Humanität und gebaute Umwelt: Essays und Studien zur Architekturgeschichte 9783839464434

Welchen Bedingungen unterliegen menschliche Lebenswirklichkeiten in gesellschaftlich hervorgebrachten Räumen? Dieser Fra

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Humanität und gebaute Umwelt: Essays und Studien zur Architekturgeschichte
 9783839464434

Table of contents :
Inhalt
Architektur, Gesellschaftsgeschichte und Menschlichkeit
I. Politische Ikonographie: Denkmäler und Bauwerke
Kopfgeburten
Zur Architekturikonologie des Eiffelturms
Mediale Konfigurierung eines Ereignisses
II. Gesellschaftsgeschichte der Architekturtheorie
Das Medium des Buches und die Institution der Textgattung in der Architekturtheorie
Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation
„Haltung“.
III. Architekturtypologie und Institution
Die Kirchen von Bankiers
Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie
Der Renaissancehumanismus und die Idee einer „humanen Architektur“.
Frivole Architektur
Mediale Inszenierungen bei den Olympischen Sommerspielen in München 1972
IV. Architekturanthropologie
Angst und Architektur
Zur Architektur der Frühen Neuzeit aus der Sicht der historischen Anthropologie
„porös“.
Ein Haus kommt selten allein
Sand, Spuren, Architektur
Publikations- und Abbildungsnachweise
Veröffentlichungen Dietrich Erben

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Dietrich Erben Humanität und gebaute Umwelt

Architekturen Band 8

Dietrich Erben (Prof. Dr. phil. habil.), geb. 1961, ist Inhaber des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design an der Technischen Universität München. Er war Stipendiat des Kunsthistorischen Institutes/Max-PlanckInstitut in Florenz und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Architektur- und Kunstgeschichte seit der Frühen Neuzeit, in der Architekturtheorie, der politischen Ikonographie und Geschichte der internationalen Kunstbeziehungen.

Dietrich Erben

Humanität und gebaute Umwelt Essays und Studien zur Architekturgeschichte

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Technischen Universität München, School of Engineering and Design

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839464434 Print-ISBN 978-3-8376-6443-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6443-4 Buchreihen-ISSN: 2702-8070 Buchreihen-eISSN: 2702-8089 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt Architektur, Gesellschaftsgeschichte und Menschlichkeit. Zur Einführung I 7

I. Politische Ikonographie: Denkmäler und Bauwerke Kopfgeburten. Betrachtung und Begehung beim Monumentaldenkmal Zur Architekturikonologie des Eiffelturms. Das Gestell, das Kolossale und der Chronotopos

I 17

I 39

Mediale Konfigurierung eines Ereignisses. Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001

I 65

II. Gesellschaftsgeschichte der Architekturtheorie Das Medium des Buches und die Institution der Textgattung in der Architekturtheorie Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation. Eine Skizze I 109 „Haltung“. Zu Karriere und Kritik eines Begriffs in der Architektursprache

I 127

III. Architekturtypologie und Institution Die Kirchen von Bankiers. Die Medici-Bank und die Kunst der Unternehmenskultur im Quattrocento

I 143

I 93

Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie. Baupolitik unter Cosimo I de’Medici in Florenz I 157 Der Renaissancehumanismus und die Idee einer „humanen Architektur“. Florenz als Gründungsort in der Architekturgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg Frivole Architektur. Über Gated Communities

I 177

I 197

Mediale Inszenierungen bei den Olympischen Sommerspielen in München 1972. Architektur – Park – Benutzer I 213

IV. Architekturanthropologie Angst und Architektur. Zur Begründung der Nützlichkeit des Bauens

I 237

Zur Architektur der Frühen Neuzeit aus der Sicht der historischen Anthropologie „porös“. Anmerkungen zur Architekturgeschichte des Begriffs

I 281

Ein Haus kommt selten allein. Zur Phänomenologie des Hyperbildes in der Platzarchitektur Sand, Spuren, Architektur. Zur gebauten Ökologie des Strandes

I 307

Publikations- und Abbildungsnachweise I 327 Veröffentlichungen Dietrich Erben I 331

I 291

I 261

Architektur, Gesellschaftsgeschichte und Menschlichkeit Zur Einführung

Die Zusammenstellung der Aufsätze in diesem Buch verdankt sich mehreren Absichten. Mit den Studien sollen zuerst einmal unterschiedliche kunsthistorische Zugangswege zur Architekturgeschichte vorschlagen werden. Sodann sind sie eine bilanzierende Selbstverständigung des Autors. Schließlich mag in dessen Person das Profil eines, wenn man so will, zeittypisch-normalen Wissenschaftlers und Hochschullehrers im wissenschaftsgeschichtlichen Umfeld seiner Zeit zum Vorschein kommen. Kunstpatronageforschung und politische Ikonographie: Die Dissertation über den oberitalienischen Militärunternehmer Bartolomeo Colleoni als eines Auftraggebers der Frührenaissance (1994, ersch. 1996) lag im damaligen Trend der Kunstpatronageforschung und der politischen Ikonographie. Ein schon früh errichteter Meilenstein war Francis Haskells Buch Patrons and Painters. A Study in the Relations Between Italian Art and Society in the Age of the Baroque (1963). Seither beteiligten sich an der Patronageforschung nicht nur die Kunstgeschichte, sondern auch Archäologie, Literatur- und Musikgeschichte sowie die Geschichtswissenschaft. Das Interesse richtete sich darauf, gesellschaftliche Funktionsträger aus der Perspektive ihrer Aktivitäten als AuftraggeberInnen von Kunstwerken und Bauten in den Blick zu nehmen. Der traditionelle Mäzen, den man vor allem nach seinem für die Kulturentwicklung maßgeblichen Bedürfnis nach Prachtentfaltung und seiner Magnifizenz beurteilte, wurde ersetzt durch den Patron. Ihn suchte man vorrangig in seinen für die Politik relevanten, mit den Mitteln der Kunst betriebenen manifesten gesellschaftlichen Machtinteressen zu verstehen. So sind der klassischen Künstler- und Architektenmonographie fast in der Art von Plutarchs Parallelviten zahlreiche Auftraggeberbiographien an die Seite gerückt. Hatte Plutarch – so lässt sich die Anspielung weiterdenken – im Sinn, die Gegenwart des römischen Imperiums mit der griechischen Vergangenheit zu versöhnen, so hat die Patronageforschung das Erkenntnisziel, zwischen Gesellschaft und Kunst zu vermitteln. Will sie aber dabei nicht eine bloße Kunstsoziologie der Produktions-

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Humanität und gebaute Umwelt

bedingungen sein, so hat sie sich der Herausforderung zu stellen, von den historischen Entstehungsbedingungen her immer auch die ästhetische Sphäre zu erschließen. Martin Warnke nannte dies in seinem Buch Bau und Überbau (1976) die „Überleitung zur Form“. Die in der deutschsprachigen Kunstgeschichte maßgeblich von Warnke geprägte politische Ikonographie nimmt sich dieses Problems an. Auch von zweien meiner akademischen Lehrer wurden Beiträge zur politischen Ikonographie und zur Architekturikonologie vorgelegt: von Hanno-Walter Kruft die Studie Der Triumphbogen Alfonsos in Neapel. Das Monument und seine politische Bedeutung (zusammen mit Magne Malmanger, 1975) und von Adrian von Buttlar Der englische Landsitz. Symbol eines liberalen Weltentwurfs (1980). Inhaltlich bilden im vorliegenden Buch (Kapitel I) die Beiträge zur politischen Ikonographie von Denkmälern und Bauten den ersten Schwerpunkt. Ermittelt werden im Rahmen der politischen Ikonographie programmatische Inhalte der visuellen Mitteilungen. Geht es dabei um das Inszenatorische der politischen Repräsentation auf der einen Seite, so sollen zugleich die Konf liktfelder der politischen Proklamation auf der anderen Seite eruiert werden. Relevant sind Fragen von historischer Handlungsmacht, von gesellschaftlichem Dissens und Widerstand gegen die Staatsgewalt und vom Vermögen der Kunst, diese Konf likte in einer den künstlerischen Medien eigenen Souveränität und Unverfügbarkeit zu artikulieren. Dem Problem, in wie fern die politische Wirklichkeit durch eine ästhetische, historisch fassbare Normativität und einen kulturellen Habitus geprägt ist, wurde von Michael Baxandall in der Studie Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy (1972) mit dem Konzept des „period eye“ nachgegangen. Mit Normativität und Konf likt wiederum hängen weitere Leitbegriffe zusammen, die für generelle gesellschaftsgeschichtliche Einsichten relevant waren. Dies galt insbesondere für die Frage nach den jeweiligen Interessen, die den Handlungen der Akteure – Auftraggeber, Künstler, Betrachter – zugrunde lagen, sowie für die Tatsache, dass die Durchsetzung dieser Interessen oftmals gewaltförmig erfolgte. Eine solche Einsicht lag nicht nur bei einem italienischen Condottiere der Renaissance nahe. Institution: Die Habilitationsschrift Paris und Rom (2001, ersch. 2004) folgt zwar noch einmal dem Modell der Patronageforschung, doch sie versuchte darüber hinaus, den Radius der Problemstellungen für die Barockzeit weiter auszuloten. Absicht war es nun, die staatlichen Akteure konsequenter in einem Systemkonf likt in den Blick zu nehmen – im konkreten Fall zwischen französischer Erbmonarchie und päpstlicher Wahlmonarchie. Wieder verdankten sich wichtige Anregungen der historischen Forschung. Der Staat war damals, nach der voran gegangenen sozialgeschichtlichen Konjunktur in der Forschung, als Thema wieder satisfaktions- und salonfähig geworden: Im Titel der Einleitung zu einem Sammelband über den Renaissancestaat konnte Julius Kirshner 1995 proklamie-

Architektur, Gesellschaftsgeschichte und Menschlichkeit

ren: „The State Is ‚Back In‘“. Wolfgang Reinhard, bei dem ich studiert hatte, legte ein paar Jahre danach seine große Geschichte der Staatsgewalt (1999) vor. Reinhards Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie (2004) inspirierte einige Zeit später die Überlegungen zur Architekturanthropologie. Das neu erwachte Interesse am Staat war zeitgeschichtlich von der vermeintlichen Entmachtung des Staates durch den Neoliberalismus sowie vom Imperiumszerfall der Sowjetunion und den darauffolgenden staatlichen Neugründungen in Europa nach 1989/90 angeregt. Damit verbunden waren Fragestellungen des Kulturtransfers, die ihrerseits durch die anhaltende Diskussion über die europäische Integration einerseits und durch das Bewusstsein einer beschleunigten Globalisierung andererseits auf die Agenda traten. Schließlich wurde die Frage nach einer nunmehr kulturvergleichenden Kunstgeschichte des Staates methodisch durch diejenige der Institutionalität ergänzt. Im Jahr 1997 wurde in Dresden der DFG-Sonderforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ bewilligt, was den Innovationsgehalt des Themas signalisierte. Für Paris und Rom machte es dieser institutionengeschichtliche Zugriff möglich, sowohl die behördlichen Organisationen des Staates, wie etwa Kunstakademien und Baubehörden, als auch habitualisierte menschliche Handlungen, wie etwa Künstlerreisen oder Künstlerkonkurrenzen, auf einer einheitlichen Ebene zu beschreiben. Auch Kunstgattungen und Bautypologien lassen sich als Institutionen, wie mir selbst erst allmählich klarer wurde, besser verstehen. Dies betrifft nicht nur die kunsthistorischen pragmatischen Einteilungen der Großbereiche von Architektur, Malerei und Skulptur, sondern auch deren Binnengliederung, also die Gattungen in den Bildenden Künsten von Malerei und Skulptur sowie die Bautypologien in der Architektur. Speziell für die Architekturtheorie – naheliegender Ausgangspunkt war hier Krufts Geschichte der Architekturtheorie (1985) – wurde relevant, dass auch für diese Fachliteratur unterschiedliche Textgattungen (Manifest, Traktat, Dialog etc.) in ihren unterschiedlichen institutionalisierten Produktionsorten, Wirkungsabsichten und Rezeptionsweisen analysiert werden können. Die Studien in den Kapiteln II. und III. des vorliegenden Bandes nehmen diese Problematik auf. Mit unterschiedlicher Gewichtung prägten die hier erwähnten methodischen Kategorien nicht nur die beiden Qualifikationsschriften, sondern auch die gleichzeitig und in den späteren Jahren entstandenen Einzelstudien. Publikationsstrategisch ist von Belang, dass neben Büchern für das sprichwörtliche „breitere Publikum“ in Publikumsverlagen und neben Zeitschriftenaufsätzen die nach und nach erarbeiteten Publikationen vor allem in Tagungsbeiträgen bestanden. Im Hinblick auf den allmählichen Vorrang dieser Publikationsform hat Wolfgang Kemp bei den in den Jahren bald nach 1970 geborenen Kolleginnen und Kollegen eine „Generation Sammelband“ ausgemacht. Die Tagungs-, Vortrags- und Aufsatzökonomie trägt den veränderten Kommunikationsstrukturen nicht nur der

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Humanität und gebaute Umwelt

Kunstgeschichte insofern Rechnung, als sich die Forschung mehr denn je in diesen, fast immer drittmittelfinanzierten, Bereich verlagert hat. Für die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Anfrage- und Beauftragungsmechanismen des Tagungsbetriebs den Vorteil, dass sie dazu ermuntern, die „eigenen“ Forschungsfelder aus den von außen herangetragenen Perspektivierungen nochmals zu durchdenken. Nicht zuletzt liegt der Sinn von Tagungen ja darin, dass sie Anlass geben, vorhandene, bereits in der Forschung dargelegte Themen gemäß den neuen, von den VeranstalterInnen formulierten Fragestellungen zu erörtern. Eine ähnliche Stoßrichtung besaß seinerzeit die Erarbeitung von Artikeln für lexikalische, kulturwissenschaftlich ausgerichtete Großunternehmen, die sich ab etwa den 1990er Jahren und damit etwa gleichzeitig mit der Tagungskonjunktur als marktförmiges und zeittypisches Phänomen darstellten. Ein neues Feld waren etwa parallel dazu die Komponisten- und Musikerporträts. Sie gaben mir die Gelegenheit, den Beziehungen zwischen Musiker und Maler als unterschiedliche personale Konstellationen auf die Spur zu kommen, vor allem forderten sie zur Erarbeitung von Bildanalysen heraus. Die visuell-ästhetische Erschließung des Kunstwerks gehört in unserem Fach immer noch zu den hauptsächlichen und schwierigsten Angelegenheiten! Von den Musikerporträts aus kamen auch die architektonischen Orte des Musizierens, also Konzertsäle und Opernhäuser, in den Blick. Meine Eskapaden in die Musik wurden von einem Kollegen gelegentlich mit der Frage quittiert, wann ich denn gedenken würde, wieder zur „richtigen Kunstgeschichte“ zurückzukehren… Die Lehrtätigkeit an der Architekturfakultät der TU München rückte ab 2010 Architekturgeschichte und Architekturtheorie, die bei den früheren Studien gleichberechtigt mit Malerei und Skulptur mitliefen, ins Zentrum der Beschäftigung. Die Arbeit an einer Technischen Universität fordert zudem dazu heraus, sich auf technikgeschichtliche Aspekte einzulassen. Dies betrifft auf der einen Seite die Kritik an einer viel zu affirmativen, technologischen Innovationsideologie wie sie exemplarisch von David Edgerton in The Shock of the Old (2008) vorgetragen wurde. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage nach den Konsequenzen, die aus einem entschleunigten, nicht auf männlich-heroische Erfinder fixierten, sondern an der alltäglichen menschlichen Techniknutzung und an den ökologischen Folgen ausgerichteten Technikverständnis für die Sicht auf die Architektur zu ziehen sind. Mit alledem war, wie sich in den jeweils letzten Beiträgen in allen Kapiteln des vorliegenden Bandes erschließt, auch die Ausweitung der Untersuchungszeiträume in die neuere Architekturgeschichte verbunden. Damit wechselt bisweilen auch der Ton der Beiträge: Widmen sich die historischen Studien primär einer interpretierenden Rekonstruktion von Vergangenheit, so mischt sich in die Stellungnahmen zur Gegenwart skeptische Kommentierung.

Architektur, Gesellschaftsgeschichte und Menschlichkeit

Historische Architekturanthropologie: In einer Zeit, in der bereits der Post-Humanismus ausgerufen wurde, mag es als seltsam und unzeitgemäß erscheinen, den Begriff der Humanität im Titel eines Architekturbuches zu führen. Zugleich steht der post-humanen Desillusionierung die unverdrossene Zuversicht aller Architektinnen und Architekten gegenüber: „Ich baue für den Menschen!“ Sowohl dem Abgesang auf das Humane als auch dem unbedarften Plädoyer für „den Menschen“ wäre aus historischer Sicht Folgendes zu erwidern: Man möchte mit einem gesellschaftsgeschichtlichen Einwand die Architektenschaft fragen, an welchen Mensch als Teilnehmerin und Teilnehmer mit jeweils konkreten Bedarfslagen in einer historisch gewordenen Gesellschaft sie sich denn wendet. Und wenn, bisweilen nicht ohne den triumphierenden Gestus radikaler Aktualitätsbezogenheit, mit dem Post-Humanismus zugleich der Humanismus auf kündigt wird, so wäre mit einem historisch-anthropologischen Einwand zu fragen, welcher Humanismus von ehedem denn gemeint ist. Dabei soll in der Sache selbst, also den seit etwa Mitte der 1980er Jahre diskutierten einschlägigen Gesellschaftsphänomenen, die für die Diagnose eines Post-Humanismus relevant wurden, gar nicht widersprochen werden. Gemeint sind im Wesentlichen die Technikabhängigkeit der menschlichen Existenz und die Überschreitung der mentalen und physischen Grenzen des Individuums durch technische Interventionen. Diese reichen von medizinischen Invasionen wie der Gentechnik bis hin zum Körpertracking mittels digitaler Mediennutzung. In der Kunstfigur des Cyborgs, dem „cyb(ernetics) org(anism)“, finden die Gedankenwelten und die Realitäten des Post-Humanismus ihren Stellvertreter. Wenn man mit der Einsicht in diese Veränderungen dennoch am Begriff der Humanität festhält, so ist damit ein Plädoyer weder für die Wiedergeburt eines Kulturklassizismus noch für einen Neuhumanismus beabsichtigt. Sehr wohl geht es aber um die Frage nach einer menschenwürdigen Daseinsgestaltung, um den Abschied vom Menschen als Zentrum des Weltverständnisses und um die Bewohnbarkeit des Planeten durch den Menschen und andere Lebewesen. Darüber nachdenken lässt sich freilich nur unter den Prämissen der historischen Bedingtheiten des Menschen. Sie umfassen die historisch sich verändernden Formationen von Gesellschaften. Darüber hinaus sind die anthropologischen Gegebenheiten von Wahrnehmung und Verhalten mit einzubeziehen. Die Historikerin Lynn Hunt spricht in Writing History in the Global Era (2014) aus kulturtheoretischer Perspektive von „embodied self in shared spaces“. Eine skeptische Anthropologie würde schlussendlich den Blick auf die traumatischen historischen Konstanten der Unterwerfung von Menschen und Umwelten werfen, dies betrifft insbesondere die unausgesetzte Durchsetzung von Macht über andere und die Gewaltbereitschaft gegenüber Mitmenschen und Umwelten. Der im Titel dieser Einführung aufgerufene Begriff der Menschlichkeit ist vor diesem Hintergrund gerade nicht mit normativer Affirmation oder gar Euphorie besetzt. Menschlichkeit kann sich

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Humanität und gebaute Umwelt

zwar als realisierte Ethik des verantwortungsvollen, kommunikationsbereiten Zusammenlebens äußern – aber ebenso auch im Destruktionswillen. Der Begriff der „gebauten Umwelt“ wanderte offenbar aus der Sozialgeographie und der Urbanistik in die Architekturgeschichte ein. Gemeint ist damit die Gesamtheit des physisch-materiell gestalteten Raumes als Artefaktumgebung menschlicher Aktivitäten. Der ursprünglich mitgedachte Gegensatz zur „natürlichen Umwelt“ ist mittlerweile fragwürdig geworden, denn im Anthropozän gibt es keine unbeeinf lusste Natur mehr. Vielmehr wird neuerdings die Dominanz der technisch-industriellen Umwelt in der Gegenwart mit dem Konzept der Technosphäre erschlossen. Sie tritt den irdischen geophysischen Stoffwechseldomänen der Bio-, Atmo- oder Hydrosphäre an die Seite. Mit dieser Begriff lichkeit korreliert schließlich diejenige der Ökologie. Man kann sich daran erinnern, dass die „ecology“ schon früh als Todeszone begriffen wurde, als der Begriff dazu diente, unter anderem in den pazifischen Inselwelten die durch die Nukleartests nach dem Zweiten Weltkrieg erzeugten radioaktiven Verseuchungen von Menschen, Tieren, Pf lanzen und den übrigen Umwelten auf einen Systembegriff zu bringen. In der Architekturgeschichte firmiert der Ökologie-Begriff mit dem Stadt-Survey, den Reyner Banham zu Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies (1971) publiziert hat, im Titel. Diese wenigen Schlaglichter deuten an, dass der Umwelt-Begriff für verschiedene Disziplinen zur Verfügung steht und damit erhebliche Erweiterungen erfahren kann. So verbinden sich bereits in den „ecologies“ von Banham spezielle Bautypologien und Bauformen mit ortsspezifischen Topographien und mit jeweils zeitbedingten urbanen life styles wie etwa der unablässigen individuellen Autonutzung inner- und ausserhalb der weitläufigen metropolitanen Welt oder dem Surfen an den der Stadt vorgelagerten Stränden. Aus einer solchen Sicht kann Umwelt Aspekte unterschiedlicher Lebensformen und sogar der Lebenswelt als Gesamtheit aufnehmen. Umwelt ist in dieser Dimension – äußerst schlicht gesagt – das außerhalb von uns als Person Vorhandene und es ist damit zugleich das außerhalb der Kommunikation der Gesellschaft Liegende. Folgt man der Systemtheorie Niklas Luhmanns so finden wir die Umwelt in immens gesteigerter Komplexität vor, womit die verschiedenen, weniger komplexen Teilsysteme gesellschaftlicher Kommunikation (Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion etc.) einer sozusagen sprachlosen Umwelt gegenüberstehen. In den vorliegenden Studien wird zwar eher implizit auf den Begriff der Umwelt Bezug genommen, gleichzeitig wird versucht, die Ambivalenz des Begriffs, sowohl dessen Trennendes als auch dessen Verbindendes, in der Schwebe zu halten: Umwelt ist einerseits das außerhalb des Subjekts Bestehende und darum letztlich nicht Kommunizierbare – Umwelt ist anderseits der „gelebte Raum“ (Eugène Minkowski), mit dem wir es als Stimmungsraum zu tun haben und den wir uns als Anschauungs- und Handlungsraum verfügbar machen.

Architektur, Gesellschaftsgeschichte und Menschlichkeit

Zum vorliegenden Buch: Ausgewählt wurden sechzehn Beiträge zur Architekturgeschichte, die in der Mehrzahl in den Jahren nach 2010 erschienen sind. Hauptsächlich handelt es sich bei den Beiträgen um Tagungsvorträge, die als Aufsätze ausgearbeitet und in den jeweiligen Tagungsbänden publiziert wurden. Aufgenommen wurden sowohl umfangreichere Studien zur Architekturgeschichte als auch kürzere, zügig argumentierende Essays zu Architekturkritik. Thematisch liegt der Schwerpunkt im Betrachtungszeitraum des 20. und 21. Jahrhunderts, es werden jedoch auch zeitliche Rückgriffe auf die Architektur der Vormoderne eröffnet. Dadurch sollen oftmals inhaltliche Kontinuitäten über größere Zeiträume hinweg erkennbar werden. Konzeptionell beruht die Textauswahl auf dem Gedanken einer Architekturgeschichte, die Aspekte der allgemeinen Kunstgeschichte integriert und zugleich Vorschläge für ein gesellschaftskritisches Verständnis der neueren Architekturgeschichte macht. Im kunstgeschichtlichen Ansatz schließen sich, ganz den methodischen Üblichkeiten des Fachs entsprechend, Objektanalysen in der ästhetischen Trias von Herstellen (Produktion, Funktion), Darstellen (Form, Werkgattung und Stil) und Betrachten (Rezeption) zusammen. Dies geschieht ausdrücklich in einer historischen Vertiefung, wodurch es unabdingbar ist, Anregungen von anderen Fächern, insbesondere der Geschichtswissenschaft, aufnehmen. Für die vorliegenden Studien bedeutet dies zunächst einmal ganz schlicht, dass bisweilen Beobachtungen zu den für die Kunstgeschichte reservierten Gegenständen, also etwa zu Gemälden und Denkmälern, aber auch zur Kunsttheorie, mit Befunden der Analyse von Bauwerken zusammengeführt werden. Darüber hinaus werden unterschiedliche methodische Zugangsweisen zur Architekturdeutung erprobt, die in den jeweiligen Kapitelüberschriften der vier Sektionen des Bandes signalisiert werden. Die einzelnen Studien fungieren so als Fallbeispiele für die jeweiligen Deutungsperspektiven. Im Zentrum des Nachdenkens stehen – wie bereits angesprochen – in fast allen Studien die Formen der Wahrnehmung und des menschlichen Verhaltens in der gebauten Umwelt. Ein Ziel des Buches ist es, einer integrierten Sichtweise auf die Architekturgeschichte zuzuarbeiten. Dies gilt für die weiter aufgespannte Chronologie ebenso wie für die kunstgeschichtlich informierte Zugangsweise und nicht zuletzt für die Pluralität verschiedener architekturgeschichtlicher Interpretationen. Ein solches Konzept verdankt sich zunächst einmal der universitären Zuständigkeit des Verfassers, der als Kunsthistoriker an einer Architekturfakultät lehrt. Darüber hinaus ist es auch der Versuch, einer oftmals spezialisierten Architekturgeschichte alternative Lesarten an die Seite stellen. Schließlich adressiert sich das Buch auch an Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, indem es daran erinnert, dass die Gegenstände der Kunstgeschichte – Bilder und Bauten – stets auch äußere Wirk-

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Humanität und gebaute Umwelt

lichkeiten verarbeiten, was im Zuge des bildwissenschaftlichen turns der Kunstgeschichte als Gedanke allmählich immer weniger aufzukommen scheint. Punktuelle inhaltliche Überschneidungen zwischen Essays und Aufsätzen wurden beim vorliegenden Wiederabdruck nicht getilgt. So sollte auf der einen Seite die Kontinuität der mich interessierenden Themen erkennbar bleiben, auf der anderen Seite sollte die Einjustierung der Themen auf die jeweilige anlassbezogene Fragestellung deutlich werden. Die Texte wurden durchgesehen und formal vereinheitlicht, jedoch wurden sie nur ganz punktuell aktualisiert und mit neueren Literaturangaben ergänzt. Die Abbildungen wurden in Bildstrecken vereinheitlicht und haben mit ihren kleinen Formaten bloßen Verweischarakter, was, so denke ich, hinnehmbar ist, da viele Bilder problemlos auch im Internet aufzufinden sind. Ich bedanke mich für vielfältige Unterstützung. Zunächst bei den Herausgeberinnen und Herausgebern der Erstpublikationen in Tagungsbänden und Zeitschriften, die mit ihren Korrekturen die hier ausgewählten Texte verbessert haben. Ich danke den in den Publikationsnachweisen am Ende des Bandes genannten Verlagen für die Erlaubnis zum Wiederabdruck der Aufsätze und den Mitarbeiterinnen des transcript Verlages für die produktive, kollegiale und zügige Zusammenarbeit. Dank gebührt der TU München für die Beteiligung an der Finanzierung des Buches. Der Fotografin Isabel Mühlhaus bin ich verbunden für die Ausarbeitung des Layouts.

I. Politische Ikonographie: Denkmäler und Bauwerke

Kopfgeburten Betrachtung und Begehung beim Monumentaldenkmal

In Berlin wurden 2008 für einen Sockel die übrigen Zutaten gesucht, die das Ganze wieder als Denkmal perfekt machen sollten. Die Idee, in der Hauptstadt ein Nationaldenkmal für „Freiheit und Einheit“, so der offiziöse Titel, zu errichten, geht auf das Jahr 1998 zurück; 2007 folgte der obligatorische Bundestagsbeschluss; im April 2009 führte ein erster Wettbewerb mit 533 Einsendungen zu keinem Ergebnis. Nach einer neuen Auslobung wurden zum 20. Jahrestag der Einigung – also am 3. Oktober 2010 – drei Entwürfe prämiert. Ein sockelbewehrter Standort war hingegen schon bald nachdem der Gedanke für das Denkmal aufgekommen war, auserkoren worden. Es war das etwa 3.000m2 große Postament an der Berliner Schlossfreiheit, auf dem sich, bis zur Abtragung des Monuments im Jahr 1950, das von Reinhold Begas entworfene Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal befand (Abb. 1). Bei ihm handelte es sich um eine neubarocke Denkmalanlage aus figürlich-plastischen und architektonischen Anteilen. Die Reiterstatue im Zentrum der Platzanlage war eingefasst von einer im Grundriss polygonal gebrochenen, in der Ansicht offenen Kolonnadenreihe. Das Statuenensemble war durch ein ausgedehntes Stufenpostament aus dem städtischen Umgebungsraum herausgehoben, das dem Benutzer offenstand. Seit dem Abbruch in der Nachkriegszeit lag der Sockel wüst und leer, doch das neue Denkmal soll dieser Misere abhelfen (Abb. 2). Denn es soll – wie die Protokolle der Hearings verlauten lassen – ein Monument „des Stolzes und der Freude“ werden, es soll „Trübsinn“ und „deutsche Verdrießlichkeit“ vertreiben, es solle ein „Freudenmal“ sein, ein „Denkmal fürs Vergnügen“.1 1 Die Zitate und eine Perspektive kritischer Distanzierung auf das Denkmalvorhaben bei Marko Demantowsky: Das geplante Berliner Nationaldenkmal für „Freiheit und Einheit“. Ansprüche, Geschichte und ein gut gemeinter Vorschlag, in: Deutschland Archiv 52 (2009), S. 879-887, die Zitatnachweise S. 880. Vgl. auch Martin Schönfeld: Ein erinnerungspolitischer Gegenpol. Das geplante „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ in Berlin, in: Zeithistorische Forschungen 6 (2009), S. 129-139. Zu den Planungen und Projekten vgl, die Homepage des Ministeriums für Bauwesen und Raumordnung: http://www.bbr.bund.de/cln_015/nn_22808/ DE/ WettbewerbeAusschreibungen /PlanungsWettbewerbe/Ablage/AbgeschlWettbewerbe/ Ablage 2010/ FreiheitEinheitDenkmal/FED. Zum Kaiser Wilhelm-Denkmal zuletzt „Begas.

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I. Politische Ikonographie: Denkmäler und Bauwerke

Über solche frohgemuten, in ihrer Banalität kaum für denkbar gehaltenen Sinnzuschreibungen hat ausgerechnet der Sockel die Verantwortlichen zu einigermaßen grundsätzlichen Erwägungen ermuntert. So heißt es in einer offiziellen Erläuterung des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, das als Behörde den Wettbewerb ausgelobt hat: „Niemand will ‚den alten Kaiser Wilhelm wiederhaben.‘ Aber es gilt auch das Wort Willy Brandts [...]: ‚Preußen darf nicht nur als Karikatur in Erinnerung bleiben!‘ Dass unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, auf dem Fundament Bismarckscher Reichseinheit beruht, daran darf erinnert werden.“2 Die meisten KünstlerInnen und ArchitektInnen wussten mit einer solchen Sockelhermeneutik im ersten Wettbewerbsdurchlauf wenig anzufangen und haben im Gegenteil gerade Geschichte, Ort und Ausmaß des verbliebenen Postaments zum Anlass genommen, die ganze Denkmalsidee durch grelle Persif lage zu delegitimieren. Nach dem zweiten Anlauf wurde der Entwurf des Architekturbüros Johannes Milla und Partner ausgezeichnet (Abb. 3).3 Er sieht eine riesige, f lach gewölbte Metallschale vor, die beweglich gelagert sein soll und in Schwingung gerät, wenn sie von den Besuchern des Denkmals betreten wird. Die Bauingenieure und Statiker wissen wohl allein, wie ein entsprechender Kugellagermechanismus herzustellen ist und wie er sich auch in ferneren Zeitläuften, für die ein Denkmal nun einmal gedacht ist, bewähren soll. Versteht man die Entwerfer recht, so gehen sie vom vorhandenen Postament aus, das sie in Form einer transformierten Doublette wiederholen. Sie schmieden den ursprünglichen Treppenbereich des Kaiser Wilhelm-Denkmals im wörtlichen wie im übertragenen Sinn zu einer Begehungsf läche höherer Ebene um. Die frühere Akklamationsf läche, auf der sich das Publikum auf die Reiterstatue hin orientierte, wird nun zur Partizipationsf läche freier Bürgersubjekte. Die Staatsbürger sind es, die dafür in Anspruch genommen werden, als Aktionsgemeinschaft den historischen Prozess der Ablösung des DDR-Staates und der Einigung der Teilstaaten „in Bewegung“ gebracht haben – so dürfen wir wohl das etwas bemühte Angebot, das der Entwurf zur Allegorese macht, zu Ende denken. Der Blick auf das Berliner Denkmalvorhaben, dessen Realisierung ab Mai 2020 tatsächlich in Angriff genommen wurde, verweist nicht nur auf die Aktualität, sondern auch auf das Problemfeld, dem sich die folgenden Überlegungen widmen. Es soll am Beispiel der Denkmalkultur des 19. Jahrhunderts um eine Vereinnahmungsstrategie gehen, bei der die mehr oder minder distanzierte BeMonumente für das Kaiserreich. Eine Ausstellung zum 100. Todestag von Reinhold Begas (1831-1911)“ (Ausstellungskatalog Berlin), hg. von Esther Sophia Sünderhauf, Dresden 2010. 2 Florian Mausbach: Über Sinn und Ort eines nationalen Freiheits- und Einheitsdenkmals. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Berlin 2008, S. 7. 3  Vgl. die Homepages des Ministeriums und des Architekturbüros.

Kopfgeburten

trachtung in die Begehung überführt wird und die BetrachterInnen schließlich ins Denkmal inkorporiert werden. Bei diesem Modus des Denkmalgebrauchs legen es die Künstler und Auftraggeber darauf an, den Betrachtern eine über das Visuelle hinausgehende, sinnlich-körperliche Dimension der Erfahrung zu eröffnen.4 Dass für diese zunächst einmal entwerferische Strategie die Frage der Sockelbildung geradezu fundamental ist, bedarf im Grunde kaum einer eingehenden Begründung. Denn der Sockel reguliert die Distanzen von Betrachtung und Begehung, er reglementiert im Wesentlichen die Zutrittsrechte eines Benutzers zum Denkmal. Im Folgenden werden die Objektbefunde im Kontext ihrer historischen Begründungen skizziert. Dabei ist die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen wenig überraschend oder gar spektakulär: Sie lautet dahingehend, dass mit dem begehbaren Denkmal eine grundlegende ästhetische und ideologische Glaubwürdigkeitskrise, in die die monumentalen Produktionen der Denkmalkultur im 19. Jahrhundert immer tiefer sowohl auf der Ebene der Repräsentation als auch der Rezeption hineingeraten war, kompensiert und bewältigt werden soll.

Die Überwindung des Sockels Der Befund, dass der Sockel die mehrfachen Funktionen einer Rahmung erfüllt, gehört zu den kunsthistorischen Selbstverständlichkeiten. Untersuchungen über den Bilderrahmen haben sich in den letzten Jahrzehnten geradezu als Lieblingsthema der ikonischen Wende etabliert – wenn man sich auf die Frage fixiert, was ein Bild sei, so ergibt sich zwangsläufig auch die Frage, wo es auf hört. Da jedoch die Forschung zur Skulptur in der Kunstgeschichte insgesamt marginalisiert ist, so ist auch die Problematik des Sockels bislang in der Forschung weitaus weniger behandelt.5 Postamente sind ein Mittel des Schutzes der statuarischen 4 Die folgenden Thesen erweitern frühere Überlegungen zur Rezeptionsästhetik von Statuen und sie werden nachdrücklicher auf das Denkmal bezogen; vgl. Dietrich Erben: Der steinerne Gast. Die Begegnung mit Statuen als Vorgeschichte der Betrachtung, Weimar 2005. Aus der Fülle von Literatur zum Denkmal sei hier nur hingewiesen auf die neueren Übersichten zum 19. und 20. Jahrhundert mit weiterer Literatur: Sergiusz Michalski: Public Monuments. Art in Political Bondage 1870-1997, London 1998; Wessel Reinink u.a. (Hg.): Memory and Oblivion (International Congess of the History of Art Amsterdam 1996), Amsterdam 1999; HansRudolf Meier u.a. (Hg.): Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Denkmaldebatte und Denkmalpflege, Zürich 2000; Charlotte Benton (Hg.): Figuration, Abstraction. Strategies for Public Sculpture in Europe 1945-1968, Leeds 2004; Dietrich Erben: Denkmal, in: Uwe Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Ziegler (Hg.): Handbuch der politischen Ikonographie, 2 Bde., München 2011, Bd. 1, S. 167-175. 5 Vgl. an allgemeiner Literatur zum Rahmen: Eva Mendgen (Hg.): Perfect Harmony. Bild und Rahmen 1850-1920, Zwolle 1995; Henrik Bjerre: Frames. State of the art, Kopenhagen 2008; Hans Körner und Karl Möseneder (Hg.): Rahmen zwischen innen und außen. Beiträge zur Theorie und Geschichte, Berlin 2010. Zum Sockel in der frühneuzeitlichen Tradition neben

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Bestandteile eines Denkmals und sie fungieren als Träger von Inschriften und kommentierenden Reliefs. Sie dienen darüber hinaus nicht nur der räumlichen Freistellung von Statuen im Umgebungsraum, sondern auch deren ästhetischer Exposition. All diese Funktionen werden von Georg Simmel in einem Aufsatz über den Bilderrahmen verdeutlicht. Sein Essay ist eine der gehaltvollsten Interpretationen dieses ästhetischen Dispositivs überhaupt, und es erscheint als legitim, Simmels Rahmen-Bestimmungen für den Begriff des Sockels – als eine plastische Ausprägung des Rahmens – in Dienst zu nehmen. Laut Simmel „scheidet der Rahmen das Kunstwerk von jedem Stück Natur.“6 Simmel spricht von einem „unbedingten Abschluss, der die Gleichgültigkeit und Abwehr nach außen und den vereinheitlichenden Zusammenschluss nach innen in einem Akte ausübt.“7 Durch den Rahmen wird das Kunstwerk in den Rang einer „Antithese gegen uns und eine Synthese in sich“ erhoben, dahingehend, „dass es in einer Sphäre sei, die von allem unmittelbaren Leben abgerückt ist.“8 Gedankengang und Sprache dieser Aussagen Simmels, der als Soziologe stets den Bezug zur lebensweltlichen Erfahrung und Praxis sucht, machen klar, dass Rahmen und mit ihnen der Sockel nicht nur ein ästhetisches Dispositiv für eine Statue darstellt, sondern auch ein ideologisches Dispositiv für die in der Statue repräsentierte Person. Damit rückt der Sockel in eine überraschende Analogie zum höfischen Zeremoniell. Denn wie der Sockel der Statue dient auch das zeremonielle Reglement, durch das die unmittelbare räumliche Umgebung eines Fürsten organisiert wird, der hierarchischen Exponierung aus dem Umfeld, der Separierung und tendenziellen Unzugänglichkeit sowie der symbolischen Kommentierungen.9 Zugespitzt kann man sagen: Was das Zeremoniell für den Fürsten als Person ist, ist der Sockel für den Fürsten als Statue.

der klassischen Studie von Kathleen Weil-Garris Brandt: On Pedestals. Michelangelo’s David, Bandinelli’s Hercules and Cacus and the sculpture of the Piazza della Signoria, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 20 (1983), S. 377-415 auch Alison Wright: „… con uno inbasamento et ornamento alto“: The Rhetoric of the Pedestal c. 1430–1550, in: Art History 34 (2011), S. 8-53; zur Gegenwartskunst „Das Fundament der Kunst. Die Skulptur und ihre Sockel in der Moderne“ (Ausstellungskatalog Rolandseck), hg. von Dieter Brunner, Bönningheim 2009. 6 Georg Simmel: Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch (1902), in: Ders.: Soziologische Ästhetik, Bodenheim 1998, S. 111-117, hier S. 111. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Zu diesen Kategorien des Zeremoniells Milos Vec: Zeremonialwissenschaft und Fürstenstaat Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation, Frankfurt/M. 1998; Bernhard Jahn und Claudia Schnitzer (Hg.): Zeremoniell in der Krise. Störung und Nostalgie, Marburg 1998.

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Mit einer solchen sakrosankten Unantastbarkeit des Fürsten und damit des Denkmals, das ihn darstellt, war es mit der Französischen Revolution vorbei. In der Revolution wurde eine Krise der Denkmalkultur erstmals und mit langanhaltenden Folgen offenkundig. Drei Momente erscheinen für diesen Krisenbefund als symptomatisch: 1. Durch den revolutionären Ikonoklasmus kommt es zu einem fundamentalen Bruch mit der Denkmaltradition des Ancien Régime. 2. Die Revolutionszeit ermöglichte die Errichtung ephemerer, aber nicht die Realisierung dauerhafter Denkmäler. 3. Bei den ephemeren Projekten kommt der innovative Gedanke der Interaktion zwischen Monument und Zuschauerakteuren zum Tragen. Der f lächendeckende Sturz der Königsstandbilder vom Sockel setzte schlagartig und auf lange Sicht irreversibel die Funktionsweise des traditionellen Denkmals außer Kraft.10 Waren die Figuren selbst verschwunden, so zeugten die Sockel von der Ablösung des ikonischen Sinns der Standbilder (Abb. 4). Diese Tilgung der Semantik wird an der Entbindung des Sockels aus seinen Rahmenfunktionen und aus dessen Bloßstellung schlagartig sichtbar. Der herrenlose Sockel wurde selbst zu einem traumatischen Monument des gewaltsam gestürzten alten Regimes, aber man gab auf die Zerstörung des Alten auch neue Antworten. Zahllose dauerhafte Denkmäler kamen zwar über das Projektstadium nicht hinaus, doch es wurden ephemere Denkmäler realisiert, die ihrerseits ein eminentes interaktives Potential der Teilnahme besaßen. Dass in den anderthalb Dezennien der Revolution keine dauerhaften Denkmäler zustande kamen, hatte viele Gründe. Neu geschaffene Museen substituierten zum Teil die geschichtliche Erinnerungskultur, für die vordem die Denkmäler einstanden. Darüber hinaus gelang es in der rasanten Abfolge unterschiedlicher Revolutionsregime nicht, zu einer allgemeinverbindlichen, konsensfähigen Interpretation der nahen Vergangenheit und der Gegenwart zu kommen.11 Ein solches gesellschaftliches Übereinkommen stellt die notwendige Bedingung für das Gelingen eines jeden Denkmals dar. Bei den Projekten und ephemeren Denkmälern wurden neue Formen der Partizipation des Benutzers am Denkmal systematisch erprobt.12 In diesen Ex10 Zum Ikonoklasmus während der Revolution immer noch wichtig das ideologisch tendenziöse Buch von Louis Réau: Histoire du Vandalisme. Les monuments détruits de l’art français (1958), Paris 1994 sowie die einzelnen Beiträge in Martin Warnke (Hg.): Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks (1973), Frankfurt/M. 1977; Winfried Speitkamp (Hg.): Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik, Göttingen 1997. 11 Zu diesen Begründungen neben der in Anm. 12 genannten Literatur auch Dietrich Erben: Geschichtsüberlieferung durch Augenschein. Zur Typologie des Ereignisdenkmals, in: Achim Landwehr (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg 2002, S. 219-248, hier S. 241. 12 Maßgeblich zum Material „Les Architectes de la Liberté 1789-1799“ (Ausstellungskatalog Paris), Paris 1989, bes. Kap. 3: „Les monuments de la vertu“; James A. Leith: Space and

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perimenten wurde die funktional-ästhetische Grenze des Sockels aufgegeben, die Postamente wurden begehbar, bevor es dann auch die figuralen oder architektonischen Teile der Denkmäler selbst wurden. Dazu nur einige Beispiele. Armand-Guy Kersaint schlägt in seinem Discours sur les monuments publics von 1792 die Errichtung von in der Stadt verteilten so genannten Prytaneen vor.13 Das sind von der griechischen Antike inspirierte, in der Form von polygonalen Rundbauten errichtete Depots von Gesetzestexten, an deren Äußerem jeweils aktuelle Gesetzestexte und Verordnungen angeschlagen werden sollten (Abb. 5). Die Säulenädikulen dienen als Unterstände für die Bürger, die beabsichtigen, die plakatierten Aushänge zu lesen. Die fünf Seiten des Pentagons repräsentieren laut Kersaint fünf Institutionen der staatliche Gewaltenteilung: Legislative, Exekutive, Judikative sowie in Stadt- und Departementsverwaltung. Kersaint postuliert eine ästhetische und moralische Erziehung der Bevölkerung zu einer gesetzestreuen Staatsbürgerschaft, dabei setzte er auf die unmittelbare kognitive und emotionale Ansprache durch das Denkmal selbst. Er hatte offensichtlich die Maximen der architekturtheoretischen Charakterlehre im Sinn. Einfachheit, Monumentalität und stereometrische Raumgeometrien, die auf attributives Dekorum verzichten, sollen zusammen mit der Lektüre der Aushänge eine gelenkte Benutzung gewährleisten. Dazu Kersaint: „An diesem Ort der Zusammenkunft wird man sich die Hand reichen, sich ohne Argwohn miteinander austauschen und mit den anderen eintauchen in das süßeste und tatkräftigste aller Gefühle, das der Vaterlandsliebe. Oh! Seid gewiss: würde je ein schlechter Bürger in diese Heimstatt des Rechts eintreten, so verließe er sie unweigerlich als Patriot.“14 Andere Denkmals- und Architekturtheoretiker der Revolutionszeit fordern die „Elektrisierung“ („électrisation“) der Betrachter durch das Denkmal.15 Solche Beeinf lussungsstrategien hatten auch die Planer der ephemeren Denkmäler im Sinn, die meist zu den Jahrestagen von markanten Revolutionsereignissen errichtet wurden.16 Am Jour de l’Etre Suprême wurde 1793 ein künstlicher Berg von erheblichen Ausmaßen aufgeschüttet, der durch Prozessionswege zum Freiheitsbaum auf dem Hauptgipfel und zu Flammenschalen auf den Nebenhügeln erschlossen wird (Abb. 6). Eine figurenbestückte Monumentalsäule nach Revolution. Projects for Monuments, Squares, and Public Buildings in France, 1789-1799, Montréal 1991. 13 Armand-Guy Kersaint: Abhandlung über die öffentlichen Baudenkmäler. Paris 1791/92, hg. von Christine Tauber, Heidelberg 2010, bes. S. 48-55. 14 Kersaint: Anhandlung, S. 52-53: „C’est là qu’en se rencontrant on pourra se tendre la main, se parler sans défiance, se confondre avec ses semblables dans les plus doux et le plus énergique des sentiments, l’amour de la patrie. Hé! n’en doutez pas, s’il entroit jamais dans cet asyle de la loi quelque mauvais citoyen, il en sortiroit patriote.“ 15 Kersaint: Abhandlung, S. 264. 16 Zu den im Folgenden angesprochenen Projekten „Architects de la Liberté“, Nrn. 199, 209, 199.

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klassischem Typus steht abseits des Berges und ist eine Marginalie, denn nun ist der begehbare Sockel der Hauptbestandteil des Denkmals. Diese landschaftliche Denkmalszenerie ist bei einem riesenhaften Triumphbogen mit seitlichen Kolonnadenf lügeln, der an den Champs-Elysées errichtet werden sollte, in eine bauliche Form überführt. Die gesamte Architektur der Anlage fungiert als Aufstellungsbühne für die Festteilnehmer, die in ameisenhaften Prozessionsreihen die Treppenrampen hinaufziehen (Abb. 7). Beim Festauf bau zum Gedenken an die Erstürmung der Bastille im Jahr 1793 wurden Publikum und Denkmal in ein liquides Verhältnis zueinander gesetzt. Die Fontaine de la Régénération war mit einer weiblichen Allegorie der Natur bestückt, die aus der einen Brust eine Brunnenschale speiste und mit der anderen dem Volksvertreter mit seinem Pokal einschenkte (Abb. 8). Im Einzelnen lassen sich für diese Inszenierungsformen durchaus historische Vorläufer, etwa bei frühneuzeitlichen Festapparaten, benennen. Darüber hinaus wurde auch für die zeitgenössische Malerei gezeigt, dass die neue Rolle der Masse andere Formen von deren Berücksichtigung im Bild erzwang.17 Unabhängig davon lässt sich festhalten, dass die beschriebenen Mechanismen in ihrer Zusammenführung und in ihrer Konsequenz die Durchsetzung eines veränderten Umgangs mit Denkmälern vorbereiteten. Die Monumente der Revolutionszeit richteten sich an das Publikum als ein Kollektiv, das sich als politische Öffentlichkeit faktisch noch nicht entfaltet hatte und sich erst konstituierte. Zu dieser Selbstkonstitution sollen zusammen mit der Wahrnehmung von Mandaten in den politischen Körperschaften und neben kollektiven Aufmärschen bei Revolutionsfesten auch die Interaktionen zwischen Öffentlichkeit und Denkmälern einen Beitrag leisten. Hatte sich der Staat („état“) des Ancien Régime fast ausschließlich über die personale Stellvertretung durch die Monarchen repräsentiert, so dienten die neuen Monumente der Repräsentation der „nation“. Bei ihr handelt es sich um eine auf Repräsentationsinstanzen eminent angewiesene Imaginationsgemeinschaft und zugleich um eine Instanz der verfassungsmäßig legitimierten, mit neuen politischen Institutionen ausgestatteten Volkssouveränität.18 Der in diesem Sinn nationale Auftrag, der an die Denkmalkultur erging, begründete eine 17 Hierzu die grundlegenden Untersuchungen von Wolfgang Kemp: Das Bild der Menge (17891830), in: Städel-Jahrbuch 4 (1973), S. 249-270; Ders.: Einleitung, in: „Der Einzelne und die Masse: Kunstwerke des 19. und 20. Jahrhunderts“ (Ausstellungskatalog Recklinghausen), hg. von Thomas Grochowiak, Recklinghausen 1975 (unpag.); Ders.: Das Revolutionstheater des Jacques-Louis David. Eine neue Interpretation des „Schwurs im Ballhaus“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 21 (1986), S. 165-184; sowie den Klassiker von Dems.: Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, Mittenwald 1983. 18 Vgl. zu dieser Grundentwicklung nur zusammenfassend Hans Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001.

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medial ausgestaltete Didaktik der Denkmalkultur, bei der die kommunikative Distanz zwischen Publikum und Monument aufgehoben wurde. Die Denkmäler eröffneten für die Benutzer Aktionsräume, wobei die am und mit dem Denkmal vollzogenen Handlungen als ein real vollzogener Bestandteil der ideal gedachten Partizipation aller Bürger an der Politikausübung zu verstehen sind. Funktional wurde dies durch die Zugänglichkeit und Begehbarkeit der Denkmalanlagen gewährleistet, was unter anderem die Beseitigung der Barriere des Denkmalsockels voraussetzt.

Sockelrestauration und Sockelbegehung Für die Denkmalkultur derjenigen Epoche, die nach dem Wiener Kongress politisch installiert wurde und der von dem Berner Aristokrat Karl Ludwig von Haller mit seiner Verfassungsgeschichte der Restauration der Staatswissenschaft (1816-23) der Epochentitel verliehen worden war, stellte sich die Herausforderung, diese Errungenschaften den restriktiven Interessenlagen der Restaurationszeit anzupassen. Leo von Klenzes Entwurf für ein Befreiungsdenkmal aus dem Jahr 1813 zeigt dies in eindrucksvoller Weise (Abb. 9).19 Den Sockelkranz bilden acht kolossale sitzende Viktorien auf dem kreisrunden Treppenpodest; eine Statuengruppe mit einer weiteren Siegesallegorie und Begleitfiguren bekrönt die ägyptisierende Bündelsäule. In seiner formalen und ikonographischen Konzeption ist das Denkmal durch und durch von französischen Projekten der Jahre um 1800 geprägt. Klenze hat bei den Inschriften nur die Namen von Gegnern und Schlachtorten ausgetauscht. Neu ist jedoch die Idee der Einbindung des Denkmals in eine patriotische Landschaft, die durch die den breiten Flusslauf mit der romanischen Kirche, der Burgruine und den „deutschen“ Eichen als das Rheintal gekennzeichnet ist. Die Strahlen der hinter den Wolken hervorbrechenden Sonne verkünden die Symbolik eines neuen Morgens als geschichtliche Allegorie nationaler Erneuerung. Solche Aussagen ließen sich nur bildlich vermitteln und konnten der Denkmalarchitektur selbst nur eingeschränkt zu Eigen sein. Gerade in ihnen wird jedoch das Bestreben Klenzes erkennbar, das Denkmal im ideellen Bezugsrahmen der Nation zu situieren. Unverkennbar sind beim Denkmal selbst durch das zweizonige Postament, dem Treppenpodest und dem Ringunterbau mit den bastionenhaft vortretenden Statuensockeln geradezu einschüchternde Schwellen errichtet, die den Benutzer auf Betrachterdistanz halten. Gleichzeitig teilt aber 19 Die Analyse und Deutung des Blattes folgt Adrian von Buttlar: Leo von Klenze. Leben, Werk, Vision, München 1999, S. 68-72; vgl. auch Sonja Hildebrand: Projekt für ein deutsches Befreiungsdenkmal 1813/14, in: „Leo von Klenze. Architekt zwischen Kunst und Hof 17841864“ (Ausstellungskatalog München), hg. von Winfried Nerdinger, München 2000, S. 237238.

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der Betrachter mit dem Denkmal die Umgebung einer patriotischen Landschaft, die als Erlebnisraum nicht nur naturhaft Stimmungen hervorrufen, sondern auch Geschichtsref lexionen evozieren soll. Mit dem Monument selbst wird jedwede Interaktion vereitelt und es wird als Objekt bloßer Betrachtung restituiert. Die Form der Partizipation ist nicht mehr kollektive Teilhabe, sondern individuelle Kontemplation. Der Sockel wird als Formelement zwar wieder in sein traditionelles Recht einer funktions-ästhetischen Grenze gesetzt, jedoch zugleich – wenn man so will – zu einem landschaftlichen Plateau erweitert, das sein Ende an den Grenzen des Vaterlandes findet. Erst im Verlauf der folgenden Jahrzehnte wird wieder eine nachdrückliche Integration der Betrachter ins Denkmal selbst erkennbar, die dann in der Begehbarkeit von Statuen kulminiert. Zunächst wurde der Sockel wieder zurückerobert. Dies ist beim Lutherdenkmal in Worms, zu dem Ernst Rietschel 1858 die ersten Entwürfe anfertigte, der Fall.20 Zuerst sah der Bildhauer noch ein kompaktes Pfeilerdenkmal vor (Abb. 10). Im Verlauf der Entwurfsarbeit lässt er aber die vier unteren Nebenfiguren vom Sockel heruntersteigen und gruppiert sie in einiger Entfernung voneinander in einer Art Statuenkollektiv auf der Steinschranke eines Hauptpostaments auf quadratischem Grundriss (Abb. 11). Im Zentrum ragt nun der Denkmalpfeiler mit Luther und den vier Sitzfiguren der Vorreformatoren (Jan Hus, Savonarola, Petrus Waldus, John Wyclif) auf. An den vorderen Eckpostamenten des Podiums sind die fürstlichen Verteidiger der Reformation (Philipp d. Großmütige, Lgf. v. Hessen, und Friedrich III., Kfst. v. Sachsen) postiert, die humanistischen Wegbegleiter Luthers (Johannes Reuchlin und Philipp Melanchthon) hingegen an dessen hinteren Ecken. Zwischen diesen Protagonisten der Reformation sitzen die Stadtpersonifikationen von Speyer, wo auf dem Reichstag von 1529 dem Kaiser die Protestation vorgelegt worden war, und Magdeburg, das 1631 im Dreißigjährigen Krieg von den Truppen der katholischen Liga erobert worden war und als Symbol des protestantischen Widerstandsgeistes galt. Den BetrachterInnen bietet sich mit dem auf dem Podium vereinten Statuenensemble ein begehbares, kulissenhaft arrangiertes Geschichtsbild dar. Durch die Frontalansicht auf das vielfigurige Personenaufgebot wird ihnen verdeutlicht, dass es sich um ein Denkmal für die gesamte Reformation als ein historisches Kollektivereignis handelt. Aber zugleich sind mit der Lutherfigur in der überhöhten Zentrumsposition von Anfang an die Hierarchien geklärt. Erst wenn man sich dem Podium nähert und es betritt, werden mit den individuellen Akteuren 20 Christiane Theiselmann: Das Wormser Lutherdenkmal Ernst Rietschels (1856-1868) im Rahmen der Lutherrezeption des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u.a. 1992 (Europäische Hochschulschriften 28; 135); „Ernst Rietschel, 1804-1861. Zum 200. Geburtstag des Bildhauers“ (Ausstellungskatalog Dresden), hg. von Bärbel Stephan, München 2004, S. 181194.

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auch die historischen Bedingungsverhältnisse für den Erfolg der Reformation nachvollziehbar, wobei sich durch die spezifischen Konstellationen der Protagonisten, deren Verteilung im Raum und deren jeweiliger Darstellungsform die ganze propagandistischen Wucht des Denkmals erschließt. Luther überragt als charismatische Zentralgestalt in jedweder Hinsicht seine Vorläufer. Der Typus des Standbildes, in dem Luther dargestellt ist, steht hier im Wortsinn für resolute Standfestigkeit ein, der dem Betrachter in der rhetorischen Pose des Verteidigers der Thesen auf dem Wormser Reichstag von 1521 vor Augen tritt – „Ich stehe hier und kann nicht anders.“ Dagegen haben sich die vorreformatorischen Kirchenkritiker bereits – wie man sagen darf – in der Sphäre etablierten historischen Ruhms zur Ruhe gesetzt. Auch bei den vier Männerstatuen auf der steinernen Umfriedung werden historische Wertungen vollzogen und Vorrangstellungen anschaulich gemacht. Die beiden bürgerlichen Humanisten treten im Gesamtensemble in den Hintergrund, während die fürstlichen Protektoren der Reformation als bewaffnete Wächterfiguren am Eingang des Denkmals in Positur gegangen sind. Die Fürsten sind die Garanten für die Durchsetzung und das Überdauern der Reformation. Mit dieser programmatischen Akzentuierung der Fürstenreformation ist das Lutherdenkmal in Worms ein Plädoyer für das protestantische Staatskirchentum im damaligen Großherzogtum Hessen. Die Begehbarkeit des Denkmals ermöglicht zwar einerseits eine Differenzierung geschichtlicher Dimensionen der Reformation, befestigt aber andererseits auch die Haupttendenz dieser Aussage. Ebenfalls noch in den Jahren des ausgehenden des Deutschen Bundes und vor dem Kaiserreich wurde die Siegessäule in Berlin konzipiert (Abb. 12).21 Dort gelangen die Besucher über den Innenraum im quadratischen Sockel in eine Ringkolonnade und können von dort die Wendeltreppe im kannelierten Säulenschaft zur schmalen Aussichtsplattform hinauf zu Füßen der bekrönenden Viktoria steigen. In der Aufstockung und Erweiterung des kubischen Sockels durch die Säulenrundhalle liegt der innovative Kunstgriff des Denkmalentwerfers Johann Heinrich Strack. Die Rotunde selbst ist mit dem vom Staatsmaler Anton von Werner geschaffenen, riesenhaften Mosaikbild geschmückt. Das Mosaik ist wie eine Manschette um das Säulenpostament gelegt. Es zeigt als panoramatisch kontinuierliche Endlosschleife mit allegorischen Motiven angereichte Szenen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 sowie die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Schloss Versailles. Kaiser Wilhelm I. nahm persönlich Einf luss auf die Bildinhalte, deren Thema, wie das Gesamtprogramm des Denkmals, die Entstehung des deutschen Kaiserreichs aus den Eroberungsfeldzügen ist. Vor den Betrachtern entfaltet sich beim Abschreiten des Panoramas eine Geschichts21 Reinhard Alings: Die Berliner Siegessäule. Vom Geschichtsbild zum Bild der Geschichte, Berlin 2000; Alexander Markschies: Die Siegessäule. Großer Stern (Der Berliner Kunstbrief), Berlin 2001.

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chronologie, die in die Apotheose der Gründung des neuen Gesamtstaates einmündet und deren historische Vorbedingung aus dem preußischen Militarismus vorführt und legitimiert. In der Transitorik des Herumgehens wurde ehemals aber nicht nur das Panoramabild erschlossen, sondern auch der Stadtraum, in dem sich früher das Denkmal befand. Wendete man den Blick vom Mosaikbild nach außen so ging er, vor der Verlegung des Denkmals in den Tiergarten im Jahr 1938, über den Berliner Königsplatz, des hauptstädtischen Forums an der Krolloper und am Reichstag. Die Logik der Anordnung des Panoramas synchronisiert in der Wahrnehmung das Geschichtsbild und die städtische Umgebung und setzt sie zueinander in ein Begründungsverhältnis. Mit dem Kriegsbild im Rücken wächst der Stadttopographie die Qualität des militärisch gesicherten, durch die Siege bewahrten Territoriums zu. Dieser Gedanke, der Betrachterinnen und Betrachter in der Ringkolonnade gleichsam noch auf Augenhöhe triff, findet in der oberen Aussichtsplattform, wo er sich nach dem Aufstieg in der Säule über den Stadtraum erhebt und von der gef lügelten Nike unter seine Fittiche genommen wird, seine Steigerung.

Die Einverleibung der Betrachter Die lange Tradition des Turm- und Säulendenkmals zeigt sich als eine wichtige Vorstufe für den Denkmaltypus mit einer begehbaren Statue. Mit ihr tritt an die Stelle des Architekturdenkmals das Figurendenkmal. Handelte es sich bei den Monumentalsäulen in der Tradition der Trajan- und Marc Aurel-Säule, mit den neuzeitlichen Nachfolgern wie etwa dem Londoner Monument to the Great Fire (1671-77) oder der Pariser Vendôme-Säule (1806-10), um einen baulichen Denkmaltypus, bei dem die Begehbarkeit vor allem der praktischen Idee folgt, die Betrachter auf eine erhöhte Aussichtsplattform hinaufzuführen, so geht es bei der begehbaren Statue um die kalkulierte Inszenierung des Aufstiegs und um die Inkorporation der Betrachter in eine Figur. Die kategoriale Differenz zwischen den Denkmaltypen liegt im simplen Wechsel vom Bau zur Figur. Denn während es das Hauptmerkmal jeder Architektur ist, einen Innenraum zu konstituieren, ist der Betrachter bei einer Figur prinzipiell in die Position des Gegenübers versetzt. Sowohl die den menschlichen Körpermaßen oftmals ähnlichen Proportionen als auch die oftmals solide Massivität einer Statue lassen den Gedanken einer körperlichen Einverleibung des Betrachters gar nicht erst auf kommen. Diese kategorialen Trennungen zwischen den Gattungen wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts beispielsweise nochmals durch Hegels Ästhetik normativ festgeschrieben und damit auch als historische Position begründet. Über die Skulptur heißt es dort: „Die Statue ist für sich überwiegend selbständig, unbekümmert um den Beschauer, der sich hinstellen kann, wohin er will; sein Standpunkt, seine Be-

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wegungen, sein Umhergehen ist für das Kunstwerk etwas Gleichgültiges. Soll diese Selbständigkeit noch bewahrt sein, so muß das Skulpturbild nun auch dem Zuschauer auf jedem Standpunkte etwas geben können. Bewahrt aber muß dies Fürsichsein des Werks in der Skulptur bleiben, weil sein Inhalt das rein äußerlich und innerlich auf sich Beruhende, Abgeschlossene und Objektive ist.“22 Solche resoluten Gattungszuschreibungen gerieten mit der begehbaren Monumentalplastik erheblich ins Wanken. Bei den in den Dimensionen ins Kolossale gesteigerten, in ihrem Inneren ausgehöhlten und mit Aufstiegsmöglichkeiten ausgerüsteten Denkmälern macht der Weg nicht am Postament halt, sondern wird ins Denkmal hinein und in die Höhe fortgesetzt. Eines der frühesten Beispiele für diesen neuen Typus stellt offenbar die Münchner Bavaria (vollendet 1850) dar. Das berühmteste Beispiel ist zweifelsohne die New Yorker Freiheitsstatue (vollendet 1886).23 Im Hinblick auf die historischen Voraussetzungen für diesen Denkmaltypus sei nur am Rande daran erinnert, dass es in der Frühen Neuzeit den Brauch gab, nach der Fertigstellung von Pferdestatuen deren Monumentalität mit dem Fassungsvermögen zu bemessen, indem Handwerker in den Hohlraum der Figur einstiegen. Für die das 1594 fertiggestellte Pferd des Reiterdenkmals von Cosimo I de’Medici in Florenz berichten die Quellen, dass sagenhafte 24 Männer im Pferdeleib Platz gefunden haben sollen.24 Solche Aktionen nehmen den offenen Wettbewerb mit der Kolossalstatue des Trojanischen Pferdes auf, sie wurden als festes Ritual für die Öffentlichkeit inszeniert und sind auch später belegt. So ist auch für die Münchner Bavaria eine stolze Zahl zeitweilig Inkorporierter zu verzeichnen. Das Herausheben des Kopfes aus der Gussgrube erfolgte am 14. Dezember 1844 in der Werkstatt des Erzgießers Ferdinand von Miller im Beisein des Hofes, 22 Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik (1838), 3 Bde., Frankfurt/M. 1986 (G.W.F. Hegel, Werke, 13-15), Bd. III, S. 28. In dieser Passage bezieht sich Hegel auf die Differenz zwischen Malerei und Skulptur; er arbeitet die kategorialen Gattungsunterschiede in der Ästhetik sowohl im Vergleich als auch gattungsimmanent aus. 23 Zur Bavaria Buttlar: Leo von Klenze, S. 266-282 und als zeitgenössische Fotodokumentation „Alois Löcherer. Photographien 1845-1855“ (Ausstellungskatalog München), München 1998. Zur Freiheitsstatue Marvin Trachtenberg: The Statue of Liberty, New York 1976; Leslie Allen: Liberty. The Statue and the American Dream, New York 1985; „Liberty. The FrenchAmerican statue in art and history“ (Ausstellungskatalog New York), New York 1986; höchst inspirierend zur weiblichen Denkmalallegorie insgesamt Marina Warner: Monuments and Maidens. The Allegory of the Female Form, London 1985. 24 Belege bei Dietrich Erben: Die Reiterdenkmäler der Medici in Florenz und ihre politische Bedeutung, in: Mitteilungen des kunsthistorischen Institutes in Florenz 40 (1996), S. 287-361, hier S. 292.

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und aus dem Kopf der Riesin sollen 26 Männer unter „Vivat“-Rufen auf den anwesenden König entsprungen sein.25 Neben der älteren, zeremoniell etablierten Tradition konnte für solcherart Kopfgeburten auch die Geschichte der aus dem Haupt des Zeus geborenen Athena als mythischer Archetypus Pate stehen. Eines der frühesten erhaltenen begehbaren Standbilder ist die Statue des Carlo Borromeo, die 1624 als zwanzig Meter hoher, aus Kupfer und Bronze hergestellter Koloss bei dem am Lago Maggiore gelegenen Geburtsort des Heiligen in Arona errichtet wurde (Abb. 13).26 Das Denkmal bildet den Zielpunkt eines erst später realisierten Sacro Monte. Man kann im Inneren auf einer schmalen Leiter im kaminartigen, mit Ziegeln ausgemauerten Hohlraum der Figur in schwindelerregende Höhen klettern, wobei Luken die Aussicht nach draußen erlauben. So eindrucksvoll kühn sich Aufstieg und Ausguck darstellen, so ist sicher nicht davon auszugehen, dass das Erklettern gleichsam als Fortsetzung des Prozessionswegs über den Sacro Monte hinaus in den Himmel gedacht gewesen wäre. Das Denkmal ist im Gegenteil in seiner Monumentalität und seinem Standort auf der Anhöhe als eine Landmarke ganz für die Fernsicht berechnet. Das Maß des Kolossalen erweist sich bei den begehbaren Standbildern des späteren 19. Jahrhunderts als eine notwendige Voraussetzung für eine künstlerische Konzeption, bei der die Fernsicht auf die Figur von außen und die Erfahrung der Figur in ihrem Inneren zur Synthese geführt werden. Eugène Lesbazeilles hat in seinem Handbuch, das 1881 unter dem Titel Les Colosses anciens et modernes erschien, die Tradition der Kolossalplastik seit den ägyptischen Hochkulturen nachgezeichnet. Er tat dies zu einem Zeitpunkt, als der künstlerische Neuentwurf von Kolossalität auf der Agenda stand. Sein Buch erschien pünktlich zur Vollendung des Modells der New Yorker Freiheitsstatue, mit der dieser Neuentwurf beispielhaft eingelöst ist. Bei Lesbazeilles steht das Monument in New York am Ende der langen, mit der ägyptischen Sphinx beginnenden Traditionslinie.27 25 Die Szene ist in einem Gemälde von Wilhelm Gail (München, Stadtmuseum) festgehalten; zum Gießer und zur Herstellung der Bavaria vgl. Christoph Hölz (Hg.): Erz-Zeit. Ferdinand von Miller – Zum 150. Geburtstag der Bavaria, München 1999. 26 Adolf Reinle: Das stellvertretende Bildnis. Plastiken und Gemälde von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Zürich 1984, S. 310-312; Adele Mazzotta Buratti: L’apoteosi di Carlo Borromeo disegnata in due secoli di progetti per il Sacro Monte di Arona (1614-1828), in: Luciano Vaccaro und Luigi Zanzi (Hg.): Sacri monti. Devozione, arte e cultura della controriforma, Mailand 1992, S. 231-239; Gabriele Landgraf: Die Sacri Monti im Piemont und in der Lombardei. Zwischen Wirklichkeitsillusion und Einbeziehung der Primärrealität (Europäische Hochschulschriften 28; 362), Frankfurt/M. u.a. 2000. 27 Eugène Lesbazeilles: Les Colosses anciens et modernes, Paris 1881, dort zur New Yorker Freiheitsstatue am Ende des Buches S. 307-310; zum ästhetischen Maßstab vgl. auch Wolfgang Liebenwein: Kolosse. Vom Erhabenen und vom Lächerlichen, in: Kiesstraße Zwanzig Uhr. Huss’sche Universitätsbuchhandlung, Frankfurt/M. 1993, S. 16-28.

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Die begehbaren Frauenstatuen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehören vor der Moderne sicherlich zu den eindrucksvollsten Exempeln für immersive Strategien der Vereinnahmung (Abb. 14-18). Deren Eigenart besteht darin, dass sie die BetrachterInnen in eine artifiziell hergestellte Umgebung versetzen, sie auf allen sinnlichen Ebenen in Anspruch nehmen und partiell ihre Selbstkontrolle außer Kraft setzen.28 Die Kolossalstatuen sind durch ihren jeweiligen Aufstellungsort wahrzeichenhaft exponiert, doch sollte man ihnen nicht nur als Betrachter aus der Fernsicht gegenüberstehen, denn die Figuren verlangen auch die Bereitschaft zur Einverleibung. Dass dabei Phantasien von sexueller Vereinigung im Spiel sind, bedarf keines Hinweises. Die Statuen ermöglichen in ihrem Inneren einen prozessionshaften Aufstieg bis zum Kopf oder gar bis zur empor gereckten Leuchtfackel hinauf. Prägend sind der Eindruck des in seiner Technik offen gelegten Faszinosums ebenso wie das ambivalente Schwanken zwischen den Empfindungen von Erstaunen und Erhabenheit, aber auch Beklommenheit. In den technischen Eingeweiden der Statue – so das Kalkül der inszenierten Begehung – verblasst der Blick von außen und die schiere Monumentalität wird unmittelbar erfahrbar. Während das hohle Gehäuse für den, der es aufgesucht hat, gewissermaßen als ein Resonanzkörper für die Bedeutung der Statue fungiert, wird die Figur zugleich durch die Besucherinnen und Besucher im Inneren belebt. Diese Logik geht vollends im Kopf der Statue als dem Zielpunkt des Aufstiegs und dem Zentrum der Vorstellungskraft auf. Die Imagination sucht den Weg nach oben und verlangt den Aufstieg in Herz und Hirn der Figur. So teilt sich der Aussagegehalt nicht mehr durch die Betrachtung der Personifikation mit, denn es sind mehr denn je die Einverleibten selbst, die für die Bedeutung der Statue zu bürgen haben. Die persönliche Erfahrung der Begehung soll diejenigen, die sich in die Statue hinein aufgemacht haben, in ihrer Identität bestätigen – sei es als Bayer oder sei es als Amerikaner. Mit dem Eintritt in die Statue betreten sie auch das Land, in dem das Monument steht und für das es symbolisch einsteht. Diese Erfahrung wurde verschiedentlich auch von den Zeitgenossen in schriftlicher oder bildlicher Form mitgeteilt. Eugène Lesbazailles beschreibt das Hochsteigen der Leiter im Inneren der Statue des Carlo Borromeo als „Aufstieg“ 28 Zum Folgenden Erben: Steinerne Gast, S. 73-78 und Warner: Monuments and Maidens. Zum Immersionsbegriff grundlegend die Studien von Oliver Grau: „Vorsicht! Es scheint, daß er direkt auf die Dunkelheit zustürzt, in der Sie sitzen.“ Immersions- und Emotionsforschung, Kernelemente der Bildwissenschaft, in: Klaus Herding und Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in Nahsicht, Taunusstein 2007, S. 263-288; anregend, wenn auch ohne explizite Arbeit Auseinandersetzung mit dem Begriff Laura Bieger: Ästhetik der Immersion. Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City, Bielefeld 2007 sowie Susanne von Falkenhausen: Kugelbau Visionen. Kulturgeschichte einer Bauform von der Französischen Revolution bis zum Medienzeitalter, Bielefeld 2008, bes. 129-159.

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in den Kopf des Heiligen. Man glaube zunächst, sich in einem Kamin zu befinden, doch oben angekommen, werde man durch das Licht einer Luke „erleuchtet“ bis man sich’s schließlich in der Ausbuchtung der Nase bequem machen könne.29 Lesbazeilles’ Bericht über den Besuch der Münchner Bavaria-Statue ist mit zwei Darstellungen des Kopfinneren der Statue Ludwig von Schwanthalers illustriert (Abb. 16-17). Das Aufsuchen des Inneren der Statue ist in insgesamt nüchternen Worten geschildert, Lesbazeilles beschreibt den Verlauf der Treppen und rückt die laut früherem Hörensagen übertriebene Zahl der Sitzplätze im Kopf der Figur zurecht. Doch gleichwohl geht der knappe Textpassus über die bloße Feststellung von Tatsachen hinaus. Wenn Lesbazeilles das Eintreten in die Figur als „Eindringen“ – „on pénêtre dans l’interieur“ – bezeichnet, so ist durch diese Wortwahl die körperlich-sexuelle Dimension des Weges ins Innere der Frauenfigur zu ahnen. Durch den Hinweis auf das Panorama von Stadt und Alpenkamm, das die Sicht aus der Figur eröffnet, werden ganz unmittelbar die Landespersonifikation, die Landeshauptstadt und das Staatsterritorium zu einer symbolischen Trias zusammengeführt.30 Auch die beiden Illustrationen, die von der Textbeschreibung eingefasst werden und sich auf einer Doppelseite des Buches gegenüberstehen, stellen ein symbiotisches Verhältnis zwischen der Figur und den Personen, die sich in ihr Inneres aufgemacht haben, her (Abb. 17). Die motivisch auf Anhieb nicht ganz verständlichen, mit einem jeweils an den Rändern unregelmäßig verzogenen Ovalformat versehenen Darstellungen zeigen den Kopfraum der Bavaria in Bild und Gegenbild. Das eine Mal richtet sich der Blick mit zwei Besucherinnen im Vordergrund auf das konkav ausgebeulte Gesicht der Figur und das andere Mal mit einem Mann im Hintergrund auf den Hinterkopf mit dem Ausguckloch unter dem hochgesteckten Haarzopf der Figur. Zu Seiten eines Mittelgangs sind zwei Eisenbänke parallel gestellt, die mit fransenbesetzen Kissen bestückt sind und dem Raum den Anf lug der Gemütlichkeit eines Wohninterieurs geben. Auf dem Bild links hat sich eine Besucherin bereits auf der Bank niedergelassen und erwartet ihre Begleiterin, die gerade die Treppe im Hals der Bavaria-Figur hochsteigt. Analog zu ihrer Rückenfigur erscheint auf dem zweiten Bild die Frontalfigur eines Mannes im Dunkel des Treppenschachts. Das Mobiliar und die Kleidung der beiden 29 Lesbazeilles: Les Colosses, S. 266: „Durant cette ascension, on se croiait dans une cheminée. Arrivé en haut, on est éclairé par une petite fenêtre percée derrière la tête. La cavité du nez forme une cellule assez grande pour qu’on puisse s’y asseoir à l’aise.“ 30  A.a.O., S. 280: „Quand on a monté dans l’escalier de quarante-huit marches qui conduit au piédestail en granit poli de la Bavaria, on pénêtre dans l’interieur, et un second escalier de soixante-six marches en pierre vous fait parvenir jusqu’à la hauteur du genou; de là on s’élève, à l’aide de degès en fonte, jusque dans la tête, où peuvent s’asseoir sur un banc, non pas, comme on l’a dit, vingt-cinq ou trente personnes, mais seulement cinq ou six. Des ouvertures, pratiquées à dessein, offrent une belle vue sur la ville et sur les Alpes.“

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Besucherinnen und des einzelnen Besuchers lassen keinen Zweifel daran, dass es sich um die Schilderung einer zeitgenössischen Szene handelt. Doch das Personal steht in befremdlichem Gegensatz zur räumlichen Umgebung, die wegen des Dämmerlichts und der kreisend geführten Scharffuren eher an das Innere einer Höhle erinnert. In diesem scheinbaren Naturraum zeichnet sich das Gesicht der Bavaria in schemenhaft zurücktretenden, maskenhaft erstarrten Zügen ab, denen, nicht zuletzt durch die leichten Verzerrungen der Gesichtssymmetrie, ein ernst entrückter, vielleicht auch mürrischer Ausdruck zukommt. Beide Bilder ergänzen sich schließlich in den Aktionen, die die Besucher im Inneren der Figur entfalten. Während der Mann in der Pose des Bergsteigers dargestellt wird und im Begriff ist, den Raum zu erobern, ist den Frauen die Rolle der Kontemplation zugeteilt. Dies wird vor allem durch die Einführung der Rückenfigur, die sich als Bildmotiv in der Landschafts- und der Interieurmalerei fest etabliert hatte31, bestätigt. Der Darstellungskonvention gemäß dient die Rückenfigur als Identifikationsgestalt für den Bildbetrachter, der seine eigene Imagination auf die Bildfigur projizieren kann. Im Falle des Bavaria-Bildes richtet sie sich indes weniger auf den Blick nach draußen, sondern bleibt auf den einschüchternden, im Negativabdruck gegebenen Gesichtsabdruck der Landespersonifikation bezogen. Einen ganz anderen, insgesamt weitaus harmloseren Eindruck vom Inneren der Bavaria vermittelt ein um 1900 entstandenes Aquarell des Münchner Malers G. Graf, das auch als Radierung Verbreitung fand (Abb. 18). Der Kopf der Statue ist im Schnitt freigelegt, und es eröffnet sich der Blick auf ein reges Kommen und Gehen der Besucherinnen und Besucher. Das Bild dokumentiert den Aufstieg in der Bavaria-Statue als Teil des städtischen Besuchsprogramms und als touristisches Vergnügen.32

Partizipation und Denkmal Die Konzeption einer Statue, die sich den Betrachter einverleibt, beruht auf dem Misstrauen gegenüber einer Bedeutungsmitteilung durch bloße Betrachtung, an deren Stelle sie die Begehung verlangt. Darin kommt eine fundamentale Aporie im Hinblick auf Aussagegehalt, Verständnismöglichkeit und Rezeptionsweise öf31 Hierzu Regine Prange: Sinnoffenheit und Sinnverneinung als metapicturale Prinzipien. Zur Historizität bildlicher Selbstreferenz am Beispiel der Rückenfigur, in: Verena Krieger und Rachel Mader (Hg.): Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln 2010, S. 125-167. 32 Das Blatt befindet sich im Stadtmuseum München, Graphikabteilung, abgelegt unter den „Monacensia“. Ebendort wird auch ein Ausriss verwahrt, der nicht näher bezeichnet ist; es handelt sich hier um eine Seite aus einem bislang nicht identifizierten deutschen Allgemeinlexikon aus dem späten 19. Jahrhundert mit dem Artikel „Bavaria“, in dem die abgebildete Illustration mit den beiden Frauen aus Lesbazeilles übernommen ist.

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fentlicher Statuarik spätestens seit der Französischen Revolution zum Ausdruck. Diese Aporie erwies sich für die historistische Verdichtung der Denkmalkultur im 19. und 20. Jahrhundert als eine beträchtliche Hypothek. Sie besteht im Kern einerseits in der unhintergehbaren Forderung nach Partizipation und andererseits in der Abstraktheit der modernen Inhalte. Partizipation sollte schon im Entstehungsprozess der Monumente eingelöst werden, indem man die öffentliche Konsensbildung bei Planung und Errichtung durch die Einbeziehung von Denkmalvereinen gezielt gefördert hat. Durch publizistische Vermittlung sollte den Denkmalprogrammen zur Akzeptanz verholfen werden. Partizipation sollte aber auch als rituelle Handlung mit dem Denkmal selbst vollzogen werden. Im späteren 19. Jahrhundert wurde der Besuch eines Denkmals zudem in die Alltagspraxis von Erholung und Tourismus integriert. Gleichzeitig mit den Denkmälern entstanden – so etwa am Hermannschlachtdenkmal in Detmold oder dem Kyff häuserdenkmal (Abb. 19) – Gastwirtschaften und Verkaufskioske. Vieles spricht dafür, dass gerade die riesigen Nationaldenkmäler von Anfang an als solche Ausf lugsziele konzipiert waren, bei denen sich der Genuss des Spaziergangs in einer meist spektakulären Landschaft und der Einkehr in den Biergarten mit dem im Idealfall durch das Denkmal vermittelten Bildungserlebnis verbinden sollten. Beim begehbaren Denkmal wird der Betrachter nicht nur ins Monument selbst integriert, sondern auch in diese touristische Erlebniskultur.33 Bei der Begehung des Denkmals wird eine Erfahrung ermöglicht, die sich durch ihre sowohl individuellen als auch kollektiven sowie durch ihre sowohl rationalen als auch emotionalen Qualitäten auszeichnet und die einen hohen lebensgeschichtlichen Erinnerungswert besitzt. Das Erlebnis eines Denkmalbesuchs geht somit über die Erkenntnis der am Ort vermittelten historischen Einsichten hinaus. Ebenso sind generalisierte Wissensinhalte und die damit verbundenen ritualisierte Vermittlungsformen für eine subjektive Aneignung zugänglich gemacht.34 33 Diese Zusammenhänge sind, soweit ich sehe, bislang nicht systematisch untersucht; vgl. die methodische Skizze von Manfred Hettling: Das Denkmal als Fetisch – Rütli und Tell, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), S. 46-55; zum Zusammenhang von Denkmal und Fest Wolfgang Hardtwig: Nationsbildung und politische Mentalität. Fest und Denkmal im Kaiserreich, in: Ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 264-301; beispielhaft für den Zusammenhang von Denkmal und landschaftlichem Erlebnisraum Jörg Traeger: Der Weg nach Walhalla. Denkmallandschaft und Bildungsreise im 19. Jahrhundert, Regensburg 1987; zu weiteren Einzelbeobachtungen vgl. auch die in der folgenden Anm. genannte Literatur. 34 Zum Erlebnis als Modus der Aneignung von Geschichte neben Hettling: Das Denkmal als Fetisch, S. 48-50 auch weitere Studien von Manfred Hettling: Erlebnisraum und Ritual. Die Geschichte des 18. März 1848 im Jahrhundert bis 1948, in: Historische Anthropologie 5 (1997), S. 417-434; Ders.: Das Unbehagen in der Erkenntnis. Max Weber und das „Erlebnis“, in: Simmel-Newsletter 7 (1997), Nr. 1, S. 49-65.

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Dieses Erlebnisangebot steht darüber hinaus im Dienst, fundamentale Aporien im Hinblick auf die politisch-ideologischen Mitteilungen der Denkmäler zu kompensieren. Denn die Französische Revolution hatte nicht nur ein mediales, sondern auch ein inhaltliches Problem aufgeworfen. Es bestand darin, wie die komplexen und unanschaulichen neuen Inhalte einer Repräsentationskultur zur Mitteilung kommen sollten, in der sich die Nation als eine durch einheitliche Sprache und Geschichte, durch Verfassung und gemeinsame politische Überzeugungen konstituierte Imaginationsgemeinschaft, also als „gedachte Ordnung“, darstellen könnte.35 Wenn Jacob Burckhardt in einem Vortrag des Jahres 1887 die Nationalpersonifikation bereits zum „heutigen Bestand der Allegorie“ zählen konnte und feststellt, „vor allem lassen sich Völker und Reiche ihre Personifikationen in möglichst großartigen, äußerlich oft kolossalen Gestalten nicht nehmen“36, so deuten sich in dieser Aussage die kompetitiven Bedingungen an, unter denen sich die nationale Programmatik in der Denkmalkultur des späten 19. Jahrhunderts durchsetzte. Wenn sich Nationalpersonifikationen vergleichsweise zügig innerhalb Europas und in den von dort beeinf lussten, europäisierten Weltteilen einbürgerten, so ist zu bedenken, dass es sich bei der Nation um einen Programminhalt am Rande des Darstellbaren handelte. Im Gegenzug war ein auf der Nation begründetes Staatsverständnis in eminenter Weise auf Visualisierung angewiesen. Auf inhaltlicher Ebene stellte sich die Frage, wie sich die Nation als souveränes Handlungssubjekt des geschichtlichen Fortschrittsprozesses in der Denkmalkultur manifestieren könnte.37 Dabei wurden die Antworten bisweilen in hypertrophen Allegorien gesucht und nicht gefunden.Dies zeigt sich an den riesenhaften Denkmalapparaten, die seit den 1880er Jahren in nahezu sämtlichen europäischen Hauptstädten entstanden und mit ihrem vielgliedrigen Programmangebot kaum mehr rezipierbar waren.38 Bei den Monumentalpersonifikationen tritt an die Stelle komplexer Symbolisierungen eine Programmatik der Vereinfachung. Auf medialer Ebene wurde der Grundgedanke politischer Partizipation des Citoyen durch die Interaktion mit dem Denkmal eingelöst. Den Künstlern und Initiatoren der Denkmäler des 19. Jahrhunderts war es auferlegt, dieses Vermächtnis der Französischen Revolution für ihre eigene Zeit produktiv zu wandeln. Die persuasive Wucht der Monumente 35 Zum Begriff der Nation unter Bezugnahme auf entsprechende konstruktivistische Ansätze zusammenfassend Wehler: Nationalismus, bes. S. 7-13. 36 Jacob Burckhardt: Die Allegorie in den Künsten (1887), in: Ders.: Die Kunst der Beschreibung. Aufsätze und Vorträge, hg. von Henning Ritter, Köln 21997, S. 240-261, hier S. 241. 37 Zur Staatspersonifikation Franz J. Bauer: Gehalt und Gestalt in der Monumentalsymbolik. Zur Ikonologie des Nationalstaats in Deutschland und Italien 1860-1914, München 1992; Sigrid Schade, Monika Wagner und Sigrid Weigel (Hg.): Allegorie und Geschlechterdifferenz, Köln u.a. 1994; Angela Stercken: Enthüllung der Helvetia. Die Sprache der Staatspersonifikation im 19. Jahrhundert, Berlin 1998; Warner: Maidens and Monuments.

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sollte durch die schiere Steigerung der Dimensionen, die sich durch das Wettrennen bei der Denkmalkonkurrenz Bahn brach, regelrecht erzwungen werden (Abb. 20). Gleichzeitig wurden die partizipativen Elemente der Begehung und der Einverleibung im Umgang mit den Denkmälern übernommen und weiterentwickelt, die ihrerseits die Glaubwürdigkeit der ideologischen Mitteilungen untermauern sollten. Die begehbaren Kolossalplastiken fügen sich in einen breiteren Trend von Vereinnahmungsmechanismen in der Architektur und der Kunst des 19. Jahrhunderts ein. Die Hinweise auf die architektonisch gestalteten Denkmäler wie die zahlreichen Bismarck-Türme oder auf die Neuerfindung der Bildform des Historienpanoramas mögen genügen. Gleichwohl scheint eine für sich genommen unverzichtbare ideologiekritische Betrachtung der Denkmalkultur des 19. Jahrhunderts in Pionierstudien oftmals die medialen Interaktionsformen zwischen Objekt und Betrachter übersehen zu haben und sie verkennt damit auch die historischen Kontinuitäten – und dies sowohl zurück in die Ära der Französischen Revolution als auch nach vorne in die Moderne. Denn die Auf hebung der ästhetisch-funktionalen Grenzen des Sockels und die Begehbarkeit von Denkmälern erweist sich für die Denkmalkultur seit der Moderne als ein Grundanliegen. Seit der klassischen Moderne reicht der Bogen von Walter Gropius’ Denkmal für die Märzgefallenen von 1920 in Weimar bis zu Peter Eisenmans Holocaust-Mahnmal in Berlin.39 In der Gegenwart konnte ihm sogar mit dem modernen Denkmal-Drive-In40 zur Durchsetzung verholfen werden (Abb. 21).

38 Zu der bereits in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts sich anbahnenden Krise der Allegorie vgl. Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993; Werner Telesko: Napoleon Bonaparte. Der „moderne Held“ und die bildende Kunst 1799-1815, Wien 1998, S. 52-53, 103-105; Andreas Köstler: Place Royale. Metamorphosen einer kritischen Form des Absolutismus, München 2003, S. 199-222; Thomas Kirchner: Der epische Held. Historienmalerei und Kunstpolitik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, München 2001. 39 Dietrich Schubert: Das Denkmal für die Märzgefallenen 1920 von Walter Gropius und seine Stellung in der Geschichte des neueren Denkmals, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 21 (1976), S. 199-230; Felix Reuße: Das Denkmal an der Grenze seiner Sprachfähigkeit (Sprache und Geschichte 23), Stuttgart 1995, bes. 159-188; aus der mittlerweile umfangreichen Literatur über das Holocaust-Mahnmal sei nur verwiesen auf die Studie von Karen E. Till: The New Berlin. Memory, Politics, Place, Minneapolis 2005. 40 Zum Monument in Baghdad vgl. Samir Al-Khalil: The Monument. Art, Vulgarity and Responsibility in Iraq, Berkeley 1991.

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Abb. 1 Reinhold Begas: Kaiser Wilhelm-Nationaldenkmal. Fertiggestellt 1897, abgetragen 1950.

Abb. 3 Johannes Milla und Partner: Projekt eines Nationaldenkmals für Freiheit und Einheit, 2010.

Abb. 2 Sockel des ehemaligen Kaiser Wilhelm-Nationaldenkmals an der Berliner Schlossfreiheit.

Abb. 4 Place Royale / Place de la Concorde mit dem Postament der Reiterstatue Ludwigs XVI.

Abb. 6 Ephemeres Denkmal zur Jour de l’Etre suprême, 1793. Abb. 5 Prytaneum, Illustration aus: Armand-Guy Kersaint, Discours sur les monuments publics, 1791/92.

Abb. 7 Ephemerer Triumphbogen an den Champs Elysées, um 1800.

Abb. 8 Fontaine de la Régéneration zum Jahrestag der Erstürmung der Bastille 1793.

Abb. 9 Leo von Klenze: Entwurf für ein Denkmal zum Befreiungskrieg, 1813.

Abb. 10 Ernst Rietschel: Modell für das Lutherdenkmal in Worms, 1856.

Abb. 11 Ernst Rietschel: Lutherdenkmal in Worms. Vollendet 1868.

Abb. 12 Johann Heinrich Strack: Siegessäule in Berlin. Vollendet 1873.

Abb. 13 Statue des San Carlo Borromeo in Arona.

Abb. 14 Fréderic-Auguste Bartholdy: Freiheitsstatue in New York. Vollendet 1886. Abb. 15 Ansicht vom Inneren des Kopfes der New Yorker Freiheitsstatue.

Abb. 16 Ludwig von Schwanthaler und Leo von Klenze: Statue der Bavaria mit Ruhmeshalle in München. Bavaria-Statue 1846-1850.

Abb. 17 Blick in den Kopf der Bavaria. Illustrationen aus: Eugène Lesbazeilles, Les Colosses anciens et modernes, 1881.

Abb. 18 Im Inneren der Bavaria. Radierung nach einem Aquarell von D. Graf, um 1900.

Abb. 19 Bruno Schmitz: Kyffhäuser-Denkmal, vollendet 1896. Postkarte mit Ansicht der Gastwirtschaf t.

Abb. 20 Postkarte um 1900.

Abb. 21 Saddam Hussein, Khalil al-Rahal, Mohammad Ghani: Triumphbogen in Bagdad, errichtet nach dem Krieg zwischen Irak und Iran 1989.

Zur Architekturikonologie des Eiffelturms Das Gestell, das Kolossale und der Chronotopos

Es ist schwierig, den Eiffelturm zu verstehen, weil er uns methodisch überfordert. Das ist, wie es Hans Blumenberg gelegentlich für die Technikphilosophie festgestellt hat, bei einem ingenieurtechnischen Artefakt, wie es auch der Eiffelturm ist, nicht unbedingt zu erwarten. Zwar bekämen wir Bäume, so Blumenberg, in ihrer „unerschöpf lichen theoretischen Dimension“ methodisch nicht in den Griff, hingegen sei das Verständnis bei einem „technischen Ding“, dessen „Existenz auf Konstruktion beruht [...] im Hinblick auf die prinzipielle Einsehbarkeit seines Konstruktionsplanes problemfrei.“ 1 So sind technische Artefakte immerhin verständlich, indem man den technischen Bauplan und die technologischen Entstehungskontexte rekapituliert. Ein Nachvollzug solcher Gegebenheiten ist auch beim Eiffelturm ohne größere Schwierigkeiten möglich. Doch obwohl er ganz zweifelsohne ein, zwar riesiges, aber doch technisches Artefakt ist, bleiben erhebliche Reste des Unverstandenen, und das gilt für das ästhetisch-sinnliche wie für das erkennend-begriff liche Verstehen. Dies hat mehrere Gründe. Man sieht, wenn man sich im Pariser Stadtraum auf hält, den Eiffelturm immer in Veränderung, je nach Nähe und Ferne oder je nach den Lichtverhältnissen bei Tag oder Nacht und je nach den Farbilluminationen der Wetterverhältnisse (Abb. 1). Hinzu kommt, dass sich einerseits die längst zum Sinnbild gewordene große, einprägsame einfache Form und andererseits das gleichzeitig transparente wie auch undurchschaubare Gestrüpp der Einzelformen, das wir, wenn wir ehrlich sind, eigentlich immer übersehen, wie bei keinem anderen Bauwerk unvermittelt, ja sogar unversöhnt gegenüberstehen (Abb. 1-2). Übermächtig erscheint darüber hinaus die visuelle Ubiquität das Eiffelturms in Werbung und Tourismus, in Filmen und Liedern, in den bildenden Künsten und natürlich nicht zuletzt in der Rolle des Turms als Chiffre in der politischen Ikonographie der Gegenwart (Abb. 3). Sie macht eine Indifferenz bei der Vergewisserung des tatsächlich in der Betrachtung Gesehenen fast unausweichlich. Daraus resultiert, dass wir es beim Eiffelturm gerade aufgrund seiner visuellen Allgegenwart mit einem, wie es Ro1 Hans Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung (1963), in: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 7-54, hier S. 10.

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land Barthes sagt, „reinen – fast leeren – Zeichen“2 zu tun haben. Diese Leere gilt keineswegs nur für die semiotische Implosion in der heutigen alltäglichen Wahrnehmung, sondern bis zu einem gewissen Grad auch für die Wissenschaft. Weltausstellungen sind zwar seit etwa dreißig Jahren ein Boomthema in verschiedenen Disziplinen, und so wurde sozusagen ein Eiffelturm eigener Art errichtet, nämlich als Auftürmung von Publikationen, die in kaum mehr überschaubarer Anzahl zu den Weltausstellungen seit 1851 und zur berühmten 1889er Weltausstellung in Paris vorgelegt wurden.3 Die Gründe für diese Forschungskonjunktur liegen auf der Hand. Weltausstellungen sind exemplarische Anwendungsgegenstände für die aktuellen Forschungsparadigmen des Medialen, der Populärkulturen, des Performativen und der Globalisierung. All diese Themen wurden in den vergangenen Jahren in der historischen Forschung zum 19. Jahrhundert in, teils grandiosen, intellektuellen Synthesen gebündelt.4 Doch wurde der Eiffelturm als Symbol der Weltausstellungen und des ausgehenden 19. Jahrhunderts von dieser Forschungswelle bei weitem nicht in dem Umfang erfasst, wie man es vielleicht erwarten könnte. In neueren Studien, die sich dem Eiffelturm widmen oder ihn einbeziehen, hat sich selbstverständlich die Deutung von Roland Barthes herumgesprochen, die dieser in seinem Essay von 1964 formuliert hatte.5 Dort lautet die zentrale Überlegung: „Jedes andere Monument, Kirche oder Palast, verwies auf einen bestimmten Gebrauch, nur der (Eiffel-)Turm war nichts als ein Gegenstand zur Besichtigung. Gerade seine Leere bestimmte ihn zum Symbol, und die erste Symbolbedeutung, die er durch eine logische Assoziationen erwecken musste, konnte nur das sein, was gleichzeitig wie er selbst besichtigt wurde, nämlich Paris: der 2 Roland Barthes: Der Eiffelturm, München 1970, S. 27; zitiert wird im Folgenden nach der deutschen Übersetzung und dem französischen Original: Roland Barthes: La Tour Eiffel (1964), Paris 2011, hier S. 31. 3 Hierzu das Diagramm im Forschungsbericht von Alexander C.T. Geppert: Welttheater: Die Geschichte des europäischen Ausstellungswesens im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, in: Neue politische Literatur 47 (2002), S. 10-61, hier S. 17. 4 Genannt seien hier neben dem älteren dreibändigen Standardwerk von Eric J. Hobsbawn: The Age of Revolution 1789-1848, London 1962; The Age of Capital 1848-1875, London 1975; The Age of Empire 1845-1914, London 1987 nur die neueren Studien von Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (2009), München 22017 und Johannes Paulmann: Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850-1914, München 2019. 5 Bezugnahmen u.a. bei Geppert: Welttheater, Anm. 64. Karlheinz Stierle: Imaginäre Räume. Eisenarchitektur in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Helmut Pfeiffer, Hans Robert Jauß und Françoise Gaillard (Hg.): Art social und art industriel. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus, München 1987, S. 281-308, hier S. 307. Markus Dauss: Identitätsarchitekturen. Öffentliche Bauten des Historismus in Paris und Berlin (1871-1918), Dresden 2007, S. 246.

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Eiffelturm ist durch Metonymie Paris geworden.“6 Der Turm sei eine „unendliche Chiffre“ („chiffre infini“).7 Er gilt Barthes als ein „totales Denkmal“ einerseits, weil er „ein ganz und gar nutzloses Monument“ außerhalb jeder Vernunft sei.8 Andererseits ziehe der Turm Bedeutungen an „wie ein Blitzableiter“9, es kommt zu einer – wie man dies theoretisch umschreiben müsste – Überkodierung des Symbols: „Ce signe pur – vide, presque – qu’il est impossible de le fuir, parce qu’il veut rien dire.“10 Das „beinahe leere Zeichen“ wurde laut Barthes zu einer Projektionsf läche für letzthin mythische Bilder, für den „Aufstieg“ oder die „Himmelfahrt“ („l’ascension“), für die „Idee der Höhe an sich“ („l’idée de la hauteur en soi“), für die „Imagination des Luftigen und des Leichten“ („l’imagination de l’aérien [...] et de la légèreté“).11 Der Deutung von Barthes treten neuere Untersuchungen an die Seite, in denen gezeigt wird, wie der Eiffelturm, befördert durch seine Rezeption in Literatur, Bildender Kunst und Film12, zu einer Chiffre für das touristische Paris geworden ist13 und es dadurch auch zu einem französischen „lieu de mémoire“ gebracht hat.14 Vergegenwärtigt man sich die symbolischen Zuschreibungen, mit denen der Eiffelturm bedacht wurde, so fällt auf, dass sie ebenso vielfältig wie paradox sind – das Leere steht der Überkodierung gegenüber, das Mythische den Verwertungstechniken des touristischen Kommerzes. All diese Differenzen und Indifferenzen machen es nicht leichter, zum historischen Ausgangspunkt der Entstehung des Eiffelturms zurückzufinden. Sie machen es, um die Terminologie von Barthes zu variieren, nicht einfacher, vom uneigentlichen Sprechen der Metonymie wieder 6 Barthes: Eiffelturm, S. 77; Barthes: La Tour Eiffel, S. 31: „Tout autre monument, église ou palais, renvoyait à un certain usage; seule la Tour n’était rien d’autre qu’un objet de visite; son vide même la désignait au symbole et le premier symbole qu’elle devait susciter, par une association logique, ne pouvait êtreque ce qui était ‚visité’ en même temps qu’elle, à savoir: La Tour est devenue Paris par métonymie.“ 7 Barthes: La Tour Eiffel, S. 27; Barthes: Eiffelturm, S. 10. 8 Barthes: Eiffelturm, S. 28; Barthes: La Tour Eiffel; S. 11: „La Tour échappe à la raison; un monument pleinement inutile.“ 9 Barthes: Eiffelturm, S. 82. 10 Barthes: La Tour Eiffel, S. 11. 11 Barthes: Eiffelturm, S. 78; Barthes: La Tour Eiffel, S. 32-33. 12 Vera Kowitz: La Tour Eiffel. Ein Bauwerk als Symbol und als Motiv in Literatur und Kunst. Essen 1989. 13 Hierzu umfassend das dreibändige Werk zur Nationalsymbolik von Maurice Agulhon, hier bes. Bd 2: Marianne au pouvoir: l’imagerie et la symbolique républicaine de 1880 à 1914, Paris 1989. 14 Henri Loyrette: La Tour Eiffel, in: Pierre Nora (Hg.): Lieux de mémoire. Bd. 3,3: Les France, Paris 1992.

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zur historischen Sprache und zum gemeinten Wort des Objekts zurückzukehren. Dies aber ist das Anliegen des vorliegenden Beitrags. Dabei hat man selbstverständlich vom doppelten Kontext der Weltausstellung von 1889 auszugehen, die sowohl als Modernitätsschau für das Jahr 1889 als auch als Zentenarfeier der Französischen Revolution von 1789 abgehalten wurde. Der Eiffelturm war nicht nur ein im Bebauungsplan des Weltausstellungsgeländes sozusagen fest verankertes Monument, sondern im Kontext des Jubiläums auch ein Denkmal der Dritten Republik. Diese bisher schon breit untersuchten Zusammenhänge werden zunächst kommentiert, bevor dann thesenhaft einige bisher, soweit ich sehe, nicht angesprochene ästhetische Deutungsperspektiven eröffnet werden sollen. Sie werden anhand der Begriffe des Kolossalen, des Gestells und des Chronotopos entwickelt. Methodisch sollen dabei architektur- und kunsthistorische Aspekte kombiniert werden, das heißt, dass architekturgeschichtliche, weithin spezialisierte, primär auf bauliche Gestaltung und bautypologische Funktionen abzielende Deutungsansätze mit kunsthistorischen Zugangsweisen, die auch bildliche Kontexte und Verfahren der Bilddeutung mit einbeziehen, zu verknüpfen sind.

Bauliche Funktionen, Weltausstellung und Revolutionsjubiläum Mit dem Beginn des Aushubs der Fundamente Ende Januar 1887 und dem Beginn der Montage im Juli des Jahres wurde der Eiffelturm innerhalb von knapp zwei Jahren in Windeseile errichtet und am 15. Mai 1889 eingeweiht.15 Der Entwurf entstand als Teamwork im Ingenieurbüro von Gustave Eiffel, wobei der Bürochef selbst die maßgeblichen, im Büro tätigen Ideengeber mit eindrucksvoller Integrität der Öffentlichkeit vorstellte. Im Kontext der Weltausstellung erfüllte der Turm mehrfache Primärfunktionen. Sie umfassen 1. die urbanistische Funktion eines Eingangstores zum Champ-de-Mars von Westen, 2. einer Landmarke für die Weltausstellung von 1889, 3. eines Turmes für die Beleuchtung des damaligen Weltausstellungsgeländes und der umliegenden Stadtquartiere, 4. eines Aussichtsturms für die Metropole Paris und das nähere Umland in der Île-de-France, 5. einer wissenschaftlichen, vor allem meteorologischen Beobachtungsstation. Für all diese Primärfunktionen stellte die Architekturtradition Vorbilder bereit 15 Über den Eiffelturm existiert keine ausführliche kunsthistorische Monographie. Zur Dokumentation grundlegend sind die rückblickenden Publikationen von Gustave Eiffel: Die aus Text- und Tafelband bestehende Prachtpublikation Gustave Eiffel: La Tour de Trois Cents Mètres de Hauteur Destinée à l’Exposition de 1889, 2 Bde., Paris 1900, sowie die darauf beruhende, in handlicherem Format an ein allgemeineres Publikum adressierte Veröffentlichung von 1902: Gustave Eiffel: La Tour Eiffel en 1900, Paris 1902. Als Bestandsaufnahme maßgeblich „1889. La Tour Eiffel et l’Exposition Universelle“ (Ausstellungskatalog Paris), hg. von Caroline Mathieu, Paris 1989; zu den konstruktiven Aspekten des Turms Bertrand Lemoine: Gustave Eiffel, constructeur, Paris 1988.

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und, was ebenso wichtig ist, diese bestimmten auch einzelne formalen Entwurfsentscheidungen beim Eiffelturm mit. Überaus deutlich wird die Funktion eines Eingangstores für das damals zentrale Weltausstellungsgelände auf dem Champ-de-Mars sowohl durch den Standort als auch durch Bogendurchgänge in der unteren Zone des Turms mitgeteilt (Abb. 4). Mit seiner Positionierung ist die Tour de 300 mètres, wie das Bauwerk ursprünglich hieß, dem Champ-de-Mars am Nordwestende vorgelagert, während von Westen her das Marsfeld vom alten, zur Weltausstellung von 1878 erbauten Palais de Chaillot, das zur Weltausstellung von 1937 dem heutigen Trocadéro zu weichen hatte, über eine Seinebrücke erschlossen wird. Mit dem im Stil des Mittelalterhistorismus errichteten Palais de Chaillot im Rücken konnte die Seine beim Überqueren der seinerzeit noch recht schmalen Brücke wie ein Stadtmauergraben gewirkt haben, bis sich dann der Durchgang unter dem Turm zugleich als Eingang auf das Ausstellungsgelände öffnete. Und das geschieht mit ungeheurer Emphase mittels der Arkaden. Sie unterspannen die untere Plattform und verbinden die vier Pfeiler, die in die Achsen der vier Himmelsrichtungen gesetzt sind. Die vier Eckpfeiler sind auf quadratischem Grundriss mit Fachwerkbindern und mit gleichbleibenden Breiten bis zur Höhe der ersten Etage (in 57 m) schräg nach oben geführt (Abb. 2). Von da aus ändert sich die Konstruktion und die vier Eckpfeiler ziehen, immer noch separiert, aber gelinde schmaler werdend und mit steilerem Neigungswinkel bis in die Höhe der zweiten Etage nach oben (Höhe der zweiten Etage in 115 m). Darüber wiederum verjüngen sich die Pfeiler nicht nur progressiv mit nochmals steilerem Neigungswinkel, sondern sie vereinigen sich auch zu einer einzigen steilen Pyramidenspitze (dritte Etage in 274 m). Mit dieser Trias der Zonierung hat man auch das Grundprinzip der Formgebung des Turmes verstanden (Abb. 5): gleichbleibender Querschnitt der vier separierten Eckpfeiler unten; kleinerer und sich verjüngender Querschnitt der Eckpfeiler bei steilerem Anstieg in der Mitte; pyramidales Pfeilerbündel oben. Die Arkaden bereichern im unteren Bereich das Erscheinungsbild immens (Abb. 4). Mit der Bogenform bieten sie eine horizontal lagernde Gegenkraft zum Spannungsbogen der hochschnellenden Außenkonturen des Turms. Gegenüber den kreuzförmigen Ausfachungen der Pfeiler und der Plattformen erweitert sich das Bild um eine radial ausstrahlende Ausfächerung, wobei man in den Zwickelfüllungen durchaus noch Reminiszenzen an Maßwerkformen erkennen mag. Hinzu kommt, dass die unteren Bänder der Bögen durchgehend als exakte Halbkreise bis nach unten geführt sind. Die Bögen wären als Tragwerk, so schreibt es schon Gustave Eiffel in seinen Erläuterungen, statisch nicht notwendig gewesen16, schon gar nicht mit all dem formalen, 1937 teilweise in der Ornamentik zurückgebauten, Aufgebot, was die Torfunktion des Turmes nur nochmals unterstreicht. 16 Eiffel: La Tour Eiffel, S. 36-39.

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Türme als Landmarken von Weltausstellungen waren auch schon früher geplant gewesen. Das war der Fall in Philadelphia 1876, derjenigen Weltausstellung, die auch zum ersten Mal als ein ausgesprochen nationalpolitisches Unternehmen, nämlich als Jubiläumsfeier zum 100-jährigen Bestehen der USA, ausgerichtet wurde und somit die Idee der Zentenarfeier vorweg nahm.17 Im Übrigen standen für Landmarken Leuchttürme Pate, und gerade in Frankreich hatte die Errichtung von Leuchttürmen unter der Observanz des Zentralstaates eine weiter zurückreichende und bedeutende Tradition. Erinnert sei nur an die Phare de Cordouan, die ab 1611 in der Gironde-Mündung mit einer Höhe von fast siebzig Metern errichtet wurde und mit einem Appartement du roi im ersten sowie einer Kapelle im zweiten Obergeschoss ausgestattet worden war.18 Leuchttürme waren und sind bis heute nicht nur Lichtpunkte zur Orientierung aus der Distanz, sondern auch Beobachtungsposten in die Ferne hinaus. Beide Funktionen wurden auch für den Eiffelturm reklamiert, doch zugleich markant transformiert. Die Lichtausstrahlung in die Ferne sollte ursprünglich zur Beleuchtung des Stadtraumes nach unten umfunktioniert werden, womit aus dem ausspähenden Beobachten das Genießen des Panoramablicks geworden ist. Tatsächlich war die Idee der Stadtbeleuchtung in der Ausschreibung festgeschrieben, und sie wurde lange weiter verfolgt, bis man endlich einsah, dass man einem abstrusen Gedanken aufsaß.19 Das Ausleuchten des Stadtraums war, wie bei der gesamten Laternenbestückung in Paris, sowohl sicherheitspolitisch als auch ästhetisch motiviert (Abb. 6). Beim Eiffelturm verbinden sich beide Aspekte mit dem Panorama, wobei es auch hier um das kommerzialisierte Schauen ging. Das Ganze des inneren Stadtraums sollte auch bei Nacht zu sehen sein und Rendite erbringen. Panoramakarten informierten über die Sehenswürdigkeiten (Abb. 7). Die Panoramaidee ist beim Eiffelturm einerseits naheliegend, andererseits doch auch dramatisch aktualisiert. Naheliegend deshalb, weil das Panorama als ein kommerzialisiertes, populäres Bildmedium längst Furore gemacht hatte.20 Mit Panoramen wurden auch Weltausstellungen bestückt, so die erste Weltaus17 Zusammenfassend zur Weltausstellung in Philadelphia Alfred Heller: World’s Fairs and the End of Progress. An Insider’s View, Corte Madera, CA 1999, S. 52-65. 18 René Faille: Les trois plus anciens phares de France. Cordouan, les Baleines, Chassiron. Paris 1993; Jean Guillaume: Le phare de Cordouan, merveille du monde et monument monarchique, in: Revue de l’art 8 (1970), S. 33-52; Ders.: Le triomphe de l’architecte. Louis de Foix au phare de Cordouan, in: L’architetto (2009), S. 193-197. 19 Eiffel: La Tour Eiffel, S. 111-112. 20 Zum Panorama Wolfgang Kemp: Die Revolutionierung der Medien im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Panorama, in: Monika Wagner (Hg.): Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, 2 Bde, Reinbek 1991, Bd. 1, S. 75-93. Aus allgemeinerer Perspektive Susanne von Falkenhausen: KugelbauVisionen. Kulturgeschichte einer Bauform von der Französischen Revolution bis zum Medienzeitalter, Bielefeld 2008.

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stellung in London 1851 und später diejenige in Paris 1900. Naheliegend ist die Idee auch deshalb, weil die Weltausstellung als Institution und Medium per se nicht nur der Taxonomie der Enzyklopädie folgt, in der das Wissen der Welt wie die Parataxe des Alphabets im Wörterbuch gleichsam in der Fläche ausgebreitet wird, Weltausstellungen gehorchen darüber hinaus der medialen Anordnung des Panoramas – das Ganze der Welt auf einen Blick. Beim Eiffelturm kommt jedoch hinzu, dass ein Stadtraum in die Bildwürdigkeit des touristischen Blicks21 erhoben wurde, der gerade erst durch die Selbstverwandlung der Stadt im Abbruchtrauma und in der Neubaueuphorie der Haussmannisierung hindurch gegangen war. Wurde üblicherweise im Zuge der Stadtmodernisierung erst die Altstadt als Begriff und als nostalgisch-homogenes Bild erfunden22, wie etwa im Wien der Ringstraßenzeit, so war bekanntlich durch die Haussmannisierung das Vieux Paris völlig ausgelöscht worden. Von Charles Baudelaire war es in Gedichten besungen und von Charles Marville als untergegangener Kontinent fotografisch dokumentiert worden. Der Blick vom Eiffelturm war aber gerade nicht mehr die ohnedies nicht mehr mögliche Draufsicht auf das Phantom der Altstadt, sondern auf die Stadt der damaligen Moderne, die hier als bildwürdig deklariert wird. Hier kommt ein Mechanismus zum Tragen, den man als invertierte Modernisierung bezeichnen kann. Denn bei dem, was nun als moderne Metropole zu sehen war, handelte es sich um die faktisch musealisierte Schauseite einer gigantischen infrastrukturellen Unterwelt. Darin besteht die Inversion oder das Janusgesicht der Stadtmodernisierungen des späteren 19. Jahrhunderts: Während die Stadt unterirdisch und weitgehend unsichtbar modernisiert wurde, wird sie oberirdisch und sichtbar zugleich als Dienstleistungsstadt ästhetisiert.23 Für diese Dialektik wurde sogar eine eigene Bildform des Geländeschnitts erfunden, die sich etwa in den Promenades de Paris von Adolphe Alphand dokumentiert (Abb. 8). Alphand war unter Baron Haussmann für die Parks und für die Stadtbegrünung zuständig gewesen und fungierte danach für die Weltausstellung von 1889 als

21 Hierzu die klassische, in mehreren Auflagen aktualisierte Studie von John Urry: The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary Societies, London 1990. 22 Gerhard Vinken: Zone Heimat. Altstadt im modernen Städtebau, München/Berlin 2010; Ders. und Carmen Enns (Hg.): Produkt Altstadt. Historische Stadtzentren in Städtebau und Denkmalpflege, Bielefeld 2016. 23 Zur zusammenfassenden Schilderung dieser Prozesse Dietrich Erben: Demonstrative Architektur. Ladenpassage, Warenhaus und Konsumkultur, in: „World of Malls. Architekturen des Konsums“ (Ausstellungskatalog München), hg. von Vera Simone Bader und Andres Lepik, Berlin 2016, S. 24-35; Ders.: Architektur und Infrastruktur – eine Skizze, in: arch+ 239, 2020 (Themenheft „Europa – Infrastrukturen der Externalisierung“), S. 70-79.

