Hinterlassene Fragmente und Gesammelte Abhandlungen: Teil 2, Hälfte 1 Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts [Reprint 2019 ed.] 9783111446325, 9783111079578

195 43 27MB

German Pages 428 [436] Year 1899

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Hinterlassene Fragmente und Gesammelte Abhandlungen: Teil 2, Hälfte 1 Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts [Reprint 2019 ed.]
 9783111446325, 9783111079578

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Über vergeltende Gerechtigkeit
2. Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes über Verbrechen und Vergehen
3. Zur Reform der Strafgesetze
4. Über die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller
5. Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches für Norddeutschland
6. Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betreffend die Schöffengerichte
7. Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen
8. Einige Bedenken gegen das Strafensystem des deutschen Strafgesetzbuches
9. Über Akkreßenz und Dekreßenz des Strafrechte- und deren Bedingungen
10. Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur „positiven" Rechtswiffenschast und zum allgemeinen Teil derselben
11. Besprechung von Dr. H. Jaques, „Abhandlungen zur Reform der Gesetzgebung". I. Preßgesetzgebung
12. Rechtsgutachten erstattet zum Prozeß des Grafen H. v. Arnim
13. Besprechung des „Lehrbuches des deutschen Strafrechts" von Hugo Meyer
14. Rechtsnorm und subjektives Recht mit Beziehung auf das gleichnamige Werk von A. Thon
15. Recht und Macht

Citation preview

Hinterlassene Fragmente und

Gesammelte Äbhandlnngen von

Adolf Merkel.

n.

Hinterlassene Fragmente

Gesammelte Abl)nnMiingrn Adolf Merkel.

Zweiter Teil, erste Hälfte.

Ltraßbvrg. Verlag von Karl I. Trübner. 1899.

Gesammelte Abhandlungen aus -em Gebiet

der allgemeinen Nechtslehre nnd des Strafrechts. Don

A-olf Merkel, zuletzt Professor des Strafrechts und der Rechtsphilosophie an der Universität Straßburg t. E., t 30. März 1896.

Erste Hälfte.

Atrakburg. Verlag von Karl I. Trübner. 1899.

Vorwort. Die kleineren Arbeiten meines Vaters sind gegenwärtig in den verschiedensten Zeitschriften und Sammelwerken zerstreut und teilweise schwer zugänglich.

Ihre Zusammenfassung dürste daher gerechtfertigt

und willkommen sein. Eingefügt sind gutachtliche

einige noch nicht veröffentlichte

Äußerungen

zu

den

Strafgesetzentwürfen

Vorträge und verschiedener

Staaten. Alle diese Arbeiten erscheinen hier in chronologischer Reihenfolge. Eine Übersicht über die gesamte litterarische Thätigkeit Adolf Merkels soll ein am Schluffe des zweiten Bandes befindliches Ver­ zeichnis geben. Freiburg i. Br., im Mai 1899.

Prof.

Rudolf Merkel.

Inhaltsverzeichnis. Seite

1. Über vergeltende Gerechtigkeit..............................................................................

1

2. Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes über Verbrechen und Vergehen................................................................................... 15 3. Zur Reform der Strafgesetze................................................................................. 130 4. Über die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller........................................................148 5. Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches für Norddeutschland 162 6. Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betreffend die Schöffengerichte . 214 7. Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen.........................236 8. Einige Bedenken gegen das Strascnsystem des deutschen Strafgesetzbuches 247 9. Über Akkreszenz und Dekreszenz des Strafrechte- und deren Bedingungen 269 10. Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur „positiven" Rechtswiffenschast und zum allgemeinen Teil derselben..................................................291 11. Besprechung von Dr. H. Jaques, „Abhandlungen zur Reform der Gesetz­ gebung". I. Pretzgesetzgebung............................................................................324 12. Rechtsgutachten erstattet zum Prozeß des Grafen H. v. Arnim .... 331 13. Besprechung des „Lehrbuches des deutschen Strafrechts" von Hugo Meyer 361 14. Rechtsnorm und subjektives Recht mit Beziehung auf das gleichnamige Werk von A. Thon............................................................................................373 15. Recht und Macht.....................

400

Über vergeltende Gerechtigkeit. (Anhang -u den „Kriminalistischen Abhandlungen." I.*1).II.

