelangte schließlich zur Überzeugung, dass Starhemberg den Kamm entwendet habe. Erfreulicherweise hat er sich später wieder irgendwo gefunden, Starhemberg war sohin allen Verdachts enthoben. Während des Besuchs des Abiturientenkurses inskribierte ich an der Universität Wien. Im Mai 1919 musste ich mir die Testuren* holen. Ich hatte nicht Zeit, nicht Geld, nicht Muße, länger als zwei oder drei Wochen zu bleiben. Wieder bei der Tante Johanna in der Diehlgasse einquartiert, traf ich dort die mir schon von früherer Gelegenheit her flüchtig bekannte Hedwig Wunderer. Sie genoss bei der Tante Obdach und Atzung*, die diese durch opfervolle Hingabe kleiner Wertgegenstände einhandelte. Hedwig war das Kind einfacher, armer Leute in Tirol. Sie sah gut und begehrenswert aus und hat wohl darum schon in jugendlichen Jahren die Möglichkeit erhalten, mit einer musizierenden Schauspielertruppe eine Amerikatournee mitzumachen. (...) Sie war aufgeschlossen, lebensdurstig und auch nicht unerfahren. So ist es kein Wunder, dass wir beide uns blitzschnell gefunden haben. Und die gute Tante Johanna, wenn sie auch im Nebenzimmer schlief, war lahm und hörte nicht oder wollte nicht hören. Sie war glücklich, dass ihre Lieblinge sich auch liebten. Nur kurz aber dauerten die schönen Tage. Ich musste bald Abschied nehmen. Ich kehrte nach Linz zurück in den gewohnten, mir nun schal erscheinenden Alltag. Mutter durchschaute die Situation mit einem scharfen Blick sofort und bemühte sich klugerweise, mich von Hedwig abzubringen. 175

Da zunächst kein Mittel richtig Erfolg zeitigte, versuchte sie es im Sommer mit einer Verlockung. Sie sehe jetzt so oft ein ganz reizendes, hübsches Mädel; im Nebenhaus wohne es auf 3c. Marianne Eysn heiße sie. Die sollte ich mir einmal anschauen. Das ließ sich hören. Ich wurde neugierig und fing an aufzupassen. Und bald sah ich sie. Sie musste es nach allem sein. Und nach diesem ersten Hinblicken war’s um mich geschehen. Ich eilte, mich den nämlichen Tag noch mit ihr bekanntzumachen. Um 7 Uhr abends fand ich sie am Tennisplatz; es war der 12. August. Seit diesem Tag ist sie mein Lebensinhalt. (...) Marianne und ich sahen uns nun täglich – wenn die Möglichkeiten nicht günstiger waren, zumindest beim Gemüseeinkauf. Hierbei bewunderte ich ihre Noblesse, mit der sie, eine nachlässige Handbewegung ausführend, auf die Herausgabe von Kleingeld durch die Händlerin verzichtete. Ganz anders wie meine Mutter, dachte ich, die mit den Weibern um jeden Heller feilschte. Freilich dauerte die „Vornehmheit“ nicht lange. Seit’s beim Einkaufen aus der eigenen Tasche geht, zählt Marianne ebenso genau die Groschen nach wie Mutter ehemals die Heller. Es war die Zeit der Rosen. Täglich sandte ich welche ins Nebenhaus. Nicht gekaufte – ich erbat sie mir von Bekannten, die einen kleinen Garten hatten. Oder Tante Pips Tuza, die gütige Freundin meiner Mutter, war Spenderin. Tuzas hielten sich damals einige Wochen bei uns auf: Onkel Ernst, Tante Pips und Albert. Wir konnten alle in der Wohnung unterbringen, weil ich auswärts wohnte. Das ganze Jahr schon war ich Untermieter (ohne Bezahlung) bei Onkel Karl Graf Kuenburg, der sonst Gefahr gelaufen wäre, von seinen vielen Zimmern etwas im Anforderungsweg an Fremde abgeben zu müssen. So war beiden geholfen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Marianne und mir wuchs bei einer Partie ins Prielgebiet Mitte Septem176

ber und bald darnach bei einem Aufenthalt in Bad Aussee. (...) Diese Tage gehören zu den schönsten Abschnitten unseres Lebens, begünstigt durch herrliches Herbstwetter. Ich hatte die Ausseer Gegend bis dahin nicht gekannt und durfte den kurzen Aufenthalt in dem einmalig schönen Seengebiet mit doppelter Aufnahmebereitschaft genießen. So schön das nun alles war, mischte sich in die Glückseligkeit doch die Sorge, ob ich durchhalten werde in meiner Lieb’. Ich war mir meiner Ausdauer nicht sicher, aus Erfahrung an mir selbst, und so stellte ich mir – bereits mit ersten Gedanken einer Dauerverbindung beschäftigt – einen Termin. Würde ich drei Monate nach der ersten Begegnung, also am 12. November, noch immer gleich heftig und innig empfinden, dann wollte ich reden. Und so war’s auch. Zunächst kamen Marianne und ich überein. Das Einverständnis zwischen uns bedurfte keiner langen Verhandlung. Aber jetzt sollten doch die Eltern ins Bild gesetzt werden. Das verursachte schon eine gewisse Verlegenheit, wenngleich meine Gefühle für Marianne gewiss längst bekannt waren. Wie würde ich auf der Seite Mariannes ankommen? Diese wuchs ohne Vater auf. Eine böse Krankheit hatte ihn in noch jugendlichem Alter hinweggerafft und dem Schaffen eines hervorragenden, strebsamen und zielsicheren Kaufmannes ein jähes Ende bereitet. Vater Eysn war Chef und Inhaber der Firma Englmaier, des größten Speditionshauses in Oberösterreich, eines in der Bahnhofstraße gelegenen Unternehmens mit zwölf Paar Pferden, Dutzenden Wagen und ebenso vielen Angestellten und Rossknechten. (...) Darüber hinaus hatte er sich ganz große wirtschaftliche Pläne gesteckt: Energiegewinnung durch Wasserkraftanlagen und aus Erdöl. Er dürfte einer der Allerersten gewesen sein, die schon um die Jahrhundertwende im Innviertel nach Petroleum gesucht haben. (...) Nicht vor ihm vermochte ich zu erscheinen, um seine 177

Tochter zur Frau zu erbitten. Ich musste mich bei Mutter Eysn ansagen, die zu den Beklagenswerten gehörte, die durch den Krieg und die Geldentwertung um fast alles gekommen sind, was sie je besaßen. Wenige Jahre zuvor ist sie noch eine reiche Frau gewesen. Am Mittag des 12. November 1919 sollte ich bei ihr vorsprechen. Aber wie konnte ich Unerfahrener, wie konnte ich ohne jedes Einkommen, ohne Besitz, vorläufig ohne jede Aussicht auf irgendwelche Einkünfte, einfach ein armes Studenterl, dessen Eltern alt und krank waren – wie konnte ich als Brautwerber auftreten? Die gute Großmutter Eysn hat es mir liebevoll erleichtert. Und man kam überein, dass wir uns als Verlobte ansehen dürften, dass aber freilich an eine Ehe erst gedacht werden könne, wenn ich mein Studium beendet hätte und einen Verdienst aufwiese. Wir haben es nicht so einfach gehabt wie die Heutigen. Es mussten Jahre vergehen, bis wir uns haben konnten. Und selbst dann hieß es im wahrsten Sinn des Wortes noch eine gute Weile mit Wasser kochen. Wir hatten keine helfenden Eltern, nur solche, die gern geholfen hätten, aber nicht helfen konnten. Die Kargheit der Lebensbedingungen hat sohin auf uns beide eingewirkt, uns viel Ernst gelehrt und Sparsamkeit. Unsere Herbstfreuden waren gemeinsame Ausflüge in die Umgebung, um Lebensmittel aufzutreiben. Diese „Hamstertouren“ gestalteten sich aber keineswegs so, wie man sie aus der Nachkriegszeit 1945 in Erinnerung haben mag. Hamstern hieß damals nicht mit dem Auto fahren, sondern mit leerem Magen zu Fuß stundenlang über Land gehen oder mit dem Rad fahren, von einem Bauern zum anderen um ein Ei oder ein Kilo Mehl oder einen Laib Brot oder ein viertel Kilo Butter zu betteln, wobei nebst Bezahlung in von Tag zu Tag wertloser werdendem Papiergeld auch noch Geschenke zu erbringen waren: Kleidungsstücke, die vielleicht von einer Erbschaft her noch entbehrlich sein mochten, oder ein Be178

steck aus besserer Zeit, ein Tuch, vielleicht auch Bücher. Und wenn wir dann angepackt meist nur mit Kartoffeln über die Landstraßen heimzu schwankten, haben wir in den Rucksack noch abgefallenes Mostobst hineingestopft, das wir an den Straßenrändern aufklaubten. Aus solchen Mostbirnen machten wir dann mit schwarzem Mehl und Sacharin statt Zucker einen Apfelstrudel. Aber es erfüllte mit Stolz, wenn man von den Daheimgebliebenen bestaunt und gelobt wurde. Vorausgesetzt, dass einem nicht Gendarmen alles abgenommen haben. In solcher Atmosphäre, aber mit viel Liebe und Glück im Herzen und Luftschlössern in den Gehirnen haben wir die ersten Monate verbracht. Dann kam die Zeit der Trennung. Marianne, die eben im Sommer erst die Matura im MädchenLyzeum abgelegt hatte, sollte für alle Fälle im Hinblick auf einen Beruf noch etwas lernen, wobei zunächst an eine Ausbildung in einer Gärtnereischule, dann an die Ablegung der Staatsprüfung im Englischen gedacht wurde. Ich aber stürzte mich Hals über Kopf auf meine Juristerei. Anfang 1920 reiste ich wieder nach Innsbruck, um dort nach Besuch des Paukkurses Maritschnig im ersten Halbjahr die Zweite und Dritte Staatsprüfung abzulegen. In Innsbruck wohnte ich diesmal bei Oberfinanzrat Dr. Ruckensteiner. Das kostete viel, sodass es zum Heizen nicht mehr langte. So saß ich stets bei armseligem Flämmchen im Ofen, eingehüllt in Decken und Mantel, den Hut auf dem Kopf, mit Büchern und Bleistift und einem Blatt Papier vor mir – aber nicht an einem Schreibtisch, sondern auf dem Tisch, auf dem ich mir einen Sessel postiert hatte; wissend, dass es in der oberen Zimmerhälfte etwas wärmer ist. Zeitweise suchte ich auch zu gewissen Tagesstunden ein leicht geheiztes Kaffeehaus auf, wo der Preis für ein Sodawasser niedriger war als der des Holzes, das ich in der nämlichen Zeit zuhaus’ verbrannt hätte. 179

Gespeist habe ich zusammen mit anderen Studenten bei einer armen Witwe. Erfreulicherweise dauerte die Winterkälte in diesem Jahr nicht lang. Schon Ende Februar konnte man zur Mittagszeit die Sonne in die Räume einlassen und die erste Hälfte März studierte ich mit einigen Kollegen im stets sonnendurchfluteten Klostergarten der Serviten. Maritschnig hatte wieder ausgezeichnet instruiert, und so brachte ich am 12. März die Zweite Staatsprüfung und am 15. März das konforme Rigorosum, beides wieder mit Auszeichnung, hinter mich. Mit mir trat auch Erzherzog* Hubert Salvator zur Prüfung an, ein liebenswürdiger Mann, der es damals gar nicht leicht hatte nach dem Umbruch, zur Zeit der Erlassung der Habsburgergesetze*. Wir Studenten waren auch etwas gehemmt im Verkehr mit ihm, schon bei der Anrede beginnend. „Kaiserliche Hoheit“ wollte man nicht sagen, „Herr Kollege“, wie damals üblich, wenn man sich nicht duzte, scheute man auch. Also sagte man höchst unhöflicherweise einfach „Sie“. (...) Bei meinem letzten längeren Studienaufenthalt in Innsbruck wohnte ich mit einem Studienkollegen, (Dr.) Stöger, in der Sonnenburgstraße bei Familie Schattanek. Ein winziges hofseitiges Kabinett im Verband einer ärmlichen Wohnung war uns eingeräumt. Vermieter und Mieter hatten kein Geld, und so feilschte man die paar Wochen unablässig um allerlei Kleinigkeiten: Wer eine ausgebrannte Glühbirne anschaffen sollte, wurde mit Leidenschaft besprochen, oder wer für den „Hausfreund“ die Tschurtschen* herbeizuschaffen hatte. Der Hausfreund war ein kleiner Aufsatz über der Platte des Kohlenherds und diente der Ersparung von höherwertigem Heizmaterial. (...) Nach Ablegung der Dritten Staatsprüfung am 18. Juni 1920 war ich ein graduierter Jurist, strebte aber, wie zu meiner Zeit schon allgemein üblich, auch noch die Promotion zum Doktor beider Rechte an. Das erforderte nur mehr das Studium 180

fürs sogenannte Romanum*, mehr oder weniger eine Wiederholung der Ersten Staatsprüfung. Dieses legte ich am 20. Oktober ab und zwei Tage später, am 22. Oktober, fand die Promotion statt. Es war eine schlichte Zeremonie, in niemandes Beisein. Auch Marianne fehlte. Die Not der Zeit. Berufssorgen

Der Zerfall der Donaumonarchie im Jahre 1918 beinhaltete einen kaum voraussehbaren gesellschaftlichen Strukturwandel. Erst allmählich begriffen wir, was für ein namenloses Unglück geschehen war. In die anfängliche Schockperiode fiel die Absolvierung meines Hochschulstudiums. Als dieses beendet war, wir jungen Menschen von der Universität kamen und meinten, nun nach einer Zeit des Verzichtens und Entbehrens wieder Hoffnung schöpfen zu können, ging uns plötzlich ein Licht auf über die Lage, in die wir hineingeschlittert waren. Es zeigte sich, dass der lang erstrebte und ersehnte akademische Grad wenig wert war unter den veränderten Verhältnissen. Man wurde gewahr, dass man anscheinend Akademiker nicht brauchte. Wir fanden trotz unseres Doktors keine Stellung. Es herrschte Aufnahmesperre in fast allen Berufssparten. Wohl hatte der Krieg Lücken gerissen in allen Personalständen. Aber es fluteten aus den slawischen und romanischen Gebieten der ehemaligen weiten Monarchie deutsche Staatsbeamte in unser Land, die alle „untergebracht“ werden wollten. Dazu kamen die zahllosen Offiziere, die niemand mehr brauchte. Wir schrieben das Jahr 1920; Herbst war es, zwei Jahre nach Kriegsende. Die Wirtschaft lag wie tot darnieder. Die Geldverdünnung trat zunächst als bloße Verteuerung der Konsumgüter in Erscheinung und ward immer mehr in die Augen springend. Vaters Gehalt – am 1. Jänner war er Hofrat geworden – langte trotz sparsamsten Verbrauchs nur bis 181

zur Monatsmitte oder wenig darüber. Von unseren dürftigen Mahlzeiten war bereits die Rede. Mit der Bekleidung sah es nicht besser aus. Ich erinnere mich daran, dass Vater keinen Anzug hatte, an dem nicht die Ellbogen der Rockärmel und die Hose am Gesäß und um die Kniee einen Stofffleck aufgenäht hatten. Sein Richtertalar war in den Augen der Heutigen ein schandbarer Fetzen. Wir jungen, vom Heeresdienst entlassenen Männer trugen unsere alten Uniformen ohne ­Distinktion* weiter, wenn sie auch von Tag zu Tag schlissiger wurde. Aus meinem braunen Artilleriewaffenrock aber hat sich meine Mutter eine Bluse machen lassen. Sie war durch lange Zeit ihr bestes Stück, das sie mit Stolz trug. Auch der Hausrat war abgebraucht und schmolz zusammen. Zu dieser Zeit eine Ehe zu schließen war unmöglich, daran zu denken schon verwegen. Ich hatte schon zwischen der Dritten Staatsprüfung und dem Romanum bei Gericht in Linz praktiziert, war damals sogar meinem Vater zwar nicht zugeteilt, durfte aber in seinem Arbeitsraum mit ihm sitzen und konnte von seinem reichen Wissen und der noblen Auffassung seines Berufs profitieren. Auch nach der Promotion blieb ich gegen geringes Adjutum* weiter, suchte jedoch krampfhaft nach einem Erwerb, der in absehbarer Zeit eine Eheschließung ermöglichen sollte. (...) Die Laufbahn und der Aufgabenkreis eines Beamten waren mir einigermaßen bekannt. Gar nicht kannte ich die Tätigkeit in anderen Berufen, etwas im Bankfach, im Handel und in der Industrie. In meiner begreiflichen Ungeduld, endlich mit Marianne vereint zu werden, nahm ich jedoch nach allen Seiten Fühlung auf und verzweifelte schon schier, als sich keine Erfolge meines Strebens abzeichneten. Bis ich endlich nach allerhand Umwegen doch bei der Beamtenlaufbahn gelandet bin. (...)

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Erzählungen vom Hungern und Hamstern

Karolina Weiss ( 1893 – 1982 ) besuchte im Frühjahr 1918 erstmals ihre Familie im obersteirischen Ennstal, nachdem sie mehrere Jahre auf verschiedenen Dienstposten, großteils im Ausland, verbracht hatte. (Näheres zur Autorin und zum Originalmanuskript siehe S. 52)

„Wir essen Brennnessel, Katzen, Rüben …“ In den Nächten lag ich wach, um es mir auszumalen, wie diese Heimkehr nach so langer Zeit sich gestalten würde. Und dann war der Tag da, es sollte eine Überraschung werden für die Meinen daheim. Als Erstes fuhr ich nach Bruck. Onkel Heinrich und Tante Nanni hätten mich wohl gerne länger bei sich behalten. „Bist eine saubere Dirn geworden“, sagte Onkel Heinrich. „Pass nur gut auf dich selber auf“, sagte Tante Nanni. Mit einem Koffer kam ich in Bruck an, mit zweien reiste ich ab. Der zweite hatte eine Schwere, die mich sehr beglückte. Ich brauchte nicht mit leeren Händen heimzukommen, dafür hatte Tante Nanni gesorgt. Sie, die selber keine Kinder hatte, sorgte sich um die Geschwister daheim, wie ihnen die Not in diesem Krieg wohl zusetzen mochte, und sie belud mich mit Kartoffeln, Mehl, Selchfleisch, Käse, Zwetschken, Fett, Brösel, selbst ein wenig Zucker zwackte sie von dem ihren ab, und einem Laib hausgebackenes Brot. Und immer fand sie noch ein Weniges, das sie noch dazusteckte – und so wurde es eine erfreuliche Fracht. 185

Jetzt fuhr ich den Weg zurück, den ich damals als unerfahrenes Kind der Berge von daheim weggefahren war. Heimzu, heimzu, gingen die Räder, mit jeder Umdrehung derselben näher und näher … Mein Herz weitete sich vor Freude. Immer näher dem Ziele rollte mein Zug, jetzt näherte ich mich der Haltestelle, an der ich vor vielen Jahren an einem nebelgrauen Morgen stand. Ein seltsames Ziehen spürte ich an meinem Herzen. Ich hob meinen Blick über die Berge, aber meine Heimstatt war dort nicht mehr. Meine Eltern wohnten nun ein Stück weiter. Ich komme mit einem Herrn ins Gespräch, der mir gegenüber sitzt. „Nach Gröbming reisen Sie? Dann sind Sie sicher das neue Schulfräulein?“, sagte der Herr. Er ist einer der Lehrer, und meine Brüder sitzen bei ihm in der Klasse, stellt sich heraus. Weil ich Gröbming nicht kenne und den Weg zu meinen Eltern nicht weiß, begleitet mich der junge Lehrer vor das Haus, in dem sie wohnen. Wir schauen zu den Fenstern hinauf. „Diese drei Fenster“, weist er mir mit der Hand. Ein Bubengesicht wird sichtbar hinter den Scheiben, verschwindet aber sofort wieder. Der Lehrer verabschiedet sich, ich gehe hinauf. Das Bubengesicht hinter den Scheiben war mein jüngster Bruder. „Mutter“, sagte er, „Da drunten steht mei Lehrer. Er hat die neiche* Frein* bei sich und sie schaun zu uns aufa. Jessas, Muatta, sie kummt aufa!“ „Mein Gott“, sagte Mutter, „und bei uns schaut’s so aus!“ Sie hatte eine Näharbeit unter den Händen und der Fußboden lag voller Fleckerl. Mutter kommandierte mit dem Buben herum, damit er rasch etwas Ordnung schaffe. Sie machten beide so einen Krawall, dass sie mein Klopfen nicht hörten. So öffnete ich die Türe einen Spalt und schaute hinein. Ich war richtig. „Grüß Gott!“, sagte ich. „Grüß Gott“, gab Mutter zurück und sah mir dabei ins Gesicht. „Mein Gott, du …“ Das letzte Wort war nur noch ein Krächzer. Wir weinten beide, 186

wir hielten einander umschlungen, mit dem Besen zwischen uns drinnen. Alt, mager und verhärmt war Mutter geworden, das rührte mich sehr. Wir redeten vielerlei durcheinander in dieser ersten Stunde unseres Wiedersehens. Der Bub war verschwunden, aber er kam wieder – nur den anderen Bruder hatte er geholt, um gemeinsam mit ihm die Schwester zu bestaunen, denn die redete so eine komische Sprache, lauter Hochdeutsch. In den Stuben zu Hause sah es fremd aus, die vertrauten Dinge aus meinen Kindertagen waren verschwunden. Die freundlichen Dinge des Hauses waren auf die Höfe der Bauern gewandert – für Brot und Kartoffeln. „Auch mein Schlitten“, klagte der eine der Brüder, „und meine Eisstöcke und meine Laubsäge“, klagte der andere. „Ja, und Vaters Tischlereigerätschaft mitsamt der Hobelbank, für einen Sack Kartoffeln“, ergänzte die Mutter. „Nicht einmal eine Tasse Kaffee kann ich dir geben, nur ein bisschen Rübenwasser. Brot haben wir schon lang keines mehr.“ Mutter sagte es leise und grenzenlos müde. „So arg sieht der Krieg also in Österreich aus?“ – „Bei euch in Deutschland nicht?“ – „Ich glaube, dass es hier ärger ist.“ – „Wir essen Brennnessel, Katzen, Rüben, aber es ist auch daran schon Mangel“, sagte Mutter. „Ich habe am Bahnhof Koffer stehen, da drin sind die Grüße von der Tante Nanni – essbare Grüße.“ Die Buben sind nur zu gern bereit, die schweren Koffer zu holen, sie sehen beide gelb, mager und verhungert aus. Der Krieg hat ihre Kindergesichter gezeichnet … Erdäpfelsuppe und Zwetschkenknödel, das würde Mutter kochen, und die Gesichter der Buben leuchteten. Vom Brot kriegten sie ein paar magere Schnittel, die sie langsam und mit Bedacht kauten. Es war eine Köstlichkeit, die sie genießen wollten. Weil der Tag meines Heimkommens ein Samstag war, wurde auch Vater erwartet. Es sollte für ihn auch eine beson187

dere Überraschung werden, und so wurde alles aus der Stube weggeräumt, was ihn aufmerksam machen konnte. Ich selber sollte mich in der Ecke, wo der große Schrank nicht an die Wand anschloss, verstecken. Und so geschah es auch, als wir Vaters Schritte auf der Treppe hörten. „Grüß dich, Alte!“, sagte der Vater. „Grüß dich, Alter!“, antwortete die Mutter. Vater stellte seinen Rucksack in die Ecke, glücklicherweise nicht in die meine. Dann zog er hörbar den Kochduft durch die Nase. „Ja, gibt’s vielleicht gar was zu essen?“ – „Zwetschkenknödel und Erdäpfelsuppe“, sagte Mutter mit gleichgültiger Stimme, als ob diese Dinge gar kein Ereignis wären. „Waaas?“ Er überzeugte sich beim Herd von der Wirklichkeit. Jetzt ging das Fragen los. „Haben wir vielleicht gar Besuch? – Der Heinrich? – Die Nanni? – Du hast auch so ein verdächtiges Gschau, ich muss Nachschau halten.“ Vater stand auf – und die erste Ecke, wo er nachsah, war die meine. Er griff herzhaft zu und zog mich hervor, und als er seinen Fang besah und mich erkannte, machte seine Stimme genau so einen Kräher wie vorher die von der Mutter. Dann kam noch die Schwester heim. „Ja, was ist denn bei euch los?“ Der Mund blieb ihr offen stehen und mir auch. Ein verflixt sauberes Mädel war die Franzi geworden und erwachsen ... Als die Suppe und die Zwetschkenknödel aufgegessen waren, kosteten wir den Wein. Vater kostete ihn immer wieder und fing zu singen an. Mutter war aus der Stube verschwunden. „Wo ist sie?“ – „Ich sehe nach“, sagte Franzi. „Ach Gott, so ist es immer mit ihr. Hat sie einmal was zum Essen, dann verträgt sie es nicht. Vaters Hunger aber ist kaum zu stillen. Bei ihm muss man immer aufpassen, dass er sich nicht heimlich wieder die Kartoffelschalen aus dem Mistkübel holt.“ Obwohl es kaum Lebensmittel gibt, melde ich mich am Gemeindeamt, um meine Karten zu bekommen. „Sie kriegen keine“, sagt der Bürgermeister. „Warum nicht?“ – „Weil Sie 188

nicht hierher gehören!“ – „Sie kennen doch meinen Vater …?“ – „Das hat doch nichts mit Ihnen zu tun.“ – „Oh doch, ich wohne bei ihm.“ – „Sie gehören aber trotzdem nicht hierher!“ – „Dann sagen Sie mir bitte, wo ich wohl hingehöre?“ – „Dorthin, wo Sie hergekommen sind!“ – „Sie meinen nach Deutschland. Ich bin aber Österreicherin. In Deutschland bin ich überall abgemeldet. Hier, bitte, haben Sie die Bescheinigungen darüber.“ – „Die gehen mich nichts an, die gelten für Deutschland, aber nicht hier bei uns.“ – „So, dann sagen Sie mir bitte, wo in Österreich ich die Karten für die Zeit meines Aufenthaltes beziehen kann?“ – „Bei uns nicht, halten S’ mich jetzt nicht länger auf!“ – „Ich werde an das Bezirksernährungsamt schreiben und mich über Sie beschweren!“ – „Können S’ machen, wenn S’ Zeit dazu haben – empfehle mich!“ „Ja“, sagte die Mutter, „das ist jetzt so der Ton bei uns. Jeder Kuhwedel fühlt sich kraft seines Amtes wie ein halber Kaiser und das kleinste Amtl ist schon ein halbes Ministerium.“ (...) Das waren meine ersten Erfahrungen mit der Heimat im Wege der Instanzen. Es sollten leider nicht meine letzten sein …“ „Gott hat gesagt: ‚Mensch, hilf dir selbst, dann helf ich dir auch’“, so orakelte meine Schwester Franzi. Wenn der Bürgermeister nicht mag und die andern mit ihm im Sympathiestreik sind, dann bleibt dir nur die Selbsthilfe.“ – „Ja, aber wie stellst du dir die vor?“ Franzi, das lustige Mädel, die fröhlichste war sie im ganzen Dorf, hatte schon ihren Plan fix und fertig, wie mir und ihnen selber zu helfen wäre, wenigstens vorübergehend. „Heute Nacht“, sagte sie, „gräbt der Pfarrer seine Erdäpfel ein, ich weiß es von einem der Knechte. Bei Tageslicht getraut er sich nicht, weil er nie ein Kilo hergegeben hat, der Geizkragen. Von diesen Erdäpfeln holen wir uns einen Sack voll.“ – „Finden wir die denn im Dunkeln?“ – „Aber natürlich, wir graben sie wieder aus, nicht alle natürlich, bloß einen Sack voll.“ (...) 189

Eine großartige Ernte war es nicht, die wir heimbrachten. Es waren mehr Steine und Erdknollen im Sack als Kartoffeln, und besonders delikat waren sie auch nicht. Franzi aber hatte wieder einen Einfall. Ich war fremd im Dorf und noch fremder bei den Bauern auf den Berghängen im Umkreis. Diesen Umstand wollte Franzi nützen. Sie belud sich mit vielen kleinen Papiersäcken, einen Korb und einen Rucksack, dann machten wir uns auf den Weg. „So, hier gehst du hinein! Diesem Bauer kommt nie ein Löffel Mehl aus oder ein Ei oder sonst was, wenigstens nicht für einen Hiesigen – aber nach Wien verschleichen*, das schon. Also, du weißt, was du sagen musst?“ „Grüß Gott, Bäuerin! Ich hoffe, dass ich nicht ungelegen komm, ich bin nämlich bei meinem Bruder, dem Herrn Kooperator*, auf Besuch, und da möcht ich halt bitten, ob ich für Geld und gute Worte etwas haben könnte: ein paar Löfferl Mehl auf eine Einbrenn*, vielleicht gar ein Ei, und zu an Erdäpfel tät ich auch nicht nein sagen.“ Und wirklich, für die Schwester vom geistlichen Herrn hatte die Bäuerin etwas übrig, weil er halt gar so schön predigte, der hochwürdige Herr Bruder – vom Geist der Zeit und den schlechten Menschen, die sich an der Not der Armen bereicherten …“ Meine Schwester stand ungesehen weit abseits und tat harmlos, aber sie nahm rasch meine Gaben in Empfang, und ich konnte mein Glück im nächsten Haus versuchen – und im übernächsten … Ich wurde kühn, weil es so wunderbar klappte. „Du bist einfach ein Genie“, lobte mich Franzi und verstaute alles in ihre Hamstersäcke. Haus an Haus sagte ich mein Sprüchlein auf und Haus um Haus tat es seine segensreiche Wirkung. Aber der Krug geht so lange zum Brunnen, bis … „Grüß Gott, Bäuerin!“, sagte ich halt wieder in irgendeinem Haus und noch das Nötige dazu, um mein Ziel zu erreichen. Ich erreichte es auch und noch mehr. Ein Häferl Kaffee 190

und eine Nudel setzte mir die Bäuerin vor, denn ohne Jause durfte ich beileibe nicht weggehen, so ein lieber Besuch … Aber das war mir sehr zuwider – alles, was ich bezahlen konnte, nahm ich gerne an, diese Zutat aber beschwerte mich. „Bleiben S’ nur, greifen S’ zua, tuan S’ mir’s nit verschmähn“, nötigte die Frau. Draußen aber unter einem Baum saß irgendwo Franzi und wunderte sich über mein langes Ausbleiben. „Wissen S’“, tat die Bäuerin vertraulich, „mein Mann is nit recht beinander, schon a paar Tag bettlägerig, und da hab i um den geistlichen Herrn g’schickt, um den Herrn Pfarrer selber, er muaß glei do sein. Es pressiert Ihna do nit, kennan S’ glei mit eahm hoamgehn.“ Aber es pressierte mir sehr. Der Nudel würgte mich auf einmal im Hals und ich hatte nur ein Verlangen – weg! „Oh, der Herr Pfarrer tät schimpfen, der sieht das nicht gern, nix für unguat und tausend Vergeltsgott!“ „So, und jetzt im Galopp nach Hause, aber einen anderen Weg“, sagte ich zu Franzi, „und wenn dir wieder einmal so ein herrlicher Einfall kommt, dann sagst es mir, gelt!“ Meine Mutter aber war so in ihrem Glück, dass sie vor Freude weinte – endlich wieder etwas zum Kochen! „Mit dir wär was zum Anfangen“, sagte Franzi, am Ton ihrer Stimme merkte ich, dass sie schon wieder mit einer neuen Idee schwanger ging. „Sag es schnell“, ermunterte ich sie, „aber eine hochwürdige Schwester spiel ich nicht mehr.“ – „Brauchst auch nicht, und auf der Sonnseite lassen wir uns auch nicht mehr blicken.“ Diesmal gehen wir auf die Schattseite und du spielst die neue Lehrerin, die wir schon seit Wochen erwarten. Da lassen die Bauern schon was springen, wegen ihren Rotznasen, die bei dir in die Schule gehn werden, verstehst?“ Ich verstand. (...) „Sind das die Kinder, die bei mir in der Klasse zu sitzen kommen?“, frug ich die Mütter. Ich hatte schon ein geübtes Auge, welche Größe für meine Klasse in Betracht kommen 191

konnte, und übrigens war ich bereits durch Franzi, ehe ich das Haus betrat, gebührend instruiert. Diesmal lief alles programmgemäß ab. Wir waren beide mit dem Erfolg sehr zufrieden, und Mutter sagte: „Jetzt kannst du wirklich auf deine Karten verzichten!“ – „Ja, aber in der Kirche und auf der Gasse kannst dich nicht mehr blicken lassen“, meinte Franzi. Die Zeit meines Urlaubes war aber ohnehin viel zu rasch beendet, und die Stunde des Abschiednehmens war nahe ...

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Maria Langegger ( 1908 – 2003 ) wurde am 18. November 1908 als jüngstes von zehn Kindern einer Häuslerfamilie geboren und wuchs an verschiedenen Orten des oberösterreichischen Hausruckviertels auf, da die Familie mehrmals umziehen musste, bevor sie in Ritzing nahe Attnang-Puchheim eine dauerhafte Bleibe fand. Besonders in der Zeit des Ersten Weltkriegs war es für kinderreiche Familien aus den ärmeren Bevölkerungsschichten schwierig, den Lebensunterhalt für alle zu sichern, weshalb Kinder schon früh zu Bauern „in Dienst“ geschickt wurden. Da die Schreiberin mit ihrem ersten Dienstplatz unglücklich war, suchte sie als Zehnjährige eigenständig Zuflucht bei der Familie einer Schulkameradin im Nachbarort Wankham. Später war sie in mehreren Bundesländern als Hausgehilfin und Kindermädchen tätig, bevor sie 1933 mit ihrem Mann, einem ÖBB-Bediensteten, in St. Johann im Pongau eine eigenen Hausstand gründen konnte. Maria Langegger schrieb in den 1980er und 1990er Jahren in umfassender Form ihre Lebenserinnerungen auf, ihre Tochter Ingrid stellte 2013 eine Reinschrift des Manuskripts zur Verfügung. Darin findet sich unter anderem folgende Erzählung.