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Ausstellungskommissar.24 Während der Stadtraum für die Promenades – so lautet ja der programmatische Titel von Alphands Buch – von überkommenem Baubestand und alten Verkehrswegen freigeräumt wurde, spielt sich die notwendige Versorgung unter der Oberf läche der Straßen und Häuser ab. Nun erst konnte eine neue Spezies des Stadtbenutzers als Promeneur, Flaneur oder Spaziergänger auf der Bildf läche erscheinen. Diese Mechanik einer Kippfigur von Oben und Unten machten sich auch die Gegner des Eiffelturm-Projekts als Argument zu Eigen. Als sie ihren berühmten, sowohl gegen Alphand als auch gegen Eiffel gerichteten Lettre de protestation Mitte Februar 1887 und damit wenige Tage nach Baubeginn in der Presse lancierten, war ihr zentrales Argument, der Turm mache die „magnifiques promenades“ der Stadt zunichte.25 Mit dem Panoramablick vom Eiffelturm sollten in- und ausländische Weltausstellungsbesucher zu Promeneurs umformatiert und auf den renditeträchtigen Spaziergang in Paris eingeschworen werden, mit all den obligatorischen Hotelübernachtungen, Restaurantbesuchen und Einkäufen in den eben erst entstehenden Warenhäusern. Der Eiffelturm fungiert in der Dienstleistungs- und Gewerbestadt des Liberalismus, die als haussmannisiertes Paris geboren wurde, als ein – wie wir heute sagen würden – Superzeichen des Standortvorteils. Als hätte es noch eines Beweises bedurft, wird die Doppelgesichtigkeit der Modernisierung auch in Paris unmittelbar auf der Weltausstellung zur Sprache gebracht, indem das Vieux Paris als nostalgische Architekturkulisse in dem Ausstellungsabschnitt auf der künstlichen Seine-Insel restituiert wird. Wir begegnen bereits hier der besonderen raum-zeitlichen Konstellation eines Chronotopos, als der sich auch der Eiffelturm selbst lesen lässt. Der modernisierte Stadtraum von Paris war das Werk von Verwaltungsbeamten und Ingenieuren. Letztere sowie die Equipe von Naturwissenschaftlern und Technikern sollten auch in den Forschungs- und Beobachtungseinrichtungen im Eiffelturm zum Zuge kommen. Gustave Eiffel selbst hat unverhohlen ein zusätzliches militärstrategisches Argument in Anschlag gebracht, indem er behauptete, mit einem entsprechenden Aussichtsposten wie die Tour de 300 mètres wäre der Anmarsch der deutschen Truppen im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 früher ausgespäht und damit die Einnahme der Kapitale zu verhindern gewesen.26 Eine wissenschaftliche Nutzung des Turmes war, das ist als letzter Nutzungsas24 Adolphe Alphand: Les Promenades de Paris. Histoire – description des embellissements – dépenses de création et d’entretien, 2 Bde., Paris 1867-1873. Vgl. auch die offizielle Bilanz zur Weltausstellung von Adolphe Alphand: Exposition universelle de 1889 à Paris. Monographie. Palais – jardins – constructions diverses – installations générals, 2 Bde., Paris 1892-1895. 25 Zum Protestaufruf, der am 14.2.1887 in der Zeitung Le Temps erschien, mit Abdruck des Textes auch Eiffel: La Tour Eiffel, S. 10-11. 26 Eiffel: La Tour de 300 métres, S. 10.

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pekt zu nennen, von Anfang an vorgesehen. Schon 1889 erfolgte die Einrichtung dreier Laboratorien für Astronomie, Meteorologie und Biologie; erwünscht war darüber hinaus sogar die Unterbringung eines hohlen Zylinderraums, der für physikalische Experimente des freien Falls dienen sollte.27 Gustave Eiffel hat in seinen Eiffeltum-Monographien die wissenschaftlichen Experimente im Turm ausführlich dargelegt und stolz bilanziert.28 Ähnlich, wie dies auch für die Typologie des Leuchtturms gilt, kann auch beim Observatorium auf eine illustre Architekturtradition unter staatlicher Förderung zurückgeblickt werden, man denke nur an das unter Ludwig XIV. von Claude Perrault geplante Observatoire in Paris selbst.29 Beim Eiffelturm trat die praktische wissenschaftliche Nutzung hingegen in dem Maß in den Hintergrund, wie sie repräsentative Gestalt gewann in der Anbringung der insgesamt 72 Namen von Gelehrten, Künstlern und Naturwissenschaftlern (Abb. 4). Diese an der ersten Plattform auf allen vier Seiten entlang laufenden Namenszüge machen den Eiffelturm zu einem Pantheon – genauer müsste man sagen: zu einer Registratur – der bürgerlichen Gelehrten- und Künstlerelite der Dritten Republik. Bereits dies verweist unverzüglich auf die Bedeutung des Eiffelturms als politisches Monument.30 Selbstverständlich war es bereits ein politisches Signal, dass die Weltausstellung als Zentenarfeier der Grande Révolution von 1789 ausgerichtet wurde. Man nahm dabei vorsätzlich die Absagen einiger europäischen Monarchien, allen voran Englands und des Kaiserreichs, in Kauf. Aber die Rendite wollte man sich dann doch nicht entgehen lassen, und so waren auch diese Länder inoffiziell durch Industriefirmen vertreten. Innenpolitisch war die Angelegenheit der Zentenarfeier nicht von allergrößter Brisanz, lebten die Weltausstellungen doch von der positivistischen Zukunftsorientierung auf den Fortschritt und weniger vom Bezug zu einer nicht notwendig näher konkretisierten Vergangenheit. Dabei wurde in den 1880er Jahren auch die Revolutionserinnerung durchaus offen gehalten. Die Liberalen rückten das Gedenken an Auf klärung und Erste Republik, die Konservativen die Erinnerung an den Starken Staat des Directoire ins Zent27 Eiffel: La Tour Eiffel, S. 150-155. Im Jahr 1898 wurde die erste Funksendung über den Eiffelturm ausgestrahlt, 1908 eine feste Funkstation eingerichtet, 1925 eine Fernsehantenne aufgerichtet. 28 Eiffel: La Tour Eiffel, S. 137-253. 29 Vgl. Michael Petzet: Claude Perrault und die Architektur des Sonnenkönigs. Der Louvre König Ludwigs XIV. und das Werk Claude Perraults, München 2000, S. 355-398. 30 Zu diesem Aspekt speziell Hubertus Kohle: Der Eiffelturm als Revolutionsdenkmal, in: Gudrun Gersmann und Ders. (Hg.): Frankreich 1871-1914. Die Dritte Republik und die Französische Revolution, Stuttgart 2002, S. 119-132. Zur Weltausstellung 1889 in Paris speziell auch Alice von Plato: Präsentierte Geschichte. Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2001; Beat Wyss: Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889, Berlin 2010.

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rum, ohne dass eine Partei das Deutungsmonopol zu beanspruchenden brauchte. Sozialpolitische und allgemein gesellschaftliche Fortschrittsthemen wurden auf der Ausstellung durch entsprechende Themenpavillons und Ausstellungssektionen vermittelt, so gab es beispielsweise Sektionen zur Geschichte der Arbeit, zur Geschichte der Kinderfürsorge sowie zur Geschichte der Hygiene im Haus und zur Stadthygiene. Leitthema im Bereich der technischen Entwicklung waren Erfindung und Nutzung der Elektrizität, gut ein Jahrzehnt, bevor die neue Energietechnologie dann bei der Weltausstellung von 1900 mit dem Palais de l’élécricité und unter anderem mit dem von Camille Saint-Saëns komponierten Festoratorium Le Feu céléste popös gefeiert wurde. Eine mediale Vermittlung konkreter politischer Botschaften bleibt beim Eiffelturm an die Narrative dieser nur in groben Strichen skizzierten Auftragssituation gebunden – oder anders gesagt: Man musste die politischen Interessenlagen im Zusammenhang der Entstehungsbedingungen kennen, um sie als mediale Botschaften dem Turm zuschreiben zu können, auch wenn sie nicht figürlich oder inschriftlich zur Visualisierung gelangen. In diesem gleichsam attribuierten Sinn ist der Eiffelturm ein Denkmal des Triumphes einer technischen Machbarkeit. Diese Idee findet darüber hinaus eine inschriftliche Personalisierung mit dem bereits angesprochenen Namenregister der Funktionselite von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, die oft genug in den öffentlichen Einrichtungen der Universitäten und der Verwaltung arbeiteten. Ein weiterer Funke des politischen Aktualitätsbezuges lässt sich aus der Denkmaltopographie innerhalb von Paris schlagen, insofern als es sich beim Eiffelturm um eine bauliche Antwort zum eben erst fertiggestellten Kirchenbau von SacréCœur handelt. Gegenüber der nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg gestifteten Sühnekirche und diesem ausgesprochen restaurativ-monarchischen, nationalpolitischen Wahrzeichen auf dem Montmartre behauptet sich der Eiffelturm auf der Rive Gauche als ein dezidiert säkulares, modernistisches Monument.31 Damit wird im Mechanismus von ‚Bau und Gegenbau’ auch eine Opposition in der politischen Topographie der Metropole markiert wird. Alles in allem kann man – nochmals mit Martin Warnke gesprochen – den Eiffelturm in seinem politischen Gehalt als ein ‚Ausgleichserzeugnis’ verstehen.32 Der Turm lässt durch seine eigene, offen kodierte Form gerade keine eindeutige parteipolitische Stellungnahme zu. Er steht sozusagen über den Parteien, und genau darin liegt die politische Mitteilung. 31 Hierzu Dauss: Identitätsarchitekturen, bes. S. 198, 245-247. 32 Zu den beiden Begriffskonzepten Martin Warnke: Bau und Gegenbau, in: Hermann Hipp und Ernst Seidl (Hg.): Architektur als politische Kultur. Philosophia practica, Berlin 1996, S. 11-18; Ders.: Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen (1976), Frankfurt/M. 1984, S. 154.

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Das Gestell, das Kolossale und der Chronotopos Wie lässt sich die hier zunächst erörterte, zugegeben recht umständlich titulierte offen kodierte Form und damit auch die von Roland Barthes konstatierte Bedeutungsleere des Turms im Horizont der zeitgenössischen Ästhetik genauer bestimmen? Wie schon eingangs angedeutet, soll dieser Frage unter den Vorzeichen dreier Begriffskonzepte nachgegangen werden, die sich allesamt für das späte 19. Jahrhundert historisieren lassen. Sie lauten: das Kolossale, das Gestell und der Chronotopos. Das Kolossale: Die gesellschaftlich-politische und die technisch-industrielle Doppelrevolution seit dem späten 18. Jahrhundert, die als solche, das heißt gerade aus den wechselseitigen Bedingtheiten dieser beiden Sektoren von Gesellschaft und Technologie verstanden werden muss, hat ganz unzweifelhaft auch einen Sprung in der Maßstäblichkeit von Architektur zur Folge gehabt. Die Dimensionensteigerung zeigt sich schon zur ersten Stunde nach dem Ende des Ancien Régime in der Bauentwurfslehre von Jean-Nicolas-Louis Durand.33 Diese entstand an der École polytechnique und sie ist auch inhaltlich ein eminent detailscharfer Spiegel der nachrevolutionären napoleonischen Ära mit ihren technokratischen und bürokratischen Reformbestrebungen. Im Précis des leçons d’architecture données à l’École Polytechnique (1802-1805) entspricht schon das riesenhafte Format der publizierten Tafelbände den oft immensen Ausmessungen der Großbauten. Es geht um Verwaltungsgebäude und Bildungseinrichtungen, Kasernen und Gefängnisse, Markthallen und Börsen, Krankenhäuser und Fabriken. Durand dachte als einer der ersten Architekten über die Bauproduktion unter den Bedingungen des sich rasant entwickelnden modernen Industrie- und Verwaltungsstaates nach und er hat für die damit verbundenen Innovationsprobleme des Bauens Lösungen vorgeschlagen. Sie werden von Durand ausschließlich immanent, nämlich aus der methodischen und rationalen Kontrolle der einzelnen Entwurfsoperationen (u.a. Materialwahl, Bautypus mit Raumprogramm, Geometrie, Kombinatorik der Raumkörper und Bauelemente) begründet. Mit dem Inhalt der Entwurfslehre korrespondiert die Form der Visualisierung durch Diagramme, in denen die Gebäude als statistisch objektivierte Datensätze erscheinen. Hier liegt gedanklich einer der maßgeblichen und maßstabsetzenden Ausgangspunkte für das serielle Bauen mit modularisierten Bauteilen im späteren Hallen- und Brückenbau. Die einen eigenen Maßstab realisierende Haussmannisierung setzt nicht nur die Durand’sche Entwurfslehre voraus. Sie wurde auch aus dem politischen Willen des Präsidenten und nachmaligen Kaisers Louis Napoléon III. vom Zaun gebrochen, der Paris als Kapitale einer Hegemonialmacht, wie sie zu Zeiten Durands und des 33 Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis des leçons d’architecture données à l’École Polytechnique, 2 Bde., Paris 1802-1805 (mehrere Nachdrucke). Zum Précis Dietrich Erben: Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2017, S. 58-62.

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ersten Napoleon, Napoléon Bonaparte, zeitweilig zusammenerobert worden war, zu modernisieren suchte. In der Folgezeit – nach Durand, Haussmann und dem sich etablierenden Eisenskelettbau seit etwa 185034 – bildeten sich diverse Motivansätze zum Kolossalen heraus. Das Kolossale galt als Symbol von Expansion und Hegemonie wie auch als Medium der Imagination. Das einschlägige Handbuch wurde vor Eugène Lesbazeilles 1876 unter dem Titel Les Colosses anciens et modernes vorgelegt.35 Nachgezeichnet wird hier die Tradition kolossaler Denkmäler von den ägyptischen Hochkulturen bis in die Gegenwart, das heißt konkret bis zur berühmten Statuenschenkung von Seiten der Dritten Republik an die USA. Denn das Buch erschien pünktlich zur Vollendung des Modells von Frédéric Bartholdys New Yorker Freiheitsstatue.36 Es ist unverkennbar, dass Lesbazeilles eine politische Chronologie des Kolossalen aufspannt: Der Anfang des Buches mit der Erörterung der Pyramiden und der Sphinx erweist sich als Reminiszenz an den Ägyptenfeldzug Napoleons I. Diese wird noch in Ieoh Ming Peis gläserner, im Rahmen von François Mitterands Grands Projets beauftrager Louvre-Pyramide nachgeträumt. Die Schlussfermate im Buch von Lesbazeilles wird mit der transatlantischen Allianz der Republiken gesetzt. Dabei lässt der Autor gleich im Vorwort keinen Zweifel daran, dass das neue Zeitalter des Kolossalen erst unter imperialen Monarchen, allen voran unter Napoleon, einsetzt. Bei seiner Evokation des Napoléon gigantesque mag er an Antonio Canovas Kolossalstatue von Napoleon als Mars pacificator gedacht haben.37 Unter dem Kolossalen versteht Lesbazeilles keineswegs schiere Größe, sondern ein wirkungsästhetisches Prinzip des Erhabenen, und das durchaus im unmittelbaren Anschluss an den älteren Sensualismus. Die Kolossalstatue erfülle ihre Rolle nur, wenn sie einschüchtere: „(La statuaire colossale) est dans son rôle lorsqu’elle exprime la puissance, la majesté, les qualités qui inspirent le respect, la crainte.“38 Hingegen falle sie aus der Rolle, wenn sie durch Anmut überzeugen wolle, „si elle se proposait de nous charmer par l’expression de la grâce.“ Das Kolossale ist ein „genre d’effet“, wie es Lesbazeilles nennt, es ist ein Medium „à exciter que des sensations d’un certain ordre“. Formale Kriterien des Kolossalen 34 Hierzu die neueren grundlegenden Monographien von Tom F. Peters: Building the Nineteenth Century, Cambridge, Mass./London 1997; Darcy Grimaldo Grigsby: Colossal. Engineering the Suez Canal, Statue of Liberty, Eiffel Tower and Panama Canal, Pittsburgh, Pa. 2012; Paul Dobraszczyk und Peter Sealy (Hg.): Function and Fantasy. Iron Architecture in the Long Nineteenth Century, New York/London 2016. 35 Eugène Lesbazeilles: Les Colosses anciens et modernes, Paris 1876. 36 Der Freiheitsstatue widmet sich der letzte Abschnitt: Le colosse de la liberté éclairant le monde; Lesbazeilles: Les Colosses, S. 333-336. 37 Zu der 1806 vollendeten, seit 1816 in London aufbewahrten Figur Johannes Myssok: Canova. Die Erneuerung der klassischen Mythen in der Kunst um 1800, Regensburg 2007, S. 217-223. 38 Lesbazeilles: Colosses, S. 16; ebd. auch die folgenden Zitate.

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sind für Lesbazeilles ein gewisses Maß an formaler Monotonie, die Verwendung von „formes élémentaires“ und das Prinzip einer keineswegs peniblen Naturmimesis, sondern im Gegenteil ein „imitation sommaire et vague de la nature.“ Das Kolossale kann unter all diesen Prämissen auch für das Verständnis des Eiffelturms produktiv gemacht werden. Sowohl in den Ausschreibungstexten, als auch bei Eiffel selbst und in den zeitgenössischen Quellen zur Rezeption ist vom Eiffelturm als „œuvre colossale“ die Rede.39 Bei dem Bauwerk erfährt das Kolossale dann nicht nur eine aktualisierte Wendung ins Technisch-Konstruktive der Eisenarchitektur, sondern es wird auch – und das ist nun ganz wörtlich gemeint – als Charmeoffensive ausgespielt. Beides wird von Gustave Eiffel in seinen Publikationen zur Tour de 300 mètres hervorgehoben. Der Turm entziehe sich in seiner „beauté propre“ ohnedies herkömmlichen Klassifizierungen, wobei dies insbesondere für das Kolossale gelte: „Il y a, du reste, dans le colossal une attraction, un charme propre, auxquels les théories d’art ordinaires ne sont guère applicables.“40 Produktions- und Rezeptionsästhetik schließen sich im Kolossalen zusammen, denn was sei, so Eiffel, die Quelle der Bewunderung, wenn nicht die Grenzenlosigkeit der Absicht und die Größe des Ergebnisses: „Et quelle est la source de cette admiration, sinon immensité de l’effort et la grandeur du résultat?“41 Die konstruktive Seite des Kolossalen findet bei Eiffel eine metaphorische Umschreibung im Mythos vom Turmbau zu Babel. Dieser Mythos hatte sich gerade auch in Bezug auf die Haussmannisierung in der französischen Romanliteratur als Standardmotiv etabliert.42 Bei Eiffel nimmt er eine vollkommen utilitaristische Wendung. Es geht mit keinem Wort mehr um menschliche Hybris, sondern allein um die Überwindung der Schwerkraft, die den Menschen auf den Boden zwinge: Der Turm sei der Sieg über „cette terrible loi de pesanteur qui attache l’homme au sol“, und die „Tour de Babel“ apostrophiert Eiffel als ambivalentes Symbol der „immagination des hommes“, welche die Schwerkraft zu negieren im Stande sei.43 Dies wirft die Frage nach den speziellen ästhetisch-konstruktiven Mitteln auf. Das Gestell: Macht man den Versuch, den Eiffelturm im Hinblick auf seinen architektonischen Typus und seine Klassifikation als ingenieurtechnisches Artefakt in den Griff zu bekommen, so wird schnell klar, dass eine bloße Bestimmung als Turm nicht hinreicht. Ein solcher Turm ist die Tour Eiffel zweifelsohne als Funktionstypus in den oben beschriebenen Absichten (also Portalturm, Land39 Eiffel: La Tour Eiffel, S. 7, 14. 40 Eiffel: La Tour de 300 mètres, S. 7. 41 Eiffel: La Tour de 300 mètres, S. 8. 42 Vgl. Alfred Gotthold Meyer: Eisenbauten. Ihre Geschichte und Ästhetik (1907), Neudruck Berlin 1997, S. 81; Stierle: Imaginäre Räume, S. 307-308. 43 Eiffel: La Tour Eiffel, S. 1.

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marke, Leuchtturm, Aussichtsturm, Observatorium). Sie ist es darüber hinaus als Formtypus im Sinne der Relationierung von vergleichsweise klein bemessenem Grundriss und groß bemessener Höhenerstreckung. Doch zum Turm fehlt dem Eiffelturm die massige und massive Gebäudestruktur, dementsprechend erwarten wir bei einem Turm auch eher eine Verjüngung durch graduelle Rückstufungen, wohingegen wir es hier mit einer steil und kontinuierlich in die Höhe strebenden, schlanken pyramidalen Silhouette zu tun haben. Sucht man jenseits der für sich genommen natürlich weiterhin plausiblen funktions- und formtypologischen Zuordnungen zur Typologie des Turms nach einem Wort für die tatsächliche Gestalt, die man vor Augen hat, so lässt sich formal am plausibelsten mit dem Begriff des Gestells operieren. Die Rede ist, das sei gleich vorweggenommen, dabei freilich nicht von der raunenden Beschwörung des Gestell-Begriffs, wie sie von Martin Heidegger in dessen Technik-Aufsatz in Anschlag gebracht wird.44 Vielmehr geht es um die materialistische Kunsttheorie Gottfried Sempers. Bei Semper spielt das Gestell im Zusammenhang mit dem Theorem der Bekleidungslehre und ebenso für den Gedanken der materiell sichtbar gemachten Funktion eine maßgebliche Rolle. Beide Ideen wurden von Semper im Stil in den technischen und tektonischen Künsten (1860/63) ausgearbeitet. Semper sieht die Urformen des Gestells im Schemel, der einen externes Objekt, nämlich den Körper eines Menschen aufnimmt, und davon abgeleitet im antiken Dreifuß aus Metall. Beim Dreifuß handelt es sich um eine metallene, durch eine Dreiecksvergitterung stabilisierte Halterung, die, anlog zu Schemel und menschlichem Körper, das aus Ton gefertigte Mischgefäß aufnimmt (Abb. 9).45 Paradigmatisch denkt Semper an das Dreigestell mit dem tönernen Krater, das Glaukos von Chios, der sagenhafte Erfinder der Lötkunst, laut Pausanias nach Delphi gestiftet hat. Für Semper handelt es sich beim Gestell um das „einfachste vertikale Stützwerk“, bei dem sich die „zweckdienlich struktiven Gedanken allein durch die Kunstform ausspricht.“46 Diese Identität von Konstruktion und Form ist das eine. Das andere ist das gleichsam unendliche maßstäbliche Entwicklungspotential beim Gestell, welches unter anderem erzeugt wird durch Fragilität. Semper attestiert dem Gestell sämtliche „Abstufungen des Ausdrucks zwischen Mobilität und Monumentalität, je nach der Art der Entwicklung der in ihm enthaltenen Formmotive“. Und er führt seine weiteren Erläuterungen mit der Ankündigung ein: „Diese letzteren 44 Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik (1953), in: Ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Bd. 7 Vorträge und Aufsätze, Frankfurt/M. 2000, S. 5-36; vgl. zu Heideggers Bestimmung der techne als das ‚Gestellte’ Luciana Parisi: Disorganische Techne, in: Katrin Klingan und Christoph Rosol (Hg.): Technosphäre, Berlin 2019, S. 104-121. 45 Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (1860-63), Nachdruck Hildesheim 2008, Bd. 2, S. 236- 248: § 135: Das Stützwerk und § 136: Das Gestell. 46 Semper: Der Stil, Bd. 2, S. 240.

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(Formmotive) und besonders auch die Art, wie die Steigerung des monumentalen Ausdrucks durch sie erreicht wird, sind für die allgemeine architektonische Formenlehre von so hoher Wichtigkeit, dass es hier nothwendig wird, darüber Näheres zu geben.“47 Es soll an dieser Stelle die Frage offenbleiben, wie Sempers Stillehre im französischen Ingenieursumfeld Eiffels rezipiert wurde, aber immerhin wurde Semper gerade in seinen formtyplogischen Überlegungen während seiner Pariser Lehrzeit 1826-1830 von der Entwurfslehre Durands und Franz Christian Gaus inspiriert. Eiffel selbst beschreibt die Konstruktion seines Turms ganz pragmatisch mit einer ingenieurmäßigen Terminologie. Die Rede ist also von der Starrheit der Stützen („rigidité des piles“), von Bindern („ceintures“), Brücken („tabliers“) und vom Gitterwerk („treillis“). Für das Gestell finden sich unterschiedliche Benennungen des Fußgestells („tréteau“, „chevalet“; „piédestal“) und des Regalgestells („étagère“).48 Es ist bemerkenswert, dass das bisweilen zu weiträumigen Gestängeformationen ausgebaute Gestell beim Hallenbau sich immer wieder als zentrales Element für die Raumbilder der impressionistischen Malerei darstellt. Bei Claude Monet wird die Bausubstanz der Gare Saint-Lazare im gleichnamigen Gemälde von 1877 ganz zum durchlässigen Gerüst aufgelöst und vom lichtgesättigten Rauch und Wasserdampf der Loks durchf lutet (Abb. 10). Raum wird in dem Bild den Betrachtern vor Augen gestellt nicht durch die Substanz starrer Raumgrenzen, sondern durch die Dinglichkeit und die Anordnung der im Raum vorhanden, oftmals nur als schemenhafte Gegenstandsabbreviaturen dargestellten Objekte und Phänomene, seien es Menschen, Dinge oder f lüchtige Licht- und Wolkeneffekte. Die ‚impression’ ist nicht mehr so sehr die Wahrnehmung stabiler Objekte, sondern vor allem dinglich materialisierter verzeitlichter Phänomene. Solche ins Bild gesetzten, mehr oder minder f lüchtigen Akzidenzien führen zum dritten Aspekt, dem Chronotopos. Der Chronotopos: Wahrscheinlich wurde einer der populärsten Chronotopoi von Walter Benjamin als Kapitelüberschrift in dessen als umfangreiches Fragment hinterlassenem Passagenwerk geprägt, und er ist maßgeschneidert für das vorliegende Thema: Selbstverständlich handelt es sich um die Formel von ‚Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts’. In sinnfälliger Einfachheit ist hier sprachlich die Chronik der Epoche mit dem Topos der Hauptstadt verknüpft. Der Begriff des Chronotopos, den man wörtlich mit ‚Raumzeit’ übersetzen müsste, wurde von Michael Bachtin in die Literaturtheorie eingeführt, bevor er, insbesondere von Wolfgang Kemp, dann auch für die Kunstgeschichte fruchtbar gemacht wurde. Bachtin umschreibt das Konzept in einer gleichsam ambivalenten Weise, 47 Ebd. 48 Eiffel: La Tour Eiffel, passim.

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welche die beiden Pole von Raum und Zeit in der Schwebe hält: „Im künstlerischliterarischen Chronotopos verdichtet sich die Zeit, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Diese Überschneidung der Reihen und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charakteristisch für den künstlerischen Chronotopos.“49 Eine für das späte 19. Jahrhundert quellenkonforme, berühmte und durchaus sentenziöse Formulierung eines Chronotopos, die als Motto über der gesamten zweiten Hälfte des Jahrhunderts stehen könnte, ist eine Zeile aus Richard Wagners 1882 uraufgeführtem Parsival-Musikdrama: Es ist – auf die Illusion Parsifals hin, „Ich schreite kaum, doch wähn’ ich mich schon weit“ – Gurnemanz’ Erwiderung: „Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“50 Zu den eindrücklichsten Chronotopoi in der Malerei des späteren 19. Jahrhunderts gehören einige Gemälde von Edouard Manet. Bei Manet wird das Phänomen der Kontraktion der Zeit und des Raumes zum Grundanliegen seiner Malerei und es gehört zu den großartigsten Bilderfahrungen, die man vor Manets Gemälden machen kann. Im Gemälde Le Chemin de fer (Gare Saint-Lazare) von 1873, das „erste avantgardistische Bild des Verkehrsmittels, das im 19. Jahrhundert zum Symbol der Moderne geworden war“51, wird Mutter und Kind nur ein ganz schmaler Raumstreifen im Vordergrund eingeräumt, während es hinter der eisernen Absperrung bei den Gleisanlagen regelrecht zu einer Verdampfung des Raumes kommt (Abb. 11). Mit dem Raum wird auch die Zeit geschluckt, sie stellt sich nämlich nur mehr als Warten dar. Die beiden Wartenden werden, so stellt es uns Manet vor Augen, sowohl um die von den Reisesehnsüchten erfüllten Weiten des Raumes als auch um die zielgerichtet sinnvolle Nutzung der Zeit betrogen. Wenn aber der Raum zur Fläche wird und die Handlungszeit still steht, so resultiert daraus für das Bild selbst jene überwältigende Präsenz des Gemäldes, wie sie auch für weitere Bilder Manets charakteristisch ist. Sie kommt etwa auch beim berühmten Balcon (1869) zur Geltung. Schon Titel und Bildthema verweisen auf das wohl augenscheinlichste neue und epochentypisch gewordene Architekturelement im Erscheinungsbild 49 Michael M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/M. 1989, S. 8, zit. nach Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, S. 31; ebd. S. 31-32 und S. 146 mit Erläuterungen; vgl. auch Richard Aczel: Chronotopos, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Begriffe, Stuttgart 52013, S. 103. 50 Parsival, 1. Aufzug; vgl. Helga de la Motte-Haber: Zum Raum wird hier die Zeit, in: Österreichische Musikzeitschrift 41 (1986), S. 282-288. Als kunsthistorischer Kommentar Christine Tauber: Ludwig II. Das phantastische Leben des Königs von Bayern, München 2013, S. 232. 51 Hans Körner: Edouard Manet. Dandy, Flaneur, Maler, München 1996, S. 158.

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des Haussmann’schen Wohnungsbaus. In Manets Gemälde muss sich die Personengruppe wieder mit einem perspektivisch unerfindlichen Raumstreifen begnügen. Die Bildfiguren sind dort wie Schnittbogen, für die das Eisengeländer des Balkons die Anweisung gegeben hat, vom Maler positioniert, während im blasierten Warten die Zeit schon nicht mehr verrinnt. Die abschließenden Überlegungen sind der Versuch, den Eiffelturm unter den Vorzeichen des Chronotopos zu deuten. Die erläuterten ästhetischen Kategorien des Kolossalen und die bauliche Typologie des Gestells erweisen sich beim Eiffelturm, darauf will ich hinaus, als Voraussetzungen, um diese chronotopische Eigenschaft des Turms zu realisieren. Besonders die letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren in einem kaum mehr vorstellbaren Maß eine Epoche der Beschleunigung und der Etablierung völlig neuer Zeitregimes.52 Dabei waren es gerade die 1880er Jahre, in denen diese Zeitregimes installiert wurden. Technisch-naturwissenschaftliche Entwicklungen arbeiteten dabei mit bürokratischem Dirigismus Hand in Hand. Es kam zur Vereinheitlichung der Zeitmessung und zur Abschaffung lokaler und milieugebundener Zeitkulturen. 1884 fand die internationale Meridiankonferenz statt, auf der man sich auf eine weltweit geltende ‚standard time’ einigte, mit der wir heute leben. Nach der Verordnung der kalendarischen Einheitlichkeit im gregorianischen Kalender, die bis zum 18. Jahrhundert andauerte, fand erst spät im folgenden Jahrhundert die Vereinheitlichung der Zeit innerhalb der Nationalstaaten und auch international zwischen den Staaten statt. Frankreich zeigte sich als durchaus renitent. Noch um die Mitte der 1880er Jahre besaß jede Stadt ihre lokale, am Stand der Sonne gemessene Zeit; 1891 erhob ein trotziges Gesetz die Pariser Zeit zur ‚heure légale’ in ganz Frankreich. Bewerkstelligt wurde die bürokratische, globale, nationale und lokale Standardisierung durch technische Chronometrisierung. Mechanische Uhren, schon lange erfunden, wurden technisch vereinfacht zu verbilligten Massenartikeln. Mit den Taschenuhren wurde die Zeitdisziplin privatisiert. Die Uhr wurde zum Emblem wie zum Hauptvehikel des industriellen Zeitalters, denn erst das optimierte Zeitregime ermöglichte die Durchsetzung industrieller Produktionsmethoden. Was im Privaten die Norm der Pünktlichkeit war, waren hier die Synchronisierung arbeitsteiliger Vorgänge, die präzise Koordination und die arbeitsmäßige Disziplin. Sie waren nötiger denn je, denn die Industrie modernisierte sich rapide seit den 1880er Jahren von der Schwerindustrie hin zu den neuen ‚raffinierten’, nämlich den auf das Erdöl aus den Raffinerien angewiesenen Industrien, allen voran der Elektro- und Chemieindustrie. Eindrucksvoll werden diese normativen Aspekte des modernen Zeitmanagements in Bildstrecken der Errichtung von Bauwerken demonstriert. Sie haben 52 Zu Zeitregimes und Beschleunigung Osterhammel: Verwandlung der Welt, S. 118-128.

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ihre Urahnen in Repräsentationsbildern technischer Bravour wie etwa der von Domenico Fontana berechneten, organisierten und publizistisch f lankierten Aufstellung des vatikanischen Obelisken im Jahr 1586. Das Spektakel wurde in der Neuzeit mit dem Antransport und der Postierung des Obelisken auf der Pariser Place de la Concorde im Jahr 1836 durch Jakob Ignatz Hittorff gleichsam ‚reenacted’.53 Doch nun geht es um die Darlegung von Abläufen. Offenbar wurde ein Herstellungsablauf erstmals bei der Wiedererrichtung des Crystal Palace in Sydenham 1853 fotografisch dokumentiert.54 Dem Photograph stehen aber noch keinerlei Bildmittel zu Gebot, das Zeitkontinuum tatsächlich schon darzustellen. Zu isoliert und als Episoden zu unverständlich sind die einzelnen Herstellungsstationen (Abb. 12). Das Ganze erschließt sich bestenfalls erst retrospektiv vom Finale der Vollendung des Großbaus her. Auch wenn die Rechnung also noch nicht ganz aufgeht, wird doch mit dem fotografischen ‚record’ die Absicht selbst nachvollziehbar, nämlich mittels der Bildstrecke das Zeitkontinuum, das sich abstrakt der Wahrnehmung entzieht, in einzelne Phasen zu zerlegen und dadurch nachvollziehbar zu machen. Während das Gebäude im Begriff ist, Raum in der Fläche und in der Höhe einzunehmen und ihn partiell mit seiner eigenen Materialität zu blockieren, protokolliert die Fotoserie diese Raumtransformation als temporalen Prozess. Chronometrische Fotostrecken, welche die Phasen von komplexen Bewegungen in einzelne, für das bloße Auge sichtbare Bilder zerlegen, erweisen sich bis zur Jahrhundertwende als eine Manie der Epoche. Das galt sowohl für das Mikroskopische55 als auch für das Makroskopische, wie den Ingenieurbau. Dabei musste es nicht immer um die staunenswerte Geschwindigkeit und Präzision der Errichtung gehen. So gab das Kolossale mitunter auch Anlass zur Erhabenheitsästhetik mit der Inszenierung von Schwindelperspektiven, Maßstabsdifferenzen und den Gegensätzen zwischen Technik und Landschaft. Die 1890 eröffnete Forth Bridge entsteigt in den zeitgenössischen fotografischen Aufnahmen dem Fjord bei Edin-

53 „Hittorff. Un architecte du XIXème siècle“ (Ausstellungskatalog Paris), Paris 1986, S. 79-84; allgemein zum Stadtmobiliar Salvatore Pisani: Paris, die Stadt der (gusseisernen) Dinge, in: Steffen Haug und Gregor Wedekind (Hg.): Die Stadt und ihre Bildmedien, Paderborn 2018, S. 133-149 und Ders.: Architektenschmiede Paris. Die Karriere des Jakob Ignatz Hittorff (Elitenwandel in der Moderne Bd. 23), Oldenburg 2022, S. 266-282. 54 Zeitgenössisch publiziert in: The Progress of the Crystal Palace Recorded, London 1853; Wiederabdruck ausgewählter Fotografien in Chup Friemert: Die gläserne Arche. Kristallpalast London 1851 und 1854, Dresden 1984. Vgl. „Photography and the 1851 Great Exhibition“ (Ausstellungskatalog London), bearb. von Anthony J. Hamber, London 2018. 55 Hingewiesen sei nur auf die Chronofotografien von Marey, die vereinzelt auch in Plastiken umgesetzt wurden; Etienne Jules Marey: Le Vol des oiseaux, Paris 1890.

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burgh wie ein urzeitlicher Dinosaurier oder, wahrscheinlicher noch, wie das leibhaftige Monster von Loch Ness.56 Es versteht sich fast von selbst, dass auch der Eiffelturm mit einer entsprechenden Bildstrecke bedacht wurde. Die entsprechende Bildserie zum Eiffelturm stammt von dem Fotografen Louis-Emile Durandelle und umfasst 20 Fotografien, die aus höherer Warte vom Palais de Trocadéro aus aufgenommen wurden (Abb. 13).57 Dieser Standort hat den Vorteil einer leichten Draufsicht sowie einer weiten Perspektive auf die Stadtlandschaft von Paris im Hintergrund. Gerade aus der erheblichen Distanz erscheint die Errichtung des Turms wie von Geisterhand. Die materielle Substanz des Bauwerks scheint sich wie von selbst zu generieren. Zu diesem Effekt trägt entscheidend bei, dass es, wie auch die Bilder dokumentieren, nur bis zur unteren Plattform ein zusätzliches Gerüst als Arbeitsplattform gab, danach fungierte das Strebewerk selbst als Gerüst – das Gestell machte sich bereits in der Errichtungsphase autonom. Viel raffinierter als beim Crystal Palace dokumentieren die Fotos nun das allmähliche Hineinarbeiten in den Raum, der hier vor allem der Himmel ist. Die Luft ist aus den Bildern natürlich heraus, wenn man sie, wie es in Publikationen oft geschieht, nur als Bildausschnitte zur Dokumentation der Bauphasen abbildet. Denn es erweist sich als eine ebenso einfache wie grandiose Bildentscheidung, die der Fotograf getroffen hat, dass er das Bildformat von Anfang an in einem schmalen hochrechteckigen Ausschnitt festlegt. Bei den Fotografien der frühen Bauabschnitte erscheint diese Festschreibung des Formats mit dem entsprechenden Raumüberschuss nach oben von geradezu absurder Unverständlichkeit. Aber wenn der Fotograf auf dem strikt festgelegten immer gleichen Bildformat beharrt, heißt dies, dass der projektierte Turm bereits imaginär im Bildformat steckt. Im Medium der Fotografien bildet der leere Raum des Himmels einen Erwartungsraum, im Medium der gebauten Architektur hingegen bildet der Himmel einen realen Erfahrungsraum des Bauens, der sich kontinuierlich mit der Turmkonstruktion füllt. Es stellt sich die Frage, wie sich eine solche ästhetische Absicht, die sich auch im Fall der fotografischen Bildstrecke als Chronotopos benennen lässt, noch näher an die tatsächliche gebaute Architektur heranführen lässt. Dabei steht es zunächst einmal außer Frage, dass ein Bauwerk gemäß der ihm eigenen medialen Bedingungen der Architektur eben nicht auf Transitorik hinauswollen kann, sondern am Ende doch auf den materiell fixierten Status des Abgeschlossenen, ja sogar des ästhetisch Endgültigen. Wobei hier wiederum zu bedenken ist, dass es 56 So in den Fotografien aus der Bauzeit des Fotografen Philip Philipps in der Publikation von Wilhelm Westhofen: The Forth Bridge, London 1890. Als eindringliche kunsthistorische Analyse des Bauwerks Michael Baxandall: Patterns of Intention. On the Historical Explanation of Pictures, New Haven/London 1985, S. 15-36. 57 „1889. La Tour Eiffel“, S. 220-226, Kat. Nr. 169.

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sich in der Architektur wahrscheinlich um den Normalfall handelt, wenn das materiell Ausgesprochene hinter dem konzeptionell Gemeinten zurückbleibt. Dieser Gedanke war schon Hegel geläufig.58 Dieses Konzeptionelle könnte nun durchaus wiederum die Idee der Transitorik sein, die sich sozusagen über die faktische Stabilität des Bauwerks im Gedachten der Form hinwegsetzt. Wieder ist es Gustave Eiffel, der einem den Weg weist. Er beschreibt in einer ausführlicheren Erläuterung den Turm als Hervorbringung der Natur, nämlich als Gebilde des Windes: „Ich meinerseits glaube, dass der Turm seine eigene Schönheit besitzen wird. Nur weil wir Ingenieure sind, glaubt man, Schönheit beschäftige uns bei unseren Konstruktionen nicht, und nur weil wir etwas solide und dauerhaft planen wollen, legen wir es nicht darauf an, es elegant zu machen? Sind die wirklichen Gesetze der physikalischen Kräfte nicht immer auch im Einklang mit den geheimen Gesetzen der Harmonie? Der erste Grundsatz der Ästhetik der Architektur lautet, dass die Hauptlinien eines Bauwerks vollkommen aus der vollkommenen Angleichung an dessen Bestimmungen vorgeben sein müssen. Und welche Bedingung hatte ich bei dem Turm vor allem zu berücksichtigen? Die Gesetze vom Winddruck. Nun wohl, ich behaupte, dass die Krümmungen der vier Pfeiler, so wie sie die Berechnung vorsieht, einen starken Eindruck von Kraft und Schönheit vermitteln werden, weil sie die Kühnheit der Gesamtkonzeption sichtbar machen werden, auf die gleiche Weise, wie die zahlreichen in die Bauteile eingefügten Leerräume energisch das ständige Bemühen, der Gewalt der Stürme keine die Stabilität des Baus gefährdende Oberf lächen entgegenzusetzen, zum Ausdruck bringen sollen. Es gibt darüber hinaus beim Kolossalen eine Anziehungskraft, einen eigenen Charme, für welche die geläufigen Theorien der Kunst wohl kaum gelten.“ „Je crois, pour ma part, que la Tour aura sa beauté propre. Parce que nous sommes des ingénieurs, croit-on donc que la beauté ne nous préoccupe pas dans nos constructions et qu’en même temps que nous faisons solide et durable, nous ne nous efforçons pas de faire élégant ? Est-ce que les véritables conditions de la force ne sont pas toujours conformes aux conditions secrètes de l’harmonie ? Le premier principe de l’estétique architectural est que les lignes essentielles d’un monument soient determinées par la parfaite appropriation à sa destination. Or, de quelle condition ai-je eu, avant tout, à tenir compte dans la Tour ? De la résistance au vent. Eh bien ! je prétends que les courbes des quatre arêtes du monument, telles que le calcul les a fournies, qui, partant d’un énorme et inusité empatement à la base, vont en s’effilant jusau’au sommet, 58 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, 3 Bde. (Werke 13-15), Frankfurt/M. 1986, Bd. 2, S. 303-304.

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donneront une grande impression de force et de beauté; car elles traduiront aux yeux la hardiesse de la conception dans son ensemble, de même que les nombreux vides ménagés dans les éléments mêmes de la construction accuseront fortement le constant souci de ne pas livrer inutilement aux violences des ouragans des surfaces dangereuses pour la stabilité de l’édifice. Il y a, du reste, dans le colossal une attraction, un charme propre, auxquelles les théories d’art ordinaires ne sont guère applicable.“59 Eiffel hat die im Zitat widergegebenen, pointiert zusammengefassten konstruktiven Überlegungen nicht zuletzt, aber nicht ausschließlich als Reaktion auf den oben angesprochenen Lettre de protestation zu einem ästhetischen Bekenntnis verdichtet.60 Darüber hinaus steckt hinter Eiffels Erläuterung auch eine Art WindPoesie mit einer geschlechterrelevanten Metaphorik. Denn die Schilderung lässt einen unverzüglich an das Motiv der Windsbraut, also die Dämonin des Wirbelsturms, denken. Als emblematisches Bildmotiv taucht es in der Frühen Neuzeit auf, ‚Windsbräute’ wurden immer wieder als Personifikation am Bug von Segelschiffen angebracht, in der Malerei seit dem Symbolismus wurde das Motiv zu einem eigenständigen Bildsujet.61 Schließlich gibt Eiffels Wind-Schilderung generell zu bedenken, dass das seinerzeit moderne Technologieverständnis immer noch mit einem Gutteil Archaik verbunden ist und dass der Technikdiskurs in oftmals geradezu plumper Rhetorik geschlechterhierarchisch konnotiert war – daran hat sich bis heute in den entsprechenden Milieus der Technikerfindung und -herstellung wenig geändert. Dementsprechend einschlägig lautet bereits der Titel eines statuarischen Renommierstücks, das 1898 vom Conservatoire National des Arts et Métiers bei Louis-Ernest Barrias in Auftrag gegeben wurde. Die Natur entschleiert sich vor den Naturwissenschaften (Abb. 14).62 Die Figur tritt Betrachterinnen und Betrachtern mit der sinnlichen Präsenz einer Gesicht und Brüste freigebenden weiblichen Allegorie vor Augen, wobei die Statue mit größtem handwerklichem Aufwand aus verschiedenen Marmorsorten gearbeitet wurde. Die Titelbezeichnung leitet das Verständnis an: Aufgenommen ist die alte Idee 59 Übersetzung des Autors und Zitat bei Eiffel: La Tour de 300 mètres, S. 8. 60 Der Abtragung der Windlast widmet sich Eiffel in seinen beiden Publikationen ausführlich mit Texterläuterungen, Berechnungen und Schemazeichnungen; Eiffel: La Tour de 300 mètres; Ders.: La Tour Eiffel. 61 Hingewiesen sei als Bildquellen auf die Radierung von Johann Heinrich Ramberg „Grossen Buchholz Bey Hannover Nach der Windsbraut Vom 17ten Septbr. 1830“ sowie auf das Gemälde Die Windsbraut von Oskar Kokoschka, 1913/14 (Kunstmuseum Basel). 62 Zur Statue mit weiterführenden Überlegungen Dietrich Erben: Ästhetisierung der Technik im Historismus. Die Neue Polytechnische Schule in München, in: „Königsschlösser und Fabriken. Ludwig II. und die Architektur“ (Ausstellungskatalog München), hg. von Andres Lepik und Katrin Bäumler, Basel 2018, S. 146-153.

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der ihre Geheimnisse verhüllenden natura abscondita, die sich nun den forschenden Naturwissenschaften ergibt. Die affirmative Aussage des Werkes liegt in der offensichtlichen Zuteilung eindeutig hierarchischer Geschlechterrollen, indem sich die Natur als weibliche Verführerin dem forschenden Eindringen darbietet. Mit all dem deutet sich an, dass man es bei der zitierten Textpassage von Eiffel mit weitaus mehr zu tun hat, als mit der mathematischen Berechnung der den Turm angreifenden Windkräfte. Denn gemeint ist darüber hinaus die Ästhetisierung dieser Naturkräfte selbst, die sich im Turm manifestieren soll. Analog zur geschlechterkonnotierten Metaphorik der Windsbraut ist der Turm als Medium zu verstehen, das die eindringenden Windkräfte empfängt, und er ist zugleich das sichtbare Medium des per se unsichtbaren Windes selbst, dessen Wirkung nur in der Reaktion eines bewegten Gegenstandes für das Auge erkennbar wird. Dabei ist entscheidend, dass Natur nun ausdrücklich als naturwissenschaftlich eroberte und mit technischen Mitteln bewältigte Natur verstanden wurde. Strömungstechnisch folgt die Konstruktion des Eiffelturm dem Prinzip der Zerlegung der Windkräfte durch den Verzicht auf geschlossene Flächen und massive Balken zugunsten von Wind durchlässigen Fachwerkbindern, wie sie schon im Brückenbau erprobt waren. Weiterhin gehorcht die Konstruktion dem Prinzip der Windabtragung, indem der Wind an den Gebäudekanten, welche die schlanke, elegant aufschießende Silhouette des Turms bilden, nach oben abdriftet und sich in den offenen Himmel hinein entlädt. Diese berechnete und berechnende Verwissenschaftlichung der Naturkräfte schließt zugleich die Verzeitlichung der Natur mit ein. Molekulare Bewegungen, Energief lüsse etwa von elektrischer Ladung, aber auch ein präzises Verständnis von Wetterverhältnissen wurden seinerzeit als ausgesprochen dynamische Umweltgegebenheiten entdeckt. Dies bedeutete auch eine markante Veränderung der Raumwahrnehmung. Man konnte Gebäude ganz im Sinne der impressionistischen Ästhetik als Atmosphären- oder Wetterarchitektur wahrnehmen. Als vergleichsweise frühes Zeugnis sei an die Beschreibung erinnert, die Richard Lucae, der Erbauer der Frankfurter Oper, vom Glaspalast in Sydenham gibt, den er 1862 aufsucht: „Wie bei einem Krystall, so giebt es auch hier kein eigentliches Innen und Außen. Wir sind von der Natur getrennt, aber wir fühlen es kaum. Wenn wir uns denken, dass man die Luft gießen könnte wie eine Flüssigkeit, dann haben wir hier die Empfindung, als hätte die freie Luft eine feste Gestalt behalten, nachdem die Form, in die sie gegossen war, ihr wieder abgenommen wurde. Wir sind in einem Stück herausgeschnittener Atmosphäre.“63

63 Richard Lucae: Über die Macht des Raumes in der Baukunst, in: Zeitschrift für Bauwesen 19 (1869), Spalte 293-306, hier Spalte 303.

Zur Architekturikonologie des Eiffelturms

Schluss Die künstlerische Rezeption des Eiffelturms setzt genau an dieser Stelle an und vermag so retrospektiv die Idee des Chronotopos für den Bau zu bestätigen. Bei Robert Delaunay hat sich in dessen Serie der Eiffelturmbilder aus den Jahren 19101914 der Turm auf den Weg in die Pariser Wohngebiete hinein gemacht, wobei er sich wie ein Chamäleon farblich den wechselnden Wetterverhältnissen anpasst (Abb. 15).64 In einer der frühen Monographien zum Eisenbau, die von Alfred Gotthold Meyer 1907 nicht als technische Anleitung, sondern als kunsthistorisches Handbuch publiziert wurde, wird der Eiffelturm sowohl beschrieben, als auch in Vorankündigung des Expressionismus dramatisiert, ja sogar militarisiert: Die Rede ist dort „vom Hochdrang zur Alleinherrschaft in immer schnellerem Tempo“, von der „entscheidenden Macht der Linie“ und einmal mehr vom „Angriff und der Macht der Stürme.“ Der Turm wird in der Metaphorik von Revolution und Widerstand geschildert, es wird ihm damit eine zeitliche Dimension zugemessen. Darüber hinaus greift Meyer zur Metapher des Schiffs und damit wiederum zu einem Bewegungsbild: „Das ist an sich eine eigenartige, neue ‚Schönheit’: die Schönheit stählerner Schärfe, wie sie der Vorderteil eines Riesenschiffes bildet, das die Wellen spielend durchfurcht.“65 Man ist metaphorisch noch einmal beim Symbol der Windsbraut zurück. Auch in späteren Architekturvisionen kommt es zu einer ausdrücklichen raum-zeitlichen Dynamisierung des Turms. In Wladimir Tatlins Entwurf für das Denkmal der III. Internationale von 1919 werden in das 400 m hohe offene Rahmengestänge vier riesige Raumkörper aufgehängt. Sie sind als geometrische Elementarkörper (Würfel, Zylinder, Pyramide, Halbkugeln) ausgebildet und sollten, sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten um ihre Achse drehend, das Raumprogramm für die Verwaltung des Komintern aufnehmen. Bei der unerhört dynamischen Bewegung himmelwärts wirken mit den Neigungswinkel des Hauptträgers, der Spiralform und der Verjüngung der Spirale nach oben mehrere Richtungskräfte zusammen. Verbunden ist diese Dynamik mit der Mitteilung potentieller Unendlichkeit und gleichzeitig zunehmender Zielgenauigkeit. Diese formale Ausdrucksabsicht lässt sich im politisch-gesellschaftlichen Kontext der Gebäudefunktion in verallgemeinerten, ideologisch besetzten Fortschrittmetaphern umdenken: Die Zentrale des Komintern fungiert nicht nur als Symbol des historischen Fortschritts, sondern auch als Metapher für dessen unvermeidbare, teleologische Eigendynamik. Hinzu kommt schließlich, dass die Semantik des Entwurfes gleich in mehrfacher Hinsicht in überzeitlich-kosmische Dimensionen 64 Zur Eiffelturm-Serie „Pariser Visionen: Robert Delaunays Serien“ (Ausstellungskatalog Berlin), hg. von Mark Rosenthal, Ostfildern-Ruit 1997. „Robert Delaunay und Paris“ (Ausstellungskatalog Zürich), hg. von Esther Braun-Kalberer, Heidelberg 2018. 65 Meyer: Eisenbauten, S. 87.

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eingespannt wird. Dies betrifft die Ausrichtung des Hauptträgers in der Erdachse, die Formgebung der vier umbauten Volumina als geometrische Elementarkörper sowie deren Rotation in zeitlicher Abstimmung mit den naturalen Zeitabläufen. Mit etwas mehr Bodenhaftung kommt der Eiffelturm im Entwurf von Nikolai Ladowsky für ein ‚Kollektiv-Gebäude’ daher, das gut gelaunt durch die Gegend stapft. 66 Haben wir nach alledem, ich komme zu meiner Eingangsbemerkung zurück, den Eiffelturm verstanden? Das ist wohl weiterhin zweifelhaft. Denn es ist, darüber hat sich die halbe Technikphilosophie den Kopf zerbrochen, ohnedies fraglich, ob technische Artefakte überhaupt Sinnsysteme entwickeln können. Und es ist auch fraglich, ob es sich beim Eiffelturm gleichsam von Haus aus um eine semantische Leere handelt, wie Roland Barthes meinte, oder ob es nicht doch um eine Leere geht, welche erst aus der semantische Überkodierung, die unter ihrer eigenen Last implodierte und im Informationsüberschuss der Entropie zusammenbrach, entstand. Und schließlich: Wir wissen nicht so recht, was wir eigentlich sehen, wenn wir den Eiffelturm in all den Wandlungskontexten der Umgebung und der eigenen Wahrnehmungsbewegungen betrachten. So wäre der vorliegende Versuch also nicht mehr als der Versuch, die Tour Eiffel auf einem höheren Niveau nicht zu verstehen. Das wiederum ist nicht so selten in der Kunstgeschichte.

66 Dietrich Erben: Architekturutopien im Zuge der Oktoberrevolution. Von der Nicht-Utopie des Sozialismus zur Post-Utopie des Neoliberalismus, in: Ulrich Bahrke, Rolf Haubl und Tomas Plänkers (Hg.): Utopisches Denken – Destruktivität – Demokratiefähigkeit. 100 Jahre ‚Russische Oktoberrevolution’, Gießen 2018, S. 83-112.

Abb. 1 Blick auf Champ-deMars und Eif felturm von Westen.

Abb. 2 Detail eines Pfeilers.

Abb. 3 PeaceforParis, Grafik mit der Einarbeitung des von Gerald Holton entworfenen Peace-Zeichens (Campain for Nuclear Disarmament 1958) von Jean Jullien nach den Terroranschlägen auf die Redaktion der Zeitschrif t Charlie Hebdo am 7.1.2015.

Abb. 4 Pfeiler-Arkadenzone des Eif felturms. Abb. 5 Schema der dreiteiligen Zonierung.

Abb. 7 Zeitgenössische Schaukarte des Eif felturm-Panoramas.

Abb. 6 Georges Garen: Embrasement de la Tour Eif fel pendant l’Exposition universelle de 1889, kolorierte Eisenradierung 1889. Paris, Musée d’Orsay, Fonds Eif fel.

Abb. 8 Querschnitt durch eine Promenade mit Infrastruktur, Tafel aus Adolphe Alphand: Les Promenades de Paris. Paris 1867-73.

Abb. 11 Edouard Manet: Le chemin de fer (Gare SaintLazare), Gemälde 1873. Washington, National Gallery.

Abb. 10 Claude Monet: La Gare Saint-Lazare, Gemälde 1877. Harvard Art Museum.

Abb. 12 Foto aus der Fotodokumentation zur Wiedererrichtung des Crystal Palace in Sydenham 1853, aus: The Progress of the Crystal Palace Recorded, 1853.

Abb. 9 Antiker Dreifuß, Seite aus: Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten. 1860-63.

Abb. 13 Synopse der zeitgenössischen Fotostrecke zur Errichtung des Eif felturms 1887-89.

Abb. 14 Louis-Ernest Barrias: La Nature se dévoilant à la Science, Marmorstatue 1899. Paris, Petit Palais.

Abb. 15 Robert Delaunay: Champ de Mars. La Tour rouge, Gemälde 1911. Chicago, Art Institute.

Mediale Konfigurierung eines Ereignisses Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 20011

Es gehörte zum Konsens in der politikwissenschaftlichen Forschung, dass der Terrorismus eine Kommunikationsstrategie2 sei. Diese Überzeugung wird zum Schlagwort mit dem viel zitierten Satz von Brian Jenkins, der als Terrorismusberater für die US-Regierung fungierte, wonach „Terroristen wollen, dass viele Leute zuschauen, nicht, dass viele Leute sterben.“3 Mochte diese Formel denn überhaupt von analytischem Gehalt sein, so hat sie sich spätestens mit den Massenmorden als terroristischen Akten erledigt. Offensichtlich beruht das Verständnis vom Terrorismus als einer medial vermittelten, symbolischen Gewalt auch auf der linguistischen und ikonischen Wende in den ästhetischen und historischen Wissenschaften. Dieser turn beruht – grob gesagt – auf der Behauptung, dass sprachliche oder visuelle Kommunikation ein geschlossenes Referenzsystem ist, hinter dem die wie auch immer geartete historische Realität nicht mehr zu erreichen ist. Man muss dieser Zuspitzung aber nicht folgen. Die Anschläge auf das Welthandelszentrum in New York waren kein Bild, sondern eine Handlung höchst verschiedener Akteure. Sie waren auch dann kein Bild, als wir als FernsehzuschauerInnen dem Töten beiwohnen konnten, und die Fernsehbilder die Gleichzeitigkeit von Geschehen und Abbildung sicherstellten. Auf der, wie auch immer kompliziert für das Verständnis zugänglichen, Faktizität des Attentats, die MedienwissenschaftlerInnen und KunsthistorikerInnen 1 Der vorliegende aktualitätsbezogene Aufsatz wurde für den Wiederabdruck nur sprachlich minimal angepasst und mit einzelnen neueren Literaturangaben versehen; belassen wurde weitgehend der Erfahrungsstand von einem New York-Besuch im Sommer 2002 und der Literaturstand bis zur Abfassung von Vorträgen 2004/2005 und dann des Aufsatzes 2009/2010. Die zitierten Internetquellen sind z.T. aktuell nicht mehr verfügbar. 2 Peter Waldmann: Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 13 definiert einleitend: „Terrorismus, das gilt es festzuhalten, ist primär eine Kommunikationsstrategie.“; vgl. ebd., S. 48, 56ff., 191. 3 „Terrorists want a lot of people watching, not a lot of people dead“; Interview mit Brian Jenkins 1988; www.lib.uci.edu/quest/index.php.page_jenkins (aufgerufen 25.07.2010).

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in bisweilen extremer Weise aus den Augen verloren haben, soll beharrt werden, wenn im Folgenden von der medialen Vermittlung der Ereignisse vom 11. September 2001 die Rede ist. Dabei richtet sich das Augenmerk nicht auf die Intentionen der Attentäter und damit auch nicht auf deren Absicht, eine globale Medienöffentlichkeit zu erreichen. Es geht um die unmittelbaren Folgen der Attentate auf der Ebene der Bildlichkeit, das heißt um Bildentwürfe als Teil des Umgangs der US-amerikanischen Gesellschaft mit dem Terrorismus. Das Interesse gilt dem Prozess, in dem sich das Geschehen des Attentats zu einem historischen Ereignis konfigurierte, und der Frage, in welcher Weise dieser Prozess als gesellschaftliche Konsensbildung aufzufassen ist. Damit sind auch die inhaltlichen und methodischen Akzente der folgenden Überlegungen angedeutet. Unter medialer Konfigurierung verstehe ich – in Analogie zur Computersprache – einen Vorgang der Systemanpassung: Die Bilder, die das New Yorker Attentat am 11. September 2001 hervorbrachte und die seither produziert wurden, um das Ereignis bildlich zu repräsentieren, wurden schrittweise in Medien und Politik mit einem Kommentarrahmen versehen, indem sie konventionellen Bilderfahrungen und Verständnisgewohnheiten angepasst wurden.4 Man hat sie damit aber auch auf politische Interessen einjustiert und zu Bildakteuren aufgewertet. Dabei wurden sie auf der einen Seite der bloßen alltäglichen Vorgänglichkeit enthoben und sie dienten dazu, das Geschehen vom 11. September als historisches Ereignis zu konstituieren. Auf der anderen Seite wurde das Ereignis durch Bilder mit historischen Vergleichen angereichert, um das Ereignis selbst verstehbar zu machen und um daraus Handlungsoptionen für die Zukunft zu begründen.

Die Rekapitulation der Vorgänge und die Bildpolitik Die Betrachtung der aus einer Filmsequenz geschnittenen Fotos erzeugt beim Betrachter den Ref lex, die Bilder gemäß der eigenen Erinnerung zum Geschehensablauf zu komplettieren (Abb. 1). Nachdem das erste von den Selbstmordattentätern entführte Flugzeug um 8:46 Uhr Ortszeit in den nördlichen Turm des Welthandelszentrums in New York gerast war, wurde das zweite Flugzeug eine Viertelstunde später in den Südturm gelenkt. Aus südlicher Richtung aufgenommen zeigen die Bilder den bereits getroffenen Nordturm, aus dem Rauchschwaden steigen, und den Anf lug sowie den Einschlag des zweiten Flugzeugs in den anderen Turm. Die Explosionen im Einschlagbereich der von den Terroristen als Raketen benutzten Passagiermaschinen führten zum Zusammensturz der in ihrem äußeren Erscheinungsbild identischen Zwillingsbauten. Als am Morgen des 11. September 2001 um halb elf Uhr Ortszeit der zweite Turm des World Trade Center in sich zusammenstürzte, waren nach dem Einschlag des ersten Flug4 Allgemein zur Bildpolitik Wilhelm Hofmann (Hg.): Bildpolitik – Sprachpolitik, Berlin 2006.

Mediale Konfigurierung eines Ereignisses

zeugs knapp zwei Stunden vergangen. Das Niedersinken des Südturms und dann des zuerst getroffenen Nordturms vollzog sich wie in einer Zeitlupe, die vom Riesenmaß der 417 Meter hohen Türme erzeugt wurde und deren Dimensionen zuletzt noch einmal sichtbar werden ließ. Von den Türmen blieb am ehemaligen Standort der Hochhäuser an der Südspitze von Manhattan ein ausgedehntes Ruinenfeld zurück, für das in Analogie zum Epizentrum einer Atombombenzündung die Bezeichnung ground zero gebräuchlich wurde. Die Schuttmassen bargen für Monate die Überreste der Toten. Nach offiziellen Angaben sind bei den Attacken 3.066 Menschen ums Leben gekommen, mehrere zehntausend Menschen wurden verletzt. In vieler Hinsicht sind die Anschläge vom 11. September 2001 in der Geschichte des Terrorismus ein bis dahin neuartiges Ereignis gewesen.5 Gleichzeitig stehen sie aber auch als drastische Steigerung in der Kontinuität eines kriegs- oder bürgerkriegsartigen Terrorismus, der seinerzeit schon seit gut anderthalb Jahrzehnten zu beobachten gewesen war. Diese ambivalente Einschätzung betrifft wenigstens vier Faktoren: 1. die zerstörerische Dimension der Anschläge auf die USA; 2. die ihnen zugrundeliegende Planungsstrategie; 3. die weltpolitischen Folgen der Attentate und nicht zuletzt 4. ihre unmittelbar erzeugte und bis heute andauernde mediale Gegenwart. Die gesamte, mit insgesamt vier Flugzeugen geplante Attentatserie beruhte auf einem vorher nicht bekannten Maß an geheim gehaltener Logistik und Koordination. Die weltpolitischen Konsequenzen stehen mit einem immens gesteigerten, weltweiten zivilen Sicherheitsbedarf und mehreren Militärinterventionen seitens der USA außer Frage. Gleichzeitig bleiben die Kontinuitäten zu bedenken. Denn natürlich haben sich die Lebensrealitäten der überwältigenden Mehrzahl von Menschen gar nicht oder allenfalls beiläufig verändert. Am 11. September eskalierte ein Ausmaß an terroristischer Gewalt, die auch schon vorher hätte ernst genommen werden müssen. Alles in allem ist der viel beschworene Satz, nach dem 11. September sei „die Welt nicht mehr wie vorher“, zugleich richtig und falsch. 5 Die Literatur zu den Terroranschlägen des 11. September 2001 in den USA stellt sich mit zahllosen Beiträgen von der politischen Analyse über den individuellen Erfahrungsbericht bis zur idiosynkratischen Verschwörungstheorie als kaum überschaubar und höchst disparat dar. Die hier gegebene historische und politische Einschätzung der Ereignisse verdankt maßgebliche Anregungen David C. Rapoport: Inside Terrorist Organizations (1988), London 22001; Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek 2002; Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg, Frankfurt/M. 2002; Peter Waldmann: Terrorismus und Ders.: Terrorismus und Bürgerkrieg. Die Staatsmacht in Bedrängnis, München 2003; Ami Pedahzur, Suicide Terrorism, Cambridge MA. 2005; Ulrich Schneckener: Transnationaler Terrorismus, Frankfurt/M. 2006; Lawrence Wright: The Looming Tower. Al-Qaeda and the Road to 9/11, London 2006; Marc Sageman: Leaderless Jihad. Terror Networks in the 21st Century, Pittsburg 2008.

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Die Formel hatte von Anfang an einen beschwörenden Gestus und ihr haftet der Beigeschmack einer instrumentellen Phrase an. Wer sie aufruft meint: Was noch nicht ist, wird schon noch werden. Eine ähnliche Ambivalenz von Kontinuität und Neuheit, wie sie das Geschehen selbst kennzeichnet, gilt auch für die Bilder von den Attentaten und der Zeit danach.6 Die Bildgeschichte dokumentiert sich in der Fülle visueller Mitteilungen in der Spannbreite vom Video über das Pressefoto und die Internetsequenz bis zum Kunstbild. Üblicherweise sind Terrorattentate erst im Augenblick, in dem die destruktiven Folgen sichtbar sind, öffentlich und damit für die Bildberichterstattung zugänglich. So will es die Logik des unvorhersehbaren Überfalls, der Terrorattentate immer gehorchen. Hingegen waren am 11. September durch die serielle Abfolge der Anschläge nicht nur die Folgen der Zerstörung sichtbar. Wie es die Fotos zeigen, richteten sich die Kameras auf den Moment der zerstörerischen Aktion selbst, die in ihrem sequentiellen Ablauf die terroristische Willkür der Verbreitung von Schrecken noch steigerte. Die Bildlichkeit der gesamten Attentatserie war von Beginn an von den Aufnahmen der Twin Towers in New York dominiert. Dies hatte vor allem mit dem Simultanwert der Aufnahmen zu tun, durch die man als FernsehzuschauerIn in Echtzeit den Angriffen, der Destruktion und den Rettungsmaßnahmen beiwohnen konnte. Die Filmaufnahmen machten in ihrem dokumentarischen Status nicht nur die Zerstörung der Wolkenkratzer ablesbar, mit dem Sehen war auch das Wissen um eine Unzahl von Menschen verbunden, die während des Betrachtens der live ausgestrahlten Bilder durch die Zerstörung der Gebäude starben. Man hat von Anfang an konstatiert, dass die Filmsequenzen von den in die Hochhäuser hinein rasenden Passagierf lugzeugen jedweden Erklärungskontext des Geschehens verweigerten.7 Passagierjets und Hochhäuser sind unterschied6 Zur medialen Vermittlung und zur Bildlichkeit des 11. September in frühen deutschsprachigen Publikationen vgl. Christian Schicha und Carsten Brosda (Hg.); Medien und Terrorismus. Reaktionen auf den 11. September, Münster 2002; Heinz Peter Schwerfel (Hg.): Kunst nach Ground Zero, Köln 2002; Christel Fricke: Kunst und Öffentlichkeit. Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Reflexion über die Terrorattacken auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, in: Ursula Franke und Josef Früchtl (Hg.): Kunst und Demokratie. Positionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft), Hamburg 2003, S. 1-18; Michael Beuthner u.a. (Hg.): Bilder des Terrors – Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September, Köln 2003; Claus Leggewie, 11. September 2001 – wessen Niederlage? Die Entstehung eines globalen Erinnerungsortes, in: Horst Carl u.a. (Hg.): Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 447-463; Otto Karl Werckmeister: Der Medusa-Effekt. Politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001, Berlin 2005; Themenheft „New York nach 9/11“, Kunstforum International Bd. 189, Januar-Februar 2008. 7 Dies konstatieren bereits die ersten Augenzeugenberichte und Analysen; vgl. die Sammlung von Aufsätzen in: Toni Morrisson u.a.: Dienstag 11. September 2001, Reinbek 2001.

Mediale Konfigurierung eines Ereignisses

liche Werkzeuge der Hochtechnologie. Während erstere Bestandteile eines hoch technisierten Massenverkehrssystems sind, beherbergten die Wolkenkratzer im New Yorker Financial District die MitarbeiterInnen in den Büros einer hoch verdichteten Finanzbürokratie. Die Passagierf lugzeuge und die Türme wurden ineinander zerrieben, waren aber in ihrer parallelen Zerstörung rational nicht eindeutig aufeinander zu beziehen. Die in den Stunden nach den Anschlägen nicht enden wollende, über weite Strecken unkommentierte Wiederholung der Aufnahmen zielte offensichtlich darauf ab, das Geschehen als realen Vorgang überhaupt erst einsichtig zu machen. Es mag sein, dass die permanente Wiederholung die wohl bei jeder Zuschauerin und jedem Zuschauer auf Anhieb vorhandene Assoziation an einen fiktiven Filmplot, dessen Spannungsmoment bekanntlich entscheidend in seiner Plötzlichkeit und Einmaligkeit liegt, tilgen sollte. In den ersten Stunden nach den Anschlägen kam es zunächst zu einer Paralyse der Filmreportage, die durch den tatsächlichen Ablauf des Geschehens in groteske Nähe zu Actionfilmen gelangt war. Durch die andauernde Wiederholung der Filmsequenzen mit eingeblendeten Kommentarstreifen distanzierte sich die Reportage wieder vom Thriller. Vielleicht schwerer als die Orientierungslosigkeit, die durch die Überlagerung zweier Filmgenres zustande kam, wog es, dass in den ersten Bildern keine Akteure erkennbar hervortraten. Eine Selbstmitteilung der Attentäter nach ihrer Tat war durch die Suizide der Terroristen durch die Anschläge selbst ausgeschlossen, es gab aber auch keine schriftliche oder bildliche Botschaft der terroristischen Zentrale. Anders als frühere Terrorbewegungen hielt es von den verantwortlichen Hintermännern niemand für nötig, sich zu erklären oder die Tat propagandistisch zu rechtfertigen. Da ideologische und religiöse Begründungen auch lange danach ausblieben, fehlte für die ersten Fernsehbilder der Attentate zunächst ein Verständnisrahmen. Nach dem ersten Erstaunen über den Realitätsgehalt der Bilder sprach aus ihnen nichts anderes als die schiere Gewalt des Faktischen. Auf die faktizistische Bildlichkeit der ersten Stunde, auf das Schweigen der Akteure und damit die völlige Absenz einer bildlich oder textlich vermittelten Programmatik antworteten erste bildliche Kommentierungen. Schon einen Tag nach den Attentaten wurde die Fotographie von drei Feuerwehrleuten, die in den Ruinen des World Trade Center die amerikanische Flagge hissen, publiziert (Abb. 2). Die Fotografie ist in vieler Hinsicht ein Traditionsbild mit Identifikations- und Appellcharakter, als solches ist sie auch ein Gegenbild zu den ersten Fernsehaufnahmen. Sie stammt von dem Fotografen Thomas E. Franklin und wurde am 12. September 2001 erstmals als Titelfoto der Zeitschrift The Record veröffentlicht. Allein schon die gegenüber dem Fernsehfilm traditionsgebundene Gattungswahl des Pressefotos zeigt, dass das Bild nicht nur einen dokumentarischen Wert verbürgen soll, sondern auch für einen individuellen Betrachter kalkuliert ist. Dies gilt umso mehr für die Darstellung selbst. Drei Feuerwehrleute haben in schwe-

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rer Montur in den Ruinen des World Trade Center Stellung bezogen, sie folgen offensichtlich dem militärischen Reglement der Flaggenparade. Zwei hantieren gemeinsam am Seilzug der halb gehissten Nationalfahne. Der dritte Feuerwehrmann hat sich etwas abseits gestellt und den Kopf noch weiter als die beiden anderen in den Nacken geworfen, um die Aktion zu beaufsichtigen und ihrem Abschluss erwartungsvoll entgegenzusehen. Es bleibt offen, ob die Männer die Flagge auf Halbmast setzen wollen oder ob sie bis zum Ende des Mastes hoch gezogen werden soll. Die Gruppe ist auf einem diagonal ansteigenden Schuttplateau in Positur gegangen, dessen Kontur von der Linie der drei Köpfe nachgezeichnet wird. Der Fahnenmast ist in der Gegendiagonale aufgerichtet, wobei das Sternenfeld der Flagge genau im Bildzentrum fixiert ist. Eine den linken Bildrand vertikal durchmessende Stütze stabilisiert dieses Gefüge architektonisch. Die bereits mit diesen Mitteln erzeugte Bildordnung wird schließlich durch die scharfe, durch Licht und Staub beinahe wie koloriert wirkende Modellierung der Personengruppe vor dem diffusen Hintergrund gewährleistet. Die Schuttberge sind unscharf aus dem Fokus der Kameralinse gerückt und türmen sich formatfüllend als Steilwand unbestimmbarer Ausdehnung auf. Dem rückwärtigen Chaos scheint eine Szenerie provisorischer, aber immerhin rudimentär wieder gewonnener Ordnung abgerungen. Kaum hat man sich diesen Bauplan der Bildregie vor Augen geführt, so stellen sich Nachfragen im Hinblick auf die motivischen und inhaltlichen Dimensionen des Fotos. Offen bleibt etwa die Herkunft des Flaggenmasts. Er mag ins Ruinenfeld geschleppt worden sein oder es mag sich um eine aus den Trümmern herausgelesene Stange handeln, die mit einem Rollenzug zum Flaggenmast improvisiert zurechtgerüstet wurde. Bei beiden Optionen bleibt die schiefe Aufrichtung allerdings auffällig genug. Man kann außerdem eine dünne Stange erkennen, die offenbar als zu leicht befunden und zur Seite gestellt wurde. Dieser Sorgfalt bei der Auswahl der Utensilien entspricht am Ende das zeremonielle Reglement, das über der gesamten Szenerie des Flaggenappells waltet. Die Feuerwehrleute sind während ihrer gefährlichen Rettungs- und Sicherungsarbeiten in den Ruinen des Welthandelszentrums in einem gemeinschaftlichen, patriotischen Akt des Innehaltens vor Augen gestellt. Die scheinbare Momentaufnahme erweist sich endgültig als ein Produkt minutiös kalkulierter Bildregie, als sie sich – unverkennbar – einer älteren Bildformel verdankt. Es handelt sich um Joe Rosenthals berühmtes Foto aus dem Zweiten Weltkrieg, das die Aufpf lanzung der amerikanischen Flagge auf Iwo Jima am 23. Februar 1945 zeigt (Abb. 3). Rosenthals Foto erinnert an die verlustreiche Eroberung der Pazifikinsel, die die Landung der Amerikaner in Japan einleitete. Die Aktion einer fünf köpfigen Gruppe von Soldaten, die in energischem Vordringen eine Fahnenstange ins öde Gelände einrammen, ist eine durch und durch nachgestellte Inszenierung. In vielfältigen Reproduktionen rückte das Foto in den populä-

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ren Bestand der amerikanischen Nationalikonographie ein.8 Es wurde nach dem Krieg als Briefmarke ausgegeben. Im Marinedenkmal auf dem Soldatenfriedhof in Arlington erfuhr es eine monumentale Steigerung zur Bronzegruppe. Edward Kienholz hat es auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges einer kritischen Revision unterzogen, als er in der Installation The Portable War Memorial (Köln, Museum Ludwig) die Gruppe zu einer Figurenassemblage technoider, leerer Hüllen umfunktionierte. Auf diese Weise im Bildgedächtnis verankert, genügte der Aufruf weniger Signalmotive, um bei dem Aktionsbild der New Yorker Feuerwehrleute mit dem schräg gestellten Flaggenmast als Sammelpunkt einer Gruppe von Uniformierten die historische Referenz unmissverständlich mitzuliefern. Für die Bedeutung des Fotos hat diese Referenz Folgen. Erst durch den Rückverweis auf die Ikonographie des Zweiten Weltkriegs wird es dem Betrachter ermöglicht, die Leerstellen des Bildes zu schließen und letztlich das Attentatsgeschehen des 11. September als historisches Ereignis – nämlich in Analogie zu den Schlachten des Zweiten Weltkriegs – einzuordnen. Das Foto der Feuerwehrleute erscheint vor der Folie des Iwo Jima-Fotos auf eine ganz paradoxe Weise als ein ziviles, aber gleichermaßen triumphales Eroberungsbild. Dieser Gehalt hat wesentlich mit dem Ruinenfeld des ground zero zu tun, das nun in der Gattungstopik des Schlachtenbildes ebenso als Schlachtfeld wie als erobertes Territorium zu begreifen ist.9 Ruinenbilder von Hochhäusern dieser Dimensionen erwiesen sich nach dem 11. September als ein neuer Anblick. Moderne Hochhäuser waren mit ihrer geschichtslosen Oberf läche kaum als Ruinen denkbar. Natürlich wurden auch Hochhäuser immer wieder in Sprengungen niedergelegt, bei solchen Zerstörungen handelt es sich aber um planmäßig organisierte Abbruchkampagnen, bei denen von den Bauten in der Regel keine Ruine, sondern eine säuberlich ausgebreitete Schutthalde übrigbleibt. Nach dem 11. September hat man sich recht bald an die Sprengung der Wohnsiedlung Pruitt-Igoe in Saint Louis erinnert. Diese war von Minoru Yamasaki, dem Architekten der Twin Towers, geplant und knapp zwei Jahrzehnte nach ihrer Fertigstellung im Jahr 1972 schon wieder gesprengt worden. Die Rhapsoden der Postmoderne feierten das Foto als Fanal des Scheiterns der funktionalistischen Moderne.10 Im Gegensatz zu solchen Sprengungen haben die Attentate auf das Welthandelszentrum hingegen gigantische Ruinen8 Karal Ann Marling und John Wetenhall: Iwo Jima. Monuments, Memories and the American Hero, Cambridge, MA. 1991; Pamela C. Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen. Betrachtungen über eine patriotische Ikone der Medienlandschaft, in: Franke und Früchtl: Kunst und Demokratie, S. 19-44; Hans-Werner Schmidt: Edward Kienholz. The Portable War Memorial. Moralischer Appell und politische Kritik, Frankfurt/M. 1988. 9 Vgl. Bernd Hüppauf: Ground Zero und Afghanistan. Vom Ende des fotografischen Bildes im Krieg der Unschärfen, in: Fotogeschichte 22 (2002), S. 7-22. 10 Zur Geschichte der Fotos von der Sprengung des Wohnkomplexes Heinrich Klotz: Weitergegeben. Erinnerungen, Köln 1999, S. 76-77 sowie die Fotoillustrationen bei Charles

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reste hinterlassen. Sie waren für die Rettungskräfte gefährlich wie Minenfelder. Am Tag der Attentate und in den darauffolgenden Tagen starben 343 Feuerwehrleute bei ihrer Arbeit in den Ruinen. Das Foto von den Feuerwehrleuten wies der Wahrnehmung eine Richtung, die Ruinen als Überreste eines Schlachtfeldes nach dem Bombardement aufzufassen. Diese Konnotation wird schließlich überlagert von der Topik des eroberten Territoriums. Denn nach dem Eindringen der Terroristen in das Staatsgebiet der USA dokumentiert das Bild eine symbolische Rückeroberung des Landes. Auch dieser Gehalt des New Yorker Fotos begründet sich aus dem Rückverweis auf die Bildlichkeit des Zweiten Weltkriegs. Ging es bei der Aufrichtung des Sternenbanners auf dem Iwo Jima-Foto um die territoriale Eroberung des Pazifikraumes, so wird dieselbe symbolische Handlung im New Yorker Bild für die Restituierung der territorialen Integrität des Landes in Dienst genommen. Erst so ist zu erklären, dass das New Yorker Foto auch wieder zurück ins Kriegsgeschehen eingespeist werden konnte. Dies dokumentiert ein Anfang Dezember 2002 aufgenommenes Foto von Soldaten der amerikanischen Invasionstruppen in Afghanistan, die der geläufigen Regieanweisung gemäß die Nationalf lagge aufrichten. Bei der Flagge handelt es sich um ein Geschenk der New Yorker Feuerwehr, die sie zusammen mit der Stadtfahne von New York den Invasionstruppen übermittelten (Abb. 4).11 Die noch einige Jahre später in Autos und an Gebäude aufgehängte und damit im New Yorker Stadtbild allgegenwärtige Fotografie der Feuerwehrleute in den Ruinen des World Trade Center macht eine Mitteilung, deren Verständnisrahmen in den öffentlichen politischen Diskussionen und offiziellen Verlautbarungen abgesteckt ist. Zugleich erfahren diese Debatten in dem Bild eine sinnfällige Umsetzung und Bekräftigung. Die Titulierung der Attentate als Krieg gegen die USA, die schon in den ersten Schlagzeilen aufgetaucht war, wurde spätestens drei Tage später zur offiziellen politischen Doktrin erhoben und in den darauffolgenden Monaten unter dem Stichwort des globalen „war on terror“ zum zentralen außenpolitischen Paradigma der Bush-Administration.12 Die eminente Tragweite dieser Jencks: The Language of Postmodern Architecture, London 1977, S. 9 und Tom Wolfe: From Bauhaus to Our House (1981), New York 2000, S. 63. 11 U.a. publiziert in der Süddeutschen Zeitung am 5./6.12.2001. 12 Die Literatur zum „war on terror“ ist mittlerweile immens; vgl. nur die frühen Untersuchungen aus kriegsideologischer und mediengeschichtlicher Sicht: Richard Jackson: Writing the War On Terrorism. Language, Politics and Counter-terrorism, Manchester/New York 2005; Erin Steuter und Deborah Wills: At War With Metaphor. Media, Propaganda, and Racism in the War On Terror, Lanham 2008; Wolf Mackiewicz: Winning the War of Words. Selling the War On Terror From Afghanistan to Iraq, Westport Conn. 2008; Manfred B. Steger: The Rise of Global Imaginary. Political Ideologies From the French Revolution to the War On Terror, Oxford 2008. Zu den städtebaulichen und architektonischen Folgen aus

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Entscheidung hat sich in den Jahren seit 2001 mit den Interventionen in Afghanistan und im Irak gezeigt. Der Gleichsetzung von Terrorismus und Krieg wurde zusätzlich Vorschub geleistet durch den historischen Vergleich der Anschläge mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour, der die USA im Dezember 1941 zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg veranlasste. Insofern erscheint es als ein konsequenter strategischer Zugriff, für das New Yorker Foto eine Bildepisode aus dem Pazifikkrieg zu reaktivieren. Das Foto, das auf ein militärisches Gepräge weitgehend verzichtet, erscheint so als ein Appell an die amerikanische Zivilgesellschaft, sich der Kriegsoption als Antwort auf die Attentate anzuschließen. Gleichermaßen entscheidend ist, dass sowohl auf der Ebene der politischen Debatten wie auf der Ebene der bildlichen Äußerungen eine Historisierung des Geschehens vollzogen wurde. Die Attentatserie wurde in eine historische Kontinuität eingereiht und die Bildlichkeit war wieder in den Stand gesetzt, den zunächst ausgebliebenen, nun freilich auch erheblich ideologisierten Verständigungsbedarf über das Ereignis zu befriedigen. Die Historisierung der Attentate im Sinne von deren Zurückbindung in eine geschichtliche Kontinuität blieb bei ihrer bildlichen Kommentierung und Deutung ein Grundanliegen. Sie konnte freilich weit weniger staatstragend ausfallen als auf dem Foto von den Feuerwehrleuten. Im bildlichen Niederschlag, den das Ereignis jenseits der ikonisch erstarrten Fotografien bald nach den Attentaten gefunden hat, gehört eine im Internet veröffentlichte Sequenz von Fotomontagen zu den eindrücklichsten Zeugnissen. Die Serie wurde Anfang Oktober 2001 ins Netz gestellt und umfasste mehrere Dutzend Bilder. Danach wurde sie beträchtlich erweitert und auch in Teilen überarbeitet. Die Abbildung zeigt eine Montage der ersten Fassung vom Oktober 2001 (Abb. 5). Die Bildfolge stellt einen Mann, der als Touristguy abruf bar ist, fast identisch wiederkehrend, ausdruckslos und eigentümlich blasiert vor einer Bildchronik von Katastrophen dar. Die Explosion des Zeppelin in Lakehurst 1937, der Absturz des Concorde-Flugzeuges in Paris 2000, die Atombombenabwürfe in Japan 1945, die Zerstörung des World Trade Centers 2001 – die Ereignisorte scheinen dem Touristguy jenseits seiner Anwesenheit nicht viel zu bedeuten. Auf dem Dach des World Trade Center findet er sich fatalerweise noch rechtzeitig zum Anf lug des Flugzeugs ein. Es mag sich erübrigen, auf die einzelnen Bilder detaillierter einzugehen. Die Serie verleugnet ja keineswegs den Charakter des zusammen gelesenen, eilig fabrizierten Trashs, wie er dem ephemeren Medium des Internets auch nur zu angemessen ist. Im Gegenzug stellt sich die Bildsemantik aber als ganz der Versicherheitlichung u.a. David Lyon (Hg.): Surveillance After September 11, Cambridge 2003; Stephen Graham (Hg.): Cities, War, Terrorism. Towards an Urban Geopolitics (Studies in Urban and Social Change), Malden MA. 2004; Derek Gregory und Allan Pred (Hg.): Violent Geographies. Fear, Terror, and Political Violence, London 2007.

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und gar nicht banal heraus. Der Tourist ist ein Wiedergänger durch die Historie, der durch Zeiten und Räume hindurch stets pünktlich zur Stelle ist. Der enzyklopädische Sammler von Sensationen erweist er sich darüber hinaus auch als ein Aktivist des globalen Sightseeing. Das New Yorker Attentat, das immerhin den Anlass für die retrospektive Ausarbeitung der Bildfolge gab, reiht sich völlig unauffällig in die Serie ein. Das Ergebnis führt einen auf Abwege. Denn die Historisierung des Geschehens leistet nicht der Relativierung der einzelnen abgebildeten Ereignisse Vorschub, sondern fügt nur jeder Katastrophe eine weitere hinzu. Mit dieser Einreihung der Attentate in eine nicht enden wollende Chronik von Katastrophen wird durch die Bildserie zu einer ins absurde Extrem vorangetriebenen Konventionalität der New Yorker Attentate behauptet. Der so verstandene Rekurs auf die Konvention ist bereits im Bildtypus der Fotomontagen angelegt. Offensichtlich ist die Formel des Andenkenfotos geradezu insistierend monoton reproduziert. Sie hat ihre Wurzeln im Reiseporträt des 18. Jahrhunderts; ein berühmtes Beispiel ist das von Wilhelm Tischbein 1787 gemalte Porträt, das Goethe vor den antiken Ruinen in der römischen Campagna zeigt (Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut). Gemäß dem populären Bildtypus soll die Postierung des Reisenden an einem signifikanten Ort seine Augenzeugenschaft und darüber hinaus die innere Affinität des Reisenden mit dem Ziel der Reise beglaubigen. Das Schema der Zuordnung von Person und Hintergrund signalisiert den neuen, durch die Reise gewonnenen und erweiterten Erfahrungshorizont. Nun sind auf den Fotomontagen im Hintergrund des Internet-Touristen aber nicht dauerhafte Wahrzeichen abgebildet, sondern plötzlich hereinbrechende Ereignisse. Die für den arglos Anwesenden letztlich tödlichen Katastrophen werden in der Bildfolge arretiert, das Ereignis wird mit einem monumentaldauerhaften Wahrzeichen gleichgesetzt. Da es sich bei den Ereignissen um Katastrophen handelt, wird auch deren Wahrzeichenwert ins Destruktive gewendet. Die distanzierte Hintergründigkeit des emblematischen Wanderers geht zu den offiziell verordneten Bildwelten über das New Yorker Ereignis auf denkbar weite Distanz. Auch hier wird eine Historisierung erkennbar, nun ist sie aber nicht mehr in den Dienst der Affirmation gestellt, sondern bietet einen illusionslosen Gegenentwurf. Trotz dieser skeptischen, geschichtskritischen Tendenz äußert sich auch in der Bildserie der Fotomontagen das Grundanliegen geschichtlicher Einordnung und Historisierung. Die Attentatserie des 11. September war nicht nur ein Gewaltausbruch gegen Menschen, sondern auch ein Anschlag auf Geschichtsbilder. Dadurch, dass in der Bildserie ein Geschehen zum Wahrzeichen und ein Ereignis zum Monument umformuliert werden, verweist sie auf das Problem des Ereignisses selbst.

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Der Begriff des Ereignisses Es ist ein seltsamer Zufall, dass die Differenz von historischem Ereignis und Alltagsgeschehen in einer Fotomontage von John Baldessari ausgerechnet am Beispiel der Zerstörung des World Trade Centers bildlich durchexerziert worden war. Die Fotomontage entstand bereits 1990, also lange vor den Anschlägen (Abb. 6).13 Das Doppelbild zeigt im oberen Teil ein Personenpaar in der Kleidung der späten 60er Jahre, ein Mann steht neben einer Frau mit Hand- und Einkaufstasche. Vor die Gesichtsfelder sind ein roter und grüner Punkt gesetzt, ein bei Baldessari wiederkehrendes Motiv, das seine Herkunft im Blick durch den Sucher einer Kamera oder in den bei Sehtests verwendeten Probelinsen hat. Die Gesichter werden durch die in den Grundfarben aufgemalten Venylpunkte im Wortsinn fokussiert aber auch verborgen. Die kreisrunden Leerstellen verdecken die Gesichter, Betrachterinnen und Betrachter sind durch die gleichzeitige Markierung und Tilgung der Gesichter herausgefordert, sich die Physiognomien der Personen vorzustellen. In der unteren Bildhälfte erscheinen die Twin Towers im Moment der Destruktion. Unter einem vom Himmel hereinrasenden Feuersog zerbersten die oberen Bereiche der Türme und scheinen sich in den Schlieren der Materialfragmente ineinander zu verschlingen. Die Zwillingstürme und das Personenpaar darüber sind axial aufeinander bezogen. Bei allen offensichtlichen Kontrasten ist es die Paarbildung als Verkörperung einer perfektionierten oder zumindest konventionell akzeptierten Ordnung, die Baldessari zu deren künstlerischer Infragestellung provoziert hat. Die angespannte Beziehung zwischen beiden Bildhälften ist auch im Bildtitel aufgenommen: Two Highrises (With Disruption) / Two Witnesses (Red and Green). Wie in der Fotomontage anonyme Figur gegen Figur gestellt ist, so sind im Bildtitel Begriff gegen Begriff gesetzt. Durch den Titel wird auf das in beiden Fotos latent vorhandene gemeinsame Thema angespielt. Gezeigt werden eine banale Alltagssituation und das katastrophale Ereignis. Beide treten in Baldessaris Arrangement in einen formalen und inhaltlichen Dialog mit offenem Ausgang. Die zwei Bilder verweisen auf Ausschnitte aus weiter ausgedehnten Handlungssträngen, es bleibt aber unklar, ob sich diese verknüpfen lassen. Baldessaris Combined Photograph verweist durch die Parallelität der Abbildungen auch auf die mögliche Simultaneität des Geschehens: In der Imagination des Betrachters passieren das Alltagsgeschehen und das katastrophale Ereignis gleichzeitig. Baldessaris Werk ref lektiert eine Differenz, die auch in der historiographischen Methodendebatte während der vergangenen Jahrzehnte wieder in den Vor13 Vgl. „Tomorrow for Ever. Architektur / Zeit / Photographie“ (Ausstellungskatalog Krems), hg. von Carl Aigner u.a., Duisburg 1999, S. 125; zum Werk des Künstlers „Baldessari. While something is happening here, something is happening there. Works 1988-1999“ (Ausstellungskatalog Hannover), Hannover 2000; „John Baldessari. Pure Beauty“ (Ausstellungskatalog London 2009), München 2009.

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dergrund gerückt ist und im Zuge derer der Ereignisbegriff eine nachdrückliche Aufwertung erfahren hat.14 Als ein entscheidendes Kriterium dieses Begriffskonzepts erscheint die Tatsache, dass Ereignisse als ebenso unerwartet wie außergewöhnlich wahrgenommen werden. Nach einer Formulierung von Reinhart Koselleck zeitigt jedes Ereignis „mehr und zugleich weniger als in seinen Vorgegebenheiten enthalten ist: daher seine jeweils überraschende Novität.“15 Die Qualitäten des Überraschenden und Außerordentlichen prägen beim Ereignis jedoch nicht nur das Verständnis einzelner Zeitgenossen, sondern erreichen einen sozial geteilten, kollektiven Erfahrungs- und Erwartungshorizont, der durch breit vermittelte Geschichtstraditionen und gemeinsam verbindliche Konventionen konturiert wird. Ereignisse sind – so hat sie Andreas Suter bezeichnet – „kulturelle Schöpfungsleistung kollektiver Akteure“.16 So wie sie in der zeitgenössischen Wahrnehmung aus der Wirklichkeit hervorbrechen, kommt ihnen selbst ein die Realität verändernder Charakter zu. Beruht einerseits die Individualität und Veränderungskraft von Ereignissen auf ihrer Differenz zu längerfristig angelegten Strukturen, so verändern Ereignisse andererseits die strukturellen Gegebenheiten, aus denen sie hervorgegangen sind. Am 11. September wurde die anfänglich erlebte Singularität des Ereignisses im Diktum, „die Welt sei nicht mehr wie vorher“, in eine Formel gefasst. Mit der Einschätzung des Singulären geht die Wahrnehmung einher, dass ein Ereignis in alle Lebensbereiche diffundiert. Auch diese Vorgänge waren nach dem 11. September beispielhaft in der Berichterstattung der Zeitungen nachzuvollziehen. Das Ereignis bestimmte nicht nur die harten Sektoren der Berichterstattung von Politik und Wirtschaft, sondern auch die Bereiche von Kultur und Sport bis hinein zu den vermischten Meldungen. Der Wahrnehmung eines durch das Ereignis ausgelösten beschleunigten Wandels entsprechen schließlich ebenfalls kollektive Formen der Verarbeitung. 14 Vgl. Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik 5), München 1973; Annette Verhein: Das politische Ereignis als historische Geschichte. Auslandskorrespondentenberichte des Fernsehens in historiographischer Perspektive, Frankfurt/M. 1990; Reinhard Blänker und Bernhard Jussen (Hg.): Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen des gesellschaftlichen Ordnens (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 138), Göttingen 1998; Andreas Suter und Manfred Hettling (Hg.): Struktur und Ereignis (Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft. Sonderheft 19), Göttingen 2001; Dietrich Erben: Geschichtsüberlieferung durch Augenschein. Zur Typologie des Ereignisdenkmals, in: Achim Landwehr (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg 2002, S. 219-248; Lucian Hölscher: Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003. 15 Reinhart Koselleck: Ereignis und Struktur, in: Ders. und Stempel: Geschichte, S. 560-571, S. 566. 16 So die Definition von Andreas Suter: Theorien und Methoden für eine Sozialgeschichte historischer Ereignisse, in: Zeitschrift für historische Forschung 25 (1998), S. 209-243, S. 210.

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Dazu gehört eine mehr oder minder konsensfähige Verständigungsformel für die Bezeichnung des Geschehens. Dies war nach dem 11. September an der schrittweisen Eindämmung der Begriffsvielfalt abzulesen. Gegenüber den biblischen Analogien wie „Doomesday“, den kulturkritischen Benennungen wie „Clash of Civilisations“ oder den sprachlichen Hybridbildungen wie „Terrorangriff“ oder „Kamikaze-Attacken“ setzte sich am Ende der Kriegsbegriff als Bezeichnung für die Angriffe durch (Abb. 7).17 In dem Maße, in dem er dann definitorisch die Oberhand gewann, folgte er nicht nur manifesten politischen Interessen. Mit ihm wurde auch das Ereignis zur Geschichtstradition in Relation gesetzt. Diese Verständigungsprozesse und Bewältigungsstrategien sind auf mediale Vermittlung regelrecht angewiesen. Wenn ein Geschehen nicht publik wird, ist es kein Ereignis. Die Bewertung eines Geschehens als Ereignis verdankt sich einer zutiefst visuellen Form der Wirklichkeitserfahrung. Ereignisse sind sowohl in ihren Handlungsträgern, in ihrem Aktionsverlauf wie in ihren Folgen sichtbar. Dies gilt auch für die Aktionen und Destruktionen, die Akteure und Opfer des 11. September. Mehr als Texte dies zu leisten im Stande sind, wird das Ereignis durch die Anschauung glaubhaft. Nicht nur die Fernsehbilder der Angriffe, sondern auch die von den Attentaten provozierten bildlichen Kommentare dienten dazu, das Ereignis des 11. September in seiner Evidenz zu konstituieren – dies verweist eindringlich auf die etymologische Wurzel der historischen Erkenntniskategorie des Ereignisses im Begriff des „Eräugens“ (lat. „evidere“). Blickt man noch einmal auf die ersten Fernsehbilder der Attentate zurück, so gehört es sicherlich zu den zentralen Aporien, mit denen Betrachterinnen und Betrachter konfrontiert waren, dass die von der Realität erzeugten Bilder einerseits aus den genannten Gründen als bisher ungesehen erlebt wurden, dass sie aber andererseits in der Imagination schon vorweggenommen waren. Die Zerstörung der Hochhäuser des Welthandelszentrums war seit der Fertigstellung der Türme in zahlreichen Kunstwerken zum Thema gemacht worden, und diese Werke entstanden aus jener „terroristischen Imagination, die in uns allen wohnt.“18 Es mag genügen, aus der Fülle von Beispielen aus Literatur, Film und Bildender Kunst auf die Fotomontage von John Baldessari hinzuweisen.

17 Hierzu die Dokumentation: Die erste Seite. Internationale Schlagzeilen nach dem 11. September 2001, Köln 2001. 18 Jean Baudrillard: Der Geist des Terrororismus. Herausforderungen des Systems durch die symbolische Gabe des Todes, in: Ders.: Der Geist des Terrorismus, hg. von Peter Engelmann, Wien 2002, S. 11-35, hier S. 12.

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Die Bildmotive und die Frage der Motivation Solche Imaginationen und die Bilder, die von den Attentaten in den dokumentarischen Medien selbst erzeugt wurden, sagen nichts über die Motive der Attentäter und über die Gründe für die Auswahl ihrer Ziele. Die Spekulationen darüber begannen unverzüglich. Dabei evozierten die Bilder des Anschlags wissenschaftliche Gegenbilder, und die Kunstgeschichte griff geradezu ref lexhaft zum Bildvergleich. Die Antworten fielen einigermaßen grundsätzlich aus. Einer der häufigsten Vergleiche war die Gegenüberstellung der Twin Towers und mittelalterlicher Stadttore oder Doppeltrumfassaden von Kathedralen (Abb. 8). Man reibt sich verblüfft die Augen. Solche geradezu absurden Bildassoziationen wären nicht der Rede wert, würden sich mit ihnen nicht weitreichende Deutungsabsichten verbinden. Der Bildvergleich unterstellt auf der einen Seite dem Architekten der Twin Towers solcherart historische Reminiszenzen als Teil seiner architektonischen Entwurfsidee. Auf der anderen Seite wurde zugleich insinuiert, die Terroristen hätten ihre Attacken gegen die Idee westlicher Urbanität ebenso gerichtet wie gegen die christlichen Grundlagen des Abendlandes. Weder die Bilder noch unser Wissen von den Aktionen selbst reichen für solche Behauptungen aus. Der Bauentwurf für das Welthandelszentrum war für lange Jahre ebenso umstritten wie die Bauplanung und -errichtung, die von den Vorwürfen der Korruption, der Gentrifizierung des Stadtviertels und der ökologischen Verantwortungslosigkeit begleitet waren. Erst allmählich fanden die Türme bei der Stadtbevölkerung Akzeptanz und etablierten sich wegen ihrer Aussichtplattformen als touristische Attraktion. Als der Architekt Minoru Yamasaki die Hochhäuser, die im Jahr 1973 nach nur achtjähriger Bauzeit eingeweiht wurden, entwarf, stellte er sich selbstbewusst in die Tradition des Hochhausbaus seit der klassischen Moderne.19 Bereits Le Corbusier konzipierte nach dem Ersten Weltkrieg seine Stadtentwürfe mit Hochhausrastern, schon hier marschieren die einzelnen Türme in Kolonnen mit völlig identischen Fassaden auf. Ludwig Mies van der Rohe postierte 1951 am Ufer des Michigansees in Chicago seine North Lake Shore Drive Apartments als Zwillingstürme, die in spannungsvoller Gegenüberstellung ähnlich wie später die am Hudson gelegenen Twin Towers in New York die Stadtsilhouette akzentuieren. Kurz darauf realisierte er ebenfalls in Chicago die Commonwealth Apartments als Doppeltürme. Der Gedanke der völlig identischen Spiegelung eines Hochhauses mochte bei Yamasaki auch durch das serielle Bildprinzip der Popart angeregt worden sein. Seit den frühen 1960er Jahren schuf Andy Warhol seine berühmten Porträtreihen im Siebdruckverfahren, in denen er das Verschwinden des Einzelnen in der Masse und die Selbstbehauptung des 19 Zu Entstehung, Form und Nutzung des Gebäudes vgl. Angus Kress Gillespie: Twin Towers. The Life of New York City’s World Trade Center, New Brunswick, N.J. 2001; Jean-Yves Andrieux und Frédéric Seitz: Le World Trade Center. Une cible monumentale, Paris 2002.

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Individuums gegen seine anonyme Vervielfältigung gleichermaßen zum Thema machte. Ähnlich ist bei den Zwillingstürmen auf ambivalente Weise die Individualität des Solitärs durch die Doppelung sowohl aufgehoben als auch bekräftigt. Die Hochhäuser wurden, alles in allem, keineswegs aus dem Geist der Kathedralbaumeister errichtet, sondern stehen in der Tradition eines aktualisierten Funktionalismus, der sich die Maximierung bei der Ausnutzung des Baugrundes und die bildhaften Qualitäten von Architektur zum Programm gemacht hat. Es gibt bislang weder ein Indiz noch einen Beweis dafür, dass sich die Terroristen des 11. September 2001 bei der Auswahl ihres New Yorker Ziels von anderen Motiven als desjenigen des logistischen Erfolgs leiten ließen. Dies umfasst die Garantie medialer Aufmerksamkeit ebenso wie die radikale Indifferenz im Hinblick auf das eigene Leben und die Anzahl der Opfer. Die Attentate des 11. September zielten auf Negation: An dieser Einsicht kommt gerade auch die seitdem unternommene akribische historische Analyse der Attentate nicht vorbei. Der islamistische Terrorismus ist geprägt von der Inanspruchnahme einer antagonistischen Ideologie, die sich politischer und religiöser Identifikationsmittel reduktionistisch bedient. Die Ideologeme folgen der Notwendigkeit, extrem vielfältige, geographisch weit gestreute transnationale Milieus – der Bogen spannt sich von Pakistan und Afghanistan über Saudi-Arabien, Irak, Iran und den Jemen und Äthiopien bis Ägypten und Nordafrika – zu homogenisieren. Innerhalb des terroristischen Netzwerks handelt es sich meist um ad hoc-Koalitionen, deren Programmatik sich auf formelhafte Ziele wie die Berufung auf den Ur-Islam und die Verwirklichung islamischer religiöser Würde jenseits von Staat und Nation in Analogie zum Gottesstaat. Eines der wenigen konkreten institutionellen Ziele besteht in der Errichtung des Kalifats.20 All dies kann nicht davon absehen lassen, dass der internationale Terrorismus im strengen Sinn unpolitisch ist. Er ist weder mit einem intentionalen Politikbegriff, der vor allem die Handlungsinteressen und -strategien bei der Organisation von Entscheidungen beschreibt, noch mit einem kommunikativen Politikbegriff, der auf ein Verständnis von der Gesamtheit gesellschaftlicher Austauschprozesse abzielt, vereinbar. Der Terrorismus lässt absichtsvoll keinen Raum für verhandelbare Forderungen und bricht mit der Übereinkunft rationaler Verständigung.21 Eine solche Einschätzung zieht auch Konsequenzen dahingehend nach sich, wie die visuellen Zeugnisse der Attentate zu verstehen sind. Sie zeigen die Durch20 Vgl. die in Anm. 5 genannte Literatur. 21 Zu dieser Bewertung Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/M. 1993; Ders.: Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer, Frankfurt/M. 2006. Zum Politikbegriff vgl. die lexikalischen Hinweise: Volker Sellin, Politik, in: Otto Brunner u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, 8 Bde, Stuttgart 19722004; Rainer-Olaf Schulze: Politik/Politikbegriffe, in: Dieter Nohlen (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft, 2 Bde. (2002), München 32005.

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setzung und die Folgen einer Massendestruktion, die von Seiten der Akteure die vorsätzliche Wahl der verwendeten zerstörerischen Mittel voraussetzt. Jede Absicht, aus den Bildern eine über diese Mitteilung hinausgehende Symbolik herauszulesen, läuft Gefahr, den Attentaten selbst eine Programmatik zuzuschreiben, die ihnen vermutlich nicht zukommt.

Monument und Ereignis: Denkmal- und Wiederaufbaupläne Fast kein Ereignis – so kann man als Faustformel festhalten – ohne Denkmal. Schon zwei Wochen nach den Attentaten wurde eine Denkmalkommission eingesetzt, die darüber befinden sollte, wie des Ereignisses in monumental-dauerhafter Form zu gedenken sei.22 Man stellt mit ziemlicher Verblüffung fest, in welchem Ausmaß die Analogie zum Zweiten Weltkrieg auch die Wiederauf bau- und Denkmalprojekte für den ground zero bestimmten. Die ersten Überlegungen der New Yorker Denkmalkommission waren von Rückgriffen auf Erinnerungsformen geprägt, die aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit bekannt sind. Dies galt für die anfängliche Idee, das Welthandelszentrum in seinen Ruinenresten zu bewahren, ebenso wie für das zunächst erwogene Projekt, die Türme völlig zu rekonstruieren, um mit ihrer ökonomischen Funktion auch ihren Wahrzeichenwert zu restituieren. Für die Ruinen-Option mag nur an die im Zweiten Weltkrieg zerstörte und dann als Ruinenmahnmal bewahrte Kathedrale in Coventry oder an die Berliner Gedächtniskirche erinnert sein. Die zweite Option lässt an den Wiederauf bau zerstörter Städte insbesondere in Osteuropa – wie Warschau oder St. Petersburg – denken. Deutschland hat diese Wiederaufbaudebatte bekanntlich erst im Zuge der Restauration des Gesamtstaates nach 1989 erreicht.23 Offensichtlich bildete sich in solchen von der New Yorker Denkmalkommission erörterten, historisierenden Rückgriffen auf Erinnerungsmodi, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg eingebürgert haben, erneut die politische Intention ab, die Terrorangriffe als kriegerische Akte zu klassifizieren. Gerade deshalb blieb auch ein Unbehagen gegenüber diesen konzeptionellen Vorschlägen für das Erinnern zurück. Dies gilt auch für das Projekt, die Türme des Welthandelszentrums mit Scheinwerferprojektionen als ephemer-feierliche Lichtarchitektur wiedererstehen zu lassen. Die Lichtinstallation der Twin-Towers wurde zum ersten Jahrestag der Anschläge einmalig realisiert. Sie entging nicht der öffentlichen Kritik, 22 Die Namen und Daten zu den folgenden Projekten beruhen auf der Auswertung von Zeitungsartikeln und Internetseiten, die nicht einzeln ausgewiesen werden. 23 Zur Geschichte baulicher Rekonstruktionen Uta Hassler und Winfried Nerdinger (Hg.): Das Prinzip Rekonstruktion, Zürich 2010 und „Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte“ (Ausstellungskatalog München), hg. von Winfried Nerdinger, München 2010.

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weckte sie doch auf fatale Weise Erinnerungen an die von Flakscheinwerfern als Lichtgehäuse erzeugten Lichtdome, in denen ab 1934 auf dem damaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg nächtliche Kundgebungen abgehalten wurden.24 Die Kritik ist bei dem ersten, ebenfalls zum Jahrestag öffentlich ausgestellten Versuch, der Erinnerung dauerhaft-monumentale Gestalt zu verleihen, vernichtend ausgefallen. Die Tumbling Woman des New Yorker Künstlers Eric Fischl tauchte in der Woche, in die der erste Jahrestag der Anschläge fiel, vor dem Rockefeller Center in Manhattan auf (Abb. 9).25 Sie wurde dort in Absprache zwischen Fischls Galeristin und dem Rockefeller Center postiert. Nachdem das Werk erhebliche Kritik in der Öffentlichkeit auf sich zog, hat das Center selbst umgehend dementiert, die Figur in Auftrag gegeben zu haben. Sie wurde nach einer Woche mit einer Stellwand verhüllt und am Nachmittag des 18. September 2002 wieder fortgeschafft. Heute befinden sich die fünf Exemplare, die von der Statue gegossen wurden, in Privatsammlungen. Die lebensgroße Bronzestatue stellt eine gestürzte nackte Frau beim Aufprall auf den Boden dar. Der Ikonographie wurde mit einer sentimental anmutenden Inschrift auf einer Bodenplakette, bei der es sich um ein Gedicht des Künstlers handelt, aufgeholfen: „We watched, / disbelieving and helpless, / on that savage day / People we love / began falling / helpless and in disbelief.“ In der konf liktträchtigen Rezeption der Statue verstärkten sich wechselseitig die Widersprüche des Werks und die Aporien innerhalb einer Öffentlichkeit, die weder damals noch heute zu einem Konsens über Formen und Inhalte der Erinnerung gelangt ist. Dem Künstler selbst wurde vorgeworfen, er sei zur künstlerischen Auseinandersetzung mit den Attentaten nicht berechtigt, da er sich am 11. September nicht in New York aufgehalten habe. Die Anfeindungen gegenüber Fischls Statue bezogen sich auf die Motivwahl ebenso wie auf die gegenständliche Bildsprache. Der Künstler verletzte das Tabu der Darstellung der Menschen, die sich aus den Fenstern der Hochhäuser zu Tode stürzten. Deren Bilder waren schon früh aus den Endlosschleifen des Fernsehens verschwunden, und man findet sie kaum in den vielen Fotobüchern, die zum 11. September erschienen sind. Verbreitung fand zwei Tage nach den Attentaten das Foto von Richard Drew mit dem Titel „The Falling Man (11 september 2001)“, das einen zum Schemen distanzierten Menschen im Sturz vor dem völlig abstrakten Streifenlineament der Gebäudefassade zeigt und durch die Fernsicht auf den Stürzenden sowie durch Retouchen am Bild den Schrecken des Geschehens an das Erleben des Betrachters 24 Kathleen James-Chakraborty: The Drama of Illumination. Visions of Community From Wilhelmine to Nazi Germany, in: Richard A. Etlin (Hg.): Art, Culture, and Media under the Third Reich, Chicago 2002, S. 181-201. 25 Randall K. Van Schepen: Falling, failing 9/11: Eric Fischl’s Tumbling Woman debacle, in: Aurora. The Journal of the History of Art 9 (2008), S. 116-143.

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zurückverweist. Fischl bewahrt hingegen eine nahsichtige Gegenständlichkeit und geht mit seiner Stürzenden sogar noch einen Schritt weiter. Denn er stellt nicht den Sturz, sondern den Aufprall dar. Er legt es darauf an, mit einem Bild zu provozieren, für das es keine Darstellungskonventionen gibt und verstrickt sich doch zugleich in einer konventionellen Formensprache. Die Aktdarstellung entrückt das Opfer in eine unangemessene Zeitlosigkeit. Die geknickte Körperhaltung erinnert an die aus aktuellem Anlass invertierte Statuarik einer Sitzfigur in der Art von Michelangelos Ignudi an den Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle. Schließlich spielt die Figur in ihrer gegenständlichen Prägung auf eine Ikonographie des Jüngsten Gerichts an, die den Sturz der Verdammten als gerechte, durch die Teufel vollzogene Strafe der Sünder vorführt. Die Opfer der Anschläge – so lasst sich das aus der Formensprache des Werks dargelegte Bildargument verstehen – erleiden den Sturz aus eigener Schuld. Damit hat sich der Künstler in kaum mehr aufzulösende Widersprüche hineinbegeben, die in der öffentlichen Kritik teils aufgenommen, teils auch polemisch zugespitzt wurden. Das Werk, das als ein erstes Denkmal geplant war, wurde von der Öffentlichkeit delegitimiert und als Monument der Erniedrigung der Opfer aus der Öffentlichkeit verbannt. Fischls Figur und die sich daran entzündende Empörung hatten in den Monaten nach den Attentaten symptomatischen Charakter. An der Statue lässt sich beispielhaft ablesen, dass die künstlerische Verarbeitung der Ereignisse zumindest mit den traditionellen Mitteln der Kunst nicht gelungen ist. Durch die Tumbling Woman wurde eine amerikanische Öffentlichkeit alarmiert, die noch auf der Suche nach geeigneten Formen des öffentlichen Gedenkens an die Anschläge war. Darüber hinaus fügt sich die Statue Fischls auch in eine breite Front der Ablehnung bündig ein, die sich gegenüber den ersten Plänen für den Wiederauf bau der Trade Towers formierte. Die ersten Entwürfe für die Neubauung des Grundstücks, auf dem das World Trade Center gestanden hatte, wurden im Juli 2002 vorgestellt.26 Es handelte sich um einen Masterplan des New Yorker Büros Beyer-Blinder-Belle, das den Auftrag von der nach der Zerstörung der Bürotürme gegründeten Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) erhalten hatte, ohne dass diese Entscheidung zunächst an die Öffentlichkeit gelangt wäre. Nun wurde der Ruf nach der Ausschreibung eines internationalen Wettbewerbs umso lauter. Von einer Bürgerinitiative, die unter dem Veranstaltungstitel „Listening to the City“ einen ganztägigen Kongress organisierte, wurde nicht nur den Plänen des Investors eine Absage 26 Zu den Neubauplänen vgl. als frühe publizistische Reaktionen „A New World Trade Center“ (Ausstellungskatalog New York), New York 2002; Suzanne Stephens u.a.: Imagining Ground Zero. Official and unofficial proposals for the World Trade Competition, London 2004; Ellen Kloft: „Ground Zero“ – Mythos und Symbol in der gegenwärtigen Architekturdebatte, in: Anke Köth u.a. (Hg.): Die Erschaffung einer neuen Welt (Building America 3), Dresden 2005, S. 331-349.

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erteilt, sondern auch die Kernpunkte eines differenzierten Bauprogramms formuliert. Gefordert wurde eine Wettbewerbsausschreibung sowohl für die Gebäude als auch für eine Gedenkstätte. Verlangt wurde sowohl eine wahrzeichenhafte Gestalt der neuen Hochhausbauten als auch die Mischnutzung der Gebäude, die neben Büros auch Wohnungen und Schulen beherbergen sollten. Die plebiszitäre Euphorie dieser Initiative konnte bereits damals nicht übersehen lassen, dass neben den technischen Problemen die juristischen Grundlagen für die Kooperation und die geteilte Planungsverantwortung zwischen der New Yorker Port Authority als dem Grundstücksbesitzer und dem Immobilientycoon Larry Silverstein als dem Pächter des World Trade Center nicht geklärt waren. Als im Januar 2002 in der New Yorker Galerie von Max Protetch eine Ausstellung mit Architekturprojekten zum Wiederauf bau des Areals eröffnet wurde, handelte es sich dabei um einen weiteren Schritt plebiszitärer Eigeninitiative und Selbstbeteiligung seitens einer kritischen Öffentlichkeit.27 Bereits der Nebentitel der Ausstellung, „Unofficial Design Proposals“, signalisierte die Distanz zu den Kommunalbehörden sowie zu den Investoren. Die mehr als fünfzig Architekturbüros, die sich weltweit beteiligten, verstanden ihre Entwürfe zunächst als Diskussionsvorschläge für die Wiederbebauung und sie nutzten die Präsentation darüber hinaus auch als Möglichkeit, sich als Kandidaten für einen Auftrag ins Spiel zu bringen. Mehrere funktionale und formale Aspekte erscheinen bei der Durchsicht der Projekte als zentrale Anliegen der Architekten: Die Option einer variierten Rekonstruktion des alten World Trade Center wurde nach wie vor aufrechterhalten, jedoch mit einem Konzept erweiterter privater und öffentlicher Nutzungen verbunden. Entsprechend der Erwartung, die Neubauten müssten wie die zerstörten Vorgängerbauten eine städtebaulich dominierende Baugruppe darstellen, halten die Architekten an der Gebäudetypologie des Hochhauses fest, doch den Entwürfen steht – wenn man so will – der Schrecken der Anschläge ins Gesicht geschrieben. In zahlreichen Projekten sind auf der einen Seite die Tragwerksstrukturen so ausgelegt, dass sie einem erhöhten Horizontaldruck standhalten, während auf der anderen Seite gebündelte Turmsysteme oder Gitterstrukturen Verbindungen zwischen den Türmen und Fluchtwege nach unten gewährleisten sollen (Abb. 10). Diese Ideen bildeten die Grundlage für den weltweit offenen Wettbewerb, der im August 2002 von der Lower Manhattan Development Corporation und der New Yorker Port Authority ausgelobt wurde. In mehreren Verfahrensschritten wurden am Ende sieben Architekturbüros mit der weiteren Ausarbeitung ihrer Projekte beauftragt. Zu ihnen gehörte das Berliner Studio Daniel Libeskind, das im Februar 2003 den Zuschlag erhielt. Nach wenigen Monaten wurde Libeskind der Hausarchitekt von Larry Silverstein, David Childs vom Büro Skid27 Vgl. „A New World Trade Center“.