Die Erörterungen, welche folgen sollen, suchen ihre Ergänzung in einer ausgeführten Strafrechtstheorie. Die Entwicklung und kritische Begründung einer solchen will aber einem anderen Zusammenhange vorbehalten werden. Statt dessen mag da- Folgende hier eine Stelle finden als eine Art von Programm, das eine vorläufige Orientirung über die Ausgangspunkte der vorgetragenen Theorien im Systeme des Verfassers geben soll. Es will darin insbesondere auf eine nicht bloß äußerliche Vermittlung zwischen relativen und absoluten Strafrechts­ theorien hingewiesen sein, was die leichte mehr auf Anregung als auf Begründung angelegte Form des öffentlichen Vortrags nicht übersehen lassen mag. Es ist die vergeltende Gerechtigkeit, auf welche ich heute Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. Und zwar soll die Frage nach dem Wesen und der Berwirklichungsweise dieser Gerechtigkeit zunächst allge­ meiner gestellt werden, ehe wir in das Gebiet der staatlichen Straf­ gerechtigkeit eintreten, um diejenige Vergeltung, welche sich durch unsere Gerichte vollzieht, einer spezielleren Betrachtung zu unterwerfen. (1) Es ist nicht ohne Scheu, daß ich an jenes allgemeinere Problem, welches dem Juristen als solchem wenig nahe zu liegen scheint, herantrete, und nicht ohne das Gefühl, einer besonderen Recht­ fertigung für dessen Behandlung zu bedürfen. ') Kriminalistische Abhandlungen 1867. I. a) „Zur Lehre von den Grundeinteilungen deS Unrechts und seiner Rechts­ folgen." b) „Bon den Unterlafsungsverbrechen, beziehungsweise dem negativen Un­ rechte, und chrem Gegensatze, und von dem Verhältnis der ersteren zu den Polizeivergehen." II. Die Lehre vom ftrasbaren Betrüge.

2

Über vergeltende Gerechtigkeit.

Aber vielleicht ist eine solche in der Stimmung gegeben, aus der heraus ich zu Ihnen rede, in der Stimmung, welche das eben vollendete Jahr mit dem bedeutsamen Schauspiel, das sich in ihm aufrollte, in uns Allen hinterlassen mußte ! Ich denke an den plötzlichen Untergang staatlicher Ordnungen, die noch eben auf festem Fundamente zu ruhen und lebenskräftig einer unbegrenzten Zukunft entgegenzusehen schienen, an den jähen Wechsel von Glück und Unglück, der sich in hunderterlei Formen mit ihm verband, und an die Erschütterungen, welchen der künstliche Bau der europäischen Rechtsordnung fortwährend und in einer Weise ausgesetzt ist, welche das Ganze ins Wanken zu bringen drohen, und lassen.

welche eine tragische Stimmung nicht in uns verklingen

Eine solche Zeit lenkt den Blick

naturgemäß über die sich

widerstreitenden alten und neuen Ordnungen, über das Recht, das in der Zeit entsteht und untergeht, hinaus auf diejenigen Gesetze hin, aus welchen die menschlichen ihre ephemere Kraft ableiten, und auf diejenige Gerechtigkeit, welche in

dem tragischen Geschicke der Einzelnen und

der Völker nicht ihren Untergang findet, sondern ihre Bestätigung. Es sind zwei psychologische Thatsachen, Ausgang nehmen

möchte,

Thatsachen,

von welchen ich meinen

denen

ein Jeder im eigenen

Bewußtsein begegnet, und an welche als an keines Beweises bedürftige hier nur erinnert werden mag. Das Eine ist das in unserer sittlichen Natur begründete Inter­ esse an

einer

Ausgleichung

von

Verdienst

und

Schicksal,

der nicht wegzuleugnende und nicht ersterbende Wunsch, daß einem Jeden am

Ende Lohn und Leid nach seinen Eigenschaften und dem

Charakter seiner Wirksamkeit zuteil werden möge.

Mit ihm treten

wir an das Leben der Einzelnen wie an das der Nationen heran, bemüht, einen inneren Zusammenhang zu entdecken zwischen den Ge­ schicken, von denen wir erfahren, und dem Charakter und der Wirk­ samkeit desjenigen, welchen sie betreffen.

Es ist eine eigentümliche

Befriedigung, die uns die Entdeckung eines solchen Verhältnisses ge­ währt, ein eigentümlicher Schmerz, wenn wir nach einem solchen inneren Zusammenhange vergeblich suchen:

wenn

ein ftevelhaftes Leben im

Scheine des Glücks bleibt bis ans Ende, oder wenn im Streite die zweifellos bessere Sache unterliegt und ihre Träger an ihren Tugenden zu

Grunde gehen.

Wenn aber ein großer Mann,

der ein langes

Leben hindurch das Martyrium getragen hat, das menschlicher Größe und Eigenartigkeit so häufig beschieden ist,

am

Ende noch die Zeit

3

Über vergeltende Gerechtigkeit.