„Ich wurde zum Hamstern abgerichtet …“ Ich war zehn Jahre alt und blieb bei diesem Kleinbauern in Wankham im Kinderdienst bis zwölfeinhalb Jahre. In der Zeit kam ich nur selten in die Schule, hatte einen weiten Schulweg. Vor dem Schulgehen musste ich mit einem Kübel an der Entrahmungsmaschine die Milch herunterdrehen, die Kuchl 193

zusammenkehren, dann konnte ich nach Regau weglaufen. Wir hatten Ganztagsschule, von acht bis zwölf und von eins bis drei am Nachmittag. Der Donnerstag war schulfrei. Für die Jause hatte ich ein Scherzerl* Brot mit. Erst um circa 4 Uhr kam ich von der Schule heim. Immer hatte ich solchen Hunger! Eines Tages sagte die Madlin: „Maridl, setz dich in die Stubn hinein, i bring dir a warme Suppn“. Ich ging in die Stube und setzte mich zum Bauerntisch. Da kam die Madlin mit einem Schüsserl Suppe und einem Scherzerl Brot. Wie ich mich auf die Suppe freute! Sie roch nach Selchfleischsuppe; Fleisch war keines drin, aber oben auf der Suppe schwammen viele kurze, grauliche, dicke, runde Stückchen. Mit einem eigenartigen Gefühl betrachtete ich sie und schob diese Dinger immer zur Seite und aß etwas leere Suppe, die gar nicht gut schmeckte. Da rief ich zur Tür hinaus: „Madlin, was ist denn das in der Suppe, das herumschwimmt? Das mag ich nicht und die Suppe riecht gar net gut.“ – „Na, das sind Maden, wennst sie nicht magst, schieb sie halt zur Seite.“ Ich war entsetzt: „Na, Madlin, a Madensuppe mag i net!“, stand auf und ging zur Stubentür hinaus, um von der Holzhütte Holz und Reisigbündel in die Küche zu tragen. Die Madlin sagte kein Wort wegen der Suppe, auch ich nicht, so hatte ich während des ganzen Tages nur zwei kleine Scher­ zerln Brot zu essen. Auch sonst hatte ich nie ordentlich zu essen. Das grauslichste Essen in meinem ganzen Leben war aber diese Madensuppe. Die Madlin hatte es versucht, ob ein armes Kind vor lauter Hunger auch eine Madensuppe essen würde. Wie waren die Leute in der alten Zeit gegen die Kinder hart! Die Kinder konnten sich nicht helfen, es war einfach diese fürchterliche kinderreiche Zeit. Die kinderreichen Eltern hatten nur eines vor, Kinder mit zehn Jahren oder etwas darüber beim Bauern unterzubringen. Es gab auch keine Hilfen für eine solche Familie. Nichts vom Staat, nichts von der Kir194

che, und viele Väter hatten keinen Gedanken für diese ohne Sinn, nur vom Trieb gezeugten armen Kinder. Nach dem Dienen bei Bauern waren die Buben froh, dass sie endlich in die Militärkasernen einrücken konnten. Das haben von oben her alle gewusst: Jetzt sind die Buben herangewachsen, jetzt können wir sie für das Militär gebrauchen. (...) Nach dieser Suppen-Sache geht es mit meiner Arbeit bei Madl wieder weiter. Ich wurde zum Hamstern abgerichtet, schließlich blühte der Schleichhandel, für jede Arbeit war ich willig. In die Schule ging ich sehr selten, besonders wenig zur Winterszeit, denn auch bei Madl hatte ich keine Schuhe. Gut hatte ich es bei Madl nicht, aber ich fühlte eine Zufriedenheit. (...) Madls Tochter Pepi und ich mussten immer zur Hamsterei fahren und auch weit hinaus aufs Land zu den Bauern gehen. Wir haben Eier, Butter und auch Junghähne zusammengetragen, oft hatten wir einen Radlbock* bei uns, damit wir die schweren Körbe nicht so weit tragen mussten. Es war ziemlich anstrengend, den ganzen Tag und bei jedem Wetter den Radlbock zu radeln. Im Weltkrieg war ja das Schleichhandeln sehr üblich. Wir hatten neben der Plage auch noch die Sorge, dass die Gendarmen die Waren in Beschlag nehmen könnten. Die Madlin fragte nie, ob wir zu essen hatten. Sie hat sich darauf verlassen, dass wir bei den Bauern schon um etwas betteln, wenn wir zu schlimmen Hunger hatten. Die Bauern gaben uns ein Brot, sonst waren sie schließlich zu nichts verpflichtet. Hunger gab es beständig. Hätten wir doch Butter von den Körben genommen! Aber wir waren ja Kinder, das getrauten wir uns nicht zu tun, es durfte ja nichts fehlen. In den Körben lagen die schönsten Butterstritzeln, hätten wir doch das erbettelte Brot damit bestrichen, sicherlich waren wir vor lauter Ehrlichkeit zu dumm. Bei den Hamstergängen hatten wir viele Erlebnisse, worüber ich aber nicht so viel schreiben möchte. Über die 195

Schleichhandelzeit aber möchte ich doch einiges berichten, wie das vor sich ging und was ich zu tun hatte. Eier, Butter, Schlagobers, Brathühner, Enten und auch Fleisch wurden verliefert, dabei sind wir bis nach Gmunden, Bad Ischl, Lauffen und Bad Aussee gekommen. Bei näherer Strecke wie Gmunden wurde am Tag meistens zweimal gefahren. Alles verlief sehr vorsichtig, denn die Gendarmen waren am Weg. Kinder wurden nicht so untersucht wie erwachsene Leute. Die Eier wurden einzeln in einen Stoff eingenäht, das musste genau für einen Rücken passen. Man schlüpfte wie in einen Rucksack hinein. Mit Trägerbändern wurde vorne ober der Brust und auch unterhalb der Brust noch einmal gebunden, dreimal wurde vorne zugebunden. So hat es gut gepasst, die Kleidung war ganz flach darüber. Die Butter hing angeformt rechts und links über den Schenkeln. Die Butter wurde zuerst sehr stark gekühlt, damit es sich bis zur Ablieferungszeit ausging. Sie wurde in Butterpapier eingewickelt und war ebenfalls in einem dazugenähten Stoffsackl. Um Hüfte und Bauch war ein Stoffgürtel herum. An jedem Schenkel hing so ein Buttersackl daran. Nirgends durfte ich ankommen bzw. anstoßen, sonst wären die Eier am Rücken kaputtgegangen. Die Butter wäre auch geschmolzen, wenn ich sie an die Schenkel herangelassen hätte, sie musste ganz frei hängen. Das Kitterl war lang, denn die Butter hing unter dem Kleid seitwärts herunter bis unter die Knie. Ich war vollgepackt am Rücken und beiden Füßen. Niedersetzen durfte ich mich nicht, auch nirgends anlehnen. Ich musste mich immer darum kümmern, dass ich mich mit der Hand anhalten konnte, denn der Zug machte oft einen starken Ruck, das war gefährlich wegen der Eier. Die Beine mussten kühl bleiben, sonst könnte die Butter weich werden und zu rinnen beginnen, das wäre ein Schaden und ein Übel gewesen. Ich hatte immer Glück, bin immer gut angekommen. Dies alles musste ich können und ich habe bei dieser heiklen Auf196

gabe nie einen Schaden bereitet. Die Madlin – sie wurde später meine Firmpatin – ist mit einem anderen Zug nachgefahren. Auch sie führte Waren mit sich, und sie kassierte immer das Geld ein. Die Madlin war als Schleich­händlerin bekannt. Gendarmen hatten auf sie ein besonderes Augenmerk. Sie wurde des Öfteren bestraft und die Waren wurden ihr abgenommen, so hat sie sich eben Pepi und mich als Mittel zum Zweck abgerichtet. Ablassen konnte meine Godn* von diesem Extrahandel nie. Ich hatte auch öfters eine „Bitschn“ bei mir, eine Schlagoberskanne. Diese stellte ich meistens ganz woanders hin, unter eine Bank oder hinten in eine Ecke. Sehen musste ich die Kanne schon, musste sehr darauf achten und auch, dass die Kanne auf keinem zu warmen Platz steht. Die Oberskanne war immer sehr kompliziert für mich wegen der Eier und der Butter an mir, das erforderte Geschicklichkeit und Sorgfalt, aber es klappte immer gut. Einmal hatte ich eine besondere Aufgabe, die mich zu einem raschen Handeln zwang. Schnell hatte ich zu entscheiden, was ich in solch einer Situation tun soll. Die Godn sagte zu mir: „Maridl, du musst diese Sachen zur Station tragen. Ich gehe leer zum Waggon, und du gibst mir die Sachen herein – weißt, es könnte ein Gendarm da sein.“ Der Zug kam an und hielt, die Godn stieg ein, kein Gendarm war zu sehen. Ich wollte mit den Sachen zum Zug hingehen, da kamen zwei Gendarmen von der Ecke des Wächterhauses hervor. Ich habe sie gleich gesehen, aber meine Godn hat sie nicht gesehen, sie war schon im Zug, schnell musste ich mit den Sachen weggehen, so musste die Madlin wieder aussteigen. Freilich hat sie jetzt auch die gefährlichen Männer gesehen, aber wo ich hingekommen war, das wusste sie nicht. Na, ich ging mit den Sachen ja so schnell weg, und die Madlin wird sich gedacht haben: Maridl hat die Gendarmen gesehen, aber wohin ist sie verschwunden? 197

Die Gendarmen blieben noch bei der Station stehen, da konnte ich die Sachen ja nicht übergeben. Sie hat mich nach Abfahrt des Zuges gesucht und nicht gefunden, so ging sie heim, aber da war ich nicht. Ich war hinter dem Bräuhäusl, da war eine Hundehütte, der Hund war in seiner Hütte und an der Kette. Den Hund habe ich gekannt, er hieß „Burschi“. Mein Gedanke war nur: Na, die Gendarmen erwischen mich nicht! Schnell schob ich die Sachen in die Hundehütte hinein, und ich versteckte mich hinter dem Bräuhäusl. Dann hielt ich noch Ausschau nach den Gendarmen, aber sie waren nicht mehr da. Vielleicht waren sie mit dem Zug mitgefahren. Später ging ich zur Hundehütte und nahm die Sachen heraus. Obwohl es ein Hund an der Kette war, hat er nicht einmal gebrummt und mir nichts getan, vielleicht hat er gedacht, er bekommt ein gutes Fressen. Burschi war nicht böse. Nun bin ich mit den Sachen heimgegangen. Als ich in das Haus kam, sagte die Madlin: „Maridl, jetzt bist du da! Wo warst du denn? Ich hab dich nirgends gesehen.“ Daraufhin erzählte ich ihr, dass ich im letzten Moment die Gendarmen gesehen habe, was ich daraufhin tat und wo ich die Sachen versteckt hatte. Alle haben recht gelacht und die Madlin sagte: „Maridl, das hast du gut gemacht, wir können dich gut gebrauchen.“ (...)

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Marie Toth ( 1904 – 2006 ) wurde als jüngstes von vier Kindern einer böhmischen Ziegelarbeiterfamilie am 27. März 1904 in Sooß bei Baden in Niederösterreich geboren. Ihr Vater und eine Schwester starben früh an Tuberkulose; die Autorin musste schon als Kind bei der Ziegelherstellung mitarbeiten und gerade in den Jahren des Ersten Weltkriegs auf vielfältige Weise zum Familienunterhalt beitragen. 1921 bekam Marie Toth, geborene Uldrich, eine Anstellung im örtlichen „Konsum“. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem späteren Ehemann, der ab 1925 als Facharbeiter in den Niederlanden arbeitete, gelang es unter viel persönlichem Einsatz, den Lebens­ traum von einem eigenen Haus mit Garten in Leobersdorf zu verwirklichen. Vor allem ihre persönlichen Erfahrungen in Kriegs- und Krisenzeiten veranlassten Marie Toth im Alter zur Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen als Leitlinien für jüngere Menschen und kommende Generationen. Das in den Wintermonaten 1984/85 entstandene, 186 handgeschriebene Seiten umfassende lebensgeschichtliche Manuskript wurde 1992 unter dem Titel „Schwere Zeiten. Aus dem Leben einer Ziegelarbeiterin“ von Michael Hans Salvesberger als Band 22 dieser Buchreihe herausgegeben. Daraus sind die hier wiedergegebenen Textausschnitte entnommen. Weitere Kindheitserinnerungen Marie Toths finden sich in dem von Peter Gutschner 1998 herausgegebenen Band 42, „‚Ja, was wissen denn die Großen …’ Arbeiterkindheit in Stadt und Land“.

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„So klein und schwach ich war …“ (...) Es war im vierten Kriegsjahr. Die Lage wurde immer kritischer. Es wurde immer strenger kontrolliert. Rucksäcke hatten wir schon lange keine mehr. Auf Jutesäcken haben wir uns Gurte angemacht und versuchten immer wieder unser Glück. Wir wurden immer erfinderischer. Wir nähten uns aus alten Sachen schmale Säckchen. Da gaben wir Mehl oder Bohnen hinein und banden sie uns um den Leib. Mittwoch und Samstag fuhren wir Kinder vom Ziegelwerk allein nach Ungarn. Da war nur vormittags Unterricht, da versäumten wir nicht so viel. Ich war die Älteste, dreizehn Jahre, die anderen neun, zehn, elf Jahre. Meist waren wir fünf oder sechs Kinder. Wochentags war der Zug nicht so überfüllt, so dass wir manchmal einen Sitzplatz bekamen. Uns Kinder hat man auch nicht so beachtet. Wir haben uns aufgeteilt. Wahrscheinlich glaubten die Finanzer, dass wir zu den Erwachsenen gehören. Dann versuchten wir Kinder, nachmittags zu fahren, kamen abends dort an, tauschten und kauften, was zu haben war, packten zusammen, damit wir mit dem ersten Zug wieder heimfahren konnten. Die Leute kannten uns ja schon; wir sind jede Woche dreimal dort gewesen. Dann baten wir um Essen und um Nachtlager. Ich war die Älteste; ich schaute immer, dass wir zusammen in einem Haus schlafen konnten. Meist schliefen wir am Heuboden oder Stadel, einige Male im Kuhstall, aber da konnten wir uns nicht ausstrecken; wir saßen zusammengekauert in einer Ecke. Es war warm, aber es stank. Zu dieser Zeit sind schon auf jedem ungarischen Bahnhof Finanzer gewesen, zu zweit, auch im Zug. Da haben sie Leute schon am Bahnhof abgeräumt. Deshalb haben wir einige Male in der Früh heimzufahren versucht. Bevor wir zum Zug gingen, haben wir uns die Sackerln mit Mehl um den Leib gebunden, um die Brust, um die Füße, dann gingen wir auf 200

Feldwegen, aber nicht auf den Bahnhof, sondern auf die gegenüberliegende Seite. Dort warteten wir hinter einem Hügel, bis der Zug einfuhr. Dann liefen wir hinunter und stiegen ein. Betonen muss ich hier, dass die Finanzer eingekleidet waren wie andere Soldaten; sie sind auch öfter ausgetauscht worden, so dass wir nicht wussten, ob es Urlauber oder Finanzer sind. Einmal ist mir ein Malheur passiert. Wie wir vom Hügel hinunterliefen, sind mir die Sackerln, die ich um die Schenkel gebunden hatte, auf die Füße herabgerutscht, Ich konnte kaum laufen. Mit letzter Kraft habe ich die hohen Wagenstufen geschafft. Im Waggon waren nicht viele Menschen. Die anderen Kinder hatten alle Plätze. Ich hätte keine zehn Meter mehr laufen können. Ohne Frühstück, in der Früh schon solche Strapazen. (...) Ich setzte mich auf die Bank und schloss die Augen. Das Herz hat mir gepumpert, und mir war alles wurscht*. Ich hab nur gesehen – mir gegenüber saßen zwei Soldaten. Als ich mich wieder besser fühlte, hab ich die Mehlsackerln über die Knie hinaufgezogen und fester gebunden. Sie sahen nur zu. Ich verstand nicht, was sie miteinander auf Ungarisch sprachen. Ich war so müde. Ich bemerkte nur, dass beide hinausgingen. Auf welcher Station es war, weiß ich nicht. Vor Neufeld kamen sie wieder als Finanzer. Ich glaube, ich war nie so ruhig wie damals; mir war alles egal. Ich war müde und hungrig, und sie hatten sowieso alles gesehen. Wenn sie mich ausgezogen hätten, wäre ich um zwei Kilogramm Mehl leichter gewesen, die ich, um meinen Körper aufgeteilt, umgebunden hatte. Wissen möchte ich gern, was die beiden sich gedacht haben, wie sie mir zugeschaut haben. Sie waren nicht mehr ganz jung; vielleicht hatten sie Kinder. Ich sehe sie noch, wie sie als Finanzer gekommen sind. Beide haben mich angeschaut, ich habe sie angeschaut – dann sind sie weitergegangen. In unserem Waggon haben sie nichts genommen. 201

Wenn ich heute so zurückdenke an meine Kindheit: diese Plage, diese Angst und Sorge, nur um das bisserl Leben, Überleben. Aber es ist noch schlechter geworden. Immer mehr Leute fuhren schon von Wien heraus nach Ungarn. Sonntags, wenn arbeitsfrei war, konnten wir kaum einen Platz im Zug bekommen. Es war eine Drängerei. Stundenlang sind wir zwischen den Erwachsenen eingekesselt gewesen; umfallen konnte man nicht. Auf der Plattform, auf den Stufen, auf dem Dach, sogar auf den Puffern sind sie gestanden. Ob sich das heute jemand vorstellen kann? Und erst das Heimfahren mit Rucksack und Taschen. (…) Und was wir brachten, war immer zu wenig für die schwer Arbeitenden zu Hause, und hätten wir mehr bekommen, wäre es ein zu großes Risiko auf der Bahn gewesen. Die Schule kam immer mehr ins Hintertreffen. Ich hatte in der letzten Klasse Bürgerschule das Fräulein Lenk. Sie war streng, aber gerecht, und sie hatte Verständnis. Wenn ich in die Schule kam, fragte ich zuerst: „Was habt ihr gelernt?“ Ich habe es schnell durchgelesen; manchmal ging es gut, immer nicht. Die Lehrerin hatte mich gern, ich spürte es. Oft sagte sie: „Uldrich, du bist nicht dumm, ich weiß. Aber was soll ich dir ins Zeugnis geben? Du kommst so wenig in die Schule.“ Ich wusste es auch nicht. Einmal sagte sie zu mir: „Komm, trag mir die Hefte zu mir ins Haus.“ Sie wohnte in der Südbahnstraße, wo jetzt die Apotheke ist. Ich wunderte mich, weil dort auch andere Kinder wohnten. Dann gab sie mir ein Viertelkilo Weizengrieß, ein Viertelkilo Maisgrieß und zwei Eier und sagte: „Deine Mutter soll dir das kochen.“ Ich bin immer in der ersten Bank gesessen, weil ich so klein war, und schlecht ausgesehen hab ich auch. Ich hörte öfter von Leuten auf dem Ziegelwerk, wie sie sagten: „Die hat’s auf der Lunge!“ Im März war ich vierzehn Jahre, bin aber bis zum Schulschluss in die Schule gegangen. 202

Jetzt wieder zum Hamstern – so sagte man allgemein, obwohl es nicht stimmt. Wir konnten keinen Vorrat anlegen; wir lebten von einer Woche zur anderen. (...) Es gab auch Berufshamsterer; in Leobersdorf gab es auch einige. Die hatten genug Geld, weil sie zu Hause Preise verlangten, die wir nie zahlen konnten. Aber nicht jeder hätte die Strapazen ausgehalten, und so zahlten oder tauschten die Menschen, damit sie überleben konnten. Für die Hamsterer war es auch ein großes Risiko. Sie fuhren einige Mal pro Woche nach Ungarn. Sie hatten auch ihre Lieferanten, die ihnen Butter, Speck und Fleisch, lauter wertvolle Lebensmittel, zukommen ließen. An so etwas konnten wir gar nicht denken. Die Hamsterer gingen schon längere Zeit zu Fuß über die Grenze. Ob es dieselbe Route war, die wir gingen, weiß ich nicht. Auch diese Grenze wurde schon bewacht. Die Grenze war ein zirka drei Meter breiter Weg, eine breitere Feldstraße. Auf der ungarischen Seite waren große Felder: Getreide, Mais, Kartoffeln. Dort, so zirka einen Kilometer rechts, war ein größerer Hof, wahrscheinlich ein Gutshof. Dort hielten sich die Finanzer auf. Von da patrouillierten sie den Weg an der Grenze. Vorher wurde von uns schon ausgemacht: zwei gehen als Vorhut mit weniger Gepäck. An der Grenze hielten sie und horchten, ob sie Schritte hörten. Wenn es ruhig war, gaben sie mit Taschenlampen Zeichen. Dann gingen wir nach. Wurden sie entdeckt, so sprachen sie so laut, dass wir es hörten; wir blieben ruhig liegen und warteten. Hatten sie die zwei in den Meierhof geführt, dann gingen wir vor. Je näher wir zur Grenze kamen, umso schneller gingen wir. Zum Schluss rannten alle; jeder wollte als Erster drüben sein. Aber die Finanzer hatten auch dazugelernt. Sie wussten: in der Nacht von Samstag auf Sonntag, da gehen die meisten über die Grenze. Wenn die Nacht schön war, dann lauerten sie, ließen die Ersten vorbei, und wenn der große Trupp kam, 203

dann haben sie sie gefasst. Viele versuchten, sich im Kukuruzoder Kartoffelfeld zu verstecken. Manchen gelang es auch – mich haben sie nie erwischt. Anna haben sie öfter abgeräumt. Wenn sich die Leute im Acker versteckten, so schossen sie mit Gewehren über die Köpfe, bis einige hervorkamen. Im Meierhof wurde alles weggenommen. Die Milch wurde im Hof verschüttet. Einmal fuhr Anna allein und schloss sich den Berufshamsterern an. Nächsten Tag – wir waren schon unruhig, sie sollte schon da sein – kam jemand fragen, ob sie schon zu Hause ist. Nein, sie ist noch nicht da; was ist geschehen? Da erzählte er, sie waren in eine Schießerei gekommen. Jeder flüchtete in eine andere Richtung; einige haben sie erwischt, darunter auch Anna. Sie mussten nach Zillingsdorf abliefern, da haben sie den Zug verpasst. Wir waren froh, dass ihr nichts passiert ist. Man hörte dann immer mehr von Schießereien. (...) Wir sind immer in Gruppen gegangen. Es ist öfter vorgekommen, dass Einzelne von Gesindel überfallen wurden. Nicht nur Lebensmittel, auch Geld und Uhren haben sie weggenommen. Das geschah auch meinem Bruder Ludwig. Anna hat in meinen Rucksack Mehl, Bohnen, leichtere Sachen gegeben, damit es mich nicht so drückt. Sie trug die Kartoffeln. Ich hatte mehr Glück, mich hat man nicht so beachtet. In der Schule versäumte ich zu viel. Wenn ich zur Schule ging, hab ich in der Schülerausspeisung gegessen; jede Woche mussten wir einen kleinen Betrag dafür bezahlen. Dann kamen die Ferien – für mich der letzte Schultag. Ich ging so gern in die Schule, hab gern und leicht gelernt. Trotz meines oftmaligen Fehlens habe ich die Freigegenstände Französisch und Maschinschreiben gelernt. Sprachen und Geographie haben mich besonders interessiert. Mein Herzenswunsch war, eine Schule besuchen zu dürfen. Daran war nicht mehr zu denken. Der Krieg hat meine Kindheit, meine Zukunft zerstört. Dieser Tag war einer meiner unglücklichsten Tage, als 204

ich von meiner Lehrerin und den Kindern Abschied nahm. Ich heulte tagelang. Jetzt war meine Kindheit (die ich eigentlich gar nicht hatte) endgültig vorbei. Die Schulzeit war für mich eine glückliche Zeit. Jetzt stand ich vor einer unsicheren Zukunft. Ich wollte Schneiderin lernen, hätte auch eine Lehre gefunden, doch wie sie mich sahen, nahmen sie mich nicht: Ich war zu schwach und zu klein. Die schwere Arbeit am Ziegelwerk hätte ich nicht machen können. So blieb ich zu Hause. Ging Ähren klauben, Brennnessel, Knoblauchblätter, Sauerampferblätter suchen – die haben wir gekocht –, anstellen, wenn es etwas gab. Im November ist dann alles zusammengebrochen. Es gab keine Lebensmittel mehr; die Menschen sind an Hunger gestorben. Die Fronten haben sich aufgelöst. Die Soldaten, die nicht gefangen wurden, strömten heim. Wir haben im Herbst die Kartoffeläcker umgegraben, sind über die Felder gestrichen, um etwas Essbares zu finden. Hie und da fanden wir einen Kukuruzzapfen* oder Beeren. Wir waren schon längere Zeit nicht mehr nach Ungarn gefahren; die Grenzen waren ganz dicht. In Ebenfurth mussten alle zurückfahren. Die Züge durften nicht mehr nach Ungarn. Wir Kinder konnten es nicht begreifen, warum es nicht erlaubt ist und warum jeder eingesperrt wird, der erwischt wird; wir konnten nicht begreifen, dass Ungarn nicht mehr zu Österreich gehört. Eines Tages beschlossen wir Kinder: Wir fahren nach Ungarn. Es hat uns auch niemand zurückgehalten. Ich glaube, die Erwachsenen haben die neue Situation auch noch nicht zur Kenntnis genommen. Also fuhren wir um fünf in der Früh nach Ebenfurth. Dort gingen wir zum Leithafluss, zogen uns die Schuhe aus und wateten zum anderen Ufer. Es war schon kalt. Die Ungarn durften uns nicht sehen. Dann marschierten wir neben der Bahn zu Fuß nach Brodersdorf und 205

Antau. Die Leute dort staunten nicht wenig, als sie uns sahen. Wir waren die Einzigen. Die Kinder dort empfingen uns, so wie schon einige Zeit vorher, mit: „Österreicher, Hungerleider!“ Wir hörten es gar nicht mehr. Viel konnten wir nicht nehmen; es durfte nicht auffallen. Dann mussten wir wieder zu Fuß bis Neufeld, die Leitha durchwaten. In Ebenfurth mussten wir stundenlang auf einen Zug warten. Und das war das letzte Mal, dass wir hamstern waren, November 1918. Mit dem letzten Hamstern waren auch alle Möglichkeiten irgendeiner Lebensmittelbesorgung weg. Wir streiften die Äcker ab, hie und da fanden wir noch ein paar Kartoffeln. Da waren bei Enzesfeld, Lindabrunn die großen Äcker; sie gehörten den Rothschilds. Wenn sie abgeerntet waren, gingen wir nachernten. Wir brachten Rüben und Karotten heim. Oft war der Boden schon gefroren, aber wir gingen immer noch suchen. Dann kam der Dezember, der Heilige Abend. Den werde ich nie vergessen. Zu der Zeit gab es in den Haushalten noch kein elektrisches Licht, nur Petroleumlampen. Da Österreich den Krieg verloren hatte, wurden wir von jeder Zufuhr abgeschnitten. Es gab kein Petroleum, keine Kohle, keine Lebensmittel – es gab überhaupt nichts mehr. An diesem Abend saßen wir in der finsteren, kalten Wohnung und weinten. Nicht ein Stück Brot am Heiligen Abend! Hungrig gingen wir ins kalte Bett. Die Hasen, die wir hatten, wurden nicht alt, dann hatten wir auch kein Futter für sie im Winter. Die paar Kartoffeln reichten nicht einmal für uns über den Winter. In der Früh am Christtag ging Ludwig über die Felder und brachte ein paar Kraut- und Kohlblätter, die vom Schnee halb verdeckt waren, nach Hause. Hier muss ich etwas einfügen. Die Felder beim „Heilsamen Brunnen“ waren früher, bevor die Wasserleitung gebaut wur206

de, oft den ganzen Winter unter Wasser, wenn es einen nassen Herbst gegeben hat. Die Bauern konnten ihre Kartoffeln dann nicht ernten. Diesen Winter sind viele Kartoffeln in der Erde geblieben. Wir haben uns die gefrorenen Kartoffeln ausgegraben und gekocht. Sie waren nicht gut, doch der Hunger war groß. Das war der schrecklichste Winter, 1918/19. Da brach die große Grippeepidemie aus. Die Menschen, halbverhungert, hatten keine Kraft, keine Abwehrkräfte. Sie starben dahin, alt und jung. Täglich gab es mehrere Begräbnisse. Am Ziegelwerk gab es jede Woche ein bis zwei Tote. Familie Lischka ist in einer Woche Vater und eine erwachsene Tochter gestorben; Familie Paulitschek in der nächsten Woche Vater und sein zehnjähriger Sohn – so ging es jede Woche. In drei bis vier Tagen waren sie tot. (...) Die Medizin war da noch nicht so weit. Die Unterernährung und das hohe Fieber überstanden nicht viele. Da erwischte es auch mich. Ich kann nur schreiben, was mir Mutter sagte; ich wusste ja nichts. Ich bin tagelang mit hohem Fieber bewusstlos gewesen. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat. Ich weiß nur, wenn ich dann manchmal etwas lichte Momente hatte, hörte ich immer Weinen. Langsam ging es aufwärts. Es stellte sich aber heraus, dass ich etwas auf der Lunge behalten habe. So klein und schwach ich war, war ich schon damals nicht zum Umbringen. Mutter und Anna taten alles, damit ich wieder gesund werde. Damals hatten wir schon wieder zwei Hühner. Die Eier bekam nur ich. Anna hat bei Frau Polsterer öfter im Haus geholfen; sie hatten ein Dienstmädchen, aber wenn Waschtag war oder sonst eine schwerere Arbeit, wollte sie immer nur Anna haben. Sie bekam dort auch zu Mittag Essen. Sie brachte alles mir. Was uns allen fehlte, war Fett. Vom Arzt bekam ich eine Medizin. Anna fuhr zu einer Tierkräutlerin, die gab ihr einen Tee für die Lunge. Es dauerte einige Monate, bis ich am Leben wieder Anteil nahm. Dann hat uns jemand geraten, ich 207

brauche Hundeschmalz, das sei gut für die Lunge. In Vöslau ist eine Wasenmeisterei*, die haben immer herrenlose Hunde eingefangen. Anna ging hin und brachte in einem Halbliter­ glas Hundeschmalz. Ich bekam am Abend und Morgen einen Esslöffel Hundeschmalz. Wenn es gar* war, holte sie wieder ein Glas voll. Es war nicht billig, aber es half. Die Genesung ging jetzt schneller vor sich; der Frühling half mit. Ich konnte im Haushalt etwas helfen. Im Sommer dachte ich schon ans Mitverdienen. Lebensmittel waren alle noch auf Karten, doch der Krieg war aus, und die Hoffnung war da, dass es nun bald besser wird. (...)

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Leo Schuster ( 1889 – 1974 ) (Näheres zum Autor und zur Herkunft des Beitrags siehe S. 64)

„Wir mussten diese Hamsterei bekämpfen ...“ Am 6.  Dezember 1919 wurde ich von Hainburg definitiv zum Gendarmerieposten Zwingendorf versetzt. Zwingendorf lag hart an der Grenze zur Tschechoslowakei, war also ein Gendarmeriegrenzposten. Die Sicherheitsverhältnisse waren damals, besonders an der Grenze, sehr schlecht. Die Lebensmittel waren miserabel, man bekam fürs Geld nichts zu kaufen, es verlor seinen Wert buchstäblich von Tag zu Tag. Wir bekamen unseren Lohn mehrmals im Monat ausbezahlt, der Betrag wurde immer größer, aber das, was man fürs Geld bekam, wurde immer weniger: Es waren unhaltbare Zustände. Das Land war durch den Krieg ausgesaugt, es herrschte große Arbeitslosigkeit, Lebensmittel konnte man kaum noch kaufen, und es blühte die Hamsterei. In Bezug auf Schleichhandel beziehungsweise Hamsterei möchte ich Folgendes feststellen: Zwischen Schleichhandel und Hamsterei besteht ein Unterschied. Der Schleichhändler kaufte bei den Bauern Lebensmittel und zahlte jeden verlangten Preis. Diese Waren verkaufte er in der Stadt mit hohem Verdienst weiter. Er betrieb dies gewerblich, und ein gewöhnlicher Sterblicher konnte diese Waren nicht kaufen. Der Hamsterer dagegen war der, der für den eigenen Bedarf sich auf dem Land Lebensmittel zu beschaffen suchte. Dieser erhielt für Geld überhaupt nichts, sondern er musste Wertge209

genstände bringen. Es war zu dieser Zeit übliches Gespräch, dass die Bauern Klaviere besaßen, die sie niemals benützen konnten, und die Stallungen mit wertvollen Teppichen belegten. Solche Notzeiten waren für die Bauern immer die besten Zeiten, und daher war die Gendarmerie bei der Landbevölkerung wie auch bei den Schleichhändlern und Hamsterern verhasst, obwohl die Gendarmerie gegen letztere, zumindest war es in Zwingendorf so, durchaus nicht kleinlich vorging. Leute, die nur ab und zu mit einem vollen Rucksack auftauchten, wurden überhaupt nicht kontrolliert. Hiezu eine kleine Episode: Ich fuhr eines Tages mit dem ersten Zug um circa fünf Uhr früh nach Wien. Im Bahnhof machte nur ein Gendarm Dienst. Es war noch finster, und die Waggons waren unbeleuchtet. Ich saß in Zivil im Waggon, als eine ältere, korpulente Frau mit ihrem Rucksack einstieg. Ich kannte sie gut, weil sie wöchentlich zwei- bis dreimal hierher kam, und sie war nie beanstandet worden. Nachdem dies geschehen war, holte sie zwei Stück geselchten Speck unter ihren Röcken hervor und machte sich höhnisch über die Gendarmerie lustig, weil diese so blöd sei. Ich war erstaunt über dieses Luder, und als sie wieder einmal kam und ich Dienst hatte, stellte ich ihr die ungeschickte Frage, was sie zwischen den Beinen habe – ich meinte damit Speckseiten –, worauf sie mir zurief: „Ach, Sie wollen sehen, was ich zwischen den Beinen habe?“ Und nun hob sie ihre Röcke ungeniert ganz hinauf mit den Worten: ,,Da, schaun Sie sich’s an, was ich zwischen den Beinen habe.“ Dazu muss ich bemerken, dass sie keinen Speck dort hatte, aber sie hatte auch keine Hoserln an. Einen Vorteil hatten wir allerdings auch von den beschlagnahmten Waren. Diese wurden vorschriftsgemäß an das Gemeindeamt abgeliefert, wo sie zu den amtlich vorgeschriebenen Höchstpreisen an die bedürftige Bevölkerung verkauft 210

und der Erlös an die Bezirkshauptmannschaft abgeführt wurde. Natürlich haben auch wir gekauft, was wir brauchten, aber sicher haben auch Leute diese Sachen gekauft, die sie vorher teuer verkauft hatten. Und noch eine Episode: Wir hatten am Bahnhof einem Juden einen Rucksack mit circa vierzig Kilogramm Fleisch beschlagnahmt. Aus Zorn darüber verriet er uns, dass die Haslingerbande, auf die ich noch zurückkomme, im Gasthaus Dürnsteiner in Großharras einen ganzen Ochsen zum Abtransport liegen habe. Ich machte mit einem um zehn Jahre jüngeren Gendarmen namens Rudorfer Dienst, und ich muss sagen, dass mir diese Nachricht keine Freude machte. Unser Dienst wäre nach Abfahrt des Zuges beendet gewesen, und nun mussten wir uns nach Großharras begeben. Im Gasthaus waren einige von der Bande anwesend – verwegene Männer. Der Wirt gab mir keine Auskunft. Wir gingen also durch den Saal zum Extrazimmer. Dieses war aber versperrt, und sowohl der Gastwirt wie auch diese Banditen weigerten sich aufzusperren. Was sollte ich nun tun? Mittlerweile fanden sich noch mehrere Bandenmitglieder im Saal ein und sprachen Drohungen aus, wenn wir es wagen sollten, das Extrazimmer aufzusperren. Es war eine sehr bedrohliche Lage, aber ein Zurückweichen war ausgeschlossen. Die Amtshandlung muss unbedingt durchgeführt werden. Ich schickte also meinen Kameraden, der sich auf mich verließ, zum Dorfschmied, er solle mit Dietrichen herkommen, um ein Schloss aufzusperren. Ich stand nun unter diesen Banditen allein, aber ich durfte nur keine Angst zeigen, obwohl ich Angst hatte. Ich erklärte ihnen, dass ich auf eigene Verantwortung die Tür werde aufsperren lassen, und wer sich widersetze und dies zu verhindern suchen wollte, gegen den werde ich mit Waffengewalt vorgehen. Ich bin überzeugt, dass nur mein entschlossenes Auftreten die Banditen vor gewaltsamem Widerstand zurückschre211