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I. Politische Ikonographie: Denkmäler und Bauwerke

more Owings & Merrill, zur Seite gestellt. Dem Hochhausbauer Childs wurden schließlich die Kompetenzen als alleiniger Entwurfsarchitekt und Projektleiter übertragen, während Libeskind nur noch in beratender Funktion fungierte. Der Neubau der Hochhäuser und der Gedenkstätte wurden seit 2004 verwirklicht. Das Ausgangsprojekt von Daniel Libeskind sah einen Kranz von sechs Hochhäusern vor, die sich in der Art einer Treppe zu einer spitzen Nadel in die Höhe schrauben (Abb. 11-12). Die Gebäudegruppe f lankiert die leere Betonwanne der ehemaligen Twin Towers. Deren schrundige Betonwände sollten so belassen werden, wie sie nach dem Abtragen des Schutts und der Ruinen hervortraten. Man kann die Hohlform als Ruinenrest der Türme selbst oder als eine Negativform von deren ehemaliger Existenz auffassen. Damit bilden sie auch einen Ref lex auf die ersten Ideen, die Türme als Ruinen zu bewahren und sie als Lichtarchitektur zu fingieren. Die Denkmalkonzeption greift mit dieser leeren Hohlform maßgeblich auf den Prozesscharakter des Ereignisses vom 11. September zurück. Denn das Denkmal verdankt sich – so sollen wir glauben – nicht einer kreativen Kunstanstrengung, vielmehr hat die Katastrophe selbst den Gedenkort hervorgebracht. Der Ort der Destruktion und der leiblichen Relikte der Verschwundenen sollten sichtbar bleiben. Das Kies und die Schuttreste, die am Boden des Betonkraters belassen werden sollten, wären mit der Asche von Toten vermischt gewesen. Hier gab es vehementen Widerspruch von Seiten der Opferorganisationen, der das Vorhaben zu Fall brachte. Während sich dieser Teil der Denkmalkonzeption gerade in seinem Formreduktionismus als durchaus diskutabel dargestellt hätte, entgehen die weiteren Elemente nicht einer Rhetorik des patriotischen Symbolismus. Mit ihm wird dem Totengedenken eine Metaphorik des Optimismus entgegenhalten. Das pfeilförmige Hochhaus sollte 1776 Fuß – 540 Meter – hoch sein, wobei die Ziffer der Höhenbemessung an das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung erinnern soll. Es stand freilich beim Entwurf Libeskinds noch im Wortsinn in den Sternen, was ein bedeutsames historisches Datum mit einer Gebäudehöhe zu tun haben soll und wie der Turm, dessen Gipfel die Gardens of the World mit den Weltklimazonen hätte aufnehmen sollen, technisch zu realisieren gewesen wäre. Die geplante Pfeilform versteht der Architekt als eine direkte Reminiszenz an die Silhouette der Freiheitsstatue – der Tower of Freedom ist so in eigentümlicher semantischer Redundanz ein Denkmalzwilling des Denkmals der Statue of Liberty. Auch zwei Plätze sind Bestandteil dieser urbanistisch bemessenen Bedeutungsmaschinerie. Euphemistisch als „Keil des Lichts“ und als „Park der Helden“ benannt, sollten die Platzanlagen an jedem 11. September jeweils an dem Moment, als das erste Flugzeug einschlug und als der zweite Turm niedersank, ohne Schatten sein. Libeskind wurde unverzüglich hinterdrein gerechnet, dass sich diese Konstellation wegen der vorhandenen Randbebauung gar nicht ergibt.

Mediale Konfigurierung eines Ereignisses

Der Grundstein des von David Childs überarbeiteten Projekts für den Tower of Freedom wurde nach erheblichem Druck seitens der Stadt New York und der Öffentlichkeit im Jahr 2007 gelegt. Errichtet wurde ein sich nach oben verjüngender und verdrehender Büroturm auf rombenförmigem Grundriss. Über dem 60. Stockwerk schließt eine Aussichtsplattform in 335 Metern Höhe den bewohnten Teil des Turmes ab. Darüber setzt sich das Gebäude mit einem fast 200 Meter hohen halboffenen Auf bau fort, in den Windturbinen zur Stromversorgung des Hochhauses installiert werden sollten. Ein darüber aufgepf lanzter Sendemast ragt als spitze Nadel bis in die symbolische Höhe der 1776 Fuß hinauf. In der Childs-Version ist die große, zum Himmel strebende triumphale architektonische Geste des Wolkenkratzers mit unverkennbar nationalen Konnotationen noch geblieben. Aber ebenso unverkennbar ist im ikonologischen Gehalt des Projekts der Aspekt der Erinnerung an das Attentat und an die Toten in den Hintergrund getreten gegenüber schieren Renditeerwägungen sowie gegenüber dem Anspruch, dem Großbau zu ökologischer Akzeptanz zu verhelfen. Der Ökologie- hat den Erinnerungsdiskurs abgelöst. Von Libeskinds ursprünglicher Kristallspirale aus Hochhäusern, die sich in stilistischem Einklang zum Tower of Freedom hinauf winden sollten, ist fast nicht mehr übrig geblieben, nachdem 2006 die Entwürfe für die Einzeltürme an verschiedene Architekten (Büros Norman Foster, Richard Rogers und Fumihiko Maki) vergeben wurden. Für den Gedächtnispark liegt seit Januar 2004 ein Entwurf von Michael Arad und Peter Walker vor (Abb. 12).28 Der Gedenkort wird ergänzt um einen Museumsbau, der vom Osloer Architekturbüro Snohetta gestaltet wird. Der Memorial Plaza liegen die zwei quadratischen Becken der footprints der Twin Towers zugrunde. Wasser f ließt an den Beckenrändern herab und sammelt sich in einer mittleren Vertiefung. Die Wandungen sind von unterirdischen Wandelgängen umgeben, die zum Wasser hin offen sind und mit Schrifttafeln, in welche die Namen der Opfer eingeprägt sind, ausgestattet werden. Die beträchtlichen Freif lächen zwischen den footprints werden Pinienwäldchen zieren. Das Ganze ist zunächst einmal eine radikale Abkehr von der Rhetorik des Libeskind-Entwurfs. Mit den Schrifttafeln der Opfernamen sind aber die Anklänge an Soldatendenkmäler offenkundig, allen voran selbstverständlich an das Vietnam-Denkmal in Washington. Das meditative Flair der Anlage und die schlichte Tatsache, dass ein Gedenk28 Vgl. die Fotostrecke zu dem Projekt: Michael Arad – Peter Walker and Partners. Reflecting Absence, World Trade Center Site Memorial, New York 2004, in: Lotus International 125 (2005), S. 64-69. Zum realisierten Denkmal Harriet F. Senie: Commemorating 9/11: From the Tribute in Light to Reflecting Absence, in: Dies. (Hg.): Memorials to Shattered Myths: Vietnam to 9/11, Oxford 2016, S. 122-170; Jacquelyn Micieli-Voutsinas: Rummaging Through the Wreckage. Geographies of Trauma, Memory, and Loss at the National September 11th Memorial & Museum at the World Trade Center, Diss. University of Syracuse 2014 (online verfügbar).

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I. Politische Ikonographie: Denkmäler und Bauwerke

ort mit einem Wasserfall verbunden wird, zeigt Parallelen zur seinerzeitigen, Naturelemente einbeziehende Gedenkpraxis, die während der Jahre nach 2001 in der Umgebung der Baustelle zu beobachten war. Mehrere von den Explosionen entwurzelte Bäume wurden denkmalhaft gefasst und dienten als Gedenkorte. Auf eine naive, den Außenstehenden befremdende Weise kam die Metapher der Entwurzelung zum Zuge, und das abgestorbene Naturrelikt soll die abwesenden Toten stellvertretend vergegenwärtigen. Es wäre zu überlegen, ob sich nicht auch noch eine solche memoriale Naturmetaphorik den Konventionen der Erinnerung an Kriegszerstörungen verdankt, die zum Beispiel durch zahllose Ruinenfotos, in denen tote Bäume als Menetekel der Verwüstung in Szene gesetzt sind, tradiert werden. Zu denken ist bei den künstlichen Wasserwänden des Memorials auch an die amerikanische Nationalikonografie des Wasserfalls. Die Feuerwehrleute sind recht bald aus den Opferverbänden ausgeschert und haben sich mit einem eigenen Denkmal selbständig gemacht. Es handelt sich um eine bronzene Umsetzung des Fotos der Feuerwehrleute in den Ruinen des World Trade Center, allerdings in monströs aufgeblähten Kolossalformat und kläglicher plastischer Umsetzung. Jenseits der schieren Einfallslosigkeit mag man in diesem Vorhaben, bei dem die Entsprechung zum Nachbau des Iwo Jima-Fotos mit dem Soldatendenkmal in Arlington gesucht wurde, noch einmal das hartnäckige Beharren auf der Analogie zum Zweiten Weltkrieg als Deutungsrahmen für das Ereignis des 11. September erkennen.

Fazit Die hier beschriebene mediale Konfigurierung des Ereignisses ist als Teil einer umfassenden Geschichtspolitik 29 zu verstehen. Sie wurde für mehrere Jahre zu deren zentralem Argument. Die Medienvermittlung wurde von der amerikanischen Öffentlichkeit wie von den Regierungsinstanzen gleichermaßen getragen, wobei die Verteilung der Rollen in unterschiedlichen Phasen kaum zu bestimmen ist. Denn das strategische Operieren mit Geschichtsdeutungen zur Legitimierung politischer Projekte findet als staatliches Regierungshandeln gerade bei der Bereitstellung von Bildproduktionen im Rahmen einer politischen Kommunikation und sozialen Mobilisierung statt, die die gesamte Gesellschaft durchdringt. Geschichtspolitik zielt in recht breitem Interesse auf die Stabilisierung von Gesellschaften in krisenhaften Übergängen nach Ereignissen, die unvermittelt hereinbrechen, aber langfristige strukturelle Folgen haben. Auffällig bleibt bei alledem

29 Zum Begriff zusammenfassend Claus Leggewie und Erik Meyer: „Ein Ort, an den man gerne geht.“ Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München 2005, bes. S. 12-20.

Mediale Konfigurierung eines Ereignisses

die Tatsache, dass die so verstandene Geschichtspolitik mit vergleichsweise eindimensionalen, aber höchst effizient platzierten Bildformeln operierte. Ansonsten ist das Urteil über die Bebauungspläne zwiespältig. Nach einigen Jahren lässt sich ein deutlicher Wandel in der Erinnerungskultur seit dem 11. September 2001 beobachten. Wenn nun die geschichtsträchtig-numinosen Künstlereingebungen, mit denen Libeskind in jeder Hinsicht hoch hinaus wollte, dem Pragmatismus der Investment-Architektur von David Childs und der Kundenfreundlichkeit des Memorial Site Platz gemacht haben, so kann man darin zweifelsohne ein Indiz sehen, dass die jahrlange, offizielle Nötigung zur Betroffenheit nachgelassen hat. Das wäre die positive Lesart. Die despektierliche Lesart liefe darauf hinaus, dass das spätere Kriegsgeschehen in Afghanistan (Operation Enduring Freedom ab Herbst 2001) und im Irak (ab März 2003) ganz in den Vordergrund gerückt ist. Die Militarisierung der Gesellschaft in den USA, die sich seit Jahren in allen zivilen Lebensbereichen beobachten lässt, und der von den USA seit 2002 geführte global war on terror, der von der Bush-Administration ganz unverblümt mit imperialen und ökonomischen Motiven geführt wird und der als Militärstrategie erst im Jahr 2009 von Barack Obama für offiziell beendet erklärt wurde, bedürfen heute nicht mehr der visuellen Begründungen, die sich auf das Ereignis des 11. Septembers 2001 beziehen.

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Abb. 1 Unbekannter Kameramann: Das World Trade Center in New York beim Terrorangrif f des 11. September 2001: Der brennende Südturm mit dem Anflug des zweiten Flugzeugs auf den Nordturm. TV-Stills.

Abb. 3 Joe Rosenthal: Das Aufpflanzen der amerikanischen Flagge auf Iwo Jima am 23. Februar 1945, 1945, Pressefotografie.

Abb. 2 Thomas E. Franklin: Feuerwehrleute beim Hissen der amerikanischen Flagge in den Ruinen des World Trade Center, 12. September 2001, Pressefotografie.

Abb. 4 Unbekannter Fotograf: US-Marines hissen die US-Flagge und die New Yorker Stadtfahne im Süden Afghanistans, 1. Dezember 2001, Pressefotografie.

Abb. 5 Unbekannte Fotografen: Auszüge aus der Bildsequenz Touristguy, Oktober 2001, im Internet veröf fentlichte Bildserie.

Abb. 6 John Baldessari: Two Highrises (With Disruption) / Two Witnesses (Red and Green), 1990, übermalte Farbfotografie, Los Angeles, Museum of Contemporary Art.

Abb. 7 Zeitungstitelseite vom 12. September 2001.

Abb. 8 Buchseitenausschnitt aus Beuthner u.a. (Hg.): Bilder des Terrors, 2001.

Abb. 9 Erik Fischl: Tumbling Woman, Bronzeplastik, 2002.

Abb. 10 Daniel Libeskind: Entwurf für das World Trade Center in New York, Rendering, 2002.

Abb. 12 Nox Architects: Entwurf für ein neues World Trade Center in New York, 2002.

Abb. 11 Peter Arad u. Michael Walker: Reflecting Absence. Entwurf für die WTC Memorial Plaza in New York. Rendering 2004.

II. Gesellschaftsgeschichte der Architekturtheorie

Das Medium des Buches und die Institution der Textgattung in der Architekturtheorie

Ein Beispiel Wie viele andere Architekturtheoretiker ist auch Robert Venturi ein Autor, der eine offene Auseinandersetzung mit der von ihm gewählten Textgattung führt. In seinem 1966 erschienenen Buch Complexity and Contradiction in Architecture geschieht dies mit demselben Widerspruchsgeist, mit dem Venturi auch der Architekturmoderne auf den Leib rückt. Die Gattungszugehörigkeit des Buches wird unumwunden im berühmten ersten Abschnitt des Buches klargestellt: „1. Nonstraightforward Architecture: A Gentle Manifesto. I like complexity and contradiction in architecture. I do not like the incoherence or arbitrariness of incompetent architecture nor the precious intricacies of picturesqueness or expressionism. Instead, I speak of a complex and contradictory architecture based on the richness and ambiguity of modern experience, including that experience which is inherent in art. Everywhere, except in architecture, complexity and contradiction have been acknowledged, from Gödel’s proof of ultimate inconsistency in mathematics to T.S. Elliot’s analysis of ‘difficult’ poetry and Joseph Albers’ definition of the paradoxical quality of painting.“1 Am Anfang dieser rhetorischen Eröffnung stehen die Benennung der eigenen Zukunftsforderung einer „Architektur, die nicht geradeaus geht“, und die selbstreferenzielle Titulierung des Textes als „sanftes Manifest“. Die Textstruktur des folgenden Abschnitts basiert auf dem Bekenntnis eindeutiger Parteinahme. Die jovialen Bekundungen des „I like“ und des „I do not like“ stellen sich als nurmehr fernes Echo des von Antonio Sant’Elia verfassten Manifests der futuristischen Architektur (1913) dar, an dessen Ende der Autor herrisch die Liste der Feindbilder und

1 Robert Venturi: Complexity and Contradiction in Architecture (1966), New York 2008 (Nachdr. der Ausg. 21977), S. 16.

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II. Gesellschaftsgeschichte der Architekturtheorie

der Loyalitätsbekundungen aufzählt („Io combatto e disprezzo [...] E proclamo“2). Der Abschnitt endet­- auch dies gehört zum Arsenal eines Manifests – mit der Berufung auf eine objektive, gleichsam empirisch bewiesene Wahrheit, in diesem Falle, mit der Anrufung von Kurt Gödel, T. S. Eliot und Josef Albers, der Mathematik, der Poesie und der Malerei. Aber ebenso offensichtlich wie der Traditionsbezug auf die Manifeste der Moderne sind bei Venturi die Gesten der Revision. Das beginnt mit der aus der Verneinung entwickelten und damit schon formal defensiven Eigenschaftszuweisung einer „nonstraightforward architecture“. Ironisch gebrochen ist auch der Gattungsbegriff, denn selbstverständlich ist ein „sanftes Manifest“, also eine Kampfschrift ohne Kampfgeist, ein Widerspruch in sich. Venturi greift hier auf die rhetorische Figur des Oxymerons zurück, was gemäß der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes nichts anderes heißt als „geistreiche Dummheit“. Beliebt war eine solche paradox-raffinierte Redeweise in der Neuzeit besonders in der Epoche des Manierismus, auf deren Architektur Venturi in seinem Buch kontinuierlich Bezug nimmt und in deren Nachfolge er sich selbst sieht. Dem Sprechen in Paradoxien entspricht im weiteren Verlauf des Textabschnitts die Subjektivierung der Sichtweise. Die Militanz der „autoritären Moderne“3 ist im Manifest Venturis passé, damit einem das auffällt muss man bei seinen „I like“ und „I do not like“ nicht erst an die aktuelle Marotte der Likes von sogenannten Followern bei Facebook denken. Wenn dann aber wiederum im Gegenzug an der modernistischen Behauptung der wissenschaftlich erwiesenen Objektivität festgehalten wird, so geschieht dies mit dem Verweis auf die Grenzüberschreitung der Disziplin. Architektur kann ihre Gegenwart nicht aus sich selbst gewinnen, sondern hat mit anderen Kulturtechniken und Künsten in Kommunikation zu treten. Keineswegs nur in seiner Selbstdeklaration und in seiner Rhetorik, sondern auch in der gesamten Bauart des Buches nimmt Venturi mit Complexity and Contradiction Bezug auf das berühmteste Architekturbuch der klassischen Moderne, auf Le Corbusiers Vers une architecture von 1923. Bei ihm handelt es sich erwartungsgemäß ebenfalls um ein Manifest. Am Ende des neu verfassten Vorworts zur vierten Auf lage 1928, in der Le Corbusier vom Scheitern der Moderne beim Wettbewerb für den Völkerbundpalast in Genf berichtet, verlautbart der Autor triumphierend die internationale Wirkmacht des Buches: „Alors, Vers une Architecture demeure mobilisé. Après les traductions allemande, anglaise et américai2 Antonio Sant’Elia: L’architettura futurista (1914), in: Guido Davico Bonino (Hg.): Manifesti futuristi, Mailand 2009, S. 101-107. 3 Zur Diskussion über den „authoritarian high modernism“ James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven/London 1998, bes. S. 87-95.

Das Medium des Buches

ne, ce livre-manifeste reprend le licou et continue son travail. Ce manifeste, hélas, est encore d‘actualité.“4 Dem berühmten Vorgänger ist Venturis Buch regelrecht nachgebaut und es übernimmt dessen inhaltliche Disposition mit seiner überraschenden argumentativen Stringenz: Eröffnet werden beide Bücher mit thesenhaften Leitsätzen, die sowohl systematische als auch historische Begründungen erfahren, bevor sie dann mit Modellen aus dem eigenen Werk exemplifiziert werden. Aber bei Venturis Manifest handelt es sich auch in Bezug auf die Disposition des Buches um eine postmodern distanzierte Aneignung, um eine „appropriation“ des berühmten Modells.

Seite aus Robert Venturi: Complexity and Contradiction in Architecture (1966).

Manifeste machen, wie das lateinische Wort „manifestus“ mitteilt, etwas handgreif lich und handfest. Ihre Geschichte weist zurück auf die Sparte der Kriegsmanifeste, in denen seit dem späten 16. Jahrhundert die gegnerischen Parteien ihre Kriegsgründe publik machten5, und dann, natürlich, auf Karl Marx‘ Manifest der Kommunistischen Partei von 1848, in dem sich der Autor mit dem berühmten Einleitungssatz, „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunis4 Le Corbusier: Vers une architecture (1923), Paris 41928, S. XVI. 5 Zu Begriff und Gattung des Kriegsmanifestes Konrad Repgen: Kriegslegitimationen in Alteuropa. Entwurf einer historischen Typologie, München 1985 (Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge 9), bes. S. 17-25.

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II. Gesellschaftsgeschichte der Architekturtheorie

mus“, Gehör verschafft. Danach ist die Geschichte der Manifeste untrennbar mit der Bildung von politischen Parteien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden, und von hier aus traten sie auch ihren Siegeszug in andere Kulturbereiche, unter anderem der Architektur, an. Die Moderne kommt ohne Manifeste nicht aus. Mit dem auf der Titelseite der Pariser Tageszeitung Le Figaro am 20. Februar 1909 erstmals publizierten Manifest von Filippo Tommaso Marinetti trat der Futurismus auf den Plan. Schon 1913 erließ der Dadaist Franz Pfemfert als Herausgeber der Zeitschrift Die Aktion ebendort einen Aufruf zum Manifestantismus, nur um zwei Jahre später von der Manie der Bekennerschriften zur Strategie des Krawalls, dem „Impertinentismus“ überzulaufen.6 Die Konjunktur der Manifeste, die in der Moderne einsetzte, hat dazu geführt, dass man jüngst immerhin 100 Künstlermanifeste in handlichem Format zusammenstellen konnte.7 Für die Architekturtheorie wird durch die von Ulrich Conrads herausgegebenen Anthologie Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts (1964), die programmatisch als erster Band in der renommierten Reihe von Grundlagentexten zur Architekturmoderne, der Bauwelt Fundamente, erschien, der Eindruck vermittelt, Manifeste seien die Leitgattung der architekturtheoretischen Publizistik seit der Moderne. Dem ist, wie auch der Sammelband das Buch als Entwurf verdeutlicht, keineswegs so. Im Hinblick auf die Manifeste – und den Glauben oder den Unglauben daran – scheint gegenwärtig die Lage unübersichtlich zu sein. Denn während Architekten unverdrossen weiter Manifeste publizieren8, hat man schon die Ära After the Manifesto9 ausgerufen.

Textinhalte und Textästhetik Das hier vorgestellte Beispiel der Verarbeitung einer Textgattung mag einzelne Aspekte verdeutlichen, die für die Geschichte der Architekturtheorie insgesamt von Relevanz sind. Die Analyse schließt an aktuelle Forschungsüberlegungen zur Geschichte der Architekturtheorie an, im Rahmen derer nicht nur nach den Inhal6 Hierzu Martin Mittelmeier: DADA. Eine Jahrhundertgeschichte, München 2016. 7 Alex Danchev (Hg.): 100 Artists’ Manifestos. From the Futurists to the Stuckists, London 2011; vgl. auch Wolfgang Asholt u.a. (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (2005), Stuttgart 22008. 8 Genannt seien neben den bei Danchev: 100 Artists’ Manifestos, publizierten Texten folgende neuere, im Internet verfügbare Fundstücke: Juhani Pallasmaa: Six Themes for the Next Millenium (1994); Albert Speer: Ein Manifest für eine nachhaltige Stadtplanung (2009); Zehn Grundsätze zur Stadtbaukunst heute (2010); In Search of a Process. Laufen Manifesto for a Human Design Culture (2013); Kenneth Frampton: Seven Points For the Millennium: An Untimely Manifesto (1999); Jean Nouvel: Manifeste de Louisiana (2006). 9 Craig Buckley (Hg.): After the Manifesto. Writing, Architecture, and Media in a New Century, New York 2014.

Das Medium des Buches

ten dieser speziellen Fachliteratur gefragt wird, sondern auch und in erster Linie nach den medialen Bedingungen ihrer Entstehung, Herstellung und Rezeption. Die kritische Fortschreibung der Architekturtheorie, des architectural criticism, hat mittlerweile ein äußerstes Maß an Differenzierung gewonnen, in dem sich nicht nur die Pluralität der gegenwärtigen Entwurfsansätze spiegelt, sondern vielleicht noch deutlicher die Tatsache, dass die Architektur als Profession und als Disziplin mehr denn je in unterschiedliche gesellschaftliche Handlungsfelder eingebunden ist. Architekturtheorie als aktualitätsbezogene, „operativ“ in die Architekturproduktion involvierte Architekturkritik hat sich, so wurde es zumindest von Manfredo Tafuri gesehen, mit den Produktionsbedingungen von Architektur und mit deren Ideologiekritik auseinanderzusetzen.10 Unter diesen Vorzeichen wird sie heute von den Beteiligten primär als die Beschreibung der Verf lechtungen der Architektur mit ihren Außenbeziehungen und Außenbedingungen verstanden. Was Hans Blumenberg für die Theorie allgemein feststellt, gilt auch für die aktuelle Architekturtheorie: „Man kann ebenso richtig wie langweilig definieren, was eine Theorie ist; sie kommt dann ohne das, was ihr zudefiniert worden ist, nicht aus und nicht durch. Mehr lernen lässt sich durch Anschauung und freie Variation, die den harten Kern heraustreten lässt.“11 Solche aus der Anschauung der Praxis gewonnenen Variationen, die den „harten Kern“ aktuellen architekturtheoretischen Nachdenkens umschreiben, werden in einem vor einigen Jahren vorgelegten Handbuch umfassend bilanziert.12 Allein der Textumfang von 750, zweispaltig bedruckten, spärlich illustrierten Seiten und die Fülle von vierzig Beiträgen in acht thematischen Sektionen verdeutlichen den Anspruch einer Gesamtdarstellung der gegenwärtigen Diskussion. Dabei dekretieren die Herausgeber gleich einleitend, dass „architectural theory“ nur noch in englischer Sprache stattfinde. Sie kapitulieren damit auf der einen Seite vor der kolonialistischen „Sprachfresserei“13 des Englischen, doch auf der anderen Seite tragen sie, nicht zu Unrecht, dem Sachverhalt Rechnung, dass sich mit der Architekturproduktion auch der architectural criticism globalisiert hat. Wenn in dem Handbuch die Architektur im Rückgriff auf die einprägsame Formulierung von Rosalind Krauss in einem „expanded field“ theoretisch beschrieben werden soll, so ist dieses „erweiterte Feld“ bereits mit der Globalisierung weiträumig abgesteckt. Im Einzelnen sind die Beziehungsfelder folgendermaßen definiert: „1 Power/Difference/ 10 Manfredo Tafuri: Teorie e storia dell’architettura (1968), Rom/Bari 41976, bes. die Introduzione. 11 Hans Blumenberg: Theorie, in: Ders.: Begriffe im Geschichten, Frankfurt/M. 1998, S. 193-194. 12 C. Greig Crysler, Stephen Cairns und Hilde Heynen (Hg.): The SAGE Handbook of Architectural Theory, Los Angeles 2012. 13 Zum Begriff Louis-Jean Calvet: Linguistique et colonialism. Petit traité de glottophagie, Paris 1974.

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Embodiment“; „2 Aesthetics/Pleasures /Excess“; „3 Nation/World/Spectacle“; „4 History/Memory/Oblivion“; „5 Design/Production/Practice“; „6 Science/Technology/irtuality“; „7 Nature/Ecology/ Sustainability“; „8 City/Metropolis/Territory“. Parallel zur Fortschreibung des architectural criticism als einer in die Architekturproduktion eingreifenden Instanz entwickelte sich eine darstellende Auseinandersetzung mit der Architekturtheorie innerhalb der Kunstgeschichte. Die Sichtung und Erforschung des historischen Materials der Architekturtheorie, also der Bücher und Aufsätze, haben seit den 1980er Jahren einen eklatanten Aufschwung erfahren. Dabei hat sich, wie schon angedeutet, das anfängliche Interesse an den Inhalten allmählich hin zu den medialen Formen der Mitteilung erweitert. Einen Meilenstein einer noch ganz auf Textinhalte konzentrierten Theoriegeschichtsschreibung stellt die von Hanno-Walter Kruft 1985 vorgelegte Geschichte der Architekturtheorie dar. Das Buch ist eine erstmalige Gesamtdarstellung der Architekturtheorie über den gleichsam vollständigen Zeitraum von der Antike bis zum Berichtszeitraum der Gegenwart in der Form einer chronologisch gegliederten Anthologie von kommentierten Quellenparaphrasen und -zitaten. Die Systematik der Materialanordnung ist, innerhalb der Chronologie, über weite Strecken auf die Gliederung von Epochenabschnitten und auf die äußerst vielfältigen nationalsprachlichen Architekturmilieus konzentriert. Die damit mehrfach objektivierte Darstellungsform, in deren Pragmatismus man vielleicht auch die interpretatorischen Grenzen des Zugriffs erkennen mag, sicherte Krufts Buch seinen anhaltenden Erfolg als Handbuch mit zahlreichen Auf lagen und mehreren Übersetzungen.14 Zugleich traf das Buch einen postmodernen Zeitgeist. Zwar stand der Autor, wie etwa seine Ausführungen über Robert Venturi zu verstehen geben, der Postmoderne äußerst skeptisch gegenüber, doch begegnete das Buch fürs Erste dem Bedarf nach einer Architekturgeschichtsschreibung, bei der mehr als zuvor nach der ikonologischen Lesbarkeit von Gebäuden und nach der Semantik von Architektur gefragt wurde. Dieses Anliegen wiederum deckt sich mit einem postmodernistischen Verständnis von Architektur als Kommunikationsmedium, wie es mit Aplomb von Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour in Learning From Las Vegas (1972) und gleichzeitig von Charles Jencks in The Language of Post-Modern Architecture (1977) vorgeführt wurde. Wenn sich für die Geschichtsschreibung der Architekturtheorie seither eine nachhaltige Konjunktur verzeichnen lässt, so lässt sich annehmen, dass dies auch mit Geschichte der 14 Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. Von Vitruv bis zur Gegenwart, München 1985; Übersetzungen: italienisch 2 Bde. 1987-1988 (42015); spanisch 2 Bde. 1990; englisch 1994. In der deutschen Ausgabe liegt das Werk zwischenzeitlich in der Auflage 62013 vor, dabei handelt es sich um einen weiterhin unveränderten Nachdruck; bibliographische Ergänzungen in der Form von Anhängen erfolgten durch Kruft in der Auflage 31991, S. 713-718 und durch Dietrich Erben und Erik Wegerhoff für die Auflage 62013, S. 719-730.

Das Medium des Buches

Architekturtheorie von Kruft zu tun hatte. Dies betrifft nicht nur die Publikation selbst, sondern auch den Zuschnitt des Buches in seinem Überblickscharakter über das Gesamtmaterial mit der handlichen Verfügbarkeit der Detailinformationen. Nicht zuletzt war das Buch ebenso Symptom wie Generator einer postmodernen Nachfrage nach dem Thema. Innerhalb dieses breit erschlossenen Feldes bildeten sich allmählich auch neue Interessen heraus, die den ästhetischen und medialen Dimensionen der Architekturtheorie galten. Wie nicht anders zu erwarten, liegen solche Fragestellungen im breiteren Trend der Medientheorie generell und der Textforschung im Besonderen. Stellvertretend für eine ganze Reihe von turn-verdächtigen Neuansätzen sei nur auf zwei Konzepte hingewiesen, die auch für den vorliegenden Zusammenhang relevant sind: So widmet sich die Untersuchung der Materialität der Kommunikation der Stoff lichkeit von Mitteilungen und den materiellen Eigenschaften von lange Zeit nur als immaterial-formalistisch verstandenen Bedeutungsträgern.15 Steffen Martus setzt sich mit der Werkpolitik von Texten auseinander, indem er sich nicht nur mit den institutionellen Einbindungen von literarischer Kommunikation und den Durchsetzungsstrategien von Autoren beschäftigt, sondern vor allem danach fragt, wie es Autoren historisch jeweils gelingt, „das Werk zum privilegierten Kontext seiner selbst zu machen“.16 Für den Bereich der Architekturtheorie kann man sagen, dass die kommunikative Rolle, die der Architektur in der Postmoderne zugemessen wurde, nun auch an die Architekturtheorie zurückverwiesen wurde. Dabei fanden andernorts etablierte medien- und kulturtheoretische Ansätze einen meist unausgesprochenen oder bestenfalls impliziten Niederschlag, doch ein gemeinsames Interesse ist unverkennbar. Als grundlegende Neuentwürfe zur Architekturtheorie können die neueren Forschungen zum Zusammenhang von Theoriebildung, Buchdruck, Publikationskultur und literarische Öffentlichkeit gelten. Im Hauptstrang der Forschung sind einzelne Studien angesiedelt, die den ebenso evidenten wie fundamentalen Sachverhalt beschreiben, dass die dauerhafte Etablierung der Architekturtheorie seit dem frühen 16. Jahrhundert auf dem Buchdruck beruht.17 In 15 Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988; Kiernan Ryan (Hg.): New Historicism and Cultural Materialism, London 1996. 16 Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George (Historia Hermeneutica. Series Studia 3), Berlin/New York 2007. 17 Hierzu die beiden Renaissance-Studien von Alina Payne: The Architectural Treatise in the Italian Renaissance. Architectural Invention, Ornament, and Literary Culture, Cambridge, MA. 1999 und Mario Carpo: Architecture in the Age of Printing. Orality, Writing, Typography, and Printed Images in the History of Architectural Theory. Cambridge, MA. 2001; zur Aufklärungsepoche Richard Wittman: Architecture, Print Culture and the Public Sphere in

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dieser Hinsicht reiht sich die Architekturtheorie in zahlreiche andere Sparten von Fachliteraturen, wie etwa der Medizin, der Jurisprudenz oder den Philologien im Rahmen der studia humanitatis, ein, welche die wissenschaftlich-technische Revolution der Frühen Neuzeit erst ermöglichten. Man mag nur auf den Sachverhalt erinnern, dass bereits bis etwa 1530 der gesamte und bis heute bekannte Corpus antiker Texte in gedruckter Form vorlag.18 Mit der materiellen Seite der Architekturtheorie-Produktion kam auch deren ästhetische Dimension verstärkt in den Blick. In einer Pionierstudie wurde anhand der Publikationen von Le Corbusier exemplarisch der streng kalkulierte, künstlerische Herstellungsprozess rekonstruiert, in dem der Autor-Architekt seine Bücher entwarf.19 Neuerdings bieten einzelne Publikationen, in denen Fragen der Buchgestaltung, der Organisation der Wissensinhalte und der Leseradressierung aufgenommen werden, bereits erste Übersichten zur Materialität des Architekturbuches.20

Buchentwurf und Textgattung An dieser Stelle setzt die Konzeption einer Architekturtheorie im Spiegel der Gattungsgeschichte an.21 Wie jedes Buch existiert auch ein Buch zur Architekturtheorie niemals nur als bloße intellektuelle Leistung, sondern kommt erst in einer materiell bedingten, ästhetischen Form zur Geltung. Die Inhalte des BuEighteenth-Century France, New York 2007; zur Vitruv-Rezeption André Tavares: Vitruvius Without Text. The Biography of a Book, Zürich 2022. 18 Zu den wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen in Bezug auf die Entwicklung des Buchdrucks aus der weit gestreuten Literatur vgl. nur Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informationsund Kommunikationstechnologien (1991), Frankfurt/M. 1998; Anthony Grafton: Defenders of the Text. The Tradition of Scholarship in an Age of Science, 1450-1800, Cambridge, MA. 1994; Steven Shapin: The Scientific Revolution, Chicago/London 1996. 19 Catherine de Smet: Vers une architecture du livre. Le Corbusier. Édition et mise en pages 1912-1965, Baden 2007; als Monographien zu einzelnen Büchern mit verwandtem Vorgehen in Bezug auf Moderne und Vormoderne: Martino Stierli: Las Vegas im Rückspiegel. Zum Stadtbegriff von Robert Venturi und Denise Scott Brown, Zürich 2011; Niklas Naehrig: Weise, gelehrt und erfahren. Philibert Delorme und die gesellschaftliche Verantwortung des Architekten in der französischen Renaissance, Zürich 2016. 20 Jean-Philippe Garric u.a. (Hg.): Le livre et l‘architecture. Actes du colloque organisé par l’Institut national d’histiore de l’art et l’École nationale supérieure d’architecture de ParisBelleville. Paris, 31 janvier – 2 février 2008, Paris 2011; André Tavares: The Anatomy of the Achitectural Book, Zürich 2016. 21 Es sei erlaubt, auf eigene Publikationen zu verweisen, in denen die im Folgenden erläuterten Ansätze bereits punktuell mit Beobachtungen am Material belegt wurden: Dietrich Erben: Architekturtheorie, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Spalte 587-614; Ders.: Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2017.

Das Medium des Buches

ches konstituieren sich überhaupt erst in dieser Form. Dabei gehören Bücher zur Architekturtheorie nicht nur zu den am schönsten gestalteten Produktionen der gesamten Buchkultur, sondern sie bilden auch einen ausgedehnten Kontinent von Fachliteratur, der gleichzeitig weit über den Bereich des Spezialwissens hinausragt. Der Corpus von Architekturbüchern steht uns in einer reichen Vielfalt unterschiedlicher Textgattungen vor Augen und er wird seit dem Beginn des Buchdrucks im 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart fortgeschrieben. Gemäß ihrem Gegenstand und ihrer Argumentationsweise werden in der Architekturtheorie handwerklich-technische, funktionale, ästhetische und politisch-gesellschaftliche Kategorien des Bauens in ein System von Aussagen, die sich gegenseitig begründen und stützen, integriert. Dahingehend lautet die basale Definition von Theorie, die auch für Architekturtheorie gilt. Ist die Architektur selbst als eine Kulturtechnik von fundamentaler Bedeutung für die Umweltbewältigung und die Daseinsvorsorge des Menschen, so spiegelt sich diese Relevanz auch in der Architekturtheorie. Architekturtheorie ist eine aus dem Medium der Architektur entfaltete Gesellschaftstheorie – genau dieser grundlegenden Zielsetzung verdanken sich die immense Fülle und Vielfalt der architekturtheoretischen Literatur, die sich nach Inhalt, Intention, Darstellungsniveau und Autorenkompetenz kontinuierlich ausdifferenzierte. Ihre Reichweite erstreckt sich vom knappen, handwerklich orientierten Vorlagenbuch zur praktischen Nutzanwendung bis zum umfangreichen, argumentativ komplex entfalteten Traktat. Den Fragestellungen, die seit einigen Jahren verstärkt in den Horizont der Auseinandersetzung mit der Architekturtheorie gekommen sind, haben zuerst einmal einige begriff liche Konsequenzen. Wenn ein architekturtheoretisches Werk als „Entwurf“ tituliert wird, so trägt dies zunächst der einfachen Tatsache Rechnung, dass Architekturtheorie in der überwältigenden Masse der Beiträge von Architekten, und erst in jüngster Zeit vereinzelt von Architektinnen, verfasst, illustriert und graphisch gestaltet wird. Architekturtheorie ist damit genuiner Bestandteil der architektonischen Produktion selbst und nicht deren bloßes Accessoire. Wie jede umfangreichere Schriftüberlieferung ist auch die Architekturtheorie als ein Textcorpus zu verstehen, der sich aus höchst unterschiedlichen Textgattungen zusammensetzt. Demgegenüber stellt sich der Autorenkreis als vergleichsweise homogen dar, denn in der überwältigenden Mehrheit handelt es sich bei den Autoren um Architekten. Als ein Paradefall kann Le Corbusier gelten. Die Zahl seiner Bücher entspricht mit etwa jeweils fünfzig ungefähr derjenigen seiner realisierten Bauprojekte, und er hat zeitlebens, wovon seine Reisepässe Auskunft geben, die Berufsbezeichnung „homme de lettres“ beibehalten. Dies setzt eine neue Bewertung der Verantwortlichkeiten des Autors voraus. So ist der Architekten-Verfasser sowohl Autor des Textes, als auch Gestaltungsinstanz des Buches, und er hat darüber hinaus meistens auch die Entwurfsvorlagen für die Illustrationen geliefert. Oft genug zeichnen die Autoren für die Entwürfe

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derjenigen Bauten verantwortlich, die in den Buchillustrationen als Referenzen der Argumentation abgebildet werden. Analog zum Entwurf für ein Gebäude lassen sich damit auch die Bücher als Produkte des Entwurfs und der Gestaltung aufzufassen. Unter den Vorzeichen der Interpretation architekturtheoretischer Schriften als Entwurfsprodukte ihrer Verfasser und als Exemplare ihrer jeweiligen Textgattung stellen sich zahllose Fragen, die über die Darlegung inhaltlicher Sachverhalte hinausgehen. Dies betrifft das raffinierte Zusammenspiel von Text, bildlich dargestellter Architektur und gebautem Œu­v­re, das den besonderen Rang des architekturtheoretischen Schrifttums auszeichnet. Einzubeziehen sind darüber hinaus Fragen der Sprachform ebenso wie der Textkonstituierung, der Paratexte (Titel, Widmungen, Vorworte, Indizes etc.22) und der Verlagsbeziehungen. Vor dem Hintergrund dieser professionellen Zuständigkeit liegt es nicht nur nahe, sondern es erscheint für ein besseres Verständnis der Architekturtheorie geradezu erforderlich, wie bei Gebäuden auch bei der Theorie ästhetische Produktionsbedingungen ausführlich zu bedenken. Dies betrifft generell die ästhetische Trias von Herstellen, Darstellen und Betrachten, also die Fülle produktionsästhetischer, medial-inhaltlicher und rezeptionsästhetischer Zusammenhänge. Hier gewinnen Begriff und Konzept des Entwurfs23 ihren Stellenwert, wobei die Unterscheidung zwischen Entwurfs- und Planungsprozessen erst noch ausführlicher zu erörtern wären. Immerhin lässt sich sagen, dass es zu Ausbildung und professionellem Selbstverständnis von Architektinnen und Architekten gehört, beides zu können – zu entwerfen und zu planen. Darüber hinaus lässt sich etymologisch und begriffsgeschichtlich sagen, dass Entwurf und Planung miteinander zu tun haben, leitet sich doch letzterer Begriff vom altertümlichen Wort „plan“ im Sinne von „f lach/eben“ ab, wie es etwa noch in der Straßenbezeichnung des Weimarer Frauenplans erhalten ist. Darüber hinaus steckt in der Planung noch die Bezeichnung für das konkrete Medium des Plans aus Papier. Auf solche Flächen-

22 Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (frz. 1987; dt. zuerst 1989), Frankfurt/M. 2001. 23 Zum architektonischen Entwurfsbegriff als historische Einführung, die allerdings kaum Aussagen zum Entwurfs-Begriff macht Ralph Johannes (Hg.): Entwerfen. Architektenausbildung von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Geschichte-Theorie-Praxis, Hamburg 2009; aus der neueren Diskussion vgl. Sabine Ammon und Eva Maria Froschauer (Hg.): Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, Basel 2011; Ute Frank (Hg.): EKLAT. Entwerfen und Konstruieren in Lehre, Anwendung und Theorie, Berlin 2011; Harry Francis Mallgrave: Architecture and Embodiment. The Implications of the New Sciences and Humanities for Design, London 2013; Jürgen Weidinger (Hg.): Entwurfsbasiert Forschen, Berlin 2013; Barbara Wittmann (Hg.): Werkzeuge des Entwerfens, Zürich/Berlin 2017.

Das Medium des Buches

medien, sei es des Papiers oder der Topographie, wird die Planung als Verfahren dann projiziert. Bei aller wechselseitigen Affinität ist es dennoch hilfreich, zwischen Entwurf und Planung zu unterscheiden. Zunächst handelt es sich bei beiden um prozessuale, zielgerichtete Handlungs- und Entscheidungssequenzen, bei denen mehr oder minder komplexe und bisweilen widersprüchliche äußere Determinanten verarbeitet werden müssen. Entwurf und Planung unterscheiden sich jedoch in Verfahrenswegen und -absichten. Beim Entwurf sind die subjektgesteuerten Anteile, die vermeintlich irrationale, aber durchaus erwünschte kreative Umwege einschließen, ungleich größer gegenüber den meist kollektiven, zumindest normativ als zweckrational bewerteten Handlungsketten, wie sie bei der Planung vordringlich werden. Zugespitzt könnte man sagen: Entwerfen ist ein kreatives, wohingegen Planen ein organsiertes Verfahren ist. Unterschiedlich ist schließlich auch der Status des beabsichtigten Produkts. Der Entwurf findet ein zumindest vorläufiges Endprodukt in seiner Materialisierung oder auch Virtualisierung, die der Realisierung grundsätzlich vorgeordnet ist, wohingegen Planung immer Mittel zum Zweck ist. Wiederum zugespitzt lässt sich sagen: Das Produkt des Entwurfs ist eine eigengesetzliche Kunstleistung, dasjenige der Planung eine institutionalisierte Dienstleistung.24 Nur am Rande sei vermerkt, dass die Unterscheidung zwischen Entwurf und Planung auch nützlich sein kann, der gegenwärtig vorherrschenden, offensichtlich vom englischen design-Begriff beförderten, globalisierten Euphorie in Bezug auf den Entwurfsbegriff skeptisch zu begegnen. Heute ist alles Entwurf – und damit nichts mehr. In der Sphäre der politischen Planung etwa erweist sich der Entwurfsbegriff, auch wenn er hier immer wieder in Anschlag gebracht wird25, als kaum hilfreich, erlaubt er es doch nicht, zentrale Bestandteile politischer Entscheidungs- und Kommunikationsvorgänge – dazu zählen primär Verwaltung,

24 Zum Planungsbegriff Dirk van Laak: Planung. Geschichte und Gegenwart eines Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), Heft 3 (Planung im 20. Jahrhundert, hg. v. Paul Nolte u.a.), S. 305-326 und zur Anwendung der Planung im Architekturentwurf vgl. Dietrich Erben: Bau- und Wissenschaftskonzeption bei den Universitätsneugründungen der Nachkriegszeit, in: Mark Häberlein u.a. (Hg.): Geschichte(n) des Wissens. Festschrift für Wolfgang E. J. Weber zum 65. Geburtstag, Augsburg 2015, S. 773-795, bes. S. 791-794. 25 Für diesen letzthin anmaßenden Anspruch paradigmatisch Otl Aicher: die welt als entwurf, Berlin 1991 und zuletzt symptomatisch der Essay von Friedrich von Börries: Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Frankfurt/M. 2016; zur kommunikativen Entgrenzung des Designbegriffs vgl. auch die Anm. 23 genannte Literatur und prägnant zusammenfassend Heinz Hirdina, Design, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart/Weimar (2001) 22010, S. 41-63, bes. S. 60-62. Als neuere Kritik Philipp Zitzlsperger: Das Design-Dilemma zwischen Kunst und Problemlösung, Berlin 2021.

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Konf liktmoderation und Narration – zu integrieren.26 Politik ist auf Komplexitätssteigerung angelegt, wenn sie wirksam werden will; design hingegen ist auf Komplexitätsreduktion aus, wenn es erfolgreich sein soll. All dies macht deutlich, dass der Entwurfsbegriff keineswegs autonom aufzufassen ist, sondern dass im Gegenteil die vielfältigen Außenbedingungen, denen das Entwerfen unterliegt, stets mit bedacht werden müssen. Richtet man den Blick wieder auf das spezielle Feld der Architekturtheorie, so ist es sinnvoll, den Entwurfsbegriff mit der Kategorie der Textgattung zu verbinden. Die Existenz verschiedener Textgattungen stellt sich als eine wesentliche Voraussetzung für die Produktion architekturtheoretischer Fachliteratur dar. Die Entscheidung für eine bestimmte Textgattung und für deren Ausarbeitung stellt sich als die vielleicht wichtigste Grundbedingung von Seiten eines Autors dar. Im Sinne der Entwurfsbedingungen lassen sich Textgattungen durchaus analog zu unterschiedlichen Bautypologien in der gebauten Architektur verstehen. Allerdings würde es hier wie dort zu kurz greifen, sie allein formal aufzufassen. Denn Bautypologien – wie z.B. Theater, Wohnungsbau oder Bahnhof – folgen ebenso wie Textgattungen weit über die Formgestaltung hinausreichenden Herstellungs-, Darstellungs- und Nutzungsbedingungen. Beide lassen sich viel angemessener als Institutionen begreifen. Eine solche Erörterung steht jedoch für die Bautypologie bislang noch aus27, während man im Hinblick auf Textgattungen ein gesichertes Terrain der Literaturwissenschaften betritt. Dem Band Das Buch als Entwurf liegt ein weit gefasster, moderner Begriff der Textgattung zugrunde, der in den Literaturwissenschaften unter den Vorzeichen der Gattung als Institution diskutiert wird und der im vorliegenden Zusammenhang, soweit ich sehe, erstmals für die spezielle Sparte einer Fachliteratur fruchtbar gemacht wird. Er setzt die Textsortenlehre voraus, welche es erlaubt, die drei traditionellen Großbereiche der Literatur (Lyrik, Drama Epik) und einzelne Texttypen (z.B. in der Epik: Roman, Brief-, Schauer-, Detektivroman, Erzählung, Kurzgeschichte, Satire, Essay etc.) anhand verschiedener Kriterien zu klassifizieren, erweitert sie aber erheblich. Mit dem Konzept der Gattung als Institution 26 Hierzu Dietrich Erben: Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie. Baupolitik unter Cosimo I de’ Medici in Florenz, in: Dietrich Erben und Christine Tauber (Hg.): Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit, Passau 2016, S. 71-92, hier bes. S. 83-89. 27 Immer noch klassisch zur Bautypologie ist das Handbuch von Nikolaus Pevsner: A History of Building Types, London 1976 (mehrere Wiederauflagen); die Studie von Julian Jachmann: Enzyklopädische Architekturtypologie im 18. Jahrhundert: die ‚Architectonischen Risse‘ von Anckermann, Hofmeister und Engelbrecht, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 35 (2008), S. 169-214, skizziert das Problem für die Vormoderne; zur Moderne wiederum das Kapitel über den Typusbegriff („Type“) von Adrian Forty: Words and Buildings. A Vocabulary of Modern Architecture (2000), London 32012, S. 304-311.

Das Medium des Buches

sind Fragen der Kommunikationsbedingungen zwischen den Instanzen von Autor, Rezipient, Medienproduzent, Distribution und Text ins Zentrum gerückt.28 Die einzelnen Gattungen sind gemäß der Intention des Autors typisiert und zielen in ihrer Typik darauf ab, von der LeserInnenschaft wiedererkannt zu werden und ihren Erwartungen zu entsprechen. Jedes Buch kommt durch die Wahl bestimmter Darstellungsmittel aus einem schier unerschöpf lichen Reservoir verschiedener Möglichkeiten zustande. Um Institutionalisierung handelt es sich hier in einem zweifachen Sinn als Handlungsroutine und als Organisation. Und beide Dimensionen können auch für die Architekturliteratur beschrieben werden: Auf der einen Seite operieren sowohl Autoren als auch Leser im Rahmen von routiniertem und verstetigten Handeln, wenn sie ein Buch verfassen respektive lesen; beide leisten dies gemäß ihren Erfahrungen, Kompetenzen, Interessen und Vorlieben. Auf der anderen Seite hat man es mit konkreten, bisweilen behördlich organisierten Institutionen zu tun, die in der Literaturproduktion interagieren; im Falle der Architekturtheorie sind dies neben den Verlagen, dem Buchhandel und den Instanzen der Architekturkritik (Zeitschriften, Wettbewerbe, Preise u.a.) insbesondere Höfe, Akademien, Universitäten, Museen und Architekturbüros. Diese beiden institutionellen Ebenen wirken bei der Aktualisierung einer jeweiligen Gattung in einem einzelnen Werk zusammen. Durch Institutionalisierung bildet sich aus einem Plural an Texten der Singular einer Gattung. Wenn man mit Fredric Jameson aus der Warte einer dezidiert materialistischen Literaturtheorie besonders den Aspekt des Vertragscharakters von Gattungen hervorhebt29, so wird es möglich, beim Gebrauch von kulturellen Artefakten den Blick sowohl auf Konventionen und Normierungen, als auch auf Regelverstöße und Innovationsmöglichkeiten zu konzentrieren. Verträge können ausgehandelt und eingehalten oder eben gebrochen werden. Mit dem Verstehen des Vertragsbruchs ist ein weiteres Anliegen einer Geschichte der Architekturtheorie in Textgattungen benannt. Man hat bisweilen 28 Die Literatur zur Gattungstheorie ist, besonders für den Nicht-Fachmann, kaum überschaubar, daher soll es genügen, auf die hier zugrunde gelegten Untersuchungen zu verweisen; maßgeblich zum Institutionenkonzept Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, in: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 27-44; als Darstellungen zur Gattungsgeschichte und -theorie: David Duff (Hg.): Modern Genre Theory, Harlow u.a. 2000; Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009; Rüdiger Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart/Weimar 2009; Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext 1750-1950, Göttingen 2015. 29 Fredric Jameson: The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolic Act (1981) London/New York 2002, S. 92: „Genres are essentially literary institutions, or social contracts between a writer and specific public, whose function is to specify the proper use of a particular cultural artefact.“

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festgestellt, dass die Architekturtheorie mit ihren andauernden Einlassungen zu einigen wenigen Themenbereichen, die sich im Grunde bereits auf die vitruvianische Trias von Dauerhaftigkeit, Nützlichkeit und Schönheit (firmitas, utilitas, venustas) zurückführen lassen, eine konventionshörige und redundante, man könnte auch unterstellen: langweilige Angelegenheit sei. Eine solche Bewertung hat zwar für sich, dass sie eine wesentliche Eigenart der Architekturtheorie umschreibt, denn wie die Architektur selbst ist auch die zugehörige Theoriebildung eine ausgesprochen stabile Kulturtechnik, in der wie in Sedimentschichten ein umfangreiches Traditionswissen abgelagert ist. Doch gleichzeitig verkennt eine solche Einschätzung das Innovationspotenzial der Architekturtheorie. Diese Dialektik der Theorieentwicklung zwischen – um im Bilde der Geologie zu bleiben – der Sedimentierung von Wissen und der Eruption neuen Wissens wird über die Jahrhunderte der Theorieproduktion durch die Auswahl und Aneignung verschiedener Textgattungen bestimmt. Für die Architekturtheorie lässt sich hier ein bemerkenswert breites Spektrum unterschiedlicher Gattungen namhaft machen. Sie seien – in etwa in der chronologischen Abfolge ihres Aufkommens – aufgezählt: Architekturtraktat, Architekturdialog, Säulenordnungen, Modellbuch, Vitruvkommentar, Architekturessay, Antikenpublikation, Handbuch, Architekturvorlesung, Architektenwerkverzeichnis, Bildatlas, Architekturlexikon, Architekturmanifest, Ausstellungskatalog, Architekturentwurfslehre, Architektenreisebuch, Architektenautobiographie, Architekturzeitschriften. Beiläufig mag der Verdacht geäußert werden, dass die Architektur im Hinblick auf die gattungsgeschichtliche Breite der Theoriebildung umstandslos mit anderen ehrwürdigen Disziplinen wie der Medizin und der Rechtswissenschaft gleichziehen kann. Bei der Gattungswahl handelt es sich nicht nur um eine wesentliche Entwurfsentscheidung, in ihr bilden sich sowohl Traditionsbindungen als auch Innovationsschübe ab. Durch die neu in den Architekturdiskurs eingeführten Gattungen wurden stets auch neue Inhalte importiert. Damit fungieren Textgattungen in der Architekturtheorie selbst als Agenten der Wissensproduktion, sie befördern eine kontinuierliche Ausdifferenzierung der Inhalte und ermöglichen deren Weiterentwicklung und Anpassung an jeweils zeitgenössische Erfordernisse. Gattungen treiben die Modernisierung der Theoriebildung voran – dies ist die zentralen These einer gattungsgeschichtlich perspektivierten Architekturtheorie. In der architekturtheoretischen Fachliteratur wird die Gattungswahl oftmals durch die Berufung auf einzelne normsetzende Prototypen, auf modellgebende exempla, entschieden. Bücher sind in gattungsgeschichtlicher Perspektive Folgetaten, die sich auf frühere Bücher beziehen. Alles überragende Instanz für die Gattung des Architekturtraktats ist selbstverständlich der unter Caesar und Kaiser Augustus verfasste Traktat De architectura decem libri des römischen Architekten, Ingenieurs und Waffenbauers Vitruv. Dieser Traditionsrekurs wird aber an sehr unterschiedlichen Stellen der Vitruv-Rezeption gebrochen. Am vehementes-

Das Medium des Buches

ten geschieht dies aber in einer Gattung, in der man es nicht unbedingt erwarten würde, nämlich dem Vitruvkommentar. Dieser etabliert sich damit als Institution nicht nur der Vitruvexegese, sondern auch der Vitruvkritik. Die Weiterentwicklung einzelner Textgattungen und die Erweiterung des Gattungsspektrums insgesamt vollziehen sich immer auch als Anpassungen an neue Erfordernisse des Bauens. Umgekehrt fordern die neuen Textformen ihrerseits neue Erwartungen heraus. Dies zeigt sich etwa bei der im frühen 18. Jahrhundert auf kommenden Gattung des Architekturessays, mit dem sich eine von der subjektiven Wahrnehmung des Betrachters, seinem Geschmack (taste, goût), angeleitete Architekturschriftstellerei etabliert. Deutlich wird der Import neuer Inhalte, wie schon angedeutet, auch beim Architekturmanifest seit dem frühen 20. Jahrhundert, das mit der architektonischen Parteibildung der polemischen Auseinandersetzung über Angelegenheiten der Architektur Vorschub geleistet hat. Bisweilen bilden sich regelrechte Gattungsdynastien aus, also sozusagen optimierte Textfamilien, deren einzelne Mitglieder sich loyal in die Nachfolge eingliedern. Man kann beispielhaft an die Gattung der Vorlesungen denken, die sich mit der Institutionalisierung der Architektenausbildung und der akademischen Verwissenschaftlichung der Architektur konstituiert. Am Anfang stehen die vielfältigen, am Ende allesamt gescheiterten Publikationsvorhaben der 1542 in Rom gegründeten Accademia Vitruviana. Den Prototyp der Vorlesungsschriften schuf dann der Gründungsdirektor der Pariser Architekturakademie, François Blondel, mit der Publikation seiner dort gehaltenen Vorlesungen (Cours d’architecture, 16751683). Mit dem Nachfolgewerk von Jacques-François Blondel (Cours d’architecture, 1771-1777) erschien gegen Ende des folgenden Jahrhunderts die bis heute umfangreichste Architekturlehre; sie geht zurück auf die Vorlesungen, die Blondel an seiner 1743 eröffneten privaten Architekturschule in Paris hielt. Insgesamt zeichnet sich die Gattung der Vorlesungsschriften – so wird es von J.-F. Blondel im Vorwort seiner Cours auch erläutert – durch die auf Vollständigkeit zielende kompilatorische Übersicht über das bisherige Traditionswissen aus, das den didaktischen Erfordernissen gemäß auf die jeweils aktuellen Entwicklungen und Erfordernisse abgestimmt wird. Nach dem jüngeren Blondel hatte auch William Chambers 1770 mit der Ausarbeitung seiner Vorlesungen an der Londoner Royal Academy begonnen, doch das Publikationsvorhaben zerschlug sich in diesem Falle ebenso wie zu Lebzeiten die Veröffentlichung der Lectures on Architecture von seinem Schüler John Soane (veröffentlicht 1929). Friedrich Weinbrenner unterhielt in Karlsruhe ein Architektonisches Privatinstitut, aus dem sein Architektonisches Lehrbuch (18101819) hervorging. Zu den einf lussreichsten Vorlesungspublikationen des frühen 19. Jahrhunderts zählen diejenigen von Jean-Nicolas-Louis Durand an der nach der Revolution als Nachfolgeinstitution der königlichen Architekturakademie neu gegründeten École Polytechnique (Précis des leçons d‘architecture, ab 1802). Im Historismus schließt sich mit Julien Guadet, der an der Pariser École des beaux-arts

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seit 1872 unterrichtet und 1894 dort den Lehrstuhl für Architekturtheorie übernommen hatte, wieder der Kreis zum Akademiewesen des Ancien Régime. Guadet publizierte seine Vorlesungen in einer vierbändigen Entwurfslehre unter dem Titel Eléments et théorie de l‘architecture (1901-1904), wobei sich der Autor explizit in die Tradition der Entwurfslehre von Jacques-François Blondels Cours d’architecture stellte, die er darüber hinaus auch neu herausgab. Wie schon Blondel hat auch Guadet ein weitgehend entwurfspraktisch orientiertes, anhand von einzelnen Bauelementen und Bautypen entwickeltes Handbuch im Sinn, das, wie die mehrfachen Neuauf lagen dokumentieren, überaus weite Verbreitung fand. Freilich müssen Textgattungen keineswegs notgedrungen so eng an die Aktivitäten behördlich organisierter Institutionen gebunden sein, wie dies bei den Akademien und den Vorlesungen der Fall ist. Damit kann sich dann auch die Modellbildung als wesentlich offener darstellen. So konnte sich Aldo Rossi in seiner Scientific Autobiography (1982) explizit auf die Wissenschaftliche Selbstbiographie (1948) des Physikers Max Planck beziehen; Hermann Gieslers apologetische Autobiographie Ein anderer Hitler (1977) gäbe es nicht ohne Hitlers Mein Kampf (19251926), und der Diktator wiederum hatte sich auf Richard Wagners monumentalisierende Autobiographie Mein Leben (1881/1911) berufen. Damit deutet sich zugleich an, dass eine präzise gattungsgeschichtliche Bestimmung im Einzelfall keineswegs restlos aufgeht. Die Geltung einzelner Gattungen ist im Theoriebeitrag eines jeden einzelnen Buches stets neu auszuhandeln. So wird bei einer gattungsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der Architekturtheorie immer wieder offensichtlich, dass es die Autoren, indem sie sich für eine Textgattung entscheiden, zugleich darauf anlegen, deren Grenzen auszuloten. Dies zeigt sich bei nahezu allen Beispielen der älteren Theorie. Der Anspruch, die Grenzen der Gattungen zu überschreiten, wird in der Gegenwart vollends unübersehbar. Wenn man sich dem Problem widmet, wie die Modernisierung der Architekturtheorie geleistet wurde und bis heute wird, und wenn dabei der Gattungsgeschichte ein primärer Rang als institutionellem Agenten der Wissensproduktion zuwiesen wird, so macht Innovation auch vor der Textgattung selbst nicht halt.

Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation Eine Skizze

Wenn es im Folgenden um das Verhältnis von Infrastruktur und Architektur geht, wollen wir uns nicht bei den üblichen standesloyalen Behauptungen von Architektinnen und Architekten auf halten: Dass es nur „gute“ oder „schlechte“ Architektur gebe oder dass man zwischen „Architektur“ und bloßem „Bauen“ zu unterscheiden habe. Denn mit solchen eher bequemen Sortiermaßnahmen wäre man gleich das ganze Problem los: Die Infrastruktur wäre dann wieder einmal in den Untergrund entsorgt und den IngenieurInnen überlassen, die Architektur hingegen bliebe exklusiv für die ArchitektInnen reserviert. Doch wie so oft trägt vorschnelles Auseinanderdividieren nicht unbedingt zum Verständnis bei. Stattdessen können wir fragen: Welche Ähnlichkeiten und Differenzen existieren zwischen Infrastruktur und Architektur? Welche Rolle spielt die Architektur für die Technisierung der Lebenswelt? Welche Mechanismen der politischen Kommunikation wirken bei Infrastrukturbauten?

Architektur und Infrastruktur – eine Beziehungsgeschichte Zunächst einmal stehen Architektur und Infrastruktur zueinander in einem Komplementärverhältnis der Notwendigkeiten. Gebäude einerseits und Leitungssysteme andererseits brauchen sich gegenseitig. Zumindest in halbwegs technisierten Regionen funktionieren Gebäude ohne unter- und oberirdische infrastrukturelle Anschlüsse nicht, und umgekehrt wären Infrastrukturen ohne die AbnehmerInnen der zahlreichen Versorgungsleistungen in den Häusern sinnlos. Bei Infrastrukturen handelt es sich um mehr oder minder stabile „Fließräume, in die wir uns im Bedarfsfall einklinken“ und die dem Verbinden, der Verteilung und dem Transportieren von Menschen, Gütern und Informationen dienen.1 Unter Gebäuden verstehen wir zwar ebenfalls künstlich hergestellte Räume, die jedoch 1 Dirk van Laak: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt/M. 2018, hier S. 8-10.

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in der Hauptsache dem Aufenthalt von Menschen dienen, sei es in Wohnräumen, Orten der Vergesellschaftung oder an Arbeitsplätzen. Aus der Perspektive der historischen Anthropologie gibt das Miteinander von Infrastruktur und Architektur zu bedenken, dass die Natur, wie es Hans Blumenberg formuliert hat, nur recht eingeschränkt auf die „Bedürfnisse des Menschen hin disponiert“2 ist. Denn lebenswichtige Ressourcen sind an Ort und Stelle gar nicht oder nicht in ausreichendem Maß vorhanden und müssen herangeschafft werden. Es mag sich um Energie, um Lebens- und Kommunikationsmittel oder um temperierten, der Körpertemperatur des Menschen zuträglichen Wohnraum handeln. Diese Defizite natürlicher Versorgung werden kompensiert durch „Technisierung“, mit ihr ist die „ständige Vermehrung und Verdichtung der Dingwelt“ gemeint3, unter anderem mittels Leitungssystemen und Gebäuden. In der so genannten Fundamentalökonomie, deren Geschichte um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt und die sich heute von dringlicher ökologischer Relevanz erweist, wird schon immer von diesem umfassenden, Gebäude und Infrastrukturen integrierenden, Verständnis ausgegangen. Diese Theorie berücksichtigt neben der materiellen Grundversorgung mit Wasser, Strom, Mobilität, Nahrung und Wohnraum auch Faktoren einer providierenden (vom englischen „provide“, bereitstellen) Infrastruktur. Letztere bezieht sich auf institutionalisierte Dienstleistungen des Wohlfahrtsstaates, bei denen entsprechende Gebäude immer auch mit gedacht werden: Erziehung und Bildung (Schulen, Theater, Museen), medizinische Versorgung (Krankenhäuser, Pf legeeinrichtungen, Arztpraxen) oder Sportstätten (Spielfelder, Turnhallen, Schwimmbäder).4 Weiterhin haben sich die Systemstellen von Architektur und Infrastruktur in der Diskussion über den Anthropozän verändert. Die bisherige Realität der Technisierung wird von der Bestandsaufnahme der Technosphäre überholt, die als neuer Akteur in den Kreis der Geo-, Hydro-, Bio- und Atmosphäre eingerückt ist.5 Neuerdings werden Infrastrukturen in einem kaum mehr eingegrenzten Sinn als ein „urbanes Vokabular“ gesehen. Bei diesem Wortschatz ist entscheidend, wie er verwendet wird; relevant ist, insbesondere in informellen Siedlungsarealen und Slums, nicht mehr die verwaltungsstaatliche Initiative, sondern die „wilde“, selbstorganisierte Partizipation an Ressourcen.6 2 Hans Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung (1963), in: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 7-54, Zitate S. 8. 3 A.a.O., S. 10. 4 Foundational Economy Collective: Foundational Economy. The Infrastructure of Everyday Life, Manchester 2018; dt. Üs.: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Berlin 2019. 5 Als Diskussionsbericht Katrin Klinga und Christoph Rosol (Hg.): Technosphäre, Berlin 2019. 6 Swati Chattopadhyay: Unlearning the City. Infrastructure in a New Optical Field, Minneapolis 2012.

Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation

Über die schiere Zweckrationalität von Infrastrukturen hinaus stellt das Schaubbild einer Berliner Straßenszene (Abb. 1) schon für die Phase der rasanten Technisierung der Städte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Tatsache vor Augen, dass sich Infrastruktur und Architektur auch ästhetisch bedingen: Infrastrukturen befördern entscheidend die unbehelligte Nutzung und Wahrnehmung von Bauwerken im Stadtraum. Das Ursprungsmilieu und der sozusagen klassische Ort dieser Gegebenheit ist das Paris der Haussmannisierung in den zwei Jahrzehnten nach 1860. Die traumatische Selbstauslöschung des Vieux Paris durch infrastrukturelle Stadtmelioration und die Erfindung der modernen ästhetischen Stadtwahrnehmung ereigneten sich gleichzeitig. Diese in der damaligen Belletristik immer wieder geschilderte und in der Forschungsliteratur rekonstruierte neue Stadterfahrung7 galt auch für andere Metropolen. Die Berlin gewidmete Abbildung in der damals populären Zeitschrift Daheim aus dem Jahr 1866 zeigt den Mechanismus der invertierten Modernisierung der Stadt in einer eindrücklichen Kippfigur von oben und unten. Der Blick geht in der Vedute der oberen Bildhälfte auf einen Straßenzug in einem der neu erschlossenen Stadtbezirke, hier spielt sich das mehr oder minder geschäftig-beschauliche Leben ab. Ermöglicht wird der genießerische und kommunikative Aufenthalt der PassantInnen auf der Straße maßgeblich durch die neuen Ver- und Entsorgungseinrichtungen im Untergrund. Sie sind in der unteren Schnittdarstellung vollzählig dargestellt, und zwar teilweise nicht wie tatsächlich installiert, parallel zum Straßenverlauf, sondern um 90 Grad gedreht und damit kalkuliert für den das Bild aufmerksam inspizierenden Betrachter zur Schau gestellt. Zu sehen sind der Abwasserkanal in der Mitte, die Wasser- und Gasleitungen sowie die Rohre des Stadttelegraphen darüber. Es gibt markante Schnittstellen zwischen unten und oben wie die Gaslaternen, durch die Straßen und Plätze nun auch nachts als illuminierte Spazierräume attraktiv gemacht wurden, und die Litfaßsäule im Hintergrund, die nicht nur als Werbetafel im ästhetisierten Stadtraum diente, sondern auch als Einstiegsluke ins Kanalsystem. Links im Bild sind darüber hinaus Arbeiter zu sehen, die gerade einen Sprengwagen mit Wasser füllen, mit dem die Hauptstraßen kostenlos und die Nebenstraßen gegen Bezahlung der AnwohnerInnen gereinigt wurden. Mit den direkten Hausanschlüssen sind die ehemals ubiquitären – meist waren es Frauen – Wasserträgerinnen ebenso von der Straße verschwunden wie die Unrat- und Fäkalienschlepper. Die offenen Abwasserkanäle gehörten der Vergangenheit an. Wie beim Stadtmobiliar so wird auch bei der Straßenreinigung die funktionale und symbolische Verschränkung der beiden 7 Verwiesen sei hier nur die Studie von Marshall Berman, deren Untersuchungszeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart reicht und in der die städtische Moderne als Erfahrungsraum individueller Entfaltung beschrieben wird; Marshall Berman: All That Is Solid Melts Into Air. The Experience Of Modernity (1982), London 1988.

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örtlichen Realitäten von technischer Infrastruktur und der Sphäre der sich neu formierenden Dienstleistungsgesellschaft ablesbar. Nun erst konnte eine neue Spezies von StadtbenutzerInnen als Promeneur, Flaneur oder Spaziergänger auf die Bühne treten. Die Infrastruktur in der Unterwelt ist, so lautet das in dem Bild verdichtete Argument, die Bedingung für den oberirdischen Stadtraum als Erlebnisraum des ästhetischen Kapitalismus.8 In Moderne und Gegenwart sind im Zuge der invertierten Modernisierung Infrastruktur und Architektur, oberirdisches soziales Leben und unterirdische technische Aktivitäten schon lange nicht mehr so säuberlich zu trennen. Denn in den hochverdichteten Stadtarealen haben Tief- und Hochbauten in ihrer Masse stellenweise schon ein Verhältnis eins zu eins. Und mit den Tiefgaragen und U-Bahnen sind nunmehr auch die Shopping Malls in den Untergrund gewandert (Abb. 2).9 All diese Beobachtungen zeigen, dass Infrastruktur und Architektur mit dem jeweiligen Funktionsbegriff nur unzureichend zu beschreiben sind. Daher scheint es notwendig, die Benennungen des Architektonischen systematisch zu erweitern und dabei weiterhin die Infrastruktur im Auge zu behalten. Dies wird ermöglicht, indem man Architektur als ein Verbundsystem von Raum, Material und Repräsentation auffasst. Dementsprechend sind Gebäude wie auch Infrastrukturen Räume. Beide sind räumlich gebildete und raumbildende Strukturen, beide ermöglichen in räumlichen Dimensionen und Bezügen die Realisierung funktionaler Programme. Während in Infrastrukturen vor allem anonyme, technisch kontrollierte Abläufe bewerkstelligt werden, dienen Gebäude dem in Handlungsmustern organisierten Lebensvollzug der BewohnerInnen. In Häusern ereignet sich die „Performanz“ verschiedener Funktionen.10 Darüber hinaus sind diese Raumgegebenheiten in beiden Fällen materiell verwirklicht – etwa im Unterschied zu immateriellen, virtuellen, imaginären Räumen. Zudem lassen sich diese räumlich und materiell vorhandenen Sachstrukturen im Einzelfall auch als bedeutungsvolle Repräsentationen, als Sinnstrukturen beschreiben.

8 Vgl. Michael Hutter: Ernste Spiele. Geschichten vom Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus, Paderborn 2015; Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus, Berlin 2016. 9 Martin Murrenhoff: München als Modell der „Tiefen Stadt“. Eine Nachkriegsgeschichte städtischer Infrastruktur, in: Stephan Trüby u.a. (Hg.): Bayern. München. Hundert Jahre Freistaat. Eine Raumverfälschung, Paderborn 2019, S. 108-128. 10 Zum Programmbegriff in diesem Sinne schon die Definition von John Summerson: The Case For A Theory Of ‚Modern’ Architecture (1957), in: Ders.: The Unromantic Castle and Other Essays, London 1990, S. 257-266, hier S. 263-264: „A programme is the description of the spatial dimensions, spatial relationships, and other physical conditions required for the convenient performance of specific functions. [...] It is difficult to imagine any programme in which there is not some rhythmically repetitive pattern.“

Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation

Schließlich sind in der Beziehungsgeschichte von Infrastruktur und Architektur noch schlichteste visuelle Gegebenheiten und phänomenologische Aspekte anzusprechen – denn beide bis hierhin als Architekturen erörterten Systeme sehen unterschiedlich aus. Dies braucht keineswegs immer der Fall zu sein, wenn man etwa an die Gestaltung von einfach ausgeführten Gebäudehüllen denkt oder wenn man sich die Rolle von Verkleidungen, Blenden und unspezifische Fassaden vor Augen führt, die an Kauf häusern, Kraftwerksfassaden, Stellwerken oder Theatern gleichermaßen Verwendung finden können (Abb. 3). Bezieht man sich hingegen bei Infrastrukturen ausschließlich auf Fließräume, dann treten unterschiedliche Charakteristika doch einigermaßen markant hervor: Infrastrukturen rufen als Fließräume die Vorstellung von einem horizontalen Bild hervor, während Gebäude als umbaute Räume ein vertikales Bild evozieren. Mit solchen unterschiedlich gelagerten Volumenbildungen ist die Frage der Zugänglichkeit verbunden. Insoweit als Infrastrukturen als Aggregatarchitekturen überhaupt dem Transport von Menschen (und nicht nur von dinglichen Ressourcen) dienen, dann besitzen sie als Architekturen eher sekundäre Aufenthaltsqualitäten, man denke zum Beispiel an den Aufenthalt im Auto, in der U-Bahn oder in der Kabine der Bergbahn. Gleiches gilt letztlich auch für diejenigen Menschen, die sich entlang von Infrastruktursystemen im Rahmen ihrer nomadenhaft organisierten Mikroökonomien auf Autobahnraststätten auf halten. Gebäude hingegen dienen primär dem Aufenthalt von Menschen, und dies in einer besonderen Qualität des Entweder-Oder. Denn für die Architektur lässt sich behaupten, dass ihr entscheidendes – und vielleicht sogar einziges – Differenzkriterium gegenüber anderen Medien, und also auch gegenüber Infrastrukturen, das wechselseitige Ausschließlichkeitsverhältnis von Innen und Außen ist. In einem Gebäude ist man entweder drinnen oder draußen, und Architektur stellt dieses Entweder-Oder zur Disposition. Es gilt die Maxime: „Architektur ist Formbildung im Medium der Abschirmung, wobei die Abschirmung immer zweifach zu denken ist: als Schließung und als Öffnung.“11

Technisierung der Lebenswelt im Medium der Architektur Wenn wir es spätestens seit der sich entfaltenden Industrialisierung mit einem Prozess andauernder Technisierung der Lebenswelt zu tun haben, so sind sowohl immer weiter aufgerüstete Infrastruktursysteme als auch die zunehmende Masse von Gebäuden zwei maßgebliche Agenten dieser Entwicklung. Diese doppelte materielle Basis der gebauten Umwelt wird zusätzlich ausstaffiert mit mobilen 11 Dirk Baecker: Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur, in: Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen und Dirk Baecker (Hg.): Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 67-104, Zitat S. 95 (kursiv im Original).

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technischen Geräten in Haushalten und an Produktionsorten. Darüber hinaus tragen wir die Produkte der Bekleidungsindustrie an unseren Körpern und nehmen die Erzeugnisse der mit technischen Hilfsmitteln operierenden Ernährungsindustrie zu uns. Allein schon eine solche Aufzählung der heute wichtigsten technischen Großsektoren (Gebäude, Kleidung, Nahrungsmittel) sollte klar machen, dass damit ein in der aktuellen Technikforschung geforderter neuer, sozusagen f lacher Technikbegriff vorausgesetzt wird. Dieser orientiert sich nicht mehr primär an den Paradigmen von hochtechnologischer Erfindung und Innovation, wie sie beispielsweise an Technischen Universitäten noch immer ebenso hartnäckig wie anachronistisch als Goldstandard der Exzellenz in Umlauf gebracht werden, sondern an den Gegebenheiten eines technisch bestimmten Alltags und der habituellen Nutzung von Technik.12 Während man nun bei Infrastrukturen ganz umstandslos von der ausschließlich technischen Zurüstung der Anlagen ausgeht, scheint dies für die Architektur keineswegs ausgemacht zu sein. Doch allein schon um der Illusion einer Autonomie der Architektur zu widersprechen, ist es nützlich, auch für die Architektur die technischen Verständnisweisen und Regularien kurz zu rekapitulieren, die für Infrastruktur als selbstverständlich gelten. Zum ersten dienen Gebäude, wie jedes technische Artefakt, der Umweltbewältigung und darüber hinaus der Daseinsbeschleunigung. Letzteren Gedanken hat vor allem Hans Blumenberg in verschiedenen Zusammenhängen betont. Auch Gebäude sind in diesem Sinne Agenten zur Optimierung von Lebenszeit.13 Platt gesagt: Wenn sich Menschen versammeln wollen, müssen sie nicht jedes Mal zuerst ein Zelt aufschlagen, sondern können in einem schon gebauten Haus zusammenkommen. Zum zweiten wird jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts die ehemals individuelle, wissensgesteuerte Verfahrensweise der Herstellung, der techne, unter industriellen Bedingungen automatisiert. Dieser Prozess nahm im Bauwesen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts rasant Fahrt auf mit der Verwendung synthetischer Materialien wie Beton, Eisen und Glas sowie mit der Vorfertigung 12 Hierzu aus der neueren Literatur: Bernward Joerges (Hg.): Technik im Alltag, Frankfurt/M. 1988; Ulrich Troitzsch und Gabriele Wohlauf (Hg.): Technik-Geschichte. Historische Beiträge und neuere Ansätze, Frankfurt/M.1980; Peter Weingart (Hg.): Technik als sozialer Prozess, Frankfurt/M. 1989; David Edgerton: The Shock of the Old. Technology and Global History Since 1900, London 2006; zur Kritik des Internets im Alltagsgebrauch Adam Greenfield: Radical Technologies. The Design of Everyday Life, London/New York 2017. 13 Hans Blumenberg: Methodologische Probleme einer Geistesgeschichte der Technik (1967), in: Ders.: Geistesgeschichte der Technik, Berlin 2009, S. 49-99, hier S. 81 und S. 93: „Letztlich lassen sich alle technischen Entwicklungen direkt oder indirekt auf die Steigerung von Geschwindigkeiten zurückführen. Die Lebenszeit ist für den Menschen eine unveränderliche Größe; will er mehr Leistung und Genuß, an Selbstdarstellung und an Lebensfülle, muß er die Realisierung seiner Möglichkeiten in dieser vorgegebenen Zeit beschleunigen.“

Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation

andernorts und der Montage auf der Baustelle vor Ort. Mit diesen Produktionsweisen gewinnt zum dritten auch die Gebäudeästhetik eine neue, technische Dimension. Wobei es hier zu kurz greifen würde, dies nur unter rein formalen Gesichtspunkten zu verstehen, denn es geht ganz entscheidend um eine ausgesprochen technische Semantik der Form, nämlich als sichtbare Hervorbringung eines dynamisch verstandenen Bauprozesses. Es dürfte wenig Zweifel bestehen, dass heutzutage der Zenit des industriellen Bauens zumindest mit einer entsprechenden Begleitmusik in der Architekturtheorie – man denke an die frühere Euphorie der Kybernetik – vorüber ist. Zwar haben Hightech-Bauten weiterhin Konjunktur, sie sind aber nicht mehr aus einer entsprechenden Programmatik begründet, welche die technischen Verfahren von Planung und Herstellung sowie den Einsatz neuer synthetischen Materialien feiert. Das heißt aber nun keineswegs, dass die Allianz von Architektur und Technik aufgegeben worden wäre, sie hat sich nur in eine administrativ-politische Ebene hinein verlagert. Es genügt, hier nur auf die rechtlichen Reglungen des Bauwesens hinzuweisen. Sie sind nicht nur von pragmatischem Belang für die Baurealisierungen, sondern sie sind indirekt doch wieder als architekturtheoretische Quellen von Interesse, denn in ihnen sind stets normative Verbindlichkeiten in Bezug auf die Architektur eingearbeitet. Und hier ist die genuin technische Profilierung der Architektur ganz unverkennbar. In Deutschland sind es beispielsweise die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) und die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB), welche den kompletten Bauprozess vom Entwurf bis zur fertiggestellten Ausführung technisch und juristisch regeln. In der HOAI wird in der „Amtlichen Begründung für die Überarbeitung“ ausschließlich auf technologische Argumente abgehoben.14 Es gehe um die „Modernisierung und Vereinheitlichung der Leistungsbilder sowie (um die) Aktualisierung der Honorarstruktur unter dem Blickwinkel des Wandels der Berufsbilder, der Umweltbelange und der Regeln der Technik“. Die älteren Leistungsbilder seien in ihrer Ausrichtung am „Stand der Technik der 1970er Jahre“ obsolet. An die Stelle von Reißbrett, Rechenschieber und Schreibmaschine sind moderne Werkzeuge getreten: „Die aktuelle Planungswirklichkeit zeichnet sich hingegen durch den Einsatz des PC für Beschreibungen und Berechnungen des Planungsprozesses, CAD (computer aided design), E-Mail, Telefon, EU-weite Ausschreibungen und Vergaben über elektronische Plattformen aus.“ Gewandelt hätten sich darüber hinaus die Anforderungen an Planungsaufgaben in Bezug auf Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz sowie Kosten- und Terminsicherheit. Ein zweiter genuin technischer Aspekt ist die „Sicherstellung einer hohen Bauqualität und des Verbraucherschutzes“. Letz14 HOAI. Honorarordnung für Architekten und Ingenieure 2013. Textausgabe mit amtlicher Begründung, Stuttgart 102013, Zitate S. 145-147.

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tere sollen unter anderem gewährleistet werden durch die Bauüberwachung und die Bauabnahme (Objektbetreuung und Objektüberwachung), wie sie ebenfalls als Verfahren in der HOAI geregelt sind. Wie man sieht, werden hier Gebäude als rein technische Artefakte verstanden, gleichzeitig erweist sich das Rechtsdokument der Honorarordnung als ein Medium der politischen Kommunikation von Architektur. Gleiches gilt für die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, die vom Deutschen Institut für Normung herausgeben wird.15 Die ersten beiden Teile des Verordnungswerks führen die Regelungen für die Vergabeverfahren von Bauleistungen auf, diese sind dann im Einzelnen im dritten Teil ausgewiesen. Es handelt sich hier um eine fast 1000-seitige Liste von entsprechenden Arbeitsleistungen (Erd-, Bohr-, Verbau-, Maurer-, Werkstein-, Fliesenarbeiten usf.); alle Arbeitsschritte sind hinterlegt mit entsprechenden DIN-Angaben. Sowohl in der HOAI als auch in der VOB kommen Gebäude nur noch als dichte Taktung von Produktionsschritten mit technischen Verfahren vor. Architektur existiert in dieser Welt der Normen und Regelungen ganz und gar als Herstellungsprozess und bestenfalls in einer fernen Zielvorstellung überhaupt noch als das Objekt eines Bauwerks. Hierin liegt im Architekturverständnis ein deutlicher Ref lex auf das Industrielle Bauen einerseits, und andererseits ist die Analogie zu Infrastrukturen unverkennbar. Gleichzeitig erweisen sich die Rechtsdokumente der HOAI und der VOB als ein Medium der politischen Kommunikation von Architektur. Sie garantieren die Qualität in Planung und Ausführung und sichern die Kompetenzen von ausgebildeten ArchitektInnen und IngenieurInnen. Die Koppelung dieser Qualitätssicherung an die in der HOAI festgelegten Mindest- und Höchstsätze der Architektenhonorare war der EU-Kommission ein Dorn im Auge. Mit ihrer Klage gegen die Bundesrepublik erwirkte sie im Sommer 2019 ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das die HOAI als nicht mit der EU-Dienstleistungsrichtlinie vereinbar befand. Ziel ist die komplette Öffnung der Planungsbranche in der Bundesrepublik für den europäischen Markt.16 Das ausgesprochen technizistische Architekturverständnis, welches das EuGH-Urteil unangetastet ließ, dokumentiert sich nicht nur in der HOAI, sondern auch in den Handbüchern und Zeitschriften, die als aktuelle Informationsmedien den an der Herstellung Beteiligten zuarbeiten. In diversen, in der Büroarbeit für Auskünfte über Konstruktionsdetails unverzichtbaren Materialatlanten (z.B. Be15 Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, hg. vom Deutschen Institut für Normung, Hamburg 2019. 16 Barbara Ettinger-Brinckmann: Wir wollen doch auch die euroäische Idee schützen – Zur Sachlage HOAI und EU, in: Deutsche Bauzeitschrift 3 (2017); https://www.dbz.de/artikel/dbz_ Wir_wollen_doch_ auch_die_europaeische_Idee_schuetzen_Im_Gespraech_mit_2763622.html.

Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation

tonbau-, Eisenbau-, Holzbauatlas) sind in unübersehbarer Fülle Schritte der Materialverarbeitung dargelegt. Aus der Perspektive der Industrieproduktion formuliert, bildet sich in diesen Handbüchern der Zwischenschritt der Umwandlung von materiellen Rohstoffen zu den Halbfabrikaten der Baustoffe und von dort zur Konstruktion ab. Beim Durchblättern von Bauzeitschriften ist ebenfalls zu ermessen, in welchem Umfang auch die Bauproduktion auf seriellen Komponenten beruht. Auf dem publizistischen Segment der auf die Baupraxis ausgerichteten Informationszeitschriften teilt sich bereits in den wiederkehrenden Rubriken „Technik“ und „Produkte“ das Verständnis vom Gebäude als teilstandardisiertes, industrielles Objekt mit. Die Produktstrecken in diesen Fachzeitschriften beruhen nicht nur finanzielle Deals zwischen den Redaktionen und den Herstellern der Baumaterialien, sondern sie zementieren im Takt des Erscheinens der Zeitschriften auch das Interessenbündnis von Entwurfs- und Bauindustrieproduktion. Kommt man vor dem Hintergrund dessen, was in den genannten Publikationen über die Architektur gesagt wird, auf die Technisierung der Lebenswelt zurück, so wird offensichtlich, dass die Verantwortung für diesen Prozess mitnichten nur bei den sprichwörtlichen üblichen Verdächtigen liegt, also bei den Maschinen, der Infrastruktur und darunter aktuell besonders den Informations- und Unterhaltungsmedien. Teil einer Technisierung der Lebenswelt ist ganz handfest die Architektur. Auch Gebäude sind technische Gerätschaften. Sie sind nicht nur als Artefakte technisch gefertigt, sondern sie bedürfen, ebenso wie andere Technologiesektoren, einer politischen Kommunikation der Vermittlung, um mit ihr eine Vermittlung in die Lebenswelt hinein zu erfahren. Im Allgemeinen gehen wir dabei von vielen Selbstverständlichkeiten und Gewöhnlichkeiten aus, die sich aber bei näherem Hinsehen als keineswegs so umstandslos gesicherte Wirklichkeiten darstellen. Es gehört zu den banalen, aber zweifelsohne fundamentalen Grundgesetzen der Technikwahrnehmung, dass uns Technik erst dann auffällt, wenn sie nicht funktioniert, wenn der Stau auf der Autobahn den Verkehr stillstellt, wenn Zuhause die Heizung ausfällt, wenn der Akku im Smartphone leer ist. Diese punktuelle Aufmerksamkeit im Falle der Disfunktionalität sollte aber nicht übersehen lassen, dass technische Prozesse und Artefakte allgemeinere Probleme sowohl der grundsätzlichen Verstehbarkeit als auch der situativen Verständlichkeit bei NutzerInnen aufwerfen. Dies hat vielfältige Gründe, die hier nur angedeutet werden sollen. Zwar sind technische Gegenstände systematisch entworfen, je nach Produktklassen (z.B. Automobil, Laptop, Gebäude) in ihren Bauprinzipien geordnet und sie weisen spezifisch variierte Erscheinungsweisen und rationale Gebrauchsordnungen auf. Gleichwohl sind die real ablaufenden Operationen im Inneren von Maschinen oder Infrastrukturen weitgehend unsichtbar. Gleiches gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die technischen Gegebenheiten von Gebäuden. Sie sind in den meisten Fällen prob-

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lemlos nutzbar, doch auch sie bleiben als technische Artefakte weitgehend unverständlich. Techniknutzung geht eben nicht restlos in unartikulierter Akzeptanz auf, ganz im Gegenteil bedürfen Handlungsroutinen des Umgangs mit Technik in erheblichem Umfang vieler Zwischenmedien, durch die solche Routinen vermutlich sogar erst ermöglicht werden. Jedenfalls bedarf die Übersetzung der in den Artefakten verborgenen technischen Prozesse in „das praktische Bewußtsein einer sozialen Lebenswelt“17 eines nicht unerheblichen Aufwandes an ästhetischkommunikativer, letztlich politischer Mitteilung. Diese Kommunikation kann, wie es in diesem Textabschnitt für die Architektur gezeigt wurde, in der Sprache der Verordnungen, Normierungen und der Fachpublizistik artikuliert oder sie kann mit den Mitteln der rein visuellen Kommunikation verlautbart werden.

Infrastruktur als politische Kommunikation Als der englische König George III. um das Jahr 1775 in der Werkstatt von Matthew Boulton und James Watt in Birmingham eine Dampfmaschine in Augenschein nahm, sagten ihm die beiden Firmenbesitzer, dass sie eine Ware herstellten, an der Könige Gefallen fänden, nämlich Macht: „[...] that they were manufacturing an article of which kings were fond, and that that article was power.‘18 Obwohl der Monarch fürs Erste maliziös reagierte, denn noch hatte die Dampfmaschine ihre „power“ keineswegs unter Beweis gestellt, sollten die Erfinder – mehr als sie seinerzeit wohl geahnt haben mochten – Recht behalten. Denn in einem ganz umfassenden Sinn sind Infrastrukturen innerhalb der politischen Kommunikation Generatoren von Macht. Der Zusammenhang von Infrastruktur und Macht lässt sich über Zeiten und Länder hinweg beobachten. Infrastrukturen sind, bei allem Wandel der Technik und der Intensität territorialer Durchdringung, überzeitliche Konstanten politischer Kommunikation. Dies wurde in der historischen Forschung immer wieder eindrucksvoll rekapituliert.19 Weltgeschichtlich lässt sich an die infrastrukturelle Nutzung von Flusssystemen durch einzelne Imperien denken, geradezu emble17 Jürgen Habermas: Technischer Fortschritt und soziale Lebenswelt (1966), in: Ders.: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘ (1968), Frankfurt/M. 21970, S. 104-119. 18 Jacob Bigelow: The Useful Arts, Considered in Connexion with the Applications of Science etc., 2 Bde., New York 1856, Bd. 1, S. 18-19: „When George III. visited the works of Messrs. Boulton and Watt, at Birmingham, and was told that they were manufacturing an article of which kings were fond, and that that article was power; he was struck with the force and disadvantageousness of the comparison. Yet the steam-engine hat not then been launched upon the ocean, and had developed only half of its energies.“ 19 Als neuere Synthesen Maria Paula Diogo und Dirk van Laak: Europeans Globalizing. Mapping, Exploiting, Exchanging (Making Europe Bd. 5: Technologies and Transformations, 1850-2000), London/New York 2016; van Laak: Alles im Fluss.

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matisch zeigt sich der Zusammenhang bei der Bedeutung des Nils für den Machtausbau der Pharaonenreiche. Aus der Epoche des römischen Imperiums geben die bis heute in Ehrfurcht gebietendem Umfang erhaltenen Wasserbauten sowie nun erstmals auch schriftliche Zeugnisse Einblicke in technische, organisatorische, ideologische und ästhetische Belange der Wasserinfrastruktur. Waren Wasserleitungen in den regional zersplitterten Landschaften der griechischen póleis noch fast ausschließlich unterirdisch geführt worden, um sie vor potentiellen Feinden geheim zu halten, so erlaubte die Entstehung eines im Inneren einigermaßen konsolidierten Flächenstaates unter der Observanz von Rom eine oberirdische Trassierung von Aquädukten, womit diese Ingenieursbauten nun auch zeichenhaft für das etablierte politische System des Weltreiches einstehen konnten. In der Neuzeit kam es zu einer nachhaltigen Mechanisierung der Infrastrukturen in Transport und Verkehr, in der Energieerzeugung und in den Netzen der Informationsvermittlung. Hierbei arbeiteten staatliche Interventionen, etwa bei der Ausbildung von SpezialistInnen an den Technischen Hochschulen, bei der Steuergesetzgebung oder bei Enteignungen und kapitalistische Investitionsinteressen Hand in Hand. Nicht zuletzt der überragenden Relevanz von Infrastrukturen als pragmatische Machtmittel und als Medien politischer Kommunikation ist es zu verdanken, dass bedeutende Infrastrukturbauten mit größter Kontinuität über die Jahrhunderte hinweg entstanden. Dabei sind immer wieder auch Konjunkturen einer Fusion von Infrastruktur und Architektur zu verzeichnen.20 So gab es bisweilen Epochen, in denen sich das jeweils zeitgenössische Architekturverständnis ausdrücklich von den seinerzeit gegebenen technischen Realitäten und ästhetischen Wirkungen der Infrastruktur ableitete. Wenn man nicht unverzüglich an die 1960er Jahre mit Bauten wie dem Centre Pompidou oder Gustav Peichls ORF-Landesstudions denkt, dann lässt sich dies am Anfang des 20. Jahrhunderts beispielhaft für den Futurismus namhaft machen, der sich – beginnend mit Filippo Tommaso Marinettis Futuristischem Manifest von 1909 – die Forderung nach einer radikalen technologischen Beschleunigung in allen Lebensbereichen auf die Fahnen schrieb. Mit dieser Ideologie konnte man später auch das faschistische Regime Benito Mussolinis beeindrucken. Passend hierzu stellt der israelische Politologe Zeev Sternhell die Technikaffinität der Faschisten wie folgt dar: „Aber obwohl der gesamte Faschismus die Rückkehr zu Natur und Boden vertrat, war er nicht anti-modern. Der Faschist zeigte stets eine Vorliebe für neue Industriezweige und technische Innovationen, für Flugzeuge und Autos. [...] Kraft, Geschwindigkeit, Energie, Zähigkeit, Solidität und Effektivität sind die wesentlichen faschistischen Eigenschaften und ebenso die der modernen Maschine, des 20 Dietrich Erben: Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2017, S.108-116.

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Automotors und der hochentwickelten Technik. Diese Vorliebe übertrug sich auf das Vokabular. Um den aktivistischen Geist der faschistischen Bewegung zu beschreiben, wählte Mussolini den Ausdruck: ‚Der Faschismus ist ein Dynamo.‘“21 Es ist von einiger inneren Folgerichtigkeit, dass der neuere Entdecker der Bedeutung des Futurismus für die Architekturgeschichte zugleich auch der bedeutendste Architekturhistoriker der Infrastruktur war, gemeint ist Reyner Banham. Während Banham in seinem Machine Age-Buch (1960) die tragende Rolle des Futurismus für die Genese der Moderne herausarbeitete, analysierte er im Atlantis-Buch (1989) die technologische Seite der Architektur, wobei er bereits im Los Angeles-Buch (1971) Infrastruktur und Architektur in einer Gesamtsicht auf die „Ökologien“ der gebauten Umwelt fusioniert hatte.22 Banham geht es in letzterem Buch um die Austauschprozesse zwischen höchst unterschiedlichen Umweltsystemen, zwischen Landschaft, Architektur, Verkehr, Kommunikation, Versorgung, Freizeiteinrichtungen und so fort. Ihn interessieren die „polymorphous architectures“ wie Supermärkte, Hotdog-Buden und Tankstellen, Werbetafeln und Zäune ebenso wie Wohnhäuser. Die von Banham in den Blick genommenen „ecologies“ sind Sphären, in denen überall die „language of movement“ gesprochen wird. Präfiguriert wird eine solche „Sprache der Bewegung“ in den Architekturvisionen der Futuristen. Antonio Sant’Elia, der berühmteste Architekt der Künstlergruppe23, hat in seiner kurzen Entwurfstätigkeit in spektakulären Zeichnung Infrastrukturbauten wie Heiz- und Wasserkraftwerke entworfen, die unverkennbar Bezug auf die damals avancierten Anlagen der Stromgewinnung in den italienischen Alpenregionen des Piemont, des Aostatals und der Lombardei nehmen. Das Entwurfskonzept, über Architektur insgesamt unter der Gegebenheit der Energie- und Verkehrsf lüsse nachzudenken, bestimmt auch Sant’Elias Zugriff auf andere Bauaufgaben. Studien für Kirchen der imaginären Città Nuova münzen die Bauten in gigantische, respekteinf lößende Transmitter von gleichsam kosmischen Energien um. Die Studien zu Terrassenwohnhäusern (Abb. 4) heben nicht nur die infrastrukturellen Anschlüsse der Gebäude zur Umgebung hervor, sondern es scheint, als zöge das Haus die Bewegungsläufe auch ins Innere. Aufzugschächte streben kühn himmelwärts, während die abgetreppten Balkone der Wohnungen die kinetische Fassadenenergie in einer Kaskade wieder zur Erde abführen. 21 Zeev Sternhell, Faschistische Ideologie. Eine Einführung (2002), Berlin 2019, S. 50-51. 22 Verwiesen wird auf die Erstausgaben der in vielen Aufl. und Üs. erschienenen Bücher; Reyner Banham: Theory and Design in the First Machine Age, London 1960; Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies, London 1971; A Concrete Atlantis: US Industrial Building and European Modern Architecture, 1900-1925, Cambridge MA. 1989. 23 „Antonio Sant’Elia. Gezeichnete Architektur“ (Ausstellungskatalog Berlin), hg. von Vittorio Magnago Lampugnani, München 1992.

Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation

Das Wasserkraftwerk Guido Donegani Das Wasserkraftwerk in Glurns (Abb. 5-7) bei Meran, mit dessen Bau 1939 begonnen wurde, steht einerseits noch in der Tradition der futuristischen Visionen einer sozusagen unter Hochspannung stehenden Umwelt und bildet andererseits einen Baustein in der durch das faschistische Regime vorangetriebenen Expansion der Energiewirtschaft in der seit 1918 zu Italien gehörigen Region Alto Adige/ Südtirol.24 Das an der Vintschgauer Staatsstraße gelegene Wasserkraftwerk Guido Donegani wurde zwar schon ab April 1939 ausgebaut, doch es wurde erst im August 1949, ein paar Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in Betrieb genommen. Seither wurde es nur im Inneren teilweise technisch modernisiert. Sowohl für die Funktionsabläufe als auch für die politische Semantik einer solchen Anlage ist eine Trias von Großelementen bedeutsam: Dies betrifft zunächst die Besetzung der Topographie mit beträchtlichen Höhenunterschieden durch eine ausgedehnte Flächenanlage, dann die gebauten Areale der teilweise unterirdischen Leitungssysteme und der Hallenbauten sowie schließlich die Bildprogramme der Innendekorationen und der Bauplastik im Außenbereich. Wie bei Infrastrukturen generell so sind auch bei diesem Beispiel alle drei Elemente in eindrucksvoller Deutlichkeit Träger politische Semantik. Das Kraftwerk wird vom hoch in den Bergen gelegenen Reschenstausee gespeist, dessen Kapazität wiederum durch umgeleitete Bach- und Stollenzuf lüsse künstlich erhöht wird. Die Wassermassen werden durch einen Druckstollen in das Tal zu einem Wasserschloss geleitet, von dort unter erhöhtem Druck zum Kavernenkrafthaus. Von dort aus wird das so genannte Triebwasser über einen zum Teil offen geführten Wasserkanal in das Ausgleichbecken im Talboden geleitet (Abb. 5). Der Hauptbau des Wasserkraftwerks bildet zur Straße hin einen Vorhof und eine mit Marmorplatten verblendete Schaufassade aus, die als Fassadenkörper der rückwärtigen Betriebshalle des Kraftwerks vorgelagert ist (Abb. 6). In der strikt symmetrisch angelegten dreiteiligen Zonierung der Fassade rahmen zwei seitliche Abschnitte mit hohen Tordurchfahrten und darüber liegenden Inschriftenfeldern den konkaven Mitteltrakt mit den schmalen vertikalen Fensterbahnen. Die Rhythmisierung der vertikalen Bandöffnungen innerhalb der Fenstergruppe und die Anordnung der Fenster erfolgt in einer eher simplen Klapp-(statt Achsen-) Symmetrie und ist so dem Gedanken einer seriellen Reihung verpf lichtet, was sich wiederum als entwerferische Konzession an Gestaltungsweisen des Industriebaus verstehen lässt. Dagegen übernimmt das geschlossene Wandband darüber tektonisch die Funktion einer Attika und komplettiert die strikt hierarchische 24 Die Informationen zur Anlage sind entnommen der Hompage des als Online-Plattform eingerichteten Museo della technica/tecneum: http://www.tecneum.eu/index. php?option=com_tecneum&task=object&id=402.

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Disposition der gesamten Fassade. Hinter der Fenstergruppe befindet sich mittig im Obergeschoss das in schwarzem Marmor ausgekleidete Podium der historische Schaltwarte, die sich wie eine Kommandobrücke über der Maschinenebene im Inneren des Betriebsgebäudes erhebt. Dieser Gebäudeteil wird über den monumentalen Mittelrisalit erschlossen und erstreckt sich rückwärtig als kompakter, durchfensterter Baukörper. Zusammen mit der territorialen Besetzung des Umlandes durch Leitungen, Kanäle und dem monumentalen Hauptbau bildet das jenseits der Staatsstraße gelegene Kraftwerksdenkmal (Abb. 7) einen integralen Bestandteil der politischen Mitteilung des Ensembles. Auf einem Stufensockel, der auf einem kreisförmigen Grundriss errichtet wurde, wurde eine in Bronze gegossene Statuengruppe postiert, die das Thema des Rossebändigers aufnimmt. Eine männliche Aktfigur hält zwei sich auf bäumende Pferde im Zaum, wobei die Gruppe in ihren überlebensgroßen Abmessungen, in der frontalen Ausrichtung und in der konventionell einfachen Ikonographie ostentativ auf die vorbeifahrenden Reisenden ausgerichtet ist. Der Appellgehalt der Figurengruppe begründet sich aus mehreren Faktoren: Die Statuengruppe leistet die anschauliche Verschränkung der zwei Infrastruktursysteme der Energiegewinnung und des Straßennetzes. In ihr wird die Realität der Naturbeherrschung mit den technischen Mitteln des Kraftwerks in der Form einer männlich-heroischen Symbolfigur zur Allegorie der Unterwerfung verallgemeinert. Schließlich sind wesentliche Merkmale der faschistischen Ideologie „der Kult körperlicher Stärke [...] und der Kult des Lebens, der Gesundheit sowie des Blutes, kombiniert mit einer Besessenheit von der Männlichkeit und der Verachtung der Intellektuellen.“25 Darüber hinaus beruht die Bedeutung der Gruppe auch auf ihrem ikonographischen Traditionsgehalt, verweist doch der Rossebändiger zurück auf die beiden berühmten antiken Rossebändiger-Gruppen auf dem Quirinalsplatz in Rom. Gerade mit diesem letzten Bezug lässt sich das Kraftwerksdenkmal als Mobilisierung zentraler ideologischer Versatzstücke der imperialen Propaganda des Mussolini-Regimes und der faschistischen Kulturpolitik verstehen. Ihr dienten die Berufung auf die „romanità“ (das Römische) und auf die „mediterraneità“ (das Mittelmeerische) als Schlagworte.26 In der politischen Kommunikation lässt sich, all diese Beobachtungen zusammengenommen, das Kraftwerk in Glurns als Vorposten der faschistischen Herrschaft im neu arrondierten Landesteil im Norden Italiens verstehen.

25 Sternhell: Faschistische Ideologie, S. 48. 26 Zu diesen ideologischen Elementen in der Architektur des Faschismus neben der Fülle der italienischen Literatur als neuere Synthesen: Richard A. Etlin: Modernism in Italian Architecture, 1890-1940, Cambridge 1991; Diane Ghirardo: Italy (Modern Architectures in History), London 2013.

Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation

Fazit Eine Deutung der Gegenwart hätte unter anderem auch von diesen historischen Gegebenheiten einer dezidiert machtpolitischen Funktionszuweisung auszugehen. Sowohl Infrastrukturen als auch Architekturen sind träge, auf Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse angelegte Medien. Dies bestätigt sich sogar kontrafaktisch darin, dass sich historisch gesellschaftlicher Widerstand und die sprichwörtliche Unterwelt immer wieder im städtischen Untergrund organisierten, wobei sich mit dieser Verdrängung der Marginalisierten an dystopische Orte die oberirdische Gesellschaft das Leben leichter machte. Es bestätigt sich aktuell etwa auch im Blick auf die soeben in Kopenhagen fertiggestellte, vom Architekturbüro BIG geplante und von der Firma Copenhill betriebene Müllverbrennungsanlage (Abb. 8). Das Gebäude vereint auf seiner Dachlandschaft Skipisten, Wanderwege zwischen Fichten und Wiesen, ein Gipfelrestaurant, einen Skiverleih und eine Kletterwand. In einem ersten Entwurf, der in Zusammenarbeit mit dem Berliner Büro realities:united entstand, sollte zudem auf plakative Weise der tägliche CO2-Verbrauch thematisiert werden. Die Abgase der Verbrennungsanlage sollten in ringförmigen Abgaswolken in die Luft geblasen werden, die jeweils eine halbe Tonne CO2 enthalten. Diese politische Kommunikation des Themas Resourcenverbrauch wurde aus Kostengründen in der Ausführung eingespart. Die ästhetische Thematisierung dieser unbequemen Botschaft passt vielleicht doch nicht in das Programm einer sogenannten hedonistischen Nachhaltigkeit, für die Bjarke Ingels wirbt. Was bleibt ist ein Gebäude mit Eventscharakter, das TouristInnen anziehen und als künstlicher Stadtberg für die körperliche Fitness genutzt werden soll. Aus der Kombination scheinbar wesensfremder Sphären Kapital zu schlagen – also hier der Kombination von Energieerzeugung und Freizeit – ist eine ganz wesentliche Strategie neoliberaler Landnahme. Die Architektur ist dabei nur noch ein Mittel der Camouf lage für die Allianz aus infrastruktureller Versorgung und metropolitanem Lifestyle.

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Abb. 1 Otto Glagau: Ein unterirdisches Städtebild, Lithographie. Foto aus: Daheim, 1866.

Abb. 2 Stachusbauwerk am Karlsplatz in München. Postkarte und Schnittzeichnung von E. Lutz. Collage Martin Murrenhof f.

Abb. 3 John M. Johansen: Mummers Theater in Oklahoma City, fertiggestellt 1970, 2014 abgerissen.

Abb. 4 Antonio Sant’Elia: Città Nuova. Terrassenhaus; Tusche und Bleistif t auf Papier, 1914.

Abb. 5 Wasserkraf twerk in Glurns, Südtirol. Blick auf das Kraf twerk und den Ausgleichssee im Tal.

Abb. 6 Hauptbau des Wasserkraf twerks in Glurns, errichtet 1939-1949.

Abb. 7 Wasserkraf twerk Glurns, Denkmal des Rossebändigers.

Abb. 8 Büro Bjarke Ingels: Copenhill in Kopenhagen, fertiggestellt 2019.

„Haltung“ Zu Karriere und Kritik eines Begriffs in der Architektursprache

„Haltung“ gehört zum Konventionswortschatz deutschsprachiger Architektinnen und Architekten. Eine eigene „architektonische Haltung“ oder „Entwurfshaltung“ wird, wie eine entsprechende Sucheingabe im Internet klar macht, von Architekturbüros auf ihren Homepages als Distinktionsmerkmal in Anspruch genommen. Auch in Begründungen von Juryentscheidungen wird „Haltung“, wie ein Blick in die Jahrgänge von wettbewerb aktuell zeigt, Architekten, aber auch Gebäuden attestiert. Ob als Zuschreibung an eine Person oder an ein Bauwerk, ist „Haltung“ ein Qualitätskriterium an sich – man muss „Haltung“ nicht genauer erläutern, es genügt, dass man sie hat. Darüber hinaus ist auch die Erziehung zu „architektonischer Haltung“ ein Ausbildungsziel, das an Architekturfakultäten formuliert wird und vom Berufsverband, dem BDA, gefordert wurde. In dieser Allgegenwart ist „Haltung“ ein strategischer Begriff des Berufsstandes, der dazu dient, in der gesellschaftlichen Kommunikation einen berufsständischen Anspruch zu formulieren und nach dessen Geschichte, Aktualität und Tauglichkeit gefragt werden soll.1 I. „Haltung“ gehört nicht zu jenem kleinen Kreis von systematischen Grundbegriffen der Architektur, die – wie etwa Entwurf, Planung oder Funktion – im Zuge der Professionalisierung des Architektenberufs im 19. Jahrhundert in die Architektursprache eingewandert sind und sich neben dem technischen Fachvokabular herausgebildet haben. Bei dem Begriff handelt es sich hingegen um eine deutende Kategorie, die nach 1900 in Konkurrenz zum Begriff des Stils getreten ist und diesen ablöste. Dabei ist es bis heute geblieben. Bis ins 19. Jahrhundert umfasste „Haltung“ ein weites Feld ganz unterschiedlicher Bedeutungen.2 Sie haben sich teilweise in der Gegenwartssprache noch in 1 Die Anmerkungen beschränken sich auf Quellennachweise, verzichtet wird auch auf Begründungen in Bezug auf die etablierten Methoden und Theorien der Begriffsgeschichte, denen sich die folgenden Überlegungen natürlich verdanken. 2 Zum Folgenden mit den unterschiedlichen Wortbedeutungen und den Beispielen Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in 32 Teilbden, Leipzig 1854-1961, Quellenverzeichnis Leipzig 1971, Bd. 10, Stichwort „Haltung“.

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zahlreichen Komposita mit präzisierenden Wortbeifügungen erhalten. Das Wort konnte in verkürzter Form für Anhalten („scheinbare Haltungen der Feinde im Rückzug“), Abhalten („Haltung eines Festes“), für Vergleich („GegeneinanderHaltung“), Einhalten („Haltung des Gesetzes“) oder auch für Festigkeit („Gesimse, die wenig Haltung haben“) verwendet werden. In dieser Verkürzung wurde es auch im Sinne von Haushalt („Haushaltung“) verwendet, in der „Tierhaltung“ und der „Hof haltung“ hat diese altertümliche Wortfassung heute noch überlebt: Haushalt war gleichbedeutend mit dem alten Begriff der Hauswirtschaft, also der privaten Ökonomie (oikos) im Unterschied zur neuzeitlichen öffentlich-staatlichen Kameralistik (camera). In einem Gedicht von Friedrich Rückert aus dem Jahr 1840 heißt es zur „Haushaltung“: „Es kann die rechte Haltung Im kleinsten Haus nicht seyn, Bis ihr erst zur Gestaltung Das große laßt gedeihn.“3 Daneben ist vor allem die Bedeutung als Synonym für angemessenes Verhalten maßgeblich. So ist in dem seinerzeit berühmten Zedlerschen Universal-Lexicon unter dem Stichwort „Conduite“ vermerkt: „Die Verhaltung, Aufführung. Man sagt, dieser Mensch hat eine gute Conduite. Seine Conduite, seine Lebens-Art, stehet mir wohl oder übel an.“4 In der ebenso populären Verhaltensanweisung des Freiherrn von Knigge heißt es: „Was die Franzosen contenance nennen, Haltung und Harmonie im äußern Betragen, Gleichmüthigkeit, Vermeidung alles Ungestüms, aller leidenschaftlichen Ausbrüche und Übereilungen, dessen soll sich vorzüglich ein Mann von lebhaftem Temperament bef leißigen.“5 Von diesem allgemeinen Verhaltensbegriff, insbesondere der Selbstkontrolle, leitet sich die sprichwörtliche „stramme Haltung“ des Soldaten ab, die sich sowohl auf Einzelpersonen als auch auf Truppenkontingente beziehen konnte: „Der Soldat zeigt eine stramme Haltung; die Truppen waren staubbedeckt, ihre Haltung kräftig, die Stimmung wohlgemuth“, so triumphiert die Volkszeitung während des Deutsch-Österreichischen Krieges im Jahr 1866. „Haltung“ ist im Rahmen all dieser Wortbedeutung ein Begriff, der ebenso auf das Grundsätzliche wie auf das Demonstrative zielt. Er umschreibt auf der einen Seite summarisch ein Ensemble von inneren geistigen oder charakterlichen 3 Friedrich Rückert: Gedichte, ausgewählt vom Verfasser, Frankfurt/M. 1841, S. 177. 4 Johann Heinrich Zedlers Grosses Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste etc., 64 Bde., Leipzig 1731-1750, Bd. 6, 1734, Stichwort „Conduite“. 5 Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Fünfte vermehrte und verbesserte Auflage (zuerst 1788), Hannover 1808, Bd. 1, S. 65-66.

„Haltung“

Eigenschaften einer Person oder einer Gruppe und bezieht auf der anderen Seite deren äußerlich sichtbare Mitteilung durch entsprechende Verhaltensweisen mit ein. II. Die Zweischneidigkeit von Innen und Außen bleibt dem Begriff erhalten. Doch er erfährt am Beginn des 20. Jahrhundert eine systematische Abgrenzung vom Begriff des Stils und, damit verbunden, eine äußerste ideologische Zuspitzung. Diese Verlagerungen sind in aller Kürze zu skizzieren, denn sie waren die Voraussetzung dafür, dass der Haltungsbegriff auch für die Architektursprache in Beschlag genommen werden konnte. Dem Konzept des Stils war in der Moderne ein ganz unerwarteter Erfolg beschieden. Gemeint war mit Stil nun nicht mehr nur die für eine bestimmte Epoche besondere Gestaltungsidee, also ein Kunststil, sondern auch ein Handlungskonzept, also ein Lebensstil. Es war der Soziologe Georg Simmel, der in seinen Überlegungen erstmals diese beiden Dimensionen von Kunst und Leben systematisch zusammengeführt hat. Simmel maß, darauf läuft seine Grundüberlegung hinaus, dem Stil eine Entlastungsfunktion bei. Er verdeutlicht dies am Beispiel des Kunstgewerbes: Dieses soll „statt des Charakters der Individualität [...] den Charakter des Stils“ haben. Im Gegensatz zum Kunstwerk befreit ein kunstgewerblicher Gegenstand durch seine stilgemäße Allgemeinverbindlichkeit seinen Benutzer von den Zwängen der Selbstdarstellung. Demgemäß läßt uns, so Simmel, die Einrichtung unserer Wohnungen mit stilkonformen Objekten des Kunstgewerbes mit „dem Überindividuellen, dem Allgemein-Gesetzlichen in uns selbst reagieren“ und es erlöse „uns damit von der absoluten Selbstverantwortlichkeit, die im Balancieren auf der Schmalheit der bloßen Individualität“ besteht. Dies ist „die tiefere Veranlassung, weshalb die Dinge, die uns als Hintergrund oder Basis des täglichen Lebens umgeben, stilisiert sein sollen.“6 Simmel sieht hier den Einzelnen vor allem mit einer neuen Form des Handlungsdrucks konfrontiert, der für die Moderne insofern bestimmend ist, als er von den gesellschaftlichen Konkurrenzverhältnissen der „Geldwirtschaft“ erzeugt ist. In der kapitalistischen Wirtschaftsform, der Simmel sein soziologisches Hauptwerk gewidmet hatte, wachse die soziale Unsicherheit in Anbetracht eines auf Gewinn ausgerichteten, daher spekulativen Handelns, während gleichzeitig persönliche Beziehungen zusehends ihre Verbindlichkeit in anonymen Verwaltungsstrukturen einbüßen. Die Moderne sei, mit einem Wort gesagt, geprägt von der „Unpräjudizierbarkeit der Charaktere“.7

6 Georg Simmel: Das Problem des Stils (1908), in: Ders.: Soziologische Ästhetik, hg. von Klaus Lichtblau, Bodenheim 1998, S. 151-160, hier S. 156-157. 7 Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900) (Gesamtausgabe Bd. 6), Frankfurt/M. 1994, S. 594- 597.

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Unter diesen Gegebenheiten ist für Simmel die Aneignung eines persönlichen oder gruppenspezifischen Lebensstils eine schiere Notwendigkeit. Denn Lebensstile gewährleisten in der Unübersichtlichkeit der modernen Lebensbedingungen Orientierung und sie ermöglichen dem Einzelnen darüber hinaus auch den Rückzug in das Typische: „Was den modernen Menschen so stark zum Stil treibt, ist die Entlastung und Verhüllung des Persönlichen, die das Wesen des Stils ist. Der Subjektivismus und die Individualität hat sich bis zum Umbrechen zugespitzt, und in den stilisierten Formgebungen, von denen des Benehmens bis zur Wohneinrichtung, liegt eine Milderung und Abtönung dieser akuten Personalität zu einem Allgemeinen und seinem Gesetz. Das ist, als ob das Ich sich doch nicht mehr allein tragen könnte oder sich wenigstens nicht mehr zeigen wollte und so ein generelles, mehr typisches, mit einem Wort: ein stilisiertes Gewand umtut.“8 Die hier erkennbare Ausweitung des Stilbegriffs über das Künstlerische hinaus in alle Lebensbereiche beschränkte sich keineswegs auf die Wissenschaftssprache. Sie wurde auch von Künstlern und Architekten geradezu euphorisch aufgenommen. Es ist auffällig, dass die Forderung nach einem Einheitsstil umso lauter wurde, je unduldsamer am Historismus des 19. Jahrhunderts der Geist von vermeintlich wahllosem Eklektizismus, von bloßer Imitation und kulissenhafter Äußerlichkeit kritisiert wurde. So verwarf man zwar das „Wahngebilde einer ‚Stilarchitektur‘“, suchte jedoch umso dringlicher, „einen neuen Stil, den Stil der Gegenwart“ durchzusetzen.9 Stil wird als Kategorie also keineswegs außer Kraft gesetzt, sondern im Gegenteil für die Klassische Moderne um 1900 als ein zeichenhafter Begriff, der das Ganze umschreibt und so auch von weiterer Präzisierung entlastet, reklamiert: „Darum werden wir einen neuen Stil haben, einen eigenen Stil in allem, was wir schaffen. [...] Der Stil aber ist das Symbol des Gesamtbefindens, der ganzen Lebensauffassung einer Zeit und zeigt sich in allen Künsten.“10 Die niederländische Avantgardebewegung De Stijl konnte sich 1917 schlicht den Kollektivsingular des Begriffs – eben nicht „Stile“, sondern „Der Stil“ – auf die Fahnen schreiben, um ihrem Totalprogramm einer Erneuerung der Künste Aufmerksamkeit zu verschaffen. III. Es gehört sicher zu den eigentümlichsten Wendungen in der Geschichte des Stilbegriffs, dass sich innerhalb des Bedeutungskontextes von diesem Wort 8 Simmel: Problem des Stils, S. 158. 9 So Herman Muthesius: Stilarchitektur und Baukunst. Wandlungen der Architektur im XIX. Jahrhundert und ihr heutiger Standpunkt, Mülheim an der Ruhr 1902, S. 48. 10 Peter Behrens: Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols, Darmstadt 1900, S. 10.