einer neidlosen Anerkennung seines Wirkens mit den reifendm Früchten desselben kommen sieht, wenn die Morgenröte des Tags seines un­ sterblichen Daseins im Bewußtsein der Besten ihm dm Lebmsabmd mit einem versöhnenden Lichte übergießt, so ist uns, als wäre es der Triumph unserer eigmstm Sache, die Erfüllung einer Forderung, an deren Realität aller Wert des Lebens geknüpft sei. Und in der That, wer da die Überzeugung gewänne, daß jme Forderung eine schlechthin eitle und nichtige, daß ein Zusammentreffen von Frevel und Strafe, Verdienst und Glück überall nichts sei als das zufällige Zusammmfallm zweier Steine im Kaleidoskop der Welt, der müßte mit dem sterbenden Brutus übereinstimmen, der da ver­ zweifelnd ausrief: „O Tugend, ich glaubte, daß du Etwas seist, aber ich sehe, daß du ein Traum bist." Aber die Menschheit verzweifelt nicht. Wie jenes Interesse, so lebt in ihr unvertilgbar der Glaube an einen in irgend einer Weise bestehenden, in seiner Verwirklichung nicht auf den blinden Zufall gestellten, objektiven Zusammenhang von Schicksal und Verdienst. Dieser Glaube steht überall im innigsten Zusammenhange mit dem Ganzen der sittlichen und religiösen An­ schauungen eines Volkes, ja erscheint in gewissem Sinne als deren eigentlicher Kem. Nähmen wir ihn weg, so würde das ganze System ihrer metaphysischen Anschauungen in sich zusammmstürzen. „Nicht Zeus, nicht Einer der Olynipischen lebt", so ruft der Tiefste der griechischen Dichter, „wenn die Verbrechen und Frevel ohne Strafe bleiben." Diese beiden Thatsachen nun, jener Wunsch und diese Überzeugung, scheinen sich zu widerstreiten. Jene Sehnsucht nach Gerechtigkeit und die besondere Genugthuung, welche uns der einzelne Fall ihrer Ver­ wirklichung gewährt, scheinen darauf hinzudeuten, daß diese letztere im Allgemeinen eine objektiv ungewisse, also keineswegs eine gesetzmäßige sei, während die letztbesprochene Überzeugung doch gerade auf eine gesetzmäßige Realisirung der Gerechtigkeit gerichtet scheint. In der Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs ist eines der Probleme gegeben, welche unter irgend welchen Formen das menschliche Nachdenken stets beschäftigen und dabei immer Probleme bleiben werden. Auch wir wollen uns indes, in selbstverständlicher Beschränkung auf diejenigen Mittel, welche unser Erfahrungskreis dafür an die Hand gibt, mit ihm zurechtzufinden suchen. !•

4

Über vergeltende Gerechtigkeit.

Ich will nämlich ein Gesetz bezeichnen, welches nach den ver­ schiedenen Beziehungen, welche wir ihm geben können, eine Erklärung zugleich für die in Frage stehende Überzeugung und für den auf ein Ungewisfes gerichteten Wunfch zu bieten scheint. Der Satz, daß eine jede Erscheinung auf eine bestimmte Ursache hinweise, in welcher sie ihre Erklärung findet, gilt nicht nur für die äußere, sondern auch für die innere Seite der Er­ scheinung, gilt, was dasselbe sagen will, für die Wirkungen unserer Thätigkeit und deren Qualifikation in der geistigen Sphäre, wie für die in der körperlichen. Wir schließen daher aus be­ stimmten Erfolgen menschlicher Wirksamkeit nicht nur aus gewisse äußere Bedingungen ihres Eintritts, sondern auch auf gewisse, im Bewußtsein des Handelnden liegende; wir schließen aus der Beschaffen­ heit der geistigen Früchte einer That auf die Beschaffenheit ihrer Keime und auf die des Bodens, in welchem dieselben zur Reife kamen. Umgekehrt werden wir von einer bestimmten Triebfeder eine ent­ sprechende Wirksamkeit erwarten, können wir von dem produzirenden Geiste sagen, daß er sich in seinen Produkten nicht verleugnen, daß er nichts hervorbringen werde, was nicht sein eigenes Gepräge zeigt, was ihm nicht innerlich adäquat ist. Darin liegt, daß wir in den unverfälschten Resultaten unserer eigenen freien Wirksamkeit uns selbst begegnen, und daß wir uns über dieselben, mögen sie Glück oder Unglück für uns bedmten, nicht be­ klagen dürfen. Denn die freie That trägt den Geist, der sie geboren, mit hinaus in die Welt, und auf welchen Wegen sie auch ihre Wirkungen zu ihrem Urheber zurücksenden möge, er wird in denselben die Boten des eigenen Geistes wiedererkennen müssen, und sie werden ihn mit dem Maße messen, das er selbst in ihnen aufgestellt hat. Verfolgen wir den Weg, den die menschliche That in ihrer Ent­ wicklung zurücklegt, so finden wir, daß sie in der Seele des Thäters von Anfang an wie von ihrem Schatten von einer eigentümlichen Empfindung begleitet ist, in welcher sich ihr wesenllicher Charakter und sozusagen ihr spezifischer Wert, sowie ihr Verhältnis zu den übrigen Faktoren unseres Geisteslebens, deren Widerspruch oder Übereinstimmung mit ihr, anzeigen. Das ist das Erste, worin sie ihrem Urheber die eigenen Qualitäten zu kosten gibt. Analog wird sich draußen, je entschiedener ihr eigenes Gepräge ist und je mehr sie sich in ihren Wirkungen ausbreitet, um so sicherer, und je mehr sie eine beharrende

Über vergeltende Gerechtigkeit.