cken ließ. Ich hatte es selbst nicht für möglich gehalten. Der Schmied erschien, und es wurde mir schon leichter, dass ich nicht mehr mutterseelenallein stand. Dem Schmied musste ich erst energisch befehlen, die Tür aufzusperren, denn er hatte auch Angst. Dann sahen wir auf den Tischen das Fleisch eines kompletten Ochsen ausgebreitet. Ich sprach die Beschlagnahme aus, und es kam auch jetzt zu keinem Widerstand. Sie baten mich nur, ich möge ihnen etwas von dem Fleisch zurücklassen, damit sie etwas zum Essen haben. Froh darüber, dass die Sache so gut abgelaufen war, gab ich ihnen eine ganze Schulter von dem Ochsen zurück, wofür sie sich sehr bedankten. Das übrige Fleisch ließ ich sofort wegschaffen. Diese Bande befasste sich mit Schleichhandel im großen Stil. Ihr Anführer hieß Haslinger – er hatte zwei Zwillingssöhne und eine Tochter, insgesamt waren es circa dreißig Personen. Diese Bande war in zwei Gruppen aufgeteilt, eine Gruppe besorgte die Waren, hauptsächlich Fleisch, teils durch Kauf, teils durch Einbrüche, und die andere Gruppe schaffte alle nach Wien. Jede Nacht wurde mindestens ein Einbruch im Rayon verübt, meist in Weinkeller, wo die Bauern ihr Fleisch von den Hausschlachtungen aufbewahrten. Sie kauften auch gleich ganze Ochsen, Schweine usw. zu horrenden Preisen, alles, was den Bauern in ihrer Habgier passte, denn es gab ja keine freie Marktwirtschaft bei Lebensmitteln und es bestand Ablieferungspflicht zu lächerlichen Höchstpreisen. An Ort und Stelle wurde das Vieh dann geschlachtet, aufgearbeitet, auf Fuhrwerke verladen und zum Bahnhof transportiert. Wir mussten diese Hamsterei bekämpfen, und immer wieder kamen Weisungen von den zuständigen Behörden und den vorgesetzten Dienststellen. Wir hatten es besonders schwer, weil sich die Hamsterer aus taktischen Gründen alle am Bahnhof Zwingendorf einfanden: Denn je mehr Hamsterer da waren, desto machtloser war die Gendarmerie. Zu die212

ser wohlorganisierten Bande gesellten sich noch viele kleine Hamsterer, so dass es meist circa siebzig Personen waren, die sich am Bahnhof einfanden. Noch dazu fuhren die Züge täglich um fünf Uhr früh und um sechs Uhr am Abend. Zu diesen Zeiten ist es im Winter finster, und wir mussten unter diesem Gedränge das Gepäck kontrollieren. Wir wunderten uns selbst, dass sie uns nicht erschlagen haben. Dann kam es einmal zu einem Aufstand, und wenn uns die gegenüber dem Bahnhof untergebrachte Zollwache nicht beigesprungen wäre, ich weiß nicht, was passiert wäre. Diese Bande hatte es darauf abgesehen, uns in die neben der Bahn verlaufende Pulkau zu drängen, und fast wäre es ihnen gelungen. Einige Tage später, es lag schon so etwas Unheilvolles in der Luft, als wir wieder Postendienst hatten, da ging es richtig los. Der Postenkommandant hatte schon mehrmals um Verstärkung des Postens angesucht, weil wir den Anforderungen nicht mehr entsprechen konnten, bis uns gestattet wurde, vom Nachbarposten zur Zugskontrolle fallweise Beamte anzufordern. An diesem Tag hatten wir also zwei Mann vom Posten Pernhofen zugeteilt. Wir hatten schon in Erfahrung gebracht, dass heute, es war der 20. April 1920, ein Fleischtransport von Schleichhändlern am Bahnhof eintreffen wird. Wir – und zwar Revierinspektor Kalber, Gendarm Rudorfer und ich sowie Richter und Fuchs vom Nachbarposten Pernhofen – begaben uns schon circa eine Stunde vor Abgang des Zuges zum Bahnhof. Und dann kamen sie angerückt mit sieben mit Fleisch beladenen Fuhrwerken. Diese Ware stellte einen riesigen Wert dar, da ja das Fleisch schon zu hohen Preisen gekauft und mit großem Gewinn in Wien abgesetzt werden sollte. Es wurde daher die ganze Bande zum Schutz der Ware eingesetzt, weshalb sie – schon mit Knüppeln bewaffnet – die Fuhrwerke 213

begleiteten. Insgesamt waren mit den anderen Hamsterern ungefähr siebzig Personen anwesend, die natürlich alle gegen die Gendarmerie Stellung nahmen. Wir stellten uns quer über die Straße mit schussfertigen Gewehren, und der Postenkommandant forderte die Bande auf, sich nicht zu widersetzen, wenn ihre Wagen kontrolliert werden. Und da ging es auch schon los: Sie schimpften auf uns los, wobei sie von den kleinen Hamsterern unterstützt wurden, und drohten, uns mit ihren Knütteln niederzuschlagen, wenn wir den Weg nicht freigeben. Der Postenkommandant war einige Schritte nach vor gegangen, als er plötzlich von mehreren Hamsterern umringt wurde, und es hatte den Anschein, dass sie ihn erschlagen würden. Jetzt musste etwas geschehen: Ich eilte eigenmächtig zu ihm hin, um ihm beizustehen. Es wurde versucht, mir das Gewehr zu entreißen, und ich wurde, da ich es festhielt, zu Boden gerissen. Plötzlich krachten mehrere Schüsse, und auf einmal lag ich mit dem Kopf voran im Straßengraben. Ich spürte, dass ich irgendwo am Oberkörper an mehreren Stellen getroffen sein musste. Als ich eine Weile dalag, noch bei Bewusstsein, erhielt ich mit einem Knüttel noch einen heftigen Schlag auf den Kopf. Noch immer war ich nicht bewusstlos. Das Ganze hatte nur wenige Minuten gedauert, dann zerstreuten sich die Gewalttäter. Mein Postenkommandant war ebenfalls schwer verwundet und lag am Boden, ich lag zur Hälfte im Straßengraben und neben mir der Anführer der Bande, tot. Als ich so armselig und voller Schmerzen dalag, beneidete ich ihn, denn er hatte alles schon überstanden. Ich war überzeugt, hier elend zugrunde zu gehen und meinen Verletzungen zu erliegen. Nach meinem Gefühl hatte ich den ganzen Oberkörper zerschossen. So lag ich eine lange Zeit. Dann kam zufällig der achtzehnjährige Sohn des Oberlehrers von Zwingendorf, bereitete mir ein Lager, drehte mich 214

auf den Rücken und legte mich sorgfältig hin, das war meine Rettung. Wie sich später herausstellte, hatte ich einen Leberdurchschuss von hinten und vier Streifschüsse an den Schultern erhalten, die mir schreckliche Schmerzen verursachten. Außerdem hatte ich noch zwei Schüsse im Oberschenkel. Nach dem Leberdurchschuss drang das Blut durch den Brustkorb, und wenn mich der Bursche – aus Unwissenheit – nicht auf den Rücken gelegt hätte, wäre ich an meinem eigenen Blut erstickt. Meine Kameraden waren der Meinung, dass ich Bauchschüsse habe, und es war ihnen vom Krieg her bekannt, dass es in solchen Fällen am besten ist, wenn man den Verletzten liegen lässt, wie er eben liegt. Die Hamsterer verdufteten nach allen Richtungen, und aus den Nachbargemeinden kamen allmählich neugierige Leute und auch Gendarmen. Endlich kam auch der Zug aus Laa an der Thaya Richtung Wien, er hatte Verspätung, weil er auf den Arzt gewartet hatte, auch der Postenkommandant von Pernhofen namens Dworžak war schon da. Ich konnte selbst hören, wie der Arzt zu Dworžak sagte: ,,Der kommt nicht lebend ins Spital!“ Dieser Ausspruch nahm mir jeglichen Lebensmut. Ich machte mir auch große Sorgen wegen meiner Familie, was nun wohl mit ihr werden würde. (...) Der Transport ins Spital nach Hollabrunn hat dann vorzüglich geklappt. Dworžak hatte alles weitere veranlasst, alle Posten auf der Strecke nach Wien wurden verständigt, und auch die Bahnverwaltung hat sich sehr lobenswert verhalten. Wir wurden beide in den Gepäckwaggon getragen, dabei hatte ich furchtbare Schmerzen, aber Mutter war auch schon verständigt und fuhr mit ins Spital. In der Umsteigestation Zellerndorf bekamen wir eine eigene Lokomotive vorgespannt, und die fuhr uns direkt nach Hollabrunn. Es wird circa sechs Uhr abends gewesen sein, als wir ankamen. Dort warteten schon die Krankenpfleger mit Bahren auf uns, mit diesen trugen sie uns ins Spital. Das war wieder eine 215

qualvolle Angelegenheit. Im Spital warteten schon die Ärzte, auch der Geistliche nahm uns in Empfang. Meine Frau blieb den ganzen Tag bei mir. Meine Uniformbluse hatte neun Löcher, war ganz blutig und verschmiert. Von den Hieben hatte ich einen angeschwollenen Kopf, aber die Kopfschmerzen waren nichts im Vergleich zu den anderen Schmerzen. Ich konnte tagelang nicht reden, weil die Brust voller Blut war. Der Postenkommandant hatte einen Dumdum- oder Gellerschuss erhalten, wodurch sein Oberschenkelknochen in einer Länge von circa zehn Zentimeter zersplittert wurde. Meine Verletzungen sind gut verheilt, und ich konnte schon nach circa sechs Monaten das Spital verlassen, aber Revierinspektor Kolber musste, mit Gewichten am verletzten Bein, vierzehn Monate dort bleiben, und die Folge war ein gekürztes Bein. Die ganze Angelegenheit war ein aufsehenerregendes Ereignis, und alle Zeitungen berichteten ausführlich. Ich selbst konnte in einer Tageszeitung lesen, dass ich auf dem Transport ins Krankenhaus gestorben sei. Die Kronenzeitung brachte sogar ein Titelbild, auf welchem wir zwei Gendarmen wie tot am Boden lagen. Auf diese Nachricht hin hat die Gendarmeriemusikkapelle bereits für unser Begräbnis geprobt. Vom Staat erhielt ich als Belohnung für diese Tat ein Belobigungszeugnis und fünfhundert Kronen Remuneration – ein Pappenstiel. Von der Bezirkshauptmannschaft hingegen erhielt ich fünftausend Kronen! Für diese fünftausend Kronen kaufte ich ein Marienbild und eine Pendeluhr – daraus kann man ersehen, welchen Wert dieses Geld damals hatte. Nach der Entlassung aus dem Spital wurde mir vom Landesgendarmeriekommando (LGK) freigestellt, mir einen Posten auszusuchen, wohin ich versetzt werden wollte. Auch eine Versetzung in den Kanzleidienst beim Landesgendarmeriekommando wäre in Betracht gekommen, aber das lehnte ich ab, weil damals in Wien schlecht zu leben war 216

und wir für Erna keine Milch bekommen hätten. Ich erhielt nach dem Spitalsaufenthalt drei Monate Krankenurlaub. In dieser Zeit suchte ich mehrere Posten auf, aber überall haperte es mit einer Wohnung, so dass ich noch bis März 1922 in Zwingendorf blieb. Noch etwas zur Haslingerbande: Die Söhne des Haslinger drohten mir, mich auch umzulegen, so wie es ihrem Vater passiert sei. Dies veranlasste mich, mir einen Hund anzuschaffen. Mein Bruder Hieronymus besorgte mir aus Olmütz einen reinrassigen Schäferhund. Ich nannte ihn Rolph. Er ging mir aber nach etwa einem Jahr an der Staupe ein. Vom selben Züchter kaufte ich mir alsbald einen zweiten Hund, wieder einen Rolph, welchen ich selbst als Schutz- und Spurenhund abrichtete. Es gab aber noch weitere Fälle in Zwingendorf: Auf einem Dienstweg nach Großharras – ich war allein – begegnete ich einem zweispännigen Fuhrwerk, das war nicht ganz voll mit Heu beladen. Dies kam mir verdächtig vor, und da mir auch der Bauer nicht bekannt war und er sagte, dass er nach Wien fahre, war es mir klar, dass da etwas nicht stimmt. Ich untersuchte das Fuhrwerk und sah, dass das Heu nur zur Tarnung auf dem Wagen lag. Unter dem Heu befanden sich einige Säcke Mehl, einige Kübel mit Schmalz, einige Säcke mit Kartoffeln, mehrere hundert Eier und sonstige Lebensmittel. Ich beschlagnahmte die ganze Ladung und ließ sie beim Bürgermeister in Zwingendorf abladen. Die Fuhre stammte vom Gutsbesitzer in Pernhofen. Da dieser Großgrundbesitzer bei der Bezirkshauptmannschaft sicher großen Einfluss hatte – und das spielte schon damals wie heute eine große Rolle –, gab ich dem Bürgermeister den Auftrag, die Waren noch am selben Tag zu verkaufen, da es sonst möglich wäre, dass die Beschlagnahme rückgängig gemacht werde. So konnten wir uns selbst für längere Zeit mit sehr wichtigen Lebensmitteln versorgen. Am nächsten Tag kam richtig dasselbe Fuhrwerk nach 217

Abb. 14: Leo Schuster mit Familie (um 1921)

Zwingendorf, um die beschlagnahmten Lebensmittel abzuholen. Der Kutscher wies eine Transportbewilligung für diese Lebensmittel vor – ausgestellt von der Bezirkshauptmannschaft und rückdatiert auf den vorherigen Tag –, nach welcher der Transport genehmigt war und der Eigentümer angeblich nur vergessen hatte, dem Kutscher diese Bewilligung mitzugeben. Da die Sachen aber schon verkauft waren, musste das Fuhrwerk wieder leer zurückfahren, und der Gutsbesitzer konnte nur den lächerlichen amtlichen Höchstpreis zurückfordern. Diese Dienstleistungen wurden von den vorgesetzten Dienststellen nirgends anerkannt, obwohl es Leistungen waren, die Mut, große Umsicht und Entschlussfähigkeit von 218

uns forderten, wo wir doch nicht einmal definitiv angestellt, sondern noch provisorische Gendarmen waren. Oft standen wir in stockfinsterer Nacht irgendwo auf freiem Feld an einem Kreuzweg und warteten, bis die Schleichhändler mit voll beladenen Wagen auftauchten, denn sie wechselten aus taktischen Gründen die Abfahrtsbahnhöfe, und man musste immer damit rechnen, dass man nicht mehr lebend nach Hause kommen wird. Eine Beschlagnahme bedeutete für die Schleichhändler stets einen großen Verlust, und es war verständlich, dass sie sich – in stockfinsterer Nacht und auf freiem Feld – den zwei jungen Gendarmen widersetzten. Auch Wilderer gab es mehrere in Zwingendorf. Dazu könnte man auch viel schreiben. Da wurde uns zum Beispiel verraten, dass jemand einen Hasen geschossen hat. Ich ging mit Rudorfer in das Haus, und da der Bauer leugnete, gewildert zu haben, machten wir eine Hausdurchsuchung, aber ohne Erfolg. In der Küche stand ein Bett, wo die Hausfrau lag, weil sie angeblich krank war. Wir gingen ohne Erfolg wieder fort. Unterwegs dachte ich mir: ,,Vielleicht war diese Frau gar nicht krank?’’ – Wir gingen also nochmals zurück, und richtig lief die Frau schon wieder gesund herum, und im Bett wurde der Hase gefunden. (...)

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Ludmilla Fiala ( 1910 – 1995 ) wurde am 14. September 1910 als Ludmilla Focke in Wien geboren und wuchs mit sieben Geschwistern in beengten Verhältnissen „auf der Kreta“, einem zu Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem von Zugewanderten aus Böhmen und Mähren bewohnten Elendsviertel an der Grenze der Wiener Bezirke Favoriten und Simmering auf. Ihre Mutter war mit 15 Jahren als Dienstmädchen von Mähren nach Wien gekommen, ihr Vater war Arbeiter im Gaswerk und früh verstorben. Durch Besuch einer Handelsschule und weiterbildende Kurse konnte Ludmilla Fiala sich eine ansehnliche berufliche und gesellschaftliche Stellung erarbeiten, identifizierte sich jedoch zeitlebens mit ihrer Herkunft als Kind der Vorstadt. Nach einer alltagsgeschichtlichen Rundfunksendung übermittelte sie 1983 eine 24-seitige schriftliche „Rückschau in meine Kinderzeit“ unter dem Titel „Kinder der Kreta“, aus der der folgende Textausschnitt entnommen ist.

„Auf der Straße steht die hungernde Bevölkerung …“ In den schweren Nachkriegszeiten wird es von Tag zu Tag schwieriger, die vielen hungrigen Münder zu füllen. Es gibt ja fast nichts zu essen, und oft sind die Frauen, manchmal auch die Kinder (obwohl es verboten ist) die ganze Nacht angestellt für ein wenig Milch oder gar ein Stückl Fleisch (von den sogenannten Fleischbänken*). Da geht es direkt mörderisch zu, im wahrsten Sinn des Wortes, wenn sich am Morgen jemand einfach so „dazustellen“ möchte. Die erbitterten Frauen 220

hätten einmal an einer solchen Person regelrecht Lynchjustiz geübt, wenn nicht ein Wachmann im letzten Augenblick eingegriffen hätte. Oft genug geschieht es dann, dass die Ware nach kurzer Zeit „ausverkauft“ ist, für deren Erlangung man die ganze Nacht angestellt war. Dann macht der Greißler schnell den Rollbalken zu, denn die erbitterte Menge glaubt nicht so recht an das „Ausverkauftsein“, und sicher wird auch das meiste von den Sachen „hintenherum“ verkauft. So muss man sich also nach neuen Erwerbsquellen umsehen, um auch ein wenig Geld zu verdienen. Auf dem Laaer Berg gibt es riesige Schutthalden, wo zum Beispiel die Ankerbrotfabrik manchmal halbverkohltes Maisbrot abladet und auch sonst mancherlei Abfall hingebracht wird. Wir Kinder sind natürlich mit dabei, wenn aus diesen noch heißen Abfällen ein Stück noch genießbares Brot zum Vorschein kommt, und es beginnt ein Wettgraben in dem Wust. Eine weitere Erwerbsquelle ist das Koksstieren. Man sammelt mit flinken Fingern die kleinen, noch nicht ausgebrannten Stückerln und bringt sie zum Händler, der unten am Rand der Halde steht mit seiner Waage und der für dieses Brennmaterial aus zweiter Hand einen geringfügigen Preis bezahlt. Im Winter steigt von diesen Halden sogar Gratiswärme auf – ein Wunder, dass sich noch keiner gefunden hat, der sie seinen Mitmenschen verkauft. Das düsterste Kapitel punkto Lebensmittelbeschaffung ist es, wenn aus einem Tor, das zu den Ostbahngleisen führt und das sonst verschlossen ist, ein Straßenbahnzug mit einigen Anhängern herausgeführt wird. Lange vorher erscheint dann eine ganze Abteilung der berittenen Polizei und nimmt Aufstellung entlang des Weges, den der Zug nehmen wird. Auf der Straße steht die hungernde Bevölkerung und wartet auf ihre Gelegenheit, den Wagen (in voller Fahrt) zu erklettern und die noch halbwegs genießbaren Erdäpfel herunter221

zuschmeißen. Wir Kinder eignen uns zum Hinaufklettern natürlich besonders und sind, wie die Affen, blitzschnell in Position. Es ist aber gar nicht so einfach, in der Geschwindigkeit, mit der das vor sich gehen soll, aus den schon in Gärung befindlichen Kartoffeln noch ein paar essbare herauszuklauben. Unten treten die Polizisten mit ihren Pickelhauben zur „Attacke“ an, um die Leute daran zu hindern, sich an den wahrscheinlich bereits giftigen Erdäpfeln Gesundheit und Leben zu gefährden. Aber dass man es so weit hat kommen lassen, dieses lebenswichtige Nahrungsmittel erst verderben zu lassen, das geht über die Vorstellungskraft der Menschen hier. Vielleicht hat auch hier ein „Kriegsgewinnler“* seine Hand im Spiele gehabt. Ein großes Glück für uns ist, dass Mutter von Zeit zu Zeit bei ihren Verwandten in Mähren ein bissel was erarbeiten und uns so vor der ärgsten Not bewahren kann. Eines Tages kommen Hilfszüge aus Amerika und bringen uns Kindern die berühmte „Amerikanische“*. Da gibt es Kakao, Riesenbuchteln und süße Milch. Man darf aber nichts mit hinausnehmen, muss alles in den Baracken aufessen und wird auch beim Ausgang kontrolliert. Doch hin und wieder kann man ein Stückerl Mehlspeis unter der Schürze versteckt hinausschmuggeln. Dann gibt es auch noch die Wärmestuben, wo man Einbrennsuppe und ein Stück Brot bekommen kann. An manchen „Glückstagen“ ergattert man sogar ein Scherzel*. Im Sommer, wenn das Getreide abgeerntet ist, fahren wir Kinder nach Raasdorf zum Ährenklauben. Weil man barfuß ist, tut das Spazieren auf den scharfen Stoppeln ganz schön weh. Zum Ausgleich kraxeln wir auf die Alleebäume, an denen noch die herrlichen süßen Vogelkirschen hängen. Dazwischen treiben wir uns auf einem der Bauernhöfe herum, springen von der Tenne hinunter ins Heu und fühlen uns 222

ganz wunderbar. Das nachgeerntete Getreide röstet die Mutter für Kaffee. Wenn’s wo ein bissel Weizen gibt, kriegt ihn das Punzerl. Das Punzerl war ein geflügeltes Mitglied unserer Familie, das Mutter aus ihrer mährischen Heimat mitgebracht hatte. Nach Arbeitseinteilung seitens der Mutter musste das Punzerl von uns Kindern bewacht werden, was nicht immer sehr erfreulich war, weil die anderen Kinder zum „Kanters“ (Wiener Neustädter Kanal) baden gehen wollten oder „Eckerlgucken“ spielten. Wir Focke’schen aber waren an die Wiesen gekettet, wo das Prachthuhn weidete und mit stolz geschwelltem Kamm täglich, immer zur gleichen Zeit, den Weg in den zweiten Stock nahm, um sein Ei zu legen und ein paar anerkennende Worte seines Frauerls zu kassieren, wenn dieses zu Hause war. Danach spazierte es seelenruhig wieder die Stiegen hinunter zu neuerlicher Nahrungssuche. Nach dem Mittagessen löste uns die Mutter manchmal ab und bewachte ihren „Liebling“ selbst, inmitten einer Gruppe von gleichfalls stolzen Hendlbesitzerinnen. Einmal hat sich das Punzerl mit seinen Hühnerfreundinnen zu weit auf die andere Straßenseite hinübergewagt, weil dort bei der Planke so besonders saftige Gräser wuchsen – da hat es ein Bierkutscher flink in seine Haferkiste „praktiziert“*. Wir sind ihm aber noch rechtzeitig draufgekommen, und er hat’s wieder herausrücken müssen, allerdings erst nach einer massiven Bedrohung seitens der anwesenden Frauen und unter dem wilden Geschrei von ein paar Dutzend Kindern. Mit dem Punzerl hatte er sich natürlich das fetteste Hendl ausgesucht gehabt, nicht irgendein mageres, blasses Krepierl*. Leider ist das Punzerl eines Tages aus unerfindlichen Gründen von der Bodenstiege aus in die Tiefe gesprungen und hat „sich derfallen“. Wir Kinder hatten dort oben gerade eine „wichtige Versammlung“ und daher das Hendl mit hinaufgenommen, damit es nicht allein auf der Wiese bleiben sollte. 223

Die Sache wurde für mich äußerst schmerzlich, denn die Mutter hat ihren Kummer an mir sehr stark abreagiert. Damals war ich das älteste der noch schulpflichtigen Kinder und daher für alles, was geschah bzw. unterlassen wurde, in erster Linie verantwortlich. Der Loisi und die Lintschi machten mir das Leben sauer mit ihren unberechenbaren Streichen. Die Mutter war fast immer auf Arbeit und ich musste sie zuhaus’ vertreten. (...)

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Elsa Björkman-Goldschmidt ( 1888 – 1982 ) wurde am 16. April 1888 in Linköping in Schweden geboren. Nach Abschluss einer Lehrerinnenausbildung, einem Studium an der Kunsthochschule in Stockholm und einigen Sprachaufenthalten im Ausland schloss sie sich im November 1916 den Aktivitäten ihrer Schulfreundin Elsa Brandström an, die sich im Auftrag des schwedischen Roten Kreuzes für die Verbesserung der Lage deutscher und österreichischer Kriegsgefangener in Russland einsetzte und dafür als „Engel von Sibirien“ Berühmtheit erlangte. Elsa Björkman lernte im Zuge dieses Engagements ihren späteren Ehemann, den Wiener Arzt Waldemar Goldschmidt, kennen. Im September 1919 kam sie nach Wien, um nunmehr Hilfsaktionen der schwedischen Organisation „Rädda Barnen“ (Rettet das Kind) für die notleidende österreichische Bevölkerung zu organisieren. Nach der Heirat im Jahr 1921 verbrachte das Ehepaar BjörkmanGoldschmidt die Zwischenkriegszeit in Wien und flüchtete 1938 gemeinsam vor dem nationalsozialistischen Regime nach Schweden. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und anlässlich der „Ungarnkrise“ im Jahr 1956 kehrte die Autorin weitere Male für humanitäre Hilfsmissionen nach Wien zurück. Im Laufe der 1920er Jahre begann Elsa Björkman-Goldschmidt damit, ihre persönlichen Erfahrungen in Österreich in essayistischer Form zu verarbeiten und in schwedischen Zeitungen zu veröffentlichen. Eine Auswahl von Beiträgen aus ihren zwei auf Schwedisch erschienenen Sammelbänden – „Det var i Wien“ (Es geschah in Wien, 1944) und „Wien vaknar“ (Wien erwacht, 1949) – wurde von Renate Schreiber übersetzt und 2007 unter dem Titel „Es geschah in Wien. Erinnerungen von Elsa Björkman-Goldschmidt“ im 225

Böhlau Verlag herausgegeben. Wir danken der Herausgeberin für die Möglichkeit, den folgenden Textausschnitt wie auch einige historische Fotos aus dem Nachlass von Elsa Björkman-Goldschmidt in diesem Editionsband vorzustellen.

Mitten im Gewühl Die Welt, mit der die ausländischen Hilfsaktionen 1919 in Wien konfrontiert wurden, war allgemeine Auflösung, dumpfe Verzweiflung, Apathie und früher Tod. Wir sahen Kinder mit verunstalteten Gliedmaßen, mit offenen Eiterwunden, Jugendliche mit Lungenentzündung oder hörten von Alten, die man in ihren Zimmern tot auffand – aus allgemeinem Mangel entwich einfach ihr Leben. Neben Sterben und langsamer Verzweiflung blühte jedoch ein intensiver Lebenshunger auf. Ein Schaffensdrang mit ungekannter Kraft entstand aus den Ruinen, eine hektische Betriebsamkeit, und eine ebenso überreizte Vergnügungslust entwickelte sich in der modernden und dumpfen Atmosphäre. (...) Auf den Straßen bettelten Kriegsinvalide, einige davon nicht ganz waschecht. Ein Mann stand mit einem Schild „Kriegsblind“ und stützte sich auf ein niedliches, kleines Mädchen. Er erntete reichlich Geldstücke und Scheine, ein unbestimmtes, schlechtes Gewissen lockte die Valutenstarken an. Ich hatte gerade meinen Tribut niedergelegt, als mir das Mädchen plötzlich bekannt vorkam. Nun erkannte ich auch den Mann wieder. Erst wenige Stunden zuvor hatte er mit scharfem und kritischem Blick die Schuhe geprüft, die er von unserer Verteilung erhalten hatte. Das Mädchen hatte er sich offensichtlich bei dieser Gelegenheit „ausgeborgt“. Es ist immer ärgerlich, betrogen zu werden. Deshalb erkundigte ich mich mit süßsaurer Freundlichkeit bei ihm, ob ich ihn mit unserem Rotkreuzwagen zu einem Arzt begleiten sollte, der seine Augen ansehen könnte. Durch seine schwarzen Brillenglä226

ser schaute er mich an und erfasste blitzschnell die Situation – mit dem Blick einer getroffenen Gazelle zog er sich zurück. Ich brachte das Mädchen nach Hause und hatte nicht den Eindruck, dass ihre Mutter meine Handlungen richtig fand. Erst das versprochene Lebensmittelpaket schien sie umzustimmen. In mir stieg Zorn hoch! Später hörte ich, es sei gegen alle Vorschriften, dass der Mann in unserer Spendenabteilung war – ein Bettler auf der Kärntnerstraße verdiente unter Umständen an einem Tag mehr als ein General als Monatspension erhielt. Darüber hinaus waren Bettler organisiert und kontrollierten untereinander das zur Schau gestellte Unglück. Nach ihren Regeln war es nicht erlaubt, zu einer Hilfsaktion zu gehen. Das sei illoyale Konkurrenz gegenüber den Bettlern aus den „schlechteren“ Straßen. Trotz allem Ärger hatte ich das Gefühl, es wäre eine größere Heldentat, einen jener Schwindler zu überführen, die sich die teuren Hotels leisten konnten. (...) Das schwedische Rote Kreuz und Rädda Barnen setzten sich für ihre Arbeit einige Schwerpunkte: direkte Verteilung von Kleidern und Lebensmitteln; Unterstützung der bereits vorhandenen Häuser wie Lungenheilanstalten, Lehrlingsheime, kirchliche Kinderheime, Ausspeisungen u. a. sowie die Hilfe für bestehende Einrichtungen – zum Beispiel eines Pavillons im Sanatorium für Knochentuberkulose in Grimmenstein. Darüber hinaus wurde die Verteilung von Spenden abgewickelt, die von Verbänden, Vereinen, Berufsvereinigungen, religiösen Gemeinschaften usw. aus Schweden einlangten. Das „Kriegskinderbüro“ arbeitete mit schwedischen und österreichischen Ärzten bei den notwendigen Untersuchungen sowie mit Reiseleitern aus beiden Ländern für die Kindertransporte zusammen. Die erste Verteilungszentrale von Rädda Barnen befand sich in einem Lager in der Gonzagagasse, später übersiedelten wir in die Nähe des Allgemeinen Krankenhauses. 227

Der Mitarbeiterstab von Rädda Barnen in Wien war im Gegensatz zum Roten Kreuz ausgeprägt zivil und vollkommen weiblich. Das lag wahrscheinlich daran, dass unsere Zentrale in Stockholm von einer Frau geführt wurde und ich deren Abgesandte war. Unsere Arbeitsverbindungen mit den Österreichern liefen großteils über das Wohlfahrtswerk der Schwarzwalds*, die katholische Caritas und das sozialdemokratische Wiederaufbauprogramm der Gemeinde Wien. Wir alle waren tief beeindruckt von dem Enthusiasmus, mit dem die Sozialdemokraten in Wien ans Werk gingen. Bis die Bestimmungen für unsere Verteilung eindeutig bekannt waren, wartete vor unserer Eingangstür ständig eine Schlange von Hilfesuchenden. In diesen langen Reihen erzählten viele graue Gesichter mit unnatürlich großen Augen eine eindeutige Geschichte. Wie groß der Lebensmittelmangel wirklich war, erkannten wir an kleinen, alltäglichen Begebenheiten, die für einen kurzen Augenblick die unbarmherzige Wirklichkeit heraufbeschworen. Einmal hielt zum Abladen von schwedischen Waren ein Lastwagen vor unserem Lokal. Unvermutet bekam ein großes Fass mit Sirup durch einen Stoß einen Sprung. Ein dünner Strahl der kostbaren Ware floss auf die Straße. Ich wollte gerade nach einigen Eimern rufen, als sich das Straßenbild mit einem Schlag komplett veränderte. Von allen Seiten stürzten Menschen mit den verschiedensten Gefäßen in den Händen herbei, die Nachricht hatte sich wie ein Blitz verbreitet. Jeder ergriff das nächstbeste Behältnis und drängte sich um den Leben spendenden, goldbraunen Strahl. Eine Dame mit feinen weißen Handschuhen hatte resolut den Zeigefinger in ein Loch ihres Blumentopfes gesteckt, eilig lief sie mit ihrer Beute davon, während der Sirup langsam über ihr Handgelenk herablief. Eine alte Frau kam in höchster Eile mit ihrem Nachtopf mit Goldrand, eine andere zog sich den Schuh aus. Ein kleiner Bursche warf sich mit of228

fenem Mund resolut unter das Auto – immer wieder tropfte etwas hinein, wenn die verschiedenen Leute Platz tauschten. Ziemlich betroffen schauten wir Schweden diesem Naturereignis zu. Der Wienerwald wanderte quasi in die Stadt. Natürlich war es untersagt, sich Brennholz von dort zu holen. Aber wenn man in einer ungeheizten Wohnung entsetzlich friert, fragt man nicht lange nach Verboten. Die Behörden griffen nicht durch, sie konnten stattdessen nichts bieten. Das ganze Holz wurde hereingetragen, gelegentlich sanken die Träger unter der Last wie Christus mit seinem Kreuz zusammen. Manchmal richtete sich das Holz auf und lehnte sich erschöpft an ein Haus, erst dann erkannte man einen Menschen darunter, der sich den Schweiß aus den Augen wischte. Eines Tages traf ich einen ganzen Zug – mit Zweigen, Ästen und Stämmen – von Kindern, Weiblein und alten Männern. Ich fragte mich, ob die Hügel des Wienerwaldes schon gänzlich kahl sein würden, bis der Völkerbund endlich Steinkohle nach Wien schicken würde. Im Kriegskinderbüro kam ein „rotgeblümtes“ Mädchen von der Untersuchung beim Arzt. „Mama, ich bin die große Ausnahme, hat der Arzt gesagt. Ich habe nicht einmal den Schimmer eines Lungenspitzenkatarrhs.“ Im nächsten Augenblick erschrak sie und ihr rundes Kinn wurde ganz blass. „Da kann ich ja vielleicht nicht mit nach Schweden fahren“, rief sie traurig und sah die anderen bleichgesichtigen Kinder an. „Beruhige dich“, flüsterte die Mutter geschäftig, die nicht wusste, ob sie sich in dieser unerwarteten Situation sorgen oder freuen sollte. „Wir werden mit Onkel Anton sprechen, der wird uns schon Protektion verschaffen.“ Dieses Wort besitzt in Österreich einen magischen Klang. Wiener sind ausgeprägte Individualisten, die eine Sonderstellung lieben und über einen extremen Einfallsreichtum verfügen, wenn es darum geht, sich eine „Extrawurst“ zu verschaf229

fen – sei sie auch noch so klein. Eine „Quelle“ zu haben, gibt ein Gefühl von Sicherheit, das einen von der Menge abhebt. In diesen Katastrophenzeiten entwickelte sich dadurch ein Austausch von „Protektion“, die einem Puzzle glich. Der Herr Hofrat verschaffte dem Sohn seiner Putzfrau einen Arbeitsplatz, weil ihr Bruder auf dem Lande lebte und die Familie mit Eiern versorgte. Und der Herr Inspizient des Burgtheaters erhielt ein schönes Stück Fleisch, denn er konnte Theaterkarten verschaffen und die Tochter des Fleischhauers war mit einem theaterbegeisterten Jüngling verlobt, der in der Holzbranche arbeitete. Jede üble Seite hatte auch ihr Gutes. Die Inflation lief wohl deshalb für viele Wiener weniger schmerzhaft ab, weil sie seit Jahrhunderten daran gewöhnt waren, sich Waren auf Umwegen oder durch Tausch zu verschaffen. Die Inflation war fraglos das einschneidendste Ereignis nach dem Krieg und veränderte das Leben der österreichischen Bevölkerung grundlegend. Da gab es den beängstigenden Moment, als das Geld wertlos wurde. Die stützende Mauer fiel plötzlich in sich zusammen, die kleinen Ersparnisse oder die geringe Rente lösten sich buchstäblich in nichts auf. Es konnte passieren, falls man für den Wochenlohn nicht bereits am Samstag eingekauft hatte, dass er am Montag bereits völlig wertlos war. Die Summe, die man sich vielleicht mühsam für den Kauf einer Wohnung oder für das Alter zusammengespart hatte, reichte nun für nicht viel mehr als eine Tageskarte für die Straßenbahn. In kurzer Zeit wurden Wohlhabende in Bettler verwandelt, ohne Rücksicht, wie groß ihr Vermögen davor gewesen sein mag – vorausgesetzt, man hatte es in Geld angelegt. Eine Aktie von Veitscher Magnesit (das größte Magnesitwerk in der Steiermark), die früher zirka 100 Kronen gekostet hatte, stieg in der Inflationszeit auf 14 Millionen. Wer ein Vermögen von zirka zehntausend Kronen hatte, konnte sich nun bestenfalls einen Striezel dafür kaufen. 230