„Haltung“

mit der „Haltung“ sozusagen ein Sonderling eigensinnig auf seinen Weg machte. Hierfür waren offenbar vor allem zwei Gründe ausschlaggebend – eine antimoderne Wendung gegen den Stilbegriff und der Bedarf nach begriff licher Unterscheidung für das spezielle Feld der Architektur. So geriet Stil in dem Maß, in dem er in die Programmatik der Moderne integriert wurde, von kulturkonservativer Seite unter Beschuss und wurde durch „Haltung“ ersetzt. Zugleich setzte sich das Wort in Anbetracht eines tendenziell universalistischen Stilbegriffs auch als Unterscheidungskategorie für das Bauschaffen und die Architektur durch. An dieser doppelten Begründung lassen einige zunächst angeführte Belege keinen Zweifel, bevor gleich auch nach den begriff lichen Zusammenhängen zu fragen ist. „Haltung“ wird über den situativen Gebrauch im Baugeschäft hinaus nun auch in weitaus grundsätzlicheren ideologischen Auseinandersetzungen in Anschlag gebracht. Entscheidend ist, dass der Stilbegriff dauerhaft – und zwar bis heute – ins Hintertreffen geriet und in der Architektursprache völlig aus dem Verkehr gezogen wurde. „Die architektonische Haltung ist ansprechend“, heißt es 1932 lapidar in der Wettbewerbsbewertung eines Entwurfs für den Erweiterungsbau der Berliner Reichsbank, wenn vom Stil des Gebäudes die Rede ist.11 In diesem Sinne wird der Begriff auch in der Bauentwurfslehre von Ernst Neufert verwendet: Aus der Aufstellung des Bauprogramms, dem Raumschema und dem „Bild des Baus“ erwachse aus dem „Geiste tiefer Versenkung [...] für den Entwerfer eine schemenhafte Vorstellung von der gesamten Haltung des Baus und seiner räumlichen Atmosphäre, und daraus die Körperhaftigkeit seiner Erscheinung in Grund- und Aufriss.“12 In der offiziellen Broschüre, die im Kriegsjahr 1941 unter dem Titel Bombensichere Luftschutzbauten erschien, kommt der Begriff brachial mit all den ideologischen Implikationen der Zeit zum Einsatz: „Die architektonische Haltung der bombensicheren Luftschutzbauten muß zum Ausdruck bringen, daß es sich um einen Bau des Staates handelt, nicht zu repräsentativ, noch eine n u r zweckentsprechende nackte „Betonkiste“. Schon das äußere Gesicht des bombensicheren Luftschutzbaus muß im Volksgenossen das Gefühl erzeugen: Hier bin ich geborgen, sicher gegen feindliche Bomben. – Es ist natürlich, daß wir in der architekto-

11 Zit. nach Christian Welzbacher: Die Staatsarchitektur der Weimarer Republik, Berlin 2006, S. 212. 12 Ernst Neufert: Bauentwurfslehre: Grundlagen, Normen und Vorschriften über Anlage, Bau, Gestaltung, Raumbedarf, Raumbeziehungen; Maße für Gebäude, Räume und Geräte mit dem Menschen als Maß und Ziel etc., Berlin 1936, S. 28; vgl. die 40. überarbeitete Auflage Wiesbaden 2012, S. 50 mit identischem Text und Kommentar. In den Nachkriegsausgaben ist in den auf einen Vortrag Neuferts von 1947 Bezug nehmenden einleitenden „Prolegomena“ bereits von „geistiger Haltung“ die Rede.

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nischen Haltung an jene Bauten anknüpfen, die in der Vergangenheit dem Volksgenossen Schutz boten und Wehrbauten waren.“13 Seite mit der Illustration von Goethes Gartenhaus in Weimar, aus: Paul Schmitthenner: Baugestaltung. Erste Folge. Das deutsche Wohnhaus, 1940.

Bei Paul Schmitthenner werden Einführung und Gebrauch des Begriffs im Rahmen der verschiedenen Auf lagen seines Deutschen Wohnhauses unmittelbar nachvollziehbar. Während „Haltung“ in der Erstausgabe von 1932 nur in alltagsprachlicher Verwendung auftaucht, wird das Wort erst in der überarbeiteten zweiten Auf lage von 1940 tatsächlich eingeführt. Über alle Unterschiede einzelner Siedlungsformen hinweg, so heißt es 1932, erkenne man „die tieferen Zusammenhänge in Art und Haltung, wir erkennen das uns Eigentümliche, dessen Wahrung 13 Bombensichere Luftschutzbauten. Erste städtebaulich-architektonische Ausrichtung, hg. vom Reichsstatthalter in Hamburg. Der Architekt des Elbufers, Hamburg 1941, ohne Seitenzahlen (S. 3); zur Publikation und zur Autorschaft von Konstanty Gutschow vgl. Michael Foedrowitz: Bunkerwelten. Luftschutzanlagen in Norddeutschland, Berlin 1998, S. 41-42.

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uns verpf lichtet.“14 In der zweiten Auf lage von 1940 wird „Haltung“ nun zu einem Programmbegriff: „Stil ist geistige Haltung und der Ausdruck der Geschlossenheit der ‚gesamten Lebensäußerung eines Volkes.‘ Das technische Jahrhundert, das wollen wir bewußt stilisierend die Zeit vom ausgehenden Klassizismus – etwa 1850 – bis zum Beginn des Dritten Reiches dafür setzen, hat keinen Stil im Sinne kunsthistorischer Betrachtung. Diese Tatsache ist im wesentlichen begründet durch das mangelnde Wissen um Gemeinschaft und Volkstum, die ich den Nährboden der Überlieferung nannte, und durch den Mangel an geschlossener geistiger Haltung.“15 Der Begriff wird von Schmitthenner auch auf den Einzelbau gemünzt: „Daß ein Bauwerk steht, daß es hält, ist das Selbstverständliche, daß es Haltung hat aber ist das Entscheidende.“16 Und später der Autor nochmals: „Gewaltig sind die Bauaufgaben, in der unsere Zeit ihren Stil, ihre geistige Haltung darstellt.“17 Schmitthenner passte sein Buch mit versiertem Opportunismus den jeweiligen Zeitläuften an, und es fand in verschiedenen Auf lagen weite Verbreitung. In ihm wird, nicht nur in Bezug auf den Haltungsbegriff, ein apodiktischer Ton angeschlagen, dessen Verlautbarung keinen Widerspruch duldet und der die Begriffsverwendung für die Folgezeit prägte. Die ideengeschichtlichen Voraussetzungen für diese spezielle Begriffsverwendung in der Architektur liegen unverkennbar in den Thesenbildungen und im entsprechenden Vokabular, die im Rahmen der allgemeinen Kulturtheorie geprägt wurden. Parallelen finden sich vor allem im Werk von Erich Rothacker, dem als Kulturanthropologe eine ebenso steile wie ungebrochene Universitätslauf14 Paul Schmitthenner: Baugestaltung. Erste Folge. Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 1932, S. 3. 15 Paul Schmitthenner: Baugestaltung. Erste Folge. Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 21940, S. 7. Das Zitat innerhalb der zitierten Passage ist ohne Nachweis als Sentenz des Autors hervorgehoben; identisch mit minimaler Retusche des Satzteils „bis zum Beginn des Dritten Reiches“ auch in der 3. Auflage, Stuttgart 31954 (Reprint Stuttgart 1984), S. 6. In der Erstauflage 1932, S. 7 hatte es noch geheißen: „Stil ist der Ausdruck der geistigen Geschlossenheit einer Epoche. Wenn in der Architektur das geistige Leben sich widerspiegelt, sollten wir doch heute weniger denn je von der geistigen Geschlossenheit und damit von Kultur und Stil allzulaut reden.“ Zur Stil-Definition i.d.S. auch Theodor Fischer: Erörterungen über die Grundlagen einer künstlerischen Kultur, in: Bavaria. Wochenschrift für bayerische Kulturpolitik 1, Heft 3 (1930), S. 1-10, hier S. 2, der unter Verweis auf den Wiener Philosophen Hans Eibl von der „innere(n) Geschlossenheit des Volkes“ als Voraussetzung für eine Kulturblüte spricht. Schmitthenner hat sein Wohnhaus-Buch Theodor Fischer gewidmet. 16 Schmitthenner: Wohnhaus, 21940, S. 11. 17 A.a.O., S. 12.

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bahn in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik beschieden war. Rothackers hier relevante Schiften sind im unmittelbaren zeitlichen und politischen Zusammenhang mit seiner militanten Parteinahme für den Nationalsozialismus entstanden und sie sind in entscheidenden Aspekten von der Rassenlehre geprägt.18 „Haltung“ ist bei Rothacker in einer begriff lichen Trias zusammen mit Kultur und Stil aufgespannt. Gegenüber Kultur und Stil, die auf geschichtlichen Traditionen und Konventionen beruhen und auf das öffentliche Leben bezogen sind, ist „Haltung“ für Rothacker eine die Einzelperson betreffende, essentialistische Kategorie.19 Eine „Lebensäußerung“ spricht, laut Rothacker, „eine bestimmte Haltung aus“, und „Haltungen“ sind „das letzte tragende Fundament, auf das kulturelle Äußerungen befragt werden dürften.“ Sie besitzen „eine innere Seite, eine Gesinnungsseite, eine Weltanschauungsseite“ und sind „als gelebte Weisen des Daseins [...] mit den Augen zu schauen“, demzufolge besitzen sie „ein Gesicht nach außen, dokumentieren [...] sich in einem Verhalten, das auch ein leibliches ist“. Schließlich ist „Haltung“ das kulturelle Element der „Rasse“, die sich in ihrem Expansionswillen verwirklicht: „Gerade einen hervorragenden Durchschnittstypus, erzogen durch Haltung, welche die Vollendung und Blüte der besten in diesem Volke lebenden rassischen Anlagen darstellt, braucht jedes Volk, um das zu sein, was es ist. [...] In jeder Haltung zur Welt steckt der Keim und die unauf haltsame Tendenz, s i c h auszudehnen, auszuwachsen, sich im weiteren, reicheren, neue Gefahren bergenden Sinn zu bewähren und sich eben damit zu bestätigen.“ In der Schrift Probleme der Kulturanthropologie, die zuerst 1942 im Rahmen eines Philosophiehandbuchs und dann nochmals unverändert 1948 als Buch erschien, wird die Begriff lichkeit verallgemeinert und popularisiert. „Haltung“ ist hier in die allgemeine Kulturanthropologie integriert, und seinen grundsätzlichen Stellenwert gewinnt das Wort als handlungstheoretischer Begriff. Rothacker geht von einem auf Gegensätzen und Entscheidungen beruhenden Handlungskonzept aus – jede Handlung besitze den Charakter einer „Entscheidung“ zwischen den „Polaritäten“ zweier Handlungsoptionen; über jeder Entscheidung schweben die „ehernen Gesetze der Fruchtbarkeit“, die sich „erst in der Entfaltung des Lebens

18 Zu diesen hier nicht weiter ausgeführten Bezügen speziell Volker Böhnigk: Kulturanthropologie als Rassenlehre: Nationalsozialistische Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker, Würzburg 2002. 19 Die folgenden Zitate aus Erich Rothacker: Kulturen als Lebensstile, in: Bonner Mitteilungen, hg. von der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Rheinischen Friedrich WilhelmsUniversität zu Bonn und der Landwirtschaftlichen Hochschule zu Bonn-Poppelsdorf Heft 13, März 1934, S. 1-8.

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selber voll auswirken.“ „Haltung“ ist in diesem Handlungsgefüge ein essentielles Element: „In allem Tun und Handeln als solchem steckt noch ein Moment von großer Eigenheit: das Leben als solches handelt stets in einer bestimmten Haltung: der Haltung i n der gehandelt wird und a u s der gehandelt wird. Diese Haltung hat das Leben, hat der Mensch, hat eine historisch gewordene Kulturgemeinschaft immer und notwendig inne. [...] Man kann derartige Haltungen nicht tief genug im Wesen des Handelnden und seines Verhaltens verwurzelt sehen. Sie eignen im Elementaren schon dem Leben überhaupt: der Löwe verhält sich löwenhaft, der Hase hasenhaft. Der tiefste Unterschied des menschlichen und tierischen ist der, daß das Tier seine Artung h a t, daß der Mensch aber, genau so sein Volk, seine Artung in immer neuen, verantwortungsvollen Gewissensentscheidungen fortgestaltet oder durchhält.“20 Bei Rothacker erfährt der Haltungsbegriff eine kaum mehr überbietbare Aufwertung als „Kerngebilde aller kulturellen Lebensstile“, wie sie sich in „‚Weltanschauungen‘, ‚Weltbildern‘ und ‚Mythen‘“ äußern.21 Er ist nichts weniger als ein erkenntnisleitender Begriff, der dafür in Anspruch genommen wird, in einer anthropologischen Dimension den Menschen als „handelndes Wesen“ zu kennzeichnen. Darüber hinaus geht Rothacker von einem Handlungskonzept aus, das ausgesprochen antagonistische und heroische Züge besitzt. Es beruht auf Gegensätzen und Entscheidungen und leistet darin ganz der Ideologie der Epoche, in der es von Rothacker ausgedacht wurde, Gefolgschaft. Handlung wird durch die „Haltung“ eindeutig und unverrückbar. Rothackers Handlungskonzept kennt weder Zufälle, noch Ambivalenzen, noch Routinen. All dies – der Gebrauchskontext des Begriffs in der Kulturanthropologie, seine Einbettung in die Handlungstheorie und nicht zuletzt seine inhaltliche Bestimmung als ein Prinzip der Unveräußerlichkeit, des Essentialistischen und des vermeintlich Wesenhaften – machten „Haltung“ für die Aneignung in der Architektursprache attraktiv. IV. Es braucht kaum betont zu werden, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die einschlägige Sprachreglung nicht unversehens verschwand. In der 1947 erschienenen Entwurfslehre von Walther Schmidt wird in den letzten Sätzen des Vorworts unverkennbar Erich Rothacker paraphrasiert: „Letzte Antworten gibt in keiner Kunst das Wort, so wenig wie im Leben. Letzte Antworten geben nur Haltung und Tat des Einzelnen. An ihnen bemißt sich ebenso die Stärke einer Kultur als 20 Erich Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie, in: Nicolai Hartmann (Hg.): Systematische Philosophie, Stuttgart/Berlin 1942, S. 55-198; zitiert nach dem Neudruck mit identischer Paginierung Bonn 21948, S. 66-67 (gesperrt im Original). 21 So Rothacker, Kulturanthropologie, S. 147 und 149.

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die „Richtigkeit“ einer Religion als die Größe einer Kunst. Nicht was gesagt werden kann, wird fruchtbar. Fruchtbar wird allein, was der Einzelne sich erarbeitet, erleidet, erfährt.“22 Geblieben ist der weihevolle Ton, der auf nichts weniger als das Ganze zielende Deutungsanspruch und nicht zuletzt die Diskreditierung der sprachlichen Mitteilung gegenüber dem Handeln – ganz so, als wäre Reden nicht auch Handeln Es scheint, dass es später um die „Haltung“ zunächst einmal etwas still geworden ist. Anschließend an die Sprechregelung der Klassischen Moderne wurden die Sachverhalte im wörtlichen Sinne objektiviert. Geredet wurde über die Gestalt und den Ausdruck des Gebäudes als Objekt, während sich der Architekt nicht durch „Haltung“ hervortun musste. Als beispielhaft können etwa die Nachkriegsschriften von Fritz Schumacher gelten oder auch das Handbuch moderner Architektur von 1957, wo der Begriff nicht mehr auftaucht. Bei dieser Abstinenz ist es bekanntlich nicht geblieben, denn seit geraumer Zeit hat „Haltung“ wieder Konjunktur. Peter Zumthor formulierte apodiktisch: „Architektur hat nichts mit Stil zu tun sondern ist Haltung.“23 Gleich im ersten Satz des Vorworts zu einer als Standardwerk verbreiteten Baukonstruktionslehre wird verlautet: „‚Architektur konstruieren‘ meint jene architektonische Haltung, die Architektinnen und Architekten die Kompetenz zuschreibt, zwischen dem Entwurf eines Projekts und seiner Realisierung eine Brücke schlagen zu können [...].“24 In der Erläuterung zu einer Bauentwurfslehre gilt die „persönliche Haltung“ als hauptsächliches Ziel beim Erwerb von Entwurfsfertigkeiten, wobei für die einschlägige Übung ausdrücklich die Parole ausgegeben wird, dass „assoziative Bilder zur Erläuterung erlaubt (sind), jedoch keine verbale oder textliche Erklärung.“25 Offiziell sanktioniert wurde „Haltung“ als Ausbildungsziel auch vom Bund Deutscher Architekten, der in einer Broschüre die von einer Gruppe von Hochschullehrern erarbeiteten Thesen zur Architektenausbildung publizierte. These 22 Walther Schmidt: Ein Architekt geht über Feld. Betrachtungen zur Baugestaltung, Ravensburg 1947, S. 7f.; vgl. hierzu die einschränkende Bemerkung hinsichtlich der Prioritäten, die jedoch zugleich das Faktum der „Haltung“ bestätigt; S. 26: „Denn darüber dürfte Einhelligkeit bestehen, daß in Fragen der Architektur Begabung durch nichts anderes ersetzt werden kann: durch keinen Fleiß, durch keine Kenntnisse, keine lautere Gesinnung, keine Haltung und keinen noch so guten Willen.“ 23 Zitiert nach: Interview Peter Zumthor: Da ist gar nichts schweizerisch an dieser Idee, in: Trans magazin 22. Themenheft „Haltung“, Zürich 2013, S. 167-173, hier S. 168. 24 Andrea Deplazes (Hg.): Architektur konstruieren. Vom Rohmaterial zum Bauwerk – ein Handbuch, Basel u.a. 2005, S. 10; das Buch liegt mittlerweile in der Auflage 42013 vor. 25 Hilde Barz-Malfatti: Verstand und Intuition, in: Antje Freisesleben: Alfred Grazioli. Der gedachte Raum. Methodik einer Architekturentwurfslehre (2005), Berlin 22013, S. 38-39, hier S. 39.

„Haltung“

IV. ist lapidar mit „Haltung vermitteln“ überschrieben. Man muss die Passage als Ganze zitieren, um die Hartnäckigkeit, mit der das Anliegen ausgefochten wird, ermessen zu können: „Durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen architektonischen Positionen kann eine Haltung ausgebildet werden, die Architekten befähigt, frei von Stilfragen und mit einem kritischen Ref lexionsvermögen über die eigene Arbeit, Architektur in Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und Umwelt zu schaffen. Um Studierenden die Idee dieser „Haltung“ zu lehren, bedarf es der Persönlichkeitsbildung, der Vermittlung eines sozialen Bewusstseins und der Ermöglichung eines Reifeprozesses. Solche „Studienergebnisse“ sind nur teilweise in einem Curriculum abzubilden. Diese Aufgaben stellen sich vielmehr jedem Lehrenden als Anforderung an seine Person, sein Wirken und an seinen Umgang mit den Studierenden. Eine „Haltung“ im Studium zu lehren, setzt eine starke eigene Haltung bei den Lehrenden voraus, die über eine lange Zeit entwickelt, erprobt, selbstkritisch hinterfragt und kritisierbar sein sollte. Die Vermittlung dieser „subkutanen“ Elemente der Ausbildung erfordert also fachlich höchst qualifizierte Lehrer, die bereit sind, ihre eigenen Überzeugungen intensiv weiterzugeben und zur kritischen Diskussion zu stellen. Auch die Diskursqualität einer Fakultät kann zum Reifeprozess der Studierenden beitragen. Wenn sie kontinuierlich zur Auseinandersetzung mit architektonischen Positionen angeregt werden, zur kritischen Ref lexion ihrer Arbeiten ermutigt und in der Entwicklung eigener Gedanken bestärkt werden, ist das ein wesentlicher Schritt zur Erarbeitung einer eigenen Position. Wenn zudem ihr Ref lexionsvermögen über die Verantwortung des Architekten gegenüber der Gesellschaft und dem Bauherrn geschärft wird, können im Zusammenspiel mit der Herausbildung eines räumlichen und formalen Entwurfskanons erste Ansätze für die Entwicklung einer eigenen „Haltung“ gelegen werden.“26 Vermutlich ist den Verfassern nicht einmal bewusst gewesen, auf welches begriff liche und argumentative Glatteis sie sich begeben haben. Dies zeigt sich darin, dass sie der nicht weiter bedachten Traditionslast des Haltungsbegriffs zu entkommen suchen, indem sie den illusionären Versuch unternehmen, ihn kommunikativ anschlussfähig zu machen. Rekurriert wird daher auf die Bedeutung von „Haltung“ als Gegenkonzept zu „Stil“ und den irgendwie ganzheitlichen und autoritativ von einer Lehrerpersönlichkeit vermittelten Gehalt. Wenn aber gleichzeitig „Haltung“ unter den Stichworten der „kritischen Ref lexion“ und der „Ver26 Zur Ausbildung des Architekten. Thesen des 1. BDA-Hochschultags der Architektur, hg. vom Bund Deutscher Architekten BDA, Berlin 2014.

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II. Gesellschaftsgeschichte der Architekturtheorie

antwortung“ für den Kommunikationsprozess der Planung mobilisiert wird, so erweist sich diese Doppelgesichtigkeit des Begriffs als letztlich unaufgelöst. Im Übrigen teilt sich in der redundanten sprachlichen Mitteilungsform einmal mehr genau jener Gestus der unduldsamen Impertinenz mit, den man inhaltlich dem Haltungsbegriff selbst zuzuschreiben geneigt ist. Der BDA hat sich offensichtlich mit seinem pädagogischen Räsonnement ganz der Kundenfreundlichkeit der unter ökonomischem Druck gestellten Universitäten und Hochschulen verschrieben. Denn bei der Erziehung zur „Haltung“ handelt es sich nicht nur um eine von oben oktroyierte pädagogische Norm, sondern auch um einen von unten, also von den Architekturstudenten selbst nachgefragten Orientierungswert. Das entnimmt man dem einschlägigen Themenheft der von den Studierenden am Departement Architektur der ETH Zürich verantworteten Zeitschrift Trans.27 Bei der Lektüre lernt man mindestens dreierlei: Erstens ist das Thema „Haltung“ also für heutige Architekturstudierende aktuell und relevant. Zweitens gibt es für „Haltung“ unzählige Doppelgänger; so steht das Wort als Synonym für ein Manifest und für die Voraussetzung von Qualität, für Position und Standpunkt, für die eigene Sprache und Identität, für Autonomie, für die Einheit von Nachdenken und Machen, von Ref lektieren und Produzieren, für eine Integration der Entwurfsschritte, für Parteilichkeit und Tendenz. Drittens ist „Haltung“ umstritten: Der eine (Hans Kollhoff) findet „Stolz“ als „Haltung“ unverzichtbar; für den anderen (Manfred Wolff-Plottegg) ist „Haltung“ als Ausdruck von „phallisch-narzisstischen Ansprüchen“ und von einem Determinismus „geschlossener Systeme“ schlicht ein Widerspruch zu jedweder Architektur. Bleibt anzumerken, dass sich die Architekturstudenten mit ihrem Beharren auf „Haltung“ als besonders traditionsbewusste Vertreter ihrer Generation hervortun, denn inzwischen hat die Zeitschrift Spex. Magazin für Popkultur unter dem Thementitel „Alles scheissegal? Auslaufmodell Haltung“ die Sache zu Grabe getragen.28 V. „Haltung“ ist nicht zu retten. Seine Vergangenheit wird der Begriff nicht mehr los. Mein Verschlag wäre – natürlich gegen jede Aussicht auf Erfolg –, ihn aus dem Wortschatz der Architektur zu streichen und ihn durch nüchternere, deutlichere und eben nur vermeintlich schwächere Wörter zu ersetzen. „Haltung“ ist in der Architektursprache zum einen ein essentialistisches Wort, das für eine wie auch immer zu verstehende „Ganzheitlichkeit“ des Entwurfs einstehen soll. Zum anderen behauptet sich das Wort als ideologischer Kampf begriff in der Forderung nach einer berufsständischen Autonomie. Aber genau dieser Zwiespalt ist nicht aufzulösen: „Haltung“ wird im Architekturgeschäft im Dienst der Markt-

27 Trans magazin 22. Themenheft „Haltung“, Zürich 2013. 28 Spex. Magazin für Popkultur, Nr. 353, Mai/Juni 2014.

„Haltung“

behauptung durch Produktdifferenzierung instrumentalisiert und wird zugleich als unantastbarer Wert gehandelt. Der Verzicht auf „Haltung“ wäre gegenüber allen anderen, die an der Architektur beteiligt sind, ein mehrfaches Eingeständnis. Nämlich dass selbstverständlich auch Architekturentwürfe vielfältigen ästhetischen Bedingungen unterliegen und dass auch Architektinnen und Architekten sozusagen normale Marktteilnehmer sind. Dies gilt umso nachdrücklicher in der gegenwärtigen Ära der so genannten Kreativökonomie, in der für unzählige Branchen das Zauberwort das „Projekt“ ist und die das „Studio“ zu ihrer Ortstypologie gemacht haben. Der Verzicht auf „Haltung“ wäre darüber hinaus ein Signal zur Bereitschaft, nicht nur etwas zu machen, sondern auch zu reden. Und mit ihm würden ArchitektInnen zugeben, dass es in ihrem Handeln auch kreative Zufälle und Unentschiedenheiten, produktive Missverständnisse und – das vor allem – unverzichtbare Routinen gibt. Dass die Architektur, das gilt sowohl für ihre Produktion als auch für ihre Rezeption, eine schöne, unvermeidliche und eben auch bisweilen rätselhafte Angelegenheit ist, das wusste man schon immer. Man muss sie aber nicht durch begriff liche Nebelwerfer noch undurchsichtiger machen als sie ist. Ersatzkandidaten für „Haltung“ stehen einige bereit – Stil zum Beispiel.

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III. Architekturtypologie und Institution

Die Kirchen von Bankiers Die Medici-Bank und die Kunst der Unternehmenskultur im Quattrocento

Im Juli 1462 wandte sich der seinerzeit in Genf ansässige Agent des Banco Mediceo mit einem Brief an Piero de’Medici ‚il Gottoso‘ in Florenz. In dem Schreiben gab Antonio di Pagolo dem damaligen Chef des Florentiner Bankunternehmens den Rat, eine kirchliche Stiftung in Genf zu tätigen. Während – so schreibt er – an den Häusern und vor allem in den Kirchen der Stadt die Wappen der anderen Florentiner Kauf leute zu sehen seien, gebe es kein Zeichen für die Anwesenheit der Medicifamilie, obwohl diese länger als die anderen Kauf leute in Genf etabliert sei und hier die größten Gewinne erziele: „e la vosta casa anche ci è la più anticha e quella che ha fatto più profitti in questa città.“ Über die Absenz der Wappen wundere sich hier in der Stadt jeder, und der Agent empfiehlt daher, einen Kapellenanbau an der hiesigen Dominikanerkirche zu stiften. Der Orden sei finanziell bedürftig, seine Kirche sei schön und sie liege vorteilhaft, da sie während der Verkaufsmessen mehr als jede andere in dieser Gegend aufgesucht werde: „e visitada alle fiere quanto chiesa sia in questa terra“.1 Der Brief macht auf mindestens drei, für meine Überlegungen wichtige Sachverhalte aufmerksam: Zum einen wurde die Repräsentation der Bank auf der Ebene visueller Mitteilung schon von den zeitgenössischen Beteiligten als unverzichtbar erachtet. Zum anderen hat man bei den entsprechenden Stiftungsinitiativen keineswegs nur die Florentiner Zentrale, sondern auch die auswärtigen Niederlassungen im Auge behalten. Und zum dritten sind neben den Profanbauten der Bank auch kirchliche Stiftungen mit einem entsprechenden Entstehungszusammenhang zu berücksichtigen. Es lässt sich davon ausgehend zeigen, dass bei den traditionellen Bautypen von Kapelle und Stadtpalast neben die ebenso etablierten Stifterabsichten von religiöser und memorialer Familienrepräsentation und der Erfüllung von Fürsorgepf lichten in neuartiger Weise auch überindividuelle, auf die Repräsentation der Bank zielende Interessen hinzutreten konnten. Diese in1 Abdruck des Briefes bei Jean-François Bergier: Genève et l’économie européenne de la Renaissance, Paris 1963, S. 284, danach die Zitate und Paraphrasen. Im Folgenden beschränken sich die Literaturhinweise auf die wichtigsten Titel.

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III. Architekturtypologie und Institution

stitutionelle Repräsentation besitzt, so lautet der zweite Teil meiner Argumentation, bis zu einem gewissen Maß dissimulatorischen Charakter. In ihm spiegelt sich daher eine Geschäftspraxis der Bank wider, die maßgeblich von den mit Geldgeschäften verbundenen Wertekonf likten geprägt ist, die aber auch einen normativen Rückhalt in der Kunsttheorie der Zeit fand. Im Sinn von Michael Baxandalls Konzept des period eye2 lassen sich so Aspekte einer sozialen Lebenswelt skizzieren, die auch für das Verständnis der Bildwelt einer Unternehmenskultur relevant wurden.

Die Badia Fiesolana Der Wiederauf bau und die Erweiterung der Badia Fiesolana durch die Medici war mehr als eine fromme kirchliche Stiftung. Indem von den Stiftern für die Patronate der insgesamt acht Seitenkapellen zur Hälfte die Filialleiter der MediciBank verpf lichtet wurden, war gleichzeitig beabsichtigt, die Kirche zu einem Ort für die Selbstdarstellung des Banco Mediceo zu machen. Bereits die Umstände der Stiftung, für die sich zunächst Cosimo il Vecchio und nach dessen Tod 1464 Piero de’Medici engagierten, machen die ökonomischen Hintergründe unmissverständlich klar. Papst Eugen IV. hatte 1439 den Klosterbesitz von den Benediktinern an die Augustiner-Chorherren transferiert, offenbar wurden schon zu diesem Zeitpunkt die Weichen für das Stiftungsengagement Cosimos gestellt. Denn der aus Venedig stammende Papst hielt sich seinerzeit im Exil in Florenz auf und hatte sich regelrecht unter den Schutz von Cosimo de’Medici begeben. Bekanntlich blieb seit dem Pontifikat Eugens IV. die Finanzierung der Kurie durch die Medici ein Fundamentpfeiler von deren Bankgeschäft.3 Die Erneuerungsarbeiten an der Badia Fiesolana begannen 1441 an dem völlig ruinösen Kloster, zwei Jahrzehnte später wurden die Bauarbeiten an der Kirche aufgenommen, die Errichtung der neuen Chorkapelle erfolgte bis 1466. Die Kirche wurde unverzüglich für den Gottesdienst genutzt, auch wenn der Hauptaltar und die acht Seitenkapellenaltäre erst 1496 geweiht wurden.4 2 Michael Baxandall: Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy. A Primer of the Social History of Pictorial Style (1972), Oxford/New York 1988. 3 Zu diesen politisch-ökonomischen Zusammenhängen allgemein Raymond De Roover: The Rise and Decline of the Medici Bank 1397‑1494, Cambridge MA 1963; speziell John F. Padgett und Christopher K. Ansell: Robust Action and the Rise of the Medici 1400‑1434, in: American Journal of Sociology 98 (1993), S. 1259‑1319; Kurt Weissen: Die Bank von Cosimo und Lorenzo de’Medici auf dem Basler Konzil (1433‑1444), in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 82 (1995), S. 350‑386. 4 Zur Baugeschichte unter den Medici Ugo Procacci: Cosimo de’Medici e la costruzione della Badia Fiesolana, in: Commentari 19 (1968), S. 80‑97; Isabelle Hyman: Antonio di Manetto Ciaccheri and the Badia Fiesolana, in: architectura 25 (1995), S. 181­‑193; Mauro Mussolin:

Die Kirchen von Bankiers

Dass es sich um eine von den Kirchenbauten Filippo Brunelleschis her konzipierte Architektur handelt, steht einem deutlich genug vor Augen (Abb. 1). Die Kirche stellt sich als tonnengewölbter Saal mit Querschiff, überkuppelter Vierung und tiefem Chor dar. Das Raumkonzept ist von der unglaublichen architektonischen Disziplin des Baus mit seinen stereometrischen Volumina und spärlichen Gliederungen bestimmt. Mehrere Namen aus dem Umkreis Brunelleschis kommen als Architekten in Frage. Die früheste Überlieferung spricht hingegen die Autorschaft dem Stifter selbst zu. In der Chronik von Isaia da Este, die mit dem Weihejahr 1496 endet, wird gesagt, dass unter den Klosterbrüdern die Ansicht überliefert werde, Cosimo de’Medici sei der Entwerfer eines Modells gewesen, dies sei aber aus derselben Geste der Bescheidenheit nicht publik geworden, mit der Cosimo auch seine finanziellen Belange diskret gehandhabt habe.5 Es ist nichts Ungewöhnliches, dass dem Bauherrn, und nicht dem Architekten, die auctoritas für einen Bau zugeschrieben wird. Bemerkenswert ist jedoch der Vergleich zwischen dem stifterischen Gebaren Cosimos und dessen unternehmerischer Geschäftspraxis, die der Chronist als dissimulierenden Gestus ostentativer Bescheidenheit beschreibt. Die Fassade besteht nur als rohe Ziegelwand, der die Marmorschauwand vorgemauert werden sollte. Bewahrt hat man den Fassadenprospekt des romanischen Vorgängerbaus, der offenbar wie ein verehrtes Erbstück von den neuen Inkrustationen eingefasst werden sollte. Für einen solchen respektvollen Umgang mit den Zeugnissen der sogenannten Protorenaissance finden sich in Florenz mehrfach Parallelen – man denke nur an Santa Maria Novella –, und auch bei der Badia war man durch die Zuschaustellung des baulichen Relikts auf historische Traditionsbewahrung bedacht. Dies mochte darüber hinwegsehen lassen, dass Cosimo und Piero bei der Vergabe der Kapellenpatronate eine konsequente Interessenpolitik für den familialen Clan und die Führungselite der Bank verfolgten.6 Die dem heiligen Bartholomäus geweihte Chorhauptkapelle wurde für die eigene Familie reserviert. Entlang der nördlichen Flanke wurden die Patronate an einen Kreis von Parteigängern und Verwandten vergeben, vertreten sind hier Pieros Ehefrau Lucrezia Tornabuoni und der Humanist Matteo Palmieri. Die Folge der vier südlichen Kapellen wurde an die damaligen Filialleiter des Banco Mediceo vergeben. Die Patronate sind urkundlich belegt und werden auch durch die Wappen in den Kapellenkuppeln ‚Devicta Montis Natura’. Cosimo de’Medici, Timoteo Maffei e la ricostruzione della Badia Fiesolana per i Canonici regolari lateranensi, in: Angela Dressen und Klaus Pietschmann (Hg.): The Badia Fiesolana. Augustinian and Academic Locus amoenus in the Florentine Hills, Wien 2016, S. 35‑67. 5 Vincenzo Viti: La Badia Fiesolana. Pagine di storia e d’arte, Florenz 1956, S. 24‑26. 6 Zu den Patronaten Viti: La Badia, S. 67‑71.

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anschaulich dokumentiert. Die Reihe der Kapellen beginnt im Osten mit derjenigen von Pigello Portinari, der seit 1452 als Filialleiter der Bank in Mailand fungierte; es folgt die Kapelle des ehemaligen Filialleiters in Genf, Francesco Sassetti, der 1463 als Generaldirektor der Bank vorstand; daran schließt sich die Kapelle der Martelli an, deren Familienmitglieder in Rom und Venedig als Filialleiter fungierten; an der Eingangsseite bildet die Kapelle von Angelo Tani, dem Leiter der Filiale in Brügge, den Abschluss. Im Hinblick auf die Ausstattung der Kapellen waren die Patrone durch die strengen Vorgaben der Architektur letztlich auf Altargemälde, mit denen sich die gemauerten Stipites bestücken ließen, beschränkt. Wir wissen bislang nur von einem dieser Retabel. Es handelt sich um das Weltgerichts-Triptychon, das Angelo Tani in Brügge bei Hans Memling bestellt hatte. Die Außenseiten zeigen das Stifterehepaar mit den Wappen. Der Altar gelangte allerdings niemals in die Badia, denn das Schiff mit dem Retabel an Bord wurde von Seeräubern gekapert, die den Altar der Danziger Marienkirche überließen.7 Die Versammlung der leitenden Angestellten des Banco Mediceo in den Seitenkapellen unter der Führung der im Chor vertretenen Bankeigentümer vermittelt ein komplexes Bild des Bankunternehmens selbst. Die Hierarchien sind durch die bauliche Disposition und deren Heraldik zweifelsfrei geklärt. Drei großformatige Medici-Wappen an der Längstonne leiten den Blick auf den Chor, an dessen Stirnwand unterhalb einer hieratisch gegliederten Fenstergruppe ein weiterer Wappenschild und die Stifterinschrift prangen. Die direttori sind als Funktionselite des Banco Mediceo mit ihren Kapellen in einer egalisierenden Reihung nachgeordnet. Es gibt keinen Zweifel, dass für diese hierarchisch angelegte Stiftungspolitik die Familienkirche der Medici in Florenz, San Lorenzo, das Modell abgab, wo von Anfang an die Absicht bestand, die familiale Klientel der Medici aus dem Florentiner Stadtbürgertum nach außen sichtbar zusammenzuführen.8 Eine solcherart offene Instrumentalisierung des Kirchenbaus der Badia Fiesolana bedurfte offenbar der Legitimierung. Dies wird durch die berühmte Schrift von Timoteo Maffei nahegelegt, in der dieser die magnificentia des Cosimo de’Medici verteidigt.9 Maffei hatte mehrfach das Amt des Generals der Augustiner-Re7 Michael Rohlmann: Auftragskunst und Sammlerbild – Altniederländische Tafelmalerei im Florenz des Quattrocento, Alfter 1994, S. 41‑52; Barbara G. Lane: The Patron and the Pirate: The Mystery of Memling’s Gdańsk ‚Last Judgement‘, in: The Art Bulletin 73 (1991), S. 623‑640. 8 Hierzu insbesondere die Beiträge von Caroline Elam, vgl. zuletzt: Caroline Elam: Art and Cultural Identity in Lorenzo de’ Medici’s Florence, in: Francis Ames-Lewis (Hg.): Florence (Artistic Centers of the Italian Renaissance), Cambridge u.a. 2012, S. 208‑251. 9 Zum Folgenden A. D. Fraser Jenkins: Cosimo de’Medici’s Patronage of Architecture and the Theory of Magnificence, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 33 (1970), S. 162‑170; Paolo Viti: Tre lettere di Timoteo Maffei a Piero dei Medici, in: Medea 19 (2000), S. 175187; Peter Howard: ‚In Magnificentiae Cosmi Medicei Florentini‘. Maffei Preaching ‚against

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gularkanoniker inne und war ab 1454 Prior der Badia Fiesolana. In seiner Verteidigungsschrift für Cosimo, die in den Jahren um 1460 entstanden sein dürfte, überträgt Maffei die abstrakte magnificentia-Konzeption des Thomas von Aquin ganz gezielt auf die Architektur und damit auf die Baustiftungen Cosimos.10 Zugleich reiht sich seine Schrift ein in eine breitere Diskussion über die Rechtmäßigkeit privater und insbesondere auf Geldgeschäften beruhender Stiftungstätigkeit. Auch letztere wird von Maffei damit gerechtfertigt, dass die finanziell entsprechend konsolidierte magnificentia primär der Religion zugutekommen könne. Angesichts der prekären Strategie bei der Vergabe der Kapellenpatronate für die Badia Fiesolana fühlte sich deren Prior unverkennbar dazu herausgefordert, den Stifter der Kirche vom Verdacht eines sozialen Dekorumsverstoßes freizusprechen. Maffei stand damit nicht allein, denn der unerhörte Umfang der Mediceischen Baustiftungen zog in einem singulären Maß auch Schriften über die Angemessenheit von magnificentia und liberalitas nach sich. Dabei ist den Autoren selbstverständlich bewusst, dass die Kulturpatronage auf Geldgeschäften beruht. So sagt etwa Vespasiano da Bisticci über die Stiftung des Neubaus von San Marco in Florenz, der Bau sei mit „danari di non molto buono acquisto“, also mit Wuchergeldern, errichtet worden.11 Die Idee einer reich ausgestatteten, die Führungselite des Banco Mediceo vereinende Unternehmerkirche kam letztlich über das Stadium eines Vorhabens nicht hinaus. Die Gründe dafür waren vielfältig. Bemerkenswert ist, dass auch die Nachfolgeprojekte, die dann von Francesco Sassetti und Pigello Portinari in Florenz und in Mailand verwirklicht wurden, zeigen, wie die Stifter nun einerseits ihren persönlichen Stiftungsinteressen zur Durchsetzung verhalfen, diese jedoch andererseits weiterhin mit der offiziellen Repräsentation der Bank und mit den korporatistischen Interessen der Firma in Einklang zu bringen suchten. Francesco Sassetti ließ ab 1479 die Familienkapelle in der Florentiner Kirche Santa Trinita ausstatten und engagierte für die Ausmalung Domenico Ghirlandaio (Abb. 2).12 Die Wandfresken entfalten thematisch Episoden aus der Vita des the grain‘, in: Dressen und Pietschmann: Badia Fiesolana, S. 117‑131; als Gesamtdarstellung der Medici-Repräsentation Tobias Leuker: Bausteine eines Mythos. Die Medici in Dichtung und Kunst des 15. Jahrhunderts, Köln u.a. 2007. 10 Vgl. als Edition: Timotei Maffei [...] in magnificentiae Cosmi Medicei Florentini detractors, in: Giovanni Lami: Deliciae Eruditorum seu Veterum anekdoton opusculorum collectanea, Bd. 12, Florenz 1742, S. 150-168. 11 Vespasiano Da Bisticci: Le Vite, hg. von Aulo Greco, 2 Bde., Florenz 1976, Bd. II, S. 177. 12 Zum Ausstattungsprogramm weiterhin maßgeblich Eve Borsook und Johannes Offerhaus: Francesco Sassetti and Ghirlandaio at Santa Trinita, Florence. History and Legend in a Renaissance Chapel, Doornspijk 1981 sowie die Beiträge in Michael Rohlmann (Hg.): Domenico Ghirlandaio. Künstlerische Konstruktion von Identität im Florenz der Renaissance, Weimar 2004.

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Namenspatrons von Francesco Sassetti, dem Heiligen Franz von Assisi. Mit den raumfüllenden Fresken wird auf ein Ausstattungskonzept zurückgegriffen, das bereits im Trecento seine Blütezeit erlebt hatte. Bei dem Rückgriff auf diesen traditionsreichen Ausstattungsmodus der Gesamtausmalung distanzierte sich Sassetti unübersehbar vom Ausstattungskonzept der Badia Fiesolana, wo die Stifter mit Restriktionen konfrontiert gewesen waren, die sie gegenüber der Unternehmerfamilie subordinierten und durch welche die einzelnen Stifter untereinander in ihrem Status nivelliert wurden. Aber auch in der späteren, aufwendigen, individuellen Stiftung seiner Grabkapelle in Santa Trinita hat sich Francesco Sassetti seinen repräsentativen Pf lichten gegenüber dem Banco Mediceo nicht entzogen. So finden sich im Rahmen des Haupttextes der Fresken, also dem auf den Stifter und dessen Familie bezogenen Franziskusprogramm, zahlreiche thematische Bezugnahmen auf das unternehmerische Netzwerk. Die individuelle Thematik ist gleichsam historisch objektiviert durch die Darstellungen der Sybillen am Gewölbe und der Friedensvision des Augustus auf dem Kapitol an der Eingangsseite. Die gesamte Friedensthematik der Kapelle und die in ihr entfaltete Geschichtsteleologie von Florenz als einer nova Roma ist auf den seinerzeit aktuellen Kontext der Aussöhnung zwischen den Medici und dem Papst nach der Pazzi-Verschwörung des Jahres 1478 bezogen. Das wichtigste Ergebnis der Friedensverhandlungen zwischen Lorenzo de’Medici und Papst Sixtus IV. war die Wiederaufnahme der Finanzgeschäfte des Banco Mediceo in Rom.

Die Cappella Portinari und der Banco Mediceo in Mailand Als „Ausgleichsprodukt“ (Martin Warnke) zwischen persönlichen Interessen und repräsentativen Pf lichten gegenüber der Bank stellt sich auch die Kapellenstiftung des Mailänder Filialleiters Pigello Portinari dar. Der Bau der Cappella Portinari war 1468 weitgehend vollendet, ihre Errichtung folgt zeitlich auf die Fertigstellung der Mailänder Bankgebäudes, für dessen Errichtung ebenfalls der Filialleiter Pigello Portinari die Verantwortung trug. Kapelle und Bankhaus, Sakral- und Profanbau stehen auch programmatisch in einem Komplementärverhältnis. Die Cappella Portinari wurde als dreiseitig frei gestellte Chorhauptkapelle an der Dominikanerkirche von Sant’Eustorgio errichtet und hat die doppelte Funktion einer Grabkapelle für den Stifter und einer Reliquienkapelle für den heiligen Petrus Martyr (Abb. 3-4).13 Die Freskenausmalung von Vincenzo Foppa widmet sich in den seitlichen Lünettenfeldern Szenen aus der Vita des Heiligen. Auffällig 13 JoAnne Gitlin Bernstein: A Florentine Patron in Milan. Pigello and the Portinari Chapel, in: Craig Hugh Smith u.a. (Hg.): Florence and Milan. Comparisons and Relations, 2 Bde.,

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ist, dass es im Freskenprogramm keinen inhaltlichen Hinweis auf den von Portinari besonders verehrten Heiligen Ludwig von Toulouse gibt. Gewürdigt wird in den Fresken hingegen der 1253 kanonisierte Petrus Martyr, welcher der Namenspatron von Piero de’Medici war. Als solcher wurde Petrus Martyr in den Kreis der Mediceischen Familienheiligen aufgenommen; in Fra Angelicos Pala di Bosco ai Frati (um 1450/52; Florenz, Museo di San Marco) erscheint er in diesem Kreis zusammen mit Cosmas und Damian. Das Freskenprogramm der Cappella Portinari wird in den Lünetten der Hauptachse des Raumes komplettiert durch zwei Szenen aus der Vita Mariae. Die Doppelfunktion der Kapelle als Grablege für den Florentiner Filialleiter und als Andachtsort für den Mailänder Heiligen Petrus Martyr resultiert unmittelbar aus den Entstehungskontexten. Portinari machte sich mit seinem Stifterengagement ein dringliches Anliegen der Dominikaner von Sant’Eustorgio zu Eigen. Nach mehreren Vorstößen der Klostergemeinschaft für einen angemessenen Andachtsort zur Verehrung des Kopfreliquiars von Petrus Martyr reagierte erst Portinari als Florentiner Geschäftsmann auf die akute Bedarfslage des Klosters. Man wird in diesem Zusammenhang an die eingangs zitierte Aufforderung erinnert, die der Genfer Filialleiter 1462 an Piero de’Medici adressierte. Mit seiner Mailänder Stiftung folgte Pigello Portinari ebenfalls der Maxime, dass der Banco Mediceo in seinem jeweiligen Geschäftsmilieu durch Stiftungsaktivitäten repräsentiert wird, und er spekulierte damit gleichzeitig auf eine Gegenleistung von Seiten der Florentiner Bankzentrale. Denn 1464, dem Jahr, in dem mit dem Kapellenbau begonnen wurde, wandte er sich brief lich an Piero de’Medici und ersuchte darum, seine Söhne in der Mailänder Filiale in eine führende Position zu befördern. Er begründete seine Bitte schlicht mit dem Erfolg der Bank in Mailand unter seiner Geschäftsleitung, für die auch der Kapellenbau als Ausweis gelten konnte: „Le cose qui del traf fico sono in buono ordine.“14 Mit den Stiftungskontexten kann auch die Gestaltung der Kapelle unter den Vorzeichen ihrer repräsentativen Funktion für den Banco Mediceo gesehen werden. Formal vermittelt der Bau zwischen dem Herkunftsmilieu seines Florentiner Auftraggebers auf der einen Seite und seinem lombardischen Entstehungs- und Empfängermilieu auf der anderen Seite. Während der Außenbau (Abb. 3) schon durch seine Materialsprache mit dem bunten Wechsel von Ziegelmauerwerk und weißen Putzf lächen sowie den Zierformen der Okulirahmen und der Pilasterschäfte aus Terracotta unverkennbar oberitalienische Bauformen aufnimmt, folgt die Disposition des Innenraums (Abb. 4) dem Modell der Alten Sakristei von San Lorenzo in Florenz. Der Architekt der Cappella Portinari, über dessen IdentiFlorenz 1989, Bd. I, S. 171‑200; Laura Mattioli Rossi (Hg.): Vincenzo Foppa. La Cappella Portinari, Mailand 1999. 14 Abdruck des Briefes bei Bernstein: Florentine Patron, S. 190-191.

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tät in der Forschung bis heute gerätselt wird, übernimmt nicht nur die Gesamtdisposition, sondern auch wesentliche Aspekte im Modus der Ausstattung dieser von Brunelleschi 1428 vollendeten und von Donatello mit Reliefs dekorierten Grablege für Giovanni de’Bicci de’Medici. Die Grundrisse beider Zentralbauten, der Wandaufriss bis zur Lünettenzone und auch die Schirmgewölbe sind in ihrer tektonischen Erscheinung identisch, variiert wird die Ausgestaltung im Einzelnen. Hingegen hat sich in der Cappella Portinari das Verhältnis von Wand- und Ausstattungsf lächen erkennbar gewandelt. Das gilt nicht nur für das neu eingeführte Element des Tambours mit den lebensgroßen Impresenengeln, sondern auch für die übrigen Flächen innerhalb des von der Alten Sakristei vorgegebenen Rahmengerüstes. Wie Francesco Sassetti mit seiner Kapelle in Santa Trinita war auch Pigello Portinari im Vergleich zur Badia Fiesolana an einer ungleich aufwendigeren Lösung gelegen. Mit anderen Mitteln als Sassetti, aber im Grundanliegen verwandt, suchte auch Portinari mit dem Rekurs auf die Florentiner Bauform der Alten Sakristei über die Unternehmerfamilie der Medici auch das Unternehmen das Banco Mediceo zu repräsentieren. Dieser Aspekt gewinnt durch einen Blick auf das Gebäude des ab 1455 errichteten, bis auf das Portal nicht mehr erhaltenen Banco Mediceo zusätzliches Gewicht.15 Die unmittelbare Verantwortung auch für diesen Bau trug der Filialleiter Portinari. Die Kenntnis von dem Palast beruht im Wesentlichen auf der Beschreibung im Architekturtraktat von Antonio Filarete, den dieser 1464 sowohl Francesco Sforza als auch Piero de’Medici – also den beiden eng miteinander verbundenen Geschäftspartnern – gewidmet hat.16 Am äußeren, die Pilasterädikula umschreibenden Rahmen des Portals (Abb. 5) findet sich in den Ecken das Motiv der baldachinartigen Fruchtgehänge aus Granatäpfeln. Bei ihnen handelte es sich um die Impresen Portinaris. Sie überfangen zwei weibliche Tugendpersonfikationen oberhalb von zwei männlichen Kriegern, die als Wächtergestalten des Bankhauses zu Seiten des Eingangs postiert sind. Die Impresen besetzen auch in der Kapellenausstattung einen prominenten Platz, wo die Fruchtschirme nicht nur in den Pilasterdekorationen erscheinen, sondern vor allem auch in der Tambourdekoration mit den jugendlichen Engelgestalten als reggifestoni (Abb. 4). Wie schon angesprochen ist der Tambour nicht in der Alten Sakristei vorzufinden, wodurch seine Bedeutung in der Mailänder Kapelle unterstrichen wird. Beim Impresen15 John T. Paoletti: The Banco Mediceo in Milan: Urban Politics and Family Power, in: Journal of Medieval and Renaissance Studies 24 (1994), S. 199-238; Roberta Martinis: Il palazzo del Banco Mediceo. Edilizia e arte della diplomazia a Milano nel XV secolo, in: Annali di architettura 15 (2003), S. 37-57; Howard Jones und Ross Kilpatrick: Cicero, Plutarch, and Vincenzo Foppa: Rethinking the Medici Bank Fresco (London, the Wallace Collection, Inv. P 538), in: International Journal of the Classical Tradition 13 (2007), S. 369-383. 16 Antonio Averlino detto il Filarete: Trattato di architettura, hg. von Anna Maria Finoli und Liliana Grassi, 2 Bde., Mailand 1972, Bd. II, S. 698-704.

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fries musste sich ein zeitgenössischer Betrachter der Kapelle unverzüglich an die Portaldekoration des Banco Mediceo erinnert fühlen, durch die das Motiv im Mailänder Stadtbild bereits eingeführt war. Das Bankgebäude ist in erster Linie eine Dedikation an die Medici-Familie als Bauherr sowie an die Mailänder Herzogsdynastie, als deren Hauptkreditgeber die Medici fungierten.17 Die Porträtmedaillons des damaligen Mailänder Signore Francesco Sforza und dessen Ehefrau Bianca Maria Visconti sind in den Arkadenzwickeln eingelassen, das Herzogswappen im Gebälkfries. Die Portallaibungen sind mit dem Diamantring, der Imprese von Piero de’Medici, dekoriert. Das Portal präludiert in signalhaft-prägnanter Form einen Sinnzusammenhang, der auch die ehemalige Freskenausstattung des Baus im Inneren bestimmte. Die Themenkreise der Ausstattung in den Zimmerfolgen des Bankgebäudes lassen sich sowohl auf die Medici als auch auf den seinerzeitigen Herzog beziehen. Dies gilt für die Dekorationsebene der auch im Inneren ubiquitären Devisen und Wappen ebenso wie für die antik-mythologischen Themen, die in einzelnen Räumen aufgegriffen wurden. Szenenfolgen aus den Viten von Herkules und Trajan finden sowohl im Medici-Palast in Florenz als auch im Castello Sforzesco thematische Entsprechungen. Genau diese doppelte ikonographische Orientierung scheint beim Banco Mediceo Programm gewesen zu sein. Das Mailänder Bankgebäude würdigte die Unternehmerfamilie in Florenz ebenso wie deren prominenten fürstlichen Kunden in Mailand. Aus dieser Perspektive ergibt sich auch eine überraschende, institutionelle Analogie zwischen dem Bankgebäude und der Cappella Portinari. Beide Bauten waren über ihre Primärfunktionen hinaus Repräsentationsbauten der MediciBank innerhalb des Mailänder Geschäftsmilieus. Sie rekurrieren formal auf Florentiner Modelle, die aber auf den Bedarfs- und Verständnishorizont des Kundenmilieus zugeschnitten werden.

Dissimulatio und Unternehmenskultur Blickt man auf die hier angesprochenen Baustiftungen zurück, so wird deutlich, dass sich die durch die Bauten und deren Ausstattung geleistete Repräsentation des Medici-Bankhauses nur auf einer indirekten Ebene zeigt. Zu den religiösen und familialen Repräsentationsinhalten treten komplementär und eher verdeckt als Subtexte solche Programmanteile hinzu, die das Geschäftsunternehmen in seiner Leistungsfähigkeit als hierarchisch strukturierte Organisation, deren Ziel in der Erzeugung und Maximierung von Profiten besteht, nach außen darstellen. 17 Zu den Beziehungen zwischen den Medici und den Sforza vgl. Heinrich Lang: Cosimo de’Medici, die Gesandten und die Condottieri. Diplomatie und Kriege der Republik Florenz im 15. Jahrhundert, Paderborn 2009.

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Diese Subtexte dokumentieren sich an dem – allerdings nur aus heutiger Sicht – eher befremdlichen Sachverhalt, dass mit den Kapellenstiftungen religiöses Mäzenatentum für Geschäftsinteressen instrumentalisiert wurde. Diese Strategie einer verhohlenen Programmmitteilung lässt sich meines Erachtens am ehesten mit dem Prinzip der dissimulatio fassen.18 In der politischen, ethischen und rhetorischen Theorie der Zeit galt es als Zeichen von prudentia und Takt, sich der jeweiligen Situation mit absichtsvoller, kunstvoll verhüllter Verstellung anzupassen. Dissimulatio wird etwa durch vielsagende Zweideutigkeit (ambiguitas) und beredte Verschwiegenheit (reservatio mentalis) bewerkstelligt. Bevor die Verhaltenskonvention der dissimulatio im frühen 16. Jahrhundert normativ sanktioniert wurde, zeigte sie sich schon früher in der Praxis. Ein Beispiel ist Piero de’Medici „il Gottoso“, also der Gichtbrüchige, selbst, der mit seiner Gicht in dissimulierender Taktik sein Fernbleiben von den traditionellen städtischen Gremien begründete und darauf hin wiederum politische und geschäftliche Gesprächspartner nach Art eines Fürsten im Familienpalast empfangen konnte.19 Pieros Namenspatron Petrus Martyr lässt sich als beispielhafter dissimulator bezeichnen, wenn die Legenda aurea den Dominikaner-Inquisitor als „außerordentlichen Prediger“ (predicator egregius) rühmt und zugleich seine Exempel der „Verschwiegenheit“ (taciturnitas) preist.20 Man kommt kaum um die, freilich völlig anachronistische, Assoziation herum, dass hier von Ferne schon Kundenakquise und Bankengeheimnis auf’s Mal grüßen lassen. Ein dissimulierender Habitus zeigt sich auch in den Geschäftsformen und in den Zielen von Bankunternehmen jener Zeit, wie dem Banco Mediceo. Die Umgehung des kirchlichen Zinsverbotes ist zwar das bekannteste Beispiel, aber nur eines unter vielen. In der Geschäftspraxis lässt sich durchgehend eine Taktik der Kompetenzüberschreitung und der vorsätzlichen Erzeugung von Undurchsichtigkeit beobachten.21 Allein schon die Verbindung von Warenhandel und 18 Zur „dissimulatio“ aus der Fülle der Literatur nur Horst Bredekamp u.a. (Hg.): Martin Warnke zu Ehren. Dissimulazione onesta oder Die ehrliche Verstellung. Von der Weisheit der versteckten Beunruhigung in Wort, Bild und Tat, Hamburg 2007; allgemein zum Zusammenhang von Dissimulation und politischer Fiktion vgl. Dietrich Erben: Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie. Baupolitik unter Cosimo I de‘ Medici in Florenz, in: Ders. und Christine Tauber (Hg.): Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit, Passau 2016, S. 71-92, hier S. 84-85. 19 Alison Brown: Piero’s Infirmity and Political Power, in: Andreas Beyer und Bruce Boucher (Hg.): Piero de’Medici „il Gottoso“. Kunst im Dienste der Mediceer, Berlin 1993, S. 9-19. 20 Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, übersetzt von Richard Benz, Heidelberg 31979, S. S. 322-337, hier S. 322 und 336. 21 Zur Verflechtung der Geschäftsbereiche ausführlich De Roover: Banco Mediceo sowie speziell auch zu den Normkonflikten Jean Favier: Gold und Gewürze. Der Aufstieg des Kaufmanns im Mittelalter (frz. 1987), Hamburg 1992.

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Geldverkehr machte die Sache unübersichtlich. Manche Niederlassungen der Medici-Bank nahmen entgegen der strikten Trennung von Bank- und Pfandhaus weiterhin Wertobjekte als Kreditbürgschaft entgegen. Verbotene Zinsen wurden zwar abgeschöpft, aber dann nicht als Profit in den Geschäftsbüchern ausgewiesen, sondern in der Buchhaltung versteckt. Häufig wurde die Zinserhebung als Umtauschgeschäft mit fremden Währungen abgewickelt, deshalb waren im währungspolitisch zersplitterten Italien auch die außerf lorentinischen Bankfilialen so wichtig. In der Geschäftspraxis findet sich also ein langes Register von dissimulierenden Strategien, die mit der Absicht der Umgehung von Verboten und letztlich zur Abmilderung von Wertekonf likten unternommen wurden. Schließlich konnten sich die Auftraggeber und die von ihnen engagierten Künstler in diesen Strategien des kunstvollen Verschleierns einig sein, denn dissimulatio gehörte auch zum Metier des Renaissancekünstlers. Lange bevor sie – etwa in den Venedig-Briefen von Albrecht Dürer als sozialer Habitus des Künstlers beschrieben wurde – hat Leon Battista Alberti in seiner um 1437 geschriebenen Vita für die situationsadäquate Verstellung beim Auftreten des Künstlers plädiert. Hier stellt er die Maxime auf, in allen Lebenslagen im eigenen Verhalten des Künstlers „der Kunst noch die Kunst hinzuzufügen“.22 Diese Aufforderung gilt grundsätzlich auch für die Kunst selbst. Im Rahmen der Kunsttheorie des Quattrocento ist dissimulatio sowohl ein Produktionsaspekt als auch ein Gestaltungsziel, das sich mit dem Begriff der difficoltà verbindet: Der Künstler habe sich in seinen Werken Schwierigkeiten aufzugeben, die er dann mit Leichtigkeit zu meistern habe. Das künstlerische Konzept ist difficile, die Ausführung ist facile. Dieses rhetorische Paradox findet sich etwa in der Dichtungstheorie bei Cristoforo Landino und wird im Malereitraktat von Alberti oder in der BrunelleschiBiografie von Antonio Manetti bestätigt.23 Ein letzter Blick auf die Fresken der Sassetti-Kapelle kann genügen, um anzudeuten, mit welch eindrucksvoller Konsequenz auch Ghirlandaio und Sassetti dieser Dialektik von difficile und facile folgten. Dort hatte sich der Maler in fast allen Freskoszenen der Herausforderung zu stellen, die historische Evidenz der Franziskuslegende mit der biographischen Evidenz der Lebensgeschichte des Stifters zu synchronisieren – und dies war vom Maler, was entscheidend ist, im Rahmen einer modernen, wirklichkeitsgetreuen, mit der Wahrnehmungsrealität des Betrachters kompatiblen Bildräumlichkeit im Bild zu vergegenwärtigen. In 22 Leon Battista Alberti: Vita, hg. von Christine Tauber, Frankfurt/M. 2004, S. 44: „[...] sed arti addendam artem“. 23 Als Beleg Antonio Manetti: Vita di Filippo Brunelleschi, hg. von Carlachiara Perrone, Rom 1992, S. 61-62.; vgl. auch Baxandall: Painting and Experience, S. 141-143; Ulrich Pfisterer: Die italienische Kunstliteratur der Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, S. 236-241.

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diesem Sinn der Kompatibilität von Bild und Lebenssphäre erfolgt die Bestätigung der Franziskaner-Ordensregel in dem entsprechenden Fresko nicht in Rom, sondern in Florenz (Abb. 6). Diese Situierung des Geschehens erlaubt es dem Maler, hochmittelalterliches und zeitgenössisches Bildpersonal gleichzeitig im Fresko zu präsentieren. Der Stifter selbst hat sich dankbar neben Lorenzo de’Medici postiert, der ihn nach dem Zusammenbruch mehrerer Bankfilialen im Zuge der Pazzi-Verschwörung auf seinem Posten als Leiter der römischen Bankfiliale belassen hatte. Das Fresko soll visuell eine historische Simultanität vorführen, aber nicht deren historische Faktizität behaupten. Die Lösung dieser schwierigen Aufgabe meistert Ghirlandaio im Sinne des Einfachen, indem er den Bildraum durch unterirdische Erschließungsgänge und durch eine Kulissenarchitektur schichtet und damit zugleich die historischen Sphären bildlich separiert. Ähnliches ließe sich bei der Szene des Verzichts auf die irdischen Güter zeigen. Im Vordergrund ist die Lossagung Franziskus’ vom Vater dargestellt. Im Hintergrund wird, so ist plausibel vermutet worden, eine Stadtansicht von Genf gezeigt, wo Sassetti seinen ersten Einsatz als Filialleiter der Medici-Bank absolvierte. Wiederum ist das Vordergrundgeschehen kompositorisch und durch Sichtblenden von der aktualisierenden Stadtvedute eindeutig getrennt. Die Verarbeitung unterschiedlicher historischer Inhaltsebenen war eine zentrale Bildaufgabe des Malers; er will die Plausibilität seiner Bildinhalte dissimulierend beglaubigen, ohne aber den Betrachter zu belügen. In der Formel von der Kunst der Unternehmenskultur, die im Titel meines Beitrags doppeldeutig ausgesprochen ist, kommt mit den visuellen Formen der Unternehmensrepräsentanz auch die Geschäftspraxis des Unternehmens selbst in den Blick. Aus den hier skizzierten kunsthistorischen Befunden lassen sich im Hinblick auf eine Historisierung der Unternehmenskultur einige allgemeine Überlegungen ableiten, wobei diesen ein relativ offenes Verständnis des Begriffs zu Grunde liegt: Geschäftsunternehmen sind hierarchisch strukturierte Organisationen, deren Ziel in der Erzeugung und Maximierung von Profiten besteht. Der Begriff Unternehmenskultur umschreibt daran anschließend und grob gesagt sämtliche Formen der Kommunikation des Unternehmens zwischen der Unternehmensspitze und den Mitarbeitern sowie zwischen dem Unternehmen und den Kunden.24 Ein solches durchaus von der Gegenwart inspiriertes Verständnis von Unternehmenskultur bedarf natürlich, um nicht anachronistisch zu sein, der historischen Präzisierung. Drei Punkte scheinen mir im Blick auf die hier erörterten Sachverhalte und Beobachtungen als wesentlich: 1. In der Kom24 Vgl. dazu mit einem aktuellen Beispiel Serge Steiner: Architektur und Corporate Identity bei der Migros. Der Einsatz von Architektur zur Schaffung einer Unternehmensidentität – die Migros als Beispiel, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 58 (2001), S. 209-216.

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munikation zwischen der Unternehmerfamilie und der Mitarbeiterelite der Bank sind die traditionellen Familienbindungen weiterhin prioritär, sie treten nun aber in ein Spannungsfeld zu den ökonomisch und administrativ effizienten modernen Funktionsbindungen. 2. In der Kommunikation mit dem Kundenmilieu erweist sich das Unternehmen in hohem Maß als anpassungsbereit. 3. In der Geschäftspraxis bedient sich das Unternehmen dissimulierender Strategien, die als solche durchaus gesellschaftliche Akzeptanz finden konnten, deren Anwendung aber zugleich der Absicht folgt, Verbote zu umgehen und Wertekonf likte abzumildern. Die künstlerische Repräsentation der Bank liegt als integraler und als unverzichtbar erachteter Teil der unternehmerischen Tätigkeit nicht außerhalb dieser Wertekonf likte. Das Thema der Verbindung von Kunst und Ökonomie kann über diese speziellen Zusammenhänge hinaus auf ein grundsätzliches methodisches Anliegen hinweisen: Bei aller notwendigen Betonung der Differenzen zwischen den Künsten und anderen Kulturfeldern bleibt es ebenso entscheidend, nicht nur deren jeweilige Spezifik, sondern auch das ihnen Gemeinsame, und das heißt immer auch die ihnen gemeinsame soziale Praxis, darzulegen.

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Abb. 1 Fiesole, Badia Fiesolana, Blick auf den Chor.

Abb. 2 Florenz, Cappella Sassetti in Santa Trinita.

Abb. 3 Mailand, Cappella Portinari an Sant’Eustorgio. Außenbau. Abb. 4 Mailand, Cappella Portinari an Stant’Eustorgio. Blick in die Kapelle.

Abb. 5 Portal des ehem. Banco Mediceo in Mailand. Mailand, Museo del Castello Sforzesco.

Abb. 6 Domenico Ghirlandaio: Die Bestätigung der Regel des Franziskanerordens. Fresko in der Cappella Sassetti.

Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie Baupolitik unter Cosimo I de’Medici in Florenz

Bei den folgenden Überlegungen kann von gesichertem Terrain ausgegangen werden, um von hier aus einen strukturellen Sachverhalt zu erläutern, nach dem bislang kaum gefragt wurde. In den Blick genommen wird die Kunstpatronage des Cosimo I de’Medici unter den Vorzeichen der bürokratischen Repräsentation einer Fürstenherrschaft. Kaum ein anderes Kunstpatronat ist so breit untersucht worden, wie dasjenige des Florentiner Herzogs, der 1537 staatsstreichartig den Ducato in Florenz definitiv etablierte. Diese intensive Kultivierung des Forschungsfeldes hat schlicht mit dem Umfang der Aufträge zu tun sowie mit dem überwältigenden kunstgeschichtlichen Rang der Werke selbst, zu deren Schöpfern Cellini und Michelangelo, Pontormo und Bandinelli, Ammannati, Giambologna und nicht zuletzt Vasari zählen. Hinzu kommt, dass Cosimos Auftraggebertätigkeit erstmalig in der Geschichte durch eine Kunstintendanz und eine Kunstakademie behördlich organisiert war, was es, insbesondere mit Hilfe der Schriften von Giorgio Vasari und Vincenzo Borghini sowie der Briefe des Auftraggebers selbst, erlaubt, in die Innenperspektive dieser Kunstpatronage Einblick zu nehmen.1 Auf dem Fundament der durch die Forschung verlässlich herausgearbeiteten breiten Kenntnisse ist es möglich, sich nicht nur ein Gesamtbild von der fürstlichen Kunstpatronage zu machen, sondern auch Klarheit zu gewinnen über die sich verändernden politischen Repräsentationsziele, für welche die Kunstförderung in Dienst genommen wurde. Dabei deutet sich an, dass Cosimos Politikstil einen eklatanten Wandel durchgemacht hat. Cosimo, der als 18-jähriger an die 1 Genannt sei als neuere Übersicht zur Kunstpatronage, neben der Materialübersicht „Cosimo I e Firenze“ (Ausstellungskatalog Florenz), hg. von Claudia Conforti, Mailand 2003, insbesondere die Studie von Henk Th. Van Veen: Cosimo I de’Medici and His SelfRepresentation in Florentine Art and Culture (ndl. 1998, engl. zuerst 2006), Cambridge 22013. Ihr verdankt die vorliegende Skizze wichtige Einsichten. Zugleich sind Überlegungen aus meiner eigenen, einige Jahre zurückliegenden Auseinandersetzung mit der politischen Repräsentation der Medici weiterentwickelt; Dietrich Erben: Die Reiterdenkmäler der Medici in Florenz und ihre politische Bedeutung, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 40 (1996), S. 287-361.

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III. Architekturtypologie und Institution

Macht kam, hat zunächst seine Herrschaft eiserner Faust in einem ausgesprochen provokativen, die Untertanen und die Gegner herausfordernden und beleidigenden Politikstil ausgeübt. Er machte sich dann einen gleichsam staatstragenden, auf Traditionswerte und nicht zuletzt auf Verwaltungsauf bau bedachten Politikstil zu Eigen. Dies geschah in den Jahren nach 1555, das heißt im Zuge der Eroberung des Stadtstaates von Siena und der Erweiterung der Toskana zum Flächenstaat sowie nach dem Beginn der Initiativen zur Erhebung der Toskana zum Großherzogtum und damit auch der Rangsteigerung von Florenz zur Kapitale. Für die beiden unterschiedlichen Botschaften der Selbstdarstellungen können zwei Kunstwerke beispielhaft einstehen: Vergegenwärtigt Cellinis Perseus Statue am Beginn der Regierung Cosimos diesen noch in mythologischer Verhüllung als provokativ-lässigen Triumphator über die politischen Opponenten, so lässt sich der Herzog in dem bekannten Deckenbild im Salone dei Cinquecento als kühl räsonnierender Stratege, der im Studiolo die Eroberung von Siena ausheckt, darstellen (Abb. 1).2 Um diese zweite Phase einer politisch-administrativen Konsolidierung und einer damit verbundenen Sichtbarmachung der Bürokratie geht es im Folgenden. Dabei soll Bürokratie auf den unterschiedlichen Ebenen von politischer, ökonomischer und religiöser Administration skizziert werden. Wenn dieser Begriff zugrunde gelegt wird, so ist damit ein bewusster Anachronismus nicht nur in Kauf genommen, sondern zwecks Differenzbildung sogar erwünscht. Gemeint ist mit Bürokratie ein Maßnahmenensemble von Verwaltungsakten, das, mit Max Weber gesprochen, den „Alltag von Herrschaft“ ausmacht3, und welches die Herrschaft, eben weil Herrschaft immer ein Verhältnis der Ungleichheit beinhaltet, zugleich stabilisiert. Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass Herrschaft ohne Kommunikation nicht möglich ist. Bürokratie ist ein essentieller Teil dieser Kommunikation, und zugleich ist sie ein Unternehmen, das den ausgesprochen fiktionalen Charakter von Politik bestätigt. Damit ist etwas ebenso Einfaches wie Grundlegendes gemeint: Die Fiktion besteht, vor allem in jedweder autoritären Herrschaft darin, dass – wie es Tony Judt in seinen Memoiren vor einiger Zeit noch einmal formuliert hat – das Staatsvolk behauptet, es sei mit der Herrschaft einverstan2 Zur 1545 in Auftrag gegebenen Perseus-Statue als politische Allegorie Thomas Hirthe: Die Perseus-und-Medusa-Gruppe des Benvenuto Cellini in Florenz, in: Jahrbuch der Berliner Museen, N.F. 29/30 (1987/1988), S. 197-216 und mit kunsttheoretischer Deutungsperspektive Michael Cole: Cellini’s Blood, in: The Art Bulletin 81 (1999), S. 215-235. Zu Vasaris Deckenbild Cosimo I. bei der Planung des Krieges gegen Siena (1564-1571) Matteo Burioni: Die Renaissance des Architekten. Profession und Souveränität in Giorgio Vasaris Viten (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 6), Berlin 2008, S. 15-23. 3 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Frankfurt/M. 2005, S. 162: „Denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung.“ I.d.S. auch S. 1047.

Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie

den, und die Herrschaft behauptet, sie nehme dem Staatsvolk diese Behauptung ab: „we pretend to conform and you pretend to believe us“.4 Selbstverständlich ist Politik als Herrschaftshandeln und als Kommunikationshandeln stets eine Wirklichkeit. Aber sie bedarf nicht nur der Bilder als kommunikativer Mittel, sondern sie ist in erheblichem Umfang darüber hinaus selbst ein Bild, nämlich eine Fiktion. Im Falle des frühneuzeitlichen Florenz ist zu zeigen, dass die Fiktion einer virtù civile oder der commodità, wie man Bürokratie quellenkonform übersetzen könnte, durch visuelle Demonstrationen erzeugt wird. Die im Titel des vorliegenden Beitrags behauptete Schönheit der Bürokratie5 liegt in der durch Sichtbarkeit geleisteten Fiktionalisierung von Politik. Ein bürokratischer Politikstil arbeitet, darauf zielen die folgenden Überlegungen ab, diesen Mechanismus heraus. Das soll am Bespiel der Architektur, konkret dreier öffentlicher Florentiner Bauensembles, erläutert werden, die – wie jede Architektur – sowohl als dingliche Realität in ihren jeweiligen Umgebungszusammenhängen, als funktionale Machtmittel durch ihre entsprechenden Raumnutzungen und als Repräsentationsmedium durch ihr Aufgebot an Symbolelementen fungieren.

Die Uffizien und die Observanz des Fürsten Die Planung für den Verwaltungsbau der Uffizien geht zurück auf das Jahr 1546.6 Für dieses Jahr ist eine strada nuova als Straßendurchbruch zwischen dem Palazzo della Signoria und dem Arno dokumentiert. Erst gut ein Jahrzehnt danach ist davon wieder die Rede, aber nun hatte man Größeres vor. Man wollte das gesamte Stadtquartier westlich des Palazzo Vecchio niederlegen und mit einem riesenhaften freistehenden Magistrats- und Residenzpalast bebauen, dessen Cortile eine Kapelle, vermutlich das Mausoleum Cosimos, beherbergen sollte. Die ab 1559 nach 4 Tony Judt: The Memory Chalet (2010), London 22011, S. 105. 5 Hier Bezug nehmend auf Otto Depenheuer: Staatskalokagathie. Ästhetische Annäherungen an Staat und Politik, in: Ders. (Hg.): Staat und Schönheit. Möglichkeiten und Perspektiven einer Staatskalokagathie, Wiesbaden 2005, S. 7-22. Der Begriff der Bürokratie, der erst im frühen 19. Jahrhundert und dann zuerst als Schimpfwort in Gebrauch kommt, wird hier zunächst vorsätzlich als anachronistisches Signalwort verwendet; zur Begriffsdifferenzierung vgl. Reinhart Koselleck u.a., Verwaltung, in: Otto Brunner u.a. (Hg.): Historische Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politische-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. VII, Stuttgart 1992, S. 1-96, hier S. 75-80. 6 Zur Baugeschichte immer noch grundlegend Johanna Lessmann: Studien zu einer Baumonographie der Uffizien Giorgio Vasaris in Florenz, Diss. Bonn, 1975; vgl. darüber hinaus Leon Satkowski: Giorgio Vasari. Architect and Courtier, Princeton 1993, S. 25-44; Claudia Conforti, „… tredici edifizi l’un con l’altro continovati…“. La costruzione degli Uffizi di Giorgio Vasari (1559-1579), in: „Cantiere Uffizi“ (Ausstellungskatalog Florenz), hg. von Roberto Cecchi, Rom 2007, S. 363-375; „Vasari, gli Uffizi e il Duca“ (Ausstellungskatalog Florenz), hg. von Claudia Conforti, Florenz 2011.

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Entwürfen von Vasari realisierte Lösung ist eine grandiose Synthese aus diesen Vorüberlegungen. Der Herzog hatte schon 1540 den alten Ratspalast als Residenz bezogen, und die Uffizien wurden als Straßenrandbebauung zum Arno hin gebaut, wobei die Breite der früher geplanten strada nuova beibehalten wurde. Im Gebäude hat man dreizehn, bisher über die Stadt verteilte Magistrate in separaten Amtshäusern untergebracht. Diese Amtshäuser sind als uniforme Jocheinheiten an den Straßenrändern abgewickelt, wobei einzelne Behörden auch mehrere Joche in Beschlag nehmen konnten. Bereits in zeitgenössischen Quellen wird die neu erschlossene, längsgestreckte Freif läche mit der Randbebauung als forum civium bzw. als foro bezeichnet. Im zeitgenössischen Verständnis komplettiert das Amtsgebäude ein foro all’antica, wo gemäß Vitruv (V,1-2) darüber hinaus der Herrschersitz, die Münze, ein Tempel sowie Kulturbauten angesiedelt sein sollten. Um diesen von der Antike inspirierten typologischen Forderungen Genüge zu tun, wurden in Florenz die zunächst zum Abbruch freigegebene Zecca und die ehrwürdige Kirche von San Piero Scheraggio schließlich sichtbar in den Neubaubestand integriert.7 In der Fassadengestaltung findet diese Mitteilung ihre Fortsetzung. Bei den dreigeschossigen Fassadenabschnitten sorgen im Erdgeschoß der Wechsel von Säulenpaaren und Pfeilern, im Piano Nobile die Rhythmisierung der Fenstergiebel als Segmentbogen- und Dreiecksgiebel dafür, die einzelnen Magistrate sichtbar voneinander abzugrenzen (Abb. 1-4). Solche Binnendifferenzierungen sind jedoch resolut in endlos lange Reihen sich wiederholender Bauglieder und robuste Horizontalgesimse eingespannt. Die Perspektiven stürzen geradezu auf die Fassade der Schmalseite zu, die eine völlig unerwartete Öffnung auf den Arno bietet. Im Erdgeschoß gibt eine von seitlichen Durchgängen f lankierte Arkade, deren Bogen in die ansonsten verblendete Mezzaninzone der Archivdepots einschneidet, den Blick auf das Flusstal und das jenseitige Stadtquartier frei. Darüber wird im Hauptgeschoß das dreiteilige Öffnungsmotiv der Serliana in verkleinerter Form wiederholt, und nochmals weiter oben befindet sich ein durchfensterter Abschnitt des zum Palazzo Pitti auf der anderen Arnoseite geführten Corridoio.8 7 Diese Aspekte wurden insbesondere nochmals von Matteo Burioni in mehreren Studien betont; insbesondere Matteo Burioni: Vasaris Uffizien. Transformation stadträumlicher Bezüge am Übergang von der Republik zum Prinzipat, in: Stefan Schweizer u.a. (Hg.): Bauen als Kunst und historische Praxis. Architektur und Stadtraum im Gespräch zwischen Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft, 2 Bde. in 1 Bd. (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 26), Göttingen 2006, S. 205-247; allgemein zur Forumsidee der materialreiche Artikel von Stefan Schweizer, Forum, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 13, Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, hg. von Hubert Cancik u.a. Stuttgart 2000, Sp. 1152-1162. 8 Caterina Caneva: Il corridoio vasariano agli Uffizi, Florenz 2002; Liana De Girolami Cheney: Il corridoio Vasariano. A Resprendent Passage to Medici and Vasari’s Grandeur, in:

Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie

Das triumphbogenartige Motiv der Serliana wird hier explizit als Herrschaftszeichen verwendet. Raffael hatte im Fresko des Borgobrandes in den vatikanischen Stanzen den Papstpalast damit gekennzeichnet (1514), dann taucht es in der Sala Regia im Vatikan in gebauter Form wieder auf (ab 1540, Planung durch Antonio Da Sangallo il Giovane) und es wanderte auch an die Stadtfassade im Bereich der Udienza im Palazzo Vecchio (ab 1542/43; Planung durch Baccio Bandinelli u.a.). Dass man mit der Uffizientestata eine höchst exklusive Zone des Fürsten vor Augen hat, macht nicht nur die Distinktion des Fassadenabschnitts mit lauter baulichem Sondergut klar, sondern auch die Statuenzier (Abb. 4). Das Hauptgeschoß, in dem sich in den Längsf lanken die Amtsstuben der Magistrate befinden, ist hier für den Fürsten reserviert, der uns als Standbild mit den begleitenden Personifikationen von Rigor und Aequitas vor Augen steht. Der Fürst, das ist die Botschaft dieses Figurenensembles, garantiert als oberste Instanz die Durchsetzung von Administration, aber auch deren gleichmacherisches Ideal. Über die Forumsidee, die Fassadenhierarchie und die Statuenausstattung hinaus wird die Architektursemantik durch die Säulenordnung komplettiert. Vasari hat mit den Säulen in den Kolonnaden sozusagen eine „nationale“ Säulenordnung avant la lettre verbaut. Denn obwohl er sie selbst als „ordine dorico“ bezeichnet, entsprechen die Säulen formal der toskanischen Säulenordnung und verweisen so ausdrücklich auf das Territorium des Herzogtums und damit auf die Landeshoheit zurück.9 Das der Kolonnade aufgelegte Gebälk ist in einem komplizierten, selbsttragenden Konstruktionssystem hergestellt, das Vasari in seinen Viten ausführlich und stolz erläutert. Er propagiert die Konstruktionsweise als Wiederherstellung des antiken Balkensystems, womit er gedanklich zugleich den Kreis zur antiken Forumsidee schließt.10 Insgesamt bringt die Architektur der Uffizien ein überschaubares und leicht verständliches Repertoire von Argumenten zur Anschauung. In welchem Umfang hier die Architektur tatsächlich als Medium seiner politischen Funktion, also der Bürokratie, verstanden wurde, wird mit überraschender Deutlichkeit durch die Schriftquellen bestätigt. Jacopo Guidi, der als ehemaliger Sekretär Cosimos auch Paul Emmons u.a. (Hg.): The Cultural Role of Architecture. Contemporary and Historical Perspectives, London 2012, S. 27-38. 9 Zur Debatte um die toskanische Ordnung Christof Thoenes: Gli ordini architettonici: rinascita o invenzione? (1985), in: Ders.: Opus incertum. Italienische Studien aus drei Jahrzehnten, Berlin 2002, 199-213, hier S. 206-207. Zu den „nationalen Säulenordnungen” immer noch die klassische Studie von Jean-Marie Perouse De Montclos: Le sixième ordre de l’architecture, ou la pratique des ordres suivant les nations, in: Journal of the Society of Architectural Historians 36 (1977), S. 223-240. 10 Giorgio Vasari: Dell’architettura, in: Ders.: Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architetti (Ausg. Florenz 1568), 9 Bde., hg. von Gaetano Milanesi, Florenz 1878-1885 (Nachdr. Florenz 1981), Bd. I, S. 130-132.

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mit Vasari in Briefverkehr stand, erinnert in seiner Totenrede auf Cosimo I von 1574 im Zusammenhang mit den Uffizien an die Forderung des Aristoteles11, dass die juristischen Magistrate einer Stadt allen zugänglich sein sollten, sich aber zugleich abseits der Handwerkerniederlassungen befinden sollten. Cosimo sei dieser Anweisung umso nachdrücklicher gefolgt, als er die Magistrate an einem auffallenden Ort („locus conspectus“) angesiedelt habe. Dadurch würden die Bürger nicht nur von der Autorität des Gesetzes überzeugt, sondern auch zum Guten verleitet. Die Beamten sollen zwar von allen Bürgern gesehen werden, sie sollen aber vor allem im Blick des Fürsten sein und nicht, wie die Händler in ihren Kontoren, im Verborgenen arbeiten. Jede Handlung der Verwalter werde so augenscheinlich: „et illorum qui muneri eiusmodi administrando praesint, plurimum interesse credatur, si oculis omnium, et Principi preasertim expositi.“ Darüber hinaus benennt der Panegyriker nicht nur die formalen Mittel, sondern auch die politischen Ziele dieser Architektur: Denn durch die Visibilität der Magistrate werden Friede und Eintracht unter den Bürgern (pax civium, concordia) befördert, und es werde die benevolentia des Fürsten offenbar.12

Die Loggia di Mercato Nuovo und die Erzählung vom Wohlstand Die Loggia di Mercato Nuovo wurde im Zentrum der Stadt zwischen 1547 und 1551 nach Plänen des Hofarchitekten Giovan Battista del Tasso erbaut.13 Die Prominenz des Auftrags zeigt sich unter anderem daran, dass sich Cosimo die ganz in den Vordergrund gerückte Darstellung des Architekten mit dem Holzmodell des Marktgebäudes auf dem Programmbild seiner Kunstpatronage, als das der zentrale Tondo seiner Gemächer im Palazzo Vecchio fungiert, nicht entgehen ließ (Abb. 5).14 Für die Anlage des Marktes wurde ein Bauplatz aus einem seinerzeit eng bebauten Quartier durch Abbruchmaßnahmen herausgeschnitten. Der Markt sitzt sozusagen wie die Spinne in einem Netz, das zwischen dem Herrschaftszentrum des Palazzo Ducale, der Getreidehalle von Or San Michele und den großen Privatpalästen und Zunftniederlassungen (Palazzo Strozzi, Parte Guelfa) sowie dem Ponte Vecchio aufgespannt ist (Abb. 6). Die Loggia ist auf rechteckigem Grund11 Vermutlich bezieht sich der nicht näher belegte Verweis aus Aristoteles: Politik 1331b, wo von den Behördenniederlassungen in der Stadt die Rede ist. 12 Jacopo Guidi: De conscribenda vita Magni Ducis Hetruria Cosmi Medices, Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Fondo Nazionale, II.III., 354 (Florenz 1574, Buch V), fol. 79r-v; Abdruck der Passage bei Van Veen: Cosimo I de’Medici, S. 90-92. 13 Zum Marktgebäude liegt offenbar keine Literatur vor; vgl. den Hinweis auf den Bau in der Vita des Niccolò Tribolo bei Vasari-Milanesi: Vite, Bd. VI, S. 95 mit Quellen zur Bauchronologie; allgemein zu frühneuzeitichen Marktbauten Donatella Calabi: The Market and the City. Square, Street and Architecture in Early Modern Europe (ital 1993), Altershot u.a. 2004; Dies.: Il mercante patrizio. Palazzi e botteghe nell’Europa del Rinascimento, Mailand 2008.

Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie

riss auf ein Stufenpodium geringfügig über das Straßenniveau gehoben (Abb. 7). Vier massive Eckpfeiler stecken das Geviert ab. Während an den vier Arkaden der Längsseiten die Säulen freigestellt sind und so bereits an den Fassaden das Konstruktionsraster im Inneren der Halle artikulieren, sind an den drei Arkaden der Schmalseiten den schlanken kompositen Säulen nach außen noch zusätzlich Pfeiler vorgelegt. Typologisch erweist sich der Marktbau als eine Variante der Florentiner Familienloggien und natürlich, allen voran, der Loggia della Signoria. Diese hatte ursprünglich als Versammlungsort der wahlberechtigten Patrizier gedient und wurde bekanntlich unter Cosimo geradezu demütigend degradiert, indem man sie zum Wachlokal der Herzogsgarde mit einem giardino pensile für die Herzogin auf der Dachterrasse umfunktioniert hat. Mit welchem Nachdruck Architekt und Auftraggeber auf diese bauliche Traditionsbildungen der Loggia della Signoria hinaus wollten, zeigt auch der Vergleich mit den seinerzeit prominentesten Planungen für eine Markthalle, nämlich den Neubauplänen für die Rialtomärkte in Venedig, die 1514 einem Brand zum Opfer gefallen waren. Bei den unverzüglich erbauten Fabbriche Vecchie orientierte man sich an Vitruvs Beschreibung eines Marktes (V,1), der zweigeschossige Gebäude mit Verkaufsständen im Erdgeschoss und eine darüber liegende Etage mit Kontorräumen fordert.15 In Florenz hingegen schloss man gerade nicht an dieses Modell an. Bei der Loggia di Mercato Nuovo wird der alte Bautypus der Versammlungsloggia vom Saal zur Flächenanlage erweitert, und gleichzeitig wird er durch die neue Funktionsunterbringung verstaatlicht. Dass es sich bei der Loggia di Mercato Nuovo nicht um einen bloßen Versorgungsmarkt handelte, wird bereits durch den beschriebenen Standort in gehobener Lage innerhalb der Sozialtopographie der Stadt ausgesprochen. Tatsächlich diente der Markt ursprünglich ausschließlich dem Verkauf von hochwertigen Konsumartikeln, insbesondere von Seidenstoffen. Entsprechend ist auch die komposite Säulenordnung eine Distinktionszeichen gegenüber den anderen Florentiner Märkten, wie Vasaris Loggia del Pesce mit den einfachen Pfeilern (1567) und dem Ponte Vecchio mit den Metzgerläden.16 Alles in allem fügt sich die Bauinitiative der Marktloggia nahtlos in ein umfangreiches Ensemble von Maßnahmen, mit denen unter Cosimo I die Wirtschaft von Florenz und des Territoriums dras14 Zu dem Tondo Dietrich Erben: Rezension zu Arturo Calzona u.a. (Hg.): Il principe architetto. Atti del Convegno internazionale Mantova, 21-23 ottobre 1999, Florenz 2001 (Centro Studi Leon Battista Alberti. Ingenium N. 4), in: Journal für Kunstgeschichte 7 (2003), S. 27-31, hier S. 27-28. 15 Zum Rialto Donatella Calabi: Rialto. Le fabbriche e il Ponte 1514-1591 (Saggi 704), Turin 1987. 16 So das Argument bei John Onians: Bearers of Meaning. The Classical Orders in Antiquity, the Middle Ages, and the Renaissance, Princeton N.J. 1988, S. 323.

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tisch einer staatlichen Regulierung unterworfen werden sollten. Die Forschung spricht von einer „politica vincolistica“, also einer auf Kontrolle und Intervention angelegten Wirtschaftspolitik. Die bürokratischen Reglements liefen im Wesentlichen darauf hinaus, die Agrarproduktion im Territorium zu steigern und Ausfuhren zu beschränken; eine Annonatspolitik der staatlichen Magazinierung von Agrarprodukten beinhaltete auch rigorose Preisregulierungen; im Gegenzug wurde versucht, den Import von Manufakturprodukten zu unterbinden, um die eigene Produktion auf diesem Sektor zu stärken. Es handelte sich im Grunde um ein protomerkantilistisches Programm der Produktionsförderung bei gleichzeitigem Protektionismus, das nicht zuletzt den staatlichen Behörden gegenüber den Zünften eine Vormacht verschaffte. Am Ende war freilich der Interventionsdruck größer als die tatsächlich erzielten Erfolge, und die ökonomische Krise des 16. Jahrhunderts machte auch vor der Toskana nicht Halt.17 Doch gerade vor dem Hintergrund einer trüben Realität konnte die Loggia di Mercato Nuovo als bauliches Sinnbild nicht nur der staatlichen Interventionspolitik gelten, sondern auch als öffentliche Bühne, auf der wenigstens auf dem Sektor der Luxusgüter Prosperität und demonstrativer Konsum zur Schau gestellt werden konnten.

Das Schauen und die Öffentlichkeit in den Kirchen Die architektonische Regularisierung mittelalterlicher Kirchen in Florenz war eine unmittelbare baupolitische Konsequenz aus der Umsetzung der Tridentiner Beschlüsse im Ducato. Cosimo I suchte den Ausgleich mit Papst Pius V. primär aus dem Interesse, den Papst für sein schon länger verfolgtes Anliegen einer Rangaufwertung als Allianzpartner zu gewinnen – eine Strategie, die am Ende bekanntlich aufging. Unmittelbar nach der Schließung des Tridentinums 1564 setzte der Herzog die Implementierung der Beschlüsse ins Werk, im August 1569 wurde er dann von Pius V. zum Großherzog der Toskana erhoben. Am 5. März 1570 setzte ihm der Papst in der Sixtina in Rom die Großherzogskrone aufs Haupt.18 Die Kirchensystematisierungen, mit denen Vasari beauftragt worden war, hatten 1565 in den beiden großen Bettelordenskirchen, der Dominikanerkirche von S. Maria Novella und der Franziskanerkirche von S. Croce, begonnen. Dann wurde das Programm auf Santo Spirito, den Florentiner Dom, wo der Vierungsbereich neu organisiert wurde, sowie auf Kirchen in anderen Städten der Toskana ausgedehnt. 17 Zur ökonomischen Entwicklung Furio Diaz: Il Granducato di Toscana – I Medici (Storia d’Italia, Bd. XIII/1), Mailand 1987, S. 127-148, dort S. 130-131 auch zur „politica vincolistica“. 18 Zu den Vorgängen Diaz: Il Granducato, S. 186-195; Gregory Murry: Cardinals, Inquisitors, and Jesuits. Curial patronage and Counter-Reformation in Cosimo I’s Florence, in: Renaissance and Reformation 32 (2009), S. 5-26; zur Ikonographie der Krönung auch Erben: Reiterdenkmäler der Medici, S. 312-318.

Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie

In den mittelalterlichen Kirchen wurden die Lettner entfernt und in den Seitenschiffen zahlreiche Familienkapellen aufgelöst und abgebrochen, um sie durch einheitliche Altarädikulen zu ersetzen. Beide Maßnahmen zielten darauf ab, die Kirchen im Sinne tridentinischer Forderungen umzuformen.19 Auf der einen Seite sollte eine freie Sicht auf Chor und Altar gewährleistet, auf der anderen Seite der Kirchenraum monumental vereinheitlicht werden. Dies geschah mit den Mitteln großformatiger und sich seriell wiederholender Seitenaltarrahmungen, deren Abfolge einen Tiefenzug bis hin zum Hauptaltarbereich entfaltete. In S. Croce sind die von Vasari zusammen mit Francesco da Sangallo entworfenen Ädikulenaltäre mit alternierenden Segment- und Dreiecksgiebeln auf kompositen Vollsäulen ausgestattet und sie waren ehemals mit einem das Gebälk weiterführenden Wandgesims miteinander verspannt (Abb. 8). Vasari dürfte sich bei der Gestaltung der Retabelrahmungen, die er bisweilen mit eigenen Gemälden bestückte, an das Modell der Tabernakel im römischen Pantheon gehalten haben (Abb. 9). Ebenso entscheidend wie dieser Verweis auf das prominente römische Vorbild einer Kirchenmodernisierung erscheint bei den Florentiner Kirchen eine Neuformulierung in der Architektursprache. Mit den Ädikulen wird ein Baumotiv ins Innere der Kirchen verbracht, das seine Herkunft in den Portal- und Fensterrahmungen von Palastfassaden hat.20 Der städtische Außenraum wird mittels der Migration des Motivs in den kirchlichen Innenraum hineingeführt, und der Kirchenraum gerät so zu einer Art überdachter städtischer Piazza. Zurückgenommen wird damit nicht nur die Repräsentanz einzelner Familien, deren Kapellen von den unzähligen Wappen, Bannern und devotionalen Einzelobjekten21 regelrecht gesäubert wurden. Im Wortsinn auf Linie gebracht wird auch die Repräsentation der jeweiligen kirchlichen Institutionen, also der Bettelorden und der traditionell auch für die Kirchen zuständigen Zünfte. Das Unternehmen folgt in dieser Hinsicht ganz derselben zentralistischen Strategie wie die Uffizien und die Marktloggia, in denen die Zünfte ebenfalls der Kontrolle unterworfen wurden. 19 Zu den Systematisierungen grundlegend Marcia B. Hall: Renovation and CounterReformation. Vasari and Duke Cosimo in Sta Maria Novella and Sta Croce 1565-1577 (OxfordWarburg Studies), Oxford 1979; zum Florentiner Dom Louis Alexander Waldman: Bandinelli and the opera di Santa Maria del Fiore in: Margaret Haines (Hg.): Santa Maria del Fiore. The Cathedral and its Sculpture. Acts of the International Symposium for the VII Centenary of the Cathedral of Florence. Villa I Tatti, 5-6 June 1997 (Villa I Tatti, Bd. 18), Fiesole 2001, S. 221-256. 20 Als frühe Beispiele sind in Florenz Michelangelos Arkadenschließungen am Palazzo Medici (1517) und in Rom Raffaels Entwurf für den Palazzo Branconio dell’Aquila (1518) zu nennen. 21 Hierzu immer noch höchst anschaulich das Material zu den „voti“ in den Familienkapellen in Florenz bei Aby Warburg: Bildniskunst und florentinisches Bürgertum (1902), in: Ders.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1980, S. 65102, bes. S. 73-74.

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Die räumliche Vereinheitlichung sowie die formale Bereinigung der Kirchenausstattung und deren inhaltliche Einbindung in einen Programmzusammenhang gehörten zugleich zu den einf lussreichsten gegenreformatorischen Forderungen in Bezug auf Kirchenunterhalt und -planung.22 Die zeitgenössische Apologetik hat diesen resoluten Zugriff des Medici-Fürsten auf die Kirchendomäne unverzüglich belobigt. Vasari sortiert die Kirchenerneuerungen zu den anderen Maßnahmen der Stadtmelioration, also zu den Palastneubauten, Festungen, Platzgestaltungen, Loggien und Brunnen, mit denen Cosimo dem Gebot der commodità Folge geleistet habe. Darüber hinaus versteigt er sich zu dem Epitheton von Cosimo als einem neuen Tempelbauer Salomo: „[...] ed altre cose somiglianti, belle, magnifiche ed utilissime a comodo de’suoi popoli, ma anco sommamente in far di nuovo, e ridurre a miglior forma e più bellezza, come cattolico prencipe, i tempj e le sante chiese di Dio, a imitazione del gran re Salomone.“23 Bemerkenswert ist die Einigkeit, mit der die für die Kirchen verantwortlichen Operai und die Panegyriker die Interventionen als Triumph der Sichtbarkeit feierten: So schrieben die Operai di S. Maria Novella euphorisch in einem Bericht an Cosimo, dass sich durch den Abbruch des Lettners nun der Blick geöffnet habe: „che le (chiese) occupavano nel mezzo, ed impedivano all’occhio la vista libera, e vaghezza del magnifico tempio.“24 In seiner Totenrede auf Cosimo hebt auch Pier Vettori die einheitliche Kohärenz der neuen Kirchenräume hervor; er schätzt den freien Blick und sieht in den Altären geeignete Mittel, die Frömmigkeit und die Majestät des Glaubens sowie, damit einhergehend, diejenige des Fürsten zu erhöhen, da die Bilder der Heiligen nun dem Betrachter unmittelbar vor Augen träten: „Per questa cagione così è stata restituta la sua forma, et la grandezza a‘ luoghi sacri, et oltre la divozione, et la maestà maggiore è divenuta, ponendosi à noi subitamente inannzi a gli occhi di altari, et di imagini di santi ritratti col penello un numero grandissimo.“25 Nichts spricht dagegen, die von Cosimo initiierten baulichen Interventionen in den Florentiner Hauptkirchen des Mittelalters als ausgesprochen bürokratische Maßnahmen auf dem Feld der Religionspolitik zu klassifizieren. Formal stellen sie sich als Maßnahmen der Traditionstilgung zugunsten von modernisierten und zugleich seriell vervielfältigten Einbauelementen dar. Inhaltlich zielen sie auf die Disziplinierung der Glaubensausübung durch eine neue Übersichtlichkeit der Räume und eine ebenso neue Form der Blickleitung. Historisch schließlich leisten 22 In diesem Sinn bereits Carlo Borromeo in seinen Instructiones von 1577; Carlo Borromeo: Arte sacra (De fabrica ecclesiae), hg. von Carlo Castiglioni u.a., Mailand 1952. 23 Autobiographie Vasaris, in: Vasari-Milanesi: Vite, Bd. VII, S. 709-710. 24 Zit. nach Van Veen: Cosimo I de’Medici, S. 216. 25 Pier Vettori: Orazione recitata nell’essequie del Sereniss. Cosimo de‘Medici, Gran Duca di Toscana, Florenz 1574, S. 9r; zit. nach Van Veen: Cosimo I de’Medici, S. 217.

Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie

sie der – von Rangaspirationen motivierten – staatlichen Implementierung der entsprechenden Regularien des Tridentinums Folge.

Die Fiktionen der Bürokratie: Gesellschafts- und architekturtheoretische Beobachtungen Nicht nur in der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Forschung über den Staat, sondern auch in politik- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ist man sich offenbar mittlerweile einig, dass Staat und Politik ohne Fiktionen nicht auskommen. Im Kern geht es um die Stabilisierung von formalen und informellen Organisationen durch die relative soziale Verbindlichkeit von Verhaltenserwartungen seitens der NutzerInnen solcher Insitutionen, wie sie unter anderem durch Fiktionen erzeugt werden.26 Wenn man sich mit solchen fiktionalen Prozessen auseinandersetzt, so heißt das also nicht, um Missverständnissen vorzubeugen, dass man damit Politik und Staat ihre Realität abspricht, ganz im Gegenteil. Es bedeutet geschichtstheoretisch nur, dass man unter anderem den Staat als etwas grundsätzlich Erfundenes und Konstruiertes anerkennt und ihm damit einen partienweise scheinhaften, also nicht nur fiktiven, sondern auch fiktionalen, also durch Medien erzeugten, Charakter zuspricht. Und es bedeutet erzähltheoretisch nur, dass man unter Fiktion, in Abgrenzung zum Imaginären, eine Relationierung des Wirklichen zu etwas Erzähltem versteht. Denn jede Erfahrung, und somit auch jede politische Erfahrung, liegt immer zugleich als empirisches Ereignis und als Erzählung dieser Erfahrung, als fiktionaler Diskurs, vor.27

26 Zu dieser Grundüberlegung der funktionalistischen Systemtheorie Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt/M. 2000, passim und explizit S. 47-49; vgl. als weitere Belege recht unterschiedlicher Provenienz etwa Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1998, S.131-132; Ders.: Geheimnis und Fiktion als politische Realität (2007), in: Ders.: Geschichte als Anthropologie, hg. von Peter Burschel, Köln u.a. 2017, S. 141-168; Albrecht Koschorke u.a.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Köpers in der Geschichte Europas, Frankfurt/M. 2007; Barbara StollbergRilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, S. 9 mit der „Prämisse“, wonach jede „institutionelle Ordnung“ auf „gemeinsam geglaubten Fiktionen“ beruhe. 27 Zum Erfahrungsbegriff in der Historiographie grundlegend die Beiträge von Reinhart Koselleck, vgl. Ders.: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historischanthropologische Skizze (1988), in: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2000, S. 27-77; Ders. und Carsten Dutt: Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013 und Hubert Locher: „Politische Ikonologie“ und „politische Sinnlichkeit“. Bild-Diskurs und historische Erfahrung nach Reinhart Koselleck, in: Ders. und Adriana Markantonatos (Hg.): Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin 2013, S. 14-31.

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Unter diesen Voraussetzungen haben politische Fiktionen höchst unterschiedliche Reichweiten. Sie beginnen auf der personalen Ebene mit der Kompetenzunterstellung gegenüber einem Politiker hinsichtlich seiner oder ihrer Professionalität. Auf einer mittleren Ebene sind alle Behörden insofern fiktiv, als sich in ihnen die einzelnen Angestellten zu einem einzigen Agenten vereinen; nicht nur dies, sondern auch die Tatsache, dass selbst die Benutzer diesen Kollektivagenten als Adressaten anerkennen, setzt einigermaßen kreative Prozeduren der Erfindung voraus. Auf einer oberen Ebene liegen die essentiellen Staats- und Herrschaftsfiktionen; sie umfassen die faktisch zumindest in ihrer Totalität niemals wahrnehmbaren, nur virtuell glaubhaften Größen von Territorium, Bevölkerung und ökonomischen Ressourcen ebenso wie jedwede Geschichts- und Identitätskonstruktion und nicht zuletzt die Handlungslizenzen der Regierenden. Es könnte gut sein, dass mit der Autonomisierung von Politik auch die Fiktionalisierung von Politik zunimmt. Denn je markanter sich die Politik von der Ethik löst, ihre Maßstäbe aus ihrer eigenen Rationalität gewinnt und sich nach und nach als eigene Sphäre von Religion und Ökonomie distanziert, desto mehr scheint sie auf Fiktionen angewiesen zu sein. Jedenfalls deutet sich das im 16. Jahrhundert an, in dem sich ein erster Autonomisierungsschub der Politik mit Machiavelli, der Staatsraisonlehre, dem Tacitismus und der Ideenlehre im Umfeld der französischen „politiques“ verzeichnen lässt. Erinnert sei für diese Epoche nur stichwortartig an den Selbstdarstellungsmodus herrscherlicher Apotheose. Als Beispiel mag der Hinweis auf den zentralen Deckentondo im Salone dei Cinquecento genügen, der Cosimo I de’Medici in einer völlig fiktiven Konstellation repräsentiert, bei der sein Porträt mit den Realzeichen der Wappen, mit himmlischen Genien und mit imaginären Personifikationen kombiniert sind (Abb. 10).28 Zu denken ist bei Fiktionalisierungsprozessen im 16. Jahrhundert auch an die anerkannten Strategien der dissimulatio, die es dem Fürsten erlaubten, das eigene Handeln kunstvoll zu verschleiern29, und an die damit einhergehende Praxis und Vorstellungswelt der Arkanpolitik. Michael Stolleis bezeichnete die Arkanisierung des politischen Handelns als einen „Stil der politischen Kultur“ des 16. Jahrhunderts, bei dem Herrschaft durch das „Einverständnis der Eingeweihten“ vollzogen wurde.30 All diese Elemente des politischen Stils können im 16. Jahrhundert als re28 Zusammenfassend Franz Matsche: Apotheose, in: Uwe Fleckner, Martin Warnke, Hendrik Ziegler (Hg.): Politische Ikonographie. Ein Handbuch, 2 Bde., München 2011, Bd. I, S. 66-77, hier bes. S. 72-73. mit der Deutung als frühe Herrscherglorie. 29 Horst Bredekamp u.a. (Hg.): Dissimulazione onesta oder Die ehrliche Verstellung. Von der Weisheit der versteckten Beunruhigung in Wort, Bild und Tat. Martin Warnke zu Ehren, Hamburg 2007. 30 Michael Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts (1980), in: Ders.: Staat u. Staatsräson in der Frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt/M. 1990, S. 37-72, hier S. 70.

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gelrechte Neuerfindungen des Fiktionalen in der Politik gelten. Schon Etienne de La Boétie hat in seinem Discours de la servitude volontaire, der 1571 von Michel de Montaigne herausgegeben wurde, die Paradoxie herausgearbeitet, dass die Herrschaft (pouvoir) eher phantasmatischer als strikt realer Natur sei: Denn sogar der Tyrann bedürfe letztlich der Anerkennung seiner Untertanen, die sich gegenüber dem Alleinherrscher in erdrückender Überzahl befänden.31 Und Thomas Hobbes vergleicht im Leviathan die „Natur der Macht“ mit einem „Gerücht, das mit seiner Verbreitung zunimmt.“32 In Anbetracht dieser Ubiquität des Fiktionalen in der frühneuzeitlichen Politikpraxis kommt der Verwaltung fast notgedrungen ein ebenfalls fiktionaler Status zu. Bürokratien existieren, indem sie Namen und Daten erfassen, das Staatsvolk besteuern oder Recht sprechen, aber sie sind auch darauf angewiesen, sich selbst zu erzählen. Von Seiten der Organisationstheorie wurde neuerdings sogar angeregt, die Aktivitäten innerhalb von Behörden als „enacted narrative“, also als praktizierte, sozusagen zur Aufführung gebrachte Erzählungen zu verstehen.33 Dabei ist die oberste Fiktion die Rationalität und Effizienz bürokratischer Organisation. Am Beginn der Ära des Frühabsolutismus lässt Shakespeare Hamlet im Monolog zu Beginn des dritten Akts die „Unverschämtheit der Behörden“ („insolence of office“) beklagen. Diese allgemeinen Überlegungen können anhand schriftlicher Verlautbarungen für die vorliegenden historischen Zusammenhänge der späten Regierungszeit Cosimos I de’Medici konkretisiert werden. Nach den bereits gegebenen knappen Gebäudeanalysen mit entsprechenden Äußerungen aus Gebrauchstexten und seriellen Quellen seien abschließend ein paar normative, theoretisch-ideengeschichtliche Quellen nachgereicht, um auch auf dieser Ebene die Frage der Fiktionalität des Politischen und insbesondere der Bürokratie zu belegen. Giorgio Vasari hat, als eines der Proömien seiner Viten, auch einen kurzen Traktat zur Architekturtheorie verfasst.34 In ihm geht es zur Hälfte nur um Steine, 31 Etiennne de La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft, Frankfurt/M. 1980, frz.-dt. Edition, S. 33. 32 Thomas Hobbes: Leviathan (1651), hg. von C. B. Macperson, London 1985, S. 150: „For the nature of Power, is in this point, like to Fame, increasing as it proceeds.“ (Buch I,10) 33 I.d.S. Barbara Czarniawska: Narrating Organizations. Dramas of Institutional Identity, Chicago 1997, S. 13, 15, 122; zur Fiktion von Institutionen aus erzähltheoretischer Sicht auch Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/M. 2012, S. 287-328. 34 Giorgio Vasari: Dell’architettura, in: Vasari-Milanesi: Vite, Bd. I, S. 107-148; zitiert im Folgenden mit Seitenangaben im Text. Als Übersetzung Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei, hg., komm. und eingel. von Matteo Burioni, Berlin 2006, S. 25-74; der bislang einzige spezielle Beitrag zur „Introduzione“ stammt von Andrew Marrogh: Vasari On Coloured Stones, in: Giorgio Vasari. Tra decorazione

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genauer gesagt um Steinbrüche und besonders wertvolle buntfarbige Marmorsorten. In der anderen Hälfte behandelt der Text neben den Säulenordnungen dann wieder nur um Steine, diesmal deren Verarbeitung zu Mosaiken. Dieser doch mehr als spezielle, um nicht zu sagen engstirnige inhaltliche Zuschnitt ist erklärungsbedürftig. In ihm steckt, so mein Vorschlag, hauptsächlich ein gouvernementales Argument. Vasari klassifiziert die von ihm beschriebenen Steinsorten nach ihrem Verwendungsalter und ordnet sie nach ihren Härtegraden an. Beide Argumente gehören zusammen, denn die Berichte über die Verwendung in der Antike einerseits und die Beschreibung der Härtegrade, von denen der imperialrömisch konnotierte Porphyr an oberster Stelle des Klassements steht, geben Vasari die Gelegenheit, die Fortschritte seiner eigenen Zeit in der Steinbearbeitung herauszustellen: „Ed acciochè più manifestamente apparisca la grandissima difficultà del lavorar delle pietre che son durissime e forti, ragioneremo distintamente, ma con brevità, di ciascuna sorte di quelle che maneggiano i nostri artefici, e premieramente del porfido.“ (S. 108) Vasari gelten die Steine einerseits als Symbole von Anciennität und Festigkeit („memoria“ und „firmitas“), andererseits auch als Symbole für den Fortschritt in der eigenen Zeit. Und des Weiteren versteht er die edlen Marmorsorten auch noch als Symbole für die Unbestechlichkeit, die „incorrutibilità“ der Regierung seines Dienstherren Cosimo.35 Marmor ist, mit einem Wort, eine Art Großmetapher für die fürstliche Herrschaft. Im Rahmen dieser allgemeinen Allegorese werden im Traktat durchgängig konkrete Handlungen geschildert, die exemplarisch auf einzelne Herrschertugenden verweisen. So ist es der Fürst selbst, der sich neue Bearbeitungsmethoden für den Porphyr ausdenkt und diese Kompetenz an die Handwerker weiterreicht. Vasari nennt dieses Spezialwissen mit dem Wortschatz der Arkanpolitik ausdrücklich ein Geheimnis, das der Fürst dem Handwerker übermittelt habe: „il segreto datogli dal duca fusse rarissimo.“ (S. 112) Cosimos Freigiebigkeit, seine „magnificenza“ und „magnanimità“, werde – so Vasari – durch Marmorlieferungen, die der Herzog befreundeten Fürsten als Geschenk übermittelt habe, unter Beweis gestellt (S. 120). Die „riputazione“ des Fürsten zeige sich auch daran, dass Marmor, der aus den heimischen Steinbrüchen stammt, in anderen Gegenden Italiens verbaut wird (S. 120-124). Überhaupt sind es die Steinbrüche, die sich im Besitz des Fürsten befinden, denen sich Vasari am ausführlichsten widmet. Die Ausbeutung neuer Steinbrüche habe Cosimo als Landesvater durch die Anlage neuer Straßen zur Landeserschließung genutzt – „per sanare il paese“. (S. 121). Solchen, wie wir heute sagen würden, Infrastrukturplanungen treten Verambientale e storiografia artistica. Convegno di Studi. Arezzo, ott. 8-10, 1981, hg. von Gian Carlo Garafagnini, Florenz 1985, S. 309-320. 35 Vasari-Milanesi: Vite, Bd. VIII, S. 539 im Zusammenhang mit der Justizia-Säule vor Santa Trinita.

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ordnungen an die Seite, welche die Verwendung bestimmter Steinsorten regeln. Vasari verweist auf die Bauverordnung, die die Verwendung der „pietra serena“ an öffentlichen Gebäuden zur Auf lage macht und nennt als Beispiel den Mercato Nuovo (S. 125-126.). Vasaris Architekturtraktat ist eine bürokratische Fiktion. Marmor dient ihm als gouvernementale Metapher, indem er die verschiedenen Steine als kulturelle Ressourcen beschreibt. Ihre Gewinnung und ihre Verwendung versteht er als Sinnbilder fürstlicher Herrschaft. Dabei liegt aber der Akzent mit den Hinweisen auf Landesmelioration und Baugesetzgebung auf einer ausgesprochen verwaltungsmäßigen, auf Effizienz angelegten Herrschaftsorganisation. Sie wird durch die Materialität des Marmors gleichsam felsenfest behauptet und damit eben auch symbolisch-fiktiv überhöht. Wie Vasari gehörte auch Scipione Ammirato zum intellektuellen Establishment des Medici-Hofes. Er war 1569 von Cosimo I nach Florenz berufen und dort mit einer Geschichte von Florenz und der Toskana beauftragt worden, deren erster Teil bereits im folgenden Jahr erschien. In der Folgezeit widmete sich Ammirato weiterhin der Historiographie der Toskana und arbeitete darüber hinaus vor allem an den Discorsi sopra Cornelio Tacito, die 1594 erschienen und ihren Autor zu einem der prominenteren Vertreter des sogenannten Tacitismus machten.36 Bei der politischen Ideenlehre des Tacitismus handelt es sich um eine sozusagen über die Bande dissimulierende Auseinandersetzung mit Machiavelli – indem man den römischen Historiker Tacitus interpretierte, konnte auch gefahrlos über den geächteten Florentiner Historiker geredet werden. Dies betraf insbesondere dessen Lehre von der ragione di stato. Auch bei Ammirato bildet das gleichnamig überschriebene Kapitel im Wortsinn das Rückgrat der Discorsi. Es ist als längster Abschnitt genau in der Mitte des Buches angeordnet (Libro XII). Ammirato erweist sich insofern als durchaus konzilianter Machiavellist, als er einerseits an der Idee einer fürstlichen Einherrschaft festhält, die auf der ragione di stato beruht, durch die fortuna des Fürsten unterstützt wird und durch dessen virtù gemildert wird. Andererseits unterstellt er die Fürstenherrschaft aber den ethischen Gesetzen von Natur- und Völkerrecht. In seinem über 600 Druckseiten umfassenden Traktat plädiert Ammirato für ein umfangreiches Register an Machtstrategien, die ganz im Trend des Machiavellismus liegen. Sie umfassen die altbekannten Elemente der Arkanisierung. 36 Zu Ammirato liegt offenbar immer noch keine Spezialliteratur vor; Hinweise finden sich breit gestreut in der umfangreichen Literatur zu Staatsräsonlehre und dem Tacitismus; zusammenfassend Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, 10 Bde., Stuttgart 2001-2012, Bd. 3/1: Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, 2006, S. 231-248; zum Text Scipione Ammirato: Discorsi [...] sopra Cornelio Tacito, Erstdruck Florenz 1594; zitiert wird mit Seitenangaben im Text.