5

ist, um so klarer ihr Verhältnis zu den moralischen und antimoralischen Faktoren feststellen. Sie wird verwandte Kräfte zu entsprechender Wirkung und Gegenwirkung erregen und so in ihren Resultaten, je mächtiger sich dieselben entwickeln, um so deutlicher die eigene innere Natur entfalten. So wird das Wohlwollen in seinen Äußerungen ftemdes Wohlwollen in Bewegung setzen und dem Wohlwollenden zuwenden. Der Haß wird die entsprechendm Triebfedern erregen, und es werden die Äußerungen der letzteren dasselbe Verhältnis zu dem Wohle desjenigen haben, der sie in Bewegung setzte, welches seine eigene Thätigkeit ihrer inneren Natur nach zu dem Wohle Aller hatte. Denn das Urteil, das hier provozirt wird, tritt nicht als ein theore­ tisches, sondern als ein wesentlich praktisches auf, das für denjenigen, welchen es trifft, Leid oder Freud, Glück oder Unglück bedeutet. Denken wir uns nun das Ganze der irdischen Existenzen als ein in irgend einer Weise dem Lebmsgrunde nach Geeintes und beziehen wir die Leiden der Welt auf dieses große Lebendige, so wird uns die Gerechtigkeit überall als eine verwirklichte, nicht als eine erst zu er­ sehnende oder zu erstrebende erscheinen; so gewiß als alle Zustände desselben sich darstellen als Objektivationen seines eigenen Wesens, die in ihrer eudämonistischen Bedeutung ihre Erklärung finden in den inneren Qualitäten ihres Urhebers. Auch die Menschheit im Großen ist nicht in der Lage, sich über ihre Schicksale zu bellagen. Denn sie lebt überall in den Produkten ihrer eigenen Lebensthätigkeit. Und wo immer sie aussäet, da reist ihr selbst die Ernte. Denn sie harrt aus und ist immer da und bereit, zu genießen und zu leiden, wenn der Tag der Vergeltung ge­ kommen ist. Im Zwist der Einzelnen und der Völker entfaltet sich der Zwiespalt ihrer eigenen Natur und in den Geschicken, welche den Untergang der Einen, den Triumph der Anderen einschließen, erfährt sie zugleich den Lohn ihrer Tugenden und ihrer Sünden. Sie hält in der Geschichte ihr eigenes Gericht, in welchem sie zugleich als Richter und Vollstrecker des Urteils und als Derjenige erscheint, an dein das Urteil vollzogen wird.') l) Daß die Auffassung der menschlichen Gattung alö eines einheitlichen idealen Subjektes und die Beziehung menschlicher Zustände auf dies Subjekt auch für die allgemeine Rechtslehre ihre Bedeutung habe, daS würde bet einer Darlegung der letzten Ausgangspunkte des öffentlichen Rechtes deutlich zu machen seht. Bekanntlich ist der Stteit über daS Verhältnis deS Einzelnen zum Ganzen (besser, des Jndi-

6

Uber vergeltende Gerechtigkeit.

Je höher wir aber auf der Stufenleiter der Jndividualisirung des Lebens zu begrenzteren Existenzen aufsteigen, um mit ihnen die Geschicke zu vergleichen, von denen sie betroffen werden, in um so geringerem Umfange wird uns die Gerechtigkeit als eine sich mit Sicherheit erfiillende erscheinen, weil das Leben des Einzelnen in tausend Fällen zu Ende geht, ehe ein seiner Wirksamkeit entsprechendes Resultat sich hervorarbeitet, umsomehr werden sich uns Übel aller Art vor Augen stellen, welche ihre Erklärung nicht in den besonderen Qualitäten des Leidenden und dem Charakter der eigenen Wirksam­ keit deffelben finden. In dieser Beziehung der Geschicke auf das individuelle Leben als solches liegt die Erklärung jener anderen psychologischen Thatsache: des auf gerechte Vergeltung als auf ein in seinem Eintritte Ungewisses gerichteten Wunsches. Aber das besprochene Gesetz behält auch ihr gegenüber seine exklusive Bedeutung. Nur dasjenige den Einzelnen betreffende Geschick, sei es Glück oder Unglück, kann uns jene ethische Genugthuung gewähren, erscheint als die wahrhafte konkrete Erfüllung jenes ethisch begründeten Wunsches, welches einen Zusammenhang mit diesem Gesetze erkennen läßt. Nicht das hat für uns eine ethische Be­ deutung, daß ein Frevler etwa zufällig an einer Erkältung stirbt, oder daß ein Trefflicher durch den Tod eines reichen Onkels zu seiner Tugend ein schönes Besitztum erwirbt; wohl aber hat es für uns eine solche Bedeutung, wenn Beiden ein gerechtes Geschick nach den objek­ tiven Gesetzen des Lebens aus ihrer eigenen Wirksamkeit als bereit natürliche Frucht hervorkeimt. Nicht der Zufall ist der berufene Vermittler jener ersehnten Gerechttgkeit, und ebensowenig individuelle Willkür oder die souveräne Laune irgend eines Mächttgen. Die also vermittelte Gerechttgkeit, das ist die Gerechttgkeit der Märchen und die Gerechttgkeit der Kinder­ moral, bei welchen an Stelle der objekttven Gesetze gütige Feen oder edle Fürsten und Papa und Mama figuriren. Das Leiden eines Menschen, mag dieser ein guter oder schlimmer duums zur Gattung, als deren ephemerer Repräsentant es über die Erde geht) in der philosophischen Rechtslehre noch heute kein ausgetragener. Die im Texte mehr angedeuteten als entwickelten Meinungen enthalten die Ausgangspunkte für eine, wie der Verfasser glaubt, die Gegensätze vermittelnde Bestimmung jenes Verhältnisses.