Es erging einem auch nicht besser, wenn man sein Geld in ein Haus gesteckt hatte. Eines der ersten Gesetze, welches die sozialdemokratische Regierung einführte, war ein Mietenstopp – eine reine Notmaßnahme. Diejenigen, die ihr Geld in Häuser investiert hatten, sollten nicht mehr verdienen als jene, die ihr Geld auf der Bank sparten. Das Kapital sollte gleich viel (oder besser: wenig) wert sein. Das hatte unerwartete Folgen. Eine Person, die acht Häuser besaß, kam mit einem behördlichen Bezugsschein wegen Mittellosigkeit in unsere Ausgabestelle. Wir konnten daher nicht verstehen, welch angesehene Personen Hausbesitzer einmal waren. Ich bekam erst eine Ahnung davon, als unsere Wäscherin mit tiefer, würdevoller Stimme von ihrem „vierstöckigen Hausherrn“ sprach. (...) Man sah die Inflation als Folge von allem anderen Elend, das über das Land hereinbrach: Krieg, Niederlage, Hunger und Warenmangel. Die Inflation hatte die Bevölkerung in zwei Teile geteilt: in die Schnelldenkenden und Vorausblickenden sowie in die Langsamen und Bettelarmen. (...) Für unsere Organisation bedeutete die Inflation, dass die Hilfesuchenden allen Gesellschaftsschichten angehörten. Es scheint, als sei es ein leichtes und beneidenswertes Los, mit Händen voll lebenswichtiger Waren vor bedürftigen Menschen zu stehen und sie auszuteilen. Es zeigte sich aber, dass es nicht ganz so leicht war. Es galt, jene zurückzuhalten, die sich allzu stürmisch vordrängten und ihre Not, sowohl echte als auch falsche, in allen Tonarten beklagten. Man musste jene anlocken, die sich ängstlich bemühten, ihr Elend hinter einem dünnen Schleier von Stolz zu verbergen. Man wünschte sich ständig eine Wünschelrute, die bei den wirklich Bedürftigen ausschlägt. Alle Mitglieder der ausländischen Hilfsaktionen wurden von Personen umschwärmt, die sich erboten, mit Rat und Tat zu Diensten zu stehen. Die Richtigen und Tauglichen zu finden, war das A und O der Hilfsorganisationen; ehrliche, 231

höfliche und geschickte Personen, die sich in Zeiten bewähren, wenn alle anderen fliehen. Wenn man dem eigenen Urteil nicht traut – und es ist oft heikel, Menschen zu beurteilen –, ist es am besten, die Arbeit auf mehrere Konkurrenten aufzuteilen. So verhindert man, in die Hände einer bestimmten Clique zu fallen oder von irgendeinem schlauen Ausbeuter ausgenützt zu werden. Man lernte, ständig auf der Hut zu sein, jedem und allen zu misstrauen und gleichzeitig im richtigen Augenblick, diese allzu große Vorsicht wieder fallen zu lassen. Wir mussten bereit sein, notfalls alle vorher aufgestellten und sorgfältig ausgearbeiteten Pläne und Standpunkte umzustoßen. Die Wirklichkeit, mit der wir konfrontiert wurden, sah häufig ganz anders aus. Zwei Grundprinzipien reichten: einerseits die absolute Gerechtigkeit ohne jeden Abstrich und andererseits davon abrücken zu können. Wir saßen also im Richterstuhl und blickten mit strengem Blick auf diejenigen, denen es mit List und Verschlagenheit glückte, eine doppelte Ration zu ergattern. Wir dachten nicht daran, dass alle diese Portionen, die an ihren hungrigen Augen vorbeigingen, sie lehrten, danach zu greifen, sobald irgendetwas Essbares in Reichweite gelangte. Es war vielleicht die einzige Möglichkeit – mit oder ohne Recht –, die Ihren über Wasser zu halten. (...) Eine Gabe anzunehmen, war für viele nicht so leicht, wie wir dachten. Selbst wenn es eine breite Schicht gab, die hier keinerlei Hemmungen hatte, gab es auch andere. Eines Tages kam ein älterer Herr in unsere Verteilungszentrale. Nachdem er sein Paket übernommen hatte, schmuggelte er ein·kleines Holzkistchen in meine Hände. Ich fand darin eine holzgeschnitzte Madonna, nicht groß – sie passte gerade in meine Hand – , wie sie die Herrgottsschnitzer in Tirol herstellen. Sie war alt und die Farbe abgenützt, sie war von einer sehr geschickten Hand angefertigt worden. 232

Abb. 15: Elsa Björkman bei der Verteilung von Lebensmitteln in Wien (um 1920)

„Nehmen Sie das“, sagte der Justizrat mit einem verschmitzten, aber auch wehmütigen Lächeln, „es ist eine Wunder bringende Madonna. Wenn Sie diese jetzt annehmen“, setzte er fort, als er mein Zweifeln sah, „verhindern Sie, dass ein stolzer alter Herr zum Bettler wird. Denn ich gebe ein königliches Geschenk!“ Sagte er – und schleppte Fett, Grütze, Fleischkonserven und ein paar neue, warme Unterhosen fort. Die Madonna hatte wirklich ein Wunder vollbracht, sie hatte seine Situation gebessert und eine schwedische Helferin in seine Schuldnerin verwandelt. Lange stand die Madonna in unserem Kontor und hielt ihre schützende Hand über uns. Sooft ich sie ansah, erinnerte ich mich an dieses Erlebnis. Natürlich gab es auch das „Vergelt’s Gott“, das leicht über die Lippen kam. Je größer die Wünsche waren, desto höher wurde man im sozialen Rang eingestuft. Baronin, Gräfin, Exzellenz waren die Titel, die unsere Ohren umschmeicheln 233

sollten. Wir verwendeten die schwedische Bezeichnung „Rädda Barnen“ mit dem deutschen Untertitel „Rettet die Kinder“. Als Folge erhielt ich immer wieder Briefe mit den verschiedensten Anreden, darunter fand sich häufig: „An Frau Baronin Rädda von Barnen“. Die Wiener waren jedoch nicht servil oder fühlten sich durch die internationale Hilfe gedemütigt. Mit einem unbewussten Selbstvertrauen führten sie ständig das „Mia san mia“ mit sich. Wir sind Wiener und das ist etwas Besonderes. Das Lied „Es gibt nur eine Kaiserstadt, es gibt nur ein Wien“ hing noch immer in der Luft. Wenn sich diese Platte abgenützt hatte oder allzu falsch klang, gab es noch eine andere Melodie: „Der Wiener geht nicht unter“. Das war zwar ein billiger Glanz, verhinderte aber das Absinken in ein Minderwertigkeitsgefühl. Im Großen und Ganzen zeigte die Wiener Bevölkerung – vor allem die einfachere – eine natürliche und fast graziöse Fähigkeit, sich über die erhaltenen Gaben ohne Bitterkeit zu freuen. Ein gewisser zerschlissener Stolz, der aus der alten Kultur entsprang. Ein kleines Bild sehe ich hier vor mir: Es war bei der Verteilung von Säuglingswäsche für werdende Mütter. Obwohl wir alles vorhandene Personal aufgeboten hatten, war der Zustrom derart groß, dass sie eine Schlange bilden mussten. Die am schwersten trugen, alle im neunten Monat, sollten zuerst an die Reihe kommen. Händeringend drängte sich eine der Wartenden vor und rief: „Ich bin die erste, Frau Baronin, ich bin im zehnten Monat schwanger.“ Bevor wir unsere Arbeit begannen, überlegten wir, welche Art der Verteilung für die Empfänger leichter anzunehmen und weniger erniedrigend war. Wir entschlossen uns, dies so unpersönlich wie möglich zu handhaben. Jeder, der sich nach unseren Untersuchungen und Recherchen als bedürftig erwies, sollte ein Papier erhalten, das den Berechtigten – ohne nochmalige Erklärungen über seine Hilfsbedürftigkeit – zum 234

Bezug der angeführten Waren bevollmächtigte. So etwas wie eine Art Geschenkkarte sollte zweifellos die erträglichste Lösung für die Empfänger sein. Das war ein großer Irrtum. Die Wiener wollen über ihre Probleme sprechen. Sie lieben es, all das Unfassbare, das ihnen geschehen ist, ausführlich auszubreiten. Vor allem jemandem, der dies alles nicht erlebt hatte und ihrer Meinung nach aus der sagenhaft guten Vorkriegszeit stammte. Offensichtlich war es für viele gleichermaßen hilfreich, das Herz auszuschütten wie die materielle Hilfe zu empfangen.

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Szenen des Aufbruchs

Anton Hanausek ( 1898 – 1984 ) (Näheres zum Autor und zum Originalmanuskript siehe S. 45)

Ohne Marken Seit Ende November 1918 arbeitete ich wieder bei der Elektrofirma Promper & Ferner in Margareten, jener Firma, bei der ich einst ausgelernt hatte. Das Leben war sehr hart, da man nichts ohne Marken bekam, oft genug auch trotz solcher nicht. Nicht eingelöste Marken allerdings verfielen. Meinen Markenanteil ließ ich bei Mutter, die ja für unser leibliches Wohl, so gut es eben ging, sorgte. Und dies war wahrlich schwer. Fast kein Fleisch, kein Fett und wenn, dann waren es pro Woche wenige Gramm des gelblichen, übel riechenden „Wilson-Specks“*. Semmeln oder sonstiges Gebäck kannten wir seit Jahren nicht und Brot gab es nur minderwertiges und wenig. Es blühte der Schleichhandel mit allem, allerdings nur für jene, die irgendwelche Sachwerte, am besten Gold und Schmuck, zu bieten hatten. Auf Bargeld war niemand neugierig. Da im Gasthaus, beim Greißler oder Selcher Fleisch-, Fettund Brotmarken abverlangt wurden nahm ich mein Essen im sogenannten Taxameter* mit zur Arbeit, und dies einige Jahre hindurch. Jedoch an einem Abend im Frühling des Jahres 1920 merkte ich erstmals, dass es endlich besser wurde. Am Heimweg von der Arbeit kam ich in Nähe der Stadtbahnstation Gumpendorfer Straße am einem Selcher vorbei, in dessen Auslage ein mit reinem Schweineschmalz gefüllter 239

Weitling* stand. In ihm steckte ein Kärtchen mit dem mich faszinierenden Bemerken „Ohne Marken“. Unfassbar, dass endlich unser aller Traum in Erfüllung ging. Nach nun sechs Jahren war ein solch hochwertiges Nahrungsmittel wieder frei zu kaufen. Ich betrat natürlich sofort den Selcherladen und kaufte mir zehn Deka* von diesem Schmalz. Was es kostete, weiß ich nicht mehr, wohl aber, dass ich maßlos glücklich darüber war. Mit dem in weißem Papier eingehüllten Schweineschmalz setzte ich mich auf eine der hier stehenden Bänke und verzehrte das Schmalz ohne Brot und ohne Salz. Ich fühlte wie mein völlig entfetteter Körper das Schmalz gierig aufnahm, genau so wie ein neues Löschpapier den dicken Tintenpatzen. Dies war der Anfang der Besserung, und es dauerte nicht mehr lange, bis das Brot nach und nach seine dominierende Stellung verlor. So wie mir ging es Millionen von Menschen, die alle einig waren in dem Rufe: „Nie wieder Krieg!“

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Marie Toth ( 1904 – 2006 ) (Näheres zur Autorin und zur Herkunft des Beitrags siehe S. 199)

Nach einem kurzen, ernüchternden Versuch, als Dienstmädchen in einem Wiener Kaffeehaus ein zufriedenstellendes Auskommen zu finden, entschloss sich die Autorin im Sommer 1919 doch für die körperlich anstrengende Arbeit im Ziegelwerk in Leobersdorf.

„Als ich 1921 im Konsum anfing …“ (...) Die Arbeit [im Ziegelwerk] war schwer, ich war sehr müde, aber nach der Arbeit musste ich nichts tun und konnte früh ins Bett gehen. Die Arbeit in der frischen Luft tat mir gut. Das Essen war sehr knapp, aber wenn es sonst nichts gab: eine Knoblauchsuppe mit ein paar Kräutern vom Wald war schon etwas. Wir haben dann gehört, in Wien-Favoriten am „Böhmischen Markt“ gibt es etwas Brot ohne Marken. Da gab’s schon die 48-Stundenwoche, Samstagnachmittag wurde nicht mehr gearbeitet. Ich war sechzehn Jahre, Anna dreiundzwanzig vorbei. Wir fuhren mitsammen nach Favoriten auf den Markt. Wir sprachen beide gut Tschechisch. Wenn man die Quellen wusste, hat man in Wien mehr bekommen als hier auf dem Land. Ich verdiente auch schon etwas. Jugendliche bekamen nicht viel, aber ich freute mich. Damals wurde noch alles daheim abgegeben, da gab’s noch kein Sonntagsgeld*. Jetzt fuhr ich jeden Samstagnachmittag nach Favoriten. Die Standlerinnen kannten mich schon; ich bekam fünf oder sechs 241

Kilogramm Brot zusammen, gutes Brot, Gemüse, Rüben, was es eben fallweise gab. Da ging es schon besser. Sacharin gab es im Schleich. Sonst war alles noch auf Karten. Ährenklauben und Kartoffelsuchen mussten wir noch immer. 1921. Ich wurde im März siebzehn Jahre alt, musste auch schon schwerere Arbeiten machen. Ich wurde muskulöser. Mager war ich immer, aber mir machte jede Arbeit Freude, und ich war immer in Bewegung; nur füllte mich die Arbeit nicht ganz aus. Ich fing da schon an, für mich Kleider zu nähen aus alten Sachen von Mutter und Anna. Ich wollte auch schon schön angezogen sein, nach damaligen Begriffen. Nach dem Krieg wurden die Sozialistische Partei und die Gewerkschaft gegründet. Mich interessierte alles. Ich kam zum Turnverein. Da fühlte ich mich so richtig wohl. In kurzer Zeit hatte ich so viel gelernt, hatte viele Bekannte und Freunde, und es war lustig. Wir machten Ausflüge: Merkenstein, Peilstein, Hohe Wand; aber alles zu Fuß und meist nur trockenes Brot mit – aber es war schön. In kurzer Zeit hatte ich alle Mädchen vom Ziegelwerk beim Turnverein. Zweimal in der Woche gingen wir abends in die Turnhalle. Herr Steschütz Anton, ebenfalls Mitglied im Turnverein, war im Konsum Leiter einer Filiale. Er fragte mich einmal, ob ich als Verkäuferin im Konsum arbeiten möchte. Nichts lieber als das. Mein Wunsch war immer: Weg vom Ziegelwerk, es war ja doch nur eine minderwertige Arbeit. Aber es gab keine Auswahl. (...) Bis nach dem Krieg mussten alle Kinder der Ziegelarbeiter am Ziegelwerk arbeiten. Die Ziegelwerksbesitzer wollten es nicht, dass die Jungen etwas lernten oder woanders arbeiteten. Obwohl die Menschen hart und fleißig arbeiten mussten, wurden sie immer als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Die Wohnung und das Brennmaterial waren frei. Wenn jemand von den Jungen woanders arbeiten wollte, war die Kündigung sicher, außer man war kränklich oder 242

zu schwach. Zu dieser Zeit war die Wohnungsnot so groß; es war nicht möglich, ein Loch zu bekommen. Es lebten zu dieser Zeit Eltern mit verheirateten Kindern, die selbst schon wieder mehrere Kinder hatten, in Zimmer und Küche. Die meisten Wohnungen damals hatten noch Steinmauern und waren sehr nass, die Menschen wurden krank. Die Wohnungen am Ziegelwerk hatten schon Ziegelmauern und waren trocken. Im November 1921 sagte Herr Steschütz, ich soll mich beim Herrn Direktor Menzl im Konsum vorstellen. Ich war noch nicht achtzehn Jahre und wurde aufgenommen: Am Montag kann ich in der Filiale bei Herrn Steschütz anfangen. Herr Teply war seit der Gründung des Ziegelwerkes Platzmeister dort und seit Vaters Tod unser Vormund. Bei ihm habe ich am Sonntag gekündigt; er nahm die Kündigung nicht an. Er sagte: „Du musst mit Herrn Polsterer reden“, und ich sagte: „Das kann ich nicht, morgen fange ich im ‚Konsum’ an.“ Mutter musste dann einen Rüffel einstecken. Es waren aber noch Anna und Ludwig da. Im Winter wurden öfter mehrere abgebaut, weil nicht so viel Arbeit war. Da gab es aber schon Arbeitslosengeld. Anna wurde auch abgebaut. Im Frühjahr war allen die Arbeit ganz sicher; er brauchte sie alle. Anna nutzte die Gelegenheit und suchte sich woanders Arbeit. Seit ich weg war, spielte sie immer mit dem Gedanken, sich woanders leichtere Arbeit zu suchen. Und sie bekam eine in der Hirtenberger Patronenfabrik. Nur erzeugten sie keine Patronen mehr, sondern Schlösser, verschiedene Schlösser und Schlüssel. Sie war geschickt, war dann so eine Art Vorarbeiterin, es gefiel ihr sehr. Herr Polsterer konnte nichts machen; sie war arbeitslos, und es hätte sich die Gewerkschaft eingeschaltet, und das hatten die Herren nicht gern. Es ging so einige Monate gut. Wir verdienten alle. Als ich 1921 im Konsum anfing, war es mit den Lebensmitteln wohl 243

Abb. 16: Marie Toth (2. von rechts) mit anderen Angestellten im Geschäft des Konsumvereins in Leobersdorf (1924)

besser, aber noch immer zu wenig. Wir züchteten immer Hasen und Hühner, und manchmal bekamen wir im Konsum etwas Mehl, Zucker, Grieß – was es eben gab – als Zubuße um den normalen Preis. Nach den großen Hungerzeiten sind wir uns schon reich vorgekommen. Meine Arbeitszeit im Konsum war von sieben bis zwölf und von vier bis sieben Uhr abends, auch Samstag, da wurde es oft neun Uhr abends. Herr Steschütz war ein sehr aktiver Parteimann der Sozialistischen Partei. Er gründete mehrere Vereine, wo er auch aktiv als Funktionär tätig war. Wir verstanden uns gut. Ich interessierte mich für alles und war auch in fast allen Vereinen tätig. Doch meine liebste Freizeitbeschäftigung waren Turnen und Leichtathletik. Ich war Funktionärin bei der Jugend, war beim Gesangsverein, hab’ „schuhplattelt“, habe Theater gespielt – vor zehn Uhr abends kam ich nie heim. Ich habe Mutter alles erzählt, ich hatte solche Freude mit diesem Leben. Ich musste immer üben und lernen, mir war nichts zu viel. Sonntags hatten wir in anderen Orten oder auch hier Kurse im Tur244

nen oder machten einen Ausflug. Es war eine Freundschaft und Geselligkeit – Langeweile kannte ich nicht. Bevor das Arbeiterheim gebaut wurde, waren alle Vereine im Gasthaus Madl an der Hirtenberger Straße, nahe der Maschinenfabrik. Es war viel zu klein, obwohl ein Saal mit einer Bühne vorhanden war. Als dann das Arbeiterheim gebaut wurde, hat der ganze Bezirk mitfinanziert. Es war Mittelpunkt des politischen Bezirkes Baden. Hier wurden alle großen Konferenzen des Bezirks abgehalten.

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Karolina Weiss ( 1893 – 1982 ) hatte am 30. September 1920 in München eine Tochter geboren und wenige Tage später, noch in der Münchner Frauenklinik, den Vater des Kindes geheiratet, der dafür mit einem Tagesvisum aus Salzburg angereist war. Mitte Dezember 1920 begab sie sich mit dem Säugling für einen Abschiedsbesuch zu ihren Eltern in die Obersteiermark, denn über Vermittlung ihrer Münchner Dienstgeberin stand eine Aufenthaltsgenehmigung in Holland in Aussicht. (Näheres zur Autorin und zum Originalmanuskript siehe S. 52)

„Auch der Mut will gelernt sein!“ Wenn ich verhindern will, dass auch mein Kind verhungert, so wie tausend andere … Ich habe Zwillinge gesehen, die meiner Nachbarin, sie sind neun Monate alt. Wenn man sie ansieht, gruselt einem der ganze Jammer dieser Nachkriegszeit und ihrer ganzen Gemeinheit eiskalt über den Rücken: zwei Totenköpfe auf einem dürren Hals, um den viel zu weit die Haut hängt; große Bäuche, darüber Rippen, die man zählen kann; Arme und Beine, deren Knochen nur die Haut bedeckt. In ununterbrochenem Gewimmer stöhnen sie sich endlos langsam aus dem Leben. Wenn ich das an meinem eigenen Kind verhindern will, dann muss ich alle meine schönen Dinge verkaufen, um für das Geld im Schleichhandel kondensierte Milch und andere Dinge zu erwerben. Alle Geschenke, die ich durch die Jahre erhalten habe, wurden in einen Koffer gepackt. Damit bin ich in die Stadt gefahren – die dafür eingehandelten Lebensmittel habe ich gleich mitgebracht. 246

Zu Hause arbeiten alle, der Vater, die Schwester, die Brüder – aber alles Mühen ist vergeblich. Zehner, Hunderter, Tausender – bald rechnen wir in Millionen … Die Bauern streiken, sie liefern keine Milch mehr, weil das Bier im Preis höher steht als die Milch. Die Säuglinge und die alten Menschen sterben wie die Fliegen. Man begräbt sie haufenweise – und immer ist es ein Esser weniger. Ich habe Tag um Tag auf einen Brief aus Holland gewartet, und jetzt ist er da, dieser Brief. Durch die Vermittlung von Sonjas Gatten konnte ich nach Holland reisen. Ich war eingeladen und das Weitere würde sich finden. (...) Schließlich kam der Tag des Scheidens. Es war ein herzbrechender Tag. Ein drei Monate altes Kind zurücklassen – es war die allerschwerste Stunde meines ganzen Lebens. Am 1. Jänner 1921 habe ich alle verlassen. Es war ein kalter Wintertag – fünf Uhr morgens – ein Herz wie Stein, der Hals zugewachsen, im Bett das Kind – Vater, Mutter und Geschwister mit abschiedswehen Augen. Hart war es, bitter hart. Mutter hat mir schweigend ein Kreuz gemacht – ich habe sie nie wieder gesehen. Vater stand wortlos. Franzi weinte im anderen Zimmer. Ich habe sie ebenfalls nicht wieder gesehen – nicht den Vater, nicht die Schwester. Ich hatte wohl öfter Abschied genommen von den Meinen, aber wir schienen in dieser Stunde alle geahnt zu haben, dass es kein Wiedersehen mehr gab. Ich dachte, für einige Jahre wegzugehen, zwei bis drei Jahre – aber es sind ihrer volle achtzehn geworden, und so lange konnten sie nicht warten. Mutter war damals 56 Jahre alt, Vater 57, Franzi 23. In einem Moment, wo alle aus dem Zimmer waren, habe ich meine Handtasche gepackt, noch einen letzten Blick nach dem Kind, und dann bin ich aus dem Hause weggerannt, ohne auch nur einem Lebewohl zu sagen. Was werden sie geweint haben … (...) 247

Die Zähne schlugen mir beinahe hörbar aufeinander vor innerlichem Weh und äußerlicher Kälte, als ich den Weg zum Bahnhof ging. Um fünf Uhr fuhr mein Zug, es war halb fünf. Mein großer Reisekorb stand auf der Waage, neben dem Korb stand ein Bruder von mir, denn er hatte ihn zum Bahnhof gefahren. Ich stand allein am Schalter und sah auf den Bruder Abb. 17: Karolina Weiss mit Tochhin. Der aber zog den Hut ter Michaela in Amsterdam (1922) tief in sein Gesicht, ich sah das Zucken seiner Schultern im Vorübergehen. Dann schlug eine Tür zu – und wurde zwanzig Jahre lang von mir nicht mehr geöffnet. Ich habe die Karte gelöst, den Korb aufgegeben und bestieg den Zug. Schaute ein letztes Mal nach dem Hause, und dann habe ich laut losgeweint – sehr lange. Auch der Mut will gelernt sein. (...) Es gab in Salzburg noch einige flüchtige Stunden des Wiedersehens – und zugleich Abschiednehmens – mit Michael. Dann war auch das vorbei, und ich musste meine Gedanken nur mehr voraus und in die Zukunft richten, denn Michael würde ja nachkommen – ich ging nur als Wegbereiter voran … Meine Reise nach Holland musste ich zum größten Teil stehend zurücklegen, so überfüllt waren die Züge; alles schien vor der Not der Heimat zu flüchten. Dabei waren die Grenzen noch strenge geschlossen – aber es gab immer wieder Maschen, durch die einer schlüpfen konnte. 248

Annemarie Fossel ( 1905 – 2003 ) wurde am 11. März 1905 in Graz geboren, wo sie in einer liberalen bürgerlichen Familie mit zwei jüngeren Brüdern den Großteil ihrer Kindheit und Schulzeit verbrachte und 1924 die Matura ablegte. Ihr Vater war Vizepräsident des Landesgerichts in Graz, aufgrund von Vermögensverlusten durch Kriegsanleihen war die materielle Situation der Familie in den Nachkriegsjahren jedoch eher prekär. Deshalb konnte Annemarie Fossel 1920 gemeinsam mit vielen ärmeren Kindern einen Erholungsaufenthalt in Schweden antreten. Die hier wiedergegebene Erzählung über diese Monate ist einem autobiographischen Manuskript entnommen, das Mitte der 1980er Jahre entstand und insgesamt 111 maschinschriftliche Seiten umfasst. Annemarie Fossels weitere Laufbahn ist facettenreich: Nach einem Abiturientenkurs an der Lehrerbildungsanstalt war sie vorwiegend als Haupt- und Volksschullehrerin in der Obersteiermark tätig. Daneben erlangte Sie 1932 ein Doktorat der Rechtswissenschaften, studierte mehrere Semester Biologie und publizierte Bücher über die Welt der Pflanzen und der Bienen. Ab 1936 war sie in der Bundesjugendführung der Vaterländischen Front, danach als Fürsorgerin und für ein landwirtschaftliches Forschungsinstitut tätig, bevor sie sich 1947 als Lehrerin im Ennstal niederließ und sich in späteren Jahren vor allem der Imkerei widmete.

„Dass Menschen und Völker so verschieden sein können!“ Im Frühjahr 1920 kamen wohltätige Kinderaustauschaktionen in Gang. Ich durfte am 1. März nach Schweden fahren, mit den besten Sachen und schrecklich vielen Ermahnungen im Gepäck. 249

Wenn ich heute an die Abreise zurückdenke, so sehe ich die großen Unterschiede der Erwachsenen. Großmutter versicherte mich ihrer Liebe und sagte, ich solle das Zuhause nicht vergessen und der Heimat Ehre machen. Vater klärte mich auf und trug mir auf, auf meine Gesundheit zu achten und den Namen Fossel zu ehren. Ich war schon 15 Jahre alt aber noch unterentwickelt und bereit, alle guten Ratschläge nach Tunlichkeit zu befolgen. Mutter war sehr bestrebt, dass ich einen guten Eindruck machen sollte. Sie gab mir die besten Kleider mit, ihre Taschenuhr, ein goldenes Kettchen, ein seidenes Tüchlein ihres Vaters und ein ledernes Gedichtbändchen mit den Fabeln von La Fontaine. Sie überschüttete mich mit Benimmregeln, gab mir jede Menge von Ratschlägen, wie man grüßt, dankt, isst, geht, redet, hustet und niest. Es war eine Erlösung, als der Tag der Abreise anbrach! Aber gerade da wurde ich zum ersten Mal unwohl, heftige Krämpfe und starke Blutungen überfielen mich und die unbändige Reiselust war ganz erloschen. Es war die Mutter, die nicht nachgab: „Du bist nicht krank, es geht allen Frauen so, reiß dich zusammen“, sagte sie streng. Der Transport sollte in Wien zusammengestellt werden, und so fuhr ich mit Mutter zunächst nach Wien. Wir übernachteten bei Tante Mimi Förster in der Bäckerstraße 6. Cousine Lili war inzwischen verheiratet und erwartete ein Kind. Vetter Otto, der den Fuß verloren hatte, und Vetter Heinrich waren arbeitslos und suchten wieder Anschluss an ein Zivilleben. Das gab viel Gesprächsstoff und meine Probleme gingen unter. Am nächsten Morgen um sieben Uhr früh ging die Reise endlich los. Obwohl es erst der 2. März war, war es in Wien schon Frühling, die Bäume waren grün, das Gras hoch und voller Veilchen. Am Bahnhof war ein toller Wirbel von Eltern und Kindern. Wir bekamen eine Tafel mit Namen und Adres250

se der Pflegeeltern umgehängt und Mutter notierte sich diese. Beim Einsteigen traf ich mit fünf Mädchen aus meiner Schulklasse in Graz zusammen, und so wurde es eine lustige Fahrt. Wir waren zwei Tage unterwegs, schliefen sitzend im Zug und bekamen nur spärlich zu essen. Einmal wurde unser Menagegeschirr mit Kakao gefüllt, welche Freude! Leider war er kalt und geschmacklos und knirschte zwischen den Zähnen. Ich ließ ihn stehen, und als ich wieder nach der Schüssel griff, stand obenauf trübes Wasser und unten war ein rötlicher Satz, der sah genau wie grober Ziegelstaub aus. Es müssen gemahlene Kakaoschalen gewesen sein! Am Nachmittag des zweiten Tages kamen wir in Sassnitz auf der Insel Rügen an und unser Zug fuhr in den Bauch eines riesigen Schiffes, in dem drei lange Eisenbahnzüge nebeneinander Platz hatten. „Alles aussteigen“, hieß es, „im Speisesaal des Schiffes gibt es zu essen!“ Bald herrschte ein fürchterliches Gedränge, denn in dem Zug waren 500 Kinder aus Österreich und Deutschland. Nach langem Warten mit unseren Menagegeschirren und Löffeln machten wir ein lautes Klapperkonzert. Viele Kinder, die ihr Essen schon bekommen hatten, schimpften und schmollten, denn es gab Fischsuppe, und die schmeckte ihnen nicht. Mir schmeckte sie sehr gut und ich aß die ganze Portion gierig auf. Dann ging ich mit meinen Schulkameradinnen hinauf aufs Deck und sah gespannt zu, wie der große Dampfer vom Festland ablegte. Die Überfahrt dauerte etwa vier Stunden, dann kamen wir in Trelleborg in Schweden an und es ging sofort weiter nach Stockholm, wo es schon dunkel war, als der Zug hielt. Wir stiegen aus und wurden angewiesen, unser Gepäck am Bahnhof stehen zu lassen und uns in der Wartehalle in Reihen aufzustellen. „In Schweden wird nichts gestohlen!“, versicherte man uns. Man könne alles auf offener Straße abstellen, aber wir 251

hatten kein gutes Gefühl. Es war eine große Zumutung für uns verschreckte, müde Kinder, doch was sollten wir machen? In der Halle warteten die neuen Pflegeeltern. Name um Name wurde aufgerufen. Unsere umgehängten Zettel wurden von Frauen jeden Alters inspiziert. Es wurden immer weniger Kinder, und ich konnte mich vor Schlaf und Müdigkeit schon fast nicht mehr auf den Beinen halten. Schließlich blieb ich mit etwa zwei Dutzend Kindern übrig. Wir mussten in einen Bus einsteigen und wurden in ein Kinderheim gebracht, wo wir uns in kleinen Kinderbetten schlafen legen durften. Viele kleine Kinder weinten sich in den Schlaf, aber ich war die Älteste, wollte sie trösten und machte mir große Sorgen, bevor ich einschlief. Am nächsten Tag wurden fast alle Kinder abgeholt, und mir wurde berichtet, dass es eine Verwechslung gegeben hätte. Meine in Aussicht genommenen Pflegeeltern hätten einen Buben erwartet, denn sie hätten drei Buben und keinen Platz für ein Mädchen. Im Laufe des Vormittags erschien dann eine streng dreinschauende Frau, die mich mitnahm. Sie hieß Mary Heimberger, war Turnlehrerin und wohnte mit ihrer Schwester, die auch Lehrerin war, und ihrer alten Mutter in einem Zinshaus in der Südstadt. Ich ging erwartungsvoll mit und kam in eine enge Dreizimmerwohnung. In Tante Marys Zimmer (so sollte ich sie nennen, sie war 40 bis 50 Jahre alt) wurde ein Klappbett für mich aufgestellt. Im anderen Schlafzimmer schlief Tante Ellen mit ihrer Mutter, im Speise- und Wohnraum war es eng. Außer einem Esstisch und einer Kredenz war nicht viel Platz. Ich durfte gleich den Eltern schreiben, und dieser Brief war sicher nicht sehr begeistert, aber ich gewöhnte mich bald ein, denn alle Damen waren sehr liebevoll und nett. Es war aber nicht zu übersehen, dass sie mir ein Opfer brachten und ich 252

in ihrem bescheidenen Leben wie ein Kuckucksjunges wirkte. Sie hatten sich offenbar unter einem Kriegskind ein armseliges, verhungertes kleines Wesen vorgestellt, das man nur liebzuhaben und zu füttern brauchte. Ich aber wollte etwas tun, etwas sehen, etwas erleben, wollte Bücher zum Lesen, eine Handarbeit usw. Ich vermisste die Geschwister, den Garten und die gewohnten Gespräche bei Tisch. Wenn man nichts versteht, kann man nur stumm dasitzen. Tante Mary nahm mich mit in die Schule und dort, in einem Mädchengymnasium, machte ich vier bis sechs Turnstunden am Tag mit. Ich kannte die schwedischen Turngeräte ja von unseren privaten Turnstunden in Graz, zeigte voll Ehrgeiz meine Künste, aber sie erwiesen sich als äußerst bescheiden oder besser gesagt, als völlig unzureichend! In Leichtathletik war ich ein Neuling und eine Niete. Ich konnte weder auf den Händen gehen, nur zur Not kopfstehen, noch konnte ich Rad schlagen, weit oder hoch genug springen. Nach viel Hin und Her wurde von Heimbergers beschlossen, mir einen Wintermantel zu kaufen, denn in Stockholm war es noch winterlich kalt. Das Stück, das in einem großen Geschäftshaus für mich ausgesucht wurde, gefiel mir ganz und gar nicht, aber ich erhob keine Einwände und bedankte mich artig. Auch ein Hut wurde gekauft, eine Art Kappe – na ja, meinetwegen! Inzwischen hatten die Eltern alles in Bewegung gesetzt, mir einen anderen Pflegeplatz zu beschaffen. Ich wurde probeweise zur Jause in eine Richterfamilie (Kammerrechtsrat Östberg) eingeladen und sollte dann in den Sommerferien mit dieser Familie aufs Land ziehen. In der Stadtwohnung sei leider kein Platz frei. Tatsächlich sind die Wohnungen in Stockholm sehr klein. Auch bei Östbergs war für drei Töchter und zwei Söhne und die Eltern nur eine Vierzimmerwohnung vorhanden. Bei Tag wurden aus den Zimmern der Kinder, die schon fast erwach253

sen waren, Wohnräume gemacht. Die Betten wurden zusammengeklappt, wurden ein Diwan oder ein Schrank. Das fand ich praktisch, aber mühsam, und es funktioniert nur, wenn niemand krank ist. Unsere Eduard-Richter-Gassenwohnung mit sieben Zimmern, Großmutters Wohnung mit elf Zimmern, darunter Säle mit sieben bis acht Metern Länge, erschienen mir nun wie verlorene Paläste, aber es hieß, still zu sein, keine Enttäuschung zu zeigen, denn das wäre einem Kriegskind schlecht angestanden. Es war ohnehin schon ungehörig, dass man Schi- und Radfahren konnte, dass man französisch und englisch sprechen konnte und nach jedem verfügbaren Lesestoff griff. (...) An ein peinliches Erlebnis kann ich mich besonders erinnern. Ich zupfte ein Fliederblatt von einem Busch in einem Vorgarten und wollte damit „knallen“, denn zum Begräbnis der Kronprinzessin wurde gerade mit Böllern und Kanonen geschossen. Die Kai- und Hafenanlagen waren voller Kriegsschiffe fremder Nationen. Kaum hatte ich das Blatt abgezupft, legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter und eine tiefe Männerstimme sagte: „Aber, aber, das darf man doch nicht machen! Stell dir vor, was wäre, wenn jeder, der hier vorbeigeht, ein Blatt abzupfen würde! Das ist Baumfrevel und Diebstahl, schäm dich!“ Ich schämte mich entsetzlich und erkannte plötzlich, dass es keine fließenden Grenzen zwischen Ehrlichkeit und Unrecht gibt. Nur bei diesen ganz strengen Regeln konnte es in einem Land wie Schweden keinen Diebstahl geben. Die Unterschiede zwischen da und zu Hause waren unübersehbar und oft ganz überraschend. Ich hatte kein Heimweh, musste aber dauernd Vergleiche anstellen. Es war erstaunlich, zu sehen, dass man so oder so denken, urteilen, leben, essen, handeln und empfinden konnte. Dass Menschen und Völker so verschieden sein können! 254