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Wichtig ist, dass nun aber auch Wirtschaft und Finanzen weitaus höher veranschlagt werden, die von Machiavelli noch fast ganz vernachlässigt worden waren. Laut Ammirato habe sich der Fürst um die Dynastie zu kümmern, um die Verteidigungsfähigkeit, um die Provinzen, den Handel, die Gesetzgebung – und so fort. Sparsamkeit ist seine beste Einnahmequelle (S. 118). Dem Fürsten genügt ein einziger Minister seines Vertrauens; mit Dienern und Beamten soll man nicht mündlich, sondern über schriftliche Dossiers kommunizieren (S. 158, 163). Zugleich ist sich Ammirato der Schauseite der Politik gewahr, doch auch hier verlangt er kontrollierte Zurückhaltung. So lehnt er die dissimulazione des Fürsten in religiösen Angelegenheiten ab (S. 124), und ebenso spricht er sich dagegen aus, öffentliche Feste für das Volk nur abzuhalten, um es von Missständen abzulenken. Der Fürst müsse hingegen wie ein guter Arzt die Krankheiten, an denen das Volk leide, diagnostizieren und alles daransetzen, sie zu heilen (S. 157-158). Trotz solcher Einschränkungen ist es immer der Fürst, der die Normen seiner eigenen Politik vollgültig verkörpert. Wirkungsvoller als Gesetz und Strafe ist das Exempel des Fürsten, durch welches das Volk zu Nachahmung ermuntert werde: „[...] quanto più operì il principe con l’esempio, che con la pena, imperoche o persimonia, o altra virtù, che egli brami d’introdurre ne popoli suoi, più opera con l’esempio suo solo, che con tutte le leggi, & pene del mondo.“ (S. 121) Dieses exemplarische Image wird durch die „richezze“, die „honore“ und die „fortuna“ des Fürsten erzeugt (S. 203-204). Und die „riputazione“ des Fürsten wiederum basiert auf visueller Überzeugung, auf sichtbarer Persuasion: „Ma quanto reca con se maggior difficoltà l’interpretare una cosa diversamente da quel, che ella è, che non fa il semplice far vista di non la vedere, tanto è l’utile, che se ne cava maggiore, percioche tu non solo schisi il danno, che ti sopra stà dal vedere, ma col far vista di vedere in un’altro modo vieni à conseguire il tuo intendimento.“ (S. 11) Alles in Allem ist für Ammirato Politik der Einsatz der Machtmittel, zu denen maßgeblich die effiziente Verwaltung gehört. Aber sie ist darüber hinaus stets auch Behauptung. Der Fürst verbürgt, mit anderen Worten, nicht nur die Ausübung von Politik, sondern autorisiert auch deren Fiktionen.

Fazit Dieser Ambivalenz galten die vorliegenden Überlegungen. Es war zu beobachten, dass die einzelnen in den Blick genommenen Institutionen nicht ausschließlich auf die konkrete Nutzung hin konzipiert wurden – die Uffizien für die Behördengänge, die Loggia di Mercato Nuovo für die Konsumenten, die umgebauten Kirchen für die Kirchgänger –, sondern dass diese funktionale Pragmatik zugleich eine repräsentative Aufwertung erfuhr. So fungieren die Uffizien als Institution der politischen Zentralverwaltung, es tritt ihnen die Marktloggia als Repräsentationsort einer protomerkantilistischen Ökonomie an die Seite, während die

Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie

Kirchensystematisierungen sich auf die konfessionelle Disziplinierung richteten. Dabei standen die einzelnen baupolitischen Maßnahmen unter der zentralistischen Observanz des Fürsten, der damit die Hofarchitekten und -künstler beauftragte. Zugleich wurde am Beispiel von Cosimo I de‘Medici versucht, einem bürokratischen Politikstil in den Sphären von Herrschaft, Ökonomie und Religion auf die Spur zu kommen. Politikstil meint hier nichts anderes als denjenigen Teil der politischen Praxis, die nicht nur als solche realisiert wird, sondern deren Zeichenhaftigkeit vorsätzlich gestaltet und deren demonstrativer Wert absichtsvoll erzeugt werden. Ein Politikstil ist damit etwas anderes das Regieren selbst. Er basiert zwar auf den Zielsetzungen und den Realitäten von praktisch-politischem Handeln, zielt aber vor allem auf dessen wiedererkennbare Kohärenz und damit auf die demonstrative Qualität von Herrschaftshandeln. Die konkreten Inhalte dieser Demonstrationen beruhen ihrerseits auf der Fiktionalisierung von Politik. Politik muss sich – das ist keineswegs sensationell, aber gleichwohl grundlegend – laufend durch Fiktionen öffentlich sichtbar darstellen, plausibel machen und legitimieren, und der Politikstil ist diejenige Ausdrucks- und Mitteilungsabsicht, diese Fiktionen zu vereinheitlichen und sie als Sinneinheit kohärent zu kommunizieren. So verweist der Begriff auch darauf, dass die politische Ikonographie nicht nur eine Methodik zur Interpretation visueller Artefakte ist, in welchen sich die Politik materiell darstellt. Denn Kunst und Architektur machen Politik nicht nur im Modus der Symbolisierung und der verklärenden Überhöhung sichtbar, indem sie oftmals faktisch uneingelöste Ansprüche proklamieren, sondern sie arbeiten die der politischen Wirklichkeit selbst eigenen Fiktionen heraus. Kunst tritt zur Politik damit nicht nur in ein Verhältnis der Idealisierung und der proklamatorischen Absichten, sondern auch in ein Verhältnis der Abbildung: Abgebildet werden die Fiktionen, ohne die Politik nicht auskommt. Damit wird die politische Ikonographie sozusagen an die Politik selbst zurückverwiesen. Denn die Politik selbst ist nicht nur eine Wirklichkeit, sondern als Politikstil immer auch eine Fiktion von dieser Wirklichkeit.

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Abb. 1 Giorgio Vasari: Cosimo I de’Medici bei der Planung der Eroberung von Siena, Deckenbild im Salone dei Cinquecento im Palazzo Vecchio in Florenz, 1564-1571.

Abb. 2 Giorgio Vasari: Palazzo degli Uf fizi in Florenz, errichtet 1559-1570. Gesamtansicht in Richtung Testata.

Abb. 3 Palazzo degli Uf fizi, Abschnitt der Längsfassade.

Abb. 4 Palazzo degli Uf fizi, Statue Cosimos mit den Personifikationen von Aequitas und Rigor an der Innenfassade der Testata.

Abb. 5 Giorgio Vasari: Cosimo I de’Medici im Kreis der Künstler und Architekten. Zentraler Deckentondo in der Sala di Cosimo im Palazzo Vecchio in Florenz, 1556.

Abb. 6 Stefano Bonsignori und Bonaventura Billocardi: Stadtplan von Florenz. Ausschnitt des Stadtzentrums im Geviert von Palazzo Vecchio, Uf fizien und Loggia di Mercato Nuovo. Kupferstich, 1594.

Abb. 7 Giovan Battista del Tasso: Loggia di Mercato Nuovo in Florenz, errichtet 1547-1551.

Abb. 8 Blick in das nördliche Seitenschif f von Santa Croce in Florenz mit den 1565 eingebauten Altarädikulen.

Abb. 9 Blick in den Innenraum des Pantheons in Rom.

Abb. 10 Giorgio Vasari: Apotheose Cosimos I de’Medici. Deckentondo im Salone dei Cinquecento im Palazzo Vecchio in Florenz, 1563-1565.

Der Renaissancehumanismus und die Idee einer „humanen Architektur“ Florenz als Gründungsort in der Architekturgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg

I. Ein Hauptargument im Rahmen der Selbstbegründung und der Selbstermächtigung der Architekturmoderne ist der Bruch mit Zeit und Ort. Nicht zuletzt wegen seiner immensen, auf Krawall gepolten Lautstärke ist das Futuristische Manifest von 1909 für diesen Sachverhalt das frühe Paradebeispiel. Auf der einen Seite zielt die polemische Absicht der Zerstörung von Akademien und Museen auf die Destruktion von topographisch konkreten Geschichtsspeichern. Auf der anderen Seite erfährt der Erzähler in dem Manifest eine gleichsam poetische Neugeburt im Abwasserkanal einer Fabrik, in den er nach einer durchwachten Nacht mit dem Auto hineingerast ist. In einer narrativen Pervertierung kommt es zu einer Umkehrung der christlichen Szenerien der Wache am Ölberg und der Taufe, und so wird der Erzähler als Begründer einer neuen Kunst autorisiert.1 Die Emphase des Neubeginns wird erst durch einen restlosen selektiven Verfügungsanspruch über die Geschichte ermöglicht. Entsprechend lautet auch im Architekturmanifest des Futurismus von 1914 der erste Satz: „Dopo il Settecento non è più esistita nessuna architettura.“2 Spätestens seither wird von den Protagonisten der Architekturmo1 Filippo Tommaso Marinetti: Manifesto del Futurismo (frz. 1909), in: Guido Davico Bonino (Hg.): Manifesti del Futurismo, Mailand 2009, S. 39-46. Immer noch wichtig zur Geschichte und Theorie des Futurismus ist Christa Baumgarth: Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg 1966; ebenso als neuere Übersichten die Ausstellungen zum Futurismus-Jahr 2009: „F.T. Marinetti=Futurismo“ (Ausstellungskatalog Mailand), Mailand 2009; „Futurismo 19092009. Velocità+Arte+Azione“ (Ausstellungskatalog Mailand), Mailand 2009; „Illuminazioni. Avaguardie a confronto: Italia-Germania-Russia“ (Ausstellungskatalog Mailand), Mailand 2009. 2 Antonio Sant’Elia: L’Architettura Futurista 11 luglio 1914, in: Bonino: Manifesti, S. 101-107; zum Autor des Manifests „Antonio Sant’Elia. Gezeichnete Architektur“ (Ausstellungskatalog Berlin), hg. von Vittorio Magnago Lampugnani, München 1992. Erstmals wurde die Bedeutung des Futurismus für die Architekturmoderne in der einschlägigen Historiographie von Reyner Banham herausgearbeitet; Reyner Banham: Theory and Design in the First Machine Age, London 1960, Kapitel 2; das entsprechende Kapitel wurde bereits als Aufsatz

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III. Architekturtypologie und Institution

derne die Kontinuität zur Geschichte, insbesondere des 19. Jahrhunderts, rundum abgelehnt, und behauptet wird darüber hinaus eine ortlose Autonomie der Architektur. Angesichts dieser beiden Aspekte ist die Frage nach Gründungsorten der Moderne für die Architektur paradox. Ausgerechnet Ort und Architektur, die beide – so möchte man meinen – durch den Bezug von Bauplatz und Gebäude in ein notwendiges Bedingungsverhältnis treten, passen unter den Vorzeichen einer Gründungstopologie nicht gut zusammen. Überspitzt gesagt sind in der Architekturgeschichte der Moderne Anfangszeiten gerade nicht an spezifische Anfangsorte gebunden. Pilotbauten der Moderne werden ihrer Ortsspezifik enthoben, entweder bereits gemäß ihrer planerischen Konzeption oder in der späteren Propagierung dieser Bauten. Zunächst sei an drei Beispielen im Rahmen eines Vorspanns verdeutlicht, was damit gemeint ist, um dann nach den Konsequenzen zu fragen, die in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aus diesem Befund gezogen wurden. Der Crystal Palace in London, der 1851 für die erste Weltausstellung nach Entwürfen von Joseph Paxton vollendet wurde, ist bereits von den Zeitgenossen als ein Fanal für einen Bruch in der Architekturgeschichte wahrgenommen worden, und er firmiert in der Architekturgeschichtsschreibung seither als die zentrale Referenz einer Vorgeschichte der Moderne.3 Dieser Status wurde dem Gebäude vor allem aufgrund der Qualität der Unabhängigkeit vom Ort in funktionaler, konstruktiver und formaler Hinsicht zugemessen. Funktional diente der Bau als Ausstellungsgehäuse für einen globalen Strom von Produkten, die hier in einer artifiziellen Welt zusammengeführt wurden. Der Architekt Gottfried Semper, der seinerzeit selbst an der Gestaltung einer Ausstellungssektion beteiligt war, erkennt in der Ausstellung das Symptom einer allgemeinen globalen Systemkrise: Die Weltausstellung sei die „Eröffnung des Weltmarktes“, und er sieht in der Symptomanzeige die hauptsächliche Aussage des Gebäudes:

publiziert von Reyner Banham: Futurism and Modern Architecture, in: RIBA Journal 64 (1957), S. 129-140; zu Banham vgl. die Ausgabe seiner Aufsätze: A Critic Writes. Essays, hg. von Anthony Vidler, Berkeley u.a. 1996; Nigel Whiteley: Reyner Banham. Historian of the Immediate Future, Cambridge MA. 2002; Anthony Vidler: Histories of the Immediate Present. Inventing Architectural Modernism, Cambridge MA. 2008, S. 107-155. 3 Vgl. zum Gebäude aus der umfangreichen Literatur: Louise Purbrick (Hg.): The Great Exhibition of 1851. New Interdisciplinary Essays, Manchester u.a. 2001. Maßgeblich für die Aufnahme des Kristallpalastes in den Kanon von Vorläuferbauten sind die „klassischen” Darstellungen u.a. von Nikolaus Pevsner: Pioneers of Modern Design, London 1936; Sigfried Giedion: Time, Space and Architecture. The Growth of a New Tradition, Cambridge, Mass. 1941; später etwa das weit verbreitete Buch von Kenneth Frampton: Modern Architecture. A Critical History, London 1980.

Renaissancehumanismus

„So wird auch der Bau von 1851, zu dem die Völker den Stoff zusammentrugen, eine Art von Babel herbeiführen. Diese scheinbare Verwirrung ist aber nichts weiter als das klare Hervortreten gewisser Anomalien in den bestehenden Verhältnissen der Gesellschaft, die bisher nicht so allgemein und deutlich von aller Welt in ihren Ursachen und Wirkung erkannt werden konnte. Hierin gerade wird die wichtigste Bedeutung des Werkes bestehen.“4 Konstruktiv ist der Bau aus normierten und synthetisch hergestellten Gusseisenteilen und Glasscheiben sowie aus Holzbalken im Gewölbe des Querschiffs zusammengesetzt. Die ganze, über einen halben Kilometer lange Anlage ist nach einem modularen Raster entwickelt und wurde innerhalb von sieben Monaten errichtet. Die epochale Modernität liegt im Einsatz von vorgefertigten, dann vor Ort in Montagebauweise verarbeiteten Bauelementen und in der durchgehenden seriellen Abwicklung dieser Elemente. Die funktionale und konstruktive Ortlosigkeit des Baus bildet sich schließlich formal im Erscheinungsbild ab. Die Wahrnehmung eines Ortes war für die Zeitgenossen nicht mehr möglich, an seine Stelle ist der Raum getreten. Dieser Innenraum war aber für die Zeitgenossen kaum fassbar, in ihrer Wahrnehmung wird er von der Leere getilgt.5 Die Beschreibungen des Gebäudes sind sprachlich mit ihren Aneinanderreihungen von Adjektiven oft ähnlich additiv und aufzählend strukturiert wie der Bau selbst. Die transparente Hülle wird in Vergleichen umschrieben. So spricht etwa der Reporter der Times nach der Eröffnung des Gebäudes davon, dass die Sinne und die Vorstellungskraft überfordert seien: „something more than the sense could scan or imagination attain“. Gottfried Semper redet von einem „glasbedeckten Vakuum“. Ein anderer Berichterstatter sagt: „the effect of the interiors of the building resembles that of the open air. It is perhaps the only building in the world in which atmosphere is perceptible“. Der Frankfurter Architekt Richard Lucae konstatiert: „Wie bei einem Krystall, so giebt es auch hier kein eigentliches Innen und Außen. Wir sind von der Natur getrennt, aber wir fühlen es kaum. Die 4 Gottfried Semper: Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühls (1851), in: Ders.: Wissenschaft, Industrie und Kunst und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht, hg. von Hans M. Wingler (Neue Bauhausbücher), Mainz/Berlin 1966, S. 27-71, hier S. 28; zur Beteiligung Sempers an der Weltausstellung 1851: Sonja Hildebrand: ‚…großartigere Umgebungen‘. Gottfried Semper in London, in: „Gottfried Semper 1803-1879. Architektur und Wissenschaft“ (Ausstellungskatalog München und Zürich), hg. von Winfried Nerdinger und Werner Oechslin, München u.a. 2003, S. 260-268. 5 Instruktiv zur zeitgenössischen Rezeption des Gebäudes: Philip Ursprung: Phantomschmerzen der Architektur. Verschwindende Körper und Raumprothesen, in: Kritische Berichte 34, Heft 2 (2006), S. 17-28, danach auch die folgenden Zitatauszüge S. 23.

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Schranke, die sich zwischen uns und die Landschaft gestellt hat, ist eine fast wesenlose. Wenn wir uns denken, dass man die Luft gießen könnte wie eine Flüssigkeit, dann haben wir hier die Empfindung, als hätte die freie Luft eine feste Gestalt behalten, nachdem die Form, in die sie gegossen war, ihr wieder abgenommen wurde. Wir sind in einem Stück herausgeschnittener Atmosphäre. [...] Außerordentlich schwer ist es nach meiner Meinung, sich hier bei der Körperlosigkeit des Raumes den Einf luss der Form und des Maßstabs zum klaren Bewusstsein zu bringen.“6 Alles in allem liegt die Bedeutung des Baus als Gründungsort der Moderne darin beschlossen, dass er gerade kein Ort ist – er provoziert die Wahrnehmung von Leere, die Indifferenz gegenüber jeder Abgrenzung zum Außenraum und den Verlust der definierten Form und des Maßstabs. Im Hochhausbau des späten 19. Jahrhunderts wird dieser Gedanke vom gebauten Unikat auf die Ebene einer modernen Bautypologie gehoben. Es gibt hier wiederum keinen Gründungsort, sondern vielmehr ein Milieu mit seinen Hervorbringungskräften. Dieses generierende Milieu wird geschaffen von einer Topologie aus Städten, Gebäuden und Texten: Konkret sind es die nordamerikanischen Metropolen mit ihren neuen Hochhäusern sowie die Programmschrift des berühmten, erstmals 1896 erschienenen Aufsatzes des Architekten Louis Henri Sullivan über das Tall Office Building.7 Es mag genügen, ein paar zentrale Stichworte dieses Aufsatzes in Erinnerung zu rufen: Sullivan geht es im Hinblick auf das Hochhaus nicht um eine „individual solution“, sondern um einen „true normal type“8 (Abb. 1). Dieser Typus wird vom geschäftlichen Bedarf, den örtlichen Baugesetzen, den neuen konstruktiven Verfahrensweisen des Eisenskelettbaus und von den Notwendigkeiten des architektonischen Ausdrucks geschaffen. Der Architekt bringt laut Sullivan in Kenntnis dieser Funktionen die Form in einem instinktiven schöpferischen Akt hervor. So ist Sullivans notorische, im Text wie ein Refrain mehrmals wiederholte Leitformel „form ever follows function“ zu verstehen. Diese Behauptung ist bekanntlich die bis heute meistzitierte Gründungsparole der Moderne. Im Kontext des Aufsatzes und der Architekturtheorie Sullivans ist entscheidend, dass hier ein vom älteren amerikanischen Transzendentalismus sowie ein von der aktuellen Evolutionstheorie Charles Darwins und 6 Richard Lucae: Über die Macht des Raumes in der Baukunst, in: Zeitschrift für Bauwesen (1869), Spalte 293-306, hier Spalte 303. 7 Louis H. Sullivan: The Tall Office Building Artistically Reconsidered (1896), in: Ders.: The Public Papers, hg. von Robert Twombly, Chicago u.a. 1988, S. 103-112; zur Theorie vgl. Narciso Menocal: Architecture as Nature. The Transcendentalist Idea of Louis Sullivan, Madison WI 1981; Lauren S. Weingarden: Louis H. Sullivan and a 19th-Century Poetics of Naturalized Architecture, Burlington VT 2009. 8 Sullivan: The Tall Office Building, S. 103-104.

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der Milieutheorie Hippolyte Taines inspirierter Gedanke aufgenommen wird. Das Bauwerk ist, wie das Lebewesen, in seiner funktionalen wie formalen Ausstattung ein Produkt seiner Umwelt, also wie gesagt des Immobilienmarktes, der Baugesetze, der technischen Standards und der logischen Form. Damit, dass auch Architektur unter die Gesetze der Evolutionstheorie gestellt wird, wird zugleich für die Moderne ein zentrales Argument geliefert. Durch diesen Brückenschlag wird der Begriff der Geschichte durch den Begriff der Evolution abgelöst. Die Architektur der Moderne legitimiert sich nun nicht mehr aus kontingenten geschichtlichen Vorgängen, sondern aus evolutionär zwangsläufigen Prozessen. Sie ist damit auch nur noch in einem höchst vermittelten Sinn ortsgebunden, denn entscheidend sind nicht mehr regionale Überlieferungen, sondern die Logik des gesellschaftlichen Milieus. Eine Art Synthese finden diese Prozesse in den Ideologemen des Neuen Bauens. Das Neue Bauen war zugleich eine Internationale Architektur – so lauten die beiden Stichworte, die von Walter Gropius, dem Gründer des Bauhauses, in entsprechenden Publikationstiteln in Umlauf gebracht wurden.9 Diese Adjektive sind nun großgeschrieben und signalisieren damit terminologische Verbindlichkeit und den Vollzug der Institutionalisierung ihrer Inhalte. Das Bauhausgebäude in Dessau löst die Ansprüche auf exemplarische Weise ein, es ist als ein gebautes Manifest konzipiert. Gropius‘ Ausgangspunkt ist die „Raumgestaltung (als) Gestaltung von Lagebeziehungen der Körper (Volumen). Die Symmetrie der Glieder, ihr Spiegelbild zu einer Mittelachse, schwindet in logischer Folge vor der neuen Gleichgewichtslehre, die die tote Gleichheit der sich entsprechenden Teile in eine unsymmetrische, aber rhythmische Balance verwandelt. Der neue Baugeist bedeutet: Überwindung der Trägheit, Ausgleich der Gegensätze.“10 Bereits hier deutet sich der Anspruch auf eine in jeder Hinsicht autonome Architektur an, wie er auch durch die zeitgenössischen Fotografien bestätigt wird, die das Bauhausgebäude stets als Komposition baulicher Einheiten wie eine abstrakte Gestaltungsaufgabe im luftleeren Raum darstellen (Abb. 2). Die Architektur des Neuen Bauens setzte sich gegen die Mitspracherechte des Baugrundstücks 9 Walter Gropius: Neues Bauen, in: Holzbau. Beilage der deutschen Bauzeitung 1, Heft 2 (1920), S. 5; Ders.: Internationale Architektur (Bauhausbücher 1), München 1927. 10 Walter Gropius: Idee und Aufbau des staatlichen Bauhauses (1923), in: Walter Gropius: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, hg. von Christian Schädlich, Berlin 1988, S. 90. Zum Gebäude vgl. Robin Rehm: Das Bauhausgebäude in Dessau. Die ästhetischen Kategorien Zweck Form Inhalt, Berlin 2005; kurz und bündig zum „Mythos Bauhaus“ in der Nachkriegszeit vgl. Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900, München 2005, S. 124 und Winfried Nerdinger: Das Bauhaus. Werkstatt der Moderne, München 2017, S. 113-125.

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durch, der Bau soll sich gemäß der Absicht von Gropius nur durch immanente Bezüge und Kontraste artikulieren. Die Kontext- und Ortsanbindung wird vorsätzlich vermieden, es gibt keinerlei Effekt des „Frontalismus“, des Auszeichnens einer Vorderseite oder gar einer Fassade mit einem Vorhof und einer entsprechenden Betonung der Eingangssituation. Der Raum als Außenraum wird letztlich als neutraler, passiver Grund begriffen. Raum ist die weiße Fläche auf dem Planpapier. Überdeutlich wird dies in der Berücksichtigung der Luftperspektive mit dem Flachdach als fünfte Fassade des Baus, wofür Gropius neben anderen Architekten plädiert: „Der typische Bau der Renaissance, des Barock, zeigt die symmetrische Fassade, auf deren Mittelachse der Zuweg führt. […] Ein aus dem heutigen Geist entstandener Bau wendet sich ab von der repräsentativen Erscheinungsform der Symmetriefassade. Die Verkehrswege in der Luft ergeben eine neue Forderung an die Erbauer von Häusern und Städten: auch das Bild aus der Vogelschau, das der Mensch früherer Zeiten nicht zu Gesicht bekam, bewusst zu gestalten.“11 In diesem universellen Raum wird, so lässt sich ergänzen, Architektur in ihrer Funktion transzendiert, ihrer Dienstverhältnisse entledigt und erlangt vergleichbar den ungegenständlichen Werken der Bildenden Kunst den Status eines Kunstwerks, das seine eigene Realität konstituiert. II. Aus diesen Objektbefunden leitet sich die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen ab. Es sind zunächst mindestens zwei Paradoxien zu konstatieren. Erstens: In der Architektur besteht die Topologie der Moderne in der Ortlosigkeit der Bauten. Genauer und mit den ästhetischen Begriffen der Zeit gesagt, ist Architektur in einem universell gedachten Raum angeordnet, der als solcher von der modernen Gesellschaft determiniert ist. Zweitens: Die Protagonisten der Moderne postulieren eine Architektur, die aus der Geschichtlichkeit herausgefallen ist und eigenen evolutionären Determinationsprozessen unterliegt. Wenigstens halten sich die Architekten der Moderne nach dem Postulat von Sigfried Giedion die Option auf ein rein instrumentelles Verhältnis zur Geschichte offen. In diesem Sinn erteilt Giedion der Architekturgeschichte eine Absage, deren Ziel sei es ohnehin nur, „die ewige Berechtigung des Vergangenen zu verkünden, und die

11 Walter Gropius: Bauhausbauten Dessau (1930), Nachdruck Mainz/Berlin 1974, S. 55. In diesem Sinn auch Laszlo Moholy-Nagy: Von Material zu Architektur (1929), Mainz/Berlin 1968, S. 222: „Aber das wesentlichste ist für uns die Flugzeugsicht, das vollere Raumerlebnis, weil es alle gestrige Architekturvorstellung verändert. Architektur ist Gliederung des universellen Raumes.“

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Zukunft damit totzuschlagen“.12 Aufgabe der stattdessen geforderten, für die Sache der Moderne Partei ergreifenden Geschichtsschreibung sei es im Gegenteil, „aus dem ungeheuren Komplex einer vergangenen Zeit jene Elemente herauszuschälen, die zum Ausgangspunkt der Zukunft werden.“13 Unter diesen Vorzeichen ist auch die Idee eines Gründungsortes zunächst einmal kontradiktorisch zur Selbstdeklaration der Moderne. Historizität, wie ihn der Begriff der Gründung impliziert, ist damit ebenso unvereinbar wie der Begriff des Ortes. Orte sind ja gerade als konkrete, punktuelle, prägnante und tendenziell unverwechselbare räumliche Materialisierungen oder Vorstellungen definiert. Orte sind Räume, an die wir uns erinnern.14 Doch dieser hier zunächst skizzierten Teleologie der Moderne wurde spätestens während und nach dem Zweiten Weltkrieg auch von Seiten prinzipieller Befürworter der Moderne widersprochen. Um diesen Einspruch gegen eine lineare Sicht der Moderne zu belegen, soll im Folgenden einer einzelnen Spur in der Architekturgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit nachgegangen werden. Es handelt sich um die Restitution eines Gründungsortes für die Architektur der Nachkriegszeit, nämlich um Florenz zur Zeit der Frührenaissance. Erst die Skepsis gegenüber einer monolithen Geschichtstopologie der Moderne machte die Wiedergewinnung von historisch und topographisch konkreten Gründungsorten

12 Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, Eisen, Eisenbeton (1928), Berlin 2000, S. 1. 13 Ebd. Zum historiographischen Kontext vgl. Hans-Rudolf Meier: Geschichtlichkeit der Form – Formen der Geschichtlichkeit. Sigfried Giedion und die Zeitgenossenschaft der Architekturgeschichte, in: Verena Krieger (Hg.): Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln 2008, S. 69-80. 14 So Donlyn Lyndon und Charles W. Moore: Chambers For a Memory Palace, Cambridge MA., 1994, S. xii: „Places are spaces that we can remember, that you can care about and make a part of your life.“ Vgl. dazu auch den Klassiker zur postmodernen Architekturanthropologie von Kent C. Bloomer und Charles W. Moore: Body, Memory, and Architecture, New Haven/ London 1977. Zur Unterscheidung von Ort, Stelle und Platz aus Sicht der Phänomenologie Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum (1963), Stuttgart 1971, passim, bes. S. 38-44. Speziell zum Ortsbegriff auch die wichtigsten Studien der im Rahmen des „spatial turn“ mittlerweile uferlos gewordenen Literatur: Edward Relph: Place and Placelessness, London 1976; Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit (frz. 1992), Frankfurt/M. 1994; Tim Cresswell: Place. A Short Introduction, Oxford 2006; Michael Müller und Franz Dröge: Die ausgestellte Stadt. Zur Differenz von Ort und Raum, Berlin 2005; Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt/M. 2006. Aus literaturwissenschaftlicher und methodologischer Sicht die einschlägigen Studien zu Gründungsorten von Albrecht Koschorke, zuletzt zusammenfassend in seiner kulturtheoretischen Synthese: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/M. 2013, bes. S. 140-141, 248-252, 396397. Zur historischen Praxis von Gründungsakten vgl. Marten Delbeke (Hg.): Foundation, Dedication, and Consecration in Early Modern Europe, Leiden 2011.

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der Moderne überhaupt denkbar, wobei diese Aneignung freilich ihrerseits den Maximen der Moderne verpf lichtet blieb. Florenz ist in diesem Zusammenhang mindestens doppelt kodiert: Als Ursprungsort der Renaissancearchitektur zu Beginn des 15. Jahrhunderts und als Ursprungsmilieu des Humanismus, der sich hier gleichzeitig etablierte. In diesem doppelten Sinn wurde Florenz in der Nachkriegszeit als Normorientierung für ein „humanes“ Bauen aufgerufen. Die schlichte Ausgangsfrage war: Welche architektonische Antwort konnte beim Wiederauf bau nach dem Zweiten Weltkrieg auf die monumentale Staatsbaukunst der europäischen Diktaturen und auf die gleichermaßen ideologisch in die Pf licht genommenen anderen Bausektoren wie dem Wohnungsbau gegeben werden? Nachdem bereits während des Zweiten Weltkriegs im Kampf gegen die Diktaturen von der Humanismusforschung an die freiheitliche Tradition des Florentiner Bürgerhumanismus erinnert worden war, plädierte die Architekturgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit für eine ethische Orientierung an der aus diesem Milieu hervorgegangenen Architektur der Frührenaissance. In einem dritten Schritt eigneten sich auch die Architekten die Forderung nach einer „humanen Architektur“ an, deren Ursprünge auf Florenz zurückprojiziert wurden. Einen wichtigen Beitrag zur Debatte über die Neuorientierung in der Architektur leistete das Buch des Kunsthistorikers Rudolf Wittkower, das 1949 unter dem Titel Architectural Principles in the Age of Humanism erschien.15 Wittkower war nach akademischen Stationen in Rom, Hamburg, Berlin und Köln 1934 ins Exil nach London gegangen, wo er an der dortigen Bibliothek von Aby Warburg eine Anstellung fand. Die Architectural Principles basieren auf drei Aufsätzen, die mitten im Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden und im Journal of the Warburg Institute 1941, 1944 und 1945 erschienen sind. Das Buch wird eröffnet mit einem neu geschriebenen systematischen Kapitel über den Kirchenbau; es folgen die vorab veröffentlichten monographischen Kapitel über den Florentiner Frührenaissance15 Rudolf Wittkower: Architectural Principles in the Age of Humanism (Studies of the Warburg Institute 19), London 1949. Zum folgenden vgl. insbesondere die Studien von Henry A. Millon: Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism: Its Influence on the Development and Interpretation of Modern Architecture, in: Journal of the Society of Architectural Historians 31 (1972), S. 83-91; Alina Payne: Rudolf Wittkower and Architectural Principles in the Age of Modernism, in: Journal of the Society of Architectural Historians 53 (1994), S. 322-342; zum Autor vgl. auch die Porträtskizze von Alina Payne: Rudolf Wittkower (1901-1971), in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Klassiker der Kunstgeschichte, Bd. 2: Von Panofsky bis Greenberg, München 2008, S. 107-123. Die vorliegende Interpretation akzentuiert neben den besonders von Payne herausgearbeiteten methodischen Bezügen stärker die geistesund zeitgeschichtlichen Entstehungskontexte; vgl. auch Dietrich Erben: Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism, in: „Kunstgeschichten 1915. 100 Jahre Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe” (Ausstellungskatalog München), hg. von Matteo Burioni u.a., Passau 2015, S. 381-384.

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architekten Leon Battista Alberti, das Kapitel über den oberitalienischen Hochrenaissancearchitekten Andrea Palladio sowie das systematische Kapitel über Proportionstheorien in der Renaissance. Bereits der ursprüngliche Publikationsort des Warburg Journal ist für die Methodik der Aufsätze und dann des späteren Buches Programm. Wittkower geht es – mit einem Wort – nicht um die Geschichte von Bauten, sondern um die Ikonologie von Architektur. Das Buch ist eine Fallstudie zur Architekturtheorie, und Wittkower setzt die Architekturtheorie als eine Begründungsinstanz für die Renaissancearchitektur in ihr Recht. Das zentrale inhaltliche Argument des Buches ist die Lesbarkeit von Architektur aus humanistischer Perspektive. Entsprechend der Kernthese ist der Renaissancearchitektur ein aus der Einheit von Kunst und Wissenschaft begründeter, ikonologischer Sinngehalt zu eigen. Dieser Sinngehalt basiert auf mathematischen Proportionsprinzipien und auf den nach diesen Regeln entworfenen, regularisierten Bautypen wie etwa dem Zentralbau. Für die Baukunst der Renaissance sind unter den Wissenschaften die Zahlenwissenschaften der Mathematik und der Musik sowie die neoplatonische Ideenlehre von Bedeutung. Im Nachweis all der Kontexte, die Wittkower für die Renaissancearchitektur innerhalb des Wissenschaftssystems der humanistischen „artes liberales“ eruiert, liegt die fundamentale, sowohl inhaltliche als auch methodische Bedeutung von Wittkowers Buch. Florenz wird dabei als eine implizite, weil letztlich selbstverständliche historische Bezugsgröße aufgerufen. Dies betrifft die dortigen Renaissancebauten – etwa Leon Battista Albertis Fassade von Santa Maria Novella als Kronzeuge der Harmonielehre in der Gebäudeproportionierung – wie auch das Umfeld des Florentiner Renaissancehumanismus. Wittkowers Buch wurde nicht nur von Architekturhistorikern gelesen, sondern auch von Architekten. Keinem architekturgeschichtlichen Buch war eine vergleichbare Wirkung sowohl im Fach wie auch in der Architekturpraxis beschieden. Diese unerwartet breite Rezeption hatte mehrere Gründe. Im Zweiten Weltkrieg konzipiert, war das Buch als Stellungnahme gegen die Totalitarismen der Zeit gemeint und zu verstehen. Bereits Hans Baron, ein weiterer Exilant aus Deutschland, hatte in seinen Studien den Florentiner Renaissancehumanismus als „civic humanism“ charakterisiert und ihn als Ideologie bürgerlich-freiheitlicher Selbstbehauptung gegen den höfischen Humanismus unter den Renaissancetyrannen in Stellung gebracht.16 In seiner großen Synthese The Crisis of the Early Italian Renaissance von 1955 spitzte Baron rückblickend diesen Antagonismus 16 Die Entwicklung des erstmals 1938 in einem Aufsatz vorgestellten, in späteren Studien sukzessive ausgearbeiteten Konzepts des Florentiner Bürgerhumanismus wird nachvollziehbar in den gesammelten Aufsätzen von Hans Baron: In Search of Florentine Civic Humanism. Essays on the Transition from Medieval to Modern Thought, 2 Bde., Princeton 1988.

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noch einmal rigoros auf die Zeitgeschichte zu. Er konfrontiert die Florentiner Freiheitstradition mit der Mailänder Knechtschaft unter den Visconti-Herzögen, wobei diese existentielle Bedrohung bürgerlicher Freiheit während der Renaissancezeit nur mit der Kontinentalsperre Englands unter Napoleon und mit dem Versuch der Eroberung Englands unter Hitler zu vergleichen sei. So liest man es beiläufig am Beginn des Buches.17 Auch bei Wittkower schwingt ein solcher zeithistorischer Kommentar mit. Dabei ist zu bedenken, dass sich in Italien das Regime Mussolinis gleichzeitig nicht nur der römischen Antike als eines imperialen Modells bemächtigt hat, sondern auch des Mittelalters, welches die Renaissance mit umfasste. Unter den Schlagworten der „purificazione“, der „chiarezza dello stile“ und der „liberazione“ der mittelalterlichen Bauwerke von späteren Umbauten wurden in den 1930er Jahren insbesondere in der Toskana Stadtbilder in scheinbar mittelalterlicher Manier zurückgebaut. Die faschistische Okkupation des „medioevo perfetto“ schloss auf der Grundlage einer bis ins frühe 16. Jahrhundert ausgedehnten Epochenkonzeption auch den Humanismus mit ein.18 Im Jahr 1939 fand in Mailand eine Ausstellung über Leonardo da Vinci statt, die den Künstler in militanter Tonlage als Vordenker des neuen faschistischen Helden feierte.19 Leonardos Proportionsfigur des Vitruvianischen Mannes wurde hier prominent in der Öffentlichkeit präsen17 Hans Baron: The Crisis of the Early Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny (zuerst 1955), Princeton N.J. 1966, S. 40: „One cannot trace the history of this explosive stage in the genesis of the states-system of the Renaissance without being struck by its resemblance to the events in modern history when unifying conquest loomed over Europe. In a like fashion, Napoleon and Hitler, poised on the coast of the English channel and made confident by their victories over every relevant power but one, waited for the propitious time for their final leap – until the historic moment had passed and unforeseen developments had upset the apparently inevitable course of fate. This is the only perspective from which one can adequately reconstruct the crisis of the summer 1402 and grasp its material and psychological significance for the political history of the Renaissance, and in particular for the growth of the Florentine civic spirit.“ 18 Vgl. hierzu insbesondere die Monographie mit mehreren vorbereitenden Beiträgen von Diane Medina Lasansky: The Renaissance Perfected. Architecture, Spectacle and Tourism in Fascist Italy, University Park Penns. 2004; Klaus Tragbar: Dante und der Duce. Zu den politischen Motiven der Umgestaltung historischer Städte in der Toskana, in: Aram Mattioli und Gerald Steinacher (Hg.): Für den Faschismus bauen. Architektur und Städtebau im Italien Mussolinis, Zürich 2009, S. 189-210. 19 Zur Leonardo-Rezeption vgl. Eckard Leuschner: Wie die Faschisten sich Leonardo unter den Nagel rissen. Eine architekturgeschichtliche Station auf dem Weg des ‚Vitruvianischen Menschen‘ zum populären Bild, in: Christian Hecht (Hg.): Beständig im Wandel. Innovationen, Verwandlungen, Konkretisierungen. Festschrift für Karl Möseneder zum 60. Geburtstag, Berlin 2009, S. 425-440.; im größeren Kontext des „retour à l’ordre“ vgl. auch Ders. (Hg.): Figura umana. Normkonzepte der Menschendarstellung in der italienischen Kunst 1919-1939, Petersberg 2012.

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tiert. Die Darstellung hatte bereits in dem Handbuch zur faschistischen Körperideologie von Alessandro Gatti20 Einzug gehalten und diente mit entsprechend ideologisch aktualisierter Beischrift auch als Motiv für das Plakat zur „Mostra dell‘Abitazione“ 1936 in Mailand (Abb. 3).21 Erst seither machte die vorher nur den Spezialisten bekannte Zeichnung Furore und erlangte jene notorische Popularität, die sie bis heute hat. Vor dem Hintergrund dieser propagandistischen Okkupation der Epoche galt es für Renaissanceforscher wie Wittkower und Baron, den vom Faschismus instrumentalisierten Humanismus der Renaissance für die Humanität zuerst einmal wieder zurückzugewinnen. Dabei ist es unbenommen, dass sich beide Gelehrte in ihren geistesgeschichtlichen Einschätzungen der Epoche auf recht unterschiedlichen Wegen näherten.22 Wittkower verbindet diese Wiederaneignung – und das ist weiterhin entscheidend für den Erfolg seines Buches – mit einem klaren Bekenntnis zur Moderne. Denn er analysiert die zeitlich fern gerückte Florentiner Renaissancearchitektur in kaum überbietbarer Deutlichkeit nach den formalen Kategorien der Architekturmoderne. Dieses Vorgehen ist bereits im Titel seines Buches mit dem Begriff der „principles“ angekündigt. Durch den Titel und dann auf der ersten Seite der Einleitung macht Wittkower klar, dass er die Renaissancearchitektur nicht als antikisierenden Historismus versteht. Er fasst sie nicht als „derivated style“ wie den Klassizismus des 18. und die Neorenaissance des 19. Jahrhunderts auf,23 sondern als eine genuin neue Architektursprache, eben weil sie auf den Begründungsprinzipien von mathematischer Wissenschaft und humanistischer Gelehrsamkeit beruht. Die Frage nach den „principles of style“ war aber auch schon gut zehn Jahre zuvor bereits für die Architektur der Moderne in ähnlich 20 Alessandro Gatti: L’uomo: il suo corpo, la sua mente, la sua storia, Mailand 1934. 21 Der Text des Plakates lautet in Übersetzung: „Die sittliche und politische Entwicklung hat eine Konstante: der Mensch mit seiner Vernunft und mit seinen Leidenschaften. Die Entwicklung der Architektur hat ebenso eine Konstante: den Menschen mit seinen Maßen und seinen Bedürfnissen.“ 22 Für Wittkower und Baron betreffen die Differenzen insbesondere die Bezugnahme auf den kontemplativ gestimmten Neoplatontismus einerseits und den stärker am Ideal der „vita activa“ orientierten politischen Ciceronianismus andererseits. 23 Hierin liegt eine entscheidende, die zentralen Begriffe von „principle“ und „style“ revidierende Distanzierung Wittkowers von dem Buch mit dem verwandten Titel von Geoffrey Scott: The Architecture of Humanism. A Study in the History of Taste (1914), London 1924. Scott charakterisiert die Renaissance als theoriefernes Paradigma für eine Geschmacksrichtung; so etwa explizit S. 37: „The Renaissance produced no theory of architecture. It produced treatises on architecture: Fra Giocondo, Alberti, Palladio, Serlio, and many others, not only built, but wrote. But the style they built in was too alive to admit of analysis, too popular to require defence. They give us rules, but no principles. They had no need of theory, for they addressed themselves to taste. Periods of vigorous production, absorbed in the practical and the particular, do not encourage universal thought.“

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grundlegender und systematischer Weise gestellt worden. Dies geschah in der Ausstellung „International Style“, die 1932 im New Yorker Museum of Modern Art eine erste Bilanz der europäischen und amerikanischen Architekturavantgarde zog.24 Der von Philip Johnson und Henry-Russell Hitchcock verfasste Begleitband erhebt den Anspruch, verbindliche, als „principles“ bezeichnete Stilkriterien für die zeitgenössische Architektur aufzustellen. Es sind dies die „principles“ von Raum als Volumen („A First Principle: Architecture as Volume”), von Regularität („A Second Principle: Concerning Regularity”) und der Verzicht auf applizierte Ornamentik („A Third Principle: The Avoidance of Applied Decoration”). Entscheidend ist, dass Wittkower diese konstituierenden „principles“ des „International Style“ auf seine Analyse der Renaissancearchitektur überträgt. Seine Emphase für die Geometrie und die Wissenschaft als Begründungsinstanzen für die Entwurfsprinzipien führt bei ihm in der Formanalyse dazu, Kirchen und Paläste der Renaissance weitgehend unter denselben Kriterien der Volumenbildung uns der regularisierten Grundriss- und Fassadendisposition zu sehen. Die Frage nach der Ornamentik der Bauwerke oder nach Nutzung und Ausstattung von deren Innenräumen wird nicht einmal gestellt.25 Mit allen diesen teils offen ausgesprochenen, teil impliziten methodischen Annahmen ist Wittkowers Rückrufaktion der Renaissancearchitektur nicht nur bahnbrechend neu gewesen, sondern auch von ungeheurer Wirkmächtigkeit, gerade weil sie ihre zeitgenössischen Motivationen und Gegenwartsbezüge nicht zurückstellt. Die Motivationen sind auf wissenschaftlicher Ebene mit der Etablierung der Architekturikonologie als Methode, auf ästhetischer Ebene mit der Lesart der Renaissancearchitektur nach den Maximen der Moderne und auf politischer Ebene mit der Wiederaneignung der ethischen Dimensionen des Humanismus angesiedelt. Es deutet sich hier ein Argumentationsrepertoire an, das für die Modernekritik in der Architekturgeschichte der Nachkriegszeit und verstärkt in der Postmoderne-Diskussion der 1960er Jahre Verbindlichkeit erlangte. Florenz kommt hier die Rolle einer Ursprungsmetapher zu. Die in dieser Stadt erstmals entworfene Frührenaissancearchitektur wird unter diesen Prämissen als ein normatives Leitbild etabliert, das für die Gegenwart Orientierung bieten soll. Das mit der Stadt identifizierte Ideenensemble wird in der Folgezeit in der Architekturgeschichtsschreibung und dann in der Architekturpraxis aufgearbeitet.

24 Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson: The International Style. Architecture since 1922 (1932), New York/London 1995; zur Ausstellung Terence Riley: The International Style. Exhibition 15 and the Museum of Modern Art, New York 1992. 25 Vgl. hierzu die Belege zur Vorgehensweise Wittkowers in seinen Architekturanalysen im Einzelnen bei Payne: Wittkower and Architectural Principles, bes. S. 328-330, ohne allerdings die Parallele zu den „principles“ im International Style-Katalog zu benennen.

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III. Ein kurzes Auff lackern der Debatte über das Verständnis von einer „human architecture“ gab es bereits 1948 anlässlich einer Konferenz über den „International Style“. Die Tagung stand unter der Frage „What is happening to Modern Architecture?“ und wurde im New Yorker Museum of Modern Art abgehalten, also an demjenigen Ort, an dem der Internationale Stil 1932 aus der Taufe gehoben worden war. In der Diskussion wurde von einem der Organisatoren und einem der Wortführer des Modernismus, dem Architekten Marcel Breuer, der Begriff „human“ für den Bereich der Architektur brüsk abgelehnt. „Human“ sei nichts anderes als ein Synonym für die Rückkehr zum Ornament und zur Betulichkeit, das Wort umschreibe bloß „imperfection and imprecision“ in der Architektur und rede der Architekturromantik, einer „camouf laging architecture with romantic subsidies“, das Wort.26 Auch Henry-Russell Hitchcock, einer der Kuratoren der Ausstellung von 1932, blieb skeptisch gegenüber Sache und Begriff. Im Zusammenhang mit der Rolle von Frank Lloyd Wright für die Architekturmoderne stellte er fest, dass der amerikanische Architekt keineswegs für eine „simple ‚humanization‘ which may be desirable in the immediate present“ zu reklamieren sei.27 Alfred Barr, der damalige Direktor des Museum of Modern Art, machte mit kaum überbietbarer Häme eine Architektur, die sich vom „International Style“ absetzt, als „International Cottage Style“ verächtlich: „Indeed, I think what we might call this kind of building is the International Cottage Style, for it appears to be [...] a kind of neue Gemütlichkeit with which we supersede the neue Sachlichkeit of the 1920’s.“28 Im kriegserschütterten England war man da vorsichtiger. Im Architectural Review, der seinerzeit weltweit einf lussreichsten Architekturzeitschrift, wurde die Debatte offensiv aufgenommen. Der damalige Herausgeber Nikolaus Pevsner, auch er wie Wittkower und Baron ein deutscher Exilant, ließ in einem Editorial im Januarheft des Jahres 1950 verlauten, dass die Gegenwartsarchitektur und diejenige der nahen Zukunft den Funktionalismus mit dem Ziel der Schaffung einer menschlichen Lebenswelt verbinden müsse: „The Review believes in modern architecture; believes it has a great future; believes the next 50 years will see it start the work of recreating the human environment, believes there is not time to was26 Die Debatte ist dokumentiert in: The Museum of Modern Art Bulletin 15 (1948), Heft 3. Zur Analyse der Debatte Martino Stierli: Vincent Scully und die Kanonisierung des Shingle Style. Anmerkungen zum kunsthistorischen Bildvergleich sowie zur Konstruktion einer nationalen Architekturgeschichte, in: Anke Köth, Kai Krauskopf und Andreas Schwartin (Hg.): Eine große Erzählung (Building America Bd. 3), Dresden 2008, S. 279-303, bes. S. 289-290 sowie von Ákos Morávanszky: Das Monumentale als symbolische Form. Zum öffentlichen Auftritt der Moderne in den Vereinigten Staaten, in: Carsten Ruhl (Hg.): Mythos Monument. Urbane Strategien in der Architektur und Kunst seit 1945, Bielefeld 2011, S. 37-61, bes. S. 53-54. 27 The Museum of Modern Art Bulletin (1948), S. 10 (kursiv im Original). 28 Ebd.

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te.“29 Die Hauptaufgabe der Architektur in der Gegenwart sei der Städtebau, die „rediscovery of urbanism“, die sich in der „rediscovery of the art of landscape“ im Sinne einer Versöhnung von Stadt und Landschaft in der „townscape“ erneuern werde, und dies setze auch den Rekurs auf Geschichte voraus.30 Wie zur Illustration dieses Plädoyers wurde eine ausführliche Besprechung des Wittkower-Buches in der Zeitschrift nachgeschickt.31 Schon zuvor war in der Zeitschrift auch eine Diskussion aufgenommen worden, in der Alternativen zum funktionalistischen Städtebau unter den Vorzeichen einer Wiederaneignung des „Monumentalen“ und einer Wiederbelebung der städtischen Zentren gesucht wurden.32 Florenz wurde – nun im vollen Sinne des Wortes – als Gründungsort des so verstandenen „humanen“ Bauens dann im Gefolge dieser Debatten von der italienischen Architekturkritik der Zeit etabliert. Es sollen hier nur wenige frühe Hinweise aus einer Vielzahl weiterer Belege angeführt werden, bevor sich die Debatte in den 1960er Jahren international ausweitete.33 Bruno Zevi hat in seiner Storia dell‘architettura moderna von 1953 Filippo Brunelleschi als die Gründergestalt der Moderne ausgemacht. Zevi staffiert den Florentiner Frührenaissancearchitekten mit einer Fülle entsprechend Epitheta aus wie mit einem prächtigen Ornat. Brunelleschi sei der Vertreter der „semplicità“ und einer beispielhaften „riduzione dei mezzi di espressione“.34 An einer Stelle führt er Brunelleschi als den Florentiner Baumeister des frühen 15. Jahrhunderts und Francesco Borromini als den Architekten des römischen Hochbarock als zwei antagonistische Pole ein und stellt sie in den gleichsam anthropologischen Dimensionen von Zukunft und Verfall einander gegenüber: „Brunelleschi e Borromini sono l‘infanzia e la corotta senilità (i.e.: del Rinascimento, Anm. d. Verf.).“35 Nochmals später setzt er Brunelleschi mit dem Wiener Architekten Adolf Loos gleich. Brunelleschi habe sich vom „schändlichen“ Zierrat der Gotik ebenso verabschiedet wie der Verfasser des berüchtigten 29 Nikolaus Pevsner: The Functional Tradition. Introduction, in: Architectural Review 107 (1950), S. 3-5, hier S. 3. 30 Ebd. 31 Kenneth Clark: Humanism and Architecture, in: Architectural Review 109 (1951), S. 65-69. 32 Morávanszky: Das Monumentale als symbolische Form. Entscheidende Stichworte finden sich bereits in dem Aufsatz von José Luis Sert: The Human Scale of City Planning, in: Paul Zucker (Hg.): New Architecture and City Planning, New York 1944, S. 392-412. 33 Summarisch hingewiesen sei hier nur auf einschlägige Belege bei Rowe, den Smithsons oder Tafuri; vgl. Colin Rowe: The Mathematics of the Ideal Villa (1947), in: Ders.: The Mathematics of the Ideal Villa, and Other Essays, Cambridge 51982, S. 2-17; Manfredo Tafuri: Teorie e storia dell’architettura, Bari 1967; Alison und Peter Smithson: Italienische Gedanken. Beobachtungen und Reflexionen zur Architektur, Wiesbaden 1996; Dies.: Italienische Gedanken – weitergedacht, Basel 2001. 34 Bruno Zevi: Storia dell’architettura moderna (1953), Rom 31955, S. 114. 35 A.a.O., S. 115.

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Pamphlets „Ornament und Verbrechen“ (1908) vom Historismus: „Brunelleschi fu il Loos della Rinascenza operando una geniale selezione nel dovizioso vocabolario figurativo del mondo gotico“.36 Als Konstrukteur der Kuppel des Florentiner Domes wird Brunelleschi in seiner Rolle als Entwerfer einer urbanen Stadtgestalt gewürdigt. Der Florentiner Architekt Giovanni Michelucci hat dieses Argument und die Bedeutung Brunelleschis für die Stadtgestalt von Florenz in mehreren Beiträgen emphatisch entfaltet. Er tat dies zuerst in einem Vortrag im Rahmen eines vom damaligen stadtgeschichtlichen Institut der Universität Florenz veranstalteten Kolloquiums zum Florentiner Quattrocento 1953 und in einem längeren, 1972 unter dem Titel Brunelleschi mago publizierten architekturkritischen Essay.37 Michelucci verfolgt nicht die Absicht von Geschichtsschreibung oder historischen Problemerhebungen, wenn er über Brunelleschi und über das Florenz der Frührenaissance spricht. Dass hier Brunelleschi auch als historisch ferne Berufungsinstanz fungiert, über die sich reden ließ, um über die unmittelbar zurückliegende Loyalität der italienischen Architektenschaft, und auch Micheluccis, zum faschistischen Regime zu schweigen, scheint naheliegend. Dies mag Teil des programmatischen Anliegens gewesen sein. Alles in allem geht es Michelucci um die Konstituierung eines Leitbildes für das seinerzeit aktuelle Bauen auf der Basis eines Modells der Geschichte. In den Bauten von Brunelleschi sieht er eine Raumkonzeption exemplarisch verwirklicht, die auch für die Architektur der Gegenwart und insbesondere für das moderne Florenz der Nachkriegszeit wieder verpf lichtend sein könne. Er habe – so Michelucci – das Œuvre Brunelleschis studiert und wolle es „in relazione col nosto tempo“ setzen; Brunelleschis Lehre sei lebendig und aktuell „per la sua nobilità e moralità“. Man studiere die früheren Formen nicht, um sie zu imitieren, sondern um in ihnen den verborgenen menschlichen Sinn („il più recondito significato umano“) zu entdecken.38 Dies betrifft für Michelucci vor allem den Raumbegriff. Er versteht Brunelleschis Raummodell als einen „spazio vibrante“, und der archetypische Ort, an dem sich dieser „vibrierende Raum“, in dem Menschen und Architektur miteinander kommunizieren, ist der Stadtmarkt. Michelucci sucht einen Ausweg aus dem Diktat von Funktionstrennungen, wie sie die Ver36 A.a.O., S. 542. 37 Giovanni Michelucci: Brunelleschi Mago (1972), Florenz 2011 (Collana 11); Giovanni Michelucci: Filippo Brunelleschi, in: Il Quattrocento, hg. von der Libera Cattedra di Storia della Civiltà Fiorentina (Serie di conferenze sulla storia della civiltà fiorentina 2),Florenz 1954. S. 205-222; Wiederabdruck in: Franco Borsi (Hg.): Giovanni Michelucci, Florenz 1966 sowie in Michelucci: Brunelleschi Mago, S. 137-160, danach im folgenden zitiert. Zum Architekten zuletzt die Monographie von Claudia Conforti: Giovanni Michelucci 1891-1990, Mailand 2006. 38 Michelucci: Brunelleschi (1954), S. 137 und 158.

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treter der Moderne für den Städtebau vorgeschlagen hatten und plädiert für eine Rückkehr zum Prinzip räumlicher Dichte, das er im Florenz des Mittelalters und der Renaissance wiederfindet. Man muss sich den poetischen Überschwang seiner Äußerungen vor Augen führen, um auch die Emphase seines Arguments als eine skeptische Revision des Funktionalismus der Moderne verstehen zu können. Raum ist für Michelucci keine rational erfassbare Kategorie, sondern ein „organismo vivente“. Er würdigt die von Brunelleschi geschaffenen Räume als Orte der Begegnung und der Interaktion zwischen den Bauten und dem Benutzer, das er als eine Art Zwiegespräch („certo colloquio interiore“) bezeichnet. Die Architektur schafft dazu die Voraussetzungen durch ihre am Menschen gemessene Maßstäblichkeit („misura umanissima“) und durch transparente Grenzen. „Lo spazio brunelleschiano esce allo scoperto, rompe il cerchio della passività e si unisce alla folla: in questa volontà di incontro lo spazio acquista la parola ed una dimensione carismatica in cui la materia perde il peso e la opacità che ha per sua natura, liberando il visitatore da ogni impedimento, invitandolo al movimento, alla gioia del percorso, ad un dialogo sulle cose comuni.“39 Micheluccis Aufsatz von 1954 endet mit einer Eloge auf die vormoderne Stadt, sie erscheint als ein gleichsam individueller Akteur innerhalb der Gesellschaft: „La struttura brunelleschiana della città è umanissima ed associativa: è un organismo vivente in cui la bellezza è logica consequenza di una generosa concezione della vita e della società“.40 Man sieht: Über Gründungsorte spricht man nicht im Berichtsstil, sondern im Ton der Beschwörung. Bei allem fern gerückten Pathos wird aber doch ein umso dringlicheres gesellschaftspolitisches Anliegen verständlich. Gerungen wird um ein Modell für die Stadt der Gegenwart, und hinter ihm steht die Idee einer „humanen“ Architektur. Die Frage der Wiedergewinnung eines idealen Stadtraums aus dem Geist der Frührenaissance, für die Giovanni Michelucci plädiert, hatte in Florenz selbst bereits durch die Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges eine eminente Aktualität gewonnen. Die deutsche Wehrmacht hatte im August 1944 mit der Absicht, den Vormarsch der US-Army von Süden her zu stoppen, eine riesige Verwüstungsschneise in den Stadtkern von Florenz geschlagen. Fünf der sechs Arnobrücken wurden gesprengt, und zu beiden Seiten des für Panzer nicht passierbaren Ponte Vecchio wurden Wohnquartiere in erheblicher Ausdehnung ebenfalls als Schussfeld freigesprengt (Abb. 4-5). Nach dem Krieg wurde in einer teils erbitterten Debatte um die Frage gestritten, ob der Wiederauf bau in der Form einer Rekonstruktion des historischen 39 Michelucci: Brunelleschi Mago, S. 108. 40 Michelucci: Brunelleschi (1954), S. 160.

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Bestandes oder in der Form moderner Neubauten erfolgen sollte. Michelucci erhob als einer der maßgeblichen Architekten seine Stimme für eine Neubebauung, wie sie dann auch unter der Beteiligung verschiedener Architekturbüros erfolgte (Abb. 6-8).41 Die Bebauung der „testate“ des Ponte Vecchio kann zu den eindrücklichsten Geschichtszeugnissen des Wiederauf baus in Italien gezählt werden. Sie ist es unter anderem deshalb, weil die Bauten auf die Morphologie des mittelalterlichen Florenz zurückgreifen, sie aber formal und funktional in eine moderne Matrix übersetzen. Der soweit noch vorhandene alte Baubestand mehrerer Wohnturmstümpfe wurde integriert. Die Wohn- und Geschäftshäuser sind als Straßenrandbebauungen mit kühnen Vor- und Rücksprüngen und mit beherzten Konfrontationen der Materialien ausgeführt. Der alte, klein gekörnte Maßstab bleibt erhalten, aber den Gebäuden sind in den recht beengten und verdichteten Verhältnissen Balkone, Terrassen und Sichtschutzmauern regelrecht abgetrotzt. Bei der Uferbebauung ist der Flusslauf des Arno als Panorama wie sonst nirgends in der Stadt auf die eng gestapelten Wohnungen bezogen (Abb. 8). So sind die Planungen deutlich inspiriert von den Idealen der Ortsgebundenheit und der Rückwendung zur Raumbildung der vormodernen Stadt mit ihrer Durchdringung von öffentlichen und privaten Räumen. Man ist verleitet zu sagen, dass in den Bauten das textliche Konstrukt von Florenz als Gründungsort einer „humanen“ Architektur seine materialisierte Gestalt gewonnen hat. IV. Gründungsorte sind – analog zum Konzept der Erinnerungssorte – tendenziell kulturkonservative Ideenkonstruktionen. Sie weisen in der Moderne auf einen vormodernen Gehalt zurück. Sie zielen auf die Schaffung kohärenter Imaginationsgemeinschaften, und dabei tritt Ort an die Stelle von Raum, Tradition an die Stelle von Geschichte und Gemeinschaft an die Stelle von Gesellschaft. Auch für einen Gründungsort lässt sich sagen, dass es sich um ein durch Erzählungen gebildetes „rhetorisches Territorium“ handelt.42 Damit ist die Frage nach Gründungsorten auch eine Frage nach kulturellem, sowohl räumlichem als 41  Zu Zerstörung und Wiederaufbau vgl. Fabrizio Brunetti: L’Architettura in Italia negli anni della ricostruzione, Florenz 1986, bes. S. 99-109; Carlo Cresti: Firenze 1945-1947. I progetti della ‚ricostruzione‘ (Archivio contemporaneo 1), Florenz 1995; Fabio Fabbrizzi: Alle radici della „variabilità“: 1945-1947. Le vicende del concorso per la ricostruzione postbellica a Firenze, in: Firenze architettura 12 (2008), Heft 1, S. 84-89; Enrico Nistri: La Firenze della Ricostruzione, 1944-1957: dall’11 agosto all’anno dei tre ponti, Empoli 2008; Gianluca Belli: Il dibattito sulla ricostruzione della Firenze demolita dalla guerra, 1944-1947, in: Opus incertum, 4/5 (2009/10), Heft 6/7, S. 86-99; Carlo Melograni: Architettura nell’Italia della ricostruzione. Modernità versus modernizzazione 1945-1960 (Quodlibet Habitat), Marcerata 2015. 42 Zu diesem Begriff vgl. Marc Augé: Nicht-Orte, S. 82-83 unter Bezugnahme auf Vincent Descombes.

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auch zeitlichem Transfer. Im Zentrum der Frage steht der Status der Ursprünglichkeit. Diese kann nie a priori gegeben sein, sie ist als solche stets eine spätere Zuschreibung und daher immer fiktional. Die Transferleistung über die Zeiten hinweg beruht auf dem mehr oder minder prägnanten narrativen Potential der Ausgangsüberlieferung, die auch und vor allem im Spiegel der Veränderungen, Erweiterungen und Kontextualisierungen erkennbar bleiben soll. Dabei wird der Wahrscheinlichkeitsgehalt gegenüber den Wirklichkeitsbezügen vordringlich. Im vorliegenden Fall wurde der Versuch gemacht, für Florenz und dessen Architekturgeschichte in der Nachkriegsmoderne die Qualitäten des Ausgangsmaterials, die medialen Vermittlungsformen und die jeweils aktuellen Gebrauchskontexte zu eruieren. Eine Art negativer Ausgangspunkt für die Ursprungsüberlieferung ist die Selbstbegründung der Moderne gewesen, welche die Idee eines Gründungsortes zunächst einmal einigermaßen kategorial negiert. Erst die Skepsis gegenüber den kanonischen Selbstbegründungen der Moderne eröffnet dann die Möglichkeit einer geschichtstopologischen Präzisierung: Der Topos Florenz wird in einer universellen Idealisierung narrativ überhöht – es geht um nichts weniger als die Werttraditionen der Humanität. Als mediale Vermittlungsformen wurden hier im Bereich der Texte die Gattung der Architekturgeschichtsschreibung und der Architekturkritik herangezogen, mit einem Seitenblick auf das Medium des Gebauten. Im Hinblick auf die Gebrauchskontexte kommen sowohl politische als auch ästhetische Aspekte zusammen. Die universell verallgemeinerbare Geschichtserzählung der Ausgangssituation wird unter den politischen Bedrängnissen der Zeitgenossenschaft antagonistisch zugespitzt. Zudem formiert sich aus der wachsenden Kritik an den Maximen der Moderne die ästhetische Vorhut der Postmoderne. Unter den Vorzeichen des Verständnisses der Gebrauchskontexte könnte daher die Frage nach Gründungsorten für das Verständnis der Gegenwart unerlässlich sein. In den Gebrauchskontexten liegt das diagnostische Potenzial für das Verständnis der Gegenwart.

Abb. 1 Dankmar Adler und Louis Sullivan: Wainwright Building, St Louis, 1890-1891. Foto von der Baustelle.

Abb. 2 Walter Gropius: Bauhausgebäude in Dessau, 19261929. Blick auf den Werkstatttrakt. Zeitgenössisches Foto 1929.

Abb. 3 Wandtafel mit Leonardo da Vincis Vitruvianischem Mann in der Mostra dell‘Abitazione, Mailand 1936.

Abb. 4 Luf tbild von den 1944 unter der deutschen Besatzung gesprengten Bereichen um den Ponte Vecchio in Florenz.

Abb. 5 Plan der Stadtteile um den Ponte Vecchio in Florenz. Schwarz eingetragen der Wiederaufbau von 1947-1949.

Abb. 6-7 Ansichten in die Via por Santa Maria in Florenz.

Abb. 8 Blick auf die Wohnbebauung zwischen Arno und Borgo San Jacopo in Florenz.

Frivole Architektur Über Gated Communities

Architektur ist vermutlich das umfassendste materielle Organisationssystem von Gesellschaften. Dieser Rang begründet sich zunächst daraus, dass keine Vergesellschaftung oder Vergemeinschaftung ohne Architektur auskommen. Es müssen nicht immer umbaute, geschlossene Räume sein. Auch beim Drive In-Kino mit Parkplatz und Leinwand oder bei der Mastenreihe mit den an Drahtseilen aufgehängten Sesseln eines Skilifts handelt es sich Architektur, hier im allgemeinen Sinn einer kulturellen Konstruktion von Raum. Räume, die – im Unterschied etwa zu den endlosen Weiten des Weltalls oder des Meeres – für die Bebauung relevant sind, können nicht nur als objektivierbare, materielle Ausdehnungen definiert werden, sondern müssen vor allem als relationale Größen, die erst durch die sich im Raum bewegenden BenutzerInnen zustande kommen, verstanden werden.1 Relationale Räume werden durch die sinnlich-kognitive Wahrnehmung und durch das Verhalten derer erschlossen, die sich in diesen Räumen auf halten. Architektur ist in den Umgebungsräumen ein Medium stabilisierter Ordnungen. Dieser universelle humane Rang von Architektur als Ordnungssystem begründet sich nicht nur aus der schlichten Ubiquität von Bauten als notwendiges Mittel jeder sowohl informellen, tendenziell diffusen Gemeinschaftsbildung als auch jeder formell geregelten, spezifischen Gesellschaftsbildung, sondern auch aus den immanenten Qualitäten von Architektur – Bauwerke werden organisiert her-

1 Zum relationalen Raumbegriff Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001, bes. S. 132-133; in der Terminologie des „erlebten Raumes“ aus kulturkonservativer Sicht Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum (1963), Stuttgart u.a. 102004, bes. S. 18-22; aus sozialund kulturgeschichtlicher Perspektive Susanne Rau und Gerd Schwerhoff (Hg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln u.a. 2004; Lucian Hölscher: Bildraum und sozialer Raum. Die Entstehung des historistischen Wirklichkeitsverständnisses in der frühneuzeitlichen Bildwelt, in: Rainer-M.E. Jacobi u.a. (Hg.): Die Wahrheit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der Neurologie. Festschrift für Dieter Janz, Würzburg 2001, S. 449-481; als historisches Konzept entwickelt und für die Kunstgeschichte exemplarisch fruchtbar gemacht bei Karin Leonhard: Das gemalte Zimmer. Zur Interieurmalerei Jan Vermeers, München 2003, bes. S. 33-105.

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gestellt, sie sind als solche formal organisiert und sie werden meist – und unter friedlichen Umständen – organisiert benutzt. Im Einzelnen heißt das: Die Herstellungsweise folgt dem Reglement komplexer Arbeitsteilung sowie zeitlich und räumlich strukturierter Logistik, die sich ihrerseits im Architekturbüro, in der Werkstatt und auf der Baustelle durch eigene Ortstypologien materialisiert. Dahinter steckt eine mehr oder minder lange, konf likthafte oder krisengeschüttelte Handlungskette von Verabredungen und Entscheidungen. Dass Architektur formal geregelt ist, ist evident. Bauwerke sind Produkte intentional gerichteter Gestaltung, die als solche auch ablesbar bleibt. Die Gestaltung wird durch ein relativ begrenztes Repertoire von Elementen erzeugt. Dies umfasst die Flächen des Plattensystems von Böden, Wänden und Decken; die Volumina der Raumerzeugung; die tendenziell linearen Formen von Öffnungen und Rahmenbildungen. Schließlich erfolgt auch die Benutzung von Architektur meist auf organisierte Art und Weise. Für die überwältigende Masse des Gebauten existieren dafür gesetzliche Regelungen, allen voran das Eigentumsrecht und die Hausordnung. Ein Verstoß gegen Gesetze und Hausordnungen gilt als Vergehen. Damit ist die Nutzung von Architektur zwar gesetzlich reglementiert, dies sollte aber nicht übersehen lassen, dass Architekturbenutzung vor allem konventionell organsiert ist, nämlich durch Handlungsroutinen.2 Architektur ist auf der Ebene des Herstellens, als Produkt und durch die Benutzung ein Phänomen gestalteter Ordnung. Dabei übernimmt das Gebäude eine Mittlerrolle zwischen ProduzentInnen und NutzerInnen. Denn in einem erweiterten Verständnis des Begriffs umfasst Herstellen nicht nur die a priori unternommene Erzeugung des Gebäudes, sondern auch die spätere Nutzung. Erst das Inkrafttreten bereits bei der Planung intendierter Funktionen durch die kontinuierliche Nutzung produziert Architektur in ihrer Eigenart als gesellschaftliches Medium. Wie bei allen Organisationssystemen werden dabei gesellschaftliche Hierarchien geschaffen und auf Dauer stabilisiert. Auch dies gilt auf allen drei genannten Ebenen von Herstellen, Erscheinungsbild und Benutzen: Beim Herstellen sind es Beauftragungsketten, beim Gebäude selbst sind es formale und funktionale Differenzierungen und bei der Benutzung sind es durch Reglements 2 Hierzu aus architektursoziologischer Sicht Oliver Schmidtke: Architektur als professionalisierte Praxis. Soziologische Fallrekonstruktionen zur Professionalisierungs bedürftigkeit der Architektur, Frankfurt/M.2006, bes. S. 68-70; aus Sicht der Historischen Anthropologie Dietrich Erben: Angst und Architektur. Zur Begründung der Nützlichkeit des Bauens, in: Hephaistos. New Approaches in Classical Archeology and Related Fields 25/26 (2003/2004), S. 29-51; Ders.: Zur Architektur der Frühen Neuzeit aus der Sicht der historischen Anthropologie, in: Stefan Schweizer und Jörg Stabenow (Hg.): Bauen als Kunst und historische Praxis. Architektur und Stadtraum im Gespräch zwischen Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft, 2 Bde. in 1 Bd., Göttingen 2006 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 26), S. 461-491.

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und Handlungsroutinen kontrollierte Zutrittsrechte und Verhaltensweisen. Ausgehend von solchen Routinen lassen sich schließlich auch zumindest generelle Aussagen im Hinblick auf die emotionalen Dimensionen von Architekturbenutzung machen. Diese lässt sich als eine – wenn man so will – temperierte Balance zwischen Erfahrung und Erwartung beschreiben. Die Motivation, zum Beispiel in den Supermarkt zum Einkaufen zu gehen oder in die Behörde, um sich einen Reisepass ausstellen zu lassen, oder in die Kirche zur Andacht, ist aus Erfahrung angeleitet und von der Erwartung geprägt, in den jeweiligen Gebäuden dann auch zu finden, was man braucht. Dieses breit ausgefächerte, aber in seiner Systematik durchaus überschaubare Gefüge sozialer Verabredungen soll im Folgenden am Beispiel der Bautypologie der Gated Communities überprüft und präzisiert werden. Die Wahl dieses Wohnungsanlagen und der entsprechenden Wohnorganisationsform beruht für‘s erste darauf, dass die Konjunktur dieser Communities von geradezu unheimlicher Aktualität ist und zugleich von höchster gesellschaftspolitischer Brisanz. Modern geworden sind diese Siedlungen als Produkte eines entfesselten Neoliberalismus seit den 1970er Jahren. In ihnen wird schamlos darüber entschieden, wo für die Allgemeinheit das Recht auf Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird, wo der öffentliche Raum auf hört und wo für die vermögenden Einwohner das Recht auf paramilitärisch gesicherten Besitz beginnt. Gated Communities sind das gebaute Eingeständnis, dass ein Ausgleich zwischen Arm und Reich, dass eine Integration unterschiedlicher Gesellschaftsschichten nicht mehr erwünscht ist. Zugleich sind aber Gated Communities Generatoren der Nostalgie. Trotz ihrer unbezweifelbaren Teilhabe an der Modernität tritt uns hier Architektur als ein speziell ausgeformtes Symbolsystem entgegen, das mit den Mitteln frecher, leichtfertiger Camouf lage „Wunschräume und Wunschzeiten“3 aufruft. Dieser Allianz von architektonischer Stillage und gesellschaftlicher Stoßrichtung wird die hier Überschrift des „Frivolen“ gegeben. Aufgerufen ist damit ein Wertbegriff der Geschmacksdiskussion des 18. Jahrhunderts, der heute – zugegebenermaßen – ziemlich aus der Mode gekommen ist, aber meines Erachtens immer noch Erkenntnispotenzial besitzt. Denn das Wort umschreibt moralische Zweifelhaftigkeit, Zwielichtigkeit oder Dreistigkeit, die aber als solche absichtsvoll öffentlich sichtbar werden soll: Amoralität und demonstrativer Gestus kommen im Frivolen zusammen. Bei den Gated Communities liegt die Frivolität einer an sich recht simplen und modischen stilistischen Nostalgie darin, dass sie ein 3 So das berühmte Begriffspaar, das Alfred Doren zur Differenzierung von Raum- und Zukunftsutopien eingeführt hat; Alfred Doren: Wunschräume und Wunschzeiten, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 24/25 (1927), 158-205; vgl. Klaus Vondung: ‚Wunschräume und Wunschzeiten‘. Einige wissenschaftsgeschichtliche Erinnerungen, in: Árpád Bernáth, Endre Hárs und Peter Plener (Hg.): Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte der literarischen Utopien, Tübingen 2006, S. 183-190.

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ausbeuterisches Teilsystem innerhalb der Gesamtgesellschaft vor dieser einerseits maskiert und andererseits intern durch die Wahl architektonischer RetroStile demonstrativ ausstellt wird. Beides – die Maskerade und der Historismus – kennzeichnet darüber hinaus den virtuellen Charakter der gleichzeitig durchaus architektonisch konkreten Räumlichkeit von Gated Communities. Die folgenden Überlegungen gehen somit von baulich materialisierten sozialen Handlungsräumen aus und stellen die Frage nach deren Grenzen. Dies ist auf der einen Seite in einem wörtlichen Sinn gemeint, da die mehr oder minder prohibitiven Grenzbildungen bei den Gated Communities zu den Konstitutionsmerkmalen gehören. Auf der anderen Seite geht es um die Grenzübergänge zu virtuellen Räumen.4 In dieser Hinsicht erweisen sich Gated Communities als real vorhandene und zugleich idealisiert gedachte Möglichkeitsräume, die der weitgehenden sozialen Inklusion der Bewohnerschaft in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft dienen. Durch Gated Communities werden virtuelle Wohnzonen für elitäre Minderheiten geschaffen. Der vorliegende Beitrag richtet den Blick nicht nur auf die virtuellen Qualitäten von Gated Communites, sondern auch auf die Bedingungen von deren Zustandekommen. Er geht der Frage nach, wodurch Möglichkeitsräume ermöglicht werden.

Die Produktion globaler Dörfer Gated Communites sind – so kann man sie in aller Kürze definieren – von Immobilieninvestoren in Auftrag gegebene, meistens in der Form von Einzelhaus- oder Reihenhaussiedlungen errichtete Wohnanlagen, bei denen den Bewohnerinnen und Bewohnern ein gewisses Maß an sozialer Homogenität garantiert werden soll.5 Dies geschieht durch das Reglement der Höhe der Miete oder des Kaufpreises, durch die Ausstattung mit gehobener Infrastruktur und das Angebot eines bestimmten Lifestyle-Programms; hinzu kommen ein verordneter Verhaltenskodex, denen sich die Bewohner fügen, die architektonischen Abschließungs- und Kontrollmaßnahmen nach innen und nach außen und nicht zuletzt bestimmte bauliche Standards. Um sie, also um das Erscheinungsbild der Architektur, soll es im Folgenden vorzugsweise gehen. Innerstädtische und ländliche Segregation hat es in gewissem Umfang historisch immer gegeben, soweit sich solche Sozialtopographien für die fernere Ver4 Zur Virtualität in der bildenden Kunst und in der Architektur jeweils einführend Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2001 und Gottfried Kerscher: Kopfräume – Eine kleine Zeitreise durch virtuelle Räume, Kiel 2000. 5 Als grundlegende Monografien vgl. Edward J. Blakely und Mary Gail Snyder: Fortress America. Gated Communities in the United States, Washington D.C. 21999; Evan McKenzie: Privatopia. Homeowner Associations and the Rise of Residential Private Government, New Haven/London 1994.

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gangenheit rekonstruieren lassen. Mit den Gated Communities seit den 1970er Jahren hat das Phänomen aber eine neue Quantität und Qualität bekommen. Die ersten modernen Gated Communities entstanden als geschlossene Alterssitze für Angehörige der oberen Mittelschicht und der Oberschicht in den Sunbelt States im Südosten und Südwesten der USA, also von Kalifornien über Texas bis Florida. In der Ära von Reaganomics und Thatcherism sind sie nicht nur in den USA, sondern weltweit zu einem Massenphänomen geworden. Entsprechende Statistiken weisen aus, dass bis zum Jahr 1997 in den USA etwa 40.000 entsprechende Anlagen mit ca. 3 Millionen Wohneinheiten errichtet worden waren. Die Tendenz ist rasant steigend; und man kann schätzen, dass heute in den USA etwa 10 Millionen Menschen in Gated Communities leben.6 Es gibt sie weltweit in rasch wachsender Zahl, insbesondere in den auswuchernden Ballungsräumen der Megacities in Lateinamerika, Asien und auch Afrika. In Europa entstehen sie vorzugsweise in den Transformationsstaaten Osteuropas und in einigen Saaten des Mittelmeerraumes. Belgrad und Istanbul zählen zu den Spitzenreitern.7 In Mittel- und Nordeuropa ist das alles ein schleichender, klandestiner Prozess. In Deutschland wurde im Herbst 2009 die Arcadia-Wohnanlage in Potsdam fertiggestellt, seit dem gleichen Jahr befindet sich in Leipzig die Central Park Residence im Bau. Diesen Siedlungen treten in den Städten Appartementanlagen an die Seite. In Frankfurt sind es schon einmal drei, die baulichen Kraftprotze sind durch die Namen „Skylight“, „Eurotheum“ und „Mainplaza“ aufgehübscht.8 Solche vollmundigen Namen sind natürlich wie alles bei dieser Angelegenheit Teil des verkaufsfördernden und identitätsstiftenden Programms. Die sprachlichen Hybridbildungen landen durch ihre eigene übersteigerte Ansprüchlichkeit notgedrungen beim Klischee. Dies sollte aber nicht übersehen lassen, dass sie zugleich von erheblicher virtueller Suggestionskraft sind. Die hier wahlweise angeführten Namen stellen auf unterschiedliche Weise Relationen zu universellen Raumtypologien her – sei es zu einer mythischen Landschaft, zum Kosmos, zu einem Kontinent, zum Stadtpark oder zum öffentlichen Hauptplatz einer Stadt – und durchbrechen so imaginativ die faktisch gegebenen Raumbegrenzungen der Gates Communities.

6 Blakely und Snyder: Fortress America, S. 4-7; Georg Glasze: Geschlossene Wohnkomplexe (gated communities): ‚Enklaven des Wohlbefindens‘ in der wirtschaftsliberalen Stadt, in: Heike Roggenthon (Hg.): Stadt – der Lebensraum der Zukunft? Gegenwärtige raumbezogene Prozesse in Verdichtungsräumen der Erde (Mainzer Kontaktstudium Geographie Bd. 7), Mainz 2001, S. 39-55, hier S. 39-40. 7 Zu Osteuropa Jacek Gadecki und Christian Smigiel: A Paradise Behind Gates and Walls. Gated Communities in Eastern Europe and the Promise of Happiness, in: Arnold Bartetzky und Marc Schalenberg (Hg.): Urban Planning and the Pursuit of Happiness. European Variations on a Universal Theme (18th-21st Centuries), Berlin 2009, S. 198- 217. 8 Zur Situation in Deutschland Glasze: Geschlossene Wohnkomplexe, S. 48-49.

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Zur Herstellungsseite gehört auch die von den Planern im Grundsatz vorgegebene und in ihrer Grundstruktur typisierte Organisationsform des Wohnens.9 Diese Organisation folgt mehreren Grundregeln: 1. Gemeinschaftseigentum (Grünanlagen, Sporteinrichtungen, Ver- und Entsorgungsinfrastruktur usw.) sowie gemeinschaftlich genutzte Dienstleistungen (Wach- und Hausmeisterdienste usw.) sind mit dem individuellen Eigentum bzw. dem Nutzungsrecht einer Wohneinheit kombiniert. 2. Die Selbstverwaltung kann in den unterschiedlichen Rechtsformen von Eigentümergemeinschaft, -gesellschaft, -genossenschaft oder Aktiengesellschaft ausgestaltet sein. 3. Grundlegendes Bestimmungskriterium ist die Zugangsbeschränkung, die zumeist von einem rund um die Uhr eingesetzten Sicherheitsdienst gewährleistet wird; darüber hinaus kommen alle Arten von elektronischen Zugangsüberwachungssystemen wie Videokameras und Bewegungsmelder zum Einsatz. Gemäß seiner Organisation wirft das Wohnen in Gated Communities sowohl intern als auch nach außen extreme Widersprüche und Aporien auf. Dies bedeutet – kurz gesagt –, dass intern oftmals demokratische Prinzipien unterlaufen werden, und extern die Wohnform auf Fundamentalopposition zur Mehrheitsgesellschaft geht. Wie entsprechende Untersuchungen gezeigt haben, etablieren sich die Investoren gegenüber den Mietern und Hauseigentümern als die weiterhin maßgeblichen Entscheidungsträger und regieren intern mit oligarchischen Mitteln. Eine auf Debatte und Opposition gegründete Verhandlungskultur ist in den Gated Communites praktisch ebenso inexistent wie die Aufrechterhaltung des Gleichheitsgebots. Dieses wird durch Prärogative, die durch Besitz zustande kommen, ausgehebelt. Angesichts dessen ist die gebräuchliche Bezeichnung Gated Communities kaum mehr als eine begriff liche Chimäre, die Rede von der „community“ ist schlichter Euphemismus. Verbindet sich mit diesem Begriff die Konnotation einer Gemeinschaft, die sich im Sinne etwa von Ferdinand Tönnies durch ein hohes Maß an sozialer Interaktion, durch gemeinschaftliches Engagement und durch eine umfassende Identifikation der Einzelpersonen mit dem Wertekanon aller auszeichnet10, so gilt hier im Grunde das Gegenteil. Korrumpierte Verfahrensformen führen zur sozialen Desintegration im Inneren, die jedoch – wie sich noch zeigen wird – als Befindlichkeit der Anonymität wiederum auch erwünscht ist. Zur Mehrheitsgesellschaft treten Gated Communities mit der Absicht einer funktionalen Loslösung ins Verhältnis. Der englische Zeithistoriker Tony Judt hat es in seinem letzten Buch vor seinem Tod mit dem Titel Ill Fares the Land weitaus schlichter gesagt: Gated Communities verhalten sich gegenüber der Gesellschaft 9 Zum Folgenden konzise und instruktiv Glasze: Geschlossene Wohnkomplexe, S. 41-46. 10 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Darmstadt 2005, bes. S. 7-34.

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parasitär.11 Die Bewohner profitieren von den mit öffentlichen Geldern erzeugten Gemeingütern der Versorgungs- und Transportinfrastruktur, der Einrichtungen zur Gesundheitsvorsorge sowie der Kultur- und Bildungsinstitutionen. All diese Institutionen werden von den Gated Communities zum eigenen Standortvorteil umgemünzt, gleichzeitigt wird aber der Rückzug von deren Mitfinanzierung durch die Verweigerung von Steuerabgaben, die in die eigene Community f ließen sollen, angestrebt. Und selbstverständlich partizipieren die entsprechenden Siedlungen auch an dem nach eigenem Ermessen obersten Gut der Sicherheitsvorsorge, denn Sicherheit wird in erster Linie von außen gewährleistet, während die internen Sicherheitsdienste bislang noch nicht die polizeilichen Kompetenzen der Verhaftung oder des Schusswaffengebrauchs haben. Im Gegenzug wird die Nutzung der eigenen Gemeinschaftseinrichtungen von nicht zutrittsberechtigten und nicht zahlenden Personen unterbunden. Sie stehen als Club-Güter auch nur den Club-Mitgliedern zur Verfügung. Tony Judt bringt diese abgründige Dialektik der parasitären Nutzung von Gemeingütern und der gleichzeitigen privilegierten Restriktion des Eigenen so auf den Punkt: „So today’s privatized citizens are the undeserving beneficiaries of yesterday’s taxpayers.“12

Kulissen der Nostalgie Die hier skizzierten Eigentümlichkeiten der Organisation finden in den baulichen Strukturen der Anlagen eine funktionale und formale Entsprechung. Die Bauten selbst lassen aber darüber hinaus weitere Aspekte einer kritischen Lesart zum Vorschein kommen, dies gilt vor allem für die Befriedigung der Erwartungshaltung der Bewohnerinnen und Bewohner. Durch die Architektur decouvrieren sich die Gated Communities nicht nur als soziale Organisationform, sondern auch als virtuelles Phänomen selbst. Beobachtungskriterien können dabei die Zonen- und Grenzbildungen des Geländes, die Wegeführung und die Formen der Einzelbauten sein. Sowohl in den Städten als auch auf dem Land zeichnen sich Gated Communities durch vergleichsweise exklusive Standorte aus. Meist sind es Lagen an den Meeresküsten, an Seeufern und anderen, durch weite, unverbaubare Situationen privilegierte Landschaften. Bisweilen gehören private Zugänge zu Stränden oder Skipisten dazu. Das Beispiel von Fontana in Oberwaltersdorf bei Wien toppt die natürlichen Gegebenheiten mit deren Überblendung durch Symbole sozialer Exklusivität (Abb. 1).13 Die Siedlung liegt standardgemäß an einem kleinen See, an dessen Ufer auch ein Restaurant gebaut wurde, das zu dem auf der anderen Seite 11 Tony Judt: Ill Fares the Land, London 2010, S. 126-128. 12 A.a.O., S. 128. 13 Michael Zinganel: Real Crime. Architektur, Stadt und Verbrechen, Wien 2003, S. 258-259.

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des Teichs gelegenen Golfplatz gehört. Er macht den Teich zum Binnengewässer der Siedlung. Das Ganze ist zur Straße hin mit einer Mauer bewehrt. Aber auch die unbebaute Seeseite bietet nur zum Schein eine landschaftlich offene Flanke, denn der Golfplatz fungiert im Sinne der so genannten „soft border“ als eine Art Festungsglacis. Durch den Golfplatz werden bei Tag unerwünschte Personen mittels der einleitend skizzierten Handlungskonventionen abgehalten, in diesem Fall ist es das Verhaltensgebot bürgerlicher Diskretion. Bei Nacht kann das Gelände aber mit Suchscheinwerfern nach potentiellen Eindringlingen abgesucht werden. Man sieht, die Zeiten, als Gated Communities noch ganz einfach mit Stacheldraht eingezäunt wurden, haben sich erledigt. So war es noch bei einem der frühesten Beispiele eines solchen abgeschlossenen Villenbezirks, dem Tuxedo Park, der zirka 60 Kilometer westlich von New York liegt und ab 1886 als Urlaubsort von den Nouveau Riches der Ostküste, wie dem Hoteltycoon William Waldorf Astor, bewohnt wurde. Die Villen dieser feudalen Enklave sind in verschiedenen historistischen Stilen errichtet. Hier gingen die Reichen mit den Rindern hinter dem Stacheldraht in Deckung möchte man sagen, denn das Patent für Stacheldraht war erst gut zehn Jahre zuvor (1873) in den USA angemeldet worden und seither trat der Stacheldraht als Weidezaun im mittleren Westen seinen Siegeszug an.14 Die geschlossene Siedlungsstruktur von Gated Communities wird nicht nur an den Peripherien erzeugt, sondern auch durch die Innendisposition. Das Wegesystem zeichnet sich durch schleifenförmig angelegte Straßen aus, die an den Außengrenzen des Geländes entlanggeführt sind, nach innen mäandrieren und mit zahlreichen abzweigenden Sackgassen versehen sind. Im Gegensatz zu orthogonalen Rasterplanungen werden in solchen Siedlungskernen längere Achsendurchsichten rigoros vermieden, während die Schleifenstraßen nur kurze Blickbezüge von Hauseinheit zu Hauseinheit und von Kreuzung zu Kreuzung herstellen. Geschlossenheit gilt hier in einem räumlichen wie in einem zeitlichen Sinn: Die gebogenen Straßenzüge verstärken die Außengrenzen durch deren visuelle Verdoppelung und sie stellen die Siedlung gleichzeitig als eine historisch abgeschlossene Einheit vor Augen. Während das Modell des Straßenrasters stets auf die potentielle Erweiterbarkeit in der Zukunft angelegt ist15, zielen solche Grundrisskonfigurationen auf die definitive Abgeschlossenheit einer stillgestellten Gegenwart.

14 Zu Tuxedo Park Christian R. Sonne und Chiu Yin Hempel (Hg.): Tuxedo Park. The Historic House, Tuxedo Park, NY 2007. Zum Stacheldraht Olivier Razac: Histoire politique du barbelé. La prairie, la tranche, le camp, Paris 2000 und allgemein zur architektonischen Grenzbildung Nan Ellin (Hg.): Architecture of Fear, New York 1997. 15 Exemplarisch ist dieses Planungskonzept bereits ausgeführt bei Otto Wagner: Die Großstadt. Eine Studie über diese, Wien 1910 und Ders.: Die Baukunst unserer Zeit (1895), Nachdr. d. Ausg. 41914, Wien 1979, S. 76-99.

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Es ist klar, dass diese im Layout geschlossene Siedlungsstruktur auf denkbar weiteste Distanz zu den Straßenorthogonalen der Rasterplanungen in der Moderne geht. Sie verdankt sich letztlich den Gartenstädten der Zeit um 1900 und deren Vorläufern, etwa den amerikanischen Suburb-Planungen. Bereits hier wurden kleinteilig-dorfähnliche, mit Privatgärten begrünte und zur Umgebung deutlich abgegrenzte Siedlungen angelegt.16 Form und Programmatik dieser Gartenstädte weisen überraschend konsequente Parallelen zu den späteren Gated Communities auf. Bei der als Kruppsche Werksiedung gegründeten Essener Margarethenhöhe kennzeichnen Torbauten die Gartenstadt als „gated“, also als von Toren beschützt. Nach dem Willen des Architekten Georg Metzendorf soll die Gruppierung der Bauten „abgeschlossene Wohn-Enklaven“17 erzeugen. Evident ist ebenso die Absicht einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung, die ungeniert geäußert wird. Alfred Krupp hat bereits 1877 die sozialpolitische Funktion dieser künstlichen Dorfidyllen hervorgehoben: „Nach gethaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen, bei den Eltern, bei der Frau, bei den Kindern. Da sucht eure Erholung, sinnt über den Haushalt und die Erziehung. Das und Eure Arbeit sei zunächst und vor allem Eure Politik. Dabei werdet Ihr frohe Stunden haben.“18 Was hier aber noch dem Gedanken der Sozialdisziplinierung einer abhängig beschäftigen Industriearbeiterschaft folgt, die in einer „Welt für sich“ (Georg Metzendorf)19 separiert werden soll, entwickelt sich bei den Gated Communites zu einem freiwilligen Exodus der vermögenden Mittel- und Oberschichten in die sozial homogenisierten Enklaven von Ihresgleichen. Diese städtebaulichen und programmatischen Rahmenbedingungen gelten beispielhaft auch für eine der frühesten Gated Communitys in Europa, an der sich auch die formalen Eigenheiten eines architektonischen Retro-Stils zeigen.20 Milano 2 wurde 1970-1979 von dem damaligen Bauinvestor Silvio Berlusconi errichtet und bietet Raum für 10.000 Menschen.21 Die Siedlung war von Anfang an mit Ka16 Zur Gartenstadt zusammenfassend Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900, München 2005, S. 48-54. 17 Zit. nach Pehnt: Deutsche Architektur, S. 51. 18 Alfred Krupp: Ein Wort an die Angehörigen meiner gewerblichen Anlagen, Essen 1877, S. 10; zit. nach Eduard Führ und Daniel Stemmich: Nach gethaner Arbeit verbleibt im Kreis der Eurigen. Bürgerliche Wohnrezepte für Arbeiter zur individuellen und sozialen Formierung im 19. Jahrhundert, Wuppertal 1985, S. 314. 19 Zit. nach Pehnt: Deutsche Architektur, S. 51. 20 Umzäunte, mit einer von einem Portier besetzten Toranlage ausgestattete Wohnanlagen wurden etwas früher schon errichtet, so etwa ab 1965 die mit Palazzine bebaute Wohnanlage an der Via dei Colli della Farnesina 144 in Rom. 21 Zum folgenden Paul Ginsborg: Berlusconi. Ambizioni patrimonali in una democrazia mediatica, Turin 2003, bes. Kap. 2-3; John Foot: Milan After the Miracle. City, Culture and Identity, Oxford/New York 2001, S. 99-107 sowie Ders.: The Archipelago. Italy Since 1945,

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belfernsehen ausgestattet, ein freier Kanal wurde von einem lokalen Nachrichtensender von Milano 2 genutzt. So wurde 1974 mit TeleMilano der Grundstein zu Berlusconis Medienimperium gelegt. Der Werbeslogan für die Kreditgeber und die avisierten Mieter lautet „Una città dei numeri uno“. Der Zerfall des Sozialstaates, die Desintegration des Staates insgesamt, sind ein allgemeiner, weltweiter Prozess der vergangenen drei Jahrzehnte.22 Natürlich macht er auch vor Italien nicht halt. Dort wird er in der ab 1994 währenden Ära Berlusconi verstärkt durch einen unkontrollierten Neoliberalismus. In der Programmatik wie im Politikstil hat das Prinzip der Freiheit das der Demokratie ersetzt. Demokratie beschränkt sich aus diesem Verständnis auf die Notwendigkeit regulärer Wahlen, insbesondere der Direktwahl des Ministerpräsidenten selbst. Die Vorstellung von Politik innerhalb von Berlusconis Parteibündnissen gründet sich auf der Kombination von negativem Freiheitsbegriff und personalisierter formaler Demokratie. Wirft man einen Blick in die gedruckten Reden Berlusconis23, so wird aber klar, dass Freiheit ausschließlich aus der Negation verstanden wird. Unter der Faustformel des „fare da se“ ist die Befreiung von Hindernissen für die Entfaltung des Individuums gemeint. Staatsabbau und Rechtsabbau sollen dies ebenso ermöglichen wie offener ökonomischer Wettbewerb. Es ist der Markt, der auch moralische Prinzipien wie Arbeitswilligkeit, Loyalität und Ehrlichkeit erzeugen soll. Aus dem Geist dieser politischen Programmatik ist rückblickend Milano 2 errichtet, sie ist der Hintergrund gesellschaftlicher Makropolitik als Vorbedingung für die Mikropolitik von Milano 2. Symptomatisch für Gated Communities wird hier deutlich, dass sie ermöglicht werden durch die Deregulierung und Delegitimation des Staates, die durchaus auch von staatlicher Seite betrieben werden konnten, sowie durch die dadurch ermutigten separatischen Fluchten von individualistischen Eliten in sozial homogenisierte Rückzugswelten. Formal wird in Milano 2 einer recht seltsamen Architekturmoderne ein Auftritt verschafft (Abb. 3-4). Das Architektenteam Ragazzi, Hoffer und Pozza entschied sich für eine betuliche Reaktion auf die Moderne. Die zentrale Piazza liegt an einem kleinen künstlichen See, die Zentralachse fungiert als Einkaufsstraße und Flaniermeile. Von den modernen urbanistischen Konzepten ist die Trennung der Verkehrswege für Autos und Fußgänger inspiriert, sie ist auch auf klug-perfide Weise für die Sicherheitsregularien in Beschlag genommen. Auf Tritt und London 2018, bes. S. 236-243. Als Werbeschrift für die Wohnanlage Natalia Aspesi und Paolo Berlusconi: Milano 2, una città per vivere, Mailand 1976. 22 Vgl. aus der umfangreichen Literatur nur I. William Zartman (Hg.): Collapsed States. The Disintegration and Restoration of Legitimate Authority, Boulder/London 1995; Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1995, S. 509-536. 23 Silvio Berlusconi: Discorsi per la democrazia, Mailand 2000; Ders.: L’Italia che ho in mente, Mailand 2000.

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Schritt verfolgen einen Wachmänner, Videocameras und Bewegungsmelder. Die einzelnen Appartementhäuser haben jeweils einen eigenen Portier und die Fenster der Erdgeschosse sind vergittert und verriegelt. Entscheidend ist darüber hinaus ein System von tiefer gelegten, in die Tiefgaragen führenden Zufahrtsstraßen, die vom Wohnareal durch Wallanlagen abgeschottet sind. Das Ganze hat dadurch die Geländeformation den Charakter eines Befestigungsareals. Bei den Einzelbauten verzichteten die Architekten auf Hochhäuser zugunsten von bis zu sechsgeschossigen Appartementhäusern. Formal treten Ziegelfassaden an die Stelle von Sichtbeton oder homogenen Putzfassaden, Walmdächer an die Stelle von f lachen Abschlüssen, weit vorkragende Eckbalkone an die Stelle von durchlaufenden Balkongalerien. Die bauliche Disposition zielt auf der einen Seite darauf ab, die einzelnen Wohnungen voneinander visuell und funktional im Sinne sozialer Distinktion zu separieren und auf der anderen Seite trotz der beträchtlichen Hausformate den Eindruck von einem traditionellen Einzelhaus des Palazzina-Typus24 zu bewahren. Besonders offensichtlich ist dies bei den Walmdächern mit dem weiten Dachüberstand und dem abgef lachten First sowie den geradezu in absurder Größe vorgespannten Balkons. Durch beide baulichen Elemente kommt eine Reminiszenz an die Einzelhäuser von Frank Lloyd Wright ins Spiel. Sie wurde offenbar gesucht, um auch im großmaßstäblichen Geschoßbau noch die Allusion auf das Modell des privaten, aus ein bis zwei Geschoßen bestehenden Einfamilienhauses zu erzeugen. All das verdeutlicht, dass die Bauten von Milano 2 einen Gegenentwurf bieten sollen zu den monumentalen Wohnaggregaten der großen Ballungszentren, wie sie gerade auch in den Peripheren Mailands während der Boomjahre, der in Mailand so genannten „anni di miracolo“, z.T.in überragender Qualität und kühner Schönheit entstanden. Man erinnere nur an die in den späten 1960er Jahren errichteten Wohnanlagen im Quartiere Gallaratese. In den meisten der Gated Communities ist auf diese oder ähnliche Weise ein homogenes Stilniveau beabsichtigt und realisiert. Postmoderne Reminiszenzen an historische Stile sind dabei unverkennbar. Zahllose Bezüge ergeben sich etwa zum Formenrepertoire des Rokokopalastes und zum Palastbau des Klassizismus. In Seaside in Florida, das es als Drehort des Films Truman Show (USA 1998) zu einiger Berühmtheit brachte, halten antikisierende Säulenportiken und Fensterrahmungen, spätbarocke Bandrustika und pittoreske Dachaufsätze fröhliche Einständ‘ (Abb. 5-6).25 Auch andernorts wird ein lange nicht mehr aufgeführtes Repertoire herbeizitiert. Milano 2 ist mit einem wie auch immer verhaltenen 24 Zum Palazzina-Typus Italo Insolera: Roma moderna. Da Napoleone I al XXI secolo (1962), Turin 2011, S. 107-109, 119-120, 130, 151-152, 363-364, 384. 25 Andrés Duany (Hg.): Views of Seaside. Commentaries and Observations on a City of Ideas, New York 2008; Peter Katz: The New Urbanism. Toward an Architecture of Community, New York 1994.

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Bekenntnis zur Architekturmoderne im Vergleich mit diesem historistischen Kulissenzauber eher die Ausnahme. Es ist klar, dass mit diesen stilistischen Referenzen die Architektur auch mit speziellen semantischen Konnotationen ausgestattet werden soll – sei es die Evokation der amerikanischen Kolonialzeit in Seaside, sei es die neofeudale Reminiszenz der Fontana in Oberwaltersdorf oder sei es ein Bekenntnis zur individualistischen Moderne in Mailand. Letztlich ist es aber die stilistische Homogenität, auf die es ankommt. Damit komme ich zum letzten Punkt: der Nutzungsseite.

Falsche Freude Bei der Nutzung geht es um das Bedingungsverhältnis zwischen der Vergesellschaftungsform des Wohnens in Gated Communities und den psychischen Dimensionen des Wohnens dort. Auch für diesen Zusammenhang kann vielleicht noch einmal die Problematik des Stils ein verbindendes Konzept sein, wenn man einer Stil-Definition folgt, die der französische Dichter Max Jacob im poetologischen Vorwort zu einem Prosagedicht von 1916 aufstellt. Er bezeichnet Stil als ein Phänomen, das die Wahrnehmung emotional ordnet und einheitlich organisiert: „Daß ein Werk Stil hat, erkennt man daran, dass es ein Gefühl von Geschlossenheit hervorruft.“26 Der amerikanische Architekt Richard Neutra hat diesen Sachverhalt zu einem weiter gefassten, letztlich sozialpsychologischen Begriff des Psychotopos verallgemeinert, um damit Orte (topoi) der Selbstvergewisserung zu bezeichnen: „A ‚psychotop‘ is a place where you anchor your soul.“27 Gated Communities können als Probe auf’s Exempel für diese Axiomatik gelten. Über deren Nutzung liegen allerdings nur spärliche empirische Daten in der Form von Umfragematerial vor.28 In den Umfragen zu den Erwartungshaltungen bei den Kaufentscheidungen steht demgemäß das Bedürfnis nach persönlicher Sicherheit an oberster Stelle. Es wird gefolgt vom Parameter der Sicherheit vor politischen Unruhen. Einen überdurchschnittlichen Wert gewinnt auch die Versorgungssicherheit, wie sie durch die Verlässlichkeit der Wasser-, Strom- und Gaszufuhr gewährleistet wird. Weit unterdurchschnittlich angesiedelt bei Werten von etwa 25 Prozent ist bereits die Nachfrage nach Freizeitangeboten. Soziales Zusammenleben und interfamiliäre Gemeinschaft sind hingegen völlig nach26 Max Jacob: Der Würfelbecher. Gedichte und Prosa (frz. 1945), Frankfurt/M. 1968, S. 11. 27 Das Konzept entwickelt in unterschiedlichen Kontexten bei Richard Neutra: Mensch und Wohnen. Life and Human Habitat, Stuttgart 1956; Ders.: World and Dwelling, New York 1962; vgl. Sylvia Lavin: Form Follows Libido. Architecture and Richard Neutra in a Psychoanalytic Culture, Cambridge, MA 2004. 28 Dazu Blakely und Snyder: Fortress America, S. 125-135; Glasze: Geschlossene Wohnkomplexe, S. 45-46.

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geordnet, hier ergeben sich bei entsprechenden Nachfragen nur noch Werte von um die fünf Prozent. Die Privatopia der Gated Communities soll, mit anderen Worten, gemäß den Erwartungen der Bewohnerinnen und Bewohner ein Hochsicherheitstrakt sein. Als solcher soll sie ein radikaler Antipode zur Mobilität sein. Sesshaftigkeit steht gegen ein in der Ära der Globalisierung vorherrschendes Nomadentum – sei dieses als Armuts- und Berufsmigration erzwungen oder sei es als Entertainment des Tourismus freiwillig.29 Selbstverständlich ist dieses Ideal der antimodernen Sesshaftigkeit eine Chimäre, denn es besteht kein Zweifel, dass es sich bei den gehobenen Mittelschichten und den Eliten, die in den Gated Communities leben, um dieselben Akteure handelt, die auch den Routinen und den Routen der Berufsund Tourismusmobilität folgen. Für sie sind Gated Communities Orte, in denen sie vor den sozialen, ökonomischen und ökologischen Kosten der allgemeinen Mobilität verschont bleiben sollen. Wenngleich Profiteure der Mobilität soll es für sie eine Fluchtburg geben, in der sie sich geborgen fühlen können, ohne sich dabei sozial engagieren zu müssen. Damit werden mehr und mehr eklatante Widersprüche offensichtlich, die die Programmatik der Identitätsbildung insgesamt und vor allem deren Psychodynamik betreffen. Eine Fährte zu diesem Argument hat Alexander Mitscherlich gelegt. Dass Mitscherlich mit der Unwirtlichkeit unserer Städte (1965) das Nachdenken über die Stadt und die Architektur der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik maßgeblich für die Sozialpsychologie geöffnet hat, bedarf kaum des Hinweises. Er selbst konnte sich auf die Chicagoer Stadtsoziologie der 1930er Jahre beziehen, in Frankfurt nahm sich dann auch Alfred Lorenzer dieser Fragen an.30 Für Mitscherlich waren seinerzeit die modernen Villenvororte der Ausgangspunkt seiner Kritik an den kapitalistischen Fehlentwicklungen der Stadt. Im Zusammenhang mit deren Architektur kommt Mitscherlich zu dem Fazit: „Dem Bauherrn ist gestattet, seine Wunschträume mit seiner Identität zu verwechseln.“31 In dieser Pointe steckt nicht nur diagnostisches Potential für jede beliebige Vor29 Zu diesem Aspekt Daniel R. Williams und Norman McIntyre: Where Heart and Home Reside: Changing Constructions of Place and Identity, www.fs.fed.us/rm/pubs_other/rmrs_ 2001_williams_d002 (Aufruf Juni 2011). 30 Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Eine Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt/M. 1965; Alfred Lorenzer: Städtebau: Funktionalismus oder Sozialmontage? Zur sozialpsychologischen Funktion von Architektur, in: Heide Berndt, Alfred Lorenzer und Klaus Horn: Architektur als Ideologie, Frankfurt/M. 1968, S. 51-104; vgl. auch Ingo H. Warnke: Die begriffliche Belagerung der Stadt. Semantische Kämpfe um urbane Lebensräume bei Robert Venturi und Alexander Mitscherlich, in: Ekkehard Felder (Hg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften (Linguistik – Impulse und Tendenzen 19), Berlin/ New York 2006 , S. 185-222. 31 Mitscherlich: Unwirtlichkeit, S. 13.

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stadtsiedlung, sondern auch für die Gated Communities. Hier sollen „Wunschträume“ in einer gebauten Realität manifestiert werden, deren Haupteigenschaft ihre künstlich hergestellte Abgrenzung und ihre ebenso artifizielle Erschaffung scheinbar längst vergangener historistischer Gegenwelten sind. Genau dies aber kennzeichnet sie auch in ihrer Virtualität, die sich als die Herstellung einer Entität möglichst maximaler Geschlossenheit, bei der sich Form und Wirkung gegenseitig bedingen, definieren lässt. Bei den Gated Communities folgt jedoch die Virtualität ebenso dem Mechanismus der Negation wie die Wirklichkeit selbst. Damit kann auch die Bildung einer authentischen Identität, die sich im Sinne Mitscherlichs den virtuellen „Wunschträumen“ entgegensetzen ließe, letztlich auch nur auf Abwehrmechanismen beruhen – sei es durch die Verleugnung komplexer gesellschaftlicher Wirklichkeiten, sei es durch die Projektion eines sich in hermetisch abgegrenzter Sicherheit wiegenden Selbst, sei es durch die Berufung auf ein falsches Ideal von Gemeinschaft. Auf eine einfache Bilanz gebracht, kann es bei einer Gemeinschaft, die so viel Argwohn gegenüber der Gesellschaft mobilisiert, um das Vertrauen innerhalb dieser Gemeinschaft nicht gut bestellt sein. Aus dieser Sicht stehen die nostalgischen Enklaven der Gated Communities als baulich materialisierte Konzepte sozialer Identitäten im Zwielicht falscher Versprechungen.

Abb. 1 Luf tbild der Gated Community Fontana in Oberwaltersdorf bei Wien, errichtet ab 2001. Gesamtplanung des Investors Frank Stronach.

Abb. 2-4 Wohnhäuser in der Gated Community Milano 2 bei Mailand, errichtet 1970-1979. Architekten Ragazzi, Hof fer und Pozza.

Abb. 5-6 Luf tbilder und Blick auf Seaside (Florida), errichtet ab 1981. Stadtplanung von Andres Duany und Elizabeth Plater-Zyberk.

Mediale Inszenierungen bei den Olympischen Sommerspielen in München 1972 Architektur – Park – Benutzer

„Munich Depression“ – das ist nicht nur eine Stimmung, vor der man oft nicht gefeit ist in einer vor Selbstbewusstsein strotzenden Stadt, die ihre Selbstgewissheit nicht zuletzt auch dem selektiven Mythos der Münchner Olympiade verdankt. So lautete auch der Titel eines Kunst-Projekts von Michael Heizer. Mit diesem Projekt hielt 1969 die Land Art in Europa mit einem Paukenschlag Einzug, und das geschah ausgerechnet in dem von der Avantgardekunst keineswegs verwöhnten München (Abb. 1).1 Heizer ließ auf einem Baugelände in München-Neuperlach eine Grube im Durchmesser von 30 Metern und mit einer Tiefe von 4 Metern ausgraben. Der Aushub, rund 1.000 Tonnen Erde, wurde weggeschafft, so dass das Ganze tatsächlich wie eine „Depression“ im wörtlichen Sinne, also wie eine Vertiefung, eine Einsenkung, wie ein Hineindrücken des Bodens von fremder Hand aussah. Gleichzeitig wurden aber die Reifenspuren von Lastwagen und Planierraupen nicht geglättet, sondern blieben wie eine ins Erdreich eingeschriebene Kalligraphie sichtbar und dokumentierten so die maschinelle Herstellung des Kraters. Natürlich sollte der Erdarbeit keine Dauer beschieden sein, sie war während der Zeit ihres Bestehens zu betreten, und das Werk befand sich im Freien. All das widersprach dem Anspruch autonomer Kunst, den Heizer aber gleichwohl mit seinem Projekt aufrechterhielt. Ganz offensichtlich war die schiere Negativform auch kein Werk der Gartenkunst. Vermutlich machte die „Munich Depression“ wie kein anderes Kunstprojekt in der Olympiastadt klar, was die damals viel beschworene Grenzerweiterung der Kunst bedeuten konnte. Weitere Land Art-Projekte folgten, hatten aber weniger Glück. Dem Münchner Olympia-Komitee wurde von einem Galeristen ein Projekt von Carl Andre 1 Zu den hier angesprochenen Land Art-Projekten Antje von Graevenitz: Erdloch, Erdraum und Bodenplatte. Konkurrenz von Zeugen- und Kunstwissenschaft im Blick auf die amerikanische Kunst der sechziger Jahre in München, in: Verena Krieger (Hg.): Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln u.a. 2008, S. 117142; Julienne Lorz: Transatlantic Crossings. The Case of Munich 1968-1972, in: „Ends of the Earth. Land Art to 1974“ (Ausstellungskatalog München), München 2012, S. 161-172.

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vorgeschlagen. Eine Versuchsaufstellung für das Projekt lässt den minimalistischen Eingriff in die Landschaft ahnen (Abb. 2). Auf einem sanft geschwungenen Hügel ist ein Netz von dünnen Metallstäben ausgelegt. Das Kunstwerk ist kaum zur Erscheinung gebracht, der Betrachter gerät in erhebliche definitorische Unsicherheiten. Er schwankt, ob er schon in einem Werk der Bildhauerkunst steht oder erst davor, ob er vorne etwas übersehen hat oder ob es noch etwas Dahinterliegendes gibt oder ob der von den Stäben markierte Bezirk ohnedies nur ein Provisorium ist. Alle Merkmale des Kunstwerks und alle Kriterien des Werkbegriffs wurden hier offengehalten und als Ansichtssache dem Betrachter übergeben. Aus Carl Andres Projekt wurde nichts, vermutlich unter anderem wegen der Bedenken hinsichtlich des fragilen Charakters des Werks, bei dem seine Zerstörung durch die selbstverständlichste Rezeption geradezu vorprogrammiert war. Ebenso scheiterte das Land-Art-Vorhaben von Walter de Maria für den Olympiapark, und diesmal brachen die Kontroversen offen aus.2 De Maria plante in seinem Olympic Mountain Project von 1970/71, einen 2,80 Meter breiten Schacht von 122 Meter Tiefe in den Schuttberg des Olympiaparks zu bohren (Abb. 3). Oben sollte der Schacht mit einer kreisrunden Bronzeplatte von 3,65 Meter im Durchmesser abgedeckt werden. Der Metalltondo wäre das einzige sichtbare Relikt des Kunstwerks geblieben. Wie schon bei Heizer und Andre zielt das Werk auf die völlige Ausdünnung jeder artifiziellen, materiellen und sogar sichtbaren Substanz. Dem Auge bleiben kaum mehr als Spuren zu erfassen. Noch radikaler als bei den anderen Land-Art-Projekten konstituiert sich Walter de Marias Erdskulptur fast nur noch in der Imagination des Betrachters. Dieser muss sich zur Konzeption und zum Realisierungsprozess in ein Verhältnis setzen, das aus der Anschauung kaum noch angeleitet werden kann. Konzeptionell erscheinen vor allem drei Überlegungen zur Ortsspezifik von De Marias Projekt als zentral: Jedes traditionell aufragende Monument wäre in eine geradezu sinnlose Konkurrenz mit den neuen Zeltdächern der Umgebung und vor allem mit dem Fernsehturm hineingeraten. Obwohl die Dimensionen des Werks in wahrhaft riesige Ausmaße vorangetrieben sind, wird jede Realisierung von Monumentalität unterlaufen. Emphatische Zuschreibungen an ein Kunstwerk, wie „Größe“, „Monumentalität“ oder „Tiefe“, werden im Werk auf eine rechnerische Maßausdehnung reduziert und im Gegenzug als konventionelle, bei der Kunstbeurteilung vermeintlich opportune Vorurteilskriterien des Betrachters entlarvt. Und schließlich handelte es sich um einen Kommentar zur Geschichte. Bekanntlich war der Hügel aus dem Ruinenschutt der zerbombten Häuser aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Aushub für die Stadionbauten um etwa 10 Meter auf gut 60 Meter aufgeschüttet wor2 Neben der in Anm. 1 genannten Literatur zur Deutung des Werks auch Eduard Beaucamp: Denkmal, in Erde gebohrt. Olympische Kunst und Walter de Marias Projekt (1971), in: Ders.: Das Dilemma der Avantgarde. Aufsätze zur bildenden Kunst, Frankfurt/M. 1976, S. 204-209.