Über vergeltende Gerechtigkeit.

7

fein, kann an sich nur unser Mitleiden, oder vielleicht auch unsere Schadenfreude, eine nichts weniger als sittliche Empfindung, erregen, eine ethische Befriedigung kann es schlechterdings nur als ein Zeugnis fiir die Realität eines Gesetzes, das für den Wert unseres Lebms überhaupt eine unvergleichliche Bedeutung hat, als ein Hinweis auf eine in irgend einer Art bestehende Übereinstimmung in der allgemeinen Ordnung der Dinge mit den Fordemngen unserer sittlichen Natur, gewähren. Lasten Sie mich hier die (Stimme eines unverwerflichen Zeugen, auf welche Sie Alle gerne hören werden, für mich geltend machen. Die Stimme des poetischm Genius nämlich, der uns ja überall als der berufmste Interpret des Lebens dessen echte Züge zu reinerer Anschauung zu bringen hat. Uns liegt hier insbesondere eine Gattung der Poesie, das Drama» nahe, das uns bedeutsame Handlungen und Geschicke in ihrem Zu­ sammenhange unter einander darzustellen hat und daher das von uns besprochene Problem überall auf seinem Wege findet.') ' Freilich müssen wir, wenn wir uns auf die Gesetze berufen wollen, welche die dramatische Poesie zur Anschauung bringt, die Werke des Genius sorgfältig unterscheiden von den Masseprodukten der Mittelmäßigkeit. Wollten wir diese zum Maßstab nehmen, so würden wir wohl dahin kommen können, als die Aufgabe der Poesie nicht die eben bezeichnete, sondem die, dem wirklichen Leben beliebige indi­ viduelle Hirngespinnste gegenüberzustellen, zu begreifen. In ihnen be­ gegnet uns jene Gerechttgkeit der Kindermoral, die eines deus ex machina bedarf, um zum Vollzug zu kommen, jene Gerechtigkeit, über welche Schiller in seiner Parodie auf die bürgerlichen Schau- und Rührstücke seiner Zeit („Shakspeares Schatten") seinen beißenden Humor ausläßt. Nachdem das Laster in diesen Dramen eine Zeit­ lang regiert hat, muß es, wie billig, der Tugend den Platz einräumen, und geht es nicht willig, so braucht der Poet Gewalt, denn, so meint er. „das Geschick, das ist blind und der Poet ist gerecht." „Der Poet ist der Wirt, Der letzte AktuS die Zeche, Wenn sich das Laster erbricht, Setzt sich die Tugend zu Tisch."

Anders in den Werken des Genies. Auch hier freilich ist wieder ein Unterschied zwischen denen der klassischen und denen der modernen Zeit. *) Bergt, den Bortrag über Schiller, S. 148 ff.

8

Über oergeltenbe Gerechtigkeit.