Da war zum Beispiel das Essen. Gut, es gab hier andere Speisen, oder sie waren ganz anders zubereitet – bitte! Ich war dazu erzogen, alles brav zu essen, also auch saure Milch mit Ingwer oder Schinken mit Zuckerkruste. Kirschensuppe und Hafergrütze kannte ich schon von Tante Steffi in Hamburg. Nicht genug wundern konnte ich mich aber über die Bedeutung, die bei Heimbergers das Essen hatte. Bei Tisch wurde nur vom Essen gesprochen, ob es gut, schmackhaft, richtig gewürzt, weich oder zu weich, zu warm, zu dünn usw. geraten sei. Da wurde abgelehnt, weggeschoben, kritisiert, was die alte Mutter mit Liebe gekocht hatte, und von jeder Semmel, jedem Brot, Fleisch oder Gemüse ein Aufhebens gemacht – unverständlich! Ob die Semmeln bei dem oder bei dem Bäcker besser sind, hätten wir doch in den besten Friedenszeiten nicht überlegt! Eine ganze Portion Schinkenfleckerl in den Mistkübel zu werfen, weil sie etwas zu stark gesalzen sind, wäre niemandem eingefallen! Dabei war die Familie sparsam bis zum Geiz. Niemand fuhr auch beim ärgsten Sauwetter mit der Straßenbahn. Mutters strenge Anstandsregeln bei Tisch hatten hier keinen Wert. Es wurde genüsslich gemanscht, geschlürft und gelümmelt und ei, sieh da, es wirkte abstoßend! Wenn ich auch so ein „Schweinchen“ gewesen wäre, hätte es mir bei Tisch sicher besser geschmeckt, leider! Es war kein Vorteil, zu vornehm erzogen worden zu sein, fand ich, und erinnerte mich, dass mir beim Bauern in Oberzeiring niemals ein schlechtes Benehmen bei Tisch aufgefallen war. Dort beim Bauern in Oberzeiring schleckte man nach dem Essen sein Besteck ab und verstaute es in dafür eigens angebrachten Schlaufen unter der Tischplatte. Jeder hatte sein eigenes Besteck, aber man schlürfte und manschte und kleckerte nicht. Bücher gab es bei Heimbergers keine, aber ich bekam ein feines Garn, um mir ein paar Strümpfe zu stricken. Scharf kri255

tisiert wurde, dass ich Gummibandeln ober den Knien trug, um die Strümpfe zu halten. Ich bekam einen strickartigen Strumpfbandgürtel, der sehr praktisch war, wenn man sich daran gewöhnt hatte. Ich trage bis heute solche Gürtel, die absolut nicht beengen. (...) Alle Wochen kam ein Brief von zu Hause und jeden Montag schrieb ich zurück. Ich schrieb ausführlich, verfasste fast jeden Tag einen Bericht, so dass ein dickes, tagebuchartiges Schreiben nach Hause ging, aber das, was ich mir dachte, schrieb ich nie, nur solche Ereignisse, die lustig oder von allgemeinem Interesse waren. Ich hätte für Vater, Mutter, Großmutter oder Geschwister besondere Schreiben verfassen müssen, aber ich nahm an, dass jeder alles lesen würde, und so entstand ein Bericht von einem „braven“ Kind, das ich durchaus nicht war oder nicht mehr war, denn in der Fremde lernte ich, mit sehr offenen Augen durchs Leben zu gehen, war insgeheim sehr kritisch und überlegte alles reiflich. Es ist eigenartig, so plötzlich in eine andere Welt versetzt zu werden! Ich traf in der Schule andere Kriegskinder, die krank vor Heimweh waren. Das konnte ich nicht verstehen. Es ging uns in Schweden in jeder Hinsicht blendend, und alles, was fremd und anders war, war deswegen bestimmt nicht schlecht. Man lebte und betrug sich hier eben anders. Ich konnte mich, so wie mein Vater, mit allen Leuten gut verstehen und passte mich ihnen an, ohne dabei mein Ich aufzugeben. Die Zeit verging wie im Fluge. (...) Zu Allerheiligen ging der letzte Transport von Kriegskindern nach Österreich zurück. Der Abschied fiel mir schwer, es ging mir wie einer jungen Katze, die eine neue Heimat gefunden hat. Zu Hause stand ich vor der Wahl, weiter ins Gymnasium oder ins Lyzeum zu gehen oder, wie die Mutter wollte, Kindermädchen zu werden und etwas zu verdienen, denn die Eltern hatten kein Geld. Es waren alle Ersparnisse durch die 256

Geldentwertung zerschmolzen, und das Gehalt des Vaters wurde durch die Inflation in wenigen Tagen aufgezehrt. Ich beschloss, ins Gymnasium zu gehen und das versäumte halbe Schuljahr nachzulernen und durch Nachhilfestunden etwas Taschengeld zu verdienen. Ich brachte alles nach Wunsch zuwege und konnte mir sogar vom selbstverdienten Geld ein altes Fahrrad kaufen.

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Gustav Linert ( 1887 – 1977 ) wurde am 31. Dezember 1887 in Michelsdorf nahe Landskron (Lanškroun) in der deutschen Sprachinsel Schönhengstgau in Nordmähren geboren und wuchs mit zwei Brüdern auf dem landwirtschaftlichen Gut seines Vaters auf. Er hatte früh den Wunsch, Soldat zu werden, besuchte ab 1906 die Kadettenschule in Wien und wurde 1910 zum k. k. Landesschützen-Regiment „Bozen“ Nr. II ausgemustert. Nach weiteren Lehrgängen und militärischen Spezialausbildungen, vor allem im alpinen Bereich, stand Gustav Linert im Verlauf des Weltkrieges in verschiedenen Truppenverbänden, anfangs im Hochgebirgskrieg im Ortlergebiet in Südtirol, später in Galizien, der Bukowina und zuletzt im Isonzogebiet im Einsatz und erlangte den militärischen Rang eines Hauptmanns. Nach Kriegsende ließ sich Gustav Linert in Innsbruck nieder, gründete eine Familie und arbeitete als Bankbeamter. Aufgrund seines frühen Naheverhältnisses zur nationalsozialistischen Bewegung wurde er nach deren Machtübernahme in Österreich im März 1938 zum Landesrat und Finanzreferenten bestellt, von 1940 bis 1945 übte er die Funktion des Gauhauptmanns im Reichsgau Tirol-Vorarlberg mit vorwiegend wirtschaftspolitischen Aufgabenbereichen aus. Seine Lebenserinnerungen schrieb Gustav Linert im Jahr 1975 auf Anregung seines Sohnes Hermann nieder; dieser stellte das 33-seitige maschinschriftliche Manuskript später der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ zur Verfügung. Daraus wird hier ein kurzer Abschnitt wiedergegeben, der die Hoffnung auf eine grundlegende Umgestaltung des gesellschaftlichen und politischen Systems durch eine neue politische Bewegung zum Ausdruck bringt. 258

Aus den späten 1920er und den frühen 1970er Jahren datieren einige Buchpublikationen des Autors zu wirtschafts- und allgemeinpolitischen Themen, zum Beispiel: Die Rettung Europas. Wie begegnen wir der kommunistischen Gefahr?, Tübingen 1970.

„Das Volk wartete auf ein Wunder …“ (...) Politisch und kulturell hatte sich gegenüber den vergangenen Jahren vieles zu verändern begonnen, und die Folgen des verlorenen Krieges machten sich fühlbar. Überall arbeiteten die Propagandisten der Feindstaaten und suchten den deutschen Menschen, vor allem der deutschen Jugend all das als erstrebenswert anzupreisen, was sie für sich selbst verurteilten. Heimat, Volk und Vaterland galten nichts mehr und deren Verteidigung bezeichneten sie als Kriegstreiberei. Kultur und Religion sanken immer tiefer ab und der Kommunismus wurde als Heilslehre hoch gelobt. Alles, was uns früher heilig war, wurde von ihnen verdammt. Aber uns Sudetendeutsche vermochten sie nicht zur falschen Lehre zu bekehren. Volk und Heimat blieben uns heilig wie eh und je. Es war nur natürlich, dass sich die Gleichgesinnten zusammenfanden und Anschluss an ihresgleichen suchten. Das war zu jener Zeit, als die Zeitungen anfingen, von einem aus Österreich stammenden Soldaten namens Hitler zu berichten, der im deutschen Heer gedient und sich in München niedergelassen habe. Er hatte dort Anschluss an die junge Deutsche Arbeiterpartei gefunden, die eben erst gegründet worden war und damals nur wenige Mitglieder zählte. Hitler trat als Mitglied Nr. 14 in die Partei ein. Als Soldat hatte er sich vielfach ausgezeichnet, war Obergefreiter und erwarb als solcher das EK* II und das EK I. Er war von hoher Intelligenz und vor allem, was besonderen Eindruck auf uns machte: Er stand zu seinem Volk. 259

Da er ein ausgezeichneter Redner war, vermochte er sich in der neuen Partei bald durchzusetzen. Als er wenig später deren Führung übernahm und sie zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei umgestaltete, erhielt er bald regen Zulauf aus der breiten Masse des Volkes. Aber auch Männer mit bekannten Namen schlossen sich ihm an, so besonders der hoch ausgezeichnete Fliegerhauptmann Hermann Göring, der bald einer seiner engsten Mitarbeiter wurde. Wir waren damals in Innsbruck ein ganz kleiner Kreis deutschgesinnter Kameraden, die vorerst gar nicht daran dachten, sich der neuen deutschen Partei anzuschließen oder gar eine eigene Partei zu bilden. Aber wir verfolgten die Entwicklung in Deutschland sehr aufmerksam und sprachen jede Rede Hitlers durch. Besonders beeindruckten uns seine politische Haltung und die Bedeutung, die er der Wirtschaft beimaß. Nachdem für deren gute Entwicklung ein gesundes Geldwesen die erste Voraussetzung bildet, befassten wir uns auch mit dieser Frage, und als wir erkannten, welchen Einfluss die umlaufende Geldmenge auf den Warenabsatz und die Preisbildung hat, griffen wir die Idee des Bürgermeisters von Wörgl auf, durch ein von seiner Gemeinde ausgegebenes Notgeld die Nachfrage nach Waren zu stärken und die Wirkung der damals bestehenden Deflation auszuschalten. Da zu jener Zeit die Menge des umlaufenden Geldes zu klein war und daher auch die Nachfrage nach Waren immer geringer wurde, der Preisverfall aber weiter zunahm, sollte ein Notgeld ausgegeben werden, das infolge seiner vorgesehenen, monatlich abnehmenden Kaufkraft rasch umlief, die Nachfrage nach Waren erhöhte und den Preisverfall zum Stehen brachte. Die Ausarbeitung der praktischen Durchführung war meine Aufgabe. Die folgenden Auswirkungen haben gezeigt, dass wir auf dem richtigen Wege waren. Später hat sich die Orts260

gruppe Wörgl der NSDAP eingeschaltet, die in unserer Aktion ein wirtschaftsschädigendes Vorgehen sah. In dem sich entwickelnden Streit, der in einer Gemeindeversammlung ausgetragen wurde, vertrat ich gegenüber der genannten Ortsgruppe die Gemeinde Wörgl. Da die Partei sich nicht durchzusetzen vermochte und die Versammlung verlassen musste, trug man mir das sehr nach. Doch hat sich bald eine grundlegende Umstellung der Meinung vollzogen, so dass das Währungsexperiment fortgesetzt werden konnte. Leider glaubte später aber auch die Österreichische Nationalbank, ein Haar in der Suppe zu finden und klagte die Gemeinde Wörgl wegen Verletzung der Währungsgesetze. Die bezügliche Verhandlung in Wien ging zwar zu unseren Ungunsten aus, aber man anerkannte unseren guten Willen und gab unsere Erfolge zu. In Deutschland hatte die nationale Partei weitere Fortschritte gemacht, und immer mehr Menschen schlossen sich ihr an. Durch die Friedenschlüsse von Versailles und St. Germain war dem Kriege wohl ein Ende gesetzt worden, aber dessen Folgen machten sich immer mehr fühlbar. Die deutsche Bevölkerung hatte über 100 Milliarden Kriegsanleihe* gezeichnet und gewaltige Summen waren auch in Österreich für diese Anleihe gegeben worden, die nun eingelöst werden mussten. Aber sie wurde nicht im Nominal- sondern in einem so verschwindend kleinen Bruchteil ihrer ehemaligen Kaufkraft zurückgezahlt, dass selbst vermögende Familien zu Bettlern wurden. Durch diese Verarmung ging die Kaufkraft der breiten Volksmasse noch weiter zurück. Die Nachfrage nach Waren sank auf einen nie gekannten Tiefstand und dadurch fielen auch die Preise ins Bodenlose. Die Läden der Kaufleute wurden nicht leer und sie konnten nur mehr wenig beim Erzeuger bestellen. Dieser musste die Warenherstellung einschränken und Arbeiter entlassen. Die Einkommen wurden von Woche zu Woche kleiner und ver261

minderten den Güterabsatz noch mehr, was neue Arbeiterkündigungen zur Folge hatte. So trieb eines das andere und niemand vermochte zu sagen, wann diese Teufelsspirale zu Ende gehen werde. Ein Großteil der arbeitenden Menschen fand keine Stellung mehr, Akademiker arbeiteten im Straßenbau oder als Zeitungsausträger. Techniker beschäftigten sich als Maurer oder als Holzarbeiter und viele, die keine Arbeit fanden, hungerten. Die Jugend, die aus der Schule kam, fand nirgends eine Lehrstelle und die moralisch Minderwertigen gingen stehlen. Alte Menschen, die ein Leben lang gearbeitet und gespart hatten, um sich ein sorgenfreies Alter zu schaffen, lebten nun in tiefstem Elend. Trotzdem aber stellten die Feindmächte Forderung auf Forderung an die Mittelmächte, und diese mussten zahlen und aus der Bevölkerung noch mehr herauspressen, als sie es bisher schon getan hatten. Die Vergehen und Verbrechen stiegen in Stadt und Land an, und niemand war sich seines Habes und seines Lebens mehr sicher. (...) So standen die Dinge nach dem Ersten Weltkrieg. Das Volk wartete auf ein Wunder, aber es kam nicht. Deutschland und Österreich schienen verloren zu sein. Dieser trostlosen Lage stand auch Hitler gegenüber, als er seine Arbeit in der Deutschen Arbeiterpartei begann …

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Ludwig Pullirsch ( 1897 – 1957 ) wurde als drittes von fünf Geschwistern am 6. Oktober 1897 in Ternberg an der Enns, Oberösterreich, geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er großteils in Frankenmarkt im Hausruckviertel, wo sein Vater am Bezirksgericht für Grundbuchangelegenheiten zuständig war. Ludwig Pullirsch besuchte das Bischöfliche Lehrerseminar in Linz, meldete sich aber bald nach Kriegsbeginn freiwillig zu einem studentischen Schützenkorps und rückte im Sommer 1915 noch vor der Reifeprüfung als Einjährig-Freiwilliger Aspirant zum Tiroler Landesschützen-Regiment „Bozen“ Nr. II ein. Ab Frühjahr 1916 war er mit kleinen Unterbrechungen bis Kriegsende, zuletzt im Rang eines Leutnants, im Gebirgskrieg in Südtirol bzw. Oberitalien im Einsatz. Die Kriegserfahrungen beschäftigten Ludwig Pullirsch weit über seine glückliche Heimkehr hinaus; zeit seines Lebens bereiste er ehemalige Kriegsschauplätze in Südtirol und hielt Dia-Vorträge über die Besonderheiten des Gebirgskrieges. Nach dem Ersten Weltkrieg und nach Ablegung einiger Ergänzungsprüfungen war er, vor allem in Steyr, als Volksschullehrer tätig. 1935 heiratete er und zog mit seiner Frau drei Kinder groß. Ab seinen Jugendtagen führte Ludwig Pullirsch regelmäßig Tagebuch, vor allem Bergtouren, Reisen und seine Kriegseinsätze in beiden Weltkriegen sind darin ausführlich festgehalten. Sein Sohn Ludwig stellte unter dem Titel „hineingeboren. Aus den Tagebüchern meines Vaters“ eine vierbändige Auswahledition zusammen, die 2008 bis 2011 erschienen und beim Herausgeber erhältlich ist (http://www.pullirsch.at). Aus dem ersten dieser Bände ist die folgende Erzählung entnommen, die von der ersten Rückkehr des Autors an Orte des Krieges im September 1921 berichtet. 263

Der Krieg prägte mich Die Erlebnisse in diesen Kriegsjahren veränderten mein Leben, da es nicht möglich war, das Gesehene und das Erlebte zu vergessen. Ich begann nach dem Ende des Krieges, im Jahre 1919, in Sierninghofen bei Steyr als Lehrer zu arbeiten. Es folgten sehr schwierige Jahre, die Bezahlung der Lehrer reichte kaum zum Leben, wir bekamen Zuschüsse zu unserem Gehalt von den Gemeinden und wir erhielten Unterstützung von Lehrern aus der Schweiz, um uns über Wasser halten zu können. Bei Bergtouren war ich froh, wenn ich einige gekochte Erdäpfel als Proviant mitnehmen konnte, und der Spirituskocher war dabei ständiger Begleiter, damit ich mir Tee oder eine Suppe kochen konnte. Als sich die Zeiten normalisierten, zog es mich in den Ferien immer wieder in die Berge des Adamello und der Dolomiten. Ich besuchte all die Stellen, an denen ich so viel Tragisches und zwischendurch auch Schönes erlebt hatte. Oft besuchte ich die schlichten Soldatenfriedhöfe mit ihren ganz einfachen Holzkreuzen aus Lärche, auf denen die Namen vertrauter Gefährten standen, denen es das Schicksal nicht so gut gemeint hatte wie mir. Über einen späteren Besuch im Rienztal möchte ich erzählen, weil er zeigt, wie sehr der Krieg auch das Leben danach beeinflusste oder auch belastete: Am 6. September 1921 saß ich im Wartesaal 3. Klasse am Bahnhof in Toblach, wie vor vier Jahren, 1917 saß ich ebenfalls in diesem Raum. Seither hatte sich viel verändert, der Bahnhof war damals vollkommen zerschossen, unzählige Mauertrümmer und Balken lagen herum, durch die Decke sah man den blauen Himmel, der Vorplatz des Bahnhofes war mit Granattrichtern und Sprengstücken übersät. Jetzt, vier Jahre später, sah der Bahnhof aus, als hätte es keinen Krieg gegeben. Vor vier Jahren schlugen hier unter fürchter264

lichem Krachen die 28-cm-Granaten ein. Damals lief ich in Toblach durch die Straßen, als wäre der Teufel hinter mir her. Jetzt war wieder Ruhe eingekehrt, aber ich hörte hier noch kein deutsches Wort, alle sprachen italienisch. Eine Menge Alpini* und viele italienische Zivilisten belebten den Bahnhof. „Parliamo sempre italiano!“, wo war das urdeutsche Pustertal geblieben? Gerade sah ich eine widerliche Szene. In einen Eisenbahnwaggon wurden Rinder verladen. Der Viehwagen war schon ganz voll, aber es wurde noch eine Kuh herbeigetrieben, die unbedingt hinein musste. Mit gräulichem Geschrei, Fußtritten, kräftigen Stockhieben und spitzen Stöcken wurde das arme Tier von den Treibern doch noch hineingepfercht. Il ­buono populo italiano! Ich fuhr mit dem Zug von Toblach nach Schluderbach, um dort einen Soldatenfriedhof zu besuchen, und von dort wollte ich zu den alten Stellungen im Rienztal wandern. Im Zug sagte ich dem Kontrollor, dass ich nach Schluderbach fahre. Er sah mich verständnislos an. Auf italienisch teilte er mir mit, die Station hieße jetzt Carbonin. Verdutzt und betroffen sah ich drein – also so schaut’s hier aus mit der deutschen Sprache. Ein Ladiner, ein ehemaliger Eggenthaler Standschütze, wie sich später herausstellte, hörte das Gespräch, lächelte und bemerkte, so seien eben die Italiener. Ihm tat es leid, nicht mehr zu Österreich zu gehören. In Schluderbach ging ich zum Soldatenfriedhof. Neben den Gräbern lag jede Menge Kriegs­material herum, Drähte, Gasmasken, Blindgänger, Kochkisten usw. Anschließend wanderte ich zurück zum Eingang des Rienztales, dort rastete ich auf einem Felsen, hinter dem ich oft Deckung gesucht hatte, wenn die Granaten in unmittelbarer Nähe einschlugen. Fast im Eilschritt ging ich die letzten zehn Minuten zu diesem Felsen hin, als wäre es noch September 1916, als könnte jeden Moment eine Granate einschlagen. Hier an dieser Stelle 265

Abb. 18: Kriegsgräber im Rienztal, Südtirol (1920er Jahre)

gelobte ich, dass ich dich, mein liebes Rienztal oft besuchen werde, wenn ich nur irgendwie kann. Anschließend ging ich den Hang hinauf zu jenem Unterstand, in dem ich drei Monate gelebt hatte, und auch zum Kommando, wo ich als Unterjäger Rapport abgab und von wo aus ich später als Leutnant auf Patrouille ging. Weiter ging ich zu jener Stelle, wo der erste Kamerad neben mir gefallen war, der erste, den ich neben mir sterben sah. „Ich hatt’ einen Kameraden ...“, dieses Lied ging mir jetzt durch den Kopf. „Unterjäger, hier liegt noch eine Drahtrolle!“, mir war’s, als hörte ich Feldwebel Feuerstein rufen, denn hier lag wirklich eine Drahtrolle. „Soll ich sie mitnehmen?“, ging es mir durch den Kopf, doch wozu? Hier sah ich noch viele Sprengstücke herumliegen, sicher hatte es das eine oder das andere auf mich abgesehen gehabt. Da, da lag ja ein Schuhabsatz, mit den Nägeln, ganz verdorrt. „Sag’ mir, du starker Baum daneben, wem gehörte er, ist er gefallen?“ Schließlich erreichte ich den Weg, der vor fünf Jahren so gefährlich zu begehen war. Jetzt wuchsen hier blaue Glockenblumen und grünes Gras, 266

das Blut manches Soldaten brachte hier besonders schöne Blüten hervor, Blut wurde zu Blüten. Einige Kameraden von mir sahen an dieser Stelle zum letzten Male den blauen Himmel, bevor sich ihre Augen für immer verdunkelten. Auch ich lief hier oft mit dem Tod um die Wette, wenn er vom gegenüberliegenden Hang, „Katzenleiter“ genannt, seine tödlichen Garben schickte. Von hier aus sah ich auch den linken Flügel unserer vordersten Rienztalstellung. Da drüben in dieser kleinen, hölzernen Hütte wohnte Gefreiter Blaas, weiter oben in der Kaverne Unterjäger Reintaler, alles war so, als wäre ich erst gestern weggegangen, jedoch waren keine Schüsse zu hören, kein Schreien und kein Holzhacken, es lag eine unheimliche Ruhe über den ehemaligen Stellungen. War es die Ruhe des Todes? Oder die des Friedens? Ich hoffte ganz fest, dass es die Ruhe eines ewigen Friedens wäre. Etwas später saß ich im Kommandostand „Salvator“, der neben Leutnant Krämers Bude lag. Soeben fotografierte ich die in Trümmern liegende Offiziersmesse. Welch fröhliche und auch bluternste Stunden erlebte ich hier. Fast fünf Jahre war es her, dass man hier einige Tote und fünf Schwerverletzte vorbeitrug. Das Blut tropfte von den Bahren, und nie werde ich die bleichen Gesichter und die starren Augen der Toten vergessen können. Wozu all diese Gräuel? Wozu dieses sinnlose Morden? Ja, die Menschen waren irre, aber wird es in Zukunft anders werden? Dort oben wohnte der Schneider, der mir die Fähnrichsterne aufnähte. Auch die Küche war dort, aus der ich manchmal ein außertourliches Bein zum Abnagen bekam. Etwas weiter vorne lag ein zerbrochener, gepolsterter Sessel, auf ihm bin ich oft gesessen. „Grüß dich Gott, du altes Möbel, kennst du mich noch?“, sagte ich halblaut vor mich hin. Dann stand ich inmitten der Trümmer des Unterstandes, in dem ich drei Wochen als Leutnant geschlafen hatte. 267

Unzählige leere Wein- und Mineralwasserflaschen lagen herum. Ich ging wieder ein Stück weiter und saß dann im Schützengraben des Posten XIII, hier war ich über vier Monate lang Kommandant. Die Stellung war sehr gut erhalten, es sah genauso so aus wie im September 1916, nur der Weg zum vorgeschobenen Posten war etwas verwachsen. Zwei Schritte vor mir gingen die Stufen des Grabens bergab, hier war langsam das Blut eines Kameraden hinuntergeronnen, das des Jägers Fußtaler, mit dem ich nach längerem, schweren Beschuss die Gräben inspizierte. Als wir an diese Stelle kamen, hörten wir eine Granate dahersausen, ich warf mich sofort zu Boden, aber Fußtaler blieb stehen. Die Granate explodierte kaum 20 Meter von uns entfernt. Ich sah zu ihm, ein langer Blutstrahl schoss aus seinem Mund und dumpf schlug er auf die Stufen, unmittelbar neben mir. Das Blut rann langsam die Stufen hinunter. Ich konnte mich nicht bewegen, da Schuss auf Schuss folgte. Blutiger Schaum trat aus seinem Mund und sein Gesicht wurde bleich wie der Kalkstein, auf dem er lag; ich erkannte, dass er tot war. „Wo bist du jetzt, Fußtaler?“, fragte ich mich. Schließlich hatte das Schießen aufgehört, aber ich lag noch immer da, eine Starre des Schreckens lähmte meine Glieder, denn der Tod war soeben an mir vorbeigeritten und hatte nicht mich, sondern meinen Kameraden mitgenommen. Ich wünschte ihm, dass er in Frieden ruhen möge. Zwei Stunden nach dieser Rückbesinnung und den Minuten des Gedenkens stand ich wieder unten an der Straße von Landro nach Toblach. Ich sah noch einmal hinauf zum Monte Piano, aber es gab kein Licht mehr dort oben, vielleicht aber die Geister der Toten, die in Trauer nach Norden sehen, weit über die Gipfel hinweg dorthin, wo ihre Lieben leben, die sie verlassen mussten. Wer dankte es euch, euer Leben geopfert zu haben? 268

Ich wanderte gegen Toblach und kam am ehemaligen Lager Nasswand vorbei. Die Baracken waren alle abgetragen worden, nur die Betonflächen zeigten an, wo sie standen. Es war schon finster und eine düstere, traurige Stimmung lag über dem Lager, das vor fünf Jahren hell beleuchtet war und in dem lebhaftes Treiben herrschte. Unzählige Fuhrwerke kamen hier in der Nacht an und brachten Proviant und Munition, Magyarisch, Deutsch, Tschechisch und andere Sprachen der Monarchie und der Kriegsgefangenen tönten durcheinander. Die Stille war bedrückend, nur vermoderndes Holz fluoreszierte in der Dunkelheit. Am hell erleuchteten Hotel am Toblacher See, in dem es bei Musik hoch herging, erreichte ich wieder die Gegenwart, das Jahr 1921.

Abb. 19: Ludwig Pullirsch (links) mit Familie beim letzten Besuch seiner „alten Stellung“ im Rienztal (1957)

Anmerkung von Ludwig Pullirsch junior (im Bild rechts): „Ich war mit meinem Vater öfters im Rienztal. Zum letzten Mal besuchten wir den Felsen, hinter dem er so oft Schutz gesucht hatte, im Sommer 1957. Genau hier hatte er einen Anfall 269

von Angina pectoris. Nach der Einnahme einer Nitroglycerintablette und einer Rast konnte er langsam zum Auto zurückgehen. Es war sein Abschiedsbesuch im Rienztal.“

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Peter Eigner

Zwischen Umbruch und Aufbruch. Die Jahre 1918 bis 1921 in Selbstzeugnissen.

Ein zeithistorischer Abriss Das Jahr 1918 stellt sich auf unterschiedlichen Ebenen als ein Schlüsseljahr der österreichischen Geschichte dar.1 Es bedeutete politisch, gesellschaftlich und ökonomisch eine Zäsur, eine Epochenschwelle, nicht nur für Österreich, sondern für weite Teile Europas.2 Über vier Jahre hatte der Erste Weltkrieg gedauert, die anfängliche Kriegsbegeisterung, der allerorts verbreitete nationale Kriegstaumel war längst, auch in der Habsburgermonarchie, angesichts der verheerenden Versorgungssituation und der enormen Kriegsopferzahlen Zweifeln über die Sinnhaftigkeit des Krieges und Friedenshoffnungen gewichen. Das Ende des Kriegs hatte sich auf mehrfache Weise angekündigt. 1917 hatte eine Streikwelle begonnen, Anlass der Proteste war Hunger. Im Jänner 1918 hatte sich ein Streik, der sogenannte Jännerstreik, zu einer gewaltigen Massenerhebung ausgeweitet, gefordert wurde unter anderem die Beendigung des Krieges. Militärisch zeichnete sich die Nie1 Einen Überblick über das „Schlüsseljahr“ 1918 in Österreich bietet Christa Hämmerle, 1918. Vom Ersten Weltkrieg zur Ersten Republik, in: Martin Scheutz/ Arno Strohmeyer (Hg.), Von Lier nach Brüssel. Schlüsseljahre österreichischer Geschichte (1496–1995). Innsbruck-Wien-Bozen 2010, 251-271. 2 Dem stehen Deutungsversuche gegenüber, die stärker verschiedene Kontinuitäten von der Vor- in die Nachkriegszeit betonen und damit die Zäsur 1918 relativieren. Vgl. etwa Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik. Köln u. a. 2000.

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derlage immer deutlicher ab, darüber konnten auch positive Pressemeldungen und Durchhalteparolen nicht hinwegtäuschen. Meutereien und Desertionen häuften sich, den Anfang hatte im Februar 1918 der Matrosenaufstand in Cattaro/Kotor gemacht, ab Ende April 1918 kam es auch beim Landheer zu ersten Meutereien.3 Immer mehr Truppen(teile) setzten sich in Richtung Heimat ab, Chaos und Anarchie kennzeichneten die Situation. Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich und versuchten ihre Forderungen mit Aktionismus durchzusetzen. Im Oktober und November 1918 begannen sich die Ereignisse zu überschlagen, immer mehr Völker der multi-ethnischen Habsburgermonarchie setzten Akte der Lossprechung und nationalen Unabhängigkeit, gestützt auf das 14-PunkteFriedensprogramm des US-Präsidenten Woodrow Wilson, das eine Neuordnung Europas nach dem Prinzip der Nationalstaatlichkeit vorsah, das Habsburgerreich zerfiel. Am 30. Oktober erfolgte die Bildung einer provisorischen Regierung unter Karl Renner, die eine vorläufige Verfassung für Deutschösterreich verabschiedete und am 12. November 1918 als neue Staatsform die Republik ausrufen ließ. Am Tag zuvor hatte Kaiser Karl I. auf jeglichen Anteil an den Staatsgeschäften verzichtet. Bereits am 3. November 1918 hatten die Siegermächte der Entente und Österreich-Ungarn einen Waffenstillstand geschlossen, weil dieser Vertrag erst am nächsten Tag 3 Manfried Rauchensteiner, „Das neue Jahr machte bei uns einen traurigen Einzug“. Das Ende des Großen Krieges, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Bd. I, Wien 2008, 26 ff; dort auch genauere Zahlenangaben zum Ausmaß der Meutereien. Zum Überlaufen vor allem tschechischer und ruthenischer Truppen war es bereits im Sommer 1916 im Zuge der russischen Brussilow-Offensive gekommen, eine Tendenz, die sich fortsetzen sollte. Richard Plaschka, Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Auflehnung im 19. und 20. Jahrhundert. 2 Bde. Wien u. a. 2000; Richard Plaschka/Horst Haselsteiner/Arnold Suppan, Innere Front. Militärassistenz, Widerstand und Umsturz in der Donaumonarchie 1918. 2 Bde. Wien 1974, 54-105.