Mediale Inszenierungen bei den Olympischen Sommerspielen

den. De Maria wollte das Loch aber nicht nur eben diese 61 Meter tief in den Trümmerberg vorantreiben, sondern die Bohrung noch einmal um die gleiche Strecke im Erdreich fortsetzen. So sollten durch den Schacht die Überreste sowohl geschichtlicher Katastrophen, dem Krieg, als auch der Relikte des Neubeginns, dem Stadionbau, mit der erdgeschichtlichen Substanz unseres Planeten verbunden werden. Geschichte und Naturgeschichte sollten vielleicht sogar versöhnt werden. Dazu ist es nicht gekommen. Das Olympia-Komitee favorisierte auf dem Schuttberg einen Brunnen zum Andenken an den Atombombenabwurf in Hiroshima nach dem Entwurf des Bildhauers Rudolf Belling (Abb. 4). Günter Behnisch hat sich überzeugend gegen den geplanten Standort ausgesprochen und argumentierte, dass man auf den Schuttberg, der seinerseits ein Artefakt sei, nicht auch noch ein Kunstwerk aufsatteln könne.3 Bellings „Schuttblume“ fand dann unterhalb der Hügelkuppe Platz. Aber auch Walter de Marias Projekt verschwand in der Versenkung – man möchte in diesem Falle hinterdrein rufen: Schön wäre die Versenkung gewesen! In der Kontroverse um Rudolf Belling versus Walter de Maria schieden sich die Geister grundsätzlich. Die Grenze verlief, so kann man es auf eine Formel bringen, zwischen Moderne und Avantgarde. Letztere, die avancierte Kunst der Gegenwart, hatte im offiziellen München praktisch noch nicht Fuß gefasst. Entsprechende Ankäufe in den öffentlichen Sammlungen fanden nicht statt oder wurden torpediert. Die vier großen offiziellen Ausstellungen im Begleitprogramm der Olympischen Spiele sind einesteils traditionalistisch und arriviert zu nennen; dies gilt für die drei Ausstellungen „100 Jahre deutsche Ausgrabung in Olympia“, „Olympia und Technik“ und „Bayern – Kunst und Kultur“. Zu letzterer Mammutausstellung hat der Kurator im Katalog freimütig bekannt, sein Konzept sei ein „sehr reizvolles Durcheinander“, und es ist zu befürchten, dass er damit keinesfalls für einen verspäteten Dadaismus plädierte. Die ebenfalls riesige, als multimediales Spektakel in Szene gesetzte Ausstellung „Weltkulturen und Moderne Kunst“ betrat zwar seinerzeit methodisch Neuland, beschränkte sich jedoch inhaltlich auf die klassische Moderne. Dagegen fristete die einzige Ausstellung zur zeitgenössischen Kunst unterfinanziert und in kleinem Zuschnitt ein Schattendasein; zustande kam eine Studioausstellung der Staatsgemäldesammlungen in zwei Räumen mit Werken von Joseph Beuys und weiteren Gegenwartskünstlern.4 3 Winfried Nerdinger: Rudolf Belling und die Kunstströmungen in Berlin 1918 bis 1923 mit einem Katalog der plastischen Werke, Berlin 1981, S. 270-271. 4 Hierzu Graevenitz: Erdloch, Erdraum und Bodenplatte, sowie die entsprechenden Unterlagen im Archiv der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Für Auskünfte danke ich Herbert Wilhelm Rott. Zum Konzept der „Weltkulturen“-Ausstellung auch unter den politischen Vorgaben der „Völkerverständigung“ Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Wer begegnet wem? Bildbegriff und „Menschenbild“ in der Ausstellung „Weltkulturen und Moderne Kunst“

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Auch vor diesem lokalen Hintergrund werfen die Land Art-Projekte ein Schlaglicht auf die Situation, in der sich die Künste in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre befanden. Dies gilt nicht nur für die bildende Kunst, sondern auch für die Architektur und die Landschaftsarchitektur. Fragen, Probleme und Provokationen der Konzeptkunst, des Strukturalismus und der frühen Postmoderne standen auf der Tagesordnung. In den Künsten werden – darauf läuft wohl die entscheidende epochentypische Grundüberlegung hinaus – nicht mehr, wie in der klassischen Moderne, unveränderliche, autoritäre Setzungen realisiert, sondern offene Kunstwerke, die von Betrachterinnen oder Benutzern mit erzeugt werden sollen. Dies setzt freilich die Autorität der Entwerfer in ein neues Verhältnis zu derjenigen der Rezipientinnen und Rezipienten. Kunst, Architektur, Parkgestaltungen werden nun als Medien auch von den Benutzern im weitesten Sinne hergestellt, womit die alleinig schöpferische Entscheidungskompetenz der Entwerfer durchkreuzt wird. Anders gesagt: Funktionalismus ist kein Diktat mehr, sondern ein Dialog, Ergebnis einer kommunikativen Aushandlung. Erst die Interaktionen zwischen dem Werk und den Benutzern vervollständigen die medialen Inszenierungen. Dieser Kunstbegriff der späteren 1960er Jahre ist der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Im Zentrum steht die Frage nach einer Planung und einer den Entwurf leitenden Gesamtkonzeption für den Olympiapark. Sie ist umso dringlicher vor dem Hintergrund äußerst komplexer Zuständigkeiten auf Seiten der Auftraggeber in Stadt, Bundesland, Staat, NOC und IOC und auf Seiten der Entwerfer, also der Designer, Architekten, Landschaftsarchitekten. Die Frage nach der Gesamtkonzeption wird unter dem möglichst allgemeinen und zugegebenermaßen modisch gewordenen Begriff der medialen Inszenierung gefasst. Mit Inszenierung ist dabei nichts Despektierliches etwa im Sinne täuschender Illusion gemeint, sondern der schlichte Sachverhalt einer intentionalen, künstlerisch gestalteten Demonstration, die erst, wie bereits angedeutet, in der Interaktion mit den Benutzern vollgültig verwirklicht wird. Mit medial ist nichts anderes gemeint als die Gesamtheit einer Mitteilung, die Bilder ebenso integriert wie Architektur und Landschaft sowie nicht zuletzt die menschlichen Akteure, also die Athletinnen und Athleten, die Wettkampfrichter, die Zuschauerinnen und Zuschauer in den Stadien und die übrigen BesucherInnen und Zaungäste der Olympiade.5 Die Konzentration auf Architektur, Park und Benutzer berührt zwar in München 1972, in: Hans Körner und Angela Stercken (Hg.): 1926-2002 GeSoLei. Kunst, Sport und Körper, Ostfildern 2002, S. 332-341. 5 Es mag befremden, ist aber medientheoretisch plausibel, auch die menschlichen Akteure als Körpermedien zu bezeichnen; hierzu in Bezug auf die Figur des Athleten Martin Seel: Die Delegation des Unvermögens. Aspekte einer Ästhetik des Sports (1993), in: Ders.: Ethischästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996, S. 188-200. Seel spricht vom „dramatischen Körper“ des Sportlers im „öffentlichen Schauspiel“ des Sports.

Mediale Inszenierungen bei den Olympischen Sommerspielen

auch den massenmedialen Charakter der Olympiade, gleichwohl werden Masseninszenierungen im engeren Sinne wie etwa die Eröffnungsfeier, Radio- und Fernsehübertragungen oder das Corporate Design nur beiläufig erwähnt.

Programmvorgaben Die Bewerbungsphase für die XX. Olympischen Sommerspiele in München vollzog sich in rasender Eile.6 Innerhalb von nur drei Monaten von Oktober bis Dezember 1965 wurde die Münchner Bewerbung in allen politischen Gremien in Stadt, Bundesland und Bund abgesegnet und dann beim IOC in Lausanne eingereicht. Der Zuschlag erfolgte am 26. April 1966. Ein städtebaulicher Ideenwettbewerb wurde von der Stadt München Ende des Jahres 1966 ausgelobt. Im Oktober 1967 erfolgte die Vergabe des ersten Preises an das Architekturbüro Behnisch und Partner, das seinerseits den Landschaftsarchitekten Günther Grzimek beauftragte. Am 28. August 1972 fand die Eröffnungsfeier statt. Es hat sicher mit diesen Eilentscheidungen zu tun, dass es bei den Programmvorgaben für die Infrastruktur, das Erscheinungsbild und das Image, die den Spielen verordnet werden sollten, bei schlagwortartigen Formeln blieb. Bisweilen waren es schlicht auch Ladenhüter, die noch einmal als Werbeslogans über den Tresen gereicht wurden. Letzteres galt vor allem für die in feste sprachliche Formeln gegossenen Direktiven, die auf Erlebnisqualitäten und atmosphärische Wirkungen abzielten. Etwas konkreter waren die strukturellen Vorgaben. Beide Ebenen waren aber gleichsam über einen geschichtlichen Korridor miteinander verbunden – der kritischen Auseinandersetzung mit der Premiere Olympias in Deutschland, den Olympischen Sommerspielen vom August 1936 in Berlin. Auf den bis heute medienwirksamen Namen „Weltstadt mit Herz“ war München bereits 1962 in der Folge eines vom Münchner Verkehrsverein initiierten Wettbewerbs getauft worden. Die Bezeichnung, die nach den seinerzeit in den Bavaria-Studios produzierten Heimatfilmen riecht, wurde für Olympia recycelt. Sie sollte jetzt endgültig vergessen machen, dass die Stadt einmal begeistert auf die beiden Ehrentitel „Hauptstadt der Bewegung“ und „Hauptstadt der deutschen

6 Die Fakten und darüber hinaus die Erörterungen der historischen Kontexte beruhen maßgeblich auf der grundlegenden zeit- und kulturgeschichtlichen Studie von Kay Schiller und Christopher Young: München 1972. Olympische Spiele im Zeichen des modernen Deutschland, Göttingen 2012. Herangezogen wurde auch die englische Originalausgabe: The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany, Berkeley 2010. Aus der umfangreichen Lit. zum 50. Jahrestag der Spiele vgl. nur Roman Deininger und Uwe Ritzer: Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland, München 2021; „Die Olympiastadt München. Rückblick und Ausblick“ (Ausstellungskatalog München), hg. von Irene Meissner und Andres Lepik, München 2022.

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Kunst“ gehört hatte.7 Das Label der „heiteren Spiele“ hatte man sich wahrscheinlich von der Weltausstellung in Brüssel 1958 ausgeborgt, bei der vom Deutschen Werkbund der Begriff „Lebensheiterkeit“ ganz unverdrossen und offiziell zum Programm der Ausstellung im deutschen Pavillon auserkoren worden war.8 Im lokalen Münchner Selbstverständnis wurde „Heiterkeit“ auch durch ein populäres Bilderbuch zum Stadtjubiläum weitergereicht.9 Im Rahmen der Olympiade waren mit den „heiteren Spielen“ vor allem das breite kulturelle Begleitprogramm sowie der Charakter der Eröffnungsfeier gemeint, bei der man beabsichtigte, nicht nur das militärische Reglement, das bei den 1936er-Spielen gewaltet hatte, zu durchkreuzen, sondern auch das straffe, vom IOC vorgegebene Zeremoniell zu unterlaufen. Am Ende ist es während der Eröffnung doch über weite Strecken bei einem Aufmarsch der Sportlerinnen und Sportler geblieben, der an Truppenkontingente und Schlachtenreihen erinnerte. Nicht anders war der soldatische Flair bei weiteren zeremoniellen Handlungen wie der Fackelübergabe am Königsplatz, der Fahnenübergabe, dem Fahnenhissen oder den Vereidigungen der Sportlerinnen und Sportler, zu denen eine Postkartenserie erschienen ist.10 Metaphern, die um „Jugend“ und „Zukunft“ kreisten – „Spiele der Jugend“, „Offenheit für die Zukunft“ und ähnliche – entstammten dem propagandistischen, auf Verjüngungskuren gepolten Fundus der olympischen Bewegung. Die politisch Verantwortlichen waren sich in der Zielsetzung nationaler Repräsentation, regionaler Selbstdarstellung und kommunaler Imagepf lege einig. Diese Absicht war bei den Olympischen Spielen eine von höchster politischer Warte beschlossene Sache. Franz-Josef Strauß ließ in einer Bundestagsrede im November 1965, also ein halbes Jahr bevor München den Zuschlag bekam, wissen, dass die Olympiade für Deutschland die beste Gelegenheit sei, die „verzerrte Selbstdarstellung“ des Landes, wie er es nannte, zu korrigieren. Als Vorsitzender der Olympia-Baugesellschaft verstieg er sich zu der berüchtigten Aussage, dass ein „Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, ein Recht darauf hat, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.“ Der damalige Außenminister und Vizekanzler Walter Scheel ließ in einem Rundbrief an die deutschen Bot7 Grundlegend zu München im Nationalsozialismus Gavriel D. Rosenfeld: Architektur und Gedächtnis. München und Nationalsozialismus. Strategien des Vergessens (engl. 2000), München 2004. 8 Zur Ausstellung im Deutschen Pavillon Paul Sigel: Exponiert: Deutsche Pavillons auf Weltausstellungen, Berlin 2000, S. 179-183. 9 Ernst Hoferichter: München – Stadt der Lebensfreude, München 1958. 10 Hierzu speziell Uta Andrea Balbier: Der Welt das moderne Deutschland vorstellen: Die Eröffnungsfeier Spiegel der XX. Olympiade in München 1972, in: Johannes Paulmann (Hg.): Auswärtige Repräsentation. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln 2005, S. 105-119; Exemplare der Postkartenserie werden im Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung, verwahrt.

Mediale Inszenierungen bei den Olympischen Sommerspielen

schaften und Konsulate im Vorfeld der Spiele mitteilen, diese seien eine einzigartige Gelegenheit, „dem Ausland ein Bild des modernen Deutschland mit allen seinen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekten zu vermitteln.“11 Willy Brandt gab in seiner Regierungserklärung 1969 die programmatische Zielvorgabe, der Gastgeber müsse die Chance nutzen, beim olympischen Fest „der Weltöffentlichkeit das moderne Deutschland vorzustellen.“12 Diese Linie vertrat auf Seiten der Entwerfer unter anderem auch Otl Aicher, der für die visuelle Gestaltung der Olympiade verantwortlich war. In einem Konzeptpapier von 1972 mit dem Titel „Das Erscheinungsbild der Olympischen Spiele“ stellte er die rhetorische Frage: „Nimmt es uns die Welt ab, wenn wir darauf hinweisen, daß das Deutschland von heute anders ist als das Deutschland von damals?“, das heißt zur Zeit der Olympiade in Berlin 1936. Und er gibt die Antwort gleich selbst: „Vertrauen gewinnt man nicht durch Worte, sondern durch sichtbare Bezeugungen und gewonnene Sympathie. Es kommt weniger darauf an, zu erklären, daß es ein anderes Deutschland gibt, als es zu zeigen.“13 Unverkennbar ist bei all diesen Äußerungen eine rhetorische Geste, die auf das Inszenierte, Demonstrative und Spektakuläre der Olympiade abhebt. Bei Festlichkeiten, zu denen auch Sportereignisse gehören, schieben sich, mehr als im alltäglichen Leben, Bilder vor die Realität. Dieser Mechanismus galt auch für eine Olympiade. Konkreter, das heißt für die Gestaltfindung relevanter, war die strukturelle Leitidee der „Olympiade im Grünen“, die, durchaus nicht völlig widerspruchsfrei, ergänzt wurde durch die Idee der „Olympiade der kurzen Wege“ sowie den Gedanken der „Olympiade des Sports und der Musen“.14 Hinter diesen Leitbildern der Bewerbungsrhetorik steckte wahrscheinlich in erster Linie ein Plädoyer für den Standort der Spiele, die Brachf läche des Oberwiesenfeldes, das sich bereits im Grundbesitz der Stadt befand und durch Lage und Flächenausmaße einen entscheidenden Bewerbervorteil vor dem IOC darstellte. Vorentschieden waren mit der Standortwahl die Citynähe, der Ausbau der Infrastruktur des Nahverkehrs und die räumliche Verdichtung der Gesamtanlage. Festgelegt war durch den Verlauf des Mittleren Rings als Hauptverkehrsader auch die Zweiteilung des Gesamt11 Die Zitate von Strauß und Scheel nach Schiller und Young: München 1972, S. 18 u. 14-15. 12 Zitiert nach Balbier: Eröffnungsfeier, S. 106. 13 Zitiert nach Schiller und Young: München 1972, S. 155. 14 Maßgeblich als Quellenschriften zum Planungs- und Entstehungsprozess von Bauten und Park sind: Bauten der Olympischen Spiele 1972 München (Architekturwettbewerbe. Internationale Vierteljahresschrift. Sonderheft), Stuttgart 1969; Die Spiele. Der offizielle Bericht, 3 Bde., Bd. 1: Die Organisation; Bd. 2: Die Bauten; Bd. 3: Die Ergebnisse, hg. vom Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972, München 1972; Olympische Bauten München 1972 (Architekturwettbewerbe. Internationale Vierteljahresschrift 1970. Sonderheft); Carl Heinz Harbeke (Hg.): Bauten für Olympia 1972. München, Kiel, Augsburg, München 1972.

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komplexes in Olympiadorf und Stadionbereich. Wesentliche Charakteristika des Stadionareals waren die ebene Fläche des ehemaligen Flugplatzes, der Geländeanstieg des Trümmerbergs und der Verlauf des Nymphenburger Kanals. Schon die ersten Lageskizzen des Büros Behnisch setzen den Bauplan nicht etwa zu den markanten städtebaulichen Strukturen der Innenstadt, also von Residenz, Ludwigstraße, Marienplatz, in Beziehung, sondern zur Münchner Gartenlandschaft, zum Nymphenburger Park, zum Englischen Garten und zu den Kanalsystemen (Abb. 5). Damit ist von Anfang an klar, dass auch für den Olympiapark eine Gestaltungsform zu finden war, die Architektur und Landschaft als Fortsetzung und Akzentuierung der Stadttopographie verstand. Unter dem Schlagwort der „Olympiade des Sports und der Musen“ versteht man zunächst nicht mehr als eine schlicht gestrickte, betuliche Formel. Günther Grzimek liest aus ihr jedoch durchaus Bedeutungsvolles heraus – nicht nur den Verzicht auf „Pathos und repräsentativen Ballast“, sondern auch ein Synonym für „eine Olympiade der freien, spielerischen, urbanen Kommunikation.“15 Diese Begriff lichkeit, die den Gedanken der Kommunikation ins Zentrum rückt, führt hin zur Frage der konzeptionellen Gesamtidee, zur Integration der Medien.

Integration der Medien Die Berliner Olympiade von 1936 warf 1972 noch lange Schatten, deren Düsternis aus heutiger Sicht kaum mehr zu ermessen ist. Dies ist bei der Interpretation der Olympiade von 1972 nachgerade zu einer solchen Binsenweisheit geworden, dass man sich scheut, diesen Gedanken nochmals zu bemühen. Im Licht neuer historischer Untersuchungen16 stellt sich aber die Problematik mit einer neuen Dringlichkeit und sie ist auch für die Gestaltung der Anlagen relevant. Die Verpf lichtung auf zeitgemäße Modernität, die von allen politischen Verantwortlichen unisono vorgetragen wurde und die sich auch die beteiligten Entwerfer zu eigen machten, war doppelbödig.17 Denn insbesondere aus der Warte der Verantwortlichen im IOC galten nach den eher kärglichen Spielen der unmittelbaren Nachkriegszeit gerade nicht die Spiele der Sechzigerjahre (Rom 1960, Tokio 1964, Mexico City 1968) als Modell olympischer Neuerungen im 20. Jahrhundert, sondern fatalerweise die Berliner Spiele von 1936. Diese Fixierung auf Berlin hatte unzwei15 Günther Grzimek: Spiel und Sport im Olympiapark München, in: Gerda Gollwitzer (Hg.): Spiel und Sport in der Stadtlandschaft: Erfahrungen und Beispiele für morgen, München 1972, S. 10-33, hier S. 10. 16 Hierzu insbesondere speziell zur Olympiade Schiller und Young: München 1972; darüber hinaus zu München die Studie von Rosenfeld: München und Nationalsozialismus sowie zur „politischen Landschaft“ im Nationalsozialismus David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft (engl. 2006), München 2007. 17 Hierzu ausführlich Schiller und Young: München 1972, Kap. 3.

Mediale Inszenierungen bei den Olympischen Sommerspielen

felhaft mit der reaktionären Ausrichtung der Führungsriege im IOC, allen voran ihres Präsidenten Avery Brundage, zu tun. Berlin 1936 galt auch deswegen als Modell, weil hier in der Organisation der Spiele für die Zukunft bestimmende Reglements durchgesetzt worden waren. Bei den Berliner Spielen wurde erstmals der olympische Fackellauf eingeführt, mit dem die nationalsozialistischen Organisatoren ihre Obsession für primitivistische Körperrituale und für eine athletisch verbrämte territoriale Länderbesetzung unter Beweis stellten (Abb. 6).18 Erstmals wurden die Athletinnen und Athleten darüber hinaus in einem olympischen Dorf zusammengefasst, eine Maßnahme der effizienten Sozialkontrolle einerseits und Ausdruck der Ideologie der erzwungenen Gemeinschaft analog zur „Volksgemeinschaft“ andererseits. Neu war die schlichte Steigerung der Dimensionen mit einem Stadion, das 100.000 Zuschauer fasste. Für die dort inszenierten, die Massen manipulierenden Spektakel waren die Nürnberger Reichsparteitage die Vorschule. Neu waren schließlich auch die Dimensionen der Parkanlagen. Den formalisierten Anlagen des Reichssportfeldes unter der Observanz des Stadions stand die mit immensen Geländemodellierungen und Neubepf lanzungen verbundene Schaffung der Parklandschaft um das Olympische Dorf in Döberitz gegenüber (Abb. 7). Nach dem Willen des Landschaftsarchitekten Heinrich Wiepking-Jürgensmann sollte, so ließ er verlauten, im Döberitzer Park der „kranke Stadtmensch“ wieder zum „deutschen Mutterboden“ zurückfinden.19 Unverkennbar sind all die in Berlin realisierten Maßnahmen aus den generellen Herrschaftsstrategien des Nationalsozialismus abgeleitet und begründet. Daher ist es umso befremdlicher und skandalöser, dass sie danach im Regelwerk des IOC festgeschrieben wurden. Unter diesen ideologischen Vorzeichen standen freilich auch die Berliner Planungen der Olympia-Bauten und der zugehörigen Landschaftsarchitektur. Sie werden in einer populären Publikation gewürdigt unter den Stichworten der „grünen Umgebung“ und der „Geschlossenheit der Gesamtanlage“ mit entsprechend kurzen Entfernungen.20 Die historische Erinnerung und die Kenntnis von der Berliner Olympiade beruhten angesichts einer in der NS-Diktatur zensierten Publizistik weitgehend auf solchen affirmativen Be18 Den Widerwillen gegen dieses alte Reglement und die Absicht, es zu konterkarieren, zeigt die am Ende natürlich nicht realisierte Idee von Kai Braak, Hauptplaner der Eröffnungsfeier für die Münchner Spiele. Er wollte den Fackellauf aus dem Programm streichen und das Olympische Feuer mit einer Raumkapsel um die Erde fliegen lassen. Vgl. Balbier: Eröffnungsfeier, S. 112. 19 Rainer Schmitz und Johanna Söhigen: Das ‚Ur-Landschaften‘. Überlegungen zur Landschaftsgestaltung der ‚völkischen Moderne‘, erläutert am Beispiel des Olympischen Dorfes der Sommerspiele von 1936 in Elstal, in: Stefanie Hennecke und Gert Gröning (Hg.): Kunst – Garten – Kultur, Berlin 2010, S. 265-297. 20 Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin und Garmisch-Partenkirchen, hg. vom CigarettenBilderdienst Hamburg-Bahrenfeld, Band 1, Hamburg 1936, S. 62.

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schreibungen der Berliner Planungskonzeption. Von dort aus war – um im Bild zu bleiben – später der Weg zu den Leitideen für die Münchner Olympiade nicht weit. Das zumindest ambivalente, wenn nicht sogar positive Renommee der Berliner Olympiade auf Seiten der Technokraten des IOC stellte die Beteiligten in München vor ein nicht unerhebliches Dilemma. Otl Aicher hat es gelegentlich mit entwaffnender Schlichtheit formuliert: Man müsse von Berlin die positiven Aspekte mitnehmen und die negativen weglassen.21 So simpel war es nicht, Behnisch und Grzimek machten es sich auch nicht so einfach. Wer hätte in den sechziger Jahren auch nicht von der „Dialektik der Auf klärung“ gehört, der gemäß technisch-industrielle Modernisierung und gesellschaftliche Modernisierung keineswegs identisch sind. Aber genau dies, die technische und die gesellschaftliche Modernisierung wieder zu der seinerzeit in Berlin historisch gescheiterten Synthese zu führen, beanspruchten Behnisch und Grzimek beim Olympiapark. Im Hinblick auf die Strategie einer Integration der Mediengattungen lag natürlich das Konzept des Gesamtkunstwerks nahe.22 Es ist bemerkenswert, dass sowohl Aicher als auch Behnisch intern auf die Vorbildrolle barocker Kirchenarchitektur verwiesen haben. Wegen des Ursprungs des Gesamtkunstwerk-Begriffs bei Richard Wagner, dessen Etablierung in der Kunstgewerbebewegung um 1900 und der zeitweiligen Kontaminierung des Konzepts im Nationalsozialismus, verbot sich jedoch eine offizielle Verwendung des Begriffs. Die damals intendierte Integration der Künste fand nun unter den Zielsetzungen von Kommunikation, Partizipation und Improvisation statt. Diese sozialen Handlungen werden beispielhaft zusammengeführt im Spiel. Dass die Beteiligten den Begriff des Spiels und damit der Institution der Olympischen Spiele einen durchaus konzeptionellen Stellenwert zugemessen haben, geht aus zahlreichen Äußerungen hervor. Sowohl Willi Daume, als Vorsitzender des NOC der einf lussreiche spiritus rector der Münchner Olympiade, als auch Otl Aicher haben sich in ihren Planungserläuterungen unmittelbar auf seinerzeit aktuelle und populäre Spieltheorien, insbesondere auf diejenigen von Wittgenstein und Huizinga berufen.23 Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat anhand des Sprachspiel-Begriffs Sprache als Teil einer situativ-szenischen Verständigung erläutert. Jede sprachliche Äußerung sei demgemäß in einer menschlichen Lebenspraxis beheimatet und nur innerhalb dieses Raumes von Wahrnehmung und Verhalten und einer in weiten Teilen nichtsprachlichen Praxis ergebe auch das Sprechen erst einen Sinn. 21 Schiller und Young: München 1972, S. 154-155. 22 Zum Begriff immer noch grundlegend Bernd Euler-Rolle: Das barocke Gesamtkunstwerk in Österreich – idealer Begriff und historische Prozesse, in: Kunsthistoriker. Mitteilungen des österreichischen Kunsthistorikerverbandes 2 (1985), Nr. 4/5, S. 55-61. 23 Schiller und Young: München 1972, S. 151-160, 203-204, 214.

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Sprachspiele sind offen und lassen sich immer wieder neu erfinden.24 Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat in seinem Buch Homo ludens, das 1956 in einer populären Taschenbuchreihe in deutscher Übersetzung erschienen war, nicht nur den Sport aus dem Spieltrieb und aus einer agonalen Grundkonstitution des Menschen begründet, sondern darüber hinaus den Sport als Kulturleistung rehabilitiert.25 Die Idee, die Olympischen Spiele als ein Spiel wörtlich zu nehmen und sie konzeptionell umzumünzen, hat angesichts von politischem Systemwettkampf in Zeiten des Kalten Krieges, von fadenscheinigem sportlichen Laienstatus, von allgegenwärtiger Kommerzialisierung des Sports und von tabuisiertem Doping den Sportgedanken gerade im olympischen Hochleistungssport sicherlich idealisiert.26 Aber er prägte nachdrücklich sowohl das Kulturprogramm der Spiele, als auch die Gestaltfindung für den Stadionbereich. Nach langen Kontroversen gelang es dem Architekten Werner Ruhnau, seine Idee der Spielstraße 1972 wenigstens teilweise zu realisieren.27 Schließlich wurden insgesamt fünf ausgewiesene Spielf lächen in der unmittelbaren Umgebung des Sees angelegt (Abb. 8). Geplante und spontane Darbietungen fanden schließlich an mehr als 30 Orten statt. Ruhnau hatte mit der Spielstraße nicht nur im Sinn, Sport und Künste zusammenzuführen, sondern er zielte vor allem darauf ab, die verschiedenen Gruppen von Akteuren, die Gesamtheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Spielen – SportlerInnen, ZuschauerInnen und sonstige BesucherInnen – zusammenzuführen. Der Erfolg gab ihm recht. Bis zu den Attentaten besuchten über eine Million Menschen den Olympiapark nicht als Zuschauer der Wettkämpfe, sondern als Spaziergänger. Hier deutet sich ein Nachhaltigkeitskonzept für die Zeit nach den Spielen an. Günther Grzimek betrachtete das Spiel gleichsam als den Archetypus, als die exemplarische Situation für jedwede Erholung und Freizeitbetätigung: „Zum 24 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 1953, in denen der „Sprachspiel“Begriff erstmals ausgearbeitet wird. Die Untersuchungen entstanden 1936-1946 und wurden postum 1953 veröffentlicht. 25 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (ndl. 1939) (rowohlts deutsche enzyklopädie), Reinbek 1956. 26 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Studie von Hans-Joachim Verspohl: Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart. Regie und Selbsterfahrung der Massen, Gießen 1976, der im Schlusskapitel des Buches aus der Perspektive der Ideologiekritik am Kapitalismus seine Auseinandersetzung mit der Münchner Olympiaanlage zu einer fundamentalen Abrechnung zuspitzt. 27 Hierzu Ruhnaus eigene Schriften: Werner Ruhnau: Spielstraßen, bildende Kunst, Theater, Castrop-Rauxel o. J.; Ders.: Workshop Spielstraße, Essen 1972; zum Architekten „Werner Ruhnau. Der Raum, das Spiel und die Künste“ (Ausstellungskatalog Gelsenkirchen), Berlin 2007.

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‚Programm Oberwiesenfeld‘ gehört es vor allem, das Spiel der Fußgänger aller Altersstufen anzuregen.“28 Er lehnte die Anlage von separaten Kinderspielplätzen ab, weil das Spiel selbst in die Lebenspraxis integriert sei. Bei der Gestaltung wird diese Überlegung in der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der Freif lächen mit deren unterschiedlicher Qualität von Öffentlichkeit und Privatheit konkret gemacht. Diesem Gedanken fügt sich auch das Offenhalten des Wegesystems. Geplante Wege sollen mit so genannten spontanen Wegen – genauer müsste man vielleicht sagen: Wege, die durch Handlungsroutinen zustande kommen – vernetzt werden (Abb. 9). Günter Behnisch war, soweit ich sehe, in seinen Äußerungen pragmatischer. Er blieb aber seinem Grundsatz treu, wonach Individualität „nur durch Spielräume und Freiräume“ ermöglicht werde.29 Er betonte die Prozesse einer gesellschaftlichen Kommunikation, die durch die Architektur auch in die Zukunft weist. Innerhalb der architektonischen Großform, die Behnisch „Situationsarchitektur“ nennt, sollen die „bestehenden Strukturen aufgenommen und verknotet werden.“30 Damit ist implizit nicht nur auf die Avantgarderichtung der Situationisten angespielt, sondern auch auf ein damaliges Zauberwort in den Sozialwissenschaften, die Vernetzung („networking“). Architektur ist aber zugleich mehr als Festschreibung der Gegenwart: „In unserem Entwurf für die Parlamentsbauten in Bonn wollten wir ähnlich wie in München programmatisch oder nach vorgegebenen Sätzen oder Idealen – wenn ich es vorsichtig formuliere – etwas von unserer Demokratie darstellen, und zwar nicht nur so wie sie ist, sondern durchaus etwas von der Überzeugung dessen, was sie sein könnte; wir wollten also nicht nur das Bestehende reproduzieren, sondern auch gewisse Ideale mit darstellen, ohne idealistisch oder ideologisch zu sein.“31 Architektur als mediales Dispositiv, als Möglichkeitsform, als Symbol einer in die Zukunft offenen Kommunikation – in solchen Überlegungen teilt sich ein generelles Leitbild der Architektur der Sech-

28 Grzimek: Spiel und Sport, S. 14. 29 Wolfgang Pehnt: Den Ort suchen, den Ort setzen. Günter Behnisch und Oswald Mathias Ungers im Gespräch, in: Ders.: Die Erfindung der Geschichte. Aufsätze und Gespräche zur Architektur unseres Jahrhunderts, München 1989, S. 171-187, hier S. 174. 30 Günter Behnisch, in: Heinrich Klotz: Architektur in der Bundesrepublik. Gespräche mit Günter Behnisch, Wolfgang Döring, Helmut Hentrich, Hans Kammerer, Frei Otto, Oswald M. Ungers, Berlin 1977, S. 13-63, hier S. 41. 31 Günter Behnisch, in: Klotz: Architektur in der Bundesrepublik, S. 17-18. Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass Behnisch mit dem Gedanken „wie es sein könnte“ einen zentralen Topos der klassischen Mimesislehre nach Aristoteles‘ Poetik aufruft; vgl. Martin Warnke: ‚sein sollte‘ – ein kunsttheoretischer Splitter, in: Tilman Buddensieg und Matthias Winner (Hg.): Munuscula Discipulorum. Kunsthistorische Studien Hans Kaufmann zum 70. Geburtstag 1966, Berlin 1968, S. 379-392.

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zigerjahre mit. Am Rande nur zwei Beispiele.32 In utopisch-visionären Entwürfen gestalteten Hans Hollein und Walter Pichler 1962/63 ein Kommunikationszentrum als riesenhafte, autonome Makrostruktur, die aus Gestängen und Trägern montiert ist (Abb. 10). Um einen ähnlichen Koloss handelt es sich auch bei der ab 1968 geplanten Universität Bielefeld, deren ganzer Grundgedanke auf die Vernetzung des Raumgefüges hinausläuft. Als ein regelrechter architektonischer Coup ist die Bibliothek in einem riesigen Kontinuum auf einer einzigen Geschossebene untergebracht, die Lage und die innere Disposition der Bibliothek machen das erklärte Ziel der interdisziplinären Kooperation anschaulich. Ein solcher Seitenblick auf das Thema der Kommunikation in der zeitgenössischen Architektur kann aber auch die eklatanten Unterschiede klarmachen, durch die sich die Münchner Anlage auszeichnet.

Anschauungsbefunde Es gehört sicher zu den großen Leistungen der Planer, dass der Olympiapark bei all seiner unverkennbaren Zeitgenossenschaft auch die Traditionslinien, die zu ihm hinführen, offen darlegt. Das heißt nichts Anderes, als dass die geschichtlichen Bedingungen seiner Entstehung mit ref lektiert und anschaulich vermittelt werden. Genau in dieser Mitteilungsfähigkeit zeigt sich die, wenn man so will, Medienkompetenz von Architektur und von Landschaftsarchitektur. Beide besitzen narratives Potenzial. Die architektonischen Vorbilder und Inspirationen für die Gruppe der Stadionbauten, deren prägende Elemente das die Stadien zusammenfassende Zeltdach und die Absenkung der Anlagen sind, liegen – bei allen Unterschieden im Einzelnen – auf der Hand (Abb. 11).33 Antike Theateranlagen und sogenannte Erdstadien, insbesondere Stadien aus der klassischen Moderne, konnten für die Einarbeitung der Spielf lächen und Tribünen in das Gelände, für die Integration in die Hügellandschaft und auch für die großen Kapazitäten Pate stehen. In Kenzo Tanges Olympia-Projekt für Tokio 1964, in dem Stadion und Schwimmhalle als formal ähnlich gestaltete Gebäude miteinander vernetzt sind, war auch für München die Gruppierung der Sporthallen angelegt. Leitbild der Münchner Planung bleibt natürlich der Zeltbau von Rolf Gutbrod und Frei Otto für die Weltausstellung in 32 Vgl. dazu Dietrich Erben: Bau- und Wissenschaftskonzeption bei den Universitätsneugründungen der Nachkriegszeit, in: Mark Häberlein, Stefan Paulus und Gregor Weber (Hg.): Geschichte(n) des Wissens. Festschrift für Wolfgang E.J. Weber zum 65. Geburtstag, Augsburg 2015, S. 773-795 und Ders.: Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2017, S. 108-111. 33 Zur Analyse der Bauten maßgeblich die Dissertation von Elisabeth Spieker: Günter Behnisch – die Entwicklung des architektonischen Werkes: Gebäude, Gedanken und Interpretationen, Dissertation Universität Stuttgart 2005, Stuttgart 2006 (Online-Publikation).

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Montreal 1964. Umso markanter fallen die formal-konstruktiven Unterschiede ins Auge, vor allem die Anwendung einer sogenannten vorgespannten Seilnetzkonstruktion mit freigestellten Masten statt unterhalb des Dachs stehender Masten sowie bei den Münchner Stadien die Integration von Dach und Innenausbau, wo in Montreal noch die strikte Trennung von Zeltdach und plug in-Systemen der Ausstellungsterrassen gegeben war. Nicht weniger ist auch Grzimeks Anlage des Landschaftsparks Aspekten der Tradition verpf lichtet. Aufgerufen wird mit „belt walks“, amorphen Seenf lächen, den „clumps“ der Bepf lanzung in Baumgruppen oder der Verarbeitung des vorhandenen Geländereliefs fast in enzyklopädischer Vollzähligkeit das Repertoire des Landschaftsgartens. Die Auf hebung der Trennung von Stadt und Stadtpark war erstmals schon um 1800 erfolgt. Man mag an den Tuilerien-Park und die Rue de Rivoli in Paris denken, wo die erste Idee von einer Umfassungsmauer zwischen Park und neuer Straßenrandbebauung zu Gunsten des heute bestehenden Eisengitters aufgegeben wurde. Für die Exposition des Stadtprospektes als eine in den Park integrierte Blickbeziehung und Sinnebene stellt der Englische Garten in München das epochale, im 19. und 20. Jahrhundert weiterentwickelte Vorbild dar.34 In München waren die Ablösung der Staffagen durch Aussichtsarchitekturen, vor allem durch den Monopteros von Klenze, sowie eine Aufwertung des Stadtprospektes zur architektonischen Großstaffage erfolgt (Abb. 12). Stadt und Park waren nicht nur funktional als Erholungsf läche und durch den Gedanken der „Annäherung aller Stände“ – wie es Friedrich von Sckell für den Englischen Garten formuliert – aufeinander bezogen, sondern auch visuell verzahnt. Im Olympiapark mit seinem Fernsehturm ist dieser Gedanke durch das Konzept der „gebauten Landschaft“ aktualisiert: Stadt und Park stehen in einem konkreten Bedingungsverhältnis, so wie Großstadt und Natur in einem allgemeinen Bedingungsverhältnis zueinanderstehen. Die wechselseitigen Abhängigkeiten von Stadt und Land kommen durch ländliche Zersiedelung, industrialisierte Landwirtschaft, Pendlermobilität und Naherholung zustande (Abb. 13).35 So weit so gut, aber nach allen diesen Präliminarien der Gestaltung stellt sich am Ende umso ungeduldiger die Frage nach den direkten Anschauungswerten. Ich folge der Maxime, wonach sich Anschauung erst aus dem Verfahren der Deskription herstellen lässt.36 Wie gehen Gebäude und Park in der viel beschworenen 34 Zu diesem Aspekt des Englischen Gartens Adrian von Buttlar: Der Garten als Bild – das Bild des Gartens, in: „Münchner Landschaftsmalerei 1800 bis 1850“ (Ausstellungskatalog München), hg. von Armin Zweite, München 1979, S. 160-172. 35 Das ist bekanntlich eine Grundüberlegung der Parkkonzeption von Grzimek; vgl. Günther Grzimek: Gedanken zur Stadt- und Landschaftsarchitektur seit Friedrich Ludwig von Sckell (Reihe der bayerischen Akademie der Schönen Künste 11), München 1973. 36 Hans Blumenberg: Quellen, Ströme, Eisberge, hg. von Ulrich Bülow und Dorit Krusche, Frankfurt/M. 2012, S. 42-43. Die folgenden Überlegungen zur Phänomenologie verdanken

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„Architekturlandschaft“ zusammen? Warum gibt es – um die schwärmerische Unbedarftheit dieser Frage nochmals zuzuspitzen – im Münchner Olympiapark Bilder von Architektur und Landschaft, die von solcher Schönheit sind, dass es einem immer wieder den Atem verschlägt? Dazu seien einige Szenarien unter der Anleitung der wichtigsten phänomenologischen Kriterien ins Auge gefasst. Architektur und Natur verhalten sich, gerade in den vegetationsreichen mitteleuropäischen Landschaften, kontradiktorisch zueinander und im günstigsten Fall komplementär. Es hilft wenig weiter, dass es beide Male um durchaus ähnliche Elementarphänomene, also um die Wahrnehmung von liegenden und stehenden Flächen, um Linien und die Verteilung von Öffnungen geht. Jenseits dessen scheinen die Oppositionen allein im Anschaulichen kein Ende zu nehmen: Homogene, grundsätzlich starre, mehr oder minder glatte und ebene, geschlossene Flächen der Gebäude treten gegen vielfältig gebrochene, bewegte, perforierte oder aufgelöste Flächen in der Natur. Dasselbe gilt für die Linien: kontrollierte lineare Graphik hier und unregelmäßige, gleichsam gekrakelte Graphik dort. Auch der Wahrnehmungsmodus ist ein anderer: Wir betrachten (von völliger Indifferenz hier einmal abgesehen) Architektur im Regelfall mit Beachtung und mit kritischer Kommentierungsbereitschaft. Natur und Landschaft schauen wir hingegen mit kontemplativer Zerstreuung an, wir nähern uns ihr mit einer Haltung der Anerkennung.37 Aber diese Oppositionen werden augenscheinlich beim Olympiapark außer Kraft gesetzt und zum Ausgleich gebracht. Ich hebe vier Ausgleichsmomente hervor.

sich maßgeblich den Studien von Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen, Wien 1997; Ders.: Physik der Medien. Materialien – Apparate – Präsentierungen, Weimar 2002 sowie von Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur (1991), Frankfurt/M. 21996; Ders.: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf den Aufsatz von Swamtje Scharenberg: Nachdenken über die Wechselwirkung von Architektur und Wohlbefinden. Das Olympiastadion in München, ein politischer Veranstaltungsort, in: Matthias Marschik u.a. (Hg.): Das Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie, Wien 2005, S. 153-174; der Aufsatz löst die durch den Untertitel geweckten Erwartungen ein, aber keineswegs die Versprechungen des Haupttitels, von konkreter Ortserfahrung ist an keiner Stelle die Rede. 37 Zur Verdeutlichung des Gemeinten seien folgende anekdotenhafte Konkretisierungen erlaubt: Man kritisiert beim Spaziergang nicht den Ammersee, die Zugspitze oder die Fichte im Wald, sondern akzeptiert sie als Naturphänomene ohne dabei deren eigene Geschichtlichkeit zu bedenken. Hingegen ist man bei Gebäuden zur Kritik disponiert – etwa: diese Tür sei zu klein, dieser Raum zu dunkel, dieses Bad zu protzig etc. – weil sie der eigenen Lebenswelt des Gemachten zugehörig sind und man sich auch als NutzerIn zur Urteilskompetenz autorisiert sieht.

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Höhen und Tiefen: Die gigantischen Erdbewegungen auf dem Baugrundstück erzeugen eine „Reliefenergie“38– so nennt es Grzimek –, die auf einer Umverteilung der Massen beruht. Was beim Aushub der Stadien herauskam, kommt beim Schutthügel als Erhöhung hinzu. Man kann sagen, die landschaftliche Topographie wächst im Wortsinn an der Architektur, sie ist deren Ausgleichsprodukt. Diese Dynamik der Umschichtungen ist bereits in einer Skizze des Büros Behnisch visualisiert (Abb. 14). Linien und Flächen: Die Zeltdächer konstruieren mit Spitzen, Hügeln, Mulden, Kuppen und Einschnitten Silhouettenlinien, die denjenigen der Topographie und der Vegetation analog gebildet sind oder mit ihr korrespondieren (Abb. 1518). Die Gebäude spielen Leichtigkeit und Transparenz aus, sie entwickeln keine großen Massen, die Architektur hat eine Vorliebe für Hüllf lächen, Gestänge, Seile und Pfosten. Bei all den Richtungswechseln, Kreuzungen, Überschneidungen und Querständen werden wir gewahr, dass solche Flächenbildungen und ein solches Lineament nicht der Architektur vorbehalten sind, sondern auch bei der Vegetation vorkommen, dass die Vegetation zumindest ebenso zu beschreiben wäre. Rahmungen: Die Stadionbauten kündigen mit der vorgespannten Seilnetzkonstruktion das Prinzip radikal auf, wonach üblicherweise bei Gebäuden die Fluchtlinien der aufgehenden Wände weitgehend die Außenbegrenzungen der Fundamentf läche in kompakten Volumen nachzeichnen. Bei den Stadien sind hingegen die Auf lösung der Raumgrenzen und die Dominanten der weit in die Topographie ausgreifenden Tragwerke bestimmend. Die Gebäudehüllen umfangen Einzelelemente der Landschaft, während Baumformationen umgekehrt die Teilabschnitte der Architektur einfassen (Abb. 16-17). Rahmen sind ästhetische Grenzen, indem sie das, was draußen ist, von dem, was drinnen ist, trennen und damit aus einem Kontinuum einen Ausschnitt erzeugen. Rahmen heben das Innere, das Gerahmte, als Einheit hervor, machen es zu einem Bild und schaffen so auch Distanz.39 All dies ist im Olympiapark nachvollziehbar, und zwar in einem szenografischen Wechselspiel, bei dem Architektur und Park sowohl die Funktion des Rahmenden als auch des Gerahmten übernehmen können. Elementargeister: Im Olympiapark werden die Rollen von Licht und Schatten durch gänzlich f lüchtige Phänomene von Spiegelungen und graphischen Abbildungen neu verteilt (Abb. 18). Oft bringt die Architektur die Natur zur deut38 Hierzu Grzimek: Spiel und Sport, S. 11 und Ders.: Gedanken zur Stadt- und Landschaftsarchitektur, bes. S. 18. 39 Diese Formulierungen paraphrasieren Überlegungen von Georg Simmel: Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch (1902), in: Ders.: Soziologische Ästhetik, Bodenheim 1998, S. 111-117. Zu den Untersuchungen über den Bilderrahmen vgl. Perfect Harmony. Bild und Rahmen 1850-1920, hg. von Eva Mendgen, Zwolle 1995; Henrik Bjerre: Frames. State of the art, Kopenhagen 2008; Hans Körner u.a. (Hg.): Rahmen zwischen innen und außen. Beiträge zur Theorie und Geschichte, Berlin 2010.

Mediale Inszenierungen bei den Olympischen Sommerspielen

licheren Kenntlichkeit. Wer je bei starkem Regen durch das Gelände gegangen ist, weiß, dass auch das Element des Wassers durch die Dächer neu zur Erfahrung gebracht wird. Die Dächer sammeln Wassermengen vom Zuschnitt eines Bergbachs, die ohne geschlossenes Ableitungssystem in Sammelbecken im Pf laster stürzen und so erst etwas von der Reichhaltigkeit und der Gewalt des Niederschlags ahnen lassen. Oder man nimmt im Blick zum Himmel ein Gespinst von Linien wahr, bei denen sich das technische Produkt des Tragwerks und die Wolken in der Wahrnehmung überlagern (Abb. 19). Dann wird man von der Architektur zu der Einsicht angeleitet, dass man es bei den Wolkenschlieren nur bedingt mit einem Naturphänomen zu tun hat, sondern mit einem verwischten Kondensstreifen als einem Produkt der Industrialisierung des Himmels durch die Luftfahrt. Hier wird unmittelbar Grzimeks Befund einer Durchdringung von Technik und Natur in der produzierten Landschaft anschaulich.40 Alles in allem treten Architektur und Landschaft im Olympiapark in ein Verhältnis gegenseitiger Bespiegelung, sie kommentieren sich wechselseitig und sie begründen sich aber auch in ihrem Eigenrecht. Erst dieses dialogische Verhältnis, in das Gebäude und Landschaft zueinander treten, führt beim Betrachterinnen und Betrachtern zu einer einzigartigen Steigerung der Aufmerksamkeit, als ästhetischer Genuss, als visuelle Einsichtsarbeit und als historische Ref lexion.

Demokratisches Grün In dieser regelrechten Provokation von Auf klärung liegt ein entscheidendes Charakteristikum des „demokratischen Grüns“. Günther Grzimek hat den Begriff anlässlich der gleichnamigen Ausstellung zum Münchner Olympiapark 1973 formuliert.41 In seinen veröffentlichten Texten wird der Begriff allerdings nicht explizit aufgenommen, sondern bestenfalls seinem Gehalt nach umschrieben. Unternimmt man es, die dort formulierten Überlegungen zu systematisieren, so wird als Ausgangspunkt zunächst ein grundsätzlich emphatischer Begriff der Demokratie erkennbar. Der Begriff ist eingesetzt als Bezeichnung für eine Staatsform, in der tendenziell alle, also nicht eine Elite oder gar ein Einzelner, regieren, und er ist zudem eine Umschreibung für die Forderung nach uneingeschränkter Mitsprache in allen gesellschaftlichen Bereichen. Zu den Institutionen, für die Mitsprache gefordert wird, gehören selbstverständlich auch Stadtplanung und 40 Zur Begründung vgl. Grzimek: Gedanken zur Stadt- und Landschaftsarchitektur, bes. S. 31-32; vgl. zuletzt Regine Keller: Grün. Günther Grzimek. Planung-Gestaltung-Programme, München 2022. 41 Maßgebliche Stellungnahmen sind: Günther Grzimek: Gedanken zur Stadt- und Landschaftsarchitektur und Ders.: Die Besitzergreifung des Rasens: Folgerungen aus dem Modell Süd-Isar. Grünplanung heute, München 1983.

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Architektur. Darüber hinaus versteht Grzimek die „Eroberung des Rasens“ als Teil einer Demokratisierung, die ihrerseits als ein für die Moderne konstitutiver Prozess in Anspruch genommen wird. Die Geschichte des vermeintlichen Siegeszugs der Demokratie bis in die Gegenwart hinein, der Prozess der Demokratisierung, gehört zu jenen „großen Erzählungen“ (Jean-François Lyotard), die einen wesentlichen Teil des Selbstbildes der europäischen Moderne ausmachen. Spätestens in den Jahren nach 1960 wurde Demokratisierung nicht nur als Umschreibung einer als notwendig erachteten Reform der etablierten repräsentativen Demokratie durch die Verankerung von weiteren direkt-demokratischen Teilhaberechten verstanden, sondern auch als Synonym einer gesellschaftlichen Partizipation, durch die sich jedwede Staats- und Herrschaftsform ständig neu zu legitimieren hat.42 Auch in diesem Glauben erweist sich Grzimek als durchaus typischer Anhänger der Spätmoderne. Alle drei Aspekte – Demokratie als egalitäre Staatsform, als gesellschaftlicher Partizipationsanspruch und als Identifikationsmerkmal der Moderne – prägen den Demokratie-Begriff Grzimeks. Ähnlich lässt sich auch das Demokratieverständnis von Günter Behnisch umschreiben.43 Von hier aus sind bei Grzimek die zentralen Forderungen eines „demokratischen Grüns“ abgeleitet, wie er sie etwa in seinem Buch Die Besitzergreifung des Rasens von 1983 formuliert. Sie umfassen sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetische Kategorien: 1. die Regelhaftigkeit und Transparenz der Planungsverfahren mit der Möglichkeit zu Bürgerbeteiligungen; 2. die prinzipielle Zugänglichkeit und der freie Zugang zu öffentlichen Flächen; 3. die Möglichkeit zur partizipativen Gestaltung durch die NutzerInnen, zu der 4. auch die Entfaltung ästhetischer Eigenkompetenz auf Seiten der BenutzerInnen gehört. Es handelt sich um Aspekte eines Gestaltungsideals, die beim Münchner Olympiapark in erkennbar unterschiedlichen Graden zur Verwirklichung gelangten. Während sich die Produktion der Anlage als eine autoritär „von oben“ gesteuerte Beauftragungskette darstellt, erscheint hingegen auf der Seite von Rezeption und Nutzung die Idee des „demokratischen Grüns“ durch die Schaffung eines offenen Raumes der Aktion, der Erfahrung und der Erinnerung eingelöst.

42 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (frz. 1979), Wien 1982; Wilhelm Hennis: Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs (1970), in: Ders.: Die mißverstandene Demokratie, Demokratie – Verfassung – Parlament. Studien zu deutschen Problemen, Freiburg 1973, S. 26-51 hat seinerzeit bereits auf die Konjunktur des Demokratisierungs-Begriffs und auf dessen damit verbundene Kritikresistenz hingewiesen, er stehe „gewissermaßen bereits unter demokratischem Denkmalschutz.“ (S. 36). 43 Als zentraler Aufsatz zum Verhältnis von Architektur und Demokratie Günter Behnisch: Bauen für die Demokratie, in: Ingeborg Flagge und Wolfgang Jean Stock (Hg.): Architektur und Demokratie. Bauen für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, Ostfildern 1992, S. 66-75.

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In diesen Raum ist auch das Gedenken an das Attentat und die Toten eingeschrieben. Zu den schmerzlichen historischen Kontingenzen, mit denen man bis heute beim Besuch des Münchner Olympiageländes konfrontiert ist, gehört die Einsicht, dass die Tatsache der kommunikativen Verdichtung, die bei der Münchner Olympiade durch die akkreditierten Journalisten, durch Radio- und Fernsehübertragungen sowie durch das kommunikative Angebot der Gesamtgestaltung der Anlage zustande kam, auch den Terroristen, die die Mitglieder der Olympiamannschaft Israels in ihre Gewalt brachten, in die Hände spielte. Es folgt dieser inneren Logik, wenn sich in einer Verhandlungspause ein Mitglied des Terrorkommandos Schwarzen September bei den deutschen Verhandlungspartnern für die „excellent Olympic Games“ bedankte – denn dadurch sei ihnen, den palästinensischen Befreiungskämpfern, eine ideale Bühne („showcase“) für die Mitteilung ihrer Botschaft zu Verfügung gestellt worden.44

44 Zitiert nach Schiller und Young: The 1972 Munich Olympics, S. 3; zum Verhältnis von Terror und Medien vgl. Dietrich Erben: Mediale Konfigurierung eines Ereignisses. Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, in: Enno Rudolph und Thomas Steinfeld (Hg.): Machtwechsel der Bilder. Bild und Bildverstehen im Wandel (Kultur – Philosophie – Geschichte 10), Zürich 2012, S. 179-211.

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Abb. 1 Michael Heizer: Munich Depression. Land Art-Projekt in München-Neuperlach, 1969.

Abb. 2 Carl Andre: Aufstellungsanordnung für ein Land Art-Projekt im Olympiapark in München, 1971. Abb. 3 Walter de Maria: Olympic Mountain Project, 1970/71.

Abb. 4 Rudolf Belling: Schuttblume. Bronzeplastik im Olympiapark, 1971. Abb. 5 Günter Behnisch und Partner: Lageskizze zum Olympiapark im Münchner Grünsystem, 1969.

Abb. 6 Plakat für den Fackellauf der Olympischen Sommerspiele in Berlin 1936.

Abb. 7 Reichssportfeld in Berlin und Olympiadorf in Berlin-Döberitz. Zeitgenössische Luf tbilder 1936.

Abb. 9 Spontane Wege im Olympiapark München. Abb. 8 Werner Ruhnau: Plan der Spielstraße im Olympiapark, 1970.

Abb. 10 Hans Hollein und Walter Pichler: Kommunikationszentrum. Zeichnung 1962/63.

Abb. 11 Günter Behnisch und Partner: Planskizze der Gesamtanlage des Olympiaparks, 1969.

Abb. 12 Simon Warnberger: Blick vom Englischen Garten auf München. Gemälde um 1800. Münchner Stadtmuseum.

Abb. 13 Blick auf den Olympiapark mit Fernsehturm und Stadtprospekt.

Abb. 14 Günter Behnisch und Partner: Skizze zur Geländemodellierung im Olympiapark, 1969.

Abb. 15-19 Blicke auf das Olympiastadion.

IV. Architekturanthropologie

Angst und Architektur Zur Begründung der Nützlichkeit des Bauens

Die Architekturgeschichtsschreibung geht von einer Gründungserzählung des Bauens aus, die euphemistisch ausgefallen ist und als Chronik eines Erfolgsmodells fortgeschrieben wurde. Gott selbst soll sich als Architekt hervorgetan haben und der oberste Baumeister im Kreise seiner Schöpfung gewesen sein. In der Wiener Bible moralisée, um 1250 entstanden, ist er als Geometer des Universums dargestellt (Abb. 1). Am Beginn der Neuzeit bestätigt der Florentiner Humanist Pico della Mirandola in seiner Rede De hominis dignitate von 1486 diese Deutung: „Schon hatte Gottvater, der höchste Baumeister, dieses Haus, die Welt, die wir sehen, als erhabensten Tempel seiner Weisheit errichtet. [...] Aber als das Werk vollendet war, wünschte der Meister, es gäbe jemanden, der die Gesetzmäßigkeit eines so großen Werkes genau erwöge, seine Schönheit liebte und seine Größe bewunderte.“1 Mirandola bezieht also die Kunstfertigkeit des göttlichen Architekten auf den ref lektierenden und bewundernden Betrachter des Weltenbaus. Wie es den Anschein hat, neigen seither auch die Architekten auf Erden dazu, den Applaus des Publikums in Anspruch zu nehmen. Dem hochrangigen Erfinderpersonal ist als bauliche Konkretisierung der Gründungslegende der Mythos der Urhütte zur Seite gestellt. Auch bei der Urhütte handelt es sich um ein höchst affirmatives Konstrukt.2 Sie stellt zunächst einmal ein Symbol der Architekturgenese und ein Idealbild gebauter Einfachheit dar. Darüber hinaus ist mit der Urhütte doch stets auch die Behauptung verbunden, Architektur sei etwas Uranfängliches und bereits in ihren ersten Anfängen eine Leistung formal gestalteter Konstruktion. 1 Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, Hamburg 1990, S. 4: „Iam summus Pater architectus Deus hanc quam videmus mundanam domum, divinitatis templum augustissimum archanae legibus sapientiae fabrefecerat. [...] Sed, opere consummato, desiderabat artifex esse aliquem qui tanti operis rationem perpenderet, pulchritudinem amaret, magnitudinem admiraretur.“ 2 Vgl. hierzu Joachim Gaus: Weltenbaumeister und Architekt, in: Günther Binding (Hg.): Beiträge über Bauführung und Baufinanzierung im Mittelalter, Köln 1974, 38-67; Ders.: Die Urhütte. Über ein Modell in der Baukunst und ein Motiv in der bildenden Kunst, in: WallrafRichartz-Jahrbuch 33 (1971), S. 7-70; Joseph Rykwert: On Adam’s House in Paradise. The Idea of the Primitive Hut in Architectural History, New York 1972.

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IV. Architekturanthropologie

Somit erweist sich die Urhütte auch als ein Symbol für die demiurgische Fähigkeit des Architekten, umbauten Raum zu erschaffen. All das ist keineswegs totgesagte oder auch nur vergessene Überlieferung. Denn es bestätigt sich immer wieder der Verdacht, dass bei aller ironischer Distanzierung und bei aller postmoderner Historisierung das Rollenspiel des Architekten als Nachfahre des göttlichen Geometers und die Berufung auf den Mythos der Urhütte bis heute zum Reservoir des Selbstverständnisses eines Architekten gehören. Es mag ein Blick auf die 1984 eröffnete Neue Staatsgalerie in Stuttgart von James Stirling genügen. In einer als Schinkelvariation vorgetragenen Ideenskizze (Abb. 2) erfindet der Architekt noch einmal mit Gründeremphase die Kreisform und interveniert im Rund mit dirigistischem Gestus. Die Urhütte ist als Empfangssignal postiert und gibt zu verstehen, dass die in der Sammlung präsentierten Kunstwerke gegenüber der Urkonstruktion das Nachsehen haben (Abb. 3). Diese Auffassung vom primären Status der Architektur wurde auch von Oswald Ungers im Frankfurter Architekturmuseum oder später von Herzog & De Meuron am Basler Schaulager mit deren Urhüttenvariante beglaubigt.3 Der Euphemismus der Gründungslegende wird durch Argumentationsstrategien befestigt, die für die Architektur eine ausschließlich produktive gesellschaftliche Funktion behaupten. Exemplarisch zeigt sich diese Tendenz zur Affirmation etwa in der mit auf klärerischer Euphorie formulierten Architekturdefinition von Etienne-Louis Boullée. Für ihn erfüllt die Architektur alle entscheidenden Bedürfnisse des sozialen Lebens, die als Zukunftsversprechen für einen idealen Gesellschaftsentwurf völlig instrumentalisiert werden: Denkmäler vermitteln laut Boullée den Ruhm des Staatswesens, Friedhöfe stiften Moral, Kirchenbauten führen den Menschen geradewegs zum Glauben und letztlich stellen alle öffentlichen Bauten ein Bild des Glücks und der Freuden des Lebens vor Augen.4 Es ist nicht zu übersehen, dass in einer solchen Definition ein Plädoyer für die Architektur aufgehoben ist, das der Architektur den Sinn von positiver Wertstiftung und Normvermittlung auferlegt. Boullée teilt mit unzähligen anderen Theoretikern die Emphase der Gemeinschaft stiftenden Rolle von Architektur. 3 Zur Bauaufgabe des modernen Museums vgl. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Kunst im Bau (Schriftenreihe Forum 1), Göttingen 1994. 4 In diesem Sinne die Architekturdefinition bei Etienne-Louis Boulée: Essai sur l‘art, hg. von Jean-Marie Pérouse de Montclos, Paris 1968, S. 32-33: „L‘architecture est un art par lequel les besoins les plus importrants de la vie sociale sont remplis. Tous les monuments sur la terre propres à l‘établissement des hommes sont créés par les moyens dépendant de cet art bienfacteur. Il maîtrise nos sens par toutes les impressions qu‘il y communique. Par les monuments utiles, il nous offre l‘îmage du bonheur; par les monuments agréables, il nous présente les jouissances de la vie; il nous enivre de la gloire par les monuments qu‘il lui élève; il ramène l‘homme à des idées morales par les monuments funéraires et, par ceux qu‘il consacre à la piété, il élève notre âme à la contemplation du Créateur.“

Angst und Architektur

Mit diesem tief eingeprägten, idealistischen Bild von Architektur hat es zu tun, dass dabei gleichzeitig die pessimistische Kehrseite weitgehend ausgeblendet wurde. Schon der Urhüttenmythos kann Anlass zu Skepsis und Ernüchterung geben. So sieht zwar Antonio Filarete in seinem um 1460 geschriebenen Architekturtraktat noch in Adam den Erbauer der Urhütte, ihre Errichtung ist aber anschaulich in die Ära nach der Vertreibung aus dem Paradies verlegt (Abb. 4). Architektur ist bei Filarete nach dem Sündenfall aus der Notwendigkeit geboren, ihr primärer Zweck liegt im Schutz vor Regen und Sonne.5 Noch nachdrücklicher hatte vorher schon Giovanni Boccaccio die Architektur mit der negativen Dialektik des Zivilisationsbeginns verknüpft. Er stellt fest, dass Adam nur der Erfinder der Sprache, der Begründer der Architektur jedoch Kain, der bekanntlich seinen Bruder erschlagen hat, gewesen sei.6 Die Ansicht, weder Gott noch der erste Mensch, sondern der erste Mörder des Menschengeschlechts habe die Architektur erfunden, war anscheinend nicht so recht konsensfähig. So blieben es weiterhin Einzelstimmen, die gegen die schöne Gründungserzählung von der Baukunst und gegen die Idealisierung der Architektur als Gemeinschaft stiftende Instanz Einspruch erhoben. Radikal unterlaufen wird sie dann etwa in der 1767 erschienenen Gesellschaftstheorie des Abbé François Pluquet. Er begründet, dass die Menschen zum Häuserbau gezwungen seien, weil sie von Natur unbehaust und der Natur – also auch ihresgleichen – schutzlos ausgeliefert seien. Weder von göttlichen Eingabeplänen noch vom menschlichen Genius ist bei ihm die Rede, sondern von Angst. Im Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden hat es der Mensch von den schwächsten Tieren abgeschaut, sich in Höhlen zu verbergen, allmählich habe er Hütten errichtet, um seine Angst zu lindern und sich zu schützen.7 Damit ist das Thema angeschlagen, und vielleicht deuten die einleitenden Bemerkungen bereits an, dass es im Folgenden weder primär um heutige Architekturwahrnehmung noch um modernes architektonisches Sicherheitsdesign geht. Die Rede ist also weder von Klaustrophobie oder von deren Gegenteil, der Agoraphobie als der Angst vor räumlicher Weite, noch von der Tatsache, dass jedem Bau in Entwurf und materieller Substanz ein Angstszenario regelrecht eingebaut ist. Denn es besteht kaum ein Zweifel, dass ganze Gebäudef luchten von Alarmsignalen skandiert werden, und es steht außer Frage, dass beim Einplanen von Fluchtwegen, Notbeleuchtung und Brandabschnitten mit dem Schlimmsten schon gerechnet wurde. Die beängstigende Katastrophe ist immer schon vorschriftsmäßig einkalkuliert. 5 Antonio Filarete: Trattato di architettura, hg. von Anna Maria Finoli und Liliana Grassi, 2 Bde., Mailand 1972, S. 23-25. 6 So Boccaccio in De genealogia deorum, vgl. Gaus: Urhütte, S. 11. 7 François-André-Adrien M. l’Abbé Pluquet: De la Sociabilité, 2 Bde., Yverdon 1770, Bd. I, S. 14-16.

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IV. Architekturanthropologie

Vielmehr soll im Folgenden versucht werden, eine historische Konzeption von Angst und Architektur anhand einzelner markanter Bauaufgaben zu rekonstruieren. Die Behauptung, dass die Nützlichkeit von Architektur mit der Angst in Zusammenhang steht, beruht auf einem im Grunde simplen Dreischritt: Begreift man insbesondere öffentliche Bauaufgaben in ihrer politischen Funktion und ist Angst gleichzeitig ein zentrales Thema der Politik, so rücken unversehens Angst und Architektur in einen Begründungszusammenhang. Architektur diente in ihrem ganz erheblichen Umfang der öffentlichen Bauaufgaben der Bewältigung wie der Erzeugung von Angst im Herrschaftsraum. In der Vormoderne sind von diesem Mechanismus die Eliten wie die Mehrheiten gleichermaßen erfasst – die Obrigkeit sucht ihre eigene Angst bewältigen, indem sie bei den Untertanen durch Architektur Angst zu erzeugen sucht. Dem liegt ein Konf liktmodell zugrunde, das nachdrücklich von gesellschaftlichen Hierarchien und Differenzen ausgeht und in der Architektur ein Mittel zu deren Errichtung und Erhaltung sieht. Der Blick richtet sich also nicht primär auf die Gemeinschaft stiftende Rolle von Architektur, sondern auf deren Kehrseite, die Bedeutung der Architektur für die Segmentierung von Gesellschaft mittels Ab- und Ausgrenzung – sei es einzelner Gesellschaftsgruppen oder sei es sogar der Mehrheit der Gesellschaft. Während Architektur als umbauter Raum und insbesondere die gestaltete Fassade kommunikative Distanzen reguliert, lassen sich anhand einzelner Bauaufgaben zugleich Kreise gesellschaftlicher Exklusion mit jeweils unterschiedlichen Radien ziehen. In der Konzentration auf die Frühe Neuzeit zeigt sich auch für dieses Problem, dass in den Jahrhunderten nach etwa 1400 bis in die Gegenwart fortwirkende Prozesse oftmals schärfer als in den heutigen Zeiten hervortreten, eben weil sie in dieser Epoche in Gang gesetzt wurden.

Die Befestigung von Herrschaft – über Stadtmauern und Fürstenresidenzen Die zweifache Funktion jeder Stadtmauer ist in den Fresken von Ambrogio Lorenzetti für einen Ratssaal im Palazzo Communale von Siena markant vor Augen geführt. Der gesamte Freskenzyklus stellt eine weitläufige verbildlichte Regierungslehre dar, deren zentrales Thema die Konstitution und Bewahrung eines höchst labilen, kommunalen Regierungssystems ist. Im Jahr 1340 vollendet, stehen die Malereien zeitlich nicht nur am Ende einer etwa zweihundertjährigen Hochkonjunktur des Mauerbaus, in ihnen wird auch die Fortifikation der Stadt als integraler Bestandteil der Regierungspraxis vorgeführt.8 In der Darstellung 8 Aus der umfangreichen Literatur zu dem Freskenzyklus vgl. nur mit weiterer Literatur die zusammenfassenden Überlegungen von Hans-Martin Kaulbach: Friede als Thema der bildenden Künste – Ein Überblick, in: Wolfgang Augustyn (Hg.): PAX. Beiträge zu Idee und Darstellung des Friedens, München 2003, S. 161-242, hier 163-164. Allgemein zur Stadtmauer

Angst und Architektur

der Auswirkungen des guten Regiments schwebt über den Mauern die Personifikation der Rechtssicherheit (Abb. 5). Die Benennung der gef lügelten, fast nackten Mädchengestalt als „Securitas“ ist im Fresko eingetragen. Der Begriff der „Securitas“ taucht im Lateinischen offenbar erstmals bei Cicero auf. Im Bildgefüge ist die Allegorie der Stadtmauer mit dem städtischen Wahrzeichen, der von Rom adoptierten Sieneser Wölfin mit den Zwillingen, zugeordnet. Die zum Betrachter gewandte Personifikation erteilt eine Drohung und gibt zugleich ein Versprechen. Denn während sie in der Linken den Galgen mit einem Gehengten als Symbol der Hochgerichtsbarkeit präsentiert, garantiert sie den Bewohnern den Erwerb ihres Lebensunterhalts ohne Angst. Die Inschrift auf der Schriftrolle in ihrer Rechten hebt mit der Behauptung an, dass jeder ohne Angst unter der Herrschaft der Kommune frei seiner Wege gehen und seine Felder bestellen könne.9 In der Verschränkung von bildlicher und inschriftlicher Mitteilung erläutert die Figur somit einen Funktionszusammenhang von Befestigungsarchitektur, der zwischen den Polen von Sicherheit und Angst – „securitas“ und „paura“ – aufgespannt ist. Weit über den faktischen Verteidigungswert hinaus besteht der Symbolcharakter der Stadtmauer darin, dass sie einen Herrschaftsraum abzirkelt, innerhalb dessen den Bewohnern eine durch Drohung herbeigeführte Befreiung von der Angst in Aussicht gestellt ist. Die Ambivalenz von Umfriedung und Abschreckung wird nicht nur durch die Baugestalt der Stadtmauer signalisiert. Sie war durch die in den Mauern selbst vollzogene praktische Nutzung eine Lebensrealität. Die Nutzung wird beispielhaft von Michel de Montaigne anlässlich seines Besuchs in Augsburg im Jahr 1580 geschildert. Montaigne wurde der sogenannte Alte Einlaß zwar als ingenieursmäßiges Schaustück vorgeführt, doch sein Bericht macht die ebenso ermüdende wie einschüchternde Einlassprozedur nachvollziehbar. Man muss sich den Bericht ausführlicher vergegenwärtigen, um zu verstehen, in welchem Ausmaß die Stadtmauer stets auch als eine Angstbarriere fungierte. Im prinzipiellen Argwohn gegenüber dem Ankömmling kamen zahllose Sicherungsmechanismen zum Einsatz, mit denen buchstäblich jedem Schritt Einhalt geboten werden konnte. Man Cesare De Seta und Jacques Le Goff (Hg.): La città e le mura, Rom/Bari 1989; zu Stadttoren Stefan Schweizer: Zwischen Repräsentation und Funktion. Die Stadttore der Renaissance in Italien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 184), Göttingen 2002; Marion Hilliges: Das Stadt- und Festungstor. Fortezza und sicurezza – semantische Aufrüstung im 16. Jahrhundert (humboldt-schriften zur kunst- und bildgeschichte 16), Berlin 2011. 9 Die Inschrift lautet: „Sença Paura Ognuom Franco Camini · E Lavorando Semini Ciascuno Mentre Che Tal Comuno · Manterrà Questa Donna In Signoria · Che Alevata Arei Ogni Balia“. Vgl. Gabriele Borghini: La decorazione, in: Cesare Brandi (Hg.): Palazzo Pubblico di Siena. Vicende costruttive e decorazione, Siena 1983, S. 145-349, hier S. 221 und Abb. 248. Zum Begriff John Hamilton: Security. Politics, Humanity, and Philology of Care, Princeton 2013.

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IV. Architekturanthropologie

hört in der Schilderung Montaignes die Ketten rasseln und die Eisentüren ins Schloss schlagen. Der Ankömmling hatte des Nachts vor der eisenbeschlagenen äußeren Tür an einer Glockenkette zu ziehen, die ihn dem Wärter im Turmgelass meldete. Nachdem er seinen Namen und seine Adresse in der Stadt genannt hat, führt ihn die geöffnete und hinter ihm sofort wieder ins Schloss fallende Tür auf die Brücke über den Stadtgraben. Von dort gelangt er in einen ersten Pförtnerraum und hat nochmals Namen und Adresse zu nennen. Durch einen unsichtbaren Windenmechanismus wird eine Zugbrücke herabgelassen, die der Ankömmling passiert und die hinter ihm mit Getöse wieder hochfährt. „Der Fremde“ – so schreibt Montaigne – „findet sich nun in einem Saal und sieht auf dem ganzen Weg niemand, mit dem er sprechen könnte.“ In dem Saal harrt er aus, nachdem man ihn erneut eingeschlossen hat, bis sich dann eine Eisentür zu einem weiteren Saal öffnet. Erst hier tritt der Ankömmling nun aus der bisherigen Dunkelheit in den Schein einer Fackel. Er hat in eine von der Decke herunter gelassene Eisenschale das Einlassgeld zu entrichten. Der Pförtner windet die Schale hinauf und wenn ihm der Betrag als zu gering erscheint, hält er den Fremden bis zum nächsten Morgen eingeschlossen. Ist er mit der Summe zufrieden, so entlässt er ihn in die Stadt, das letzte Eisentor schließt sich unverzüglich hinter ihm. „Et le voilà dans la ville“ – atmet Montaigne am Schluss der Schilderung auf.10 Die Vorkehrungen enthüllen ein Klima extremer Unsicherheit und gleichzeitig eine Szenerie exzessiver Bedrohung: Fünf eisenbewehrte Türen, eine Grabenpasserelle und eine Zugbrücke, Kettenzüge, Dunkelheit, Stille und abrupter Lärm, zwei unsichtbare, willkürlich agierende Wärter, Personenkontrollen – und für die Prozedur zu zahlen hat am Ende der Passierende selbst. Es handelt sich um ein System der Angsterzeugung und der Angstbewältigung, das der sozialen Kontrolle und Filterung dient. Einschüchterung sollte den Fremden beim Eintritt in den kommunalen Raum den dort geltenden Regeln unterwerfen und zugleich im Inneren dazu beitragen, die Fiktion einer friedlichen Stadtgemeinschaft aufrecht zu erhalten. Wendet man den Blick von der Stadtmauer zur Residenzarchitektur, so wird schnell deutlich, dass auch die Fürsten keineswegs aus einem Szenario der Angst entlassen waren. Der Angstkonf likt kam beim Residenzbau vielmehr immer wieder explizit zur Sprache, so wie über ihn auch in der politischen Theorie am ausführlichsten im Zusammenhang mit der Fürstenherrschaft nachgedacht wurde. Leon Battista Alberti, der sich aufgrund seiner persönlichen Erfahrung als Exilant in seinen Schriften als ein äußerst aufmerksamer Protokollant der Angstwahrnehmung erweist, geht in seinem Architekturtraktat aus dem Jahr 1450 von der strikten Unterscheidung zwischen König und Tyrann – „rex“ und „tyranno“ – aus. Er attestiert dem König einen Rang, in dem er „weise und väterlich über ein willi10  Michel de Montaigne: Journal de voyage, hg. von Fausta Garavini, Paris 1983, S. 130-132.

Angst und Architektur

ges Volk herrscht und nicht so sehr von seinem Vorteil als vom Heile und Nutzen seiner Bürger geleitet wird.“11 Der Tyrann habe seine Herrschaft durch Unterwerfung an sich gerissen und übe sie gegen den Willen der Untertanen aus. Die auf Konsens beruhende Regierung erlaubt es dem König, in der Stadt zu wohnen und seine Herrschaft an den Mauern der Residenzstadt gegen auswärtige Feinde zu verteidigen. Hingegen hat der Tyrann an mehreren Fronten mit Gegnerschaft zu rechnen: „Der Tyrann aber muss, da ihm die Seinen ebenso Feinde sind wie die Fremden, seinen Staat nach beiden Seiten befestigen, gegen die Fremden und gegen die Seinen, und zwar so befestigen, dass er sich sowohl der Fremden als auch der Seinen gegen die Seinen als Unterstützung zu bedienen vermag.“ Alberti antwortet auf diese Herausforderungen mit dem Vorschlag einer Segmentierung der Stadttopographie. Sie kann bereits durch natürliche Gegebenheiten wie durch einen trennenden Fluss oder durch einen hügeligen Geländeverlauf befördert werden, sie kann aber auch durch die Errichtung von Mauern innerhalb der Stadt durchgesetzt werden. Das Kastell bildet am Rande der Stadt, aber noch innerhalb des Mauerrings gelegen und mit eigener Fortifikation ausgestattet, einen separierten Herrschaftsbezirk. Die Baugestalt soll laut Alberti imponieren und zugleich Kontrolle gewährleisten. Das Kastell in Mailand entspricht geradezu mustergültig diesen Vorgaben. Der Bau illustriert damit auch, dass Alberti mit seinen Überlegungen bereits bestehende Gepf logenheiten des Residenzbaus normativ festschreibt. Die ausgedehnte Vierf lügelanlage mit dem stadtseitigen, hoch aufragenden Torturm ist im Westen der Stadt vor der Porta Giovia gelegen. Das heute bestehende Castello Sforzesco (Abb. 6) wurde ab 1450 an Stelle des Kastells der Visconti errichtet, das während des Zwischenspiels der Ambrosianischen Republik als Symbol der Tyrannei bis auf die Grundmauern zerstört worden war.12 Der letzte ViscontiHerzog Filippo Maria hatte schon verfügt, dass jeder, der das Kastell betrat, zu durchsuchen sei; Passanten war es verboten, vor den Fenstern stehen zu bleiben. Offensichtlich genügten die Mauern allein nicht, der Angst des Fürsten Einhalt zu gebieten. Bedenkt man, dass sich der Herzog zeitlebens in zahllosen Kriegen als Feldherr hervorgetan hat, so ist kaum persönliche Feigheit zu vermuten. Eher ist von einer herrschaftstypischen Angst auszugehen, bei der die eigene Angstbewältigung als Gegenreaktion stets die Einschüchterung nach außen mit enthält. Francesco Sforza hat dann mit dem Wiederauf bau des Kastells an das Machtkal11 Zu den folgenden Zitaten und Paraphrasen in Buch V, Kap. 1: Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, hg. von Max Theuer, Darmstadt 1988, S. 219-22 sowie die kritische lateinisch-italienische Ausgabe L.B. Alberti: L’architettura, hg. von Giovanni Orlandi, 2 Bde., Mailand 1966, S. 332-339. Zum Kontext auch Stanislaus von Moos: Turm und Bollwerk. Beiträge zu einer politischen Ikonographie der Renaissancearchitektur, Zürich 1974. 12 Zur Anlage mit den folgenden Belegen Evelyn S. Welch: Art and Authority in Renaissance Milan, New Haven/London 1995, S. 169-202.

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IV. Architekturanthropologie

kül der Verbarrikadierung des Hofes gegenüber der Stadt und der Drohgebärde gegen die Stadt angeknüpft. Mit dem Wiederauf bau setzte er sich in eklatanter Form über die Vertragsvereinbarungen mit der Bürgerschaft hinweg, mit denen dem Condottiere die Regierung angetragen worden war. Die Wiedererrichtung des Kastells hat der neue Herr aus der Notwendigkeit begründet. Er dekretierte, dass das Kastell seinen persönlichen Schutz und die „securitas“ der Stadt garantiere. Von der Kommune hingegen wurde der Neubau unverzüglich als ein Akt der Unterwerfung aufgenommen. Die Befestigung blieb beim europäischen Residenzbau der Frühen Neuzeit allerdings nur ein Trend; seit der Mitte des 15. Jahrhunderts trat ihm die Tendenz zur Entfestigung an die Seite. Im Anschluss insbesondere an den Florentiner Palastbau und in der Rezeption Albertis entstanden fürstliche Stadtresidenzen und Ville suburbane, die auf eine funktionale Fortifikation verzichteten. Bisweilen wurden traditionelle Wehrelemente heraldisch oder dekorativ umgedeutet. Beispielhaft zeigt sich dieser Trend an dem ab 1454 unter Federico da Montefeltro errichteten Palazzo Ducale in Urbino.13 In dieser Entwicklung spiegelt sich nicht nur der Versuch fürstlicher Dynastien, die kulturelle Herausforderung des patrizischen Mäzenatentums – wie etwa der Medici – anzunehmen. Sie wurde auch von dem Anspruch getragen, durch eine auf Stadt und Land geöffnete Residenzarchitektur den alten Idealen des gerechten Fürsten und einer auf Herrschaftskonsens beruhenden Regierung Gestalt zu geben. Die pragmatische Kehrseite dieser architektonischen Imagepf lege bestand nun allerdings darin, dass es sich bei den Bauherren dieser neuen Residenztypen samt und sonders um Condottieri handelte. Diese Militärunternehmer unterhielten ständig Truppenkontingente, die sie anderen Staaten offerierten, die sie aber auch in ihren eigenen Territorien einsetzen konnten. Herrschaft wurde durch diese neue Verteilung der Machtmittel nicht mehr allein durch Befestigung, sondern durch stehende Heere gesichert. Die entfestigte Fürstenresidenz erscheint im Wortsinn als die Schaufassade einer Herrschaft, die es sich leisten konnte, sich der Angst nicht mehr mit architektonischen Mitteln zu bedienen. Obwohl sich gerade an diesen Gegebenheiten in der Folgezeit nicht viel änderte, ist es bemerkenswert, dass die Begründungstopik von Angst und Architektur auch im Kontext des Residenzbaus weiterhin überlebte. Sie wird an ganz exponierter Stelle im Zusammenhang mit der Vollendung des Louvre-Palastes in

13 Zu diesem Aspekt Andreas Tönnesmann: Zwischen Bürgerhaus und Residenz. Zur sozialen Typik des Palazzo Medici, in: Andreas Beyer und Bruce Boucher (Hg.): Piero de’Medici „il Gottoso“ (1416-1469). Kunst im Dienste der Mediceer, Berlin 1993, S. 71-88; Ders. und Bernd Roeck: Die Nase Italiens. Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino, Berlin 2005.

Angst und Architektur

Paris um die Mitte des 17. Jahrhunderts noch einmal mobilisiert.14 Auch bei der Residenz der französischen Könige handelte es sich nun nicht mehr um einen Kastellbau, sondern um eine mitten in der Metropole gelegene und seinerzeit bereits entfestigte Schlossanlage. Gerade deshalb wurden bei der Planung für den Hauptfassadentrakt der Residenz die Sicherheit des Hausherrn und der Respekt der Untertanen vor dem Bau regelrecht zu Planungsprämissen erhoben. Im Jahr 1664 hat man Gian Lorenzo Bernini mit einem Entwurf für den Ostf lügel der Cour Carrée beauftragt. Bernini konzipierte einen Fassadenkörper, der in weiter Kurvatur von einem ovalen Mittelrisalit zu den Seitenf lügeln ausschwingt (Abb. 7). Die Öffnung des Baus durch zweigeschossige, von der kolossalen Pilasterordnung eingefasste Arkaden wird nur an den durchfensterten Seitenrisaliten zurückgenommen. Die mit den französischen Lilien besetzte Königskrone auf dem Kuppeltambour in der Fassadenmitte bildet das formale wie auch das ikonographische Zentrum der Schaufassade. Mit der Überführung der monarchischen Insignie in die monumentale Bauform der Kuppel hoffte Bernini die Planungsvorgaben zu erfüllen, die ihm aus Paris auferlegt waren. Die Direktiven suchten in ihrer Ansprüchlichkeit einen Palastbau als Monument der „gloire“ des Königs regelrecht zu erzwingen. Der damalige Finanzminister und Oberbauintendant, Jean-Baptiste Colbert, verwarf den Entwurf Berninis allerdings sofort. In einem Memorandum stellt er fest, dass der Bau nicht nur nach seiner „magnificence“ und seiner „commodité“ zu beurteilen sei, sondern auch nach seiner „seureté“. Der Sicherheitsaspekt wird mit einer deutlichen Anspielung auf die Ereignisse der Fronde begründet, im Zuge derer die Königsfamilie 1648 zur Flucht aus Paris gezwungen gewesen war. Colbert sieht „seureté“ allerdings nicht primär in der tatsächlichen Fortifikation des Baus gewährleistet, sondern in der Anwendung einer Einschüchterungsästhetik. Die „qualité“ des Palastes könne das Volk zu dem ihm anstehenden Gehorsam veranlassen, es sei deshalb notwendig, dass die ganze Baugestalt den Untertanen Respekt einpräge und bei den Untertanen einen Eindruck von der Macht des Baus hinterlasse. Zugleich erläutert Colbert, dass es bereits die Disposition dem Betrachter ermöglichen müsse, den Bau mit einem Blick zu erfassen. Es sei notwendig, dass man sowohl an der Fassade wie im Inneren einer großen Fürstenresidenz deren gesamte Aufteilung mit einem Blick erkennen könne.15 Sicherheit ist bei Colbert im Wesentlichen ein Ausdrucks14 Zum folgenden Dietrich Erben: Paris und Rom. Die staatlich gelenkten Kunstbeziehungen unter Ludwig XIV. (Studien aus dem Warburg-Haus 8), Berlin 2004, S. 72-75. 15 Die einschlägige Passage aus dem Memorandum Colberts vom September 1664 lautet: „La première observation qui se doit faire est que ce superbe palais doit estre regardé nonseulement pour sa magnificence et pour sa commodité, mais mesme pour sa seureté, estant le principal séjour des rois dans la plus grande et la plus peuplée ville du monde, sujette à diverses révolutions. Il est nécessaire de bien observer que dans les temps fascheux, qui arrivent presque toujours pendant les minorités, non-seulement les rois y puissent estre en

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IV. Architekturanthropologie

wert des Gebäudes, der sich dem Betrachter durch die simultane Überschaubarkeit des Baus mitteilt. Colbert skizziert in seiner Kritik an Bernini die Vorgaben für ein Monument der Autorität des Königs. Dabei bedurfte die Residenz nicht – wie es Bernini vorgeschlagen hatte – des Baudekors einer Insignie, die den monarchischen Status des Bauherrn abbildet. Verlangt wurde eine Architektur, die eine sichtbare Demonstration der Behauptungsfähigkeit königlicher Herrschaft darstellte. Dass dabei einmal mehr das Motiv der Angsterzeugung in Anschlag gebracht wird, verleiht dem Räsonnement Colberts seine aggressive Wendung. Nur am Rande sei noch bemerkt, dass Bernini mit seinen Alternativentwürfen zwar versuchte, den Planvorgaben nachzukommen, seine Pläne aber schließlich verworfen wurden. Mit der realisierten Fassade wurde dann unter veränderten Umständen eine völlig neuartige Lösung des Problems gefunden. Vergegenwärtigt man sich nochmals die vorgestellten Bauwerke, so rücken Herrschaftsstrategien ebenso ins Zentrum der Aufmerksamkeit wie ein Begründungszusammenhang, der um die Begriffe von Angst und Sicherheit kreist. Da sich diese Terminologie als bemerkenswert konstant, ja als irritierend monoton darstellt, bedarf sie eines genaueren Kommentars. Angst bildet – dies hat die historische Forschung erst in den letzten Jahren wieder deutlicher ins Bewusstsein gerückt – einen Grundbegriff im Nachdenken über Politik.16 Bereits Thukydides sieht im Streben nach Ehre und Besitz sowie in der Angst die Triebkräfte des politischen Handelns.17 Der aus der Zeit der römischen Republik stammende, von Seseureté, mais mesme que la qualité de leur palais puisse servir à contenir les peuples dans l’obéissance qu’ils leur doivent, sans toutefois qu’il soit nécessaire de construire pour cela une forteresse, mais seulement d’observer que les entrées ne puissent estre facilement abordées et que toute la structure imprime le respect dans l’esprit des peuples et leur laisse quelque impression de sa force.“ Jean-Baptiste Colbert: Lettres, instructions et mémoires de Colbert, hg. von Pierre Clément, 6 in 10 Bden., Paris 1861-1882 (Neudr. Nendeln 1979), Bd. V, S. 246. 16 Neben der klassische Studie von Jean Delumeau: La peur en occident (XIVe-XVIIe siècles). Une cité assiégnée, Paris 1978 vgl. Heinz Wiesbrock (Hg.): Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, Frankfurt/M. 1967; William J. Bouwsma: Anxiety and the Formation of Early Modern Culture, in: Barbara C. Malament (Hg.): After the Reformation. Essays in Honor of J.H. Hexter, Manchester 1980, S. 215-246. Instruktiv als Übersicht und mit weiterer Literatur Franz Bosbach (Hg.): Angst und Politik in der europäischen Geschichte, Dettelbach 2000. Die übliche begrifflichen Unterscheidung von Angst als einem ungerichteten und Furcht als einem objektbezogenen Gefühl lässt sich weder im Hinblick auf die Verwendung der Begriffe in der Literatur noch im Hinblick auf den allgemeinen Sprachgebrauch aufrecht erhalten und wurde daher auch im vorliegenden Zusammenhang nicht explizit gemacht; vgl. H. Häfner: Angst, Furcht, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. I, Basel/ Stuttgart 1971 und die einschlägigen Beiträge zur Angst in: Volker Panzer (Hg.): Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens, Frankfurt/M. 2000. Zu der seit den 2000er Jahren intensivierten historischen Emotionsforschung Ute Frevert u.a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt/M. 2011. 17 Referenz ist die berühmte Passage aus dem Peloponnesischen Krieg, I, 75, 3.

Angst und Architektur

neca überlieferte Wahlspruch „Oderint dum metuant“18 war als politische Maxime abruf bar. Aristoteles hatte eine ausgefeilte Angstlehre entwickelt, die im Rahmen der Rhetorik und der Affekttheorie als allgemeines Bildungsgut bis weit in die Neuzeit hinein überliefert wurde. Damit erweist sich das Thema unversehens als Teil frühneuzeitlicher Antikenrezeption und insbesondere als eine antiquarische Bildungsvoraussetzung für den politischen Vorstellungshorizont der Epoche.19 Auf diese Traditionen konnte sich Nicolò Machiavelli in seinem Principe von 1513 berufen. Weitaus deutlicher als vordem hat Machiavelli die Herrschaft des Fürsten in der Relation zu den Untertanen sowie im Verhältnis zu den benachbarten Mächten bestimmt. Sowohl innen- als auch außenpolitisch plädiert er dabei für Angst als Voraussetzung für die Errichtung und Sicherung von Herrschaft. Machiavelli stellt die Frage, ob es besser für den Fürsten sei, geliebt oder gefürchtet zu werden. In seiner nachfolgenden Begründung schließt sich die Begriff lichkeit von Sicherheit und Angst – hier mit den Worten „sicuro“ und „temuto“– zusammen: „Die Antwort ist, dass man das eine wie das andere sein sollte. Da man aber schon den Mangel an einem von beiden in Kauf nehmen muss und da es schwerfällt, beides zu vereinigen, ist es viel sicherer, wenn der Fürst gefürchtet wird, als wenn er geliebt wird. [...] Gleichwohl darf ein Fürst nur so viel Angst verbreiten, dass er, wenn er dadurch schon keine Liebe gewinnt, doch keinen Hass auf sich zieht; denn er kann sehr wohl gefürchtet werden, ohne verhasst zu sein.“20 Auf die Angst der Untertanen und der benachbarten Herrscher hat der Fürst mit dem doppelten Mittel der persönlichen Tapferkeit einerseits und der Garantie staatlicher Ordnung andererseits zu antworten. Die „fortitudo“ des Fürsten und die „securitas“ des Staates sind somit als zentrale Kategorien der klassischen Tugend- und Regierungslehre unmittelbar aus dem Angstbegriff entwickelt und mit ihm verknüpft. Diese von Machiavelli grundgelegte politische Theorie der Angst blieb für die gesamte Frühe Neuzeit verbindlich. Brüchig wurde sie erst im Zuge der Auf klärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts. So identifiziert Montesquieu im Esprit des lois von 1775 nun das Programm Machiavellis dezidiert mit der Despotie und nicht 18 Vgl. auch Cicero: De officiis 1, 28. Zur römisch-antiken Angstlehre Alfred Kneppe: Metus und Securitas. Angst und Politik in der römischen Kaiserzeit, in: Bosbach: Angst und Politik, 5366. 19 Hierzu Gerrit Walther: Adel und Antike. Zur politischen Bedeutung gelehrter Kultur für die Führungselite der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 359-385. 20 Nicolò Machiavelli: Il Principe, in: Ders.: Opere, hg. von Sergio Bertelli, 11 Bde., Verona 19681982, Bd. I, 1968, Cap. XVII: „Rispondesi che si vorrebbe essere l’uno e l’altro; ma perché egli è difficile accozzarli insieme,e molto più sicuro essere temuto che amato, quando si abbia a mancare dell’uno de‘ dua. [...] Debbe nondimanco el principe farsi temere in modo che, se non acquista lo amore, che fugga l’odio; perché può molto bene stare insieme essere temuto e non odiato.“

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mehr allgemein mit dem Fürstenstaat. Nur die despotische Regierung bedürfe der Angst, während die Republik auf der Tugend und die Monarchie auf der Ehre beruhe. Die „crainte“ gilt Montesquieu als Anfangsgrund und Triebkraft aller Despotie.21 Trotz dieser deutlich ausgesprochenen, theoretisch ausformulierten und für die gesamte Frühe Neuzeit verbindlichen Angstlehre gilt es allerdings nachdrücklich zu betonen, dass Angst im offiziellen Schlagwortrepertoire der politisch Handelnden bestenfalls sporadisch und an marginaler Stelle erscheint22 – daran hat sich bis heute im Grunde nichts geändert. Weder konnte es für die Eliten in Frage kommen, ihre eigene Angst zuzugeben, noch war es opportun, Angst als Mittel der Politik offen zu behaupten. Denn kommt es schlicht dem politischen Selbstmord gleich, die eigene Angst einzugestehen, so musste im Hinblick auf die Erzeugung von Angst jede auch nur latente Assoziation an Tyrannei und Diktatur tunlichst vermieden werden. Gerade in seiner Tabuisierung im politischen Diskurs erschließt sich die beträchtliche Reichweite des Problems selbst. Methodisch sei zu diesem Befund anmerkt, dass sich die Tatsache des weitgehenden offiziellen Verschweigens von Angst als angewandtes Mittel der Politik in paradoxer Umkehr für die Kunstgeschichte fruchtbar machen lässt. So liegt es in der besonderen Natur der Sache, dass eine ausschließlich auf die Schriftüberlieferung fixierte historische Rekonstruktion an ihre auferlegten Grenze stößt, während sich umgekehrt durch das Verständnis von Architektur als Herrschaftsmittel die Einsicht in klandestine Strategien der Angst eröffnet. Bleibt man noch für einen Moment bei der Politik, verlagert aber die Perspektive von den einzelnen Akteuren der Herrschaft auf die Masse als anonymes Objekt der Angst, so lässt sich die Spurensuche weiter fortsetzen. Wenn Alberti die Konfrontation des Fürsten mit den Untertanen eröffnet und räumliche Separierungen vorschlägt oder wenn Colbert den „peuple“ auf Distanz zum Königspalast gehalten wissen will, so ist damit ein Angstpotential angesprochen, auf das dann mit dem Ausschluss der Masse mittels Architektur reagiert wurde.

21 Charles-Louis de Secondat de Montesquieu: De l’esprit des lois, hg. von Robert Derathé, 2 Bde., Paris 1973, Livre III, 9: „Comme il faut de la vertu dans une république, et dans une monarchie, de l’honneur, il faut de la CRAINTE dans un gouvernement despotique.“ (Hervorhebung im Original). 22 Dazu auch Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992, bes. S. 269-273.

Angst und Architektur

Der Staat und die Masse – über Gefängnisse Eines der eindrucksvollsten Beispiele für einen Monumentalbau, der unter der Vorgabe geplant ist, Menschenmassen aufzunehmen und zugleich durch Segregation zu kontrollieren, ist das Kolosseum.23 Die Arena besitzt ein kalkuliertes System von klar voneinander abgeteilten Rängen. Aufwendige Substruktionen, gewölbte Gänge und Treppen dienten dem reibungslosen Zu- und Abf luss der Zuschauermassen und dem Sortieren nach dem gesellschaftlichen Rang. Kaum anders als in den protestantischen Kirchen des 16. Jahrhunderts oder den Opernhäusern des 19. Jahrhunderts konnten sich die Angehörigen der oberen Schichten und das Volk aus dem Weg gehen. Freilich wurde die ganze Logistik des Baus nicht nur zur Verdeutlichung und Einprägung der sozialen Schichtung erfunden. Die kleinteilige Baustruktur mit ihren unzähligen voneinander abgegrenzten Zuschauerzellen und separaten Zugängen ermöglichte auch eine blockweise Zwangsräumung bei Tumulten. Somit ist bereits ein Gründungsbau der Massenveranstaltung auf eine Vermeidungstaktik hin konzipiert, die mit dem Mittel der Segregation der Masse operiert. Dem Ziel der gesellschaftlichen Disziplinierung diente traditionell eine spezielle Institution, nämlich das Gefängnis. Erst allmählich gewann diese Einrichtung auch eine eigene architektonische Prägung – ein Vorgang, der unmittelbar mit dem Wachstum der Staatsgewalt in der Frühen Neuzeit und mit veränderten Praktiken des Strafvollzugs verbunden ist. Zunächst in Kastelle und Rathäuser eingegliedert oder in anderen öffentlichen Bauten in sekundärer Nutzung untergebracht, entwickelte sich das Gefängnis im Lauf des 16. Jahrhunderts zu einer eigenen Bauaufgabe, die seit dem späten 18. Jahrhundert ihre andauernde Konjunktur entfaltete.24 Einer der frühesten separat konzipierten Gefängnisbauten ist zugleich einer der bis heute berühmtesten, der durch die Seufzerbrücke mit dem Dogenpalast verbundene Palazzo delle Prigioni in Venedig. Erste Planungen für den weitläufigen, um einen Innenhof organisierten Komplex mit dem für die Polizeibehörde reservierten Fassadenbau und dem rückwärtigen Zellentrakt wurden 1563 vorgelegt. Die Anlage ist Teil eines höchst anspruchsvollen Bauprogramms für das kommunale Zentrum der Republik an der Piazza San Marco. Das Bauprogramm

23 Zusammenfassend Paul Zanker: Augustus und die Macht der Bilder, München 1987, S. 154156. 24 Zur Bauaufgabe vgl. Robin Evans: The Fabrication of Virtue. English Prison Architecture 17501840, Cambridge 1982; Thomas A. Markus: Building and Power. Freedom and Control in the Origin of Modern Building Types, London/New York 1993 und zum Folgenden insbesondere Andreas Bienert: Gefängnis als Bedeutungsträger. Ikonologische Studien zur Geschichte der Strafarchitektur, Frankfurt/M. 1996.

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beruht auf der Idee einer Wiederbelebung des antiken Forumsgedankens.25 Mit der Errichtung des Gefängnisses wurde nicht nur die repräsentative Stadtfassade zum Meer geschlossen, sondern auch die Forumsidee zu einem Abschluss geführt (Abb. 9). Der mit vollständig rustizierten Fronten und an der Seefassade mit einer dorischen Ordnung gegliederte Gefängnisbau (Abb. 10) entstand als Pendant zur staatlichen Münze, die rückseitig an die Markusbibliothek angrenzt. Schon Vitruv (V, 2) verweist auf die Nachbarschaft von Herrscherpalast, Bibliothek, Münze und Gefängnis als Kennzeichen der Randbebauung antiker Forumsanlagen. Andrea Palladio hat in den Quattro libri (III, 17) die Forderungen Vitruvs aufgegriffen. Zur Aktualisierung des Forumsgedankens gehörte in Venedig nicht nur die Ansiedlung zentraler Hoheitsfunktionen um den Zentrumsbereich. Gerade die Einbeziehung des Gefängnisses in dieses Bauprogramm deutet auf einen Disziplinierungswillen, der sich ebenfalls ganz deutlich auf bereits in der Antike formulierte Vorgaben stützt. Eine Schlüsselstelle bildet eine Passage im Geschichtswerk über die Gründung Roms von Livius. Bei Livius heißt es: „Als nach der so ungeheuren Zunahme der Unübersichtlichkeit in dieser gewaltigen Menschenmenge die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht verschwamm und heimliche Verbrechen geschahen, wird mitten in der Stadt am Forum ein Kerker zur Abschreckung gegen die immer mehr zunehmende Dreistigkeit errichtet.“26 Offensichtlich hat man sich im Kreis der venezianischen Bauherren unmittelbar auf diese Passage bei Livius berufen. Dafür spricht unter anderem auch die Tatsache, dass man den bei Livius genannten Erbauer des römischen Kerkers, Ancus Martius, mit einer Statue auf der Balustrade der Bibliothek von San Marco gewürdigt hat.27 Mit dem durch die Textüberlieferung vollzogenen und durch die Statue anschaulich gemachten Verweis auf die Motive der Errichtung des Kerkers am römischen Forum war auch für den Gefängnisbau in Venedig die Legitimation formuliert. Die Niederlassung zahlreicher Institutionen an der Piazza San Marco schuf eine städtische Öffentlichkeit, die zugleich beträchtliche Gefahren für die Sicherheit des Staatswesens herauf beschwor. Dieser Zwiespalt wurde letztlich durch die Forumsidee selbst eröffnet, und man suchte ihm zu entkommen, indem man den Massen, die man auf das Forum rief, das Monument sozialer Aussperrung warnend vor Augen stellte. So stellt sich die Errichtung des Gefängnis-

25 Thomas Hirthe: Il „Foro all’antica“ di Venezia. La trasformazione di Piazza San Marco nel Cinquecento (Centro tedesco di studi veneziani. Quaderni 35), Venedig 1986. 26 Livius: Ab urbe condita, I,33,8: „Ingenti incremento rebus auctis, cum tanta multitudine hominum, discrimine recte an perperam facti confuso, facinora clandestina fierent, carcer ad terrorem increscentis audaciae media urbe imminens foro aedificatur.“ Vgl. Bienert: Gefängnis, S. 94. 27 Neben Bienert: Gefängnis, S. 93 auch Thomas Hirthe: Die Liberia des Jacopo Sansovino, in: Münchner Jahrbuch für bildende Kunst 37 (1986), S. 131-177, hier S. 159-160.

Angst und Architektur

ses am Hauptplatz der Republik als eine – soziologisch gesprochen – Maßnahme zur Reduktion komplexer sozialer Verhältnisse dar. Mit dem historischen Wandel haben sich bei späteren Theoretikern des Gefängnisbaus zwar die Akzente verschoben, doch das legitimierende Standardargument aus dem Geist der Abschreckung erweist sich ähnlich wie beim Residenzbau von überraschender Zählebigkeit. Im Hinblick auf die Abschreckungsidee stieß man allerdings bald auf das Dilemma, wie Wegschließung und Abschreckung miteinander zu vereinbaren und effizient zu bewerkstelligen wären: Der Gefangene kann nur sicher verwahrt werden, wenn er dem Blick der Außenwelt entzogen und das Gefängnis unzugänglich ist. Die Funktionsabläufe bleiben aber dadurch der Außenwelt verborgen und können somit nicht der Abschreckung dienen. Das architektonische Gehäuse selbst muss also die Rolle der Abschreckung übernehmen. So wendet sich bereits der bedeutende italienische Strafrechtreformer Cesare Beccaria in seiner Schrift Dei Delitti e delle Pene von 1764 entschieden gegen den Vollzug blutiger Strafrituale, beharrt aber gleichzeitig auf dem Gedanken generalpräventiver Abschreckung. Sie erwartete er nicht länger von sporadischen Beispielen exemplarischer Abstrafungen, sondern vom Eindruck der Unfehlbarkeit und Dauerhaftigkeit des Strafprinzips.28 In der englischen Diskussion jener Jahrzehnte wurden diese Leitlinien für die Bauaufgabe präzisiert, wobei sich hier zusätzlich die architektonische Charakterlehre und die Ästhetik des Sublimen folgenreich auswirkten. Jeremy Bentham, als Theoretiker der Utilitarismus ebenso berühmt wie als Erfinder des Panoptikums berüchtigt, stellt in seinen Principles of Penal Law fest: „However if the prisoners are not seen, the prison is visible. The appearance of this habitation of penitence may strike the imagination, and awaken a salutary terror. Buildings employed for this purpose ought therefore to have a character of seclusion and restraint, which should take away all hope of escape, and should say: ‚This is the dwelling place of crime‘.“29 An anderer Stelle erklärt Bentham die visuelle Strafandrohung zum Prinzip der Verbrechensprävention schlechthin: „It is the real punishment which produces all the evil; it is the apparent punishment which produces all the good. It is proper to diminish the first, and to augment the second, as much as possible. Humanity consists in the appearance of cruelity. Speak to the eyes, if you move the heart.“ Mit einem reformatorischen Seitenhieb begründet der Autor die historische Effizienz seines Arguments

28 Cesare Beccaria: Über Verbrechen und Strafen, hg. von Wilhelm Alff, Frankfurt/M. 1998, dort die einschlägigen Kapitel über die Strafe. 29 Jeremy Bentham: Principles of Penals Law, in: Ders.: Works, hg. von John Browning, Bd. I, London 1859 (Repr. Bristol 1995), S. 365-580, Zitat S. 424.

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aus den liturgischen, mit Bildern operierenden Einschüchterungspraktiken des katholischen Priesters bei der Messe.30 Die folgenreichste Umsetzung dieser auf die Bildwirkung des Bautypus berechneten Konzeption war sicher das 1769 nach Plänen von George Dance II. begonnenen Newgate Prison in London (Abb. 9).31 Von den Zeitgenossen wurde der Anblick der massigen Fassaden als höchst verdrießlich und melancholisch geschildert. Der drei Innenhöfe umschreibende, breit hingelagerte Baublock war auf eine vollständig rustizierte, sparsam rhythmisierte Eingangsfassade ausgerichtet. Ein giebelbekröntes Wärterhaus ist von zwei niedrigeren Torhäusern f lankiert, die wie aus einem massiven, meterdicken Mauerverband herausgehauen oder wie in ein ausgespartes Bauvolumen hineinversetzt wirken. Niedrige, gedrungene Türöffnungen sind unter vergitterten Blendbogen eingepasst und lassen keinen Zweifel daran, dass man in den Bau zwar hinein-, aber nicht wieder herauskommt. Rostige, an den Türstürzen angebrachte Ketten weisen die Gebäudefunktion aus und geben als attributiver Baudekor einen warnenden Hinweis auf die ewige Verdammnis. Das Newgate Prison wurde unverzüglich als Prototyp der Bauaufgabe gefeiert. Francesco Milizia bescheinigte ihm „un carattere ben espresso nel‘esterno“, und Jean-Nicolas-Louis Durand präsentierte die Fassade in seinen Architekturvorlesungen als Musterbeispiel. Die ästhetische Strategie, der die Bauaufgabe verpf lichtet ist, sucht durch eine bildhaft konzipierte Architektursprache Normen zu konservieren und den Respekt vor der Gesellschaftsordnung zu befördern. Adressaten der Bauaufgabe sind dabei keineswegs nur straffällig gewordene und verurteilte Täter, sondern die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und in ihrem Massencharakter. Kann der Gefängnisbau als deutlichster Ausdruck für die Verstaatlichung des Rechts gelten, so ist damit dem Staat auch das Recht übergeben, den Ausschluss einzelner Gesellschaftsmitglieder anzudrohen und zu vollziehen. Allein schon in der Definitionsmacht des Staates liegt ein Angstpotential, aus dem sich der Gefängnisbau von jeher begründet hat – und an dem er bis heute über den bald einsetzenden erzieherischen Paradigmenwechsel im Strafvollzug hinweg partizipiert.32 Folgt man der Idee architektonischer Abgrenzung als Leitperspektive für das Verständnis verschiedener Bauaufgaben, so stellt sich buchstäblich am Ende die Frage nach der Trennung zwischen den Lebenden und den Toten. Dabei stößt man auf eine unmittelbar aus der Todesangst geborene und ziemlich abrupt erfundene Bauaufgabe, das Leichenhaus. 30 Bentham: Principles, S. 549-550. Zum Panoptikum Ders.: Panopticon; or The InspectionHouse (1787) (Works, Bd. IV). 31 Zu dem 1902 zerstörten Bau mit den folgenden Belegen Evans: Fabrication of Virtue. 32 Hierzu neben der genannten Literatur Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (frz. 1975), Frankfurt/M. 1976.

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Die Lebenden und die Toten – über Leichenhäuser Die Bauaufgabe des Leichenhauses verdankte ihre Entstehung der schieren Todesangst. Denn nicht – wie man vermuten könnte – der Ritus des gemeinschaftlichen Abschieds von den Toten begründete die Bauaufgabe, sondern die Angst, als Scheintoter lebendig begraben zu werden. Die Phobie vor dem Scheintod wuchs sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu einem gesamteuropäischen Phänomen aus, dessen Gründe bis heute schwer zu benennen sind. Eine generelle Exaltiertheit der Phobie, die von bedeutenden Vertretern des Sturm und Drang literarisch vermittelt wurde, ist nicht zu übersehen. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie in einem historistischen Schauerstück von Antoine Wirtz ins Bild gesetzt. Im Massengrab der Katakomben, in dem sich die Särge der Toten einer Cholera-Epidemie stapeln, macht sich ein Opfer des „überstürzten Begräbnisses“ – so der Titel des Gemäldes – schreckensstarr zurück zu den Leben auf (Abb. 12). Vor allem aber wirkte die weiter fortschreitende Tabuisierung des Todes mit einer genaueren medizinischen Kenntnis des Sterbevorgangs zusammen. Mentalitätswandel und hygienische Rationalisierungen führten nicht nur zur obligatorischen ärztlichen Leichenschau und zur Verdrängung der Friedhöfe von den innerstädtischen Kirchhöfen an die Peripherien, sondern auch geradewegs in das Problem des Umgangs mit den Verstorbenen. So erachtete man es als zweckmäßig, die Toten aus Angst vor Infektionen und Seuchen auszusondern und unverzüglich zu begraben, diese Eile steigerte aber nur die Angst, vorzeitig zu Grabe getragen zu werden. Leichenhäuser als zeitweiliger Auf bahrungsort, an dem sich der endgültige Tod oder eben die Rückkehr des Scheintoten zu den Lebenden entscheiden sollte, waren nur ein Weg, aus diesem Dilemma herauszukommen. Es wurden auch so genannte Alarmgräber mit Luftschacht zum Sarg ersonnen. Der Arzt Johann Gottfried Taberger ließ einen mit Sauerstoff versorgten und mit einer oberirdischen Notf lagge bestückten Sarg (Abb. 13) patentieren.33 Diese Erfindungen rekurrierten teilweise auf technische Vorrichtungen, die bereits in den Leichenhäusern zur Anwendung gelangt waren. Jacob Atzel stellte 1796 das Leichenhaus erstmals als Bauaufgabe vor.34 Er ordnet es den „heiligen öf33 Johann Gottfried Taberger: Der Scheintod in seinen Beziehungen, auf das Erwachen im Grabe und die verschiedenen Vorschlag zu einer wirksamen und schleunigen Rettung in Fällen dieser Art, Hannover 1829. Grundlegend als Quelle zur Scheintodphobie ist die Schrift von Christoph Wilhelm von Hufeland: Der Scheintod oder Sammlung der wichtigsten Tatsachen darüber, Berlin 1808 (Neudr. Bern 1986); zur Totenkultur und zum Leichenhaus vgl. „Wie die Alten den Tod gebildet“ (Ausstellungskatalog Kassel), hg. von Hans-Kurt Boehlke, Mainz 1979; Elisabeth Vogl: Der Scheintod: Eine medizingeschichtliche Studie, Diss. München 1986; Marion Ursula Stein: Das Leichenhaus. Zur Entwicklung einer Sepulkralarchitektur in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Diss. Marburg 1993. 34 Jacob Atzel: Ueber Leichenhäuser vorzüglich als Gegenstände der schönen Baukunst betrachtet, Stuttgart 1796, die folgenden Zitate S. 6, 8, 54-55.

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fentlichen Gebäuden“ zu. Sein Sinn sei es, das „schreckliche Schicksal, im Grabe zu erwachen“, zu verhüten. Atzel nimmt einerseits die Argumente der ScheintodDebatte jener Jahre auf. Andererseits leistet er einer beträchtlichen Ästhetisierung des Todes Vorschub, wenn er Tod und Schlaf als wesensverwandte Erscheinungen beschreibt. Das Leichenhaus gilt ihm als „einladender Zuf luchtsort für den zweifelhaften Mittelzustand. Es schlummern vielleicht die stillen Bewohner des Tempels, um wieder zu erwachen, vielleicht auch nicht. Es regieren hier in brüderlicher Eintracht Schlaf und Tod.“ Diese Ästhetisierung, die von Lessing in seiner 1769 veröffentlichten Schrift Wie die Alten den Tod gebildet kulturgeschichtlich begründet worden war, prägte auch stilistisch den von Atzel vorgestellten Idealentwurf (Abb. 14-15). Der Musterbau ist ein klassizistischer Amphiprostilostempel mit zwei dorischen Portiken und zentraler Kuppel. Disposition und technische Einrichtungen sind vollständig auf das mögliche Erwachen des Scheintoten ausgerichtet. Ihm sollen an Fingern und Zehen Glockenschnüre angebunden sein, die zum Wächterzimmer führen. Öffnungen in der Kuppel und als Rauchopferschalen gestaltete Luftabzüge dienen der Ventilation bei der Verwesung des potentiellen Toten, gleichzeitig soll aber die Totenkammer milde beheizt sein, damit „der Frost nicht das noch übrige Leben vernichtet.“ Dem Leichensaal gegenüber liegen Nebenzimmer mit Badewanne und Bett, in denen der auferstandene Scheintote in Empfang genommen werden und sich für die Rückkehr ins Leben rüsten kann. So ist die Bauaufgabe darauf angelegt, der Kunstfigur des Scheintoten, bei dem nicht ausgemacht ist, ob er lebendig oder tot ist, eine Wohnstatt zu geben. Darüber hinaus ist aber nicht zu übersehen, dass Leichenhäuser in einem historischen Moment entstanden, in dem über die Grenzziehung zwischen Lebenden und Toten bereits zugunsten der Lebenden entschieden worden war.35 Der Horror davor, lebendig begraben zu werden, erscheint letztlich als ein eher vordergründiges Symptom für diesen weitaus fundamentaleren Wandel. Die Errichtung von Leichenhäusern lässt sich als eine Maßnahme der Beschwichtigung verstehen, die Trennung der Toten von den Lebenden anzuerkennen, wie sie sich in der Verlagerung der Kirchhöfe an die städtischen Peripherien anbahnte. Goethe hat in den Wahlverwandtschaften (1810) die Zwangsläufigkeit dieser Trennung eindringlich beschrieben, als er am Anfang des zweiten Buches die Auf lassung eines alten 35 Vgl. hierzu die Studien zur Memoria von Otto Gerhard Oexle, insbesondere Ders.: Die Gegenwart der Toten, in: Herman Braet und Werner Verbeke (Hg.): Death in the Middle Ages, Leuven 1983, S. 19-77 sowie zur Scheintoddebatte Falk Wiesemann: Auch die Angst hat ihre Mode. Die Angst vor dem Scheintod in der Zeit von Aufklärung und Romantik, Essen 2004, die Wanderausstellung „Scheintot. Über die Ungewissheit des Todes und die Angst, lebendig begraben zu werden“ im Berliner Medizinhistorischen Museum der Berliner Charité 2017 (ohne Katalog) und die Anthologie von Udo Andraschke (Hg.): Scheintot. Ein Lesebuch mit Texten aus drei Jahrhunderten (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt 45), Ingolstadt 2020.

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Kirchhofs schilderte und die frühere Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten noch einmal beschwor. Vor diesem Hintergrund steht das Leichenhaus für eine doppelte Bedrohung ein: Die Angst vor dem Scheintod erweist sich gleichsam als Fassade einer grundlegenden Angst vor den Toten. Mit der Ausweisung der Toten aus den Städten wurde in den Jahrzehnten um 1800 ein radikaler kultureller Traditionsbruch vollzogen, der auf die ängstliche Separierung der Gesellschaft von ihren verstorbenen Mitgliedern hinausläuft.