Halten wir uns hier an die letzteren, in denen ohne Zweifel die tiefere Weltanschauung hervortritt und hier» an die unserer größten Dramatiker, Shakspeare und Schiller. Bei ihnen ist die Ge­ rechtigkeit nie jene äußerliche und zufällige. Sie tarnen keine andere Vergeltung als die nach der objekiven Ordnung des Lebens sich gesetz­ mäßig vollziehende. In mannigfachster Weife bringen sie es uns zur Anschauung, wie aus verbrecherischen Thaten für den Verbrecher die Konsequenz des eigenen Verderbens sich entwickelt, wie eine „jede Unthat ihren eigenen Racheengel unterm Herzen" trägt (Wallenstein), wie die sittlichen Faktoren der eigenen Natur des Übelthäters in ver­ räterischer Verbindung mit den verletzten Jnteresim der Außenwelt die Nemesis herbeiführen, wie selbst die außermenschliche Natur im Dienste des Gewissens zur Vermittlerin gerechter Vergeltung wird. Nicht von bloßen Zufällen ist die Rede, wenn Makbeth im Vorgefühl seines Schicksals verkündigt: „Die blut'ge Lehre, die wir Andern geben, fällt gern zurück auf der Erfinder Haupt, und die gleichmessende Ge­ rechtigkeit zwingt uns den eignen Giftkelch auszutrinken"; und nicht von individuellen Launen, wenn der Brudermörder in der Braut von Messina ausruft: „Nicht in der Welt lebt, Wer mich richtend straft, drum muß ich selber an mir selber es vollziehen." (2) Wenn ich nun von hier aus einen Weg in das Gebiet der staatlichen Strafjustiz zu gewinnen suche, so ist dies Unternehmen kein so verwegenes oder wunderliches, wie es vielleicht den Anschein hat; wie es wenigstens denjenigen scheinen muß, welchen die zwischen Poesie und Leben ihrem Wesen nach bestehende Identität verborgen ist. In Wahrheit wird, was in Bezug auf die poetische Vergeltung gesagt worden ist, daß sie nicht als etwas Zufälliges und Äußerliches an den Verbrecher herantrete, sondern als die natürliche und notwendige Frucht seines Wirkens, als die Entfaltung der wesentlichen Eigen­ schaften von diesem in seiner eigenen Erfahrung, sich auch als ein Merkmal der nach unseren staallichen Gesetzen eintretmden Strafe, wenn dieselbe anders ist, was sie fein soll, erweisen lassen; und es wird sich daher die staatliche Strafgerechtigkeit ihrem Wesen nach für eine tiefere Auffassung ebenfalls darstellen als eine Verwirklichung des bisher besprochenen Gesetzes, in dessen Wirksamkeit das Drama Shakspeares und Schillers seinen Angelpunkt hat, in einer beschränkten Sphäre. Freilich scheint hier nicht zuzutreffen, was von diesem Gesetze

über vergeltende Berechtigkett.

9

gesagt worden ist, und woran die eben hervorgehobene Eigenschaft der natürlichen und der poetischen Vergeltung geknüpft ist: daß dasselbe einer willkürlich und bewußt übernommenen Vermittlung zu seiner Verwirklichung nicht bedürfe, vielmehr in den objektiven Lebensmächten seine wahren und seine zuverlässigen Vertreter habe. Bei jener mensch­ lichen Justiz scheint im Gegenteile die bewußte Willkür des Gesetz­ gebers den unentbehrlichen Vermittler zu machen zwischen Schuld und Strafe, so daß hier von einem natürlichen und notwendigen Zusammen­ hange von Beiden nicht gesprochen werden könnte. Allein dieser Schein verschwindet, wenn wir das Wesen der Sache von ihren Formen unterscheiden. Daß die Verbrechen, mit welchen es die Strafjustiz im Allgemeinen zu thun hat, eine Reaktion seitens der Berichten nach sich ziehen, daß ihnen mit andern Worten eine irgmd wie geartete Vergeltung nachfolge, das ist keine Erfindung unserer Gesetzgeber und keine Einrichtung, welche sich von heute auf morgen oder überhaupt durch ein beliebiges Machtgebot beseitigen ließe, ist nicht ein Ausfluß irgend einer, vielleicht irrigen, Theorie, wie uns gegenwärtig manche überreden möchten, sondern eine in der objektiven Natur der mensch­ lichen Dinge begründete Erscheinung, gegen welche auch der Mächtigste nur die Lanze eines Don Quixote einlegen könnte. Würde der Staat heute seine strafrechtlichen Funktionen einstellen, so würde er damit nur sein eigenes Fundament aufs Heftigste erschüttern, die Vergeltung aber aus seinem Gebiete nicht verbannen. Dieselbe würde lediglich ihre Formen wechseln. Sie würde als Privatrache, als Fehde, als Lynchjustiz oder wie immer zu chrem Rechte kommen. Es würden hier die elementaren Kräfte unfehlbar die Rolle wieder übernehmen, die sie auf den Staat, der sie zu binden berufen ist, übertragen mußten. Was aber von der Beseitigung der Strafe, gilt auch von der Ver­ änderung ihres wesentlichen Charakters, und in gewissem Umfange sogar von der Bestimmung ihres Maßes. Würde die staatliche Strafe in den Augen des Volks sich, wie es eine gewisse Schule fordert, zur teilten Wohlthat verwandeln, so würde der Privatverletzte sich die Genugthuung, die ihm in jener nicht mehr geboten scheint, vorauszu­ nehmen suchen, und es würde ein polizeiliches Geleite nicht mehr vermögen, einen überführten Mörder gegen die andrängende Menge, die ihn in Stücke reißen möchte, zu beschirmm. Diese menschliche Vergeltung erscheint uns daher ihrem Wesen nach als eine Spezies der zuvor besprochenen natürlichen, der Ber-