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in Kraft treten sollte, gerieten nach der Unterzeichnung noch rund 300.000 österreichisch-ungarische Soldaten in italienische Kriegsgefangenschaft. Der „Große Krieg“ war einer „Entfesselung bis dahin ungekannter Zerstörungsgewalt“4 gleichgekommen, hatte fast neun Millionen tote Soldaten und sechs Millionen zivile Tote zurückgelassen, allein Österreich-Ungarn verzeichnete zwischen 1,2 und 1,46 Millionen militärische und an die 400.000 zivile Todesopfer.5 Geschätzte 2,7 Millionen Menschen aus der Habsburgermonarchie waren in Kriegsgefangenschaft geraten, rund 453.000 dürften in Gefangenschaft verstorben sein, der Rest kehrte vielfach erst 1921/22 zurück.6 Von ihren Verwandten, Frauen, Kindern, Geschwistern meist sehnsüchtig erwartet, waren sie für die junge Republik eine weitere Belastung, bedeuteten auf dem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt – der Umstieg von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft ging mühevoll vonstatten und wurde von einer hohen Arbeitslosigkeit begleitet – eine zusätzliche Konkurrenz. Erste sozialpolitische Maßnahmen vermochten die Situation ein wenig zu entschärfen. Österreich zählte zu diesem Zeitpunkt über 100.000 staatlich zu unterstützende Kriegsinvalide, geschätzte 80.000 Kinder von Invaliden und rund 350.000 Kriegswitwen und -waisen,7 alle Opfer eines Krieges, der in Anlehnung an George F. Ken4 Bernd Weisbrod, Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkriegs und der Formwandel der Politik in Europa, in: Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung, 13. 5 Wilhelm Winkler, Die Totalverluste der österreichisch-ungarischen Monarchie nach Nationalitäten. Wien 1919; Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn u. a. 2003, 663-666. 6 Hannes Leidinger/Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917-1920. Wien u. a. 2003. 7 Edith Leisch-Prost/Verena Pawlowsky, Kriegsinvalide und ihre Versorgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, in: Hermann J. Kuprian/Oswald Überegger (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung / La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria. Innsbruck 2006, 368.

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nan häufig als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wird, Opfer des ersten „totalen“ Krieges; total, weil er alle Lebensbereiche umfasst hatte, alle Ressourcen ausgeschöpft worden waren, sich zum ersten industriellen Krieg entwickelt hatte. Total bezog sich auf die definierten Kriegsziele und gewählten Kriegsmethoden ebenso wie auf eine möglichst totale Mobilisierung und Kontrolle.8 Der Krieg erfolgte unter „Einsatz von Kampfflugzeugen, Ferngeschützen und Giftgas“, monatelange Stellungskriege um oft minimalen Gebietsgewinn kamen „Massenabschlachtungen von in Schützengräben konzentriertem ‚Menschenmaterial‘“ gleich.9 Auch an der „Heimatfront“ verbreiteten sich Hunger, Elend und materielle Not, Unterernährungs- und Mangelkrankheiten und Sterblichkeit unvorstellbaren Ausmaßes. Wien, über das sich gegen Kriegsende eine Welle an heimkehrenden Menschen ergoss, versank in Chaos und Elend. Weder Wohnraum noch Kleidung oder Lebensmittel waren ausreichend vorhanden. Die Tuberkulose wurde als „Wiener Krankheit“ bekannt, gegen Kriegsende wütete die Spanische Grippe und fand unter der geschwächten Bevölkerung Tausende Opfer. Die Sterblichkeitsziffern erreichten horrende Werte, die Zahl der Lebendgeburten ging dramatisch zurück, die der Totgeburten stieg insbesondere 1918/19 massiv, ebenso die Kindersterblichkeit. Bereits ab Herbst 1916 hatte sich eine deutliche Verknappung der Nahrungsmittel bemerkbar gemacht, die einsetzenden Rationierungs- und Bewirtschaftungsmaßnahmen – für eine Reihe von strategischen Gütern 8 Stig Förster, Einleitung, in: Ders. (Hg.), An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919–1939. Paderborn u. a. 2002, 15-27; ders., Das Zeitalter des totalen Kriegs, 1861–1945. Konzeptionelle Überlegungen für einen historischen Strukturvergleich. In: Mittelweg 36/8(1999). 9 Wolfgang Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3: Von 1790 bis zur Gegenwart. Wien-Köln-Weimar 2006, 320.

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wurden bald nach Kriegsbeginn sogenannte „Zentralen“ eingerichtet, deren Zahl bis Kriegsende auf 91 anstieg – konnten die materielle Deprivation nicht verhindern. Mehl und Brot waren bereits 1915 nur mehr mit Lebensmittelkarten erhältlich, 1916 folgten Zucker, Milch, Kaffee, Fett und Kartoffeln.10 Ab 1915 waren für Normalverbraucher Lebensmittelzuteilungen von 1.300 kcal, für Schwerarbeiter von 1.700 kcal vorgesehen, bis Kriegsende sanken die entsprechenden Werte auf 800 bzw. 1.300 kcal.11 Ohne die sogenannten Hamsterfahrten hätte wohl der überwiegende Teil der Bevölkerung den Krieg nicht überlebt. Lohnerhöhungen und Preisregelungen konnten die Teuerungsraten von Fleisch, Fett, Milch und Eiern bei weitem nicht kompensieren. Auf immer mehr Ersatznahrungsmittel musste zurückgegriffen werden, gegessen wurde bald nahezu alles, was nur irgendwie essbar war. Stundenlanges nächtliches, oft vergebliches Schlangestehen um Lebensmittel wurde zur Chiffre des Kriegs, Plündern und Stehlen, Hamstern und Schleichhandel, wie auch die hier versammelten Erzählungen eindrucksvoll verdeutlichen, zu überlebenswichtigen Strategien. Im Rahmen eines „bürokratischen ‚Kriegssozialismus‘“ erfolgte die Zwangsbewirtschaftung kriegswichtiger Industrien, wurden Fabriken militarisiert und die bald vorwiegend von Frauen, Jugendlichen und Kriegsgefangenen neu zusammengesetzte Arbeiterschaft unter Kriegsrecht gestellt.12

10 Klaralinda Ma-Kircher, Die Frauen, der Krieg und die Stadt, in: Alfred Pfoser/ Andreas Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg. Wien 2013, 76. 11 Andreas Weigl, Eine Stadt stirbt nicht so schnell, in: Pfoser/Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 66. 12 Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Csendes/Opll (Hg.), Wien. Bd. 3, 321. Die Aufhebung der Freizügigkeit, des Rechts auf einen Arbeitsplatzwechsel, erfolgte für Frauen und Jugendliche durch die Verschärfung des Kriegsleistungsgesetzes vom 18. März 1917, vgl. Hämmerle, 1918, in: Scheutz/ Strohmeyer (Hg.), Von Lier nach Brüssel, 257.

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Es gab kaum eine Familie, die keine Opfer zu verzeichnen hatte; wenn schon keine Toten, so hinterließ der Krieg Traumata, psychische und physische Folgen, oft ein Leben lang. Junge Männer, fast noch Jugendliche, kehrten, wenn nicht verletzt, gebrochen zurück, verfielen in Schweigen und Vergessen wollen, doch letzteres funktionierte nur bedingt. Väter hatten sich ihren Kindern entfremdet, sahen sie oft nach jahrelangem Kriegseinsatz erstmals wieder, erkannten sie nicht wieder, wie auch die Kinder ihre Väter. Die Geschlechterverhältnisse, die Geschlechterhierarchie hatte sich kriegsbedingt verändert. Frauen wurden zwar wieder aus etlichen Berufen und Positionen verdrängt, aber mit der Veränderung kamen viele Männer nicht zurecht, umso mehr, wenn sie körperlich oder psychisch beeinträchtigt aus dem Krieg zurückkehrten und vom Überlebenskampf gestärkten Frauen gegenüberstanden. Das Ende der Habsburgermonarchie reiht sich ein in die Zerfallsgeschichte einiger großer alter Imperien, des Osmanischen Reichs, des Zarenreichs, des deutschen Kaiserreichs; damit verbunden waren eine politische Neuordnung Europas und die Etablierung neuer Nationalstaaten. Mit dem verlorenen Krieg und dem daraus resultierenden Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie war nach rund 600 Jahren die Herrschaft der Habsburger zu einem Ende gekommen. Aus dem 52 Millionen umfassenden Großreich der Habsburgermonarchie war ein Kleinstaat mit knapp über sechs Millionen Einwohnern geworden, die Republik Deutschösterreich, der bald (im Artikel 88 des Friedensvertrags von St. Germain) das Attribut Deutsch entzogen bzw. der Anschluss an Deutschland verboten wurde, um die von vielen Parteien vertretenen Anschlussgedanken gar nicht erst weiter gedeihen und reifen zu lassen. Innerhalb kürzester Zeit zerbrachen somit Jahrhunderte währende Reiche und Dynastien wie auch soziale Ordnungen, Kategorien und Werthaltungen: „[T]radierte, überkommene Ordnungs276

und Autoritätskonzepte, soziale Hierarchien und kulturelle Codes“ lösten sich in nichts auf.13 Pessimismus über die Zukunft des jungen Staates, insbesondere über dessen wirtschaftliche Lebensfähigkeit, wurde zur weit verbreiteten Grundstimmung. Das Ende der Monarchie bedeutete zugleich das Ende der alten Eliten, nicht nur symbolisch: die Aristokratie (mit der Abschaffung der Adelstitel), das Militär (geschmäht und seiner Auszeichnungen beraubt) und der Klerus verloren an Bedeutung; auf die hohe Bürokratie trifft dies nur bedingt zu. Auch der Mittelstand zählte zu den Kriegsverlierern, insbesondere das alte Bürgertum. Nicht nur, dass es sein ganzes Vermögen in Kriegsanleihen gesteckt hatte, die sich nunmehr als wertlose Papiere herausstellten, Kriegs- und Inflationsgewinner traten als „Nouveaux Riches“ und neue Elite an seine Stelle, es erfolgte ein Austausch der Eliten. Die Welt stand Kopf. Aus bürgerlicher Sicht war es eine verkehrte Welt, geprägt von plündernden Horden, von Kleinkriminellen, von deklassierten heimkehrenden Soldaten, die die Gunst der Stunde nützten und sich als Räte der neuen Republik gerierten. Untergangsstimmung und Entsetzen machten sich dementsprechend in konservativen Kreisen bemerkbar und diese standen einer Aufbruchsstimmung unter Arbeiterinnen und Arbeitern entgegen. Hier war von „neuen Menschen“ und „neuen Zeiten“ im positiven Sinn die Rede. Aufbruch und Untergang – in dieser gespaltenen Ausgangssituation zeigt sich schon die spätere politische Polarisierung der österreichischen Zwischenkriegszeit, die in die politische Katastrophe der 1930er Jahre mündete, zunächst in den autoritären Ständestaat, alsbald in die Machtübernahme der Nationalsozialisten, in den nächsten Krieg und in den Holocaust. 13 Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Csendes/Opll (Hg.), Wien. Bd. 3, 320, 330.

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Der politische Umbruch wurde von einer sozialpolitischen Offensive begleitet, die sich auf die Jahre 1918 bis 1920 erstreckte. Im Februar 1919 hatten die Sozialdemokraten bei den ersten Parlamentswahlen die Mehrheit und somit in einer Regierungskoalition mit den Christlichsozialen bis Juni 1920 die politische Führerschaft erlangt, die sie für zahlreiche Sozialreformen nutzten.14 Der bereits 1917 eingeführte Mieterschutz wurde Ende 1918 verschärft und brachte ein faktisches Kündigungsverbot und einen Mietzinsstopp mit sich. Bereits im November 1918 erfolgte die Einführung der staatlichen Arbeitslosenversicherung, im März 1920 das Arbeitslosenversicherungsgesetz. Ebenfalls im November 1918 wurde das Gesetz über den Achtstundentag erlassen, eine jahrzehntelang vergeblich vertretene Forderung der Arbeiterbewegung. Kinderarbeit wurde verboten, ein allgemeines Nachtarbeitsverbot für Frauen unter 18 und für männliche Jugendliche unter 16 Jahren erlassen. Weitere Maßnahmen waren die Beseitigung des sogenannten „Arbeitsbuches“, die staatliche Entschädigung für Kriegsinvaliden, -witwen und -waisen, das Gesetz über den bezahlten Urlaub für Arbeiter, die Einführung der Einigungsämter und die Regelung des Kollektivvertrages, womit die Gewerkschaften durch den Staat als Tarifpartner anerkannt wurden. Im Mai 1919 wurde das Betriebsrätegesetz als „Herzstück“ der damaligen Sozial14 Vgl. dazu und im Folgenden: Alfred J. Noll, Entwicklung der Volkssouveränität. Zur Entwicklung der österreichischen Verfassung 1918 bis 1920, in: Konrad/ Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich, Bd. I, 368; Hämmerle, 1918, in: Scheutz/Strohmeyer (Hg.), Von Lier nach Brüssel, 262. Ab 1920 begann die Zeit der bürgerlichen Regierungen, die sich, so etwa der mehrfache Bundeskanzler Ignaz Seipel, die „Beseitigung des revolutionären Schuttes“ zum Ziel setzten und damit wohl die „Rücknahme der Sozialgesetze, der Demokratisierung der politischen Strukturen und des institutionalisierten Einflusses der Arbeiterorganisationen“ meinten. Margarete Grandner, Kooperative Gewerkschaftspolitik in der Kriegswirtschaft. Die freien Gewerkschaften Österreichs im Ersten Weltkrieg. Wien u. a. 1992, 442.

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gesetzgebung erlassen. Im Februar 1920 folgte die Errichtung der Kammern für Arbeiter und Angestellte, nachdem zuvor schon Handelskammern eingerichtet worden waren. Die meisten Historiker/innen teilen die Auffassung, dass nur der massive Druck von unten, der Druck von der Straße, der in der Rätebewegung seinen Ausdruck fand, den raschen Ausbau des österreichischen Sozialstaates ermöglicht hätte.15 Die Domestizierung des revolutionären Potenzials dieser Protestbewegung ist dabei eindeutig der Sozialdemokratie zuzuschreiben. Ein weiteres zentrales Ergebnis des politischen Umbruchs war die politische Gleichstellung der Frauen durch die Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1918. Auch die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des neuen Kleinstaates wurde bezweifelt. Wichtige Ressourcen, insbesondere auf dem Energiesektor (Abtrennung der mährischschlesischen Kohlenreviere), fehlten dem neuen Staat, mit Böhmen war ein zentraler Industriestandort der Monarchie weggefallen, mit Triest ein bedeutender Hafen und der Zugang zum Meer, mit Galizien und der ungarischen Reichshälfte der Lebensmittellieferant. Die auf möglichst große (Nahrungsmittel- und Energie-)Autarkie ausgerichtete Monarchie war stark arbeitsteilig orientiert gewesen, auch innerhalb einiger Branchen – fehlende Kapazitäten mussten aufgebaut werden, überschüssige abgebaut. Österreich fehlte es weniger an Industriebetrieben – einige Branchen müssen sogar als überbesetzt bezeichnet werden, wie die Waggon- und Lokomotivproduktion, die sich auf Wien konzentrierte und unter dem Verlust des gewaltigen Absatzmarktes der Monarchie litt –, als vielmehr zunächst an Kohle und an Lebensmitteln. Die erforderlichen Anpassungen an eine neue Wirt15 Etwa Noll, Entwicklung der Volkssouveränität, in: Konrad/Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich, Bd. I, 369; vgl. des Weiteren Helmut Konrad, Das Rote Wien. Ein Konzept für eine moderne Großstadt?, in: Konrad/Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich, Bd. I, 229.

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schaftsstruktur unterblieben bzw. gelangen nicht. Dazu kam die ungeheure Inflation der Nachkriegszeit, die zwar auch Gewinner, aber wesentlich mehr Verlierer hervorbrachte. Die Nationalstaaten grenzten sich zunächst mit wirtschaftlichem Protektionismus gegeneinander ab, innerhalb Österreichs machte sich ein starker Stadt-Land-Antagonismus bemerkbar, insbesondere zwischen Wien und den Bundesländern, der sich nach der Konstituierung Wiens als eigenes Bundesland mit der Etablierung des sozialen Experiments „Rotes Wien“ verschärfte. In Wien gelang es der Sozialdemokratie, den Ausbau der Sozialgesetzgebung massiv voranzutreiben. Die Geschehnisse des Jahres 1918 lassen sich nicht sinnvoll von der Nachgeschichte trennen. Förster spricht von einem „Schatten“, den der Krieg auch in die „von einer teils offenen, teils schleichenden Dauerkrise“ geprägte Friedenszeit warf.16 Die unmittelbare Nachkriegszeit und die Folgejahre brachten einerseits kaum eine Änderung der tristen Ausgangslage, was Hunger und materielle Not betrifft. Weiterhin musste man sich um Lebensmittel anstellen und/oder aufs Land „hamstern“ fahren. Wenn es zu bedeutenden Änderungen kam, wie etwa im Bereich der Sozialgesetzgebung, so sind diese als direkte Kriegsfolgen zu betrachten. Im Fokus dieses Bandes stehen die Jahre bis etwa 1922, letztlich blieb aber die Erste Republik insgesamt – politisch wie wirtschaftlich – instabil. Die Kriegsfolgen, die Bestimmungen des Friedensvertrags von St. Germain, der Anschlussgedanke an Deutschland und die Zweifel an einer österreichischen Identität, die krisenhafte Wirtschaftsentwicklung und die bürgerkriegsähnlichen (partei)politischen Auseinandersetzungen blieben wirkungsmächtig und legten ihren Schatten über den neuen Kleinstaat.

16 Förster, Einleitung, in: Ders. (Hg.), An der Schwelle zum Totalen Krieg, 15.

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Umbruch und Heimkehr Viele der oben angesprochenen Probleme haben in den persönlichen Erinnerungstexten dieses Bandes ihren mehr oder weniger deutlichen Niederschlag gefunden. Am Beginn des Editionsteils mit lebensgeschichtlichen Erzählungen stehen „Szenen des Umbruchs“, die exemplarisch Ausnahmesituationen aufzeigen sollen, die in jenen Tagen und Wochen den Alltag prägten und denen sich Menschen gerade in der Zeit kurz vor und nach Kriegsende vielfach quasi schicksalshaft ausgeliefert sahen. Inhaltliche Kontrastierung war ein Leitmotiv bei der Zusammenstellung dieser Episoden, so auch bei den ersten beiden „Szenen“. Der Krieg geht zu Ende, viele können es kaum oder noch nicht glauben, viele bangen um ihre Angehörigen, für viele kommt es zu einem freudigen Wiedersehen, viele werden jedoch noch in den letzten Kriegsmonaten und -wochen ihrer Hoffnungen auf ein Wiedersehen beraubt. Der Krieg scheint längst verloren, die Kriegseuphorie ist Resignation und dem Warten auf den Frieden gewichen, doch die Einrückungen halten an. Auch Elise Kirchners achtzehnjähriger Sohn Hermann, zweimal schon wegen allgemeiner Körperschwäche zurückgestellt, wird im Mai 1918 C-diensttauglich, somit als einsatzfähig für den Kanzleidienst, erklärt – ein vergleichsweise günstiges Los für einen Rekruten des Jahres 1918. Als er zur Verpflegungsstation am Bahnhof eingeteilt wird, infiziert er sich jedoch mit der Ruhr. Er bekommt keinen Platz im Garnisonsspital, darf aber auch nicht zu Hause gepflegt werden. Schließlich erkrankt er bei mangelhafter Pflege zusätzlich an Angina und Rotlauf. Elise Kirchner kann sich noch von ihrem Sohn verabschieden, wenige Stunden danach verstirbt er. Anders die Geschichte von Karl Schovanez, der von der Ruhr geschwächt in einem „Traumzug“ von der Front heimgebracht wird, mit Freudentränen in den Augen, wenn auch 281

auf einer aufgehängten Bahre liegend. Im Kriegsspital Simmering untergebracht, erlebt er die Betreuung durch geistliche Schwestern zwar als gut, deren frömmlerisches Gehabe und das ihm abverlangte häufige Beten jedoch als Zumutung. Als er es ablehnt, zu beichten und die Kommunion zu empfangen, verschlechtert sich seine Betreuung. Karl Schovanez bezeichnet sich selbst nach zweimaligem Ruhranfall als „ein lebendiges, mit Haut überzogenes Knochengerüst mit einem Lebendgewicht von 42 Kilogramm“. All seine Hoffnungen nach einem neunmonatigen Frontdienst richten sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau Steffi. Die Hoffnungen erfüllen sich, wenn auch erst mit Verzögerung, weil diese ihren Mann im Spitalsbett zunächst gar nicht wiedererkennt. In anderer Form taucht das Motiv des verkannten Heimkehrers in der Geschichte von Anna Prath auf. Auch ihr Onkel und Ziehvater wird wegen seines veränderten Aussehens von den eigenen Kindern zunächst nicht erkannt, als er nach Jahren auf Heimaturlaub ins damals noch ungarische Südburgenland kommt. Da das Kriegsende bereits absehbar scheint, verlängert er seinen Aufenthalt zu Hause und kehrt nicht zu seiner Einheit zurück. Als er von zwei Gendarmen aufgegriffen wird, flieht er in die benachbarte Steiermark und kann erst nach Kriegsende unbehelligt von dort „heimkehren“. Auch Marianne Jarka registriert „abtrünnige Soldaten“ als Zeichen, dass der Krieg dem Ende zugeht – allerdings sieht sie diese zumeist tot, zur allgemeinen Abschreckung auf ­Alleebäumen aufgehängt. Und das ist nur ein eindringliches Sinnbild für die Allgegenwart des Todes während ihrer letzten Tage als Operationsschwester an der Front. Sie selbst entkommt nur knapp einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung durch einen defekten Ofen. Zahlreich sind Berichte von überfüllten Heimkehrerzügen rund ums Kriegsende 1918 und besonders einprägsam offenbar das Bild von Menschen, die sich dem Risiko einer 282

Fahrt auf Zugsdächern oder Trittbrettern aussetzten und dabei in beträchtlicher Zahl noch auf der Heimfahrt ums Leben kamen. Anton Hanausek ist einer, der so eine dramatische Fahrt selbst erlebt, überlebt und entsprechend eindrucksvoll beschrieben hat. Neben seiner Erleichterung, die Heimfahrt heil überstanden zu haben, beobachtet er in Villach eher teilnahmslos die Plünderung einiger Waggons durch Frauen, bevor er erst ungläubig zur Kenntnis nimmt, dass der Krieg tatsächlich vorbei ist. Einige Mitreisende zeigen sich „närrisch vor Freude“, obwohl die Todesgefahr auf den überladenen Zügen sie noch bis nach Hause begleitet. Anton Hanausek bleibt besonnen. Nach der Ankunft in Wien macht er sich zielstrebig daran, die seinerseits schon bei der Plünderung eines Lagers in Italien erbeuteten Tabakwaren im Schleichhandel zu „versilbern“ und sich anschließend bald wieder in ein reguläres Arbeitsleben einzugliedern. Auf andere Weise macht das Los von sogenannten „Spätheimkehrern“ betroffen, die nach langjähriger Kriegsgefangenschaft in eine einst vertraute Umgebung zurückkehren, die den Krieg (und vielleicht auch den lange verschollenen Soldaten) nun allerdings schon ein Stück weit hinter sich gelassen hat. Adolf Gaiswinkler wird von Mutter und Schwester erwartet, sein Vater, den er 1915 zuletzt gesehen hat, ist 1919 gestorben. Die soziale Integration nach seiner Heimkehr im Herbst 1920 gestaltet sich schwieriger als erwartet. Die Verhältnisse haben sich geändert, das Elternhaus der Mutter beispielsweise ist nicht mehr im Besitz der Familie, und vor allem in seinem gewohnten beruflichen Umfeld als Postbediensteter findet der Spätheimkehrer vieles verändert vor – nicht zuletzt die Chancen für einen beruflichen Aufstieg, weil andere schon die angestrebten Positionen eingenommen haben oder die neu geschaffenen Beförderungsrichtlinien besser erfüllen. Der erhoffte „Dank des Vaterlandes“ lässt auf sich warten bzw. erschöpft sich in einer Uniformgarnitur aus minderwertigem Stoff. 283

Zwiespältig sind die Eindrücke aus der Geschichte von Paul Schinnerer, dessen Werthaltungen und persönliche Lebensplanung von einer gutbürgerlichen Sozialisation in einer Wiener Tuchmacherfamilie und einer glänzenden militärischen Karriere über drei Jahrzehnte geprägt und nun grundlegend erschüttert sind. Nach einer schweren Verletzung dauerhaft invalid und mit 49 Jahren im Rang eines Generalmajors pensioniert, trachtet er mit seiner Familie von Marburg aus – nunmehr Feindesland – nach Österreich zu gelangen, um neu Fuß fassen zu können. Wunschziel ist eine Kleinstadt, nicht Wien – wegen der dort herrschenden katastrophalen Zustände. Die Wahl fällt schließlich auf Gmunden. Die Übersiedlung erfolgt trotz Bedenken reibungslos, ebenso die Reise mit der Eisenbahn und der Schmuggel der Nahrungsmittelvorräte, die in Slowenien vergleichsweise günstig und in reichlichen Mengen zu haben sind. Die Möbel der Familie Schinnerer werden in einem Güterwaggon transportiert, der für die Fahrt als Wohnraum eingerichtet wird, auch um Plünderungen zu vermeiden. Zunächst ist die Enttäuschung über die nie zuvor gesehene Wohnung groß, die Gewöhnung daran sollte einige Zeit dauern. Dazu kommt die Inflation, die das einst beträchtliche Vermögen der Familie rasch verringert. Insgesamt spielen Züge und Zugsfahrten eine sehr bedeutende Rolle in den Erzählungen über die Nachkriegsjahre. Das Eisenbahnnetz, das seinen raschen Ausbau im 19. Jahrhundert neben wirtschaftlichen nicht unwesentlich militärischen Kalkülen verdankte17, bestimmt und dominiert in diesen Jahren, noch kaum konkurrenziert durch das 17 Burkhard Köster, Militär und Eisenbahn in der Habsburgermonarchie 1825– 1859. München 1999. Andreas Knipping, Eisenbahn im Krieg. Im Dienste des Militärs 1848–1948. München 2005; Gerhard Artl/Hubert Zenz, Militär und Eisenbahn. Das Jahrhundert zwischen Ochsenkarren und Lastkraftwagen, in: Gerhard Arlt u. a., Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. 175 Jahre Eisenbahn in Österreich. Wien 2012, 1041–1065.

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Automobil, Fortbewegung und Transport von Gütern und Menschen.

Hunger und Krankheiten Der Lebensmittelmangel ist ein zentrales Leitmotiv der Erzählungen. „(…) tagelang kein Brot, wochenlang kein genießbares Mehl, keine Eier seit Monaten, dazu ein Kilo Kartoffel, 6 Deka Butter, 25 Deka Polenta, 40 Deka Fleisch und ein Achtelliter Milch pro Kopf und Woche“, so Elise Kirchner, die außerdem der Überzeugung ist, dass alle genug hätten, würde die Verteilung gerecht vor sich gehen. Um Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs setzte spätestens 1916 eine regelrechte „Schlacht“ an der „Heimatfront“ ein.18 Bereits im April 1915 war eine Rationierung von Lebensmitteln und Bedarfsgütern erfolgt, die eine stete Ausweitung in Form eines dichten Netzes von zentralen Wirtschaftsorganisationen erfuhr, denen das 1916 etablierte k. u. k. Amt für Volksernährung vorstand. Abgestuft nach Alter, Bedürftigkeit, Geschlecht etc. wurden Brot, Milch, Mehl, Zucker, Fleisch oder Kartoffel nur mehr gegen Lebensmittelkarten ausgegeben, ergänzt bald um „Kleiderkarten“ und „Bedarfsscheine“ für Schuhe und Bekleidung. Mit Fortdauer des Krieges wurden die Mengen weiter reduziert und der Hunger alltäglich. Für die geringe Chance, Lebensmittel zu ergattern, mussten stundenlanges Anstellen und Warten in Kauf genommen werden. Menschenschlangen vorwiegend von Frauen und Kindern, die sich bereits in der Nacht bildeten, wurden zur Chiffre der Nahrungsmittelnot.19 Anstellverbote waren hilflose und wirkungslose behördliche Maßnahmen. Hunger 18 Dazu und im Folgenden: Hämmerle, 1918, in: Scheutz/Strohmeyer (Hg.), Von Lier nach Brüssel, 258; Grandner, Kooperative Gewerkschaftspolitik, 243–252. 19 Maureen Healy, Eine Stadt, in der sich täglich Hunderttausende anstellen, in: Pfoser/Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 150–161.

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und Mangel wurden zum Ausgangspunkt breiteren Widerstands, waren Anlass der „Teuerungsdemonstrationen“ und „Hungerkrawalle“. Waren es zunächst die Ungarn, die man für den Lebensmittelmangel verantwortlich machte, so richtete sich der Zorn bald gegen die österreichischen Bauern, die ihre Waren zu überhöhten Preisen auf den Märkten anboten oder gegen Sachgüter (Porzellan, Teppiche, Klaviere etc.) eintauschten.20 Die Hamsterfahrten erreichten 1918 ein ungeheures Ausmaß, immer häufiger kam es zu Zusammenstößen, Diebstählen bzw. Plünderungen. So sollen sich am 29. Juni an die 30.000 Städter/innen in den Kartoffelfeldern rund um Wien befunden haben und weite Teile des Landes geplündert und verwüstet haben.21 Folge war ein verstärkter Stadt-LandAntagonismus, der sich noch in der Nachkriegszeit deutlich bemerkbar machte. Eine Folge des Nahrungsmittelmangels war die Verwendung von Nahrungssurrogaten, wobei zunächst herkömmliche Lebensmittel wie Kartoffel oder Rüben zu Ersatzmitteln (für Fleisch etc.) wurden.22 Zum Einsatz kamen Ersatzmehle, Obstkerne fanden ebenso Verwendung wie Nuss- und Kastanienschalen. Für die Fettversorgung setzte man neben Streckung auf bislang wenig beachtete Ölsaaten und -früchte, musste aber bald zu Öl-Ersatzmitteln greifen. Es gab EiErsatzmittel, Kaffeesurrogate, Ersatzmittel für Fleisch, Tee, Gewürze usw. Neben Nahrungsmitteln mussten auch für andere Dinge des alltäglichen Bedarfs (Seife, Schuhe, Kleidung usw.) Ersatzstoffe verwendet werden. Adolf Gaiswinkler etwa erhält bei seiner Entlassung aus dem Heeresverband 20 Vgl. dazu Maureen Healy, Vom Ende des Durchhaltens, in: Pfoser/Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 136. 21 Ebd., 138. 22 Vgl. dazu Andrea Brunner, Das Maisgespenst im Stacheldraht. Improvisation und Ersatz in der Wiener Lebensmittelversorgung des Ersten Weltkriegs, in: Pfoser/Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 141 ff.

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eine Uniform aus Brennnesselstoff, für Anton Hanausek scheint die mangelhafte Stoffqualität nicht einmal des Aufwands wert, diese an der Ausgabestelle abzuholen. Karolina Weiss kommt nach mehreren Jahren auf verschiedenen Dienstposten wieder nach Hause; das Wiedersehen ist herzlich, die Versorgungssituation der Arbeiterfamilie allerdings prekär. „Wir essen Brennnessel, Katzen, Rüben“, berichtet die Mutter, und selbst daran besteht schon Mangel. Die ganze Familie ist abgemagert, halb verhungert. „Die Buben essen alles, was sie finden …“ und büßen dies mit Ausschlägen. Maria Langegger erinnert sich in ihrem Beitrag mit Grausen an eine Madensuppe, die ihr einmal vorgesetzt wurde. Aus dem Elternhaus von Karolina Weiss sind einige vertraute Dinge verschwunden: „Die freundlichen Dinge des Hauses waren auf die Höfe der Bauern gewandert – für Brot und Kartoffeln.“ Umso willkommener sind die „essbaren Grüße“, die sie auf der Heimreise von Verwandten mit bekommen hat und aus denen ein einmaliges Festessen – Erdäpfelsuppe und Zwetschkenknödel – zubereitet wird. Albert Lang schildert, dass der wenige Weizen in Kaffeemühlen gerieben wurde, was zwar kein richtiges Mehl ergab, aber das Schrotbrot war immer noch viel besser als das steinharte Maisbrot. Der Erwerb einer Gans oder der Erfolg der eigenen Bienenzucht sind für ihn demgegenüber schon wahre Höhepunkte. Zwei Ferkel können angeschafft und einige Wochen lang gefüttert werden, ehe sie aus dem versperrten Stall gestohlen werden. Eine Gruppe von Kindern kann in der Erzählung Ludmilla Fialas den Diebstahl eines Huhns gerade noch vereiteln, die Bewachung des geflügelten Nahrungsspenders gehört zu den alltäglichen Pflichten der Kinder, wann immer die Mutter anderes zu tun hat. Ludmilla Fiala erzählt auch vom nächtelangen, oft vergeblichen Anstellen um ein wenig Milch oder ein Stück Fleisch, 287

was für Kinder – sie ist 1910 geboren – eigentlich verboten war. Sie klaubt Essbares aus Schutthalden, auf denen die Ankerbrotfabrik ihr halbverkohltes Maisbrot ablädt; eine weitere Erwerbsquelle bildet das Sammeln von Koksstücken. Erleichterung bringen dann Hilfslieferungen von Nahrungsmitteln aus Amerika; bei den Ausspeisungen für Kinder muss allerdings alles an Ort und Stelle verzehrt werden. Außerdem erwähnt sie die Wärmestuben, wo man Einbrennsuppe und ein Stück Brot bekommt. Marie Toth berichtet, dass auf den Feldern liegengebliebene Ähren, Brennnessel, Knoblauch- und Sauerampferblätter gesammelt und gefrorene Kartoffeln ausgegraben und gekocht werden. Zu Weihnachten 1918 gibt es gar nichts mehr, kein Petroleum, keine Kohle, nicht einmal ein Stück Brot. Als sie an Grippe erkrankt und ihre Lunge darunter leidet, wird ihr zu Hundeschmalz geraten; Karolina Weiss organisiert für ihren kranken Vater Pferdefleisch. Kaninchen und Hühner zu züchten stellt eine wichtige Nahrungsmittelergänzung dar, auch noch in der Nachkriegszeit. Hunger erwies sich nicht nur als guter Koch, sondern auch als nachhaltiger Lehrmeister, und so überdauerten solche Selbstversorgerstrategien vielfach auch die Krisenjahre und bereicherten noch über Jahrzehnte die Kost von städtischen und ländlichen Arbeiterfamilien. „Der Hunger, die Armut, das Elend hatten mit dem Ende des Krieges erst richtig begonnen“, schreibt Karolina Weiss und dementsprechend anfällig war die Bevölkerung nach jahrelanger Auszehrung für Krankheiten aller Art. Die Spanische Grippe zu Kriegsende forderte Tausende Todesopfer, unter ihnen etwa Egon Schiele, Gustav Klimt und Otto Wagner. „Krankheit“ ging gegen Ende des Krieges fast immer einher mit Erschöpfung und Unterernährung.23 Tuberkulo23 Dazu und Im Folgenden: Weigl, Eine Stadt stirbt nicht so schnell, in: Pfoser/ Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 68.