Schluss: Kommunikative Distanz und Segregation Ausgangspunkt meiner Überlegungen war ein der Architekturgeschichte einbeschriebener Euphemismus, der von der Behauptung ausgeht, dass Architektur einen wesentlichen Beitrag zur Bildung von gesellschaftlicher Identität und Vergemeinschaftung leistet. Das soll keineswegs bestritten werden. Es war aber daran zu erinnern, dass Loyalitätsverbände eben immer auch auf Abgrenzung und Ausschließung beruhen, womit auch der Architektur eine äußerst ambivalente Funktion zukommt. Bauwerke schaffen stets eine kommunikative Distanz.36 Sie bearbeiten das Verhältnis zwischen denjenigen, die im weitesten Sinn zu einem Bau zugelassen sind, und denjenigen, denen der Zugang im weitesten Sinn verwehrt ist. Im Unterschied zur bloßen Außenwand ist es die Funktion und der idealtypische Eigensinn jeder Fassade – bei öffentlichen oder privaten Gebäuden

36 Der Begriff soll hier nachdrücklich auf seine soziale Dimension bezogen werden. Aus rezeptionsästhetischer Sicht vgl. Wolfgang Kemp: Kommunikative Distanz. Zu den Anfängen der Fassade am Beispiel des Trierer Doms, in: Barbara Hüttel u.a. (Hg.): ReVisionen. Zur Aktualität von Kunstgeschichte, Berlin 2001, S. 3-24, hier S. 22 mit der allgemeinen Definition: „Kommunikative Distanz herrscht zwischen zwei Größen, wenn eine dominante Ausrichtung und eine Reziprozität gegeben ist und wenn die mittlere Distanz, also nicht die intime Nähe oder die trennende Ferne ausgelegt ist.“ Kemp nimmt dabei speziell Bezug auf Wolfgang Schindler: Der Doryphoros des Polyklet. Gesellschaftliche Funktion und Bedeutung, in: Reimar Müller (Hg.): Der Mensch als Maß aller Dinge. Studien zum griechischen Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis, Berlin 1976, S. 219237, wo allerdings der Begriff nicht vorkommt. Immerhin sei hingewiesen auf den für die Soziologie wie für die Ästhetik relevanten Distanzbegriff bei Georg Simmel; vgl. hierzu etwa seinen Aufsatz: Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch (1902), in: Ders.: Soziologische Ästhetik, hg. von Klaus Lichtblau, Frankfurt/M. 1998, S. 111-117, dort einleitend: „(Der Bilderrahmen) schließt alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen, in der allein es ästhetisch genießbar wird. Distanz eines Wesens gegen uns bedeutet in allem Seelischen: Einheit dieses Wesens in sich. Denn nur in dem Maß, in dem ein Wesen in sich geschlossen ist, besitzt es den Bezirk, in den niemand eindringen kann, das Für-sich-sein, mit dem es sich gegen jeden anderen reserviert.“

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und beim Profan- oder Sakalbau 37 –, diese Distanz zwischen Innen und Außen, zwischen dem Bau und seiner Umgebung und zwischen den Benutzern oder Bewohnern des Baus und den Außenstehenden zu regulieren und repräsentativ zur Mitteilung zu bringen. Die von den inneren Funktionsabläufen eines Baus gewährleistete und von der Fassade nach aussen aufrecht erhaltene kommunikative Distanz ist aber keine neutrale Größe, es bedarf im Einzelfall stets der genaueren Bemessung ihrer Reichweite. Hier wurde versucht, kommunikative Distanzen in ihrer maximalen Ausdehnung für die Vormoderne auszuloten. In dem Maße, in dem eine Gesellschaft in ständigem Dialog mit der Angst lebt, sieht sie sich auch dazu herausgefordert, eine Architektur entschiedener sozialer Distanzierung zu entwerfen. Mit dem Beginn der Moderne und in der Gegenwart sind wir aus diesem Prozess keineswegs entlassen – ganz im Gegenteil. Seit dem 19. Jahrhundert erfuhr die mit architektonischen Mitteln hergestellte Segmentierung eine gewaltsame Zuspitzung und hat im späteren 20. Jahrhundert eine globale Dimension angenommen.38 Die Ursachen sind in erster Linie in der Ausbreitung autoritär-dikatorialer Regime auf der einen und im partiellen Staatszerfall auf der anderen Seite zu sehen sowie in der durch die neoliberale Globalökonomie verschärften Pauperisierung und der damit verbundenen transkontinentalen Armutsmigration. Parallel zu diesen sozialhistorischen Vorgängen beschleunigt eine Architekturproduktion, die von industriellen Herstellungsweisen und Materialien bestimmt ist, nicht nur die Auf lösung des traditionellen Architekturverständnisses, sondern ermöglicht auch die Errichtung von baulichen Megastrukturen wie etwa Länder übergreifender Grenzwallanlagen. So fanden die Befestigungswerke, die die geopolitischen Großformationen des Warschauer Paktes und der Natostaaten voneinander abgeschottet hatten und nach 1989/90 abgebrochen wurden, weltweit ihre Nachfolger: zwischen Nord- und Südkorea, Indien und Pakistan, den USA 37 So sei für den Kirchenbau an die Anweisungen von Carlo Borromeo erinnert, der für die Kirche einen Ehrfurchtsabstand zum Betrachter fordert. Dies solle durch die Freistellung des Baus in der Umgebung und die Exponierung durch eine Hügellage oder Aufsockelung geleistet werden. Diesem Grundgedanken folgt auch die Aufwertung der Fassade als distanzierende Grenze: „In frontiscpicii igitur pio ornatu, pro structurae ecclesiasticae ratione proque aedificii magnitudine, architectus videat, ut cum nihil prophani appareat, tum rursus splendide pro facultatibus exprimatur, quod loci sanctitati conveniat.“ Carlo Borromeo: Instructiones fabricae et supellectilis ecclesiasticae (1577), in: Paola Barocchi (Hg.): Trattati d’arte del Cinquecento, Bd. III, Bari 1962, S. 1-113, hier S. 7-11, Zitat S. 11. 38 Es mag hierfür nur auf die methodisch erhellende Studie über den Stacheldraht von Olivier Razac: Histoire politique du barbelé. La prairie, le tranche, le camp, Paris 2000 verwiesen sein; ergänzend auch Martin Dinges (Hg.): Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz 2000; Nan Ellin (Hg.): Architecture of Fear, New York 1997; Michael Zinganel: Real Crime. Architektur, Stadt & Verbrechen, Wien 2003.

Angst und Architektur

und Mexiko, der Türkei und Zypern, Saudi-Arabien und Mauretanien, Israel und Palästina, Marokko und Spanien. Die Liste ließe sich fortsetzen. Im Maßstab einzelner Länder erweisen sich die so genannten Gated Communities als das ubiquitäre Phänomen einer Architektur der Segregation.39 In diesen Wohnquartieren demaskiert sich der Neoliberalismus selbst. Für den Film Truman Show (1998) diente eine der frühen Gated Communities, die an der Küste in Nordwestf lorida gelegene, ab 1979 geplante Retortenwohnstadt Seaside als reale Architekturbühne. In der hermetisch abgeschlossenen, pittoresken Kleinstadtwelt tritt die Hauptfigur unwissentlich als Protagonist einer Soap Opera auf, und die Stadt fungiert gleichzeitig als Kulisse für die Produktwerbung. Bei den Gated Communities handelt es sich Stadtbezirke, in denen die Trennung der Reichen von allen anderen sichtbar und dauerhaft exekutiert ist. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte sind weltweit zehntausende solche als Sicherheitsdistrikte ausgebaute Wohnquartiere errichtet worden. Gated Communities sind das gebaute Eingeständnis, das ein Ausgleich zwischen Arm und Reich, dass eine Integration unterschiedlicher Gesellschaftsschichten nicht mehr erwünscht ist. Es soll des Weiteren nicht entschieden werden, ob Gott oder doch der erste Mörder der Erfinder der Baukunst gewesen ist.

39 Vgl. mit weiterer Literatur Arnold Bartetzky u.a. (Hg.): Urban Planning and the Pursuit of Happiness. European Variations on a Universal Theme (18th-21st Centuries), Berlin 2009; Tilman Harlander: Suburbs, Sun Cities und Gated Communities: Krise und Fragmentierung im Sunbelt der USA, in: Die alte Stadt 36 (2009), S. 177-198; Dietrich Erben: Frivole Architektur – Über Gated Communities, in: Ulrich Gehmann (Hg.): Virtuelle und ideale Welten, Karlsruhe 2012, S. 127-140.

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Abb. 1 Gott als Schöpfer des Universums. Bible moralisée, um 1250. Wien, Österreichische Nationalbibliothek.

Abb. 2 James Stirling: Entwurfsskizze für die Neue Staatsgalerie Stuttgart.

Abb. 3 Neue Staatsgalerie Stuttgart, Pavillon an der Eingangsfassade. Abb. 4 Darstellung der Urhütte aus: Antonio Filarete, Architekturtraktat, um 1460.

Abb. 5 Ambrogio Lorenzetti: Fresko des Buon Governo im Palazzo Pubblico von Siena, 1340.

Abb. 6 Detail der Securitas aus Abb. 5.

Abb. 7 Luf tbild des Castello Sforzesco in Mailand. Abb. 8 Gianlorenzo Bernini: Erster Louvreentwurf. Zeichnung von 1664.

Abb. 9 Ansicht auf die Piazzetta von Venedig mit Zecca, Biblioteca Marciana, Palazzo Ducale und Palazzo delle Prigioni.

Abb. 10 Luca Carlevarijs: Vedute des Palazzo delle Prigioni in Venedig.

Abb. 11 Newgate Prison in London.

Abb. 12 Antoine Wiertz: L’inhumation précipitée, Gemälde 1854. Brüssel, Musées royaux des Beaux Arts de Belgique.

Abb. 13 Patententwurf für ein Rettungsgrab mit Notflagge 1829.

Abb. 14 Frontispiz von Jakob Atzel: Ueber Leichenhäuser etc., 1796.

Abb. 15 Grundriss des Idealentwurfs eines Leichenhauses aus: Jakob Atzel: Ueber Leichenhäuser etc., 1796.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit aus der Sicht der historischen Anthropologie Der folgende Begründungsversuch betrifft Sachverhalte, die so einfach sind, dass sie kaum je zu Bewusstsein kommen. Es geht einmal mehr um die Frage nach den Bedeutungsdimensionen von Architektur und deren Erschließbarkeit durch die Betrachter oder Benutzer. Dabei soll von einer von Seiten der Kunstgeschichte naheliegenden methodologischen Erläuterung der Architekturikonologie ebenso Abstand genommen werden wie von der ikonologischen Analyse eines Einzelbaus. Beabsichtigt ist vielmehr, eine zwischen metaphorisch wirksamen Baufigurationen und gebauten Konkretisierungen liegende, mittlere Ebene anzusteuern. In den Blick soll eine Informationsschicht genommen werden, die mit Standort, Größe, Baumaterial, Bauzier und der Ordnungskonzeption eines Baus ein definiertes Ensemble von Bedeutungsaspekten umfasst. Die hier versammelten Kategorien berücksichtigen die epochentypische Erscheinungsform der Architektur in der Frühen Neuzeit, und mit ihnen lässt sich auch die Architekturwahrnehmung genauer bestimmen. Die Wahrnehmung von Architektur ist wie viele andere Erfahrungsbereiche während der Frühen Neuzeit in hohem Maß als ein geregeltes Verhalten aufzufassen, das auf sozialen Normen beruht. Zugleich fungiert die Architekturwahrnehmung als eine Einübungsinstanz in diesen Normenkanon. Bei der Formulierung dieser These ist in Rechnung zu stellen, dass in der Forschung nach wie vor eine Kluft zwischen den Kenntnissen über die Intentionen und Interessen bei der Planung von Architektur einerseits sowie der Adressierung und Rezeption von Architektur andererseits besteht. Während wir durch die seit etwa den 1960er Jahren beginnende Forschungskonjunktur im Bereich der Architekturpatronage über die Planungsseite recht gut Bescheid wissen, kommt die Forschung auf dem anderen Feld erst in Gang. Der Befund ist für die gebaute Architektur ebenso zu treffen wie für die Architekturtheorie. So ist anhand der zeitgenössischen Theoriebildung die Architektur der Frühen Neuzeit mittlerweile plausibel als Wissenssystem zu beschreiben, doch lassen sich auch anhand dieses Schriftkorpus nach wie vor nur spärliche Aussagen über die Wirkungspotentiale der Baukunst in dieser Epoche machen. An dieser Beobachtung setzen die folgenden Überlegungen an.

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IV. Architekturanthropologie

I. Die Debatte über die semantischen Dimensionen von Architektur ist in den letzten Jahren vielstimmig geworden. An ihr beteiligen sich Kunstgeschichte, philosophische Ästhetik, Architektursoziologie sowie zuletzt auch die Architekturanthropologie und die historische Anthropologie. Generell ist zu betonen, dass die Diskussion von der starken Orientierung auf Architektur und Raumplanung im 20. Jahrhundert bestimmt ist. Dies verdankt sich zwar in erster Linie der starken Beteiligung der Sozialwissenschaften, eine solche Konzentration auf die Moderne gilt aber für alle genannten Disziplinen. Im Rahmen unterschiedlicher Interpretationsansätze wird in allen Disziplinen mehr oder minder direkt Bezug auf die Architekturikonologie genommen. Auch die historische Architekturanthropologie kann auf viele Elemente der bereits in anderen Disziplinen etablierten Deutungsmethoden rekurrieren. Die von Nelson Goodman lapidar aufgeworfene Feststellung „How buildings mean“ hat nichts von ihrer Brisanz verloren. Im Rahmen einer allgemeinen Symboltheorie geht es Goodman um die Mittel der Bezugnahme zwischen Bauwerken und anderen, verbalen und nichtverbalen, formalen und nichtformalen Symbolsystemen.1 Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind drei Eigenschaften, die ein Werk der Architektur von einem anderen Kunstwerk unterscheiden. Erstens „denotieren Werke der Architektur nicht – das heißt, weder beschreiben, erzählen, porträtieren noch bilden sie ab.“ Zweitens sind die Größenrelationen zum Betrachter konstitutiv. Ein Bauwerk ist nicht nur „größer als wir“, sondern es verlangt darüber hinaus eine transitorische Erschließung, um es als Ganzes zu erfassen. Drittens hat jeder Bau eine praktische Funktion. Hinzu kommt, dass die Architektur wie die Wissenschaften und andere Künste eine symbolische Bezugnahme zu Welt und Wissen der Betrachters leistet. Sie fasst Goodman mit verschiedenen verweisenden Begriffen, Stichworte sind: Exemplifikation und Ausdruck. Goodman gilt die Exemplifikation als eine der „Hauptweisen, wie Werke der Architektur bedeuten“, diese umfasst die Darstellung struktureller Charakteristika eines Baus wie etwa das statische System von Tragen und Lasten oder das tektonische System von Wandvorlagen. Die „Exemplifikation metaphorisch besessener Eigenschaften“ leitet über zum „Ausdruck“ eines Bauwerks. Versteht man die durch die Form geleistete Darlegung der praktischen Funktion – wie diejenige des Arbeitsortes in einer Fabrik oder des Wohnens in einem Schloss – als Exemplifikation, so wird die repräsentativ-symbolisierende Funktion eines Bau-

1 Zum folgenden Nelson Goodman: How Buildings Mean, in: Ders. u.a.: Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, Indianapolis 1988, S. 31-48; zitiert wird nach der deutschen Übersetzung: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt/M. 1989, S. 49-70. Zur Kunsttheorie Goodmans zusammenfassend Monika Betzler: Nelson Goodman, in: Julian Nida-Rümelin u.a. (Hg.): Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1998, S. 320-328.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit

werks – diejenige der Marken- und Marktproduktion bei einer Fabrik oder der Herrschaft bei einem Schloss – „zum Ausdruck gebracht“. Durch die Begriffe der Exemplifikation und des Ausdrucks sind allgemeine Modi der Bezugnahme zwischen Bauwerk und Betrachter gegeben, auf die implizit auch die Architekturikonologie rekurriert. War die Architekturikonologie methodisch zunächst an der mittelalterlichen Architektur erprobt worden, so wurden sukzessive die Anwendungsfelder auf verschiedene Epochen ausgeweitet.2 In der Kunstgeschichte hat sich die Problematik der Bedeutungsdimensionen von Architektur verstärkt am Begriff der „politischen Architektur“ entwickelt.3 Die Architekturikonologie geht wie die philosophische Architekturästhetik von der Differenz zwischen der Ding- und Symbolfunktion eines Baus aus. Während die erste die sozio-strukturelle Ebene praktischer Funktionen und Bedürfnisse umschreibt, erfasst die Symbolfunktion die sozio-kulturelle Ebene, die im Bauwerk mehr oder minder deutlich konnotiert und durch den Betrachter in einer Übertragungsleistung erschlossen wird. Im Rahmen der sozio-kulturellen Dimensionen von Architektur kommen mehrere Formen symbolischer Bedeutung zum Tragen. Hauptsächlich wird die Bedeutungsstiftung durch allegorische Analogien – wie die Konnotation einer Stadt mit dem „himmlischen Jerusalem“ oder dem „neuen Rom“ – sowie durch die über die Tradition vermittelte Symbolik von Bautypen – wie dem überkuppelten Zentralbau für heidnische Mausoleen, christliche Kirchen und repräsentative Staatsbauten – geleistet.

2 Richard Krautheimer: Introduction to an ‚Iconography of medieval architecture‘, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), S. 1-33 (dt. in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Kunstgeschichte, Köln 1988, S. 141-197); Rudolf Wittkower: Architectural Principles in the Age of Humanism, London 1949 (dt. zuerst 1969); Günter Bandmann: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger (1951), Berlin 111998; als methodische Kommentierung Gottfried Kerscher: Architektur als Repräsentation. Spätmittelalterliche Palastbaukunst zwischen Pracht und zeremoniellen Voraussetzungen. AvignonMallorca-Kirchenstaat, Tübingen 2000, bes. S. 23-26. Zu weiteren Anwendungen der Architekturikonologie Adolf Reinle: Zeichensprache der Architektur. Symbol, Darstellung und Brauch in der Baukunst des Mittelalters und der Neuzeit, Zürich 1976; Das Bauwerk als Quelle. Beiträge zur Bauforschung (architectura 24), München 1995; Eduard Führ u.a. (Hg.): Architektur-Sprache. Buchstäblichkeit, Versprachlichung, Interpretation, Münster 1998. Eine neuere, instruktive Übersicht über architekturikonologische Deutungsansätze bietet Silke Streets: Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt. Eine Architektursoziologie, Frankfurt/M. 2015. 3 Martin Warnke (Hg.): Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute. Gemeinschaft und Repräsentation, Köln 1984; Winfried Nerdinger: Politische Architektur. Betrachtungen zu einem problematischen Begriff, in: Ingeborg Flagge u.a. (Hg.): Architektur und Demokratie. Bauten für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, Ostfildern-Ruit 1996, S. 10-31; Hermann Hipp u.a. (Hg.): Architektur als politische Kultur. Philosophia practica, Berlin 1996.

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IV. Architekturanthropologie

Auf der allgemeinen Ebene der Möglichkeit und Notwendigkeit zur semantischen Entzifferung von Architektur trifft sich die Architekturikonologie mit der Architektursoziologie.4 Wenn für diese die Frage nach der Funktion von Architektur im Vordergrund steht, so betrifft dies neben den praktischen Funktionen auch die soziale Relevanz symbolischer Bedeutungen. Zugleich rückt die Architektursoziologie einen durch Kommunikation und Handlung konstituierten Begriff des Raumes ins Zentrum ihres Interesses. Analog zu der Metapher der „Bühne“ lässt sich jeder Raum als Ort sozialer Interaktion verstehen. Raum erscheint aus dieser Perspektive nicht als a priori gegebene physikalische Entität, sondern wird erst durch kommunikatives Handeln erzeugt und unterliegt dadurch historischen Wandlungsprozessen. In diesem Ansatz trifft sich die Architektursoziologie mit entsprechenden Fragestellungen der neueren politischen Kulturgeschichte.5 In den letzten Jahren wurden insbesondere die Deutungsansätze zur Lesbarkeit von frühneuzeitlicher Architektur einer kritischen Revision unterzogen und durch neue Perspektiven bereichert. Standen in der älteren Forschung noch Gebäudetypologien und die Säulenordnungen im Zentrum, so ist nun das Spektrum bedeutungsträchtiger Architekturelemente auf die Vielfalt der architektonischen Formensprache ausgedehnt worden. Wenige Hinweise auf neuere Studien müssen genügen: Für den barocken Kirchenbau konnte die Leistungsfähigkeit des methodischen Instrumentariums der klassischen Architekturikonologie und Strukturanalyse noch einmal unter Beweis gestellt werden, indem für Grundrissformen, Raumtypen, die Verwendung der Säulenordnungen und weiterer Gestaltelemente deren präzise sinnbildliche Qualität nachgewiesen wurde. Dabei erfolgt der Zugriff auf den Einzelbau weiterhin von produktionsästhetischer Seite – sei es der Intentionen des Auftraggebers, sei es der entwerferischen Mittel des Architekten.6 Am Beispiel italienischer Stadttore wurde gezeigt, wie sich die Anforderungsprofile von fortifikatorischer Funktion und städtischem Re4 Walter Gottschall: Politische Architektur. Begriffliche Bausteine zur soziologischen Analyse der Architektur des Staates, Bern 1987; Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001; Klaus von Beyme: Die Kunst der Macht und die Macht der Kunst. Studien zum Spannungsverhältnis von Kunst und Politik, Frankfurt/M. 1998. 5 Zur Integration solcher Raumkonzeptionen aus der mittlerweile immens vielfältigen Literatur zum Raum als eines neuen kulturgeschichtlichen Paradigmas vgl. nur Susanne Rau und Gerd Schwerhoff (Hg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln 2004, hier insbesondere das methodische Vorwort der Herausgeber. Die Kunstgeschichte hat diese Konzepte mit deutlicher Verzögerung aufgenommen; vgl. etwa Cornelia Jöchner (Hg.): Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit, Berlin 2003. Zur Diskussion über die politische Kulturgeschichte Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005 (Zeitschrift für historische Forschung. Beihefte). 6 Ulrich Fürst: „Die lebendige und sichtbahre Histori“. Programmatische Themen in der Sakralarchitektur des Barock (Fischer von Erlach, Hildebrandt, Santini), Regensburg 2002.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit

präsentationsanspruch unterscheiden und sogar widersprechen konnten. Damit wird beispielhaft klar, dass sich Bedeutungsdimensionen von Architektur von der pragmatischen Nutzung der Bauten trennen konnten und Architektur Bedeutung jenseits ihrer Primärfunktionen generieren kann.7 In einer Studie über Architekturstichserien wurde der Blick vom Unikat des Bauwerks zu dessen medialer Vermittlung und Vervielfältigung gewendet. Damit wird bei der Analyse die Perspektive von den Planungsintentionen nachdrücklich auf die Rezeption von Architektur verlagert.8 II. Die Perspektive der Rezeption soll hier grundsätzlich weiterverfolgt und mit Hilfe von Fragestellungen der historischen Anthropologie auf einige Grundmuster der sozialen Wahrnehmung von Architektur zurückgeführt werden. Hierfür sollen weniger die Befunde der allgemeinen Architekturanthropologie zugrunde gelegt werden. Deren Interesse richtet sich im interkulturellen Vergleich primär auf das Problem menschlicher Grundbedürfnisse und -fähigkeiten für die Gestaltung von Umwelt zu Behausungs-, Wohn- und Versammlungszwecken.9 Ausgehend von einer relativen Einheit des europäischen Kulturraums erscheint es für eine Eingrenzung und historische Konkretisierung des Problems als angemessener, bei den Fragestellungen der historischen Anthropologie anzusetzen. Bei dieser Disziplin braucht hier weniger zu interessieren, was sie will, als vielmehr was sie tut: Statt eine ohnedies nur schwer zu leistende Definition der Methode zu geben, sollen die Gegenstandsfelder grob umrissen werden. Wolfgang Reinhard hat in seiner unter dem Titel Lebensformen Europas erschienenen historischen Kulturanthropologie ein gewaltiges Panorama prägnant in der Trias der Begriffe Körper, Mitmenschen und Umwelten entfaltet.10 Bei der Trias von

7 Stefan Schweizer: Zwischen Repräsentation und Funktion. Die Stadttore der Renaissance in Italien, Göttingen 2002. 8 Michaela Völkel: Das Bild vom Schloß. Darstellung und Selbstdarstellung deutscher Höfe in Architekturstichserien 1600-1800, München/Berlin 2001. 9 Als Übersicht über methodische Perspektiven und Themen vgl. Mari-José Amerlinck (Hg.): Architectural Anthropology, Westport 2001. 10 Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004; vgl. auch Ders.: Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 593-616; Ders.: Geschichte als Anthropologie, hg. von Peter Burschel, Köln 2017; Ders.: Historische Anthropologie politischer Architektur (2005), in: Ders.: Geschichte als Anthropologie, S. 79-103. Zum europäischen Kulturbegriff mit weiterer Literatur Klaus Bußmann u.a. (Hg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, Stuttgart 2004; Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt/M. 2005. Zur Globalisierung als methodischen Herausforderung insbesondere der Kulturgeschichte Lynn Hunt: Writing History in the Global Era, New York 2014.

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IV. Architekturanthropologie

Korporalität, Sozietät und Kulturalität11 geht Reinhard von den physiologischen und emotionalen Modellierungen des Körpers aus, er erschließt dann die sich wandelnden Sozialbeziehungen, um sich am Ende den stets auch räumlich strukturierten Organisationsformen von Ökonomie, Kommunikation und Religion zuzuwenden. „Bauen und Wohnen“ werden in diesem weiten Kontext von „Umwelt“ verortet, und damit gelangt man zu einem ebenso allgemeinen wie grundlegenden Begriff von Bauen als „kulturelle Konstruktion von Raum“.12 Architektur ist also der Sphäre von Kulturalität zuzuordnen, und bauliche Raumkonstruktionen lassen sich als externalisierte, konkret-materielle Objektivationen von Kultur verstehen. Will man die Totalität anthropologischer Dimensionen – wenigstens als methodische Forderung, wenn sie denn auch nur ansatzweise mit empirischen Daten zu belegen sind – im Blick behalten und die Architektur darin integrieren, so hat es die Architekturanthropologie mit zweierlei zu tun: Einmal mit der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Architektur und anderen Kulturtechniken, zum andern mit der Relation der Architektur zu den beiden weiteren Ebenen der Trias, zu Korporalität und Sozietät. Diese Relationen können grundsätzlich aus zwei entgegengesetzten Richtungen beschrieben werden – nämlich von einem Normensemble und von der gebauten Realie her. So lässt sich beispielsweise für den deutenden Zugriff von einem Normenensemble her der Begründungszusammenhang zwischen sozialer Kontrolle durch Angsterzeugung und daraus motivierten gesellschaftlichen Segregationsstrategien durch Architektur nachweisen. In dem Maß, in dem sich die Erzeugung und Aufrechterhaltung von Angst seitens der Staatsgewalt in der Frühen Neuzeit als eine Norm in der politischen Praxis erweist, dient auch Architektur in einem ganz erheblichen Umfang der Durchsetzung und Stabilisierung dieser Norm. Dies zeigt sich nicht nur bei den speziellen Bauaufgaben politischer Architektur wie Stadtmauern, Residenzen oder Kommunalbauten, sondern auch beim Kirchen- und Palastbau. Stets ist die Fassade als Mittel sozialer Distanzierung aufgefasst, die bis zur direkt intendierten und als solche auch wahrgenommenen Einschüchterung reichen kann. Man kann vielleicht sogar so weit gehen,

11 Zu dieser Begrifflichkeit Michael Maurer: Historische Anthropologie, in: Ders. (Hg.): Aufriss der Historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 294-387, hier bes. S. 297-305. Dass Maurer gleichzeitig mit Reinhard ein identisches Themenspektrum und eine analoge Begriffstrias entwickelt, mag die Verbindlichkeit des Forschungsprogramms innerhalb der historischen Anthropologie belegen. Die gesonderte, vielleicht sogar hegemoniale Besetzung eines Teilbereichs wird durch methodische Aus- und wissenschaftsökonomische Produktdifferenzierung – Körper-, Emotions-, Sozial-, Geschlechter-, Kulturgeschichte etc. – geleistet. 12 Reinhard: Lebensformen Europas, bes. S. 487-502.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit

zu sagen, dass sich eine Fassade von einer bloßen Außenwand gerade durch diese Distanzierungsleistung unterscheidet.13 Im Folgenden soll jedoch dem anthropologischen Begriff von Architektur als kultureller Konstruktion von Raum von der Realie des Gebäudes her nachgegangen werden.14 Dabei kommt man für eine historische Präzisierung im Hinblick auf die Mitteilungsleistung der Architektur in einer bestimmten Epoche nicht darum herum, sich der epochenspezifischen Typik der Bauwerke in der konventionellen Prägung ihrer Erscheinungsformen wenigstens schlagwortartig zu vergewissern. Zwei Kriterien spielen meines Erachtens für die Typik der Architektur in der Frühen Neuzeit eine primäre Rolle: ihr Repertoirecharakter und die formelle Semantik der Architektur.15 Beides ist kennzeichnend für die Einheitlichkeit der Baukunst der Epoche und aus beidem begründet sich entscheidend die Durchsetzung einer antikisierend-klassischen Architektursprache zwischen Frührenaissance und Frühklassizismus gegenüber anderen Stilformen und Konstruktionsweisen. Die Verwendung von Elementen eines Repertoires zeigt sich primär darin, dass der Wand durch Architekturglieder im Wortsinne Profil verliehen wird. Diese Gliederungselemente sind in ihrer Funktion und Erscheinung grundsätzlich standardisiert, sie können aber in ihrer jeweiligen Gestalt und Anbringung variiert werden. Es handelt sich in der Mehrzahl um tektonische, den Wandgrund visuell stablisierende, und um rahmende, die Wandf läche visuell einteilende Ausstattungselemente wie Säulen, Pilaster, Lisenen, Friese, Gesimse, Giebel und 13 Mit der Akzentuierung auf der Funktion der Sozialdisziplinierung durch Architektur und mit verwandten Befunden für den vorliegenden Zusammenhang Bernd Roeck: Early Modern Architecture: Conditioning, Disciplining, and Social Control, in: Herman Roodenburg u.a. (Hg.): Social Control in Europe, Bd. 1: 1500-1800, Columbus 2004, S. 132-142; ausgehend von der Angsterzeugung als Element politischer Theorie und Praxis Dietrich Erben: Angst und Architektur. Zur Begründung der Nützlichkeit des Bauens, in: Hephaistos 21/22 (2003/2004), S. 29-51. 14 Dabei wird von der weiteren Untersuchung der Semantik einzelner typisierter Bauaufgaben und Architekturformen abgesehen. Vgl. hierzu etwa die Studien zu Stadtmauer, Turm und Kuppel: Cesare De Seta und Jacques Le Goff (Hg.): La città e le mura, Rom/Bari 1989; James D. Tracy (Hg.): City Walls. The Urban Enceinte in Global Perspective, Cambridge 2000; Schweizer: Zwischen Repräsentation und Funktion; Stanislaus von Moos: Turm und Bollwerk. Beiträge zu einer politischen Ikonographie der italienischen Renaissancearchitektur, Zürich 1974; E. Baldwin Smith: The Dome, Princeton 1950; Lawrence J. Vale: Architecture, Power, and National Identity, New Haven/London 1992; Thomas A. Markus: Buildings and Power. Freedom and Control in the Origin of Modern Building Types, London/New York 1993. 15  Anregend hierzu die informationstheoretischen Überlegungen bei Adrian von Buttlar und Alexander Wetzig: Informationstheorie als methodischer Ansatz für Bereiche der Stadtbildpflege, in: Veränderung der Städte. Urbanistik und Denkmalpflege, München 1974, S. 225-249; zur damaligen Kritik an der Informationsästhetik bereits die Beiträge in Joachim Petsch (Hg.): Architektur und Städtebau im 20. Jahrhundert. Bd. 1: Kapitalistischer Städtebau, Architektur und Informationsästhetik, Berlin 1974.

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IV. Architekturanthropologie

Kartuschen. Dass der Repertoirecharakter der Architektur sowie die serielle Wiederverwendung standardisierter Architekturglieder nicht nur aus Gründen der Entwurfsökonomie in Kauf genommen wurde, sondern als Programmbestandteil der Architektursprache nachdrücklich intendiert war, wird durch die unzähligen Säulen- und Vorlagebücher bewiesen, die aus der frühneuzeitlichen Baupraxis nicht wegzudenken sind. Gleichzeitig bestätigt der Repertoirecharakter auch die planerische Absicht des Architekten und den Repräsentationswillen des Bauherrn, eine prinzipielle Lesbarkeit der Architektur aufrechtzuerhalten. Denn konnte schon jedes Einzelelement des Repertoires Zeichencharakter gewinnen, so entfaltet die Architektur spätestens mit der syntaktischen Zusammenstellung des Repertoires zu einem Ensemble in Analogie zur Rhetorik Überzeugungsstrategien, die an die Bewohner und Betrachter adressiert sind. Frühneuzeitliche Architektur ist nicht auf assoziative Beobachtung angewiesen, sondern auf formelle Lesbarkeit angelegt und stellt ihre Inhalte offen dar. Die historische Rekonstruktion dieser Inhalte und ihrer Vermittlung lässt sich prinzipiell auf drei Quellenebenen leisten: Architekturtheorie, schriftliche Rezeptionsquellen im engeren Sinn und die Bauten selbst. Alle drei werfen zahlreiche methodische Probleme der Interpretation auf. Die Relevanz und Leistungsfähigkeit der Architekturtheorie für die verbale Übersetzung der formal-abstrakt mitgeteilten Semantik von Bauwerken steht außer Frage. Doch bleibt zu berücksichtigen, dass Architekturtheorie als der verschriftete Baudiskurs einer Epoche stets ein normatives Quellenkorpus darstellt. Dies begründet sich aus dem bislang in der Forschung immer noch vernachlässigten Institutionenbezug dieser Schriftquellen. Darunter lässt sich die konkrete Abhängigkeit jeder architekturtheoretischen Publikation von einer bestimmten Textgattung wie Traktat, Vorlesungspublikation, Werkverzeichnis, Musterbuch oder Essay ebenso verstehen wie die unmittelbare Entstehung dieses Schrifttums aus den unterschiedlichen Institutionenkontexten von Hof, Akademie, Handwerksmilieu und Buchmarkt. Auch wenn Architekturtheorie partiell auf in der Realität bestehende Bauten rekurriert, fixiert sie stets ein Traditionswissen, das sich gegen Modernisierungsleistungen gleichsam als Sediment weiterhin behauptet.16 In ähnlicher Weise sind im Bereich der Rezeptionsquellen z.B. Reiseberichte und andere Formen der Architekturbeschreibung hochgradig durch die Fortschreibung von Gattungsverbindlichkeiten, durch Textkompilation und inhaltliche Topik geprägt. Es handelt sich hier bestenfalls um sekundäre Architek16 Zusammenfassend zu diesen Forschungsperspektiven Meinrad von Engelberg: Weder Handwerke noch Ingenieur. Architektenwissen der Neuzeit, in: Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der Modernen Wissensgesellschaft, Wien 2004, S. 241-271; Dietrich Erben: Architekturtheorie, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Spalte 587-614.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit

turerfahrung, da kaum jemals eine subjektive Wahrnehmung dargelegt, sondern in erster Linie die Beglaubigung von Wahrnehmungskonventionen durch die Evidenz des Einzelfalls geleistet wird.17 Wie schon angesprochen, generiert schließlich auch die Architektur selbst argumentative Bedeutung. Dabei ist davon auszugehen, dass beim einzelnen Bau durch den Rückgriff auf ein formales Repertoire zunächst einmal ein relativ feststehendes Ensemble von Mitteilungen angeboten wurde, das für die zeitgenössischen Benutzer und Betrachter zu erschließen war. Für die Architekturanalyse erscheint es somit als unverzichtbar, die formale Beschreibung mit dem Rekurs auf die Schriftquellen zu verbinden. Wenn dabei für sämtliche Quellenbereiche ein hoher Grad an regelhafter, konventionalisierter Formalisierung und Typisierung zu konstatieren ist, so erweist sich dies allerdings für eine historisch-anthropologische Deutungsperspektive auf die Architektur nicht als Defizit, sondern geradezu als ein Vorteil. Denn durch die Zusammenführung dieser Quellenebenen lässt sich ein Kategoriensystem ermitteln, das für eine epochenspezifische Architektursemantik von beträchtlicher Relevanz ist. III. Im Rahmen dieser allgemeinen Prämissen richtet sich mein Interesse spezieller auf die Interpretation von Raumkonstruktionen als materielle Objektivationen von geregeltem Verhalten und gesellschaftlichen Normen. Eine solche Bedeutung von Bauwerken hat ihre Voraussetzungen darin, dass erstens Architektur selbst formal regelhaft entworfen und gestaltet ist; zweitens wird sie nur als organisierte Gemeinschaftsleitung hervorgebracht; drittens wird sie in mehr oder minder reglementierten Formen genutzt; und viertens wird sie nach konventionalisierten Mustern wahrgenommen. Wie eingangs angesprochen, sollen für diese Form konventionalisierter Wahrnehmung Kategorien auf einer mittleren Informationsschicht ausgewiesen werden. Diese Schicht ist gleichsam zwischen dem speziellen ikonographischen Programm eines Einzelbaus, das entscheidend 17 Zum Reisebericht mit weiterer Literatur Achim Landwehr: Die Stadt auf dem Papier durchwandern. Das Medium des Reiseberichts im 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 3, 2001, S. 48-70 und speziell zur Architekturwahrnehmung Michaela Völkel: Schloßbesichtigungen in der Frühen Neuzeit. Ein Beitrag zur Frage nach der Öffentlichkeit höfischer Repräsentation in der Frühen Neuzeit, München 2007. Allgemein zum Reisen mit weiteren Aspekten zur Architektur Rainer Babel u.a. (Hg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert (Beihefte der Francia 60), Ostfildern 2004; Mathis Leibetseder: Die Kavalierstour. Adelige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Köln 2004; Annette Kranen: Historische Topographien. Bilder europäischer Reisender im Osmanischen Reich um 1700, Paderborn 2020. Im Unterschied zu den mittelalterlichen Quellen sind die Schriftquellen zur Architekturekphrasis der Frühen Neuzeit bislang nur punktuell erschlossen; vgl. hierzu mit Literaturhinweisen Eva-Bettina Krems: La Veneria Reale. Palazzo di Piacere, e di Caccia (1672/79). Bernini und Castellamonte im Gespräch über ein Jagdschloß, in: Sebastian Schütze (Hg.): Kunst und ihre Betrachter in der Frühen Neuzeit, Berlin 2005, S. 213-250, bes. 238-239; Arwed Arnulf: Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert, Berlin/München 2004.

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durch die figürliche Fassaden- und Raumausstattung Gestalt gewinnt, und der allgemeinen Ikonologie eines Baus, die insbesondere durch den Bautypus zur Mitteilung gelangt, angesiedelt. Es lassen sich folgende Kriterien der Beurteilung eines Bauwerks namhaft machen, die an einem Bau vor allem gesellschaftlich relevante Bedeutung generieren: Standort, Größe und Baumaterial als Elemente der kulturellen Konstruktion von Raum; Heraldik, Inschriften und Bauzier an der Fassade als repräsentative Zeichen für den Status des Bauherrn; die Rangfolge der Bauaufgaben und die gestalterische Regularität eines Baus als Ausdruck einer allgemein verbindlichen, gesellschaftlichen Ordnungsidee. Dieses Ensemble von Wahrnehmungskriterien ist auf sämtlichen Quellenebenen zu ermitteln und stellt sich innerhalb der Epoche als bemerkenswert konsistent und konstant dar. So konstatiert etwa Johann Bernhard Fischer von Erlach einleitend in seinem Entwurff einer Historischen Architektur, es gebe zwar kulturelle und sich wandelnde Konventionen sowie den unterschiedlichen „Geschmack der Landes=Arten“, doch darüber hinaus existierten auch ebenso unwandelbare wie unbestreitbare Prinzipien in der Architektur: „Daß aber dennoch in der Bau=Kunst, aller Veränderungen ungeachtet, gewisse allgemeine Grund=Sätze sind, welche ohne offenbahren Übelstand nicht können vergessen werden. Dergleichen sind die Symmetrie; Oder, daß das schwächere vom stärkeren muß getragen seyn etc., daß auch gewisse Umstände sind, welche in allerhand Bau=Arten, wie sie immer unterschieden seyn mögen, gefallen; als die Grösse des Umfangs, die Nettigkeit, und Gleichheit der Hauung und Zusammenfügung der Steine etc.“18 Schon vorher hatte in Entsprechung zur Architekturtheorie Fischers Martin Zeiller in seiner 1653 erschienen Reiseanleitung eine hierarchisch gestufte Folge von Kriterien gegeben, nach denen der Reisende einen Schlossbau in Augenschein zu nehmen und zu beurteilen habe. Er nennt an erster Stelle Lage, Größe, verteidigungsrelevante materielle Festigkeit und Baugestalt. Nach dieser ersten Kategorienebene hat die Aufmerksamkeit „Reinlichkeit und Zier“ zu gelten, bevor man dann die einzelnen Funktionseinheiten von den zeremoniellen Orten wie Kapelle und Säle bis hinunter zu den Versorgungseinrichtungen – „Speiskammer / Kranckenstuben / Badstüblein / Apothek / Getreidböden / Städel oder Scheure / Stall / Brunn / Fischerey“ – aufsuchen solle. Schließlich werden „Gemälde und Bilder“ zusammen mit den Vögeln in Volieren, den Büchern in den Bibliotheken und den 18 Johann Bernhard Fischer von Erlach: Entwurff einer Historischen Architectur etc., Wien 1721 (Nachdr. Dortmund 41984), Vorrede (unpag.). Ausgehend von einem anderen Ansatz und mit weiteren instruktiven Belegen gelangt Roeck: Early Modern Architecture zu teilweise übereinstimmenden Kriterien.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit

Rüstungen in den Rüstkammern den zum „häuslichen Gebrauch nothwendigen Sachen“ zugeordnet.19 Für die Wahrnehmung eines Baus erweisen sich also Lage, Größe, Baumaterial, Gestalt, Erhaltungszustand und dekorative Pracht von primärer Relevanz. Mit ihnen ist ein begriff liches Ordnungssystem aufgespannt, das sich in ähnlicher Form auch in anderen Reise-Apodemiken der Zeit findet. Rudimentär angelegt ist es bereits im Klassiker der Gattung, der Methodus apodemica von Theodor Zwinger, dort sind „forma“ und „materia“ den „causae“ eines Monuments zugeordnet und „locus“ den „accidentia“.20 In solchen begriff lichen Ordnungsschemata wird offenbar für den Bereich der gelenkten Architekturrezeption eine hierarchische Reihung der einzelnen Posten als verbindlich deklariert, die durch die Betrachter an der gebauten Realie zu exemplifizieren war. Unter der methodischen Prämisse von Architektur als kulturelle Konstruktion von Raum sind die einzelnen Kategorien darüber hinaus zu den sozialen, für die Betrachter und Nutzer verbindlichen Normen in Relation zu setzen. So bilden sich in Lage und Größe eines Baus unmittelbar ständische Distinktionen und sozialtopographische Gegebenheiten durch räumliche und größenmäßig regulierte Distanzverhältnisse ab. Laut der 1719 erschienenen Hausväterlehre von Franz Philipp Florin zeige sich der Unterschied von Fürsten und Herren im „äußeren Apparatu“, wobei die Obrigkeiten „desto mehr respektiert und verehret werden, indem sie gleichsam auf einer Schaubühne stehen und von jedermann gesehen werden können“ sowie „weit über andere erhöhet“ seien.21 Dem Urteil über das Baumaterial kommt ein heute kaum mehr nachvollziehbarer Rang zu. Die nach wie vor spärliche Forschung hat sich hier allzu sehr auf die Ikonologie der Materialien verengt und die Frühe Neuzeit eher spärlich berücksichtigt. Dies gilt auch für den Einsatz von Spolien, den es in der Frühen Neuzeit noch in beträchtlichem Umfang gegeben zu haben scheint. So wurden nicht nur für fast jedes Bronzedenkmal Kanonen in den Schmelzofen geworfen, und fast immer hat man behauptet, es seien gemäß den antiken Topoi des ‚ex hostium manubiis‘ oder des ‚ex aere captum‘ aus Feindeshand erbeutete Stücke gewesen. Als Beispiele für die Zweitverwendung von Baumaterialien und deren signifikante Neukontextualisierung sei daran erinnert, dass Maria de’Medici für den Palais du Luxembourg in Paris Material von der durch ihre Vorgängerin Katharina de’Medici begonnenen Valois-Grablege an Saint-Denis verbauen ließ, um 19 Martin Zeiller: Fidus archates, oder Getreuer Reisegefert etc., Ulm 1653, Kapitel „Bedenken von Anstellung des Reisens“ (unpag.). 20 Theodor Zwinger: Methodus apodemica etc., Basel 1577, passim, u.a. S. 398; zur Textgattung Justin Stagl: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800, Wien u.a. 2002, S. 71-122. 21 Franz Philipp Florin: Oeconomus Prudens Et Legalis Oder Grosser Herren Stands und Adelicher Haus-Vatter bestehend aus Fünf Büchern etc., Nürnberg 1719, S. 60.

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IV. Architekturanthropologie

damit bei ihrem Witwensitz die Kontinuität des Herrschaftsmodells der Mitregierung durch die Königinwitwe zu unterstreichen. Papst Paul V. Borghese ließ an dem oberhalb von Trastevere gelegenen Wasserkastell auf dem Gianicolo, der Ausmündung der Acqua Paola, Säulen aus Alt-Sankt Peter anbringen. Er wollte mit der Brunnenstiftung nicht nur der paternalistischen Geste der Wasserversorgung Genüge tun, sondern durch die Spolienverwendung auch in dem Skandal um die unter seinem Pontifikat initiierte Zerstörung von Alt-Sankt Peter beschwichtigen.22 Solche Beispiele belegen, dass durch Spolieneinsatz sozial höchst brisante Erinnerungskontexte hergestellt wurden. Weit über diese speziellen Verwendungen hinaus wurden Baumaterialien aber vor allem generalisierend nach ihrer Menge, Vielfalt, Exklusivität sowie nach der Sorgfalt ihrer handwerklichen Verarbeitung beurteilt. Allein an der ab 1472 errichteten Cappella Colleoni in Bergamo wurden – so haben es die Restauratoren nachgezählt – 17 verschiedene Marmorsorten verwendet und mit Raffinesse in der Form von Inkrustationen verbaut.23 In der Architekturtheorie von Claude Perrault gelten dann im ausgehenden 17. Jahrhundert Qualität und sachgemäße Verarbeitung des Baumaterials als positive Schönheiten, die wie die Belange der angemessenen Funktionsbestimmung eines Bauwerks natürlich und notwendig Gefallen hervor riefen.24 Gleichzeitig ist aber nicht zu übersehen, dass auch das Material unter dem Blickwinkel kultureller Traditionen beurteilt wurde. So blieb es im beginnenden Zeitalter nationaler Ungeduld nicht aus, dass das Material in ein regionales, landsmannschaftliches und schließlich staatliches Bedeutungsfeld hineingezogen wurde. Diesen Schritt vollzieht bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts Philibert de L’Orme, als er für eine Autonomie der französischen Kunst plädiert und als deren natürliche Voraussetzungen die Vielfalt der Mar-

22 Zum Topos bei Denkmälern die Belege bei Dietrich Erben: Die Reiterdenkmäler der Medici in Florenz und ihre politische Bedeutung, in: Mitteilungen des kunsthistorischen Institutes in Florenz 40 (1996), S. 287-361, hier S. 337; die Inschrift „Ex hostium manubiis“ ist am Sarkophag des Grabmals für den Dogen Pietro Mocenigo (nach 1476) in SS. Giovanni e Paolo in Venedig eingemeißelt; zum Palais du Luxembourg „Marie de Medicis et le Palais du Luxembourg“ (Ausstellungskatalog Paris), Paris 1991, S. 190; zur Acqua Paola Cesare D’Onofrio: Le fontane di Roma, Rom 1986, S. 324. Zur Spolienverwendung nun die grundlegende Übersicht von Hans-Rudolf Meier: Spolien. Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur, Berlin 2020; speziell zum 20. Jahrhundert Christian Fuhrmeister: Beton, Klinker, Granit: Material, Macht und Politik. Eine Materialikonographie, Berlin 2001. 23 Efrem Bresciani: La Cappella Colleoni: relazione sulle cause del degrado, in: Bartolomeo Colleoni dall’Isola all Europa, Bergamo 1991, S. 310-317. 24 Claude Perrault: Les dix livres d’architecture de Vitruve, Paris 1673 (Neudr. Paris 1995), bes. S. 12, Anm. 3; vgl. Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie. Von Vitruv bis zur Gegenwart (1985), München 62013, S. 149-153 und Dietrich Erben: Claude Perrault, in: NidaRümelin, Ästhetik und Kunstphilosophie, S. 620-623.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit

morvorkommen im eigenen Land erkennt.25 Damit ist Materialität mehr als ein Zeichen für die ökonomische Potenz und die organisatorische Leistungsfähigkeit des Bauherrn, vielmehr wird durch das Baumaterial auch ausdrücklich auf regionale Lebenswelten und soziale Kollektive verwiesen. Die Bauzier ist mit dem Baumaterial nicht nur substanziell, sondern auch bedeutungsgemäß verhaftet. Dies betrifft sowohl die Semantik der tektonischen Fassadendisposion, d.h. die Säulenordnungen, als auch den unmittelbareren Aussagegehalt von Bauinschriften und heraldischer Ausstattung, sowie schließlich die Lesbarkeit von Fassaden in Analogie zur Kleiderordnung. Kein Bau repräsentativen Zuschnitts kommt ohne Inschrift und Heraldik aus. Sie weisen mit den Mitteln der Schrift und des Bildzeichens den Bauherrn – und nicht etwa den Architekten – als den Urheber, den „auctor“ des Baus aus. Der obligatorischen Existenz der Bauherrninschrift, für die die Portikusinschrift des römischen Pantheons paradigmatisch vor Augen stand und die meist den Bauherrn in Herkunft, Amt und Stand würdigt, steht eine verschwindend geringe Anzahl von Architektensignaturen gegenüber. Kommen letztere überhaupt vor – wie etwa an Bauten Andrea Palladios – so soll offenbar explizit die kulturelle Leistungsfähigkeit des jeweiligen Milieus ausgewiesen werden.26 Der Bauherrninschrift steht die Heraldik des Bauherrn zur Seite. Die semiotisch orientierten Studien der letzten Jahre haben mit Nachdruck den Bildstatus der Heraldik als Rechts- und Memorialzeichen herausgearbeitet und ihren Status als regelrechter Zweitkörper des Repräsentierten kenntlich gemacht, der den Abwesenden ikonisch vollgültig vertritt.27 25 Philibert De l’Orme: Le premier tome de l’architecture, Paris 1567 (Neudr. in Traités d’architecture, hg. von Jean-Marie Pérouse de Montclos, Paris 1988), fol. 27. Eine nationale, auf die Toskana bezogene Materialinterpretation bietet etwa gleichzeitig auch Giorgio Vasari: Dell’architettura, in: Ders.: Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architetti (Ausg. Florenz 1568), 9 Bde., hg. von Gaetano Milanesi, Florenz 1878-1885 (Nachdr. Florenz 1981), Bd. I, S. 107-148. 26 Architekteninschriften Palladios befinden sich etwa an der Loggia del Capitaniato in Vicenza am Gebälk der Schmalseite und am Portikus der Kapelle bei der Villa Maser; vgl. Alexander Markschies: „Portugiesischer Kalkstein Creme Royal“. Architekturinschriften als Zeugnis der Autorschaft, in: Andreas Beyer u.a. (Hg.): Das Auge der Architektur. Zur Frage der Bildlichkeit in der Architektur, Paderborn 2011, S. 509-531. 27 Zur Semantik vgl. Walter Seiter: Das Wappen als Zweitkörper und Körperzeichen, in: Dietmar Kamper u.a. (Hg.): Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt/M. 1982, S. 299-312; Werner Paravicini: Gruppe und Person. Repräsentation durch Wappen im späten Mittelalter, in: Otto Gerhard Oexle u.a. (Hg.): Die Repräsentation der Gruppen. Texte-Bilder-Objekte, Göttingen 1998, S. 327-389; Kilian Heck: Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit, München-Berlin 2002; Hans Belting: Repräsentation und Anti-Repräsentation. Grab und Porträt in der frühen Neuzeit, in: Ders. u.a. (Hg.): Quel corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 29-52. Zur Heraldik an Fassaden auch Dietrich Erben: Paris und Rom. Die staatlich

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Die Applikation der Heraldik an der Fassade lässt sich unmittelbar in Analogie zur Livrée setzen, auch dem Kleidungsstück der Mitglieder einer „familia“ sind die heraldischen Farben und Bildzeichen des Herrn aufgeprägt. Dadurch wird ein Verständnis der Fassade als Bekleidung des Bauherrn nahegelegt. Antonio Filarete hat um die Mitte des 15. Jahrhunderts diesen auch in der späteren Architekturtheorie geläufigen Begründungszusammenhang erstmals ausführlich dargelegt. Er rückt die „qualità“ der einzelnen Säulenordnungen sowie die Wertigkeit der verschiedenen Sorten von Baumaterial und die Bauornamentik in ein direktes Abbildungsverhältnis zum Stand des Bauherrn – dessen Status wird von Filarete ebenfalls als „qualità“ bezeichnet. Dieses zur Trias von Säulenordnung, Material und Bauzier zusammengeführte „ornamento“ vergleicht Filarete mit der Kleiderordnung. Die Kernstelle lautet: „sono più qualità di edificii come sono più qualità d’uomini [...], e così come gli uomini secondo loro dignità debbano essere verstiti, così sono gli edificii.“28 Exemplifiziert wird dies dann am Beispiel des „ornamento“ der Kirchenfassade und des „ornato“ des Priesters. Durch die Analogie zur Kleiderordnung ist mehr als eine Fixierung des Bauwerks in der Sozialhierarchie geleistet. Sie begründet eine unmittelbare Identifizierung von Baukörper und menschlichem Körper. Dieses Verständnis konnte begriff lich anders gefasst zur Idee der Ineinssetzung des Bauwerks mit dem Bauherrn in seiner personalen Identität gesteigert werden. Dieser Gedanke ist in dem im Zusammenhang mit der Planung des Louvrepalastes in Paris überlieferten Diktum von Gianlorenzo Bernini, ein Palast sei der „ritratto“ des Bauherrn, zur Faustformel verdichtet.29 Mit dieser Begriffszuweisung ist mindestens dreierlei gemeint: Einerseits die Zuordnung von allgemeiner Bauaufgabe und Bauherrnstatus, andererseits eine aus einem Tugendkodex begründete Zuordnung von Bau und Bauherr und schließlich ein korporales Analogieverhältnis, das Bau, Bauherr und Betrachter zusammenschließt. Bekanntlich begründet die Lehre von den Gebäudetypen die jeweilige Bauaufgabe unmittelbar aus dem sozialen Status und der politischen Rolle des Bauherrn. gelenkten Kunstbeziehungen unter Ludwig XIV. (Studien aus dem Warburg-Haus 9), Berlin 2004, S. 280-291. 28 Antonio Averlino detto il Filarete: Trattato di architettura, hg. von Anna Maria Finoli u.a., 2 Bde., Mailand 1972, S. 189; zur Deutung auch John B. Onians: Filarete and the ‚qualità‘: architectural and social, in: Arte lombarda 38/39 (1973), S. 116-128; aus der umfangreichen Literatur zur Kleiderordnung vgl. Neithard Bulst, Thomas Lüttenberg und Andreas Priever: Abbild oder Wunschbild? Bildnisse Christoph Ambergers im Spannungsfeld von Rechtsnorm und gesellschaftlichem Anspruch, in: Saeculum 53 (2002), S. 21-73. 29 Paul Fréart de Chantelou: Journal de voyage du cavalier Bernin en France, hg. von Milovan Stanic, Paris 2001, S. 237: „E ben vero [...] che le fabriche sono i ritratti dell’animo dei principi.“ Der Ausspruch ist auch in den Erinnerungen von Charles Parrault: Mémoires de ma vie, hg. von Antoine Picon, Paris 1993, S. 173 überliefert.

Nikolaus Goldmann und Leonhard Christoph Sturm: Vollständige Anweisung zu der Civil-Bau-Kunst etc., Leipzig 1696, Inhaltsverzeichnis zum 4. Buch. Synopse der Bauaufgaben.

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IV. Architekturanthropologie

In einer Synopse, die als Inhaltsangabe dem vierten Buch der Vollständigen Anweisung zu der Civil-Baukunst (1696) von Nikolaus Goldmann und Leonhard Christoph Sturm vorangestellt ist, sind die Bauaufgaben akkurat sortiert (Abb.). Im Rückgriff auf antike und zeitgenössische Staatslehren sind die Gebäudetypen in einer ersten Unterscheidung in private und öffentliche Bauten – also der Sphäre der Oikonomik und der Sphäre der Politik zugehörige Bauten – geschieden. Beide Bereiche werden dann bis in die Kapillargefäße, buchstäblich vom Hühnerstall bis zum Fürstenpalast, vom Kirchenbau bis zum Gefängnis verästelt. Die beharrliche Systematik der Bauaufgaben erweist sich nicht nur als ein Ref lex auf die ökonomische und politische Ideengeschichte der Epoche, sondern auch als ein Abbild gesellschaftlicher Rangbemessungen. Die Errichtung eines einem bestimmten Typus zugehörigen Baus war gleichermaßen ein Privileg wie eine Pf licht seitens bestimmter Einzelpersonen oder Korporationen. Gerade dadurch, dass ein Einzelbau im gestuften System der Bauaufgaben verbindlich fixiert war, konnte er auch vom Betrachter in die Hierarchie der obrigkeitlichen Instanzen einsortiert werden.30 Werden bereits durch das System der Bauaufgaben Planung und Herstellung von Architektur als obligatorische Bestandteile von obrigkeitlichem Regierungshandeln ausgewiesen, so wird dies durch die Idee nochmals bekräftigt, dass ein Bau allgemein den Bezug zum Bauherrn unter den Vorzeichen der politischen Tugendlehre herstellt. Dieser Gedanke ging seit der Antike, seit Plinius d.J. Kaiser Trajan die Aufforderung erteilte, durch Bauwerke seine Stellung und Gesinnung zu zeigen31, nicht verloren. Der Bezug kann symbolisch, analog oder kausal sein. Der angesprochene Repertoirecharakter frühneuzeitlicher Architektur wird insbesondere für die symbolische und analoge Ebene in Dienst genommen. Durch die Säulenordnungen, denen konventionalisierte Bedeutungsensembles auferlegt waren, stand ein vielschichtiges Symbolsystem bereit.32 Das Ensemble der Säulenordnungen umfasst für jede einzelne Ordnung vielfältige Semantiken: historische Wertigkeiten von alt und jung, die Charakterisierung in starke und schwache Ordnungen, die Zuordnung innerhalb der Geschlechterdifferenz – also etwa die gedrungen proportionierte und lapidar verzierte älteste und zugleich mit männlicher Stärke konnotierte Dorica gegen die reich verzierte, schlank proportionierte, schwache, weibliche Corinthia. 30 Nikolaus Goldmann und Leonhard Christoph Sturm: Vollständige Anweisung zu der CivilBau-Kunst etc., Leipzig 1696, Inhaltsverzeichnis zum 4. Buch (unpag.); vgl. auch Ulrich Schütte: Die Lehre von den Gebäudetypen, in: „Architekt und Ingenieur. Baumeister in Krieg & Frieden“ (Ausstellungskatalog Wolfenbüttel), Wolfenbüttel 1984, S. 156-262. 31 Plinius d.J.: Briefe, hg. von Helmut Karsten, München/Zürich 1990, S. 595. 32 John Onians: Bearers of Meaning. The Classical Orders in Antiquity, the Middle Ages and the Renaissance, Princeton N.J. 1983.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit

Die analoge Ebene wird insbesondere durch die Regulariät eines Baus, die in der Grund- wie in der Aufrissdisposition verbindlich war, aufgerufen. Es gehört zu den Topoi der Architekturdeutung, die gebaute Ordnung als Entsprechung der Ordnung des Gemeinwesens zu verstehen. Im Architekturtraktat von Vincenzo Scamozzi wird dies deutlich ausgesprochen: „Weil ja in allen Dingen eine Ordnung seyn muß, indem sonsten eine allgemeine Verwirrung entstünde, und alles wieder gelangen würde zum Chaos und zu ungeformten Klumpen, so sagen wir, daß vornehmlich die Baukunst als die Auswirkung einer vortreff lichen Wissenschaft eine Ordnung haben muß.“33 Das kausale Bezugsverhältnis ruft schließlich ein Normensystem auf, das die Grundwerte des politischen Verhaltens der Obrigkeiten umfaßt: „Pax“ und „abundantia“ gelten als deren strukturelle Voraussetzungen; „prudentia“ und „scientia“ gewährleisten planerische Vorausschau; „fortitudo“, „voluntas“ und „constantia“ bieten Gewähr für die Überwindung von Hindernissen; „magnanimitas“ und „magnificentia“ befördern das Wohlergehen der Untertanen und die Wohlfahrt des Landes durch Bauherrntätigkeit. Didaktische Handreichungen zur Fürstenerziehung oder Widmungen von Schlossbeschreibungen stellen diesen Tugendkodex und die Bauherrschaft explizit in einen Begründungszusammenhang.34 Jenseits der Verweissysteme von Bauaufgabe und Tugendlehre scheint aber Berninis Begriff des „ritratto“ schließlich auch noch auf eine Identifikation abzuzielen, die Bauwerk, Bauherr und Betrachter noch unmittelbarer aufeinander bezieht. Wie die „facciata“ des Gebäudes als „faccia“ des Bauherrn verstanden wurde, so ist der Bau als Porträt des Bauherrn zugleich den Betrachtern zugewandt. Dem Bau wird regelrecht die Kompetenz zugesprochen, den Bauherrn in seiner personalen Identität zu repräsentieren. Diese personale Identität umfasst – im Unterschied zum Distinktionsmerkmal der individuellen Identität – Eigenschaften und Kompetenzen, die einer Person im gesellschaftlichen Gefüge zukommen wie Geschlecht, Herkunft, Alter, Amt und sozialer Status. Wie jedes frühneuzeitliche Porträt erfüllt damit auch ein Bauwerk seine repräsentative Stellvertreterfunktion, indem es wie ein Bildnis den Abwesenden präsent hält.35 Dabei ist nachdrücklich daran zu erinnern, dass das Konzept der Decorumslehre, die seit der Frührenaissance für die Lesbarkeit von Architektur zentrale Bedeutung ge33 Vincenzo Scamozzi: Idea dell’architettura universale etc., Venedig 1615; zit. nach Ulrich Schütte: „Als wenn eine ganze Ordnung da stünde...“ Anmerkungen zum System der Säulenordungen und seiner Auflösung im späten 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 44 (1981), S. 14-37, hier S. 26-27, dort auch mit weiteren Belegen und Überlegungen. 34 Vgl. zum gesamten Zusammenhang dieses Verweissystems die grundlegenden Überlegungen bei Völkel: Architekturstichserien, S. 249-259. 35 Zum Begriff Dietrich Erben: Der steinerne Gast. Die Begegnung mit Statuen als Vorgeschichte der Betrachtung, Weimar 2005, bes. S. 45-46.

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IV. Architekturanthropologie

wann, keineswegs auf die durch die Rhetorik bestimmte Ebene der Ästhetik beschränkt war. Die Decorumslehre war im Gegenteil als ein Konzept der sozialen Tugendlehre konzipiert, das als solches dann auf die Künste übertragen wurde. So betrachtet Cicero in der dafür grundlegenden, im Verlauf der Frühen Neuzeit breit rezipierten Schrift De officiis sämtliche Kategorien der personalen Identität unter den Vorzeichen der Decorumslehre, wenn er dem Menschen gemäß Alter, öffentlichem Amt, Geschlecht sowie gemäß der Beherrschung von Körper, Seelenregungen und Sprache bei öffentlichen Auftritten entsprechende Pf lichten des angemessenen Verhaltens auferlegt. Am Beginn der Neuzeit hat Leon Battista Alberti in seinem Dialog Della famiglia eine an Cicero anschließende Sozialethik formuliert. Und hatte bereits Cicero selbst in seinen Schriften über die Redekunst die soziale Konzeption der Decorumslehre in die Sprachkünste eingearbeitet, so war es wiederum Alberti vorbehalten, diese Integration nicht nur für die Malerei, sondern auch für die Baukunst seiner Epoche zu leisten. Bei Alberti erweist sich das geforderte Verhältnis der Angemessenheit zwischen Bauwerk und Bauherr als ein Bestandteil einer weitaus umfassenderen sozialen Decorumskonzeption.36 Die Angemessenheit eines Baus erscheint aus dieser Sicht als eine einzelne Facette, durch die innerhalb des allgemeinen Kanons von Verhaltenspf lichten die personale Identität des Bauherrn Ausdruck finden sollte. Die Gültigkeit des Konzepts einer durch das Bauwerk repräsentierten personalen Identität bestätigt sich in der Frühen Neuzeit nachträglich noch durch dessen Auf kündigung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese Modernisierung des Regelkanons der Decorumslehre wurde durch den Stilpluralismus, durch serielle, auf unterschiedliche Bauaufgaben übertragbare Entwurfsmethoden sowie vor allem durch die physiognomisch inspirierte Charakterlehre geleistet. Die Charakterlehre wollte im Bau nun nicht mehr die personale, sondern die individuell-unverwechselbare Identität des Bewohners dokumentiert wissen, nämlich seine „Geistesfähigkeiten und seine moralischen Eigenschaften“, wie es in einer einschlägigen Programmschrift formuliert ist. Der Baumeister soll im36 Die einschlägigen Passagen zur Decorumslehre Ciceros sind De officiis, bes. I, 4-5, 27-43 und Orator, bes., 21-22, 35-36. In De officiis I, 39 findet sich auch der Hinweis auf die Anlage des Hauses einer öffentlich geachteten Person, das gemäß praktischem Nutzen, Bequemlichkeit und Würde dem Bauherrn angemessen sein soll. Auch wenn damit einerseits gefordert wird, das Haus sei in Angemessenheit der Würde des Bauherrn zu errichten, steht für Cicero die Priorität des sozialen vor dem architektonischen Decorum außer Frage, wenn er feststellt, nicht das Haus diene der Zierde des Herrn, sondern der Herr schmücke das Haus und verleihe ihm Ehre. Zur Cicero-Rezeption Albertis und zu dessen Decorumslehre Brian Vickers: Humanismus und Kunsttheorie in der Renaissance, in: Kurt W. Forster u.a. (Hg.): Theorie der Praxis. Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste, Berlin 1999, S. 9-74; Branko Mitrovic: Serene Greed of the Eye. Leon Battista Alberti and the Philosophical Foundations of Renaissance Architectural Theory, Berlin 2005.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit

stande sein, den „äußeren Zustand“ eines Gebäudes als eine „begreif liche Folge“ der Fähigkeiten oder der Gesinnungen der Bewohner vorzustellen.37 IV. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Frage nach der Relation von frühneuzeitlicher Architektur zu Korporalität und Sozietät. Dieser Beziehung sollte nur auf der Ebene der Wahrnehmung nachgegangen werden, wobei ein quellenkonformes Kriterienraster zugrunde gelegt wurde. Dabei waren für sämtliche Kriterien vielfältige Relationen zu beiden Bezugsebenen festzustellen: Sei es, dass die Situierung eines Baus und seine Größenverhältnisse immer in körperlichen und sozialtopographischen Maßstäben gedacht werden; sei es, dass das verwandte Baumaterial auf landschaftliche Räume und soziale Kollektive bezogen wird; sei es, dass Architektur durch die Bauzier im weitesten Sinne als Bekleidung des Bauherrn und der Bau als Baukörper wahrgenommen werden; sei es, dass einem Bau die Qualität des Porträts zugesprochen werden konnte und der Bau den Bauherrn in seiner personalen Identität vertreten konnte. Natürlich beruht eine solche Deutungsperspektive auf dem entscheidenden Fundament der frühneuzeitlichen Architektursemantik, nämlich der Vorstellung von Architektur als Medium sozialer Normierungen. Dieser Gedanke bildet den Kern der architektonischen Decorumslehre, die sich ihrerseits als Bestandteil einer allgemeiner und normativ gefassten gesellschaftlichen Decorumskonzeption darstellt. Die angestellten Überlegungen sind der Versuch, diese Verständnisebenen für die Wahrnehmung von Architektur unter epochenspezifischen Bedingungen zu beschreiben. Im Rahmen der Trias von Korporalität, Sozietät und Kulturalität stellt sich schließlich die Frage nach der Position der Architektur innerhalb des Feldes der Kulturalität, das heißt innerhalb verschiedener Kulturtechniken. Hier ist insbesondere der epochenspezifische Mediencharakter der Architektur zu betonen, den die gebaute Realie mit der Architekturtheorie und den Rezeptionsquellen teilt. Offensichtlich greift es zu kurz, in diesen Medien nur formale Informationsträger zu sehen, in denen sich politisch-gesellschaftliche und mentale Verhältnisse abbilden. Im Anschluss an kommunikationstheoretische Überlegungen ist festzustellen, dass diese Medien als konstruierende, aktionistische Instanzen38 diese Verhältnisse in erheblichem Umfang selbst erzeugt und befestigt haben.

37 Anon.: Untersuchungen über den Charakter der Gebäude; über die Verbindung der Baukunst mit den schönen Künsten etc., Dessau 1785 (Neudr. der zweiten Auflage Leipzig 1788 Nördlingen 1986), S. 101. Zur Schrift und zur Zuschreibung an Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf vgl. Jürgen Schönwälder: Ideal und Charakter. Untersuchungen zu Kunsttheorie und Kunstwissenschaft um 1800, München 1995, S. 127-142. 38 Vgl. dazu Landwehr: Die Stadt auf dem Papier durchwandern, bes. S. 48-49.

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„porös“ Anmerkungen zur Architekturgeschichte des Begriffs

Die Architekturgeschichte des Wortes „porös“ begann vermutlich als Krankengeschichte. Dass mit dem synthetischen Material des Linoleums gegen „poröse“ Gefahrenherde ein Gegenmittel gefunden worden war, behauptet bereits eine Broschüre, die von den Deutschen Linoleumwerken Hansa anlässlich des Berliner Tuberkulose Kongresses im Jahr 1899 herausgegeben wurde. In ihr heißt es unter dem sperrigen Titel Linoleum der Idealfußboden für Krankenräume, Kliniken, Wohlfahrts-Anstalten, Schulen, Hotels, Geschäfts- und Privaträume: „Dem praktischen Arzt muss am Linoleum eine seiner Haupteigenschaften schon von vorneherein ganz besonders wertvoll erscheinen: das ist die vollständige Undurchdringlichkeit für f lüssige und feste Stoffe irgendwelcher Art.“ Natürliche Materialien wie Holz oder Stein könnten „mit dem fugenlosen Linoleumboden nicht konkurrieren“, denn sie seien „porös, und die vielen Fugen bieten viel mehr Sammelpunkte für gesundheitswidrige Substanzen, als mit unseren heutigen Begriffen von richtiger Gesundheits- und Krankenpf lege vereinbar.“1 Die Broschüre ist eine Kampfansage des „Undurchdringlichen“ gegen das „Poröse“. Ins „poröse“ Reich der Tuberkulosekrankheit führt auch Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924). Hier wird der Begriff vom einzelnen Ausbauelement auf das gesamte Gebäude übertragen, wobei wiederum, wie schon beim synthetischen Linoleum und beim Naturmaterial, die Opposition von Gesundheit und Krankheit eine Rolle spielt. Hans Castorp, der Protagonist des Romans, hatte am Beginn seiner Reise in das Lungensanatorium in Davos noch ein englisches Buch über ‚Ocean steamships‘ gelesen; auf dem Weg in die Bergwelt legt er jedoch das ozeanische Weite und gesunde Meeresluft versprechende Buch beiseite, „indes der hereinstreichende Atem der schwer keuchenden Lokomotive seinen Umschlag mit Kohlepartikeln verunreinigte.“ Das Sanatorium tritt Castorp dann im Abendrot, das „schon verblichen“ war, entgegen als „[...] ein langgestrecktes Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem löchrig und porös

1 Nils Aschenbeck: Reformarchitektur. Die Konstituierung der Ästhetik der Moderne, Basel 2014, S. 118.

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IV. Architekturanthropologie

wirkte wie ein Schwamm“.2 Die Metaphorik der Beschreibung gibt, gleich am Beginn des Buches, den LeserInnen eine Vorahnung, dass der Genesung suchende Kranke vom Sanatorium gleichsam aufgesogen und dort für lange Jahre bleiben wird. Mit dem Stichwort des „Porösen“ werden die kranke Person und das Gebäude der Heilanstalt aufeinander bezogen; es werden – noch allgemeiner gesagt – Individuum und Institution zueinander ins Verhältnis gesetzt.

Giorgio Sommer: Fassaden in der Via della Marina in Neapel, Foto um 1878.

Um das „Poröse“ zu entdecken musste man nicht nach Neapel reisen, wie es Walter Benjamin und Asja Lacis unternommen haben und auf der Insel Capri ihren berühmten Stadtessay verfassten. Der Begriff und sein auch auf die Architektur bezogenes Verständnis waren schon woanders vorhanden. Sie lagen, wie die Eingangszitate zeigen, in der, durchaus unbehaglich kontaminierten, Luft. Doch ist es Benjamin und seiner damaligen Reisebegleiterin, der aus Lettland stammenden und in Moskau ausgebildeten Theateraktivistin Asja Lacis zu verdanken, dass die Begriffsüberlegungen zum „Porösen“ zu jener notorischen Berühmtheit gelangten, die sie heute haben. Geschrieben wurde der Neapel-Essay im Herbst 1924, veröffentlicht wurde er in der Frankfurter Zeitung im August 1925. Die Rezeptionsgeschichte setzte unverzüglich ein, nachdem Ernst Bloch noch im gleichen Jahr in direktem Bezug auf Benjamin die Begriff lichkeit in der Formel „Italien und die 2 Thomas Mann: Der Zauberberg (1924), Frankfurt/M. 1986, S. 12 und 17.

„porös“

Porosität“ verallgemeinerte.3 Heute nimmt sie mehr denn je in verschiedenen Disziplinen an Fahrt auf. Dabei steht die Begriffskonjunktur durchaus im Gegensatz zur irritierend sporadischen Verwendung des Begriffs bei Benjamin selbst. Bei ihm entfaltet er keine systematische Präsenz und er fristet im Neapel-Text ein einsames Dasein als Einzelgänger, denn im Gesamtwerk taucht er nur noch ein einziges Mal beiläufig im Passagenwerk auf.4 Daher kann es gut sein, dass Begriff und Sache des „Porösen“, wie sie im „Denkbild“ Neapel zur Sprache kommen, maßgeblich von Asja Lacis inspiriert wurden, spielt doch beim „Porösen“ gerade der Aspekt der ebenso öffentlichen wie theatralischen Inszenierung des Privaten die maßgebliche Rolle. Benjamin selbst widmete sich während seines Aufenthalts auf der Insel Capri vor allem seinem Werk über den Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928). In ihm beschäftigte er sich ebenfalls mit der Allegorie des Theatralischen, die als aktuelle Erfahrung im Städtebild über Neapel ref lektiert wird. Es sind im Wesentlichen zwei Aspekte, welche die poetische Faszination des Neapel-Textes ausmachen – einmal das Verfahren, den metaphorischen Gehalt der „Porosität“ in den Text selbst hineinzutragen, und sodann die Erweiterung des Leitmotivs des „Porösen“ in einem Dreischritt vom Material über den Raum zur Kultur. Beide Aspekte hat die Benjamin-Forschung in den letzten Jahren herausgearbeitet.5 Wenn Benjamin und Lacis die „Porosität“ als „das unerschöpf lich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens“ 6 von Neapel titulieren, so suchen sie diese Erkundung der Stadt im sprachlichen Duktus ihres Essays auch für die LeserInnen nachvollziehbar zu machen – ja sie setzen die LeserInnen den Poren, den Löchern und den Zwischenräumen in den Gedankengängen des Textes regelrecht aus. Der Text ist, mit einem Wort, alles andere als systematisch. Schon dass er im maschinenschriftlichen Textentwurf ohne Absätze in einem Textblock niedergeschrieben, gleichsam wie ein Monolith bearbeitet wurde, deutet auf die Absicht erschwerter Zugänglichkeit. Es gibt in ihm weder eine Exposition mit These, noch einen Schluss mit Fazit. Die Beobachtungen der Autoren folgen auch nicht einer 3 Ernst Bloch: Italien und die Porosität (1926), in: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9: Literarische Aufsätze, Frankfurt/M. 1965, S. 508-515. 4 Martin Mittelmeier: Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt (2013), München 22015, S. 57. 5 Christina Ujma: Zweierlei Porosität. Walter Benjamin und Ernst Bloch beschreiben italienische Städte, in: Rivista di letteratura e cultura tedesca/Zeitschrift für deutsche Literatur und Kulturwissenschaft 7 (2007), S. 57-64; Stefan Bub: Porosität und Gassengeschlinge, in: KulturPoetik 10 (2010), S. 48-61; Benjamin Fellmann: Durchdringung und Porosität: Walter Benjamins Neapel. Von der Architekturwahrnehmung zur kunstkritischen Medientheorie, Münster 2014; Mittelmeier: Adorno in Neapel, 2015, bes. S. 38-64. 6 Walter Benjamin und Asja Lacis: Neapel (1925), in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 5 Bde. in 12 Bden., Frankfurt/M. 1980-1982, Bd. IV,1: Kleine Prosa und Baudelaire-Übertragungen, S. 307-316, hier S. 311.

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stringenten Logik und sind nicht in einer Argumentationskette linear aufgereiht, das Material ist vielmehr zu einem losen Gefüge arrangiert. Die Textgestalt ist so porös wie die Porosität mit ihren Leerräumen, die sich der Text zum Thema macht. Das Nachdenken von Benjamin und Lacis kreist um diese Leerräume, die sie jedoch nicht leer belassen, sondern mit ihren Imaginationen füllen. Der Raum, von dem sie erzählen, basiert auf dem Stoff lichen, er weitet sich dann zur baulichen Szenerie aus, die wiederum die Bühne sozialer Aktion ist. Das Poröse wird vergrößert – von einer Eigenschaft der Baustoffe über die Beschreibung der architektonischen Raumorganisation bis hin zur Deutungskategorie der städtischen Kultur: „Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über. In allem wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden. Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr ‚so und nicht anders‘. So kommt die Architektur, dieses bündigste Stück der Gemeinschaftsrhythmik, hier zu Stande.“7 Und an anderer Stelle: „Porosität begegnet sich nicht allein mit der Indolenz des südlichen Handwerkers, sondern vor allem mit der Leidenschaft für Improvisieren. Dem muß Raum und Gelegenheit auf alle Fälle gewahrt bleiben. Bauten werden als Volksbühnen benutzt. Alle teilen sich in eine Unzahl simultan belebter Spielf lächen. Balkone, Vorplatz, Fenster, Torweg, Treppe, Dach sind Schutzplatz und Loge zugleich.“8 „Poröse“ Durchlässigkeit besteht im Verständnis von Benjamin und Lacis auf allen raum-zeitlichen Ebenen: So wird das Sakrale zum Profanen; die Profanität schlägt um in Transzendenz; das Kaputte wird in der Wiederverwendung wieder zum Intakten; es kommt zur Auf hebung des Unterschiedes von Feier- und Wochentagen und zur Verwischung der Gegensätze von Wachen und Schlafen, von Kindheit und Erwachsenenwelt. In der Stadttopographie erwachsen aus den Felsgrotten, Krypten und Katakomben die Bauten der vertikalen Stadt; öffentlich und privat überlagern sich in Wohnung, Straße und Platz, in Häuslichkeit und Theatralität, in Haus und Aktion. Das „Poröse“ ist „durchsetzt“ von den „Strömen des Gemeinschaftslebens“9, es ist ein materielles Bild für die „Gemeinschaftsrhythmik“10 und daher der Gegensatz zum Dauerhaften und Endgültigen. Die 7 A.a.O., S. 309. 8 A.a.O., S. 310. 9 A.a.O., S. 314. 10 A.a.O., S. 309.

„porös“

„hohe Schule der Regie, (die) sich auf den Treppen abspielt“ verdankt sich freilich keiner vorgegebenen Regieanweisung, sondern einer gleichsam instinktiven sozialen Kreativität der Teilnehmer: „Noch die elendste Existenz ist souverän in dem dumpfen Doppelwissen, in aller Verkommenheit mitzuwirken an einem der nie wiederkehrenden Bilder der neapolitanischen Straße, in ihrer Armut Muße zu genießen, dem großen Panorama zu folgen.“11 Benjamins und Lacis‘ „Denkbild“ ist, wie diese spezielle Bezeichnung für die Textgattung schon andeutet, eine metaphorische Konstruktion, in der sich begriff liches und bildliches Verständnis durchdringen. Beim Versuch, die Stadt in der Totalität der sich überlagernder Phänomene zu erfassen, treten konkrete Beobachtung und begriff liche Konzepte in ein Wechselverhältnis. Es kommt wie bei einem Bild zum visuellen Nebeneinander und zu einer zeitlichen Simultaneität der beobachteten Details. Hierin erscheint der Neapel-Essay als symptomatischer Text der Moderne. Indem sich die AutorInnen und KünstlerInnen der Moderne mit den offenen Strukturen auseinandersetzten, haben sie sich auch für die Gestaltung der Übergänge zwischen den Einzelphänomenen interessiert. Schwellen, Rahmen und Grenzen sind hierfür die Stichworte. Die Naturwissenschaften rangen um die Relativitätstheorie, und so beschrieb einer ihrer Protagonisten, Arthur S. Eddington, die Schwelle geradezu als Existenzmetapher, indem er in The Nature of the Physical World (1928) das Überscheiten einer Türschwelle als elementaren Kampf gegen die physikalischen Bedingungen von Atmosphäre, Schwerkraft und Erdrotation schilderte. In der politisch-gesellschaftlichen Sphäre standen einander komplementär Nationalstaat und Internationalismus gegenüber: Während sich der moderne Wohlfahrtsstaat nur in den nationalen Grenzen um seine Staatsmitglieder kümmerte, sympathisierte er gleichzeitig mit der Idee des Supranationalismus, wie er sich etwa in der Gründung des Völkerbundes 1919 konkretisierte. Auch im Bereich der Kulturtheorie wurde die Ambivalenz von Grenzen und Übergängen herausgearbeitet: Der französische Ethnologe Arnold van Gennep führte 1909 das Konzept der „rites de passage“ ein, um rituelle Schwellenmarkierungen im individuellen Lebenszyklus zu beschreiben. Der Soziologe Georg Simmel interessierte sich in seinem gleichnamigen Essay (1902) für den Bilderrahmen als ästhetische Grenze. Sigfried Giedion erkor in dem Fotobuch Befreites Wohnen (1929) „Licht, Luft, Bewegung, Öffnung“ zu den Idealen des modernen Wohnhauses. Auch Walter Benjamin gehört zu den Schwellenkundlern und Grenzgängern der Moderne. Wie die Leuchtspur einer Taschenlampe durchzieht sein Werk die Suche nach Phänomenen der Übergänge. Bisweilen findet er rätselhafte Formulierungen in einer Sprachwelt, in der das Nachdenken in Begriffen und die Imagination in Bildern ineinander gleiten. In der Berliner Kindheit fungieren Loggien als 11 A.a.O., S. 310.

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Schwellen des Hauses: Hier „hat die Behausung des Berliners ihre Grenze. Berlin – der Stadtgott selber – beginnt in ihnen. Er bleibt sich dort so gegenwärtig, daß nichts Flüchtiges sich neben ihm behauptet. In seinem Schutze finden Ort und Zeit zu sich und zueinander. Beide lagern hier zu seinen Füßen.“12 An anderer Stelle ist es ein Uferstreifen: „Jede Architektur, die den Namen verdient, lässt ihr Bestes nicht bloßen Blicken, sondern dem Raumsinn zugutekommen. So übt auch jener schmale Uferstreifen zwischen Landwehrkanal und Tiergartenstraße seine Kraft an den Menschen auf sanfte, gleitende Art: hermetisch und hodegetrisch.“ 13 Die beiden letzten Begriffe, die so viel heißen wie „geheimnisvoll“ und „wegweisend“, sind in ihrem modernen Gebrauch so archaisch wie die Inhalte, für die sie stehen. Bei Benjamin ist es bekanntlich die Figur des Flaneurs, dem sich die Schwellen offenbaren. Noch vor der Arbeit am Passagenwerk finden sich in einer Romanrezension von 1929 hierzu ungemein poetische Feststellungen14: Die Stadt erscheint „als mnemotechnischer Behelf des einsam Spazierenden“, dieser besitzt gleichzeitig „die Witterung (für die) Schwelle“. Der Flaneur als der „große Schwellenkundige kennt die geringeren Übergänge“ zwischen den beiden Polen von Stadt und Wohnung. „Urbild des Wohnens aber ist die matrix oder das Gehäuse“, wobei die Concierge als eine der „Hüterinnen der rites de passage“ fungiert. An anderer Stelle tituliert Benjamin das Haus „als Schoß und Labyrinth“15 und der Kamin des Hauses gilt ihm als Schwelle.16 Diese geheimnisvolle Welt der Über- und Durchgänge, also der „Passagen“ im wörtlichen Sinn, findet Benjamin auch im gleichnamigen Bautypus. Für den Flaneur ist die Passage der Ort der Erfüllung, denn die Passage gibt ihre Geheimnisse nicht preis, die ist eine „Unterwelt“, in der die Erfahrung zwiespältig bleibt.17 Wie schon angedeutet, verlor Benjamin bei diesen Erkundungen das „Poröse“ gänzlich aus den Augen. Das Wort ist ihm schlicht abhandengekommen. Benjamins Freunde, seine intellektuellen Verbündeten und seine Reisebegleiter nach Süditalien, zu denen Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer und Alfred Sohn-Rethel zählen, habe sich ohnedies nie auf das „Poröse“ eingelassen, obwohl sie sich in ihren Stadt- und Landschaftsbeschreibungen sowie in ihren Kunstanalysen oft-

12 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: Ders.: Schriften, Bd. IV,1: Kleine Prosa und Baudelaire-Übertragungen, S. 235-304, hier S. 296. 13 Walter Benjamin: Rezension zu: Franz Hessel, Heimliches Berlin, 1927, in: Ders.: Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, S. 82. 14 Walter Benjamin: Die Wiederkehr des Flaneurs, in: Schriften Bd. III, a.a.O., S. 194-199. 15 Walter Benjamin: Am Kamin, in: Ders.: Schriften, Bd. III, a.a.O., S. 390. 16 A.a.O., S. 388. 17 Walter Benjamin: Das Passagenwerk, in: Ders.: Schriften, Bd. V, S. 1045-1046.

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mals denselben Phänomenen wie Benjamin widmeten.18 Im Neapel-Text verdankt sich das „Poröse“ daher der exklusiven zeitlichen, räumlichen und persönlichen Konstellation der Süditalienreise. Man kann umgekehrt nur spekulieren, weshalb Benjamin nach der Reise den Begriff konsequent wieder aufgegeben hat. Schon etymologisch landet man beim Wort „porös“ notgedrungen bei einer Unschärfe oder genauer gesagt, bei einem Zwiespalt. Gemäß seiner Herkunft aus dem Griechischen bezeichnet das Wort „porós“ so viel wie „Durchgang“ oder „Öffnung“. Die Pore ist also nicht nur eine Leere oder ein vorhandener Hohlraum, sondern sie ist es in einer relationalen Funktion im Hinblick auf die Umgebung – sie ist dazu da, durchlässig zu sein. Ihr Zweck ist es, ein Davor mit einem Dahinter, ein Außen mit einem Innen, zu verbinden, wobei sie aber selbst keine dichte Materialität besitzt. Die Pore ist ein „dünnes“ Medium. In beidem – der Bedeutung als Funktionsbegriff und der Ausdünnung – liegt der gedankliche Reiz der Wortfamilie „Pore“, „porös“ und „Porosität“, sie führt aber auch zu einer fast zwangsläufigen Unschärfe der Wörter. Begriffsgeschichtlich lässt sich dabei feststellen, dass die Leerstellen der Wörter durch die Einlagerung kultureller Bedeutungen gleichsam an Schwerkraft gewinnen. Wie sich auch am Neapel-Denkbild von Benjamin und Lacis zeigt, wird das „Poröse“ semantisch aufgeladen: „Porös“ ist das Alte und Vergangene; der Begriff wird assoziiert mit Morbidität und Hinfälligkeit; die mit ihm bezeichnete Eigenschaft charakterisiert die Kulturphysiognomie des „Südens“ im Unterschied zur Rationalität des „Nordens“; es handelt sich um eine Erfahrungs- und nicht um eine Erkenntniskategorie. Dass Benjamin in seinem Begriffsverständnis schwankte, mag man auch daran ermessen, dass er einerseits, in der einzigen Belegstelle außerhalb des Neapel-Aufsatzes, im Passagenwerk die „Porosität“ mit der Moderne identifizierte: „Das zwanzigste Jahrhundert machte mit seiner Porosität, Transparenz, seinem Freilicht- und Freiluftwesen dem Wohnen im alten Sinne ein Ende.“19 An anderer Stelle rückte er im Passagenwerk jedoch die „rauschhafte Durchdringung von Straße und Wohnung“ in der vormodernen Stadt in Opposition zur „nüchternen Wirklichkeit im neuen Bauen.“20 Diese Aporien mögen erklären, weshalb Benjamin nach Neapel um den Begriff einen Bogen machte. Hinzu kommt, dass sich mit dem Begriff der „Konstellation“ die Aussicht auf eine begriff liche Alternative eröffnete, sie findet sich auch bereits in der oben zitierten Passage im Neapel-Aufsatz. Mit diesem Begriffswechsel ist ein grundsätzlicher Perspektivwechsel verbunden. Haftet am „Porösen“ die Herkunft aus der Sphäre des Natürlich-Materiellen und bildet das Wort selbst letztlich einen statischen Zustand ab, so ist beim Begriff der „Konstellation“ des18 Mittelmeier: Adorno in Neapel. 19 Benjamin: Passagenwerk, S. 292. 20 A.a.O., S. 534.

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sen Herkunft aus der Astrologie („Planentenkonstellation“) weitgehend vergessen und er bezeichnet ein dynamisches Prinzip, mit dem sich sowohl Materielles als auch Gesellschaftliches gleichrangig integrieren lassen. Daraus begründet sich, dass statt des „Porösen“ die „Konstellation“ als Bezeichnung für tendenziell offene Funktionsverhältnisse den Vorrang gewann. Das gilt sowohl für Benjamin als auch für seine intellektuellen Mitstreiter.21 In der späteren Begriffsgeschichte halten sich, so scheint es, Skepis gegenüber dem „Porösen“ und Zustimmung die Waage. Bisweilen betritt man absichtsvoll das Wortfeld des „Porösen“ – oder man tut es eben bewußt nicht. In der NeapelLiteratur soziologischer und literaturwissenschaftlicher Provenienz hat sich das „Poröse“ mittlerweile als Topos der Gegenwartsdiagnose eingeschrieben.22 Dabei bleibt es meist bei der Bezugnahme auf Benjamin und Lacis und das Wort wie seine Verwendung bergen die Gefahr der inhaltlichen Aushöhlung und des Zerfalls der Logik bis hin zur Aussagelosigkeit. Aus der Warte eines Außenstehenden ist man verleitet, naiv zu formulieren: „Porös“ ist ein Passepartout, das sich in den buntesten Farben ausmalen lässt. Den Begriffsenthusiasten stehen die Begriffsskeptiker gegenüber. Zu ihnen zählt etwa Bernard Rudofsky, der sich 1932 in Capri niedergelassen hatte und mit Benjamins Werk bestens vertraut war. Im Katalog der berühmten, von ihm kuratierten Ausstellung „Architecture Without Architects“ geht es ihm um das Leitthema der Schwellen und Grenzen innerhalb von Habitaten sowie in den Übergängen zu deren Umwelt, doch er verzichtet auf das „Poröse“.23 Ebenso handhabt es Christof Thoenes, der als Architekturhistoriker die feinsinnigsten Interpretationen zur Architektur Neapels gegeben hat, wenn er über neapolitanische Treppen als öffentlich-private Räume spricht.24 Trifft man in der Architektursprache die Unterscheidung zwischen Kategorien, fachsprachlichen Termini und Metaphern25, so wird man am Ende sagen können, dass „porös“ innerhalb dieses Wortschatzes der Architekturgeschichte primär einen metaphorischen Wert mit einem weiten Assoziationsrahmen be21 Mittelmeier: Adorno in Neapel, S. 57-64. 22 Arturo Larcati: Neapel, die poröse Stadt. Anmerkungen zur Benjamin, Bloch, Henze, in: Literatur und Kritik Heft 359 (2001): Dossier Neapel, S. 68-75; Lello Savonardo: Il contesto della ricerca. Napoli nell’era Bassolino, in: Enrica Amaturo (Hg.), Capitale sociale e classi dirigenti a Napoli, Rom 2003, S. 73-95; Julia Anand: Die (Un)Schuld einer Stadt. Das poröse Neapel der Certi bambini Diego De Silvas, in: PhiN. Philologie im Netz 76 (2016), S. 1-19. 23 „Architecture Without Architects. A Short Introduction to Non-Pedigreed Architecture“ (Ausstellungskatalog New York), bearb. von Bernard Rudofsky, New York 1964. 24 Christof Thoenes: Ein spezifisches Treppenbewußtsein. Neapler Treppenhäuser des 18. Jahrhunderts, in: Daidalos 9 (1983), S. 77-85; für ein informiert-distanziertes Neapel-Bild vgl. die Beiträge in Salvatore Pisani und Katharina Siebenmorgen (Hg.): Neapel. Sechs Jahrhunderte Kulturgeschichte, Berlin 2009. 25 Adrian Forty: Words And Buildings. A Vocabulary of Modern Architecture, London 2000.

„porös“

sitzt. Besonders in der Disziplin der Urbanistik ist man seinem kreativen Anregungspotenzial auf der Spur. In Anbetracht der geschilderten begriffsgeschichtlichen Diskontinuitäten ist es hingegen fraglich, ob es sich beim „Porösen“ um einen Begriff der architektonischen Fachsprache oder gar um einen „Grundbegriff“ der Architektur26 handelt. Letzteres gilt dann nicht, wenn man unter einem Grundbegriff im Sinne der klassischen Begriffsgeschichte eine für das Verständnis der Realität unersetzbare Kategorie versteht, welche genau darum umstritten ist und ihre geschichtlichen Veränderungspotentiale stets in sich birgt.27 In der Architektursprache wäre hier an eine vergleichsweise kleine Gruppe von Kategorien zu denken (Raum, Funktion, Materialität, Planung, Entwurf etc.). Eine analytische Entfaltung des Begriffs steht hingegen noch aus, und es bleibt offen, wie sie aussehen könnte. Zu überprüfen wäre, was die Metapher des „Porösen“ für die in der Architektur einigermaßen fundamentale Differenz von Draußen und Drinnen leistet. Bei dieser Differenz geht es darum, dass sich bei einem Gebäude, wie immer es entworfen, dargestellt oder benutzt wird, beim Hineingehen die Verhältnisse ändern und dass sie sich wieder ändern, wenn man herauskommt. Dieses Innen und Außen ist konstitutiv für die Architektur selbst, denn es gibt keinen Beobachtungspunkt, von dem aus die Innenform und die Außenform als Einheit zu erschließen wäre.28 Das Wort „porös“ charmoufliert eher diese Differenz, es beschwichtigt die Provokation dieser Differenz. Dass gerade neuerdings nicht nur in der Architekturkritk, sondern auch in der aktuellen Architekturproduktion eine Sehnsucht danach besteht, diese Differenz in Zeiten medial erzeugter Verschwommenheit aufzuheben, beweist etwa die Metaphorik einer „kissing architecture“. Den Kuss tituliert Sylvia Lavin als ein affektiv besetztes „confounding medium“ und überträgt es auf die Architektur: „Kissing confounds the division between two bodies, creating new definitions of threshold, kissing performs topological inversions, renders geometry f luid and updates the metric of time.“29 Bereits hier deutet sich eine Entgrenzung des Begriffs selbst an, die in der Fortführung der bisherigen Begriffstradition eine Ausarbeitung des „Porösen“ in der Architekturanthropologie denkbar machen würde. Das Wort „porös“ gibt dabei einmal mehr Anlass, darüber nachzudenken, ob sich über die Architektur im 26 In diesem Sinne Alban Janson: Porosität – Kippfigur und Wolke, in: Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur 21, Nr. 35 (2016), S. 35-47, hier S. 35. 27 Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M. 2006. 28 Hierzu grundlegend Dirk Baecker: Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur, in: Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen und Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 67-104. 29 Sylvia Lavin: Kissing Architecture, Princeton 2011; allgemein zur Ästhetik des Verschwommenen Wolfgang Ullrich: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2009.

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Wortschatz der Natur handeln lässt. Darin steckt ein generelles Problem, denkt man etwa nur an den traditionell aus der kosmischen oder mathematischen Naturordnung geschöpften Proportionsbegriff oder auch daran, dass es genug, bereits im 18. Jahrhundert formulierte Vorbehalte gegen ein strikt konstruktivrationales Architekturverständnis gab, die allerdings durch das Monopol des Vitruvianismus marginalisiert wurden.30 Die Begriffsverwendung des „Porösen“ könnte an einem naturalen, organizistischen Gehalt des Begriffs ansetzen. Bei dieser methodischen Perspektive geht es um die umfassende Einbindung der Architektur in die Kontexte von Körper/Korporalität, Mitmensch/Sozietät und Umwelten/Kulturalität.31 Eine solche anthropologische Einbindung reicht in der Begriffstradition schon weiter zurück. So schreibt bereits Ludwig Feuerbach in seiner Kritik der Hegelschen Philosophie (1839) im Zusammenhang mit der von ihm entworfenen, gegen den Idealismus gewendeten Subjektphilosophie, in der er den Körper wieder an das Subjekt bindet: „Allein das Ich ist keineswegs ‚durch sich selbst‘ als solches, sondern durch sich als leibliches Wesen, also durch den Leib der ‚Welt offen‘. [...] Durch den Leib ist Ich nicht Ich, sondern Objekt. Im Leib-Sein heißt In-der-Welt-Sein. So viel Sinne – soviel Poren, soviel Blößen. Der Leib ist nichts als das poröse Ich.“32 In der Gegenwart ist bekanntlich der Subjektbegriff erheblich ins Wanken geraten. Wenn durch die Reproduktionsmedizin auch die Elternschaft vervielfältigt wird und sich auf bis zu fünf Personen verteilen lässt, so gibt es nach dem Befund von Andreas Bernard „poröse Grenzen“ zwischen den Eltern und dem Kind.33 Von solchen anthropologischen Bruchstücken des „Porösen“ aus wäre eine Architekturanthropologie des „Porösen“ für die Ökologie der gebauten Umwelt erst noch auszuarbeiten. Ob dann der Begriff noch plausibel ist, würde sich zeigen.

30 Hierzu Anthony Vidler: The Writing of the Walls. Architectural Theory in the Late Enlightenment (1987), Princeton 1996. 31 Zusammenfassend Dietrich Erben: Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2017, S. 100-108. 32 Zit. nach Stefan Pegatzky: Das poröse Ich. Leiblichkeit und Ästhetik von Arthur Schopenhauer bis Thomas Mann, Würzburg 2002, S. 81. 33 Andreas Bernard: Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, Künstliche Befruchtung, Frankfurt/M. 2014, S. 83.

Ein Haus kommt selten allein Zur Phänomenologie des Hyperbildes in der Platzarchitektur

Es könnte gut sein, dass wir Plätze überhaupt nur deswegen verstehen, weil wir sie als Bilder auffassen. Das heißt, dass nicht nur das Dreidimensionale zum Zweidimensionalen verengt und der Raum in die Fläche gekippt wird, sondern dass darüber hinaus auch weiter gestreckte Zeitdimensionen auf einen situativen Zeitpunkt hin zugespitzt werden. So wird aus dem oft ausgedehnten historischen Prozess der sukzessiven Entstehung von Platzf lächen und von Platzrandbebauungen in Betrachtung und Analyse eine einzelne Zeitschicht herausgeschnitten. Man kann aus der Warte der Erzähltheorie sagen, dass die vom Platz erzählte Zeit einer meist langen Entstehungsgeschichte auf die Erzählzeit eines Bildes mit der Darstellung eines arretierten Zustandes reduziert wird. Dieser Vorgang lässt sich am Beispiel einer Platzbeschreibung von Albert Erich Brinckmann aus dessen Buch Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit von 1911 illustrieren. Es geht also, zusammen mit Platz und Monument (1908) und Stadtbaukunst (1920), um eines der Pionierwerke Brinckmanns, die der Kunst- und Architekturgeschichte überhaupt erst die Augen für die Ästhetik des Platzes geöffnet haben: „Die Schönheit der Situation am Schäff lersmarkt von Nördlingen beruht einzig in ihren köstlichen Relationen. Wodurch werten sich hier die Größenverhältnisse des Flächenbildes um in Größenverhältnisse der Tiefe, des Raumes? Die Fenster der Häuser sind von fast einheitlicher Ausmessung, der Maßstab im Vordergrund ist so der gleiche wie im Mittelgrund, das dreigeschossige Haus wächst in feinem Größeneindruck über die vorderen zweigeschossigen. Dann ist das Deckungsmaterial der Dächer, die alle eine annähernd gleiche Winkelneigung haben, ein einheitliches. So vermag das Auge nach dem immer feiner werdenden Liniennetz dieser Dachf lächen ihre Entfernung abzuschätzen und damit auch ihre wirkliche Größe. Es läuft von kleinen Dachf lächen in die Tiefe über immer größere, bis es schließlich auf dem überragenden Dach der Georgskirche ausruht. Nichts aber stellt so stark die Illusion des Raumes her wie die Wiederholung desselben, dem Auge geläufigen Maßes in verschiedenen Tiefen des architektonischen Bildes: dies sind Realitäten der architektonischen Komposition, die durch die unabhängigen

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atmosphärischen Tiefenunterschiede gesteigert werden. Man nimmt endlich die Baukörper der zwei- und vierachsigen, mit vielen Querbändern geteilten Häuschen auf und wird überwältigt von der Masse des Turmes, der in strebenden Abschnitten knapp gegliedert hochsteigt.“1 Nun besteht das Problem darin, dass diese ebenso suggestive wie präzise Ortsbeschreibung nur als Beschreibung eines Bildes, nämlich der von Brinckmann auch abgebildeten Fotographie, funktioniert (Abb. 1). Sie ist aber als Analyse des Nördlinger Platzraumes geradezu hinfällig. Schon Steen Eiler Rasmussen hat in seiner Architekturphänomenologie Experiencing Architecture (1959) festgestellt, dass der Schäff lersmarkt im Grunde nicht als ein wie auch immer „geschlossenes“ Ensemble wahrzunehmen ist2 – außer man fixiert wie Brinckmann einen Betrachterstandpunkt und deklariert diesen als verbindliche Platzansicht. Dabei ist klar, dass die so hergestellte Blickperspektive ihrerseits nach den Prinzipien der klassischen Bildkomposition mit Repoussoirmotiven, Tiefenstaffelung in unterschiedlichen Bildebenen, Symmetrien und Zentrumsbildung komponiert ist. Die bauliche Raumorganisation lässt natürlich diese eine Ansicht zu und offeriert sie gewissermaßen dem bilderfahrenen Betrachter (Abb. 2). Aber es ist eben keine unbedingt privilegierte und schon gar keine ausschließliche Ansicht. Die historische Platzsituation der Jahre um 1900, als auch Brinckmanns Foto entstand, hat sich bis heute weitgehend bewahrt. Steht man vor Ort und bewegt man sich über die Freif läche, so zerfallen die einzelnen Ansichten regelrecht wie kubistische Splitter. Schon geringste Standortwechsel ziehen völlig veränderte Linien- und Flächengefüge nach sich, liefern Anstückungen des Raumes zur Seite und stellen neue Entfernungen her (Abb. 3). Man nimmt beim Betrachten auch Häuser mit, die man nicht mehr sieht, aber gerade gesehen hat; die Hausfront im Rücken ist in der Raumwahrnehmung ebenso noch vorhanden wie das Haus, das man vor Augen hat. Dabei ist noch nichts gesagt über Schwellen beim Gehen, Atmosphären wie Lärm und Hitze sowie über soziale Gegebenheiten, die sich auf dem Platz abspielen, über das Soziotop des Platzes in Vergangenheit und Gegenwart. Wie es den Anschein hat, ist eine Platzanalyse eine komplizierte, methodisch immer nur unzureichend zu bewältigende Angelegenheit. Das Ausweichmanöver Brinckmanns ist daher nur allzu verständlich, denn die Perspektivierung des Platzes als Bild ist zugleich eine Maßnahme der Komplexitätsreduktion. Gleichwohl bleibt dieses Prozedere aber unbefriedigend, denn das Ziel müsste Komplexitätssteigerung sein. Daher soll im Folgenden an zwei Konzepte erinnert werden, die hierzu methodisch einen Beitrag leisten könnten: Es geht auf der einen Seite um 1 Albert Erich Brinckmann: Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit, Frankfurt/M. 1911, S. 6-8. 2 Steen Eiler Rasmussen: Experiencing Architecture (1959), Cambridge MA. 1964, S. 39-43.

Ein Haus kommt selten allein

das Konzept des Hyperbildes, wie es in den letzten Jahren maßgeblich von Felix Thürlemann im Rahmen der Bildhermeneutik ausgearbeitet wurde, und es geht auf der anderen Seite um den soziologischen Begriff der Rahmenanalyse, den Erving Goffman bereits in den 1970er Jahren entwickelt hat. Beide Konzepte sind, das deuten bereits die jeweiligen Begriffe an, grosso modo bildanalytische respektive vom Bild her gedachte Konzepte. Die paradoxe Würze meiner Überlegungen besteht somit gewissermaßen darin, dass ich dem Platz mit Bildkonzepten zu Leibe rücken möchte, um ihn als Raum besser verständlich zu machen. Die beiden angesprochenen methodischen Konzepte sollen anhand eines Platz-Beispiels aus der Frühen Neuzeit, der Piazza San Marco in Venedig, überprüft werden.

Hyperbilder „Der Trend zum Zweitbild hält an“, so beginnt Wolfgang Kemp gutgelaunt seine Rezension zu Felix Thürlemanns Studie Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage (2013) und kennzeichnet damit die neuere Forschungskonjunktur zum Thema.3 Die Grundidee des Hyperbild-Begriffs ist einfach, der Gewinn an neuen Einsichten hingegen erheblich.4 Hyperbilder sind Bildensembles oder Bildstrecken. Es handelt sich entweder um als solche geschaffene Bildformen wie Polyptychen, Text-Bild-Atlanten und künstlerisch konzipierte Bildsysteme oder um erst später erfolgte Bildanordnungen wie Pendantsysteme von Galeriewänden, Bilderwände in Ateliers, Bildvergleiche in der Kunstwissenschaft. Mit Hyperbild bezeichnet Thürlemann allgemein „eine kalkulierte Zusammenstellung von ausgewählten Bildobjekten“ im Sinn einer „neuen übergreifenden Einheit“.5 Entscheidend ist dabei, dass Hyperbilder aus „autonomen Bildern“ in einem „kreativen Prozess zu einem neuen Bildgefüge zusammengestellt werden und so einen Sinn generieren, der nicht als bloße Addition verstanden werden kann. Die hyperimages sind wie die Bilder (images), aus denen sie zusammengesetzt sind, selber wieder Bedeutungsträger eigener Geltung und können, wie ihre Bausteine, als Sinngefüge analysiert und auf die Regeln ihrer Zusammenstellung hin befragt werden.“6 In solchen gleichzeitig oder sukzessive zustande gekommenen Konstellationen rahmen und kommentieren sich die Einzelbilder wechselseitig, zu3 Wolfgang Kemp: Das Bild, die Bilder und das Hyperimage. Schluss mit der Beliebigkeit der Bilderflut, in: Kunstchronik 67 (2014), S. 558-563, hier S. 558. 4 Maßgebliche Monographien sind, ausgehend von früheren Aufsätzen von Felix Thürlemann: David Ganz und Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin 2010; Gerd Blum, Steffen Bogen, David Ganz und Marius Rimmele (Hg.): Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012; Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage, München 2013. 5 Thürlemann: Mehr als ein Bild, S. 7. 6 A.a.O., S. 8.

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gleich wird bei solchen pluralen Bildern der Aspekt der Ensemblebildung selbst zum Hauptthema der Interpretation. Es besteht sozusagen ein Imperativ von der Einzelbildanalyse wegzukommen und sich den Bildkonstellationen zuzuwenden – handle es sich wie in der Monographie Thürlemanns um Sammlerordnungen, um die Bildpraxis der KunsthistorikerInnen oder um Hyperbilder als Kunstproduktionen. Es mag genügen, den Beispielen aus der bisherigen Forschung nur ein weiteres hinzuzufügen. Eine Museumswand in der Londoner National Gallery führt eine Madonna von Giovanni Bellini (1505), eine großformatige Altartafel von Cima da Conegliano (1505) und Bellinis Porträt des Dogen Leonardo Loredan (1501) zusammen (Abb. 4). Es muss nicht gesagt werden, dass die damit gebotene Konstellation von Andachts-, Altar- und Sammlerbild historisch in einem einzigen Raum in der Frührenaissance undenkbar gewesen wäre, sondern sich historistischer Sammlungsabsicht verdankt. Alle drei Gemälde wurden unter dem damaligen Museumsdirektor Charles Eastlake nach 1855 erworben, und Eastlake stellt selbst in einem Bericht fest, die Wand und der gesamt Raum „illustrieren“ nun die Malerei der Frührenaissance: „(The) early Italian works are placed together and give a distict character to the room, illustrating the quattrocento schools of Italy.“ 7 Nicht nur durch die vollendete formale Ausbalancierung der drei Gemälde in der Hängung wurde ein neues Bild geschaffen, sondern auch durch die von der Konstellation selbst erzeugten neuen Bedeutungen des Hyperbildes, die auf der Gruppierung der Gemälde nach kennerschaftlichen Kriterien und den von der Kunstgeschichte eruierten Malerschule basieren. Die hier abgebildete Photographie von Thomas Struth macht ihrerseits das Hyperbild der Museumswand zusammen mit der szenischen Belebung durch Museumsbesucher zum Thema eines Bildes. Der Begriff des Hyperbildes wirft also sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetische Fragen auf. Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht nur auf Entstehungsprozesse, sondern auch auf neue Programme, in denen ursprünglich zeitlich, gattungsmäßig oder auch geographisch Entferntes kombiniert wird. Ein Hyperbild ist in wenigstens zweifacher Hinsicht ein Kombinationskalkül: Es wird von den Produzenten ebenso erzeugt wie von den Rezipienten und es generiert inhaltlich eine zusätzliche Erzählung, ein weiteres Narrativ. Es steht dem nichts entgegen, das hier skizzierte Konzept des Hyperbildes auf die Architektur und insbesondere auf die Konstellation von Platzarchitektur und die plastischer Platzausstattung anzuwenden. Ein gleichermaßen instruktives, aktuelles und fast schon plakatives Beispiel wäre die Fourth Plinth auf dem Trafalgar Square in London. Für das dort leer gebliebene Denkmalpostament wird bekanntlich seit 1998 im Abstand von jeweils mehreren Jahren ein Wettbewerb für 7 Zit. nach Nicholas Serota: Experience or Interpretation. The Dilemma of Museums of Modern Art, London 1996, S. 7, dort auch S. 6-9 zum sammlungsgeschichtlichen Zusammenhang.

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eine Denkmalskulptur vergeben.8 Alle bisher realisierten neun Projekte sind volltönende Kommentare zu Ästhetik, Semantik und Funktion des Platzes und seiner dort bestehenden Monumentenausstattung. Diejenigen Projekte, die das meiste ideologische Gewicht besitzen, zielen auf eine mehr oder minder radikale Delegitimierung der traditionellen Denkmalkultur. Rachel Whiteread (Unitled Monument, 2001) verweigert rundum jedwede figürliche Denkmalsetzung, sondern dupliziert nur das vorhandene Postament in Plexiglas und macht so klar, dass die Geschichte nicht fortgeschrieben werden kann (Abb. 5). Marc Quinn (The Fourth Plinth, 2007) schuf ein Marmorporträt der Künstlerin Allison Lapper, die ohne Arme und Beine geboren wurde, und treibt so aus der klassisch-antikisierenden Normästhetik von Akt und Torso den sozialhygienischen Repressionsgehalt heraus. Katharina Fritsch (Cock, 2013) feuert mit einem riesenhaften blauen Hahn unbekümmert eine schrille Salve gegen den denkmalsüblichen Männlichkeitswahn und gegen ebenso denkmalsübliche nationale Feindbilder. Denn „cock“ meint bekanntlich nicht nur das Federvieh, und der gallische Hahn verschafft sich einen Auftritt zu Füßen des Franzosenbezwingers Lord Nelson hoch oben auf der Zentralsäule des Platzes, der seinen Namen nach dem Ort der Niederlage Napoleons trägt. Durch Fortschreibung und Fortspinnen entstehen mit der Denkmalsequenz des Fouth Plinth immer wieder neue Hyperbilder vom gesamten Platz, denn auch das bereits Vorhandene wird stets aufs Neue in seiner Bedeutung verschoben und angereichert. Diese Prozesse sind auch für frühere Epochen namhaft zu machen. Man kann selbstverständlich an das Statuenensemble der Piazza della Signoria in Florenz erinnern, für die sich für fast zwei Jahrhunderte anhand der Sukzession der dortigen Statuen ein Hyperbild analog zum Londoner Trafalgar Square rekonstruieren lässt.9 Stattdessen wende ich mich der Piazza San Marco in Venedig zu. Sie ist deswegen ein interessanter Fall, weil der Platz mit dem Umbau durch Jacopo Sansovino nicht nur explizit als Bild neu konzipiert wurde, sondern weil damit auch ein Hyperbild entstand. In der venezianischen Vedutistik galt der Blick vom Molo her auf den Dogenpalast und daran vorbei auf die Palastkapelle von San Marco spätestens seit dem 15. Jahrhundert als emblematische Schauseite für die gesamte Stadt (Abb. 6). Die 8 Vgl. Sue Malvern: The Fourth Plinth or the Vicissitudes of Public Sculpture, in: Alexandra Gerstein (Hg.): Display and Displacement. Sculpture and the Pedestal Form Renaissance to Post-Modern, London 2007, S. 130-150; Gerald Schröder: „A pause in the city“. Rachel Whitereads Reflexionen des Monuments, in: Carsten Ruhl (Hg.): Mythos und Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945, Bielefeld 2001, S. 267-288. 9 Hingewiesen seien auf das Piazza e monumento-Projekt am Florentiner Kunsthistorischen Institut und die daraus hervorgegangenen Tagungsbände, bes. Alessandro Nova und Stephanie Hanke (Hg.): Skulptur und Platz. Raumbesetzung, Raumüberwindung, Interaktion, Berlin/München 2014.

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mit dem Schiff Ankommenden verstanden das Ensemble, das aus den beiden Triumphsäulen, dem in die Stadt hineinleitenden, freien Raumkorridor und die daran aufgefädelten Herrschaftsbauten als Signum und baulichen Repräsentant der Stadt, analog zu einer Stadttoreinfahrt, wie sie im städtischen Normalfall, aber nur hier eben nicht, geboten wurde.10 Die im Wortsinn spektakuläre Eigenart der Neukonzeption des Piazzetta-Bereichs, mit der Sansovino 1536 beauftragt wurde, bestand nun bekanntlich darin, dass sie dieses bereits bestehende Parspro-toto-Bild monumental aufwertete. Sansovino wurde bei dem Neubauprogramm, das Zecca, Biblioteca Marciana, Loggetta und, hinter dem Dogenpalast gelegen, den Gefängnisbau beinhaltete, nachdrücklich von architekturtheoretischen und entwerferischen Überlegungen von Seiten Sebastiano Serlios angeregt. Sozusagen als antizipiertes rendering stand ihm offenbar der Bühnenentwurf für eine „scena tragica“ vor Augen (Uff. A 5282, Abb. 7).11 Serlios offenbar als Vorarbeiten im Zusammenhang mit seinem Secondo libro (verfasst um 1530, veröffentlicht 1545) entstandener Entwurf illustriert nicht nur die berühmte Bühnentypologie (genera scaenarum) von Vitruv (Buch V, 7), sondern ist gleichzeitig von den baulichen Gegebenheiten der Piazza San Marco inspiriert. Analogien gibt es in den öffentlichen Arkadengängen, der Kuppelszenerie des Kirchenbaus, der Disposition des Korridors und schließlich in der als Fluchtpunkt überdeutlich hervorgehobenen Torre dell’Orologio. Jacopo Sansovino führt bei seinen Neubauplänen Regularisierungen der Platzrandbebauung durch, die bereits bei Serlio angesprochen sind, nun aber im Vokabular der voll entfalteten Hochrenaissancearchitektur artikuliert werden.12 Das betrifft vor allem die Westf lanke der Piazzetta mit der Liberia als Korrespondenzbau zum Dogenpalast. Den analogen baulichen Dispositionen rückt die Semantik der Säulenordnungen an die Seite. Sansovino schlägt in seinen Bauten einen fast vollständigen Bogen durch die Säulenordnungen: ordine rustico und dorisch an der Zecca, wiederum dorisch und dazu ionisch mit der Zugabe von männlichen und weiblichen, typologisch ebenfalls als Ordnung verstanden Karyatiden an der Marciana und schließlich komposit an der Loggetta. Die Abfolge der Bauten vom Molo bis zum Platzinneren, also von der Zecca über die Liberia bis zum räumlichen Scharnier der Loggetta bietet architekturikonologisch eine Geschichtschronologie, wie sie Serlio bereits ausführlich in seinem Quarto libro von 1537, also völlig gleichzeitig zu 10 Hierzu Eugene J. Johnson: Jacopo Sansovino, Giacomo Torelli, and the Theatricality of the Piazzetta in Venice, in: Journal of the Society of Architectural Historians 59 (2000), S. 436453, bes. S. 439-441. 11 Hierzu John Onians: Bearers of Meaning. The Classical Orders in Antiquity, the Middle Ages, and the Renaissance, Princeton 1988, S. 287-298. 12 Zu Sansovino und zur Piazza immer noch grundlegend Deborah Howard: Jacopo Sansovino. Architecture and Patronage in Renaissance Venice (1975), New Haven/London 1987, S. 8-47.