10

Übet vergeltende Gerechtigkeit.

geltung, welche sich in allen Sphären des Lebens zu vollziehen strebt. Und sie steht in dieser Qualität von den Reflexionen und Intentionen derer, durch welche sie zum Vollzüge kommt, unabhängig; unabhängig auch von dem Wechsel der Faktoren selbst, in welchen sie ihre Werk­ zeuge findet. Dieser Wechsel hat auf die Formen ihrer Realisirung einen keineswegs bedeutungslosen Einfluß, indem es von diesen Formen abhängt, ob die Vergeltung rein und ohne störende Beimischungen zur Verwirklichung komme; aber ihr Zusammenhang mit jenem natürlichen Gesetze wird durch diesen Wechsel nicht gebrochm. Was ferner von dem Leiden überhaupt gesagt wurde, das gilt auch von dem mit der Strafe unzertrennlich verbundenen: daß es uns nämlich eine Genugthuung nur gewähren könne, insofern wir es als ein natürlich begründetes, als eine nach der objektiven Lebensordnung sich ergebende natürliche Folge des Verbrechens zu begreifen vermögen. Und was mehr ist, es wird dem von dem Strafleiden Betrosienen eine ethische Auffassung desselben als eines ihm in Wahrheit Zu­ kommenden, womit er selber innerlich einverstanden sein muß, nur möglich sein, wenn dasselbe nicht als ein äußerliches Verhängnis an ihn herantritt, sondern als ein Zeugnis für die Wirksamkeit eines Gesetzes in der Sphäre des gemeinsamen Lebens, dessen Wirksamkeit im eigenen Bewußtsein ihm nicht verborgen ist. Mit dem Gesagten sind die Ausgangspunkte für die Entwicke­ lung einer Strafrechtstheorie gewonnen, welche sich von den herr­ schenden in mehrfacher Beziehung wesentlich unterscheiden, und welche insbesondere einander entgegengesetzte Einseitigkeiten, welche in der Geschichte der Strafrechtswissenschaft wechselsweise als für die in ihr herrschenden Richtungen charakteristische hervortreten, ohne zu einer vollständig befriedigenden und einen definitiven Abschluß der Lehre bezeichnenden Vermittlung bis dahin gekommen zu sein, vermeiden würde. Es sei vergönnt, diese Einseitigkeiten der eignen Auffassung zu deren Verdeutlichung in Kürze gegenüberzustellen. (a) Viele nämlich stimmen darin überein» daß sie die Strafe nicht als Vergeltung gefaßt, d. i., daß sie dieselbe nicht auf die in der Vergangenheit liegende rechtswidrige Handlung als ein in dieser sich innerlich begründendes Leiden, sondern lediglich auf ein Zukünftiges, auf das, was sich die Gesamtheit mittelst ihrer zu erreichen gedenkt, bezogen haben wollen. Sie legen damit den Rechtsgrund der Be-

Über vergeltende Gerechtigkeit.

11

strafung in die Motive, welche den Strafenden bewegen, und wollen nach diesen allein das Maß der Strafe bestimmt haben. Aber sie dürften sich nur in die Lage versetzen, die Verhängung einer Strafe dem Betroffenm gegenüber zu begründen, um zu erkennen, daß ihnen die Mittel zu solcher Rechtfertigung derselben durch ihre Theorien nicht geboten sind. Man rede dem Bestraften noch so viel von der Zweckmäßigkeit seiner Bestrafung für die Gesamtheit oder für irgend Wen und Was, es wird ihm eine solche Begründung derselben lächerlich zugleich und empörend erscheinen. Es giebt ihm gegenüber keine andere Rechtferttgung des Zwangs, den er erleidet, als die in der Beziehung desselben auf die verbrecherische That gegebene, wonach sich derselbe als gerechte Vergeltung in dem von uns entwickelten Sinne darstellt. In der That lassen sich auch die meisten Fortschritte, die wir uns im Gebiete der Sttaftechtspflege gemacht zu haben rühmen, und welche wir noch zu machen hoffen und bestrebt sind, mit der Forderung in Verbindung bringen, daß die Strafe sich als gerechte Vergeltung legiümiren könne. Hierher gehött die Ausscheidung willkürlicher Satzungen, solcher Verbote, welche einer Sanktton seitens der eignen moralischen Natur derjenigen, an welche sie sich richten, nicht teilhaftig sind, aus der Reihe der mit einer Sttafsanktion versehenen Gesetze. Es soll die Schuld, welche wir mit kriminellen Folgen verbinden, sich als eine solche dem sittlichen Bewußtsein des Bestraften selber gegenüber dar­ stellen. — Daran schließt sich der Grundsatz, daß Niemand wegen zufälliger Folgen seiner Handlungen verantwottlich gemacht werden soll, und überall nur wegen einer Wirksamkeit, die ihm als Menschen charakteristisch ist und nach dem Maße, in welchem sie dies ist. — Hierher gehört das Bemühen, das von der Strafe nicht zu ttennende Leiden, soweit dies möglich ist, ausschließlich dem Verbrecher selber fühlbar zu machen, während ein den bezeichntten Standpunkt ver­ leugnendes Strafrecht mit dem Verbrecher diejenigen unschädlich zu machen bestrebt ist, welche mit ihm in Gesinnung oder Interessen ver­ bunden scheinen. — Dahin gehört es, daß wir überall nur eine ver­ brecherische Wirksamkeit, nicht bloße Gesinnungen mit Sttafe ver­ bunden wissen wollen. — Dahin gehört es, wenn wir heute nicht unser Bestreben darauf konzentriren, eine äußerliche Ähnlichkeit zwischen dem Strafleiden und der in dem Verbrechen liegenden Verletzung