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seerkrankungen, Nierenentzündungen, Darmkatarrhe, Blut­ armut, Rheumatismus, Rachitis, Herzkrankheiten und Ödeme waren häufig die Folge schwerer Unterernährung. Der Hunger schwächte die Widerstandskraft gegenüber Krankheiten. Oskar Kahn begibt sich Ende August 1918 auf Heimaturlaub, wie sich herausstellt, mit einer Malariainfektion. Wiederkehrende Fieberanfälle haben zur Folge, dass er zur Erholung und Pflege nach Klosterbruck bei Znaim geschickt wird. Trotz Erholungsaufenthalt und zweimonatigem Urlaub behauptet sich die Krankheit hartnäckig, und auch die Umgewöhnung von der relativ „kräftigen“ militärischen an die zivile Kost fällt ihm nicht leicht. Mehrere der heimgekehrten Männer erwähnen, dass sie unter irgendwelchen Folgeerscheinungen von Ruhrerkrankungen zu leiden haben. Noch dramatischer als bei den heimkehrenden Soldaten stellt sich die Situation bei Kindern im schulpflichtigen Alter dar, bei denen die Nahrungsmittelnot nachhaltige Entwicklungsdefizite und Folgeerkrankungen nach sich zog. Ihr Gesundheitszustand, insbesondere jener in den Städten, war katastrophal. Noch im Jahr 1920 erbrachten Untersuchungen unter 145.000 Wiener Kindern einen Anteil Unterernährter von 75 bis 80 Prozent.24 Großstadtkinder wie Ludmilla Fiala waren die erste Zielgruppe von Elsa Björkman-Goldschmidt als Vertreterin der schwedischen Organisation Rädda Barnen (Rettet das Kind), die ab Herbst 1919 Hilfsaktionen für die notleidende österreichische Bevölkerung durchführte. In Wien begegnen ihr „allgemeine Auflösung, dumpfe Verzweiflung, Apathie und früher Tod“, zugleich aber „ein intensiver Lebenshunger“. Elsa Björkman ist beeindruckt vom Enthusiasmus und den sozialpolitischen Initiativen der Sozialdemokratie. Als von außen 24 Ebd., 70.

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Kommende ist sie eine umso genauere Beobachterin der Verhältnisse, und über die Jahre ihres Aufenthalts entwickelt sie sich auch zur Kennerin der österreichischen bzw. Wiener Besonderheiten, etwa wenn sie von der Bedeutung der Protektion berichtet. Die Wiener Bevölkerung verfüge beispielsweise über „einen extremen Einfallsreichtum …, wenn es darum geht, sich eine ‚Extrawurst‘ zu verschaffen“. Neben den schwedischen Hilfsorganisationen bemühten sich verschiedene andere Einrichtungen, zum Teil bereits ab 1917, Erholungsaufenthalte für unterernährte Kinder aus den Städten bei Pflegefamilien auf dem Land oder im benachbarten Ausland zu organisieren.25 Aus der ansehnlichen Zahl an Erfahrungsberichten von damals verschickten Kindern wird in diesem Band exemplarisch nur jener von Annemarie Fossel vorgestellt, in dem – wie nicht selten bei den ausgewählten „Szenen“ – eine recht verbreitete Kindheitserfahrung jener Jahre auf eher untypische Weise subjektiv gebrochen zur Darstellung kommt. Für Oskar Kahn, der im Februar und März 1919 einen solchen Kindertransport der Wiener Kinderfreunde in die Schweiz begleitet, scheint diese Reise ebenfalls vorwiegend Erholung bedeutet zu haben. Dabei beschreibt er die Fülle der Nahrungsangebote und Geschenke, die den Kindern in der Schweiz zuteilwerden, weit eindringlicher als eigene Betreuungsaufgaben. Die Hauptlast der alltäglichen Versorgung mit Lebensmitteln hatten die Frauen zu tragen, die ihre Küche an die realen Möglichkeiten anpassen mussten. Äußerste Sparsamkeit im Umgang mit den vorhandenen Lebensmitteln war gleichsam patriotische Pflicht. „Es war eine gräuliche Zeit“, hören wir 25 Isabella Matauschek, Die dänische Kinderhilfsaktion für Wien, 1919–1938. Dipl.Arb. Universität Wien 1995; dies., Wien – Dänemark – Wien. Von der Wechselbarkeit nationaler Identität, in: Reinhard Sieder (Hg.), Brüchiges Leben. Wien 1999, 73–101.

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von Oskar Kahn, und doch waren Hunger und Mangel für etwas gut: „In dieser Zeit haben die Wiener Hausfrauen gelernt, mit wenig Zutaten gute Speisen äußerst sparsam zu kochen.“ Sparsames Kochen sollte auch der Erwerb eines Spar- und Schnellkochers mit dem sprechenden Namen „Hausfreund“ gewährleisten, der sehr wenig Brennstoff benötigte und in jener Fabrik erzeugt wurde, in der Albert Lang beschäftigt war. Als einen gewissen Schlusspunkt der langanhaltenden Lebensmittelmisere behielt Anton Hanausek ein Erlebnis im Frühling 1920 in Erinnerung, als er erstmals wieder ein hochwertiges Nahrungsmittel, nämlich zehn Dekagramm Schmalz, frei, ohne Marken, zu kaufen bekam und dieses sofort, ohne Brot und Salz, verschlang. Das von ihm verwendete Bild ist einprägsam: „Ich fühlte, wie mein völlig entfetteter Körper das Schmalz gierig aufnahm, genauso wie ein neues Löschpapier den dicken Tintenpatzen.“

Hamstern und Schleichhandel Breiten Raum nehmen Erzählungen vom Hamstern ein. Hamstern ist anstrengend und ungeliebt, aber sogar die ehemals wohlhabende Familie Schinnerer ist in diesen Jahren darauf angewiesen und erweist sich als durchaus erfolgreich. Sie trifft anscheinend den richtigen Ton bei den Verhandlungen mit den Bauern, hat allerdings anfangs auch noch recht ansehnliche Tauschobjekte anzubieten. Hilfe erhält die Familie zudem durch Lebensmittellieferungen von Verwandten aus Amerika und durch Unterstützungsmaßnahmen aus einer Reihe von Ländern. Die Strategien und Praktiken der Nahrungsbeschaffung kollidierten in jener Zeit häufig mit bestehenden Gesetzen oder auch ethischen Grundregeln wie etwa die Hamstertouren von Karolina Weiss und ihrer Schwester unter falscher Identität. 291

Marie Langegger, die mit zehn Jahren in Dienst zur Familie einer Schulkameradin kommt, wird dort zum Hamstern und für den Schleichhandel „abgerichtet“. Sie selbst muss sich mit erbetteltem Brot zufrieden geben, von der gehamsterten Ware getraut sie sich nichts zu nehmen. Beim Verstecken der Lebensmittel ist man kreativ, Eier werden in Stoff eingenäht, die Butter in einem Stoffsackerl am Körper befestigt. Ihr „Meisterstück“ liefert sie, als sie einmal angesichts einer drohenden Kontrolle durch Gendarmen das Schmuggelgut in einer Hundehütte versteckt. Sie rettet es so vor der Beschlagnahme und sich selbst bzw. ihre Dienstherrin vor einer Bestrafung. Gelegentlich dürften die Behörden bei kleineren Vergehen auch ein Auge zugedrückt haben, wie aus den Erzählungen von Marie Toth hervorgeht. Sie weist aber auch darauf hin, dass man sich beim Heimtransport des mühsam zusammengetragenen Hamsterguts nicht nur vor Exekutivorganen, sondern auch vor „Gesindel“ in Acht nehmen musste, weshalb hamsternde Kinder möglichst in Gruppen unterwegs waren. Die Schule gerät bei ihr wegen der ständigen Hamsterfahrten jedenfalls immer mehr ins Hintertreffen, was sie sehr bedauert. Ihren letzten Schultag empfindet sie als Tag der Trauer. „Der Krieg hat meine Kindheit, meine Zukunft zerstört.“ Die Chance, sich neben der Beschaffung des Lebensnotwendigsten auch die nötige Grundschulbildung anzueignen, war für Kinder ihrer sozialen Herkunft nach so vielen Kriegs- und Krisenjahren weitestgehend dahin. Leo Schuster bestätigt aus der Perspektive eines damals aktiven Gendarmen die Erfahrungen Marie Toths und zieht einen deutlichen Trennstrich zwischen Hamsterei und Schleichhandel. Gegen Hamsterer für den Eigenbedarf ging die Gendarmerie angeblich nicht allzu kleinlich vor. Schleichhandel im Großen hingegen musste bekämpft werden, und das konnte auch gefährlich werden. Einmal hat es Leo Schuster anlässlich eines großen Fleischschmuggels mit einer gan292

zen Schleichhändlerbande zu tun; es kommt zu einer Schießerei, bei der er schwer verletzt wird. Für sein Eingreifen wird er belohnt und ihm eine Versetzung angeboten; dennoch zeigt er sich mit der Vergütung seines selbstlosen Einsatzes durch den Dienstgeber Staat keineswegs zufrieden. Albert Lang lernt aus eigener Praxis ebenfalls beide Varianten der „Hamsterei“ kennen. Individuelle Hamstertouren zu Bauern lässt er bald bleiben, weil es ihn stört, „wie ein Bettler“ behandelt zu werden. Als berufsmäßiger Kraftfahrer ist er aber auch bei der „Hamsterei im Großen“ gefragt. Er schildert kleine Tricks, wie man Wache- und Finanzbeamte bei Kontrollen positiv stimmen konnte. Teils aus Loyalität seinen Dienstgebern gegenüber, teils aus eigennütziger Hoffnung auf abfallende Nebenerträge lässt er sich auf nächtliche Transportfahrten mit Schleichhändlern ein, wird (bzw. fühlt sich) letztlich aber auch von diesen übervorteilt. Seine späte Erkenntnis, dass „diese Schleichhändler … doch alle Gauner (sind)“ und man gut daran tue, „wenn man an solches Gesindel nicht einmal anstreift“, ist einerseits entlarvend offenherzig, andererseits machen seine Aufzeichnungen doch auch deutlich, wie leicht man in einer an existenziellen Bedrohungen derart reichen und von Gewaltbereitschaft geprägten Gesellschaft in gefährliche Grauzonen bzw. mit den Grenzen des Legalen in Konflikt geraten konnte.

Materielle Verluste und Inflation Erschwert wurde die Situation durch die während des Krieges rückgestaute, danach aber umso rascher einsetzende Inflation. Die Inflation hatte sich bereits während des Krieges mit enormen Teuerungsraten bei einzelnen Lebensmitteln bemerkbar gemacht. Insgesamt stieg der Index der Lebenshaltungskosten von Juli 1914 (= 100) bis November 1918 auf 293

1.640.26 Unter Berücksichtigung der Wohnungskosten, die durch die Mieterschutzgesetzgebung 1917 einigermaßen stabilisiert wurden, sank die Kaufkraft der Krone auf ein Dreizehntel des Friedenswertes. Die Inflation hatte Konsequenzen für sämtliche Einkommensbezieher/innen, besonders betroffen waren die Bezieher/innen fester Gehälter, oft Angehörige des Mittelstands, unter dem sich Zukunftssorgen und Ängste vor einem Abgleiten ins Proletariat verbreiteten. Die Lage sollte sich noch verschärfen. Staatspapiere, in erster Linie die Kriegsanleihen, erwiesen sich nach dem Krieg als wertlos, die Inflation wuchs sich zu einer Hyperinflation aus. Die Preise verdoppelten sich zwischen 1914 und 1921 jedes Jahr. Im Herbst 1921 setzte die letzte Phase der Hyperinflation mit Preissteigerungen von über 50 Prozent monatlich ein, im August 1922 verdoppelten sich die Preise. Die Lebenshaltungskosten erreichten bis Sommer 1922 das 14.000fache der Vorkriegszeit. Und wieder war es der Mittelstand, der besonders betroffen war durch die zusätzlich einsetzende Nivellierung der Gehälter im öffentlichen Dienst und den 1922 einsetzenden Beamtenabbau. Mit der Genfer Sanierung27 übernahm Österreich auch die Verpflichtung zu einer Sanierung des Staatshaushalts. Mit der Einführung des Schillings als neuer Währung 1924/25 (für 10.000 Kronen erhielt man einen Schilling) fand die Inflation ein Ende.

26 Dazu und im Folgenden: Hannes Stekl, „Die Verelendung der Mittelklassen nimmt ungeahnte Dimensionen an …“, in: Pfoser/Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 89 f. 27 Unter Genfer Sanierung bzw. Genfer Protokolle versteht man ein Abkommen zwischen der Republik Österreich sowie Großbritannien, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei im Rahmen des Völkerbundes. Österreich bekam eine Völkerbundanleihe von 650 Millionen Goldkronen, um die Hyperinflation zu beenden. Verlangt wurden radikale Sparmaßnahmen, Beamtenabbau und eine strenge Kontrolle der Notenpresse. Der Generalkommissär des Völkerbundes übernahm die Kontrolle über die österreichischen Staatsfinanzen.

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Über sehr viel Weitsicht scheint die 1917 erst 15-jährige Ulrike Pilger verfügt zu haben. Angesichts seines nahenden Todes vermacht ihr Großvater seiner Tochter seinen Besitz, Schmuck und Kriegsanleihen. Die Enkelin rät ihrer Mutter, die Anleihen zu verkaufen. Wer sollte nach Kriegsende – der Krieg war zu diesem Zeitpunkt für Ulrike Pilger schon verloren – die Kriegsanleihen zurücknehmen? Sarkastisch äußerst sich Ulrike Pilger in diesem Zusammenhang auch über die Partnersuche (die Anleihen sollten als Mitgift für eine künftige Heirat dienen). „Alle annähernd brauchbaren … Männer werden bis Kriegsende gefallen, krank oder verkrüppelt sein.“ Die Argumente der Tochter überzeugen die Mutter und auch sie gelangt zu dem im Nachhinein weisen Entschluss: „Besser wir verfressen das Geld jetzt, als wir verheizen es später als Altpapier.“ Seinen schlechten Gesundheitszustand kann Paul Schinnerer im Spital auskurieren, finanziell jedoch geht der Abstieg weiter, wie aus langen Ausführungen über seine Pension hervorgeht, die wegen der Inflation ebenso zusammenschrumpft wie die Wertpapiere, die nicht rechtzeitig abgestoßen werden und zunehmend an Wert verlieren. Trotz einer zusätzlichen Invalidenrente kann mit diesem Einkommen die Familie nicht erhalten werden und Stück für Stück der Attribute bürgerlicher Lebensführung muss verkauft werden: Teppiche, Pelze, Schmuck. In den sozialen Abstieg der bürgerlichen Familie mischt sich am Ende ein Lichtblick. Ab 1921 geht Paul Schinnerer einem bezahlten Nebenerwerb nach. Das Einkommen wird nicht nur als „willkommener Zuschuss“ gesehen, sondern die Tätigkeit bietet vor allem Ablenkung und Beschäftigung, denn „die völlige Tatenlosigkeit war schrecklich“. Elsa Björkman bezeichnet die Inflation als „einschneidendstes Ereignis nach dem Krieg“, da sie in kurzer Zeit „Wohlhabende in Bettler“ verwandelte; kleine Ersparnisse oder die geringe Rente lösten sich „buchstäblich in nichts“ auf. Die Inflation teilte die Bevölkerung in zwei Teile, „in 295

die Schnelldenkenden und Vorausblickenden sowie in die Langsamen und Bettelarmen“. Letztere liegen der Schwedin besonders am Herzen, aber es war schwierig, „die wirklich Bedürftigen“ herauszufinden. Es standen jene, „die sich ängstlich bemühten, ihr Elend hinter einem dünnen Schleier von Stolz zu verbergen“ gegen jene, „die sich allzu stürmisch vordrängten und ihre Not, sowohl echte als auch falsche, in allen Tonarten beklagten“. Hertha Günste ist – dank umsichtiger und einflussreicher Berater – wohl zu den „Schnelldenkenden und Vorausblickenden“ zu zählen. Auch wenn sie selbst manche Einbußen beklagt, gelingt es ihr, den gewohnten Lebensstandard annähernd aufrechtzuerhalten bzw. dem etwas geänderten Lebensstil auf einem neu erworbenen Landsitz einiges Positive abzugewinnen. Zunächst steht sie jedoch vor einem anderen, privaten Problem: Sie will sich scheiden lassen und nochmals heiraten. Da die katholische Kirche in Österreich keine Wiederverheiratung gestattet und man sich der Unauflöslichkeit der Ehe nach § 111 des ABGB auch durch Konversion nicht entziehen kann,28 muss sie zunächst (durch eine Scheinadoption) Ungarin und (gegen ihre weiterhin katholische Überzeugung) Protestantin werden, um ihren zweiten Mann heiraten zu können. Diese „Freiheit“ kostet sie viel Geld und einen Teil ihres Hab und Guts. Ihr zweiter Ehemann, Oberst Franz Putz, Flügeladjutant des Generalstabschefs Franz Conrad von Hötzendorf, taucht in ihren retrospektiv verfassten Aufzeichnungen manchmal als „Franzl“, auffällig oft aber als „Oberst Putz“ auf – ein recht deutlicher Hinweis auf eine Konfliktsituation zwischen

28 Andreas Weigl, Katholische Bastionen. Die konfessionellen Verhältnisse vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die frühen 1920er Jahre, in: Konrad/Maderthaner, … der Rest ist Österreich, Bd. I, 385.

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persönlichen Gefühlen und den Erwartungshaltungen des gesellschaftlichen Umfelds. Ihr Mann ist es auch, der ihr zur rechtzeitigen Anlage ihres Vermögens durch den Kauf eines ländlichen Anwesens nahe Waidhofen an der Ybbs geraten hat. Für ihn, der in Wien arbeitet und jeden Sonntag mit exquisiten Geschenken auf Besuch kommt, ist ein Zimmer im Gästehaus eingerichtet. Hertha Günste spricht von knappen Mitteln, „litt“ aber nicht „unter der Sparerei“. Als sich ihre Schwester mit Familie und Dienstboten vorübergehend bei ihr einquartiert und ihren aus Slowenien geretteten Reichtum offen präsentiert, fürchtet Hertha Günste um ihren bislang ruhigen Rückzugsort. Tatsächlich wurde die Aufmerksamkeit der Umgebung geweckt und kurze Zeit später umstellt die Volkswehr, provoziert durch das Zur-SchauStellen des Überflusses, das Haus und durchsucht es. Hertha Günste rettet mit List die Mehlvorräte und weitere eiserne Lebensmittelreserven. Durch einen Gelegenheitskauf kann sie ihren Besitz auf 80 Joch vergrößern, sie besitzt das Jagdrecht, hinreichend viel Wald (dadurch auch genügend Brennmaterial) und mehrere Tiere. Nach Wien nimmt ihr Ehemann sie nicht mit, sie „würde entsetzt sein, wie sich diese schöne Stadt verändert habe“. Auch wenn sich Hertha Günste insgesamt vom Schicksal schlecht behandelt sieht, scheint sie sich der Annehmlichkeiten bewusst zu sein, die sie auf dem Land genoss. „Die Not kroch langsam als Kriegsfolge über ganz Österreich, aber wir spürten sie nicht so sehr.“ Andere kämpften zur selben Zeit ums Überleben.

Feindbilder: Offiziere – Volkswehr – Kriegsgegner In der Umbruchzeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs übernahmen in Teilen Deutschlands, etwa in Bayern, und in Ungarn, inspiriert von der Russischen Revolution 1917, 297

selbsternannte Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. Die Bildung von Räten war „ein Produkt des spontanen Strebens der sozialen Unterschichten nach unmittelbarer Teilnahme an allen öffentlichen Angelegenheiten und Ausdruck der massenhaften Mobilisierung, Politisierung und Radikalisierung der Arbeiterschaft in der Endphase des Ersten Weltkriegs“.29 Auch in Österreich, insbesondere in Wien und Teilen Niederösterreichs, hatte sich eine Rätebewegung gebildet. Die Schwerpunkte der Aktivitäten der Arbeiter- und Soldatenräte lagen in der Aufbringung der Lebensmittel, im Kampf gegen den Schwarzmarkt, gegen Wucher und Preistreiberei und in der Zuweisung von Wohnungen an Bedürftige. Ihr Einfluss ging allerdings ab 1920 aufgrund der konsolidierten parlamentarischen Verhältnisse, der Wahrnehmung von Aufgaben der Rätebewegung durch neu geschaffene Institutionen (Betriebsräte, Arbeiterkammern) sowie der insgesamt mäßigenden Haltung der Sozialdemokratie rasch zurück. Der Zerfall der Habsburgermonarchie besiegelte das Schicksal der alten Eliten und Stützen der Monarchie, insbesondere der Aristokratie und der Offiziere. Das zeigte sich nachdrücklich in Tumulten auf Straßen und Plätzen, wo einer nunmehrigen „kollektive(n) Grundströmung des Pazifismus“ entsprechend,30 sicherlich auch aus lange aufgestauten Aggressionen heraus, für die das hohe Militär symbolisch als Opfer und Feindbild herhalten musste, von den Fronten heimkehrende Offiziere insultiert wurden. Man riss ihnen Sterne und Orden von der Uniform, zerbrach ihre Säbel und wurde mitunter gewalttätig.31 Neben Zivilisten waren 29 Vgl. dazu und im Folgenden Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien. Band 4 Le – Ro. Wien 1995, 632 f. 30 Ernst Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2005, 48. 31 Dazu und im Folgenden: Hämmerle, 1918, in: Scheutz/Strohmeyer (Hg.), Von Lier nach Brüssel, 261 f.

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an diesen Auseinandersetzungen auch Soldatenräte beteiligt, die zum Teil gewählte Vertreter und damit die eigentlichen Träger der Autorität innerhalb der republikanischen Volkswehren waren. Diese Gräben sollten durch den Friedensvertrag von St. Germain noch größer werden, da man Österreich nur ein kleines Heer zugestand und somit nur ein kleiner Prozentsatz der k. u. k. Berufsoffiziere darin aufgenommen werden konnte. Alle anderen wurden, wie die vielen Reserveoffiziere, entlassen, abgefertigt oder pensioniert. Oft längere Zeit arbeitslos und sozial deklassiert, lehnten sie die neue Republik mehrheitlich ab und fanden mit ihrer oft antidemokratischen Grundhaltung Zuflucht und Aufnahme bei den paramilitärischen Wehrverbänden der „Heimwehren“. Von ihnen wird das Jahr 1918 dementsprechend als „Katastrophe und tiefer Einschnitt“ gesehen, als „Beginn der politischen Verderbnis, die insbesondere am Einfluss der Rätebewegung und der Sozialdemokratie, aber auch am System der Republik allgemein“ festgemacht wird.32 Als Hüterin eines Wirtshauses, in dem ein Trupp bayrischer Soldaten zum Schutz der Stadt einquartiert wird, ist Karolina Weiss mehrfach mit einem ortsbekannten Stänkerer und Raufbold konfrontiert, dem sie tapfer die Stirn bietet. Eine blutige Rauferei bei einer zufälligen Begegnung zwischen diesem und einem Offizier, der ihn während des Krieges einmal bestrafte, zeugt nicht nur von individueller Aggressivität und Rachegedanken, sondern vom insgesamt hohen Aggressionspotenzial und der Gewaltbereitschaft in dieser Zeit des Umbruchs. Was hier gegen einen ganz bestimmten Offizier gerichtet ist, also ein persönlicher Racheakt, findet auf der Straße anonym statt. In Wien angekommen, wird Alois Rezac zum Transportkommando als Bewachung für die Lebensmitteltransporte 32 Ebd., 267.

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zugeteilt. In Wien war das Tragen militärischer Rangabzeichen am Kragen von der neuen Regierung verboten worden, Rezac hält sich nicht daran und wird von einer Wache darauf hingewiesen, die „Sterne“ abzunehmen, wogegen er sich bewaffnet zur Wehr setzt. Auch in einem zweiten Fall hilft seine Pistole. Anlass ist die Belästigung seiner Frau, doch aufgeschaukelt wird das Ganze durch Rezacs Uniform. Gewalt auf der Straße, Gewalt vor allem gegen das Militär, das jetzt als Sündenbock für den verlorenen Krieg, wie es scheint aber für vieles mehr, herhalten muss. Rezac merkt zu den geschilderten Gewalt­szenen lakonisch bis verächtlich an: „Das war der Wandel von der Monarchie zur Demokratie.“ Leo Schuster ist in einem Lazarett in Pardubitz in Böhmen mit dem Ende der Monarchie konfrontiert. Er erlebt eine kuriose Szene: Der Kaiseradler des Bahnhofs wird „auf einen Mistwagen verladen und damit ein Leichenbegängnis markiert“. Für Leo Schuster bedeutet der Verlust der Rangabzeichen mehr als nur von alten Symbolen Abschied zu nehmen. Er hatte – jung verheiratet und bald Vater – gehofft, nach zwölfjährigem Dienst als Berufsunteroffizier einen Beamtenposten im Staatsdienst zu erlangen; jetzt steht er „vor dem Nichts“. Deshalb meldet er sich zur neu aufgestellten Volkswehr; eine Stelle in Korneuburg sieht er nur als Übergangslösung, denn als nunmehriger Ausländer – er wurde in Mähren geboren – hätte er ohnehin nicht in ein künftiges österreichisches Herr übernommen werden können und „als altem Unteroffizier“ gefallen ihm „die Verhältnisse bei der Volkswehr nicht, denn das war eine Horde von Kommunisten“. Ähnlich negativ ist die Einschätzung von Generalmajor Paul Schinnerer, der 49-jährig nach einer schweren Verletzung als Kriegsinvalide aus dem aktiven Dienst ausscheiden musste. Er ist entsetzt über die neuen Verhältnisse, über „die offene Missachtung und die skandalöse Behandlung, die wir allenthalben erdulden mussten“. „Im Staate herrschte völlige Anar300

chie; jede Autorität war untergraben.“ Und Schinnerer macht als die neuen „eigentlichen Herrscher“ die „Arbeiter- und Soldatenräte“ bzw. „deren meist jüdische Führer“ aus, als deren „ausübendes Organ“ die Volkswehr fungierte. Schinnerer charakterisiert diese als aus „Hinterlandssoldaten“ gebildete Truppen, „die die ganze Bevölkerung terrorisierten und ausplünderten“. Insgesamt erscheint die Darstellung der zwischen November 1918 und März 1920 bestehenden Volkswehr aus Sicht ehemaliger k. u. k. Offiziere allzu generalisierend und ressentimentgeladen. Die ungeheure Herausforderung, in dieser Nachkriegs- und Umbruchsituation landesweit neue republikanische Ordnungskräfte zu organisieren, wird sichtlich unterschätzt. Aus heutiger Sicht sind die ausgleichenden Bemühungen des für die Volkswehr zuständigen Unterstaatssekretärs Julius Deutsch, insbesondere auch sein aktives Vorgehen gegen eine Dominanz linksradikaler Elemente, die sich innerhalb der Wiener Volkswehr als „Rote Garde“ formiert hatten, weithin anerkannt. 33 Über die Kriegsverbündeten wie auch über die verschiedenen Nationalitäten der k. u. k. Monarchie werden in den Erzählungen über die Nachkriegsjahre nicht (mehr) viele Worte verloren. Das teils distanzierte bis feindselige Verhältnis wurde zumeist schon in früheren Phasen der Auseinandersetzung abgehandelt. Albert Lang beklagt aber im Mai 1918, als die Kriegsniederlage sich abzuzeichnen scheint, dass „unser Soldatenmaterial schon ziemlich schlecht ist“ und notiert in sein Tagebuch: „Die Tschechen kann man überhaupt nirgends mehr einsetzen, die Ungarn wollen auch nicht mehr kämpfen.“ Verständnis für

33 http://www.bundesheer.at/truppendienst/ausgaben/artikel.php?id=893. https://austriaforum.org/af/Wissenssammlungen/Essays/Geschichte/Die_Wiener_ Volkswehr_1918_-1920.

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die abtrünnigen Truppenteile der in Auflösung befindlichen k. k. Armee oder für die nationalen Gefühle der Tschechen, Slowaken, Ungarn, Slowenen etc. ist kaum zu bemerken. Dass der Vielvölkerstaat Österreich in erster Linie am ungelösten Nationalitätenkonflikt scheiterte, dass sich viele nationale Minderheiten in der Habsburgermonarchie unterdrückt fühlten, dass die Deutschsprachigen über die Anderssprachigen geherrscht hatten, all das taucht in den Erinnerungen nicht auf; im Allgemeinen ist man schon froh, auch unter den „Feinden“ auf gute Menschen zu stoßen. Aus den an der Front gemeinsam Kämpfenden waren Gegner und Kontrahenten geworden. Alois Rezac, der mit seiner Einheit den Zusammenbruch der Fronten in Oberitalien erlebt, zeichnet allerdings von sich das Bild eines kaisertreuen, seinen vielsprachigen Untergebenen gegenüber korrekt und verständnisvoll agierenden Offiziers. Rezac hat seine Kompanie, in der fünf Sprachen vertreten sind, erst vor kurzem übernommen und erwirbt sich deren Respekt – auch weil er den Dingen – bei Aufrechterhaltung der Disziplin – gewissermaßen ihren Lauf lässt. Er entlässt seine ungarischen, kroatischen, italienischen Soldaten nach und nach in ihre Heimat. Vielleicht auch deshalb wird Rezac von seiner Kompanie gegen Angriffe verteidigt, obwohl anderswo „viele Soldaten … ihre Offiziere erschossen“. Verständnis für die Kriegsgegner findet sich in den Aufzeichnungen ebenfalls nur selten. Zum Teil werden diese auch für die katastrophalen Nachkriegsverhältnisse verantwortlich gemacht. Nach 1918 fand in Österreich eine Dolchstoßlegende weite Verbreitung. „Die Armee sei durch die Heimtücke des Feindes besiegt worden, durch die wirtschaftliche Erschöpfung der Heimatfront und durch das Abspringen und Meutern der Nichtdeutschen und Revolutionäre.“34 34 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995, 323.

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Wer Schuld hat an der Lebensmittelknappheit und an den kargen Lebensmittelzuteilungen, weiß etwa Oskar Kahn: „Es war das Verdienst Englands und Frankreichs, dass man uns noch jahrelang nach dem Friedensschluss hungern ließ“ und fügt hinzu: „Man musste erzogener Menschenfreund sein, um die Franzosen, Engländer von damals an nicht zu hassen.“ Einen ausgewogenen humanistischen bis abgeklärten Blick auf die Verhältnisse wirft Marianne Jarka, die das Kriegs­ende, umgeben von Kranken und Sterbenden, in einem mobilen Feldspital in Udine erlebt. Zwar verwendet auch sie für die italienischen Truppen den abschätzigen Begriff „Katzelmacher“, versteht aber die negativen Gefühle der italienischen Zivilbevölkerung gegenüber dem österreichischen Militär, da von diesem überall gestohlen und geplündert wird – „requiriert“, wie es offiziell heißt. Den italienischen Offizier, der bei Kriegsende die Leitung des Spitals übernimmt, erlebt sie hingegen als „edel denkenden“, „vornehmen“ Menschen, als Ausnahmeerscheinung unter den größtenteils „schamlose(n) Egoisten“, egal welcher Herkunft. Ebenfalls gefeit gegen nationalistische Vorurteile und Kriegspropaganda scheint Gottlieb Pomberger nach seinem jahrelangen Aufenthalt als Kriegsgefangener in Russland. Von dort geflüchtet, kommt er im Oktober 1918 nochmals zum Kriegseinsatz, und dies just als Aufseher in einem Lager für russische und serbische Gefangene in Bosnien-Herzegowina. Heimkehrer aus der Gefangenschaft in Russland fanden sich oft der Desertion verdächtigt oder waren mit dem Vorwurf der Feigheit vor dem Feind konfrontiert.35 Ein Teil der Heimkehrer wurde herangezogen, die immer häufigeren Unruhen im Inneren der Monarchie zu unterdrücken, die meisten wurden an die Front nach Italien gebracht. Pomber35 Rauchensteiner, „Das neue Jahr machte bei uns einen traurigen Einzug“, in: Konrad/Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich, Bd. I, 25.

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gers eigene Erfahrungen in Russland haben ihn jedoch offenbar gelehrt, fremden Gefangenen mit Mitgefühl statt mit Ablehnung zu begegnen.