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den Bauvorhaben an der Piazza ausgearbeitet hat. Serlio benennt hier eine Entwicklungschronologie vom „robusto“ zum „delicato“.13 Dass die Anwendung und die Abfolge der Säulenordnungen an den drei Bauten eben nicht unbedingt den sozialen Status der Bauherren – alle drei Bauten standen unter der Observanz der Prokuratoren – und die bauliche Funktion abbildeten, sondern in erster Linie diese Geschichtserzählung, ist bereits den Zeitgenossen aufgefallen. In diesem Sinn werden die Baulichkeiten von Pietro Aretino in einem Brief von 1537 und später von Francesco Sansovino in seiner Venedig-Guida von 1556 kommentiert.14 Diese Zivilisationskonstruktion wird durch einen zweiten Strang der Narration inhaltlich noch einmal bestätigt und konkretisiert: Diese Erzählung legitimiert das anspruchsvolle Bauprogramm an der Piazzetta und den einige Jahrzehnte später, nämlich ab 1563 geplanten Palazzo delle Prigioni als Restitution eines antiken Forums.15 Als „forum“ war die Piazza San Marco gelegentlich schon früher, so von dem Chronisten Marc’Antonio Sabellico, bezeichnet worden. Für die Baukampagne des frühen Cinquecento war nun aber die Forumsidee eine Leitidee. Grundlage für die Idee der Ansiedelung repräsentativer, sowohl sakraler als auch profaner Bauaufgaben war der entsprechende Abschnitt bei Vitruv über die öffentlichen Gebäude und deren Lage in der Stadt (Buch V, 2). Vitruv verweist dabei auf die Nachbarschaft von Herrscherpalast, Bibliothek, Münze und Gefängnis als Kennzeichen der Randbebauung antiker Forumsanlagen. Andrea Palladio hat in den Quattro libri (Buch III, 17) die Forderungen Vitruvs aufgegriffen. Zur Aktualisierung des Forumsgedankens gehörte in Venedig nicht nur die Ansiedlung zentraler Hoheitsfunktionen um den Zentrumsbereich der Piazzetta; gerade auch die Einbeziehung des Gefängnisses in dieses Bauprogramm deutet auf einen Disziplinierungswillen, der sich ebenfalls ganz deutlich auf bereits in der Antike formulierte Vorgaben stützt. Eine Schlüsselstelle bildet eine Passage im Geschichtswerk über die Gründung Roms von Livius, bei dem es heißt, „in dieser gewaltigen Menschenmenge“ von Rom sei die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht verschwommen und heimliche Verbrechen seien geschehen; daher sei „mitten in der Stadt am Forum ein Kerker zur Abschreckung gegen die immer mehr zunehmende Dreistigkeit errichtet“ worden.16 Die Niederlassung zahlreicher Institutionen an der Piazza San Marco hatte dazu geführt, dass die 13 Sebastiano Serlio: Regole generali di architettura sopra le cinque maniere degli edifici etc., Venedig 1537 (Nachdr. Rom 2011), Tafeln xxxii-xxxiii. 14 Hierzu Onians: Bearers of Meaning, S. 294. 15 Zum Folgenden Thomas Hirthe: Il „Foro all’antica“ di Venezia. La trasformazione di Piazza San Marco nel Cinquecento, Venedig 1986 und zusammenfassend Dietrich Erben: Angst und Architektur. Zur Begründung der Nützlichkeit des Bauens, in: Hephaistos. New approaches in classical archeology and related fields 25/26 (2003/2004), S. 29-51, hier S. 44-45. 16 Livius: Ab urbe condita, I, 33, 8: „[...] carcer ad terrorem increscentis audaciae media urbe imminens foro aedificatur.“

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städtische Öffentlichkeit hier in einem Maß zunahm, das zugleich Gefahren für die Sicherheit des Staatswesens herauf beschwor. Dieser Zwiespalt wurde letztlich durch die Forumsidee selbst eröffnet, und man suchte ihm zu entkommen, indem man den Massen, die man auf das Forum rief, im Gegenzug das Monument sozialer Aussperrung warnend vor Augen stellte. So stellt sich die Errichtung des Gefängnisses am Hauptplatz der Republik als eine – soziologisch gesagt – Maßnahme zur Reduktion komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse durch soziale Kontrolle dar. Unter den Vorzeichen des Hyperbildes gesprochen, lässt sich die Narration der Piazza San Marco, wie sie mit dem Ausbauprogramm verbunden war, schlagwortartig dahingehend zusammenfassen: Für den Platz stand nicht nur das formal-konzeptionelle Modell des Bühnenbildes, konkret der scena tragica, Pate, sondern auf dieser Bühne wurde auch das Stück einer raffiniert frisierten Geschichtserzählung aufgeführt. Sie erzählt mittels der Systematik der Säulenordnungen vom zivilisatorischen Triumph, sie feiert mittels der Forumsidee den um nichts weniger fiktiven, nämlich aus der römischen Antike begründeten Rang von Venedig als Metropole eines Imperiums und sie kündet nicht zuletzt vom Anspruch auf die Durchsetzung einer sozialen Ordnung, die sich als architektonischer ordo manifestiert. Und spätestens hier sind wir beim zweiten Problem der Platzforschung angelangt, nämlich beim Problem der sozialen Vorgänglichkeit auf der Freif läche des Platzes selbst.

Rahmenanalyse Sowohl der Platz als auch die Straße sind, so kann man sie im aktuell gängigen Fachjargon der Kulturwissenschaften titulieren, Orte sozialer Performanz, aber sie sind es in verschiedener Qualität. Im Unterschied zur linearen, tendenziell unübersichtlichen Dynamik des Verkehrsraumes der Straße zeichnet sich der Platz durch eine konzentrische, partielle Stillstellung sowie durch die mehr oder minder klare räumliche und soziale Rahmung von Interaktionen aus. Mit dem Begriff der Rahmung ist ein zentrales Stichwort der Soziologie von Erving Goffman aufgerufen.17 Goffman rückt Probleme der sozialen Interaktion, des Rollenverhaltens und der Selbstdarstellung in den sozialen Institutionen des Alltags ins Zentrum und stellt dem von Normen bestimmten Handlungsmodell, wie es prominent von Talcott Parsons in The Structure of Social Action (1937) entwickelt wurde, ein dramaturgisches Handlungsmodell gegenüber. Dabei geht er nicht nur von anthropologischen und sozialpsychologischen Einsichten aus, son17 Bezug genommen wird im Folgenden auf das Hauptwerk von Erving Goffman: RahmenAnalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt/M. 1977 (engl.: Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York/London 1974).

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dern operiert auch mit einem ausgesprochen szenischen Vokabular, das er auf die Interaktionsanalyse überträgt. Die Kernbegriffe sind Theater, Bühne, Szene, Situation, Rahmen, Darsteller, Zuschauer. Diese Begriff lichkeit macht seinen Ansatz für ein Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge, wie sie sich auf einem Platz abspielen, relevant. Soziale Situationen sind sowohl sozial als auch räumlich zu denken. Für ihr Verständnis sind die von Goffman so genannten Rahmungen („framings“) unerlässlich, und dies gilt sowohl für die Akteure als auch für die Zuschauer. Für die Akteure handelt sich um jene Organisationsprinzipien, nach denen soziale Ereignisse definiert, hergestellt und „aufgeführt“ werden; für die Zuschauer handelt es sich um Kategorien der Teilnahme an diesen Ereignissen, um deren Definitionen, Deutungsmuster oder Interpretationsschemata, welche erst eine sonst kaum verständliche Szene zu etwas handlungsgeleitet Sinnvollem machen. Rahmen ermöglichen, so Goffman, „die Lokalisierung, Wahrnehmung, Identifikation und Benennung einer anscheinend unbeschränkten Anzahl konkreter Vorkommnisse, die im Sinne des Rahmens definiert sind.“18 Rahmen lassen uns den Realitätsgehalt von konkreten Vorgängen überhaupt erst oder auch besser verstehen. Sie verdeutlichen, ob es sich um Spaß, Täuschung, Experiment, Traum oder Routine handelt. Ohne Rahmenanalyse wären wir besonders von nicht-alltäglichen, ritualisierten Vorgängen stets aufs Neue verwirrt. Wir würden bei einem Geburtstag nur übereifrig gutgelaunte Leute um uns herum sehen, bei einer Hochzeit würden wir nur karnevalesk gekleidete Personen erkennen, den Staatsbesuch würden wir als Vorführung von Luxusautos missverstehen, eine politische Demonstration als Freizeitveranstaltung – und so fort. Die Raumqualität einer Situation steckt schon begriffsgeschichtlich im Wort selbst, das sich vom lateinischen situs (Ort) ableitet. Erst räumliche Positionierungen erlauben die soziale Verteilung von Akteuren. Darüber hinaus ermöglichen sie soziale Rollenzuweisungen wie das Anführen oder die Gefolgschaft innerhalb von sozialen Hierarchien und sie leisten die Identifizierung von Akteuren in ihren jeweiligen Rollen. Beides, die soziale und die räumliche Qualität von Handlungen, wird vermutlich bei zeremoniell geregelten Handlungen am engsten zusammengeführt. Beim Zeremoniell ist die räumliche Position der Beteiligten alles, es steht und fällt mit der Relationierung von Personen im Raum.19 Es ist nicht schwer, diese generellen Annahmen der modernen Soziologie im Sinne früherer politisch-gesellschaftlicher Normen zu historisieren. Die Sichtbarkeit des Politischen, genauer gesagt die ikonische Qualität von Riten, war in der Neuzeit strikt festgeschrieben. Schon Melanchthon nennt den liturgischen 18 A.a.O., S. 31. 19 Zum Zeremoniell aus der mittlerweile uferlosen Literatur Milos Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat, Frankfurt/M. 1997; Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008.

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Ritus „gleichsam das Bild des Wortes“ („quasi pictura verbi“).20 Spätestens seit Machiavelli gehört sinnliche Evidenz (abgeleitet von evidere, „eräugen“) zu den normativen Anforderungen an das politische Handeln.21 Später evoziert Jean Bodin mit dem Begriff der „majestas“ ebenfalls einen Bildbegriff, indem er auf der Vorstellung vom Fürsten als „image de Dieu“ den staatsrechtlichen Begriff der Souveränität auf baut.22 Die Theaterliteratur der Frühen Neuzeit ist voll von Bezeichnungen für die Politik als „Spektakel“ auf der Bühne des theatrum mundi.23 Als Philosoph und Parlamentsabgeordneter wusste Edmund Burke wovon er redet, wenn er das englische Parlament als eine „theatrical exhibition hall for dramatic talents“ bezeichnete.24 All dies macht deutlich, dass das vormoderne Politikverständnis, aber auch die vormodernen politischen Verhältnisse selbst, von rituellen Akten her zu denken sind – und diese rituellen Akte sind wiederum mit dem Bild verbunden. Dabei bedarf es eines Rahmens, der es ermöglicht, zwischen dem Ritual beziehungsweise dem Bild und dem, was nicht dazu gehört, zu unterscheiden. Nur symbolische Markierungen sowohl im Raum als auch im Zeitablauf ermöglichen es, zu erkennen, was aus dem alltäglichen Handlungsf luss herausgehoben ist. Trotz dieses Konsenses in Bezug auf die Politik als ein bildlich aufgefasstes In-Szene-Setzen erscheint es nach wie vor problematisch, dabei die spezifische Rolle der Architektur, im Falle des Platzes konkret der Freif läche und der Platzrandbebauung präzise zu bestimmen. Außer Frage steht, dass bestimmte Grundqualitäten vorhanden sein müssen.25 Zu ihnen gehören die prinzipielle Zugänglichkeit des Platzes, ein bestimmtes Fassungsvermögen für Versammlungen, eine relative Freiheit von visuellen und haptischen Hindernissen zusammen mit der Dimension, die neben der Nah- auch die Fernsicht ermöglicht. Die Verkehrsströ20 Philipp Melanchthon: Apologia Confessionis Augustanae (1531), zit. nach Sachiko Kusukawa: The Transformation of Natural Philosophy. The Case of Philip Melanchthon, Cambridge 1995, S. 191. 21 Nicolò Machiavelli: Il Principe/Der Fürst, hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 138: „E gli uomini, in universali, iudicano più agli occhi che alle mani; perché tocca a veder a ognuno, a sentire a pochi. Ognuno vede quello che tu pari, pochi sentono quello che tu se‘.“ (Kap. 17). 22 Jean Bodin: Les six livres de la République (1576/1583), hg. von Gérard Mairet, Paris 1993, S. 150: „[...] car qui méprise son Prince souverain, il méprise Dieu, duquel il est l’image en terre.“ (Kap. I,10). 23 Vgl. Paula Backscheider: Spectacular Politics. Theatrical Power and Mass Culture in Early Modern England, Baltimore 1993; Walter Greg: The Politics of Performance in Early Renaissance Drama, Cambridge 1998. 24 Zit. nach Paul Hindson und Tim Gray: Burke’s Dramatic Theory of Politics, Aldershot 1988, S. 28. 25 Hierzu die analytischen Befunde von John R. Parkinson: Democracy & Public Space. The Physical Sites of Democratic Performance, Oxford 2014.

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me auf dem Platz werden darüber hinaus durch die jeweilige Funktion der einzelnen Gebäude der Platzrandbebauung und der damit regulierten Benutzerströme determiniert. Es mag sich hier um Marktgebäude, kirchliche Niederlassungen oder politische Behörden wie Verwaltungsbauten, Rathäuser oder Fürstenpaläste handeln. Im Hinblick auf ihre Gestaltungsanforderungen besteht eine primäre Aufgabe der Platzrandbebauung tatsächlich in der Rahmung herausgehobener Akteure. Hier kann man unmittelbar an Goffman anschließen. Man kann aber auch an dessen früheren Soziologenkollegen Georg Simmel und dessen Aufsatz über den Bilderrahmen denken, in dem er den Rahmen nicht nur als ein ästhetisches, sondern auch als ein ideologisches Dispositiv erläutert.26 Die im Rahmen repräsentierte Realität stellt sich laut Simmel als „in einer Sphäre (dar), die von allem unmittelbaren Leben abgerückt“ ist.27 Dieses Abrücken als kommunikative Distanz kann die feierlich-affirmative ebenso wie die forensische Sphäre betreffen.28 Am Pranger wurde der Verurteilte in die Positur eines Standbildes gezwungen und öffentlich exponiert, um als lebende Personifikation des Lasters ein Bildexempel zu statuieren. Die sozusagen positiv staatstragende Seite dieses sozialen Bildes, das seine Wirksamkeit ja nur durch den Platz als Vordergrund entfaltet, ist die bis heute aktuelle Bildformel des Politikers am Fenster. Hier kann es zu einer regelrechten statuarischen Verfestigung einer Person und zur Verwandlung von deren Körper als Teil der Architekturikonologie kommen. Erinnert sei nur an das Erscheinen des Papstes im Fenster seines Arbeitszimmers im Apostolischen Palastes zum sonntäglichen Angelus-Gebet und zur Erteilung des Apostolischen Segens. Ein frühes wie eindrucksvolles Beispiel ist, laut der Chronik des sogenannten Anonimo Romano, das Erscheinen des römischen Volkstribuns Cola di Rienzo auf dem Kapitol im Oktober des Jahres 1354. Cola habe in einem Fenster des Kapitolspalastes mit der Stadtfahne Roms vor der versammelten Volksmenge stumm ausgeharrt, und beinahe hätte, so die Chronik, die statuenhafte, beredte Erscheinung des Tribuns die Menge zum Verstummen gebracht. Für das kodifizierte Zeremoniell blieben die statuarische Figuration der Akteure und deren entsprechende Rahmung zu entsprechenden Bildarrangements verbindlich. In der Stichdarstellung, die Matteo Pagan in den Jahren zwischen 26 Rahmen und Sockel sind in den letzten Jahren im Zuge des bildwissenschaftlichen turn ausführlicher untersucht worden; vgl. hier nur Johannes Myssok und Guido Reuter (Hg.): Der Sockel in der Skulptur des 19. und 20. Jahrhunderts, Köln 2013. 27 Georg Simmel: Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch, in: Ders.: Soziologische Ästhetik, hg. von Klaus Lichtblau, Frankfurt/M. 1998, S. 111-118, hier S. 111. 28 Hierzu mit weiteren Beispielen der statuarischen Realpräsenz von Personen Dietrich Erben: Der steinerne Gast. Die Begegnung mit Statuen als Vorgeschichte der Betrachtung, Weimar 2005, S. 49-51.

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1556 und 1559 von der jährlichen Palmsonntagsprozession auf der Piazza San Marco in Venedig angefertigt hat, ist das Bestreben offenkundig, die Akteure und die Hintergrundarchitektur zu synchronisieren (Abb. 8).29 Der lang sich hinziehende Umzug, der in den Quellen als „andar in trionfo“ bezeichnet wird, und die monotone Abfolge der Arkadenreihen der Prokuratien sind in den Darstellungen so aufeinander abgestimmt, dass die Köpfe der Teilnehmer in endloser Isokephalie leicht unterhalb der Kämpferzone der Bögen zu stehen kommen. Mehr oder minder minutiös sind die Teilnehmer jeweils einer Arkade eingeblendet oder dem Pfeiler vorgeblendet. Dabei treten die Ganzfiguren der Teilnehmer in eminenten statusmäßigen Gegensatz zu den Büsten in den Arkadenbögen und den Halbfiguren der Zuschauerinnen und Zuschauer in den Fenstern des Piano nobile. Die Behördenbauten der Prokuratien sind nicht nur Hintergrund, sondern Sinnrahmen für den in der Prozession vollzogenen „modo di caminare collegialmente“, wie das Umherschreiten auf der Piazza in einem Zeremonialbuch bezeichnet wird.30 Freilich, die Rede ist hier immer noch von einem Bilddokument, und man sollte sich hüten, das Bild mit der sozialen Realität zu verwechseln. Denn einerseits ist, erfreulicherweise möchte man sagen, bei Zeremonien viel von Störenfrieden und Querulanten bekannt, die das geordnete Bild durcheinanderbringen.31 Doch andererseits lassen auch die Bilder vielfältige Rückschlüsse auf eine Realität zu, die, worauf dieser Abschnitt hinauswollte, immer auch als Bild zur Wirkung kam und selbst als gerahmtes Bild konzipiert war.

Fazit In den vorliegenden Überlegungen wurde der Versuch gemacht, das Thema „Platz und Bild“ wörtlich zu nehmen. Dabei ging es nicht um intentional als Kunstprodukte hergestellte Bilder von Plätzen wie etwa Veduten, sondern um Bilder, die der Platz sozusagen selbst hervorbringt und die ich mit den Konzepten des Hyperbildes und den Rahmungen methodisch versucht habe zu beschreiben. Mit diesem Rekurs auf Bildkonzepte soll gerade nicht einer weiteren Verbildlichung der Architektur das Wort geredet werden.32 Es sollte im Gegenteil versucht werden, in Bezug auf die Architektur dem Kult des ikonischen Meisterbauwerks zu entkommen und in Bezug auf den Platz einer vorschnellen Qualifizierung als „ge29 Richard Muir: Civic Ritual in Renaissance Venice, Princeton 1981, bes. S. 189-200. 30 A.a.O., S. 192. 31 Belege a.a.O., S. 200-202. 32 Die Mediengeschichte der Architektur über das Gebaute hinaus wurde u.a. bearbeitet im Forschungsschwerpunkt eikones an der Universität Basel; vgl. Andreas Beyer, Matteo Burioni und Johannes Grave (Hg.): Das Auge der Architektur. Zur Frage der Bildlichkeit der Baukunst, München 2011; zur Ikonik in der Gegenwartsarchitektur vgl. nur Studie von Anna Klingmann: Brandscapes. Architecture in the Experience Economy, Cambridge, MA. 2010.

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schlossener Platz“. Jedenfalls sind die ebenso traditionellen wie affirmativen Begriffe von Ensemble, Ort oder Bestand für die Beschreibung von Plätzen meistens nicht hinreichend, da sie weder die Dynamik der Veränderungsprozesse erfassen, noch die Aspekte von Konfusion, Unübersichtlichkeit und Unbeschreibbarkeit, die den Platz als komplexen urbanen Raum mitbestimmen. Im Zusammenhang von Platz und Monument kommt die Frage hinzu, in welcher Weise Plätze nicht nur durch ihre Platzrandbebauung, sondern auch durch ihre Denkmäler bedeutungsvoll konfiguriert werden. Ein entscheidender Faktor ist dabei, dass neu hinzukommende Bauten und Denkmäler nicht nur auf Vorhandenes reagieren, sondern dieses Vorhandene zugleich in den Kontexten verändern und dadurch sozusagen retroaktiv neu herstellen. Für den Begriff des Platzes stellt sich damit auch die Frage nach der Definitionshoheit über die als Platz bezeichneten Kontexte. Denn diese haben nicht nur administrativ bauliche Reglements und sozial Nutzungsroutinen als Voraussetzungen. Zustande kommen die Kontexte, die wir uns angewöhnt haben, als Plätze zu bezeichnen, darüber hinaus auch durch kulturelle Deutungen von architektonischen Hyperbildern und durch die Rahmung der auf Plätzen stattfindenden gesellschaftlichen Vorgänge.

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Abb. 1 Schäf flesmarkt in Nördlingen. Illustration aus: Albert Erich Brinckmann: Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit, Frankfurt am Main 1911.

Abb. 2 Schäf flesmarkt in Nördlingen. Aufnahme 2015.

Abb. 3 Schäf flesmarkt in Nördlingen. Aufnahme 2015.

Abb. 4 Thomas Struth: National Gallery 1, Fotographie 1989.

Abb. 5 Rachel Whiteread: Monument, 2001. Aufstellung Juni-November 2001 auf der Fourth Plinth des Trafalgar Square in London.

Abb. 6 Venedig. Blick auf den Molo und die Piazzetta. Aufnahme 2017.

Abb. 7 Sebastiano Serlio: Bühnenbildentwurf, Zeichnung um 1530. Florenz, Uf fizien.

Abb. 8 Matteo Pagan: Prozession des Dogen auf der Piazza San Marco in Venedig. Holzschnitt 1556-59.

Sand, Spuren, Architektur Zur gebauten Ökologie des Strandes

Will man vom Strand ‚erzählen‘, so landet man offenbar unverzüglich in einer Paradoxie. Die einen sagen, ein Strand ist für eine Erzählung zu redundant, die anderen sagen, er ist durch sein Übermaß an Bedeutungen nicht mehr als Erzählung verständlich, wobei es sein könnte, dass beide Seiten vielleicht am Ende auf etwas Ähnliches hinauswollen, nämlich auf den Strand als eine Geschichte. So gibt der Essayist Adrian A. Gill, der vor allem durch seine Reisereportagen bekannt geworden ist, zu bedenken, dass der Strand ein letztlich eindimensionaler Erlebnisraum sei. Sowieso gehöre es zum guten Ton, dass man über den Strand überheblich die Nase rümpfe; Strände provozierten ein kindliches Verhalten größter Direktheit; ein Strand gleiche ohnedies dem anderen und schließlich hätten Strände nichts Kohärentes zu erzählen: „A beach is a sandpit for grown-ups. It’s an infantilising experience where the crowds regress through childish, supine idiocy. [...] And all beaches are extension of the same beach; they have a repetitive primary simplicity. [...] Beaches dictate a certain sort of personality, a particular world view. It is, for instance, impossible to be sophisticated on a beach. [...] The reason I like beaches, and the reason travel writers don‘t, is that they have no narrative. They don’t tell stories.“1 Die Stichworte von Serialität und Narration lassen sich, bei aller scheinbaren Beiläufigkeit in Gills Essay, durchaus auf die neueren Befunde der Narrationsforschung beziehen, wonach Wiederholungen zur Erzählung in Widerspruch geraten. Wenn es stimmt, dass es nur wenige Szenerien gibt, die keine Entwicklungslogik entfalten, so dürften dazu, wie der Rauch des Feuers und die dahinziehenden Wolken am Himmel, auch die Wellen des Meeres am Strand gehören. Solche Phänomene ohne Anfang, Mitte und Ende können, folgt man Aristoteles‘ Poetik (§ 7, 1450b), keine Erzählung ausprägen: Erst das „Ganze (d.i. einer 1 Adrian A. Gill: Shore Thing, in: Ders.: Here and There. Collected Travel Writing, London 2012, S. 78-81, hier S. 78 u. 80.

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Erzählung) ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.“2 Der entsprechende erzähltheoretische Zusammenhang der Sequenzbildung wurde von Albrecht Koschorke erläutert.3 Laut Gill wird, wie die Naturgegebenheiten selbst, auch das Stranderlebnis im Wesentlichen von einer Wiederholungsstruktur bestimmt, nämlich von einer infantilen Regression weit unterhalb der Schwelle raffinierterer menschlicher Artikulation. Dabei liegt Gill jedwede Beurteilung aus höherer Warte fern – was er am Strand ausmacht, macht den Strand gerade schätzenswert. Auch der Kulturanthropologe John Fiske geht vom Gewöhnlichen des Strandes aus, doch für ihn ist er eine Sphäre implodierender, in ihrer Überfülle entropisch zusammenbrechender Bedeutungen. In seinem erstmals 1983 unter dem Titel „Surfalism and Sandiotics: The Beach in Australian Popular Culture“ erschienenen Pionieraufsatz beschreibt und analysiert er den „suburban beach“.4 Beim Attribut ‚suburban‘ kann man daran denken, dass die topographische Bezeichnung im Sinne des Vorstädtischen (‚suburbia‘) auch mit einer Klassifizierung im Sinne des ‚Gewöhnlichen‘ verbunden ist. Beim ‚suburban beach‘ handelt es sich um ein künstliches Sozio- und Biotop, das sich durch erhebliche artifizielle Interventionen und durch ein teils damit verbundenes, teils daraus hervorgehendes soziales Verbotsregime auszeichnet. Sowohl Intervention als auch Verbotsregime stehen in scheinbar markantem Kontrast zur performativen ‚Natürlichkeit‘ des Strandes, sind jedoch letztlich deren Bedingungen. Bei Fiske ist die Rede von der Differenz zwischen der ‚Natur‘ („the nature“) und dem ‚Natürlichen‘ („the natural“). In der Sphäre des ‚Natürlichen‘ erzeugen die artifiziellen Dingwelten der Strandtücher, Liegestühle und Sonnenschirme, der Strandbuden und der Wegsysteme eine strikte kulturelle und räumlich zonierte Ordnung (Abb. 1). In sie fügen sich die Menschen durch Handlungsroutinen ein. Gemäß ihren Gewohnheiten entlassen sich Menschen am Strand durch ihre weitgehende Nacktheit und durch das Baden in Sonne und Meer einer gespielten Natürlichkeit. Es besteht kein Zweifel, dass sich kulturell kodierte ‚Natürlichkeit‘, Naturempfinden und Körperwahrnehmung einerseits und Disziplinierung andererseits wechselseitig bestärken: Die Ausgesetztheit der nackten Körper ist nur durch wechselseitige soziale Kontrolle der StrandbesucherInnen überhaupt auszuhalten. Soziale Observanz bildet die notwendige Voraussetzung für die Empfindung oder auch für die Illusion von Freiheit und Wohlbefinden in der ‚liminalen‘ Zone des Meeres. Laut Fiske resul-

2 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Üs. und hg. von Horst Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 25. 3 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/M. 2012, S. 61-74. 4 John Fiske: Reading the Beach (1983), in: Ders.: Reading the Popular (1989), London/New York 2011, S. 34-62.

Sand, Spuren, Architektur

tiert aus diesen Bedingungsverhältnissen für den Strand ein „too much of meaning“, ein „excess of meaning potential“, ein „overf low of meaning.“5 Die folgenden Überlegungen tragen der Skepsis gegenüber dem Narrativen Rechnung, indem sie den Endlosschleifen des Sozialen, nämlich den Handlungsroutinen als soziale Gegebenheit des Lebens am Strand, weiter auf der Spur sind. Dabei wird die Frage nach der Semantik des ‚suburban beach‘ keineswegs fallen gelassen. In den Blick genommen wird jedoch dazu der Wirklichkeitsstoff, aus dem der Strand gebildet ist, also die Komponenten der landschaftlichen Wasserund Landf lächen, die Bauten und andere Flächenmarkierungen und nicht zuletzt die Menschen, die sich dort auf halten. Es wird versucht, anhand dieser materiellen Wirklichkeiten den Strand als eine Szenerie zu beschreiben, die gleichsam durch das Zwischenmedium der Spur semantisch markiert wird. Diese Gesamtheit von realen Stoffen und von Imaginationen lässt sich meines Erachtens am besten – angeregt von dem Architekturhistoriker Reyner Banham, auf den noch zurückzukommen ist – als ökologisches System zur Synthese bringen. Damit ist im Grunde schon gesagt, dass es im Folgenden um den Strand und ausdrücklich nicht um die Küste geht. Zur Sprache kommen weder der historische Wandel der Wahrnehmung der Küstenlandschaft, wie er in der klassischen Studie von Alain Corbin nachgezeichnet wurde6, noch die massiven Probleme, die in der Gegenwart für die Lebensverhältnisse und damit auch für die Architektur von ausgesprochener Relevanz sind. Hier sei nur an die im Zuge des Klimawandels immer drängenderen Planungen von Küstenschutzprojekten, für die beispielhaft der Wiederauf bau von New Orleans nach den Überschwemmungen durch den Tornado Katrina im August 2005 genannt werden kann7, und an die weltweiten, neoliberal inspirierten Projekterschließungen von Küsten mit den damit oft einhergehenden Hafenkonversionen in Dienstleistungsareale erinnert. In der Unzahl der Beispiele stellen der Battery Park in New York, die Docklands in London, die Hamburger Hafen City und die Hafenkonversionen in Barcelona,

5 A.a.O., S. 34. 6 Alain Corbin: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste (frz. 1988), Frankfurt/M. 1994. 7 Chester Hartman und Gregory D. Squires (Hg.): There Is No Such Thing as a Natural Disaster: Race, Class, and Hurricane Katrina. London/New York 2006; Michael S. Falser: Der Wiederaufbau von New Orleans nach Hurricane Katrina. Gedanken zum Status der Zivilgesellschaft im Kontext von Natur- und Kulturkatastrophen, in: Hans-Rudolf Meier (Hg.): Kulturerbe und Naturkatastrophen / Cultural Heritage and Natural Disasters. Risk Preparedness and the Limits of Prevention, Dresden 2008, S. 109–122; Kristin Freireiss (Hg.): Architecture in Times of Need. Make it Right – Rebuilding New Orleans’ Lower Ninth Ward, Berlin 2009.

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Genua und Marseille die vielleicht bekanntesten Beispiele dar.8 Zu diesen Problemfeldern zählt auch die Bewegung der Finanzökonomien in der Gegenrichtung, nämlich weg von den Küsten und hinaus auf das offene Meer. Das ist bei der Verlagerung von Finanzsektoren ‚offshore‘ der Fall, die ohne stabile Niederlassungen mit winzigen Atollen oder mit umso größeren Yachten auskommen.9 Und schließlich hat sich herumgesprochen, dass der Welt allmählich der Sand ausgeht. Es fehlt, genauer gesagt, an zum Bauen geeigneten, scharf körnigen Sanden. Die Golfstaaten etwa haben zwar herrliche Wüsten und Sandstrände, müssen aber für ihre gigantomanischen Landaufschüttungen und Bauprojekte den für Beton tauglichen Gruben-, Fluss- und Küstensand aus Afrika oder Australien herankarren, wo der Abbau immense ökologische Schäden verursacht und wo, wie überall auf der Welt, der Bausand allmählich knapp wird. Von alledem ist, wie gesagt, im Folgenden nicht die Rede.

Spuren im Sand – Existenz in der liminalen Zone Sand ist, nicht nur beim Bauen, ein Medium. Als solches wurde er im strand- aber keineswegs sandfernen Bielefeld von Niklas Luhmann beschrieben. Sand dient Luhmann, neben der Luft, zur Erläuterung eines seiner wichtigsten ästhetischen und wahrnehmungstheoretischen Probleme, nämlich der wechselseitigen Bedingtheit von Medium und Form.10 Demnach ist die Form an das Medium gekoppelt, die kontingente Form bedarf des stabileren Mediums als Substrat. So ist es auch beim Sand und bei der Spur. Das Medium ist an sich formlos, die Form macht es spezifisch – der Abdruck des Fußes im Sand bewirkt eine rigidere Verbindung der Sandkörner, die sich zu einer Form, die wir Spur nennen, verfestigen und die wir als solche wahrnehmen können. Medien und Formen gibt es, darauf will Luhmann hinaus, nur in einer Koppelung. Die Luft ist nicht laut, sondern wir hören die von ihr getragenen Schallwellen. Die Wörter hören wir nicht, sondern nur die geformten, gesprochenen Laute. Den Sand können wir natürlich sehen, er 8 Als vergleichsweise frühe Publikation: Gisela Jaacks (Hg.): „Der Traum von der Stadt am Meer. Hafenstädte aus aller Welt“ (Ausstellung des Museums für Hamburgische Geschichte), Hamburg 2003 und als neuere Titel Carola Hein (Hg.): Port Cities. Dynamic Landscapes and Global Networks, London/New York 2011; Lucy Bullivant (Hg.): Masterplanning Futures. London/New York 2012. 9 Wolfgang Kemp: Der Oligarch, Springe 2016, bes. S. 139-153. 10 Erwähnungen des Sandes als Medium finden sich mehrfach in Schriften von Luhmann im Zusammenhang mit seinen Erläuterungen zur Differenz von Medium und Form; ich nehme Bezug auf Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst (1986), in: Ders.: Aufsätze und Reden, hg. von Oliver Jahraus, Stuttgart 2011, S. 198-217, hier bes. S. 200-202; vgl. auch den Eintrag „Form/Medium“ in: Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/M. 1997, S. 58-60.

Sand, Spuren, Architektur

ist aber ein vergleichsweise instabiles Medium, das erst durch Formen und deren besondere Ausprägungen, unter anderem als Spuren, prägnant wird. Es hat offenbar viel mit diesem sinnfälligen und exemplarischen Gehalt von Sand und Spur zu tun, dass beide – also das Naturmedium des Sandes und die insbesondere vom Menschen erzeugte Form der Spur – nicht nur immer wieder Anlass zu medien- und zeichentheoretischen Überlegungen gegeben haben, sondern dass sie auch eine so reiche Entfaltung in der Symbolbildung im kollektiven und kulturellen Gedächtnis gefunden haben. Sie möchte ich zunächst jenseits der touristischen Handlungsroutinen an ein paar ausdrücklich inszenierten Bildepisoden schildern, in denen es um den Maler Pablo Picasso und den Architekten Le Corbusier geht. Die beiden Episoden erinnern einmal mehr daran, dass Küstenorte nicht nur bevorzugte Aufenthaltsorte von Künstlerinnen und Künstlern der Moderne waren, sondern dass sie bis heute auch ein Topos der Moderne sind. Einzelne Küstendörfer sind Niederlassungsorte von KünstlerInnenkolonien wie auch in einem metaphorischen Sinn Gründungsorte der Moderne.11 Man denke nur an das Étretat der impressionistischen KünstlerInnen in der Normandie oder an Pont-Avon in der Bretagne. Dort erträumte sich Paul Gauguin schon einmal die Ursprünglichkeit und Freiheit des Lebens, bevor er sich dann in den Kopf setzte, sie auf seinen Südsee-Reisen aufzusuchen. Bei der Ortswahl von Küstenorten spielten zunächst ökonomische Ausweichmanöver, das heißt konkret die Verfügbarkeit von billigem Wohn- und Atelierraum, eine Rolle. Hinzu kommt der Blick auf die Attraktivität des scheinbar unverbrauchten Lokalkolorits und der Landschaftsmotive. Darüber hinaus geht es um die Suche nach Ursprüngen im geographischen Abseits. So sind die Badenden am Strand ein spezielles Sujet der Moderne, an dem sich nicht nur dem homoerotischen Freikörperkult huldigen ließ, sondern auch dem künstlerischen Anliegen, die Malerei allmählich von den Gegenständen zu lösen und in die abstrahierten Gefilde der Formen vorzustoßen.12 Schließlich hielten die Künstler gezielt nach einem Milieu Ausschau, das im Provinziellen und Peripheren zugleich die gesuchte gesellschaftliche Exzentrik und die ästhetische Modernisierung gerade jenseits der akademischen Kunstzentren, also besonders Paris und Berlin, zum Ausdruck bringen sollte.

11 Matthias Krüger: Künstlerkolonien. Gründungsorte im Abseits der Moderne, in: Maha El Hissy und Sascha Pöhlmann (Hg.): Gründungsorte der Moderne. Von St. Petersburg bis Occupy Wall Street, München 2014, S. 161-176 sowie von Krüger dessen zur Publikation in Vorbereitung befindliche Studie: Lokalkolorit. Die Suche nach dem Ortsspezifischen in der regionalistischen und exotistischen Malerei der Moderne. 1830-1914. 12 „Max Beckmann, Menschen am Meer“ (Ausstellungskatalog Hamburg), hg. von Klaus Gallwitz und Ortruf Westheider, Ostfildern 2003; „Zarte Männer in der Skulptur der Moderne“ (Ausstellungskatalog), hg. von Julia Wallner, Berlin 2018.

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All diese Motivationen waren nach dem Siegeszug der Moderne und auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht obsolet geworden. Es hat aber den Anschein, dass die Verarbeitungsmechanismen ironisch distanzierter geworden sind und die unmittelbaren Erregungszustände der Inszenierung Platz gemacht haben. So ist die Photographie aufzufassen, die von Pablo Picasso mit seiner damaligen Lebensgefährtin Françoise Gilot und mit seinem Neffen, dem Maler Javier Vilato, am Strand von Port-Juan in der Provence entstand (Abb. 2). Das Foto stammt von dem berühmten Fotoreporter Robert Capa, der das Paar im Sommer 1948 in ihrem südfranzösischen Feriendomizil besuchte.13 Es stellt die Szenerie einer ausgelassenen joie de vivre vor Augen, wobei es zu einem spielerischen Geschlechterkampf und zu einer teilweisen Inversion der Geschlechterhierarchien kommt. Der Malerfürst schreitet nicht nur im Respektsabstand hinter der Partnerin, sondern spendet ihr auch mit dem Sonnenschirm Schatten. Mit einem durchaus offenkundigen, gönnerhaften inszenatorischen Bewusstsein von seiner Aktion, bringt der Maler, der sich in seinem Œuvre lange genug mit Weltkunst und mit Barockmalerei auseinandergesetzt hat, hier ein höfisches Zeremoniell der Huldigung vor dem Fürsten zur Aufführung. Der Neffe mit der Harpune in Händen tritt als satyrnhafte Jägergestalt im Hintergrund hinzu. Konterkariert und durchkreuzt wird allerdings jedwede formale Feierlichkeit nicht nur durch die Kleidung und die Accessoires – also Strandkleidung und Sonnenschirm statt Baldachin – sondern auch durch die Ausgelassenheit der Beteiligten und nicht zuletzt durch die gänzlich informelle Szenerie des Strandes. Aber solche Inversionen hin oder her – der Strand verführt dazu, das alte Thema von Maler und Muse noch einmal durchzuspielen. Ausnahmsweise stolziert die Muse dem Meister voran. Archaischer Ernst waltet hingegen über dem Foto von Le Corbusier am Strand von Long Island, das vermutlich im Rahmen von Le Corbusiers USA-Reise Anfang 1946 entstand (Abb. 3). Das Foto zeigt den seinerzeit knapp 60-jährigen Architekt in Badehose und mit seiner großen Brille auf der Nase in einer eigentümlich beschwörenden Haltung mit erhobenen Händen. Die Abdrücke im Sand vor ihm komplettieren die Pose zur Szene. Wir erkennen in der Sandmodellierung zwei riesige pfotenartige Hände, unterhalb davon zwei Mulden und zwischen ihnen eine gewellte Linie. Die Füße des Architekten sind unmittelbar vor ihm in zwei Vertiefungen im Sand wiederholt. Die Anordnung von Person und Sandgraphik suggeriert, dass sich der Architekt am Strand niedergeworfen hat, nun wieder aufgestanden ist und das Verehrungsritual der Proskynese, also der Geste des Sich-Zu-Boden-Werfens als Zeichen der Ehrerbietung und Unterwerfung, mit dem Gebet in der Haltung des Oranten fortsetzt. Die Szene oszilliert zwischen

13 Zu den Lebensumständen als Quelle Françoise Gilot und Carlton Lake: Leben mit Picasso (engl. 1964), Zürich 1980, bes. S. 78-79, 113-116, 302.

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einer unverkennbar theatralischen Inszenierung und einer beschwörenden Performanz, im Zuge derer tatsächlich authentische Erfahrungen evoziert werden.14 Diese performativen Bezüge lassen sich detailliert eruieren.15 Das Foto ist einerseits Teil einer persönlichen Imagekampagne von Le Corbusier, welche die vielen Bilder des Architekten in seinem stilisiert technoiden Auftreten mit der unvermeidlichen schwarzen Brille, den eng geschnittenen Anzügen mit der propellerartigen Fliege nun im Modus des Archaischen konterkariert und programmatisch komplementär zu einem Ganzen ergänzt. Damit deutet sich an, dass die Strandfotoserie andererseits eine tiefgründige architekturtheoretische Programmatik besitzt. Sie verdankt gerade in diesen Jahren der Nachkriegszeit einiges den Schriften von Paul Valéry, insbesondere dessen Architekturdialog Eupalinos und dem Essay „L’homme et la coquille“ (beide 1923). In beiden Fällen handelt es sich um philosophische Ref lexionen, die ihre Poetik und ihre Inhalte aus der antikisierenden Kultur der méditerranée und aus deren Ästhetisierung beziehen.16 Für Le Corbusier wurden sie, um es mit wenigen Schlagworten zu sagen, nicht nur deshalb, sondern auch in einem ganz konkreten Sinn bedeutsam: Er fand hier am Strand Begründungen für das kreative Prinzip des nicht-linearen Entwerfens, für die Inkorporation des Zufälligen, nämlich den Zufallsfunden von Naturobjekten wie Steine oder Muscheln. Letztlich ging es um die Versöhnung von Natur und Zivilisation. Das Symbol dieser Synthese ist das Muschelgehäuse, die Ökologie dieser Synthese ist der Strand, das Medium dieser Synthese ist der Sand. Der Sand hat Le Corbusier, besonders in jenen Jahren, als das Foto entstand, nicht nur als Grundstoff des beton brut interessiert, sondern, wie die zahllosen, von ihm selbst gemachten Fotos von Sandverwehungen zeigen17, als zugleich naturwüchsige Hervorbringung und als extrem kontingentes Phänomen fasziniert. Im größeren Maßstab einer Sandverwehung erscheint die Düne in eindrucksvoller Prägnanz bei dem englischen Kunsthistoriker Michael Baxandall als Existenzmetapher – genauer gesagt als Metapher für die Möglichkeit und die Unmöglichkeit der Selbsterkenntnis und damit der Möglichkeit des Schreibens einer 14 Zu diesem Verständnis von Performanz nicht allein als fiktionalisierte Inszenierung, sondern als gestisch oder sprachlich aktualisierter Wirklichkeit Manfred Pfister: Performance/ Performanz, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2013, S. 590-592. 15 Niklas Maak: Der Architekt am Strand. Le Corbusier und das Geheimnis der Seeschnecke, München 2010, bes. S. 23-29. 16 „Méditerranée. De Courbet à Matisse“ (Ausstellungskatalog Paris), hg. von Françoise Cachin, Paris 2000; Gabriele Genge: Artefakt, Fetisch, Skulptur. Aristide Maillol und die Beschreibung des Fremden in der Moderne, Berlin/München 2009, S. 167-186. 17 Tim Benton: Le Corbusier, der geheime Fotograf, in: „Le Corbusier und die Macht der Fotografie.“ (Ausstellungskatalog La Caux-de-Fonds), hg. von Nathalie Herschdorfer und Lada Umstätter, Berlin 2012, S. 31-53, S. 46-51.

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Autobiographie.18 Das Buch zeichnet sich durch ein außergewöhnliches Maß an Selbstreferenzialität aus, indem der Autor in seiner Autobiographie unablässig über das Zustandekommen des autobiographischen Textes selbst nachdenkt. Zu dieser Ref lexion gehört gleich zu Beginn des Buches die Umschreibung des eigenen Selbst („self“) mit der Metapher der Sanddüne. Er habe, so Baxandall, lange Zeit eine Postkarte von einer Sanddüne in der Wüste L’Erg Tihodaine in Algerien vor seinem Schreibtisch an die Wand gepinnt gehabt. An der Düne fasziniert den Kunsthistoriker nicht nur die sich stets wandelnde und daher letztlich unbeobachtbare Form. Die Düne ist darüber hinaus das „Emblem“ einer im stetigen Wandel begriffenen Identität, eines inkohärenten Selbst, bei dem es schwer sei, dieses „as something distinct, articulated and whole“ zu sehen.19 Die Emblematik der aus Sand gebildeten, gegenüber der Umgebung kaum zu definierenden und vom Wind unablässig verwandelten Düne verweist als Sinnbild des „Selbst“ darauf, „die aktive Präsenz der Vergangenheit“ anzuerkennen: „The virtue of the sand dune as emblem is that it acknowledges the active presence of the past.“20 Die Erinnerungen einer Person stammen nicht direkt vom „Selbst“, sondern sind nur dessen „Fußabdrücke“: „My experience is that memories are not often directly of oneself, but of what the self perceived or felt: footprints of the self. The identity is distributed through memory, not simply represented.“21 Wenn uns das hier zunächst aufgenommene Phänomen der Spur überhaupt auffällt und wenn wir überhaupt nicht nur über das Medium des Sandes, sondern auch über die Form der Spur reden, so sind wir – wie so oft – voreingenommen: In diesem Fall sind wir methodisch voreingenommen durch das Paradigma der Spur in der kulturalistischen Wende seit etwa 1970. Bei Jacques Derrida ist die Spur mit dem Konzept der „trace instituée“ ein Kernbegriff von dessen Dekonstruktion.22 In Carlo Ginzburgs Überlegungen zur „Spurensicherung“ ist die Spur ein Vehikel der Mikrohistorie und der „dichten Beschreibung“.23 Sie bietet eine ge18 Michael Baxandall: Episodes. A Memorybook, London 2010, S. 15-21; vgl. Dietrich Erben: Erfahrung als Argument in Berufsautobiographien. Der Kunsthistoriker Michael Baxandall und der Architekt Louis Sullivan, in: Ders. und Tobias Zervosen (Hg.): Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Berufsautobiographien und Professionsgeschichte, Bielefeld 2018, S. 23-38. 19 Baxandall: Episodes, S. 15. 20 Ebd. 21 A.a.O., S. 21. 22 Jacques Derrida: De la Grammatologie, Paris 1967, bes. S. 65-75; zur kulturtheoretischen Relevanz der Spur allgemein: Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt/M. 2007. 23 Carlo Ginzburg: Spie. Radici di un paradigma indiziario, in: Ders.: Miti, emblemi, spie. Morfologia e storia, Turin 1986, S. 158-193; zur Methodik Martin Warnke: Vorwort, in: Carlo Ginzburg: Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance,

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dankliche und theoretische Alternative zu den Gedächtniskonzepten von Quelle, Fragment, Figuration und Abstraktion. Eine Spur ist auf der einen Seite ein Präsenzphänomen, das auf der anderen Seite auf etwas Abwesendes oder Geschehenes schließen lässt. Sie fungiert als Index für etwas Vergangenes. Die Spur vermittelt damit zwischen der strikten Opposition von Absenz/Vergangenheit und Präsenz/Gegenwart; sie ist ein Überrest der Vergangenheit in der Gegenwart. Als Relikt verweist sie damit auch immer auf Urheberschaft oder Täterschaft. Spuren sind forensische Relikte, wobei aber – das ist am Ende vielleicht der springende Punkt – der Täter und der Detektiv Komplizen sind. Der situative Sachverhalt, in dem sich der Täter befand, ist niemals objektiv, sondern ist stets ein Produkt der Imagination des Spurensuchers. Im Paradigma der Spur rücken daher, das macht einen Gutteil von dessen kulturtheoretischer Faszination aus, Faktizität und Fiktion zusammen. Spuren sind Bruchstücke einer nicht mehr gänzlich erreichbaren Wirklichkeit, Fragmente eines Mosaiks oder Elemente eines Systems, das wir nicht mehr kennen, das wir aber als Ganzes dennoch voraussetzen müssen. Denn nur so können wir die Spur als Detail eines Ganzen überhaupt lesen. Dieses System nenne ich im Folgenden Ökologie. Ökologie soll dabei in einem recht weiten Sinn als eine Lehre von der Umwelt verstanden werden, in der Umwelt als letztlich nur unabgeschlossen analysierbare Gegebenheit aufgefasst wird, als unendlicher Datensatz von Lebewesen, Ressourcen, materiellen Beschaffenheiten, Klimagegebenheiten usw. innerhalb eines Beziehungsgefüges.

Architektur in der gebauten Ökologie Der literarische Urahn einer ökologischen Konstellation des Strandes ist der 1719 erschienene Robinson Crusoe-Roman von Daniel Defoe. Hier findet sich paradigmatisch der Zusammenhang von Sandspur, Bauwerk und Umwelt ausgearbeitet. Defoe erfindet in seinem Roman eine eindringliche Architekturmetaphorik, durch die sich die einsame Insel zum Habitat verwandelt, während die Spuren von Friday dann dieses Habitat zum Soziotop machen. Der Protagonist durchlebt während der langen Jahrzehnte auf der einsamen Insel die Läuterung vom raubeinigen Draufgänger zu einer in Glaubensdingen und in seiner Verantwortung für die Gesellschaft gefestigten Persönlichkeit. Es ist dann der „Indian“ Friday, dem das Glück dieser Persönlichkeits- und Glaubensfestigung missionarisch zu teil werden kann. So ist das Buch nur vordergründig eine Abenteuergeschichte, es lässt sich ebenso gut als Entwicklungsroman, als puritanisches Seelendrama und als Kolonisierungschronik lesen. Bei alledem wird im Einzelschicksal des ProtaBerlin 1981, S. 7-14; Stuart Woolf: Italian Historical Writing, in: Axel Schneider und Daniel R. Woolfe (Hg.): Oxford History of Historical Writing, Bd. 5: Historical Writing Since 1945, Oxford 2011, S. 333-351.

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gonisten zugleich der Prozess einer durchaus schon weltumspannend gedachten Auf klärung der Menschheit nachvollzogen. Hier kommt auch die Architektur sinnbildhaft zum Tragen, indem im Verlauf des Romans die vier Behausungen Robinsons ausführlicher beschrieben werden. Zunächst hatte der Schiff brüchige Unterschlupf in einer Höhle gefunden24; dann richtet er sich, zwei Wochen nach seiner Ankunft, mit dem vom Schiffswrack geborgenen Segeltuch ein Zelt auf.25 Nun beginnt er mit dem Bau einer festen Unterkunft, der ein volles Jahr in Anspruch nimmt. Geschildert werden die bedachte Wahl des Standortes, der Gebrauch der ebenfalls aus dem Wrack geretteten Werkzeuge, die Ausstattung des Hauses mit Möbeln und einer Feuerstelle sowie die Errichtung eines Strandvorwerks aus Palisaden, das der Verteidigung dient, in dessen Schutz Robinson aber auch den Hausgarten anlegt.26 Die neue Unterkunft wird rückblickend im Buch als „home“, „castle“ und „residence“ bezeichnet.27 In späteren Jahren errichtet Robinson schließlich in einem anderen Teil der Insel einen „country seat“, um von hier aus seine Plantagen mit den Feldfrüchten zu bestellen.28 Die Unterkünfte Robinsons sind eingängige und anspielungsreiche Symbole. In ihnen spiegeln sich ganz unmittelbar die schrittweise Naturbeherrschung und die Kultivierung der Insel wider, wie es dem zweckrationalen ökonomischen Denken der Zeit entsprach.29 Die Behausungen sind darüber hinaus Metaphern für die Charakterentwicklung ihres Bewohners. Sie stellen räumliche und zeitliche Ordnungen her und leiten Robinson damit zur Selbstref lexion an. Folgerichtig beginnt er, als er sein erstes wirkliches Haus (also seine dritte Unterkunft) vollendet hat, mit dem Schreiben jenes Tagebuchs, als das sich der Roman selbst ausgibt. Und schließlich rekapituliert die sukzessive Entstehung der Unterkünfte von der primitiven Zuf lucht in der Höhle über das Zelt und die ‚Urhütte‘ bis zum Haus äußerst einprägsam eine Entwicklungsgeschichte, die sich nun ausdrücklich als Fortschrittgeschichte darstellt. Robinson hat auf seiner Insel die Zivilisation aus eigener Kraft noch einmal erschaffen und darin erweist er sich als der Paradefall eines Menschen, den sich die Auf klärung als homo progressor et emancipator erträumt. Der Strand ist die Topographie all dieser Progressionen und Selbstentwürfe.

24 Daniel Defoe: Robinson Crusoe (1719), London 1979, S. 49. 25 A.a.O., S. 50-51. 26 A.a.O., S. 62-68. 27 A.a.O., S. 253. 28 Ebd. 29 Dietrich Erben: Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 2017, S. 47-48.

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Macht man von diesen Präliminarien aus einen weiten Sprung in die neueren Zeiten, so bleiben Sand und Spur aus meiner Sicht weiterhin die wesentlichen Elemente einer gebauten Ökologie des Strandes. Selbstverständlich hat es bebaute Küstenorte immer gegeben, aber es wird sich sagen lassen, dass sich die entsprechenden Architekturen über Jahrhunderte hinweg nicht von der jeweils zeitgenössischen Landarchitektur unterschieden. Abseits davon entwickelten sich spezielle Bauaufgaben wie Leuchttürme oder Hafenquais und Piers, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Ingenieursbau hervorgingen.30 Auch Ausreißer einer spleenigen Entertainment-Architektur wurden immer wieder an Badeorten gesehen. Beispielsweise wurde Portmeirion als bunte Architekturcollage in einem Bergnest über der walisischen Küste mit veritabler Kathedrale und Pantheon noch so klein in den tatsächlichen Dimensionen, aber dagegen groß im Maßstab der Ansprüche ans Entertainement errichtet.31 Der Architekt des Städtchens hat sich ganz den Pleasures of Architecture verschrieben, so lautet der Titel eines Buches, das er und seine Frau in der Planungsphase geschrieben haben.32 Eine moderne Fortsetzung findet diese Form der Unterhaltungsarchitektur, wie schon der modische Name Blue Moon signalisiert, in dem von Giancarlo De Carlo entworfenen Strandpavillon mit vorgelagertem Pier am venezianischen Lido.33 Die gesamte, zwischen 1995 und 2005 geplante und errichtete, in Teilen schon wieder baufällige Anlage umfasst einen runden Pavillon mit Restaurantbetrieb und Dachterrasse sowie sich über dem Strand verzweigende Piers (Abb. 4). Die Laufstege wurden auf Stelzen gestellt, um auf der einen Seite den Sandstrand nicht zu überbauen, und bieten auf der anderen Seite den Rundblick auf den Strand und den Meeressaum von erhöhter Warte aus. Unverkennbar wird auf die berühmte Rotonda a Mare in dem an der Adria gelegenen Senigallia Bezug genommen, die schon auf ein Projekt des späten 19. Jahrhunderts zurück geht und in der heutigen Form 1935 im Stil des Razionalismo umgebaut wurde. Solche ausschließlich dem Strandaufenthalt dienende und schon lange nicht mehr als Teil einer Hafenanlage gedachten Piers bezeugen die allmähliche touristische

30 R.G. Grant: Lighthouse. An Illuminating History of the World’s Costal Sentinels, London 2018; Katharina Sattler: Palace Pier Brighton, England, Köln 1976. 31 Wolfgang Pehnt: Das Schelmenstück von Portmeirion. Williams-Ellis, ein Postmoderner vor der Modern, in: Ders.: Der Anfang der Bescheidenheit. Kritische Aufsätze zur Architektur des 20. Jahrhunderts, München 1983, S. 203-211. 32 Clough Williams-Ellis und Amabel Williams-Ellis: The Pleasures of Architecture, London 1924. 33 Kurze Projektbeschreibung von Renata Codello: Architetture contemporanee a Venezia, Venedig 2014, S. 108-111; zu Giancarlo De Carlo zuletzt die historischen Einordnungen bei Marco Biraghi: Storia dell’architettura italiana 1985-2015, Mailand 2016, S. 346 und Valerio Paolo Mosco: Architettura italiana. Dal postmoderno ad oggi, Mailand 2017, S. 41-44.

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Erschließung der Küstenregionen für auswärtige Touristen, nicht weniger aber auch für die einheimische Bewohnerschaft aus den Mittelschichten.34 Architektur macht mit solchen Pavillons unübersehbar, dass die Küste zum Strand umformatiert wurde. Richtig ernst war die Sache mit einer Strandarchitektur im f lächendeckenden Maßstab erst im Zuge des Massentourismus seit den 1960er Jahren geworden. Ich möchte für diesen zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang drei Theoriepositionen ins Feld führen: Mit den beiden Architekten Georges Candilis und Aldo Rossi und dem Architekturhistoriker Reyner Banham könnten die Autoren in Bezug auf ihre Zielsetzungen und auf ihr intellektuelles Temperament nicht unterschiedlicher sein. Doch alle drei entwickeln fast gleichzeitig eine gebaute Ökologie des Strandes. Georges Candilis, ein zeitweiliger Mitarbeiter bei den Unités d’habitation von Le Corbusier, war offenbar der erste, der die Bauaufgabe des Ferienresorts für den Massentourismus an den Mittelmeerstränden auf die theoretische Agenda setzte.35 Hintergrund war die Tourismuspolitik während der Präsidentschaften von Charles De Gaulle und Georges Pompidou, unter denen man den Südfrankreich-Tourismus besonders für die Bevölkerung im Großraum Paris ankurbelte und zugleich im Süden des Landes (Camargue, Languedoc, Pyrénées) gigantische Küstenentwicklungsprogramme startete.36 Candilis berichtet darüber im Kapitel „Les loisirs du plus grand nombre“ seiner Autobiographie.37 Voraussetzungen waren natürlich die nun voll entwickelte Freizeitgesellschaft mit Individualmotorisierung, gesetzlich geregelten Urlaubstagen und entsprechender Tarifpolitik. All diesen vielfältigen Gegebenheiten trägt Candilis in seinem Planungshandbuch, das 1972 als Foto- und Planband mit englischen, französischen und deutschen Texterläuterungen Rechnung und entwickelt daraus umsetzbare Planungs-

34 Zum Tourismusprogramm nach 1945 mit Lit. Till Manning: Die Italiengeneration – Stilbildung durch Massentourismus in den 1950er und 1960er Jahren (Göttinger Studien zur Generationsforschung 5), Göttingen 2011. 35 Zu Candilis vgl. Korinna Zinovia Weber: Georges Candilis – Architect, Urban Planner and Author with Socialist Ideas in a Capitalist World, in: Ljiljana Kolešnik und Tamara BjažićKlarin (Hg.), French Artistic Culture and Central-East European Modern Art, Zagreb 2017, S. 302-318 sowie deren Dissertation: Les ‚vestiges’ de l’opération Million dans l’œuvre de Georges Candilis – Actualités et stratégies de sauvegarde pour un patrimoine de l’habitat économique du second après-guerre, Diss., École polytechnique Lausanne, 2019. 36 Massimiliano Savorra: Il Mediterraneo per tutti. Georges Candilis e il turismo per il Grande Numero, in: Andrea Maglio, Fabio Mangone und Antonio Pizza (Hg.): Immaginare il Mediterraneo. Architettura, arti, fotografia, Neapel 2017, S. 235-245. 37 Georges Candilis: Bâtir la vie. Un architecte témoin de son temps (1997), Paris 2012, S. 271280.

Sand, Spuren, Architektur

ideen.38 Drei Leitgedanken sind dabei entscheidend: 1. Die Ressorts werden tatsächlich in den Maßstäben von Städten, und nicht von Dörfern, als durchgeplante Flächenanlagen mit autarker Infrastruktur konzipiert. Das Ganze wird abgewickelt in niedrigen, nach den Entwurfsprinzipien des Architekturstrukturalismus konzipierten Teppichsiedlungen und hohen, scheibenartigen Wohnanlagen. 2. Es ist nicht mehr die Rede von Anverwandlungen regional-historisierender Erscheinungsbilder, vielmehr sind die Entwürfe gewonnen aus dem Formvokabular der Moderne und sie berücksichtigen die klimatischen Verhältnisse vor Ort, insbesondere mit den Verschattungssystemen bei den Balkonen, den Außentreppen und den Patios. Hier konnte Candilis auf Erfahrungen bei Wohnanlagen, die er in Algerien errichtet hatte, zurückgreifen. Und schließlich 3.: Die Architektur ist ganz auf die Hauptsache ausgerichtet, nämlich den Badestrand und die Lagunen. Candilis‘ Buch erscheint als theoretischer Flankenschutz für seine eigenen Bauprojekte, die er im Departement Pyrénées-Orientales errichtet hat. Hier werden die im Buch erläuterten Planungsprinzipien weitgehend umgesetzt (Abb. 5). Die strukturalistischen Bodendecker von Candilis hat man freilich nicht überall nachgebaut. Es entstanden auch Superzeichen-Bauten wie in La Grande Motte, wo die Terrassenhäuser die Silhouetten von Segelschiffen mimen.39 Verbindlich bleiben aber immer die stadtplanerischen Grundsätze hinsichtlich der Gegebenheiten vor Ort, wozu auch die Strandausrichtung gehört. Eine Ökologie ganz anderer Art meint Reyner Banham in seiner Architekturmonographie über Los Angeles, die ebenfalls zu Beginn der 1970er Jahre erschien.40 Der Architekturhistoriker Banham41 hatte – ganz im Gegensatz zu Candilis – alles andere als ein Planungshandbuch im Sinn. Ihm ging es um die Revision des Architekturbegriffs der Klassischen Moderne, und das lief bei ihm geradewegs auf die Dekonstruktion von autoritären architektonischen Normsetzungen hinaus. Banham war ein Unterstützer der Pop Art, die er in der Londoner Independent Group mit aus der Taufe gehoben hatte. Sein 1971 erschienenes Buch Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies ist ein Survey der kalifornischen Metropole, der sich – darauf will der Untertitel hinaus – entlang der Topographien der Stadt

38 Georges Candilis: Planen und Bauen für die Freizeit / Recherches sur l’architecture des loisirs / Planning and Design for Leisure (Dokumente der Modernen Architektur 9), Stuttgart 1972. 39 François Loyer: Histoire de l‘architecture française. De la Révolution à nos jours, Paris 2006, S. 362-363 und zum Pendant der Winterresorts Dietrich Erben: Zukunftsstädte des Winterurlaubs, in: Sebastian Schels und Olaf Unverzart: ÉTÉ. Sommer, Summer, Estate. Mit einem Essay von Dietrich Erben, Dortmund 2020, S. 176-183. 40 Reyner Banham: Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies (1971), Berkeley/Los Angeles/ London 2009. 41 Aus der umfangreichen Sekundärliteratur Nigel Whiteley: Reyner Banham. Historian of the Immediate Future, Cambridge, MA. 2002.

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IV. Architekturanthropologie

entwickelt und der sich um konventionelle Bautypologien nicht mehr schert. Banham identifiziert vier „Ökologien“ ausgehend von den Niederungen des Strandes (a) über die Infrastrukturen (b) und die Bebauung in der Ebene (c) bis hin zur Villeggiatura in den Hügeln (d). Er beschreibt ein Los Angeles, das heute natürlich schon längst untergegangen ist. Das gilt insbesondere für die damalige Ökologie des Strandes, der horrende Grundstückpreise den Garaus gemacht haben. „Ecologies“ im Plural versteht der Autor gerade nicht als Singular der „Ökologie“, wie er damals auf kam, also im Sinne von Umweltbewusstsein, Nachhaltigkeit oder Grüner Politik, sondern viel basaler als Vielfalt von Habitaten und Topographien. Er beschreibt die Prozesse zwischen Topographie und Architektur und weiterhin die Überlagerung von Systemen – Landschaft, Architektur, Verkehr, Infrastruktur, Kommunikation, Versorgung, Freizeit und so fort. Das führt ihn dazu, den konventionellen Architekturbegriff aufzugeben. Banham geht es um, wie er es nennt, „polymorphous architectures“.42 Sie umfassen Wohnhäuser und Supermärkte, Hotdog-Buden und Tankstellen, Werbetafeln und Zäune. Banham schaut auf die Totalität von gebauten Artefakten und auf den andauernden Austausch dieses Gebauten. Die „ecologies“ sprechen die „language of movement“: „Mobility outweights monumentality.“43 Dies ist auch die Sprache des Strandes. Banham beschreibt hier die recht einfache Holzarchitektur der Häuser zwischen Strand und Highway sowie die Piers. Diejenige Architektur, welche die „Sprache der Bewegung“ aber exemplarisch ausspricht, sind die aus Surf brettern gebildeten Palisaden (Abb. 6): „The surf-board is the prime symbolic and functional artefact of those beaches where California surfing began.“44 Seit der Ankunft der Wikinger habe die Küstengeschichte nie etwas Farbigeres gesehen: „but few episodes of seaside history since the Viking invasions can have been so colourful.“45 Und weiter: „Leaning on the sea-wall or stuck in the sand like plastic magaliths, they (d.i. die Surf bretter) concentrate practically the whole capacity of Los Angeles to create stylish decorative imagery, and to fix those images with the panoply of modern visual and material techniques.“46 Wenn es Banham gelingt, die gebaute Ökologie des Strandes als „Surfurbia“ überhaupt in den Blick zu nehmen, so verdankt sich das nicht nur den popkulturellen Vorzeichen einer Anerkennung der Massenkultur, sondern auch der Tatsache, dass ihn statt der high brow-Architektur nun die gebaute Ökologie des Strandes interessiert.

42 Banham: Los Angeles, S. 5. 43 Ebd. 44 A.a.O., S. 31. 45 Ebd. 46 Ebd.

Sand, Spuren, Architektur

Gleichzeitig mit den Bauten für die Massengesellschaft des Wohlfahrtsstaates bei Candilis und mit der Entdeckung der „polymorphous architectures“ durch Banham erhob auch der italienische Architekt Aldo Rossi seine Stimme für die Strandarchitektur. Er schaut ausschließlich auf die Strandhäuschen. Die Strandkabinen sind unter anderem Reminiszenzen an die Strandurlaube als Jugendlicher, wie sie in dem, schon angesprochenen, Trend der Zeit des Massentourismus lagen. Rossi fertigte von den Strandhäuschen seit den frühen 1970er Jahren zahlreiche Zeichnungen an, die er in seiner zuerst englisch 1981 erschienenen Autobiographie beschreibt (Abb. 7).47 Sie gelten ihm zunächst als Urformen, wenn er in ihnen die ‚Urhütte‘ Vitruvs wiedererkennt. Rossi geht es mit dieser Typologie im Wortsinn um den oikos, nämlich um das Haus bzw. den Herd, und er ist sich natürlich bewusst, dass im Begriff Ökologie dieses Wort nicht nur etymologisch, sondern auch historisch steckt – die Architektur begann mit dem Haus. In den Zeichnungen kommt es Rossi darauf an, die Einzelhäuschen in den wenigen Elementen der vier Wände und des Daches mit dem betonten Tympanon darzustellen. Darüber hinaus werden die typologischen Einzelexemplare zu Gruppen versammelt und geradezu wie in Gesprächen zusammengeführt. Rossi nennt die Strandhütten „piccole case innocenti“.48 Dabei sind ihm mehrere ‚liminiale‘ Aspekte dieser Bauten wichtig. Einmal sind sie, dadurch, dass sie aus dem gleichen Holz wie die Schiffe sind, gleichsam ein gebauter Vorposten der Artefakte des Meeres in der Randzone. ‚Liminal‘ ist aber auch das Verhältnis von Bau und menschlichem Körper. Die Strandkabine ist nicht nur ein Erinnerungszeichen der „Liebschaften des Sommers“ („legata agli amori delle stagioni marine“).49 Sie ist auch Zeuge eines archaischen Rituals. Die Kabinen werden, wie Rossi schreibt, zu Beobachtern „bei der Unschuld des Sich-Entkleidens, bei dem sich stets die alten Bewegungen wiederholen, sie sehen die nassen Kleider, die Zärtlichkeiten und die Salzluft auf der Haut.“50 Alles in allem sind die Strandkabinen nicht nur Metaphern und Idealbilder einer archaischen Architektur, sondern eben auch deren gebaute, sinnliche Wirklichkeiten.

Schluss: Der Strand als Gegenpol und Todeszone Blicken wir von all den hier referierten Theorieansätzen zurück auf den Normalfall einer suburban beach, wie es John Fiske genannt hat, so scheinen mir zu deren Verständnis die medialen Elemente von Sand, Spur und „polymorpher Architektur“ weiterhin hilfreich, um sich der Ökologie des Strandes zu nähern (Abb. 8): Bis heute ist die Raumorganisation des Strandes im Rahmen der sozialen Routinen 47 Aldo Rossi: Autobiografia scientifica (engl. 1981), Mailand 2009, S. 42 u. 47-48. 48 A.a.O., S. 48. 49 A.a.O., S. 47.

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IV. Architekturanthropologie

des Strandaufenthalts durch Spuren und Architekturen geprägt – wir hinterlassen Markierungen durch Badetücher, Liegestühle, Sonnenschirme und nicht zuletzt durch unsere Körper und wir nutzen die Strandarchitekturen der Restaurants, Badehäuschen und Piers. Handelt es sich bereits beim Strand um eine ‚liminale‘ Zone zwischen Wasser und Land, so sollte auch die gebaute Ökologie von Stränden als Zwischenraum zwischen stabilen Gebäuden und situativer Raumbesetzung verstanden werden. Gibt es, so wäre am Ende zu fragen, in der Ära des Gebrauchs von Stränden als Territorien ökonomischer Wertschöpfung durch Tourismus, Freizeit-, Mode- und Körperindustrie dann überhaupt noch die Spur am Strand als Existenzmetapher? Zu befürchten ist, dass es sie öfter gibt, als wir uns das eigentlich wünschen. Und außer Zweifel steht, dass der Strand wie von jeher ein ‚liminaler‘ Bereich geblieben ist, über den immer wieder als Zone größter politsch-gesellschaftlicher Widersprüche und menschlicher Gefährdungen nachzudenken ist. So sind Strände in der Gegenwart zu räumlichen Gegenpolen von Fliehkräften nicht im naturwissenschaftlichen, sondern im sozialen Wortsinn geworden, denn wo wir als Touristen die fernen Strände in Afrika aufsuchen, kommen uns von dort an den südeuropäischen Stränden die Flüchtlinge entgegen.51 Am Ende mag der Blick auf zwei Zeitungsfotos genügen, um den Strand darüber hinaus als Todeszone einer global zerstörerischen Ökonomie und einer zerstörten Ökologie zu beschreiben. Vor einigen Jahren tauchten Hunderte von fabrikneuen Fernsehapparaten an einem Küstenabschnitt in Japan auf (Abb. 9).52 Angesichts der hübschen Reihung der Objekte mögen Freunde der Serialität, die noch dazu dem Appeal der Medienkunst verfallen sind, beim Betrachten des Fotos auf den Gedanken kommen, es handle sich um eine Kunstinstallation. Man ist aber ganz im Sinn von Carlo Ginzburg nur einem vorgängigen Tatgeschehen auf der Spur. Denn es handelt sich schlicht um eine Ladung von in China hergestellten, geschmuggelten Fernsehgeräten, die von der Schiffsmannschaft kurzerhand über Bord geworfen wurden, als die Küstenwache zur Inspektion auf den Frachter zusteuerte. Als Strandgut erscheinen uns die Fernseher wie Menetekel der massenweise produzierten Konsumgüter. Sie sind konfuse Relikte einer Ökonomie, die als globalisiertes Wirtschaften immense kriminelle Überschussenergien nicht nur des Gewinns, sondern auch der ökologischen Lasten erzeugt. 50 Übersetzung D.E.; die Passage lautet im Original, a.a.O., S. 48: „Questo tornava nel disegno delle cabine come piccolo case innocenti: l’innocenza dello spogliarsi ripetendo antichi movimenti, gli indumenti bagnati, qualche gioco, un tepore acido del sale marino.“ 51 Tom Holert und Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Touristen, Köln 2006. 52 Das Bild mit Bildunterschrift wurde publiziert in der Süddeutschen Zeitung vom 16./17.11.2002.

Sand, Spuren, Architektur

Und immer aufs Neue der Strand als Todeszone: Auf dem Foto (Abb. 10) sind Sandplastiken zu sehen. Ein paar Monate nach dem großen Tsunami im Indischen Ozean 2004, bei dem etwa 230.000 Menschen umkamen, wurden sie an einem Strand in Südindien von den Angehörigen der Ertrunkenen in den Sand geformt. Es sind Totenbildnisse der Wiederholung. Das Meer nahm nicht nur die Menschen mit sich fort, sondern wird es auch wieder mit deren Bildern tun.

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Abb. 1 Zonierungsdiagramm eines Strandabschnitts, aus: Fiske: Narrating the Popular, 2001. Abb. 2 Robert Capa: Françoise Gilot, Pablo Picasso und Javier Vilato am Strand von Port-Juan, Foto 1948.

Abb. 3 Unbekannter Fotograf: Le Corbusier am Strand auf Long Island. Foto 1946.

Abb. 4 Giancarlo De Carlo: Strandpavillon Blue Moon auf dem Lido von Venedig, fertiggestellt 2005. Abb. 5 Ferienresort von Le Barcarès-Port Leucate, errichtet 1964-1972. Illustration aus: Georges Candilis: Planen und Bauen für die Freizeit 1972.

Abb. 6 Palisade aus Surfbrettern am Strand von Los Angeles, Illustration aus: Reyner Banham: Los Angeles 2009.

Abb. 7 Aldo Rossi: Cabine dell’Elba / Un’altra estate. Aquarellierte Zeichnung 1979. Illustration aus: Aldo Rossi: Autobiografia scientifica 2009.

Abb. 8 Blick auf einen Touristenstrand. Foto um 2000. Foto Massimo Vitali.

Abb. 9 Geschmuggelte Fernsehgeräte an einem Strand in Japan. Foto November 2002.

Abb. 10 Sandfiguren an einem Strand des Indischen Ozeans zum Gedenken an die Opfer der Tsunami-Flut 2004. Foto 2005.

Publikations- und Abbildungsnachweise Kopfgeburten. Betrachtung und Begehung beim Monumentaldenkmal, in: Johannes Myssok und Guido Reuter (Hg.): Der Sockel in der Skulptur des 19. und 20. Jahrhunderts, Köln: Böhlau Verlag 2013, S. 41-62 Abbildungsnachweise: 1 aus: „Begas. Monumente für das Kaiserreich. Eine Ausstellung zum 100. Todestag von Reinhold Begas (1831-1911), (Ausstellungskatalog Berlin), Dresden 2010; 2, 16 Fotos Isabel Mühlhaus, TU München; 3 Homepage des Ministeriums für Bauwesen und Raumordnung: http://www.bbr.bund.de/cln_015/nn_22808/DE/WettbewerbeAusschreibungen/PlanungsWettbewerbe/ Ablage/Abgeschl.Wettbewerbe/ Ablage2010/Freiheit EinheitDenkmal/FED; 4, 12, 14, 15, 19-21: Fotos TU München, Fotothek des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design; 5: Foto Christine Tauber, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München; 6-8: aus: „Les Architectes de la Liberté 1789-1799“ (Ausstellungskatalog Paris), Paris 1989, S. 264, 273, 263; 9 aus: „Leo von Klenze. Architekt zwischen Kunst und Hof 1784-1864“ (Ausstellungskatalog München), München 2000, S. 238; 10-11, 13 Fotos Dietrich Erben; 17 aus: Eugène Lesbazeilles: Les Colosses anciens et modernes, Paris 1881, S. 304-305; 18: Stadtmuseum München, Graphische Sammlung.

Zur Architekturikonologie des Eiffelturms. Das Kolossale, das Gestell und der Chronotopos, in: In situ. Zeitschrift für Architekturgeschichte 12, 2020, S. 253268 Abbildungsnachweise: 1, 2, 4: Fotos Dietrich Erben; 3, 5, 7, 8, 9, 12, 13: Archiv des Autors; 6, 10, 14, 15: BPKBildagentur (0005181, 70160810, 70238267, 70167527), Berlin; 11: AKG images (335883), Berlin.

Mediale Konfigurierung eines Ereignisses. Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, in: Enno Rudolph und Thomas Steinfeld (Hg.): Machtwechsel der Bilder. Bild und Bildverstehen im Wandel, Zürich: Orell Füssli Verlag 2012, S. 179-211 Abbildungsnachweise: 1-2, 5, 8-9, 11 Internet; 3, 7 Archiv des Autors; 4 Süddeutsche Zeitung vom 5./6.12.2001; 6 Museum; 8 aus: Michael Beuthner u.a. (Hg.): Bilder des Terrors – Terror der Bilder?, Köln 2003, S.29; 12 aus: „A New World Trade Center“ (Ausstellungskatalog New York), New York 2002, S. 108.

Das Medium des Buches und die Institution der Textgattung in der Architekturtheorie, in: Dietrich Erben (Hg.), Das Buch als Entwurf. Textgattungen in der Geschichte der Architekturtheorie. Ein Handbuch, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2019, S. 10-29 Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation. Eine Skizze, in: arch+ 239, 2020: Themenheft „Europa – Infrastrukturen der Externalisierung“, S. 70-79 Abbildungsnachweise: 1 aus: Daheim 2 (1866), S. 489; 2 aus: Martin Murrenhof f, München als „Tiefe Stadt“, in: Stephan Trüby u.a. (Hg.): Bayern. München. Hundert Jahre Freistaat. Eine Raumverfälschung, Paderborn 2019, S. 108; 3 aus: Heinrich Klotz: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 19601980, Braunschweig 1984, S. 382; 4 aus: „Antonio Sant’Elia“ (Ausstellungskatalog), Berlin 1992, S. 191; 5-7 Fotos Dietrich Erben; 8 Foto Internet.

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Humanität und gebaute Umwelt

„Haltung“. Zu Karriere und Kritik eines Begriffs in der Architektursprache, in: Jahrbuch 2014. Fakultät für Architektur Technische Universität München, München 2014, S. 36-41 Abbildungsnachweis: Abb. aus: Paul Schmitthenner: Baugestaltung. Erste Folge. Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 21940, S. 12.

Die Kirchen von Bankiers. Die Medici-Bank und die Kunst der Unternehmenskultur im Quattrocento, in: Christoph Baier u.a. (Hg.): „Absolutely Free“? - Invention und Gelegenheit in der Kunst, Bielefeld: transcript Verlag 2019, S. 205-223 Abbildungsnachweise: 1-5 Fotos Dietrich Erben; 6 aus: Stef fi Roettgen: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. II: Die Blütezeit 1470-1510, München 1996, Tafel 63.

Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie. Baupolitik unter Cosimo I de‘ Medici in Florenz, in: Dietrich Erben und Christine Tauber (Hg.): Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit, Passau: Klinger Verlag 2016, S. 71-92 Abbildungsnachweise: 1 aus: Matteo Burioni: Die Renaissance des Architekten. Profession und Souveränität in Giorgio Vasaris Viten, Berlin 2008, Abb. 1, 2-4, 7-9: Fotos Dietrich Erben; 5, 10: TU München, Archiv des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design; 6: https://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/9/91/ loggia_del_Mercato_nuovo.JPG

Der Renaissancehumanismus und die Idee einer „humanen Architektur“. Florenz als Gründungsort in der Architekturgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Maha El Hissy und Sascha Pöhlmann (Hg.): Gründungsorte der Moderne, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, S. 251-271 Abbildungsnachweise: 1 aus: Chicago Architecture 1872-1922, hg. von John Zukowsky, München 1987, S. 63; 2 aus: Walter Gropius: Die neue Achitektur und das Bauhaus, Mainz 1967, S. 33; 3 aus: Figura umana. Normkonzepte der Menschendarstellung in der italienischen Kunst 1919-1939, hg. von Eckhard Leuschner, Petersberg 2012, S. 226; 4-5 aus: Fabrizio Brunetti: L‘Architettura in Italia negli anni della ricostruzione, Florenz 1986, S. 100, 103; 6-8 Fotos Dietrich Erben.

Frivole Architektur. Über Gated Communities, in: Ulrich Gehmann (Hg.): Virtuelle und ideale Welten, Karlsruhe: KIT Scientific Publishing Karlsruhe 2012, S. 127-140 Abbildungsnachweise: 1 Homepage Fontana in Oberwaltersdorf; 2-4 Fotos Dietrich Erben; 5-6 Homepage „Seaside“-Investments.

Mediale Inszenierungen der Olympischen Sommerspiele in München 1972. Architektur – Park – Benutzer, in: Stefanie Hennecke, Regine Keller und Juliane Schneegans (Hg.): Demokratisches Grün. Olympiapark München, Berlin: Jovis Verlag 2013, S. 16-34 Abbildungsnachweise: Abbildungsnachweise: 1-4, 7, 10 Fotothek des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design, TU München; 5, 8, 11, 14 aus: Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972 (Hg.): Die Spiele. Der of fizielle Bericht, Bd. 2: Die Bauten, München 1972; 6, 12 Münchner Stadtmuseum; 9, 13, 15-19 Isabel Mühlhaus, TU München.

Publikations- und Abbildungsnachweise

Angst und Architektur. Zur Begründung der Nützlichkeit des Bauens, in: Hephaistos. New Approaches in Classical Archeology and Related Fields 25/26 (2003/2004), S. 29-51 Abbildungsnachweise: 1 Wien, Österreichische Nationalbibliothek; 2 aus: Neue Staatsgalerie Stuttgart und Kammertheater Stuttgart, hg. vom Finanzministerium Baden-Württemberg, Stuttgart 1984, Umschlagabb.; 3, 9 Fotos Dietrich Erben; 4 aus: Antonio Averlino detto il Filarete: Trattato di architettura, hg. von Anna Maria Finoli u.a., Mailand 1966, Taf 5; 5-6 aus: Hans Belting und Dieter Blume (Hg.): Malerei und Stadtkultur der Dantezeit, München 1989, Taf. IV; 7, 10, 11 Archiv des Autors; 8 aus: Dietrich Erben: Paris und Rom, Berlin 2008, Abb. 10; 12 Brüssel, Musée Wiertz; 13 aus: Johann G. Taberger: Der Scheintod etc., Hannover 1829; 14-15 aus: Jakob Atzel, Ueber Leichenhäuser etc., 1796, Frontispiz und S. 88.

Zur Architektur der Frühen Neuzeit aus der Sicht der historischen Anthropologie, in: Stefan Schweizer und Jörg Stabenow (Hg.): Bauen als Kunst und historische Praxis. Architektur und Stadtraum im Gespräch zwischen Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht 2006, S. 461-491 „Porös“. Bemerkungen zur Architekturgeschichte des Begriffs, erschienen engl., in: Sophie Wolfrum (Hg.): Porous City. From Metaphor to Urban Agenda, Basel: Birkhäuser Verlag 2018, S. 26-31 Abbildungsnachweis: Abb. aus: Neapel und der Süden. Fotografien 1846-1900 – Sammlung Siegert, hg. von Herbert Wilhelm Rott u.a., Berlin 2012, S. 49.

Ein Haus kommt selten allein. Zur Phänomenologie des Hyperbildes in der Platzarchitektur, in: Stephanie Hanke und Brigitte Sölch (Hg.): Projektionen. Der Platz als Bildthema, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2019, S. 39-52 Abbildungsnachweise: 1 aus: Albert Erich Brinckmann: Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit, Frankfurt/M. 1911; 2, 3, 6 Fotos Dietrich Erben; 4 aus: „Thomas Struth. Fotografien 1978-2010“ (Ausstellungskatalog Zürich), hg. von Anette Kruszynski und Armin Zweite, München 2010; 5 aus: James Lawrence: Solid Recollections, in: Gagosian Quarterly 2017 (online); 7 Florenz, Uf fizien, Gabinetto delle Stampe; 8 Archiv des Autors.

Sand, Spuren, Architektur. Zur gebauten Ökologie des Strandes, in: Carina Breidenbach u.a. (Hg.): Narrating and Constructing the Beach. An Interdisciplinary Approach, Berlin/Boston: De Gruyter Verlag 2020, S. 229-250 Abbildungsnachweise: 1 aus: John Fiske, Narrating the Popular, 2001, Fig. 3; 2 aus: Françoise Gilot, Mein Leben mit Picasso, 1980, Abb. nach S. 64; 3 aus: Niklas Maak: Der Architekt am Strand. Le Corbusier, München 2010, S. 25; 4 Foto Dietrich Erben; 5 aus: Georges Candilis: Architecture de Loisir, Stuttgart 1972, S. 56; 6 aus: Ryner Banham: Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies, London 2009, Fig. 14; 7 aus: Aldo Rossi: Autobiografia scientifica, Mailand 2009, Taf. 12; 8 Foto und Copyright Massimo Vitali, Mailand; 9-10 Archiv des Autors.

Leider war es nicht in allen Fällen möglich, die Inhaber der Rechte zu ermitteln. Wir bitten gegebenenfalls um Mitteilung.

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Veröffentlichungen Dietrich Erben I. Politische Ikonographie und Denkmalkultur II. Internationale Kunstbeziehungen und Barock III. Architekturtheorie und Architekturgeschichte IV. Musikikonographie und Musikgeschichte V. Kunstgeschichte und Gesellschaftsgeschichte VI. Rezensionen

I. Politische Ikonographie und Denkmalkultur Monographien: Bartolomeo Colleoni. Die künstlerische Repräsentation eines Condottiere im Quattrocento (Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums in Venedig. Studi 15), Sigmaringen 1996 Der steinerne Gast. Die Begegnung mit Statuen als Vorgeschichte der Betrachtung, Weimar 2005 (Hg. zusammen mit Christine Tauber): Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 39), Passau 2016

Aufsätze: Die Pyramide Ludwigs XIV. in Rom. Ein Schanddenkmal im Dienst diplomatischer Vorherrschaft, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31 (1996), S. 427-458 Söldner und Amtsinhaber. Das Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni in Venedig, in: Neue Zürcher Zeitung 13./14.07.1996, Nr. 161, S. 59f. Die Reiterdenkmäler der Medici in Florenz und ihre politische Bedeutung, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 40 (1996), S. 287-361 (erschienen Oktober 1997) Bildnis, Denkmal und Historie beim Masaniello-Aufstand 1647-1648 in Neapel, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 62 (1999), S. 231-263 La statua equestre di Bartolomeo Colleoni a Venezia, in: Bergomum 95 (2000): La figura e l‘opera di Bartolomeo Colleoni. Convegno di studi, Bergamo 16-17 aprile 1999, S. 161-182

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Humanität und gebaute Umwelt

Das Bild des „Condottiere“ bei Jacob Burckhardt. Militarisierung und Renaissancerezeption um 1900, in: Maurizio Ghelardi und Max Seidel (Hg.): Jacob Burckhardt. Storia della cultura, storia dell’arte (Collana del Kunsthistorisches Institut in Florenz 6), Venedig 2002, S. 147-158 Geschichtsüberlieferung durch Augenschein. Zur Typologie des Ereignisdenkmals, in: Achim Landwehr (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens (Documenta Augustana 11), Augsburg 2002, S. 219-248 Die Jagd, der Friede und der Krieg, in: Wolfgang Augustyn (Hg.): Pax. Beiträge zu Idee und Darstellung des Friedens (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 15), München 2003, S. 361-381 Requiem und Rezeption. Zur Gattungsbestimmung und Wahrnehmung von Grabmälern in der Frühen Neuzeit, in: Arne Karsten und Philipp Zitzlsperger (Hg.): Tod und Verklärung. Grabmalskultur in der Frühen Neuzeit, Wien 2004, S. 115-135 Die Krise des Reiterdenkmals und das Wachstum der Staatsgewalt im 16. Jahrhundert, in: Joachim Poeschke u.a. (Hg.): Praemium Virtutis III. Reiterstandbilder von der Antike bis zum Klassizismus (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496. Bd. 22), Münster 2008, S. 269-292 Der Triumphbogen Alfons’ I., in: Salvatore Pisani und Katharina Siebenmorgen (Hg.): Neapel. Kulturgeschichte aus sechs Jahrhunderten, Berlin 2008, S. 60-68 Mediale Konfigurierung eines Ereignisses. Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, in: Enno Rudolph und Thomas Steinfeld (Hg.): Machtwechsel der Bilder. Bild und Bildverstehen im Wandel, Zürich 2012, S. 179-211 Anthropomorphe Europa-Karten des 16. Jahrhunderts. Medialität, Ikonographie und Formtypus, in: Ingrid Baumgärtner und Martina Stercken (Hg.): Herrschaft verorten. Politische Kartographie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Zürich 2012, S. 99-123 Kopfgeburten – Betrachtung und Begehung beim Monumentaldenkmal, in: Johannes Myssok und Guido Reuter (Hg.): Der Sockel in der Skulptur des 19. und 20. Jahrhunderts, Köln 2013, S. 41-62 Vitruv, wer? Zur Porträtbüste des römischen Architekten im Innenhof der TUM, in: Jahrbuch 2014. Fakultät für Architektur Technische Universität München, München 2014, S. 254-255

Veröffentlichungen Dietrich Erben

Politische Theorie, in: arch+ Heft 4 (2015), Themenheft „Tausendundeine Theorie“, S. 120-123 Das Ereignis und seine Bilder. Zur medialen Gegenwart des Terroranschlags auf das World Trade Center in New York, in: Uwe Fleckner (Hg.): Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst (Studien aus dem Warburg Haus 13), Berlin 2014, S. 447-462, S. 521f. Antike und Affront. Zum Zusammenhang von Antikenrezeption und Bellizität am Beispiel der französischen Hof kunst unter Ludwig XIV., in: Wolfgang Augustyn und Ulrich Söding (Hg.): Dialog – Transfer – Konf likt. Künstlerische Wechselbeziehungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 33), Passau 2014, S.415-435 (veränderter Wiederabdruck in: Andreas Beyer (Hg.): Die Präsenz der Antike in der Architektur, Berlin 2018, S. 106-131) (mit Christine Tauber) Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen, in: Dietrich Erben und Christine Tauber (Hg.): Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 39), Passau 2016, S. 1-16 Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie. Baupolitik unter Cosimo I de‘ Medici in Florenz, in: Dietrich Erben und Christine Tauber (Hg.): Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit, Passau 2016, S. 71-92 Die Kirchen von Bankiers. Die Medici-Bank und die Kunst der Unternehmenskultur im Quattrocento, in: Christoph Baier u.a. (Hg.): „Absolutely Free“? – Invention und Gelegenheit in der Kunst. Für Jürgen Wiener zum 60. Geburtstag, Bielefeld 2019, S. 205-223

Handbuchartikel: In: Handbuch der politischen Ikonographie, hg. von Uwe Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Ziegler, 2 Bde., München 2011, 22012, 32014 Artikel: „Aufstand“, Bd. 1, S. 103-111; „Denkmal“, Bd. 1, S. 235-243

II. Internationale Kunstbeziehungen und Barock Monographien: Paris und Rom. Die staatlich gelenkten Kunstbeziehungen unter Ludwig XIV. (Studien aus dem Warburg-Haus 9), Berlin 2004 Kunst des Barock (C.H. Beck Wissen Kunstepochen), München 2008, 22019, 32020

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Aufsätze: Skulpturenexporte von Italien nach Spanien. Überlegungen zur kulturellen Reconquista in Andalusien nach 1500, in: Hispanorama. Zeitschrift des Hispanistenverbandes 93 (2001), S. 83-93 Erfahrung und Erwartung: Bernini und seine Auftraggeber in Paris, in: Pablo Schneider und Philip Zitzlsperger (Hg.): Bernini in Paris. Das Tagebuch des Paul Fréart de Chantelou über den Aufenthalt Gianlorenzo Berninis am Hof Ludwigs XIV., Berlin 2006, S. 358-375 Zum Verständnis des Modellbegriffs in der Kunstgeschichte. Das Beispiel des Invalidendoms in Paris und des Petersdoms in Rom, in: Christoph Kampmann u.a. (Hg.): Bourbon-Habsburg-Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700, Köln u.a. 2008, S. 284-299

III. Architekturtheorie und Architekturgeschichte Monographien: Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart (C.H. Beck Wissen), München 2017 (Hg.): Das Buch als Entwurf. Textgattungen in der Geschichte der Architekturtheorie. Ein Handbuch, Paderborn 2019 (Hg.): Theorie im Architekturentwurf. Ausgewählte Masterprojekte an der Technischen Universität, München 2019

Aufsätze: „Schade, daß Beton nicht brennt.“ Bemerkungen zu einem Baustoff und zu seiner Verwendung an den Gebäuden der Augsburger Universität, in: Unipress. Zeitschrift der Universität Augsburg, Heft 4 (1988), S. 43-47 Bearbeitung der Sektion Augsburger Bauten (Kat.-Nr. 63-67, 85, 86, 143, 182), in: Ausst.-Kat. „Romantik und Restauration. Architektur in Bayern zur Zeit Ludwigs I. 1825–1848“, hg. von Winfried Nerdinger, München 1987 Nous ne sommes pas en un règne de petites choses: Jean-Baptiste Colbert und die französische Architekturakademie, in: Ausst.-Kat. „‘vom Schönen gerührt...‘ Kunstliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts aus den Beständen der Bibliothek Oettingen-Wallerstein, Universität Augsburg“, hg, von Hanno-Walter Kruft, Nörd-

Veröffentlichungen Dietrich Erben

lingen 1988, S. 18-24; Bearbeitung der Sektion „Architekturtheorie des 17. Jahrhunderts in Frankreich“, ebd., Kat.-Nr. 18-24 Augsburg als Verlagsort von Architekturpublikationen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Helmut Gier und Johannes Janota (Hg.): Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1997, S. 963-989 Claude Perrault, in: Julian Nida-Rümelin und Monika Betzler (Hg.): Ästhetik und Kunstphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1998, S. 620-623 (22011) Umsturz der Politik und Umbau der Stadt: Paris unter Napoleon I., in: transition Nr. 9, 2002, S. 142-149 Angst und Architektur. Zur Begründung der Nützlichkeit des Bauens, in: Hephaistos. New Approaches in Classical Archeology and Related Fields 25/26 (2003/2004), S. 29-51 (gekürzter Wiederabdruck in: Mitteilungen des Instituts für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg 13 (2004), S. 7-25; aktualisierter Wiederabdruck in: Freie Assoziation. Zeitschrift für das Unbewusste in Organisation und Kultur 13 (2010), S. 91-108) Die RUB und der Beton, Internetpublikation “www. ruhr-uni-bochum.de/ uniprofil/ universitaet/vortrag_erben“, August 2005 Zur Architektur der Frühen Neuzeit aus der Sicht der historischen Anthropologie, in: Stefan Schweizer und Jörg Stabenow (Hg.): Bauen als Kunst und historische Praxis. Architektur und Stadtraum im Gespräch zwischen Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 26), 2 Bde. in 1 Bd., Göttingen 2006, S. 461-491 Industrielle Dominanz und kommunale Selbstbehauptung: Rathäuser im Ruhrgebiet, in: Vestischer Kalender 81 (2010), S. 235-251 Die Architektur der Universität Bielefeld. Integration als Bau- und Wissenschafts-konzeption, in: Jürgen Büschenfeld u.a. (Hg.): Wechselwirkungen. Bielefeld – Stadt mit Universität oder Universitätsstadt?, Bielefeld 2010, S. 12-20 Pluralisierung des Wissens. Bibliotheksbau zwischen Renaissance und Auf klärung, in: Ausst. Kat. „Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken“, hg. von Winfried Nerdinger, München 2011, S. 169-194 Frivole Architektur – Über Gated Communities, in: Ulrich Gehmann (Hg.): Virtuelle und ideale Welten (Technikdiskurse. Karlsruher Studien zur Technikgeschichte 8), Karlsruhe 2012, S. 127-140 Architektur als öffentliche Angelegenheit. Ein berufssoziologisches Porträt des Architekten im Barock, in: Ausst. Kat. „Der Architekt. Geschichte und Gegenwart

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eines Berufsstandes“, hg. von Winfried Nerdinger, 2 Bde., München 2012, Bd. I, S. 105-119 Mediale Inszenierungen der Olympischen Sommerspiele in München 1972. Architektur – Park – Benutzer, in: Stefanie Hennecke, Regine Keller und Juliane Schneegans (Hg.): Demokratisches Grün. Olympiapark München, Berlin 2013, S. 16-34 Wozu Architekturgeschichte im Architekturstudium? Einige Thesen, in: Jahrbuch 2013. Fakultät für Architektur Technische Universität München, München 2013, S. 254-255 Wahrnehmen, Handeln, Erinnern – Räume und Orte in der Architektur, in: Fiduz. Infoblatt der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern. Medizinische Abteilung 16, Heft 2 (2013), S. 14-15 (zusammen mit Erik Wegerhoff) Bibliographische Ergänzungen zur 3. Auf lage der Studienausgabe, in: Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie. Von Vitruv bis zur Gegenwart (1985), München 62013, S. 713-730 Der Renaissancehumanismus und die Idee einer „humanen Architektur“. Florenz als Gründungsort in der Architekturgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Maha El Hissy und Sascha Pöhlmann (Hg.): Gründungsorte der Moderne, München 2014, S. 251-271 „Haltung“ – zu Karriere und Kritik eines Begriffs in der Architektursprache, in: Jahrbuch 2014. Fakultät für Architektur Technische Universität München, München 2014, S. 36-41 Ein Ort der Übergänge. Zur Neugestaltung des Königsplatzes in Augsburg im architekturgeschichtlichen Rückblick, in: Edition Schwaben 8 (2014), Sonderheft Architektur, S. 104-109 Bau- und Wissenschaftskonzeption bei den Universitätsneugründungen der Nachkriegszeit, in: Mark Häberlein u.a. (Hg.): Geschichte(n) des Wissens. Festschrift für Wolfgang E.J. Weber zum 65. Geburtstag, Augsburg 2015, S. 773-795 Konstruktivismus in Architektur, Politik und Wissenschaft, in: Richard HoppeSailer und Cornelia Jöchner (Hg.): Die Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, Berlin 2015, S. 47-58 Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism, in: Ausst. Kat. „Kunstgeschichten 1915. 100 Jahre Heinrich Wölff lin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“, hg. von Matteo Burioni, Burcu Dogramaci und Ulrich Pfisterer, Passau 2015, S. 381-384

Veröffentlichungen Dietrich Erben

Demonstrative Architektur. Ladenpassage, Warenhaus und Konsumkultur, in: Ausst. Kat. „World of Malls. Architekturen des Konsums“, hg. von Vera Simone Bader und Andres Lepik, Berlin 2016, S. 24-35 (engl. Ausgabe S. 24-34) Eine Konvention von Häusern / A convention of houses, in: Dietrich Fink (Hg.): Paris. Häuser der Stadt 1900-1935, Berlin 2017, S. 11-31 Porous - Notes on the Architectural History of the Term, in: Sophie Wolfrum (Hg.): Porous City. From Metaphor to Urban Agenda, Basel 2018, S. 26-31 Architekturutopien im Zuge der Oktoberrevolution. Von der Nicht-Utopie des Sozialismus zur Post-Utopie des Neoliberalismus, in: Ulrich Bahrke u.a. (Hg.): Utopisches Denken – Destruktivität – Demokratiefähigkeit. 100 Jahre „Russische Oktoberrevolution“, Gießen 2018, S. 83-112 Ästhetisierung der Technik im Historismus. Die Neue Polytechnische Schule in München, in: Ausst. Kat. „Königsschlösser und Fabriken. Ludwig II. und die Architektur“, hg. von Andres Lepik und Katrin Bäumler, Basel 2018, S. 146-153 (engl. Ausgabe S. 146-153) Das Medium des Buches und die Institution der Textgattung in der Architekturtheorie, in: Dietrich Erben (Hg.): Das Buch als Entwurf. Textgattungen in der Geschichte der Architekturtheorie. Ein Handbuch, Paderborn 2019, S. 10-29 Der Vitruvkommentar. Claude Perrault: Lex dix livres d‘architecture de Vitruve, 1673, in: Dietrich Erben (Hg.): Das Buch als Entwurf. Textgattungen in der Geschichte der Architekturtheorie. Ein Handbuch, Paderborn 2019, S. 158-183 Erinnerung und erfundene Geschichte. Charles W. Moore in Italien, in: Kai Kappel und Erik Wegerhoff (Hg.): Blickwendungen. Architektenreisen nach Italien in Moderne und Gegenwart, München, 2019, S. 283-302 Vorwort: Theorie im Architekturentwurf, in: Dietrich Erben (Hg.): Theorie im Architekturentwurf. Ausgewählte Masterprojekte an der Technischen Universität München 2019, S. 9-14 Das Ornament tritt zum Rapport an. Neuere Monographien zur Architekturornamentik in Moderne und Gegenwart, in: Kunstchronik 72 (2019), S. 326-339 Ein Haus kommt selten allein. Zur Phänomenologie des Hyperbildes in der Platzarchitektur, in: Stephanie Hanke und Brigitte Sölch (Hg.): Projektionen. Der Platz als Bildthema (Kunsthistorisches Institut in Florenz. I Mandorli 28), Berlin 2019, S. 39-52 Architecture, in: B. Ann Tlusty u.a. (Hg.): A Companion to Late Medieval and Early Modern Augsburg, Leiden/Boston 2020, S. 526-552

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Infrastruktur, Architektur und politische Kommunikation – eine Skizze, in: arch+ 239 (2020): Themenheft „Europa – Infrastrukturen der Externalisierung“, S. 70-79 Sand, Spuren, Architektur – Zur gebauten Ökologie des Strandes, in: Carina Breidenbach u.a. (Hg.): Narrating and Constructing the Beach. An Interdisciplinary Approach, Berlin/Boston 2020, S. 229-250 Zur Architekturikonologie des Eiffelturms: Das Kolossale, das Gestell und der Chronotopos, in: In situ. Zeitschrift für Architekturgeschichte 12 (2020), S. 253268 Zukunftsstädte des Winterurlaubs, in: Sebastian Schels und Olaf Unverzart, ÉTÉ. Sommer, Summer, Estate. Mit einem Essay von Dietrich Erben, Dortmund 2020, S. 176-183 Architekturgeschichte als Differenzgeschichte – eine Selbstref lexion in: Kunstchronik 74 (2021), S. 414-419 Plätze des Liberalismus. Camillo Sittes ‚Städtebau‘ aus der Perspektive der Geschichte politischer Ideen, in: In situ. Zeitschrift für Architekturgeschichte 14 (2022), S. 83-98 Der Münchner Olympiapark als „offene Form“, in: Ausst. Kat. „Die Olympiastadt München“, hg. von Irene Meissner, München 2022, Sp. 178-187 Zwischen politischer Expansion und ästhetischer Integration – zur Theorie der Brücke, in: Marita Liebermann und Barbara Kuhn (Hg.): Ponti. Esplorazioni interdisciplinari di un termine polivalente / Brücken. Interdiziplinäre Erkundungen eines polyvalenten Begriffs, Venedig 2023, S. 13-41 Architekturforschung am Zentralinstitut für Kunstgeschichte. Methodische und wissenschaftssoziologische Beobachtungen, in: Wolfgang Augustyn, Iris Lauterbach und Ulrich Pfisterer (Hg.): ZI 75. Das Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München; Band 62), München 2022, Seite 312-340 Die Veranda als kolonialer Ort. Jesko von Puttkamers Regierungspalast in Buéa/ Kamerun (1904), in: Ausst. Kat. „Deutsch-koloniale Baukulturen. Eine globale Architekturgeschichte in 100 visuellen Primärquellen“, hg. von Michael Falser, Berlin 2023 Bild, Bau, Stadt, in: Stephen Bates und Bruno Krucker (Hg.): From the Room to the City. München. Eine Europäische Stadt, Zürich 2023 Kommunikations- und Normenkonf likte in der Renaissancearchitektur – eine methodische Skizze, in: kritische berichte, Themenheft: Architektur und Konf likt (2023)

Veröffentlichungen Dietrich Erben

Lexikon- und Handbuchartikel: In: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. v. Friedrich Jäger, 15 Bde., Stuttgart 2005-2012. Artikel: „Architekturtheorie“, Bd. 1, 2005, Sp. 587-614; „Denkmal“, Bd. 2, 2006, Sp. 914-917; „Mausoleum“, Bd. 8, 2008, Sp. 168-170; „Mäzen“, Bd. 8, 2008, Sp. 181-184; „Säulenordnung“, Bd. 11, 2010, Sp. 621-626; „Standbild“, Bd. 12, 2010, Sp. 860-865; „Triumphbogen“, Bd. 13, 2011, Sp. 786-791; „Vitruvianismus“, Bd. 14, 2011, Sp. 350357 In: Enzyklopädie zum gestalteten Raum im Spannungsfeld zwischen Stadt und Landschaft, hg. von Vittorio Magnago Lampugnani u.a., Zürich 2014, Stichwort: „Brunnen“, S. 98-109 In: Der Neue Pauly. Supplemente 9. Renaissance – Humanismus. Lexikon zur Antikerezeption, hg. von Manfred Landfester, Stuttgart 2014 Stichworte: „Architektur“, Sp. 41-54; „Architekturtheorie“, Sp. 54-59; „Bauornament“, Sp. 107-116; „Brückenbau“, Sp. 187-192; „Entdeckung/Wiedergewinnung: Antike Architektur“, Sp. 295-303; „Kirchenbau“, Sp. 473-484; „Obelisk“, Sp. 703709; „Palastbau“, Sp. 712-719; „Städtebau“, Sp. 931-943; „Theaterbau“, Sp. 961-968 In: Der Neue Pauly. Supplemente 13. Das 18. Jahrhundert. Lexikon zur Antikerezeption in Auf klärung und Klassizismus, hg. von Joachim Jacob und Johannes Süßmann, Stuttgart 2018 Stichwort: „Architekturtheorie“, Sp. 56-66

IV. Musikikonographie und Musikgeschichte Monographie: Komponistenporträts. Von der Renaissance bis zur Gegenwart, Stuttgart 2008

Aufsätze: Das Porträt Anton Bruckners von Emil Orlik, in: Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.): Bruckner-Handbuch, Stuttgart 2010, S. 6-11 Richard Wagner im Porträt, in: Laurenz Lütteken (Hg.): Wagner Handbuch, Kassel 2012, S. 69-77 „wo ich gerade bin, nach meinem plane aus bretern ein theater errichten lassen.“ Architekturtheoretische Annäherungen an Richard Wagners Idee des Festspielhauses, in: wagner spectrum. Schwerpunkt Wagner und die bildende Kunst 10, Heft 2 (2014), S. 33-61

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Musik & Bild. Thomas Eakins: „Hiawatha“, in: Programmheft des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Saison 2014/15, Heft 13.11.2014, S. 12-13 Musik & Bild. Edward Hopper: „Nigththawks“, in: Programmheft des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Saison 2014/15, Heft 5./6.6.2015, S. 10-11 Enoch Arden und die Bilder von der viktorianischen Familienmoral, in: Programmheft LIFE MUSIC NOW 24. April 2016, S. 7-10 Rom um 1700. Kunst, Geschichte und Händels Zeitgenossenschaft, in: Göttinger Händel-Beiträge 18, Göttingen 2017, S. 7-32 Repertoire und Aufführung in der Malerei und Musik des 18. Jahrhunderts, in: Elisabeth Oy-Marra u.a. (Hg.): Intermedialität von Bild und Musik, Paderborn 2018, S. 168-186 Musikerporträts, in: Bernhard Jahn (Hg.): Die Musik in der Kultur des Barock (Handbuch der Musik des Barock 7), Laaber 2019, S. 209-222 Die Zürcher Tonhalle. Eine architekturgeschichtliche Szene, in: Inga Mai Groote u.a. (Hg.): Tonhalle Zürich 1895 - 2021, Kassel 2021, S. 41-56 (engl. Üs., S. 57-63) „als Andenken seines hohen Vorfahren zu erhalten“. Zur Architektur der Berliner Hofoper im 19. Jahrhundert, in: Detlef Giese, Christian Schaper und Arne Stollberg (Hg.): Von Spontini bis Strauss. Hof kapelle und Hofoper Berlin im langen 19. Jahrhundert (Klangfiguren. Studien zur historischen Musikwissenschaft 7), Würzburg 2022, S. 39-62 Der Konzerthausbau als Erlebnisraum – die Sicht der Architekturphänomenologie, in: Inga Mai Groote und Laurenz Lütteken (Hg.), Resonanzräume. Fellner & Helmer und der Konzertsaalbau um 1900, Kassel 2024

Lexikonartikel: „Konzertsaal / Konzerthaus“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG Online), hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel/Stuttgart/New York 2016ff., veröffentlicht 2018-10-05, www.mgg-online.com/mgg/stable/47021

V. Kunstgeschichte und Gesellschaftsgeschichte Monographien: Das kritische Bild. Eine Gesellschaftsgeschichte der Kunst vor der Moderne (in Vorbereitung) (Hg.): Die Welt der Kunst. Ein Lesebuch von der Spätantike bis zur Postmoderne, München 1996, Vorwort S. 11-15

Veröffentlichungen Dietrich Erben

(Hg.): Die Präsenz des Vergangenen ist Teil der Gegenwart. Zur Würdigung von Norbert Huse, München 2015 (Hg. zusammen mit Tobias Zervosen): Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Berufsautobiographien und Professionsgeschichte, Bielefeld 2018

Aufsätze: Die Malerei in Schwaben und die Münchner Kunstakademie, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 24 (1990), S. 262-284 Andachtsgraphik im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 24 (1990), S. 285-291 Bearbeitung der Kat.-Nr. 3, 11-12, in: Ausst.-Kat. „Nazarener in Schwaben“, Augsburg 1990 Kinder und Putten. Zur Darstellung der ‚infantia‘ in der Frührenaissance, in: Klaus Bergdolt u.a. (Hg.): Das Kind in der Renaissance (Akten des Arbeitsgesprächs des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung), Wiesbaden 2008, S. 299-324 Hass auf Kunst, in: Horst-Jürgen Gerigk und Helmut Koopmann (Hg.): Hass. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten, Frankfurt 2013, S. 137-152 Der Doktorvater Andreas Tönnesmann, in: Villa Garbald 2004-2015, o.O., o.J. (Zürich 2015), S. 7-13 Huse lesen. Erfahrungen bei der Lektüre seiner Schriften, in: Dietrich Erben (Hg.): Die Präsenz des Vergangenen ist Teil der Gegenwart. Zur Würdigung von Norbert Huse, München 2015, S. 57-68 (mit Tobias Zervosen): Berufsautobiographien und Professionsgeschichte. Zur Einführung, in: Dietrich Erben und Tobias Zervosen (Hg.): Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Berufsautobiographien und Professionsgeschichte, Bielefeld 2018, S. 11-19 Erfahrung als Argument in Berufsautobiographien. Der Kunsthistoriker Michael Baxandall und der Architekt Louis Sullivan, in: Dietrich Erben und Tobias Zervosen (Hg.): Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Berufsautobiographien und Professionsgeschichte, Bielefeld 2018, S. 23-38

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VI. Rezensionen Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, in: Neue Zürcher Zeitung 31.5./1.6.1997, Nr. 123, S. 66 Evelyn S. Welch: Art and Authority in Renaissance Milan, New Haven/London 1995, in: Kunstchronik 50 (1997), S. 528-532 Peter Prange: Salomon Kleiner und die Kunst des Architekturprospekts (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen. Schriftenreihe des Historischen Vereins für Schwaben 17), Augsburg 1997, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 90 (1997), S. 479-481 Katharina Krause: Die Maison de Plaisance. Landhäuser in der Ile-de-France (1660-1730) (Kunstwissenschaftliche Studien 68), München/Berlin 1996, in: Kunstchronik 51 (1998), S. 176-180 Stefan Germer: Kunst-Macht-Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV., München 1997, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 25/2 (1998), S. 263-266 Gabriele Bickendorf: Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert (Berliner Schriften zur Kunst 11), Berlin 1998, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), S. 435-439 Sammelrezension: Horst Bredekamp: Thomas Hobbes‘ visuelle Strategien. Der Leviathan: Das Urbild des modernen Staates. Werkillustrationen und Portraits (Acta humaniora. Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie), Berlin 1999; Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, in: Kunstchronik 54 (2001), S. 266-271 Daniel Büchel und Volker Reinhardt (Hg.): Die Kreise der Nepoten. Neue Forschungen zu alten und neuen Eliten Roms in der frühen Neuzeit. (Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit 5), Bern 2001, in: Journal für Kunstgeschichte 6 (2002), S. 246-248 Maria Georgopoulou: Venice’s Mediterranean Colonies. Architecture and Urbanism, Cambridge 2001, in: Kunstchronik 55 (2002), S. 557-560 Thomas Kirchner: Der epische Held. Historienmalerei und Kunstpolitik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, München 2001, in: Kunstchronik 56 (2003), S. 138-142 Michael Petzet: Claude Perrault und die Architektur des Sonnenkönigs. Der Louvre König Ludwigs XIV. und das Werk Claude Perraults, München/Berlin 2000, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 66 (2003), S. 289-293

Veröffentlichungen Dietrich Erben

Arturo Calzona u.a. (Hg.): Il principe architetto. Atti del Convegno internazionale Mantova, 21-23 ottobre 1999 (Centro Studi Leon Battista Alberti. Ingenium N. 4), Florenz 2001, in: Journal für Kunstgeschichte 7 (2003), S. 27-31 Kilian Heck: Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit (Kunstwissenschaftliche Studien 98), Berlin/München 2002, in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 28 (2004), S. 43-46 Martin Gaier: Facciate sacre a scopo profano. Venezia e la politica dei monumenti dal Quattrocento al Settecento (Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti. Studi di arte veneta 3), Venedig 2002, in: Journal für Kunstgeschichte 8 (2004), S. 174-178 Der Krieg im Bild – Bilder vom Krieg. Hg. vom Arbeitskreis Historische Bildforschung (Hamburger Beiträge zur Historischen Bildforschung), Frankfurt/M. u.a. 2003, in: sehepunkte 4 (Nr. 10, 2004, online) Arne Karsten: Künstler und Kardinäle. Vom Mäzenatentum römischer Kardinäle im 17. Jahrhundert, Köln u.a. 2003, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2006), S. 689-690 Stefan Schweizer: Zwischen Repräsentation und Funktion. Die Stadttore der Renaissance in Italien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 184), Göttingen 2002, in: Journal für Kunstgeschichte 10 (2006), S. 135-138 Uta Barbara Ullrich: Der Kaiser im „giardino dell’Impero“. Zur Rezeption Karls V. in italienischen Bildprogrammen des 16. Jahrhunderts (humboldt-schriften zur kunst- und bildgeschichte 3), Berlin 2006, in: arthist Juni 2007 (online) Gary B. Cohen und Franz A.J. Szabo (Hg.): Embodiments of Power. Building Baroque Cities in Europe (Austrian and Habsburg Studies, Bd. 10). New York/Oxford 2008, in: Historische Zeitschrift 289 (2009), S. 775-777 Klaus Herbers und Peter Rückert (Hg.): Augsburger Netzwerke zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wirtschaft, Kultur, Pilgerfahrten (Jakobus-Studien Bd. 18), Tübingen 2009, in: Zeitschrift für historische Forschung 38 (2011), S.475-477 Karoline Czerwenka-Papadopoulos: Typologie des Musikerporträts in Malerei und Graphik. Das Bildnis des Musikers ab der Renaissance bis zum Klassizismus. 2 Bde. mit CD-Rom (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften 355), Wien 2007, in: Imago Musicae 23 (2006-10), S. 179-183 Michael Hutter: Ernste Spiele. Geschichten vom Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus, München 2015, in: Historische Zeitschrift 305 (2017), S. 754-756

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Humanität und gebaute Umwelt

Eva Haberstock: Der Augsburger Stadtwerkmeister Elias Holl (1573-1646). Werkverzeichnis (Beiträge zur Geschichte der Stadt Augsburg, Bd. 7), Petersberg 2016, in: Historische Zeitschrift 307 (2018), S. 828-830 Christine Beese: Marcello Piacentini. Moderner Städtebau in Italien. Berlin/Hamburg 2016, in: Historische Zeitschrift 307 (2018), S. 879-881 Jasmin Mersmann: Lodovico Cigoli. Formen der Wahrheit um 1600, Berlin/Boston 2017, in: Historische Zeitschrift 310 (2020), S. 294-296 Robin Schuldenfrei: Luxury and Modernism. Architecture and the Object in Germany 1900-1933, Oxford 2018, in: sehepunkte / Kunstform 21, Nr. 7 (2020 online) Bernd Ulrich, Christian Fuhrmeister, Manfred Hettling, Wolfgang Kruse, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Entwicklungslinien und Probleme. Unter Mitarbeit von Jakob Böttcher, Sofie Eikenkötter, Claudia Scheel und Justus Vesting, Berlin 2019, in: Historische Zeitschrift 312 (2021), S. 254-257 Wolfgang Pehnt: Städtebau des Erinnerns. Mythen und Zitate westlicher Städte, Ostfildern 2021, in: sehepunkte / Kunstform 22, Nr. 1 (2022 online) Annette Kranen: Historische Topographien. Bilder europäischer Reisender im Osmanischen Reich um 1700 (Berliner Schriften zur Kunst.), Paderborn 2020, in: Historische Zeitschrift 314 (2022), S. 497-499 Peter Geimer: Die Farben der Vergangenheit. Wie Geschichte zu Bildern wird, München 2022, in: Historische Zeitschrift 315 (2022), S. 693-695 Bodo Plachta und Achim Bednorz; Komponistenhäuser. Wohn- und Arbeitsräume berühmter Musiker aus fünf Jahrhunderten, Stuttgart 2018, in: verdiperspektiven 5 (2023), S. 222-226

Architektur und Design Pierre Smolarski

Designrhetorik Zur Theorie wirkungsvollen Designs 2022, 416 S., kart., 134 SW-Abbildungen, durchgängig zweifarbig 29,00 € (DE), 978-3-8376-5933-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5933-1

Bianca Herlo, Daniel Irrgang, Gesche Joost, Andreas Unteidig (eds.)

Practicing Sovereignty Digital Involvement in Times of Crises 2022, 430 p., pb., col. ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5760-9 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5760-3

Christoph Rodatz, Pierre Smolarski (Hg.)

Wie können wir den Schaden maximieren? Gestaltung trotz Komplexität. Beiträge zu einem Public Interest Design 2021, 234 S., kart. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5784-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5784-9

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Architektur und Design Tim Kammasch (Hg.)

Betrachtungen der Architektur Versuche in Ekphrasis 2020, 326 S., kart., 63 SW-Abbildungen 30,00 € (DE), 978-3-8376-4994-9 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4994-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur und Kritik (Jg. 11, 2/2022) 2022, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-5897-2 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-5897-6

Christophe Barlieb, Lidia Gasperoni (Hg.)

Media Agency – Neue Ansätze zur Medialität in der Architektur 2020, 224 S., Klappbroschur, 67 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4874-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4874-8

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