Die Republik – Aufbruch wohin? Für die meisten Erzähler/innen dieses Bandes sind – wenigstens in den ersten Nachkriegsjahren – politische Vorkommnisse oder gar gesellschaftspolitische Entwicklungen eher nebensächlich bzw. den unmittelbaren Herausforderungen der Existenzsicherung und Alltagsbewältigung untergeordnet. Wo politische oder weltanschauliche Haltungen artikuliert werden, deuten sich Tendenzen an, die mehrheitlich eher bedrohlich wirken. Die Ambivalenz, die Richard Seeger – angehender Jusstudent, der beruflich eine tragende Funktion in der staatlichen Verwaltung anstrebt – unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse Anfang November 1918 in seinem Tagebuch festhält, wird in den Folgejahren von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen zusehends in entgegengesetzte Richtungen hin aufgelöst werden. „Man schwankt zwischen Freude, dass das Blutvergießen beendet ist, und Schmerz über den für uns unglückseligen Ausgang des Völkerringens. Eingestürzte Luftschlösser allenthalben.“ Diese Gespaltenheit der Gefühle findet sich auch in Richard Seegers Familie wieder: Der Vater ist zukunftsfroh, die Mutter ängstlich. Er selbst „hatte immer viel übrig für den sozialen Fortschritt, war ‚sozialistisch‘ angehaucht, aber jetzt ist es ein Graus.“ Unter den Revolutionären und Demonstranten nimmt er „viel Gesindel, auch halbwüchsige Burschen“ wahr, während Offiziere verhöhnt und beschimpft werden. Obwohl er selbst immer im Kriegführen das Verderben und den Zusammenbruch Österreichs kommen sah, bezieht Seeger die Angriffe auch auf sich und 304

bedauert „die anständigen, lobenswerten, verständigen, regierungs- und dynastietreuen Beamten und Offiziere, die zur Zeit den Insulten der Lausbuben ausgesetzt sind“. Noch nie habe er „so warm für unser Kaiserhaus empfunden“. Den „friedliebenden Monarchen zum Sündenbock zu stempeln“, sei zu einfach und falsch, lasse die allgemeine Kriegsbegeisterung vergessen, die „den Mittelstand fast ausnahmslos erfasst“ und „bald alle Klassen“ angesteckt habe. Nicht weniger zwiespältig und sehr um die Integrität der eigenen Position zwischen den Konfliktparteien bemüht, kommentiert Albert Lang das Zeitgeschehen. Als Privatchauffeur einer Unternehmerfamilie und auch als Kraftfahrer in deren Betrieb beschäftigt, reflektiert er bisweilen seine eigene Zerrissenheit, vor allem angesichts der Situation des Umbruchs und Aufbegehrens einiger Teile der Belegschaft. „Unsere Herren haben diese Entwicklung schon lange vorausgesehen und (…) auch in meinem Beisein über solche möglichen Entwicklungen gesprochen. Daher bin ich auch viel besser im Bilde wie die gewöhnlichen Arbeiter, welche nur die Parteizeitung lesen und die nicht richtig.“ Bei einer Versammlung im Arbeiterheim im Zuge eines Generalstreiks ärgert er sich über die „Falschheit“ der „Schreier und Anstifter“. Er wird kurzfristig zum Arbeiterrat gewählt, hat aber „nicht viel Freude damit“, insbesondere weil er Zweifel an der „Leistbarkeit der so großen sozialen Forderungen“ der Arbeiterschaft hat. Als Einziger der Beiträger/innen dieses Bandes erwähnt er immerhin neue sozialpolitische Errungenschaften wie den Achtstundentag und den bezahlten Urlaub, die Arbeitslosenunterstützung und den Mieterschutz, vorwiegend allerdings, um seinen Pessimismus über diese Entwicklungen zum Ausdruck zu bringen. Man könnte meinen, einen christlich-sozialen oder deutschnationalen Politiker der 1920er Jahre zu vernehmen, die sich gegen die fortschrittliche Sozialpolitik der Nachkriegsjahre wandten 305

und einen Abbau der von ihnen als „soziale Lasten“ bezeichneten Reformmaßnahmen forderten. Der Freiheitstaumel verleite viele zu dem Glauben, dass „von nun an nur noch Milch und Honig fließen“ werden, bzw. „schon im Schlaraffenland zu sein.“ „Die Parolen der Sozialisten“ sind in Albert Langs Ohren „genauso ein Windgebläse wie die wahre Nächstenliebe, welche alle Kirchen predigen und doch ihre nationalen Waffen segnen“. Und wenn er seinen im September 1919 verfassten Kommentar zu den abgeschlossenen Pariser Vorortverträgen beschließt mit „... mich können die Parteien alle gernhaben, weil eine wie die andere nichts wert ist“, so lesen sich diese Zeilen schon wie ein Blick in die nähere undemokratische Zukunft Österreichs. Weniger resignativ als mit einer klaren, neuen politischen Perspektive verbunden, resümiert Gustav Linert die Nachkriegsentwicklungen. Sein Standpunkt ist der eines überzeugten Deutschnationalen bzw. späteren Nationalsozialisten, wobei er seine Herkunft als Sudetendeutscher quasi ursprünglich mit dieser Haltung im Einklang sieht. Er beklagt, dass Heimat, Volk und Vaterland nichts mehr gelten, Kultur und Religion immer mehr absinken, der Kommunismus als Heilslehre hochgelobt würde und sieht dafür auch Verantwortliche: „die Propagandisten der Feindstaaten“ versuchen die deutsche Jugend derart zu indoktrinieren. Aus der Ferne beobachtet er mit Interesse den Aufstieg des jungen Adolf Hitler und dessen Beitrag zur Umgestaltung der NSDAP. Gustav Linerts Einschätzung der Friedensschlüsse und ihrer Folgen mag – im Besonderen für Österreich – zwar polemisch und überspitzt formuliert sein, seine Beschreibung der wirtschaftlichen „Teufelsspirale“ der Nachkriegszeit ist sicher zutreffend: Die Kriegsanleihen machen selbst vermögende Familien zu Bettlern, die Kaufkraft ging zurück und damit die Nachfrage, in der Folge die Preise, die Warenerzeuger mussten 306

die Produktion einschränken, was immer mehr Kündigungen zur Folge hatte. Eine politisch konträre Position vertritt hingegen Lotte Pirker. Sie stammt aus dem westlichen Böhmen, ist in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen und hat um 1900 standesgemäß einen österreichischen Offizier geheiratet. Während ihrer Kunststudien in München und mehr noch angesichts der sozialen und politischen Verhältnisse in Wien hat sie jedoch Sympathien für die Frauen- und Arbeiterbewegung entwickelt und bezeichnet sich als „eine der vielen Novembersozialistinnen“. Den politischen Wechsel von der Monarchie zur Republik kommentiert sie entsprechend enthusiastisch: „Da kam ein Ereignis, so groß, so überwältigend, dass alle kleinlichen Sorgen schwiegen und die fortschrittlichen Menschen wieder an die Zukunft glaubten. Österreich wurde Republik.“ Wie kein zweiter Beitrag dieses Bandes konzentrieren sich die Erzählungen Lotte Pirkers auf ihre politische Tätigkeit als Bezirksrätin und kulturelle Aktivitäten als Volksbildnerin oder Organisatorin einschlägiger Veranstaltungen. Sie schreibt Grotesken für die Arbeiter-Zeitung, Lichtbildvorträge werden von ihr verfasst und gehalten, österreichweit, oft auch in Landgemeinden, wo ganz andere Denkweisen vorherrschten. Der sichere Rückhalt in der Ehe mit einem Mann, der zwar gesundheitlich beeinträchtigt aus russischer Gefangenschaft heimgekehrt ist, aber als Beamter im Eisenbahnministerium doch ein regelmäßiges gutes Einkommen bezieht, ist zweifellos eine günstige Voraussetzung für ihr weitreichendes gesellschaftspolitisches Engagement. Lotte Pirkers optimistischer Grundton und ihr vorbehaltloses Engagement für eine demokratische Zukunft sind allerdings eher einzigartig unter den autobiographischen Darstellungen dieses Bandes. Insgesamt zeichnen die Erzählungen ein eher düsteres Bild der jungen Republik, ein Bild, das sich 307

scheinbar sehr gut einfügt in die eher unglücklich verlaufene Geschichte Österreichs in der Zwischenkriegszeit. Einige Stimmen lassen mit ihrem unverblümten Antisemitismus und Deutschnationalismus erkennen, was Österreich noch bevorstehen sollte. Es ist ein brüchiges Bild, das von Österreich gezeichnet wird, ein Bild eines ungerechtfertigten Opfers des Krieges; weitgehend vergessen wird dabei, dass Österreich zu den Kriegstreibern gehörte. Es sind Szenen des Elends und Hungers, der Gewalt und des Chaos, die die Erzählungen dominieren. Dies ist sicherlich eine zutreffende Charakterisierung der Nachkriegszeit. Gleichzeitig sollte nicht darauf vergessen werden, dass es gerade der Protest der Straße war, der Anlass für all die Sozialreformen gab, die auch im europäischen Vergleich zur damaligen Zeit durchaus als fortschrittlich zu bezeichnen waren. Wer weiß heute noch, dass sozialpolitische Fortschritte wie der Achtstundentag, die Arbeitslosenversicherung, der bezahlte Urlaub, das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche, die Institutionalisierung von Arbeiterkammern, Betriebsräten und Kollektivverträgen auf die Sozialgesetzgebung der Jahre 1918 bis 1921 zurückgehen? Der Blick der Schreiber/innen ist stärker auf die negativen Begleiterscheinungen des Umbruchs gerichtet als auf die positiven Auswirkungen der Demokratisierung, den Abbau von Hierarchien und die Bemühungen um einen stärkeren Ausgleich in gesellschaftlicher Hinsicht, die Aufbruchsstimmung in den Geburtsstunden der Ersten Republik. Unter diesem Blickwinkel bleiben die hier gesammelten lebensgeschichtlichen Selbstzeugnisse einiges an epochalen historischen Wahrheiten und Veränderungen schuldig. Die drückende Not der Verhältnisse hat offensichtlich tiefere Erinnerungsspuren hinterlassen als die verschiedenen kleinen und größeren Schritte zu ihrer Beseitigung. 308

Persönliche und gesellschaftliche Aufbrüche Wenn eine Gesellschaft so tiefgreifend vom Krieg zerrüttet wurde, wenn so viele Männer auf den Schlachtfeldern ihr ­Leben lassen und Frauen vier Jahre lang den Großteil der herkömmlichen Männerarbeit leisten mussten, dann sollten an dieser Stelle noch einige Hinweise auf mögliche Folgen des Krieges für das Verhältnis der Geschlechter erwähnt werden, auch wenn solche in den Beiträgen des Bandes nicht allzu deutlich vorkommen. Bereits an anderer Stelle wurde Ulrike Pilger zitiert, die als Jugendliche schon ein Single-Dasein in Aussicht nimmt (und tatsächlich ein Leben lang ledig bleibt), weil sie davon ausgeht, dass nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs ohnehin kaum heiratsfähige junge Männer übrig sein werden. Neben ihr ist es wiederum Lotte Pirker, die das Thema Beziehungen anschneidet. Sie zeigt sich beeindruckt vom „schöne(n) freundschaftliche(n) Verkehr zwischen der männlichen und weiblichen studierenden Jugend, der sich in der Nachkriegszeit herangebildet hat“ und sieht in der Jugend einen großen Hoffnungsträger für einen neuen Umgang der Geschlechter miteinander. Im Gegensatz zu ihrem Mann, mit dem sie ­allem Anschein nach harmonisch, aber „wie zwei Kameraden“ zusammenlebt, glaubt sie an eine „Freundschaft zwischen den Geschlechtern“. Als Bezirksrätin hat sie außerdem ganz unmittelbar mit der in Wien und Niederösterreich durch einen Erlass des Landeshauptmanns Albert Sever ermöglichten Wiederverheiratung von Geschiedenen zu tun, die sie nach eingehender Prüfung der jeweiligen Lebensumstände befürworten muss. Von Seiten der männlichen Autoren dieses Bandes wird die Möglichkeit der Eheschließung noch weitgehend konventionell bis pragmatisch gesehen. Alois Rezac nutzt unmittelbar nach seiner Heimkehr den Wegfall der für Offiziere der 309

k. u. k. Armee bis dahin vorgeschriebenen Heiratskaution, um eine offenbar schon länger bestehende Partnerschaft noch im Dezember 1918 durch Eheschließung zu institutionalisieren. Ebenso ist Leo Schuster darum bemüht, rasch eine Familie und einen eigenen Hausstand zu gründen, obwohl die äußeren Umstände durchaus noch Anlass zur Sorge um seine berufliche Zukunft geben. Oskar Kahn kann aufgrund seiner prompten Wiedereinstellung in den Schuldienst – unausgesprochen wohl auch dank eines zweiten Einkommens seiner Frau, die ebenfalls Lehrerin ist – eine Hochzeit in einigermaßen festlichem Rahmen in der Wachau und im engeren Kreis der beiden Familien feiern. Nach dem Bezug und der Einrichtung einer gemeinsamen Wohnung gibt er sich zwar recht mitfühlend in Bezug auf die Doppelbelastung seiner Gattin und voll des Lobes, was ihre hausfraulichen Leistungen betrifft, eine praktische Abkehr von der einseitigen geschlechtsspezifischen Verteilung der Versorgungsarbeit scheint jedoch für einen Mann seiner Stellung noch undenkbar. Der um zehn Jahre jüngere Richard Seeger hingegen muss noch einige Jahre länger zuwarten, bis seine berufliche Position respektive sein Beamtengehalt eine standesgemäße Eheschließung nach bürgerlicher Sitte gestattet. Akzente der Neudefinition der Geschlechterverhältnisse werden somit deutlich stärker in den von Frauen erzählten Geschichten gesetzt, so auch in der von Karolina Weiß. Offenbar legt sie Wert darauf, dass ihre im September 1920 geborene Tochter den Namen ihres Vaters trägt. Die Eheschließung erfolgt ohne jedes Zeremoniell in einer Münchner Geburts­ klinik, wohin der Kindesvater mit einem 24-Stunden-Visum aus Salzburg angereist kommt. Es scheint ihr aber klar, dass es für sie und ihre Familie – ihr Mann hat einen nicht mehr ganz zeitgemäßen Handwerksberuf erlernt – im Nachkriegsösterreich keine Basis für ein geregeltes gemeinsames Aus310

kommen gibt. Sie ergreift die Initiative, um in einem vom Krieg nicht betroffenen fremden Land, den Niederlanden, eine neue Existenz zu gründen und die Mitglieder der Familie so bald als möglich nachzuholen. Die überfüllten Züge – sie muss den Großteil der Reise nach Amsterdam stehend verbringen – deutet sie als Zeichen der allgemeinen Flucht „vor der Not der Heimat“. Bei ihrem persönlichen Aufbruch in die Fremde kann sie sich allerdings schon auf frühere Auslandserfahrungen in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs stützen. Dies wirft zudem ein Licht auf die Bedeutung der internationalen Hilfsaktionen, durch die notleidende, unterernährte Kinder aus österreichischen Großstädten zur Erholung für längere Zeit zu Pflegefamilien in verschiedene europäische Länder gebracht wurden. Daraus entstanden oft jahrzehntelange Bindungen und wechselseitige Austauschbeziehungen zwischen Familien in Österreich und vor allem skandinavischen Ländern, der Schweiz oder den Niederlanden. Annemarie Fossel zählt nicht gerade zu den bedürftigsten „Kriegskindern“ und hat eigentlich auch schon das Alterslimit überschritten, als sie im März 1920 für mehr als ein halbes Jahr nach Schweden fahren kann, um „plötzlich in eine andere Welt versetzt zu werden“. Sie erlebt bei weitem nicht alles positiv, was ihr dort an fremden Alltagsgewohnheiten begegnet und von ihr einiges an Anpassung fordert, aber: „… in der Fremde lernte ich, mit sehr offenen Augen durchs Leben zu gehen“ und zuletzt „ging (es) mir wie einer jungen Katze, die eine neue Heimat gefunden hat“. Diese „neue Heimat“ findet die etwa gleichaltrige Marie Toth, die große Teile ihrer Kindheit und Schulzeit nicht mit Lernen verbringen durfte, sondern der Mithilfe bei der Nahrungsversorgung der ganzen Familie opfern musste, in den Nachkriegsjahren vorerst in ihrer engeren Umgebung. Als sie mit 17 Jahren das Angebot bekommt, von der schweren 311

­ rbeit im Ziegelwerk als Verkäuferin in den örtlichen KonA sum zu wechseln, öffnet sich für sie auch die Tür zu verschiedenen Vereinen und Jugendgruppen im Umfeld der sozialdemokratischen Partei. Ob Mitwirkung im Turn- oder Sportverein, in der Theater- oder Gesangsgruppe, „… ich hatte solche Freude mit diesem Leben. Ich musste immer üben und lernen, mir war nichts zu viel“. Trotz ungünstiger Arbeitszeit (Montag bis Samstag, 7 bis 12 und 16 bis 19 Uhr) empfindet sie die 48-Stunden-Woche als wichtige Errungenschaft. In diesem Umfeld erfährt sie Freundschaft und Geselligkeit, hier lernt sie auch ihren späteren Mann kennen, mit dem sie später ebenfalls einige Jahre in Holland verbringen wird, um das nötige Geld für den Bau eines eigenen Hauses zu verdienen. Einen paradoxen Schlusspunkt bildet der Beitrag von Ludwig Pullirsch – gewissermaßen ein Aufbruch in die Vergangenheit, und doch auch der Versuch, mit ihren Schatten fertig zu werden. Ludwig Pullirsch war zeitlebens viel auf Reisen, war wissbegierig und als Lehrer ständig Multiplikator seines Wissens. Zugleich zählt Ludwig Pullirsch zu jenen Kriegsteilnehmern, die vom Krieg nicht loskamen. Es ist ihm nicht möglich, „das Geschehene und das Erlebte zu vergessen“. So zieht es ihn immer wieder in das vormals zur Monarchie gehörende deutschsprachige Südtirol, das italienisch geworden ist, in die Dolomiten. Er besucht die Stätten seiner Kriegseinsätze, etwa einen Unterstand im Rienztal, in dem er mehrere Monate gelebt hat, und die Gräber seiner gefallenen Kameraden. Was er erlebte, gilt wahrscheinlich für viele seiner Generation, obwohl nicht viele so intensiv eigene Erinnerungsarbeit betrieben und beschrieben haben: Der Krieg kehrte zurück, besser, er lässt einen nicht los, er ist niemals verschwunden.

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Glossar Adjutant – Offizier zur Unterstützung von ranghohen Befehlshabern (z. B. von Stabsoffizieren, Generälen) in der österreichisch-ungarischen Armee Adjutum – erste vorläufige Entlohnung eines Praktikanten im Gerichtsdienst Alma Mater – wörtlich: gütige nährende Mutter; gehobene Bezeichnung für Universitäten, hier gemeint: Alma Mater Rudolphina, die 1365 gegründete Wiener Universität. Alpini – italienische Gebirgsjäger, Unterabteilung der Infanterie Amerikanische – hier: Ausspeisung für Schulkinder aus USamerikanischen Nahrungsmittellieferungen Arbeiterrat – nach dem Vorbild der Revolution in Russland wurde in der Umbruchsituation der Jahre 1918/19 in vielen Betrieben und anderen gesellschaftlichen Bereichen versucht, neue Strukturen der (Arbeiter-)Selbstverwaltung in Form von sogenannten „Räten“ (Sowjets) zu schaffen, die eine direktere Vertretung des Volkswillens gewährleisten sollten als ein parlamentarisches Repräsentativsystem. Assentierung – Musterung Atzung – aus der Jägersprache: Fütterung, Nahrung Austerlitz, Friedrich (1862–1931) – sozialdemokratischer Journalist und Politiker, Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung von 1895 bis 1931 AZ – Arbeiter-Zeitung; am 12. Juli 1889 erstmals und am 31. Oktober 1991 letztmals erscheinendes Zentralorgan der Sozialdemokratischen (Arbeiter-)Partei in Österreich bewirtschaftet – hier: rationiert; kriegs- oder krisenbedingt wird die Abgabe von lebenswichtigen Gütern einem staatlich reglementierten Verteilungssystem unterworfen Breitner, Hugo (1873–1946) – sozialdemokratischer Politiker 313

und Bankfachmann; in den Jahren 1918 bis 1932 als Stadtrat für Finanzen verantwortlich für die Entwicklung eines Steuersystems, das die Grundlage für den massiven Ausbau des sozialen Wohnbaus in Wien bildete. Buderl (Schnaps) – kleine Flasche Burgunder – eine Futterrübensorte Chinin – ab Ende des 18. Jahrhunderts bekanntes Mittel aus der Rinde des Chinarindenbaums zur Behandlung von Malaria Conrad – Franz (Graf) Conrad von Hötzendorf (1852–1925); österreichischer General; 1912 bis 1917 als Chef des Generalstabs des österreichisch-ungarischen Heeres ein starker Kriegsbefürworter, ab 1916 Feldmarschall, ab Dezember 1918 pensioniert. Deka – Dekagramm, 10 Gramm Dispensehe – Ehe, die aufgrund einer kirchlichen oder weltlichen Entbindung von einem kirchenrechtlichen Ehehindernis geschlossen wurde; eine Verordnung des Landeshauptmanns Albert Sever ermöglichte in der Zwischenkriegszeit in Wien und Niederösterreich die Wiederverheiratung Geschiedener, was vor allem in den 1920er Jahren von etwa 15.000 Paaren genutzt wurde („SeverEhen“); eine Zivilehe bestand in Österreich bis 1938 nicht. Distinktion – hier: militärisches Rangabzeichen Effekten – hier: bewegliche Güter Einbrenn – Mehlschwitze; Gemisch aus erhitztem Fett und Mehl zum Binden von Suppen oder Saucen Einpauker – Lehrer, der Studierende intensiv für Prüfungen vorbereitet EK I, EK II – Eisernes Kreuz erster und zweiter Klasse; 1813 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. gestiftete und im Deutschen Reich bis 1945 verliehene Auszeichnung für besondere Leistungen im Kriegseinsatz. Elektrische – (elektrifizierte) Straßenbahn Emphysem – irreversible Schädigung des Lungengewebes 314

durch ein erhöhtes Vorkommen von Luft oder Gas in den Lungenbläschen Erzherzog – Hubert Salvator Habsburg-Lothringen (1894– 1971), Sohn von Franz Salvator von Österreich-Toskana und Erzherzogin Marie Valerie von Österreich, einer Tochter Franz Josephs I., gab gemäß dem 1919 erlassenen Habsburgergesetz eine Verzichtserklärung ab, um in Österreich bleiben zu können. Feldsuperiorat – Amt der (geistlichen) Verwaltung eines Militärbezirks Fleischbank – Abgabestelle für billiges, oft minderwertiges Fleisch Flügeladjutant – siehe Adjutant Freihaus – im 17. Jahrhundert erbauter und zum Teil bis in die 1930er Jahre bestehender ausgedehnter Gebäudekomplex in Wien-Wieden; innerhalb seiner Grenzen bestanden einst Privilegien wie Steuerfreiheit und eine eigene Gerichtsbarkeit. Frein, von: Fräulein – mundartliche Bezeichnung für (damals in der Regel unverheiratete) Lehrerinnen frugal – karg, schlicht, einfach gar – hier: aus, verbraucht, leer G’selchter – wienerisch für: dünner, abgemagerter Mensch Goaß, von: Geiß – Ziege Godn – Tauf- oder Firmpatin Göllerich, August (1859–1923) – österreichischer Pianist und Dirigent Habsburgergesetz – per Gesetz vom 3. 4. 1919 wurden alle Herrscherrechte und sonstigen Vorrechte des Hauses Habsburg-Lothringen aufgehoben; alle Besitztümer (mit Ausnahme persönlichen Privatvermögens) wurden verstaatlicht und alle Mitglieder der Familie, die sich nicht als Staatsbürger der Republik bekannten, des Landes verwiesen. 315

Hungerpest – auch: Hungertyphus; eigentlich: Fleckfieber; durch Kleinlebewesen wie Läuse, Milben, Flöhe übertragene Krankheit, die in Kriegszeiten epidemische Ausmaße annehmen konnte; charakteristisch ist ein rotfleckiger Hautausschlag. Insult – hier: Beleidigung jesuitisch – hier (abwertend): verschlagen; geneigt, andere durch rhetorische Spitzfindigkeiten zu übervorteilen Karbid – Kalziumkarbid bildet in Verbindung mit Wasser das Gas Ethin, das mit einer hellen Flamme brennt; Karbidlampen wurden vor allem im Bergbau, aber auch zur Beleuchtung von Fahrzeugen eingesetzt. Katzelmacher – zeitgenössischer (abwertender) Ausdruck für: Italiener Kaution – Offiziere der österreichisch-ungarischen Armee mussten als Vorbedingung für eine Eheschließung eine Heiratskaution in Form von Wertpapieren hinterlegen, um einen gewissen Lebensstandard der Offiziersfamilien, vor allem aber auch die Versorgung von Kriegerwitwen sicherzustellen. Kinderfreunde – Kinderfreunde Österreich; eine Interessenvertretung für Kinder und Familien, gegründet 1908, seit 1921 in die Sozialdemokratische (Arbeiter-)Partei eingegliedert. Kokarde – meist kreisförmiges militärisches Rangabzeichen König, Otto Martin Julius (1881–1955) – österreichischer Volksbildner, Schriftsteller und Redakteur der ArbeiterZeitung Kooperator – katholischer Hilfsgeistlicher, Vikar Krepierl – zaundürre Gestalt, kleines, unterernährtes Kind Kriegsanleihe – vom Staat ausgegebene Wertpapiere zur Finanzierung des Krieges; vor allem zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Bevölkerung in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich mittels patriotischer Propaganda 316

massenhaft zur Zeichnung von Kriegsanleihen bewogen; deren Tilgung war allerdings de facto vom Erfolg der kriegerischen Auseinandersetzungen abhängig; die Inflation der Nachkriegsjahre machte den Wert der Anleihen zunichte. Kriegsgewinner, Kriegsgewinnsteuer – Betrieben, die durch die Produktion kriegswirtschaftlich relevanter Güter in den ersten Kriegsjahren hohe Gewinne erzielten, wurde ab 1916 eine abgestufte „Kriegsgewinnsteuer“ im Umfang von 5 bis 45 Prozent des Mehrertrags auferlegt; möglicherweise auch im Sinn von Kriegsgewinnler: Personen oder Unternehmen, die ihre Position oder Notsituationen in Kriegszeiten ausnutzen, um hohe Gewinne zu erwirtschaften. Kukuruz, Kukuruzbrot, Kukuruzzapfen – Mais, Maisbrot, Maiskolben Kun, Béla (1886–1938) – kommunistischer Politiker und führender Kopf der Ungarischen Räterepublik (21. März bis 1. August 1919) Lampas – eigentlich: Lampassen; farbige Zierstreifen an der Außennaht bestimmter Uniformhosen Liebau – Lubawka, Stadt in Niederschlesien, heute Polen Linienamt – zwischen 1829 und 1921 in Wien, anfangs im Bereich des ehemaligen Linienwalls (bzw. des heutigen Gürtels) bestehende, später an die äußeren Stadtgrenzen verlegte Kontrollstellen zur Einhebung der allgemeinen Verzehrungssteuer auf Genussmittel und Verbrauchsgegenstände, die in die Stadt gebracht wurden Lungenpest – Form der Pesterkrankung, bei der vor allem die Lunge angegriffen wird mündelsicher – sehr sichere Form der Vermögensanlage (in der Regel festverzinsliche Anleihen), bei der Verluste weitestgehend auszuschließen sind Muskete, Die Muskete – patriotisch orientierte humoristische Wochenzeitschrift, die in Wien zwischen 1905 und 1941 erschien 317

Negeraufstand – zeitgenössische (abwertende) Bezeichnung für: Tumult; impulsiver, aufbrausender, unkoordinierter Widerstand neich, neiche – mundartlich für: neu, neue Neurastheniker – Neurasthenie (Nervenschwäche) ist eine an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert häufig diagnostizierte psychische Störung, die sich durch Symptome wie Müdigkeit, Überempfindlichkeit, mangelnde Konzentration, geringe Belastbarkeit durch äußere Reize auszeichnet; das Krankheitsbild stimmt in vielem mit dem der Erschöpfungsdepression bzw. dem heute bekannten Burn-out-Syndrom überein. optiert – nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Proklamation der Republik Deutschösterreich konnten Personen, die mindestens seit 1914 auf ihrem Gebiet lebten, die Staatsbürgerschaft beantragen; auch Personen, die laut Heimatrecht formell nach anderen Regionen der Habsburgermonarchie zuständig waren, konnten binnen eines Jahres für die Zugehörigkeit zur neuen Republik optieren. Pat und Patachon – dänisches Komikerduo, das (wie später das amerikanische Duo Stan Laurel und Oliver Hardy) durch einen sehr konträren Körperbau der beiden Protagonisten auffiel und zwischen 1921 und 1944 55 Filme produzierte praktizieren – hier: mit Geschick irgendwohin befördern, manövrieren pupillarsicher – nur ein Teil eines Grundstücks oder Gebäudes darf durch eine Hypothek belastet sein Radlbock – einfache Schubkarre Reichenau – östlicher Stadtteil von Innsbruck; das weitläufige Gelände des historischen Gutshofs Reichenau wurde ab Anfang des 20. Jahrhunderts nach und nach mit verschiedenen militärischen und zivilen Einrichtungen verbaut. 318

Renner, Karl (1870–1950) – sozialdemokratischer Politiker; erster Staatskanzler der Ersten Republik von 1918 bis 1920 und Leiter der österreichischen Delegation bei den Friedensverhandlungen von St. Germain en Laye; erster Bundespräsident der Zweiten Republik von 1945 bis 1950. Repetitorien, Repetitorium – Unterrichtsform an Universitäten, in der Prüfungsstoff sehr komprimiert vermittelt bzw. wiederholt wird Romanum – rechtshistorisches Rigorosum, ein Prüfungsteil zur Erlangung des Doktorats in Rechtswissenschaften Sappeurkompanie – Pionierabteilung, eine Waffengattung der k. u. k. Landstreitkräfte Scherzel, Scherzerl – Endstück des Brotlaibes Schlaraffia – 1859 in Prag gegründeter Männerbund, der den Leitspruch „in arte voluptas“ (in der Kunst liegt Vergnügen) verfolgt und Werte wie Freundschaft, Humor hochhält; die Vereinigung ist in regionalen „Reychen“ organisiert. Schmäh – hier: Tarnung, Täuschung Schmelz – bis 1918 Exerzierplatz der k. u. k. Truppen im 15. Wiener Gemeindebezirk; später eine vielfältig genutzte, ausgedehnte freie Fläche im Stadtgebiet, die heute großteils mit Wohnhäusern, Gartensiedlungen und Sportanlagen verbaut ist. Schwarzwald, Eugenie (1872–1940) – lebte nach ihrer Heirat mit Hermann Schwarzwald (1871–1939) ab 1900 in Wien, führte eine an fortschrittlichen Unterrichtsprinzipien orientierte Privatschule (Schwarzwald-Schule) und gründete in der Zeit des Ersten Weltkriegs karitative Einrichtungen wie Gemeinschaftsküchen, Heime für Alte, Lehrlinge usw.; Hermann Schwarzwald war als Ökonom und Finanzpolitiker wesentlich an der Bekämpfung der Inflation und Stabilisierung des österreichischen Währungssystems beteiligt. Semperit – aus der Fusion mehrerer Unternehmen der öster319

reichisch-ungarischen Kautschukindustrie entstand vor dem Ersten Weltkrieg die „Semperit österreich amerikanische Gummiwerke AG“ mit fast 10.000 Beschäftigten an mehreren Standorten im niederösterreichischen Industrieviertel Sonntagsgeld – eine Art Taschengeld für Kinder als Belohnung bzw. für ein besonderes Sonntagsvergnügen (nach der wöchentlichen Lohnauszahlung am Samstag) Starhemberg, Ernst (Fürst) Rüdiger (1899–1956) – Heimwehrführer und österreichischer Politiker der Zwischenkriegszeit; 1934 bis 1936 Vizekanzler und Bundesführer der Vaterländischen Front. Steinitz, Heinrich (1879–1942) – österreichischer Jurist und Schriftsteller; Rechtsverteidiger prominenter sozialdemokratischer Politiker in den 1930er Jahren. Stern, Josef Luitpold (1886–1966) – österreichischer Schriftsteller, ab 1918 Leiter der sozialdemokratischen Bildungszentrale sudern – jammern, lamentieren, sich beklagen Superarbitrierung – kommissionelle Entscheidung über die Entlassung aus dem aktiven Militärdienst wegen Untauglichkeit (Krankheit, Invalidität usw.) surrogiert – aus Ersatzstoffen bestehend oder mit solchen versehen Tandler, Julius (1869–1936) – österreichischer Arzt und Sozialpolitiker; als Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen in Wien verantwortlich für den Ausbau des Gesundheits- und Fürsorgesystems im Roten Wien der 1920er und frühen 1930er Jahre. Taxameter – einfaches, transportables Essgeschirr bzw. -behältnis Testur – Testat, Zeugnis; Bestätigung des ordnungsgemäßen Abschlusses einer universitären Lehrveranstaltung Totzkoe – Tozkoje Wtoroje; in der heutigen Militärsiedlung 320

im Verwaltungsbezirk Orenburg im Steppengebiet zwischen Wolga und südlichem Ural bestand ab 1915 ein berüchtigtes Kriegsgefangenenlager, in dem im Winter 1915/16 17.000 Gefangene an einer Typhusepidemie starben. Tschurtschen – Zapfen von Nadelbäumen Überschwung – zu einer Uniform gehöriger breiter Gurt Ubikation – militärische Unterkunft verschleichen – im Schleichhandel verkaufen Volkswehr, Deutschösterreichische Volkswehr – provisorisches (Freiwilligen-)Heer der Republik Deutschösterreich; aufgestellt von der Provisorischen Staatsregierung bestand sie zwischen 5. November 1918 und 18. März 1920, bis ein neues Wehrgesetz gemäß den Bestimmungen des Friedensvertrags von St. Germain en Laye die Schaffung eines Berufsheers mit einer maximalen Stärke von 30.000 Mann festlegte; der Versuch einer demokratischen Neuorganisation des Militärs unter Führung des sozialdemokratischen Staatssekretärs für Heereswesen Julius Deutsch (1884–1968) wurde von Repräsentanten der ehemaligen k. u. k Armee vielfach abgelehnt. warten – hier: versorgen, bedienen Wasenmeisterei – Tierkörperverwertung Weitling – große Schüssel Winter, Max (1870–1937) – österreichischer Journalist und Schriftsteller, bekannt für seine Sozialreportagen über den Alltag unterprivilegierter Gesellschaftsschichten in Wien um 1900 Wilson, Wilsons 14 Punkte – im Jänner 1918 präsentierte Woodrow Wilson (1856–1924), Präsident der Vereinigten Staaten zwischen 1913 und 1921, eine Art Friedensordnung für Europa in Form von 14 Punkten; neben geforderten Rüstungsbeschränkungen und der Beseitigung von Handelshindernissen weckte vor allem das darin propagierte 321

Selbstbestimmungsrecht der Völker bei den Mittelmächten Hoffnungen, die jedoch in den konkreten Friedensverträgen von St. Germain und Versailles nicht erfüllt wurden. Wilson-Speck – vermutlich: im Volksmund nach dem USamerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) benanntes, wenig bekömmliches Räucherfleisch aus amerikanischen Nahrungshilfslieferungen wurscht – egal, gleichgültig ziach-o – dialektal für: zieh ab, verzieh dich, verschwinde

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Bildnachweis Die zwei Fotos am Buchumschlag sowie Abb. 15 stammen aus dem Nachlass von Elsa Björkman-Goldschmidt, der sich im Besitz von Dr. Renate Schreiber (Wien) befindet. Titelseite: Im Kleiderlager der schwedischen Hilfsorganisation „Rädda Barnen“ (Rettet das Kind) in Wien I, Gonzagagasse (1920) Rückseite: Verabschiedung eines Kindertransports nach Schweden (1920) Abb. 11: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Alle übrigen Abbildungen wurden von Nachfahren der Verfasser/innen aus ihrem Privatbesitz zur Verfügung gestellt. Wir danken allen Überlasserinnen und Überlassern herzlich für ihr Entgegenkommen!

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„Damit es nicht verlorengeht ...“ ist ein Leitmotiv vieler Menschen, die sich im fortgeschrittenen Alter verstärkt mit ihrer Lebensgeschichte beschäftigen und selbst Erlebtes in der einen oder anderen Form zu dokumentieren versuchen. Daran orientiert sich der Titel dieser Buchreihe, die seit 1983 besteht und vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ herausgegeben wird. Persönliche Erinnerungstexte bieten vielfältige Einblicke in vergangene Lebens-, Arbeits- und Beziehungsverhältnisse und können das Verständnis für historischen Wandel sowie für unterschiedliche Denkweisen und Traditionen erweitern. Über den privaten Familienkreis hinaus haben solche Lebensaufzeichnungen in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Bereichen als sozial-, kultur- und zeitgeschichtliche Dokumente Aufmerksamkeit gefunden. Aus diesem Grund wurde am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ eingerichtet, ein Textarchiv, in dem schriftliche Lebensaufzeichnungen aller Art (Autobiographien, kürzere Erinnerungstexte, Tagebücher, Familiengeschichten, Chroniken usw.) gesammelt, wissenschaftlich genutzt und für fachlich Interessierte bereitgestellt werden. Die Leserinnen und Leser sind eingeladen, Beiträge zu dieser Textsammlung zu leisten, indem sie eigene lebensgeschichtliche Texte oder überlieferte Aufzeichnungen von Vorfahren zur Verfügung stellen oder uns auf entsprechende Materialien in Privatbesitz aufmerksam machen. Ebenso freuen wir uns über Kontakte zu schreibfreudigen Menschen, die sich durch das Motto der Buchreihe angesprochen fühlen. Kontaktadresse: Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ Universitätsring 1, 1010 Wien (z. H. Mag. Günter Müller) Tel. +43 (0)1/4277-41306 Mail: [email protected] http://lebensgeschichten.univie.ac.at http://www.MenschenSchreibenGeschichte.at 324