1>

Uber vergeltende Gerechtigkeit.

Anderer herzustellen und das althebräische „Auge um Auge", „Zahn um Zahn" zu einer buchstäblichen Ausführung zu bringm, sondern darauf, daß jenes als ein dem leiteten innerlich adäquates erscheine. — Hierher gehört es, wenn wir uns nicht damit begnügm, daß die Strafe an sich in solchem gerechtem Verhältniffe zur Schuld stehe, sondem darauf bedacht sind, daß sie dem Verbrecher selbst als eine gerechte erscheinen könne. Mt diesem Bestreben hängt die Ausbildung eines Prozeßverfahren- zufammm, welches dm Beweis der Schuld vor allem dem Gewiffm des Verbrechers gegmüber zu führm unter­ nimmt ; hängt ferner zusammen die Ausmerzung aller grausamen und quälendm Strafmittel, welche, indem sie der Verzweiflung zudrängen, die Entwickelung einer ethischm Auffassung der Strafe bei dem Be­ straften unmöglich machen, aus unsrem Straflysteme, und im Gegen­ satze hierzu die Ausbildung von Strafmitteln, welche mehr auf das Innere des Verbrechers, als auf dessen äußere Empfindung wirken, und welche, indem sie sich an die moralischm Kräfte in der Natur des Verbrechers wendm, das Gewiffm von diesem gleichsam selbst zu einem Faktor im Strafvollzüge erheben. Ich denke hierbei an die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des Gefängniswesens, und spezieller an das System der Einzelhaft, das unter irgend welchen Modifikationen und in irgend welchen Verbindungen dereinst wohl auch bei uns zur Einfühmng kommen dürste, und welches eine eigentümliche Schärfe darin hat, daß es dm Verbrecher, indem es ihn gewohntm Zerstrmungm und dem Einfluß einer die moralischen Faktoren seiner Natur unterdrückmdm Umgebung mtreißt, dem eigenen Schuldbewußt­ sein und dem Eindmck der sich an ihm vollziehmden Gerechtigkeit in unerbittlicher Weise überantwortet. (b) Andere Gelehrte fassen, im Gegensatze zu dmjenigm, welche wir bisher im Auge hattm, die Strafe als Vergeltung für die ver­ brecherische That, vemeinen aber ihre Beziehung auf die Interessen und Bedürfniffe der Gesellschaft, oder wissen doch, wenn sie eine solche anerkennen, nur einen künstlichm Zusammenhang zwischen ihr und diesen letzteren herzustellm. Es erklärt sich dies daraus, daß man jenen natürlichen Zusammmhang von Schuld und Schicksal, daß man das Gesetz, aus welches wir dm Begriff der gerechten Vergeltung bezogm haben, nicht erkannte. Nach unserer Auffaffung sind die Jntereffen, Bedürfniffe und Leidenschaften, welche das gesellschaftliche Leben beherrschen, zu

Über vergeltende Gerechtigkeit.

13

den natürlichen Vermittlern der Gerechtigkeit, zu dmjenigen Faktoren zu zählen, welche die Realisimng derselben als eine nicht von Will­ kür und Zufall abhängige erscheinen lasten. Es ist einem jeden Lebendigm in der Natur gegeben, sich selbst und die Bedingungen seines Daseins und seiner Wirksamkeit zu erhalten und zu sichern. Dem Kampfe um die letzteren aber gehört die Reaktion an, die im gesellschaftlichen Leben dem Verbrechen antwortet, mögen die Einzelnen oder die Gesamtheit die Vermittlung derselben übernehmen. Dmn das Verbrechen, dem keine Vergeltung folgt» stellt überall jene Be­ dingungen in Frage. Die Austastung dagegen, die wir bekämpfen» löst die staatliche Strafjustiz von dem Boden der gesellschaftlichen Jntereffen und Leiden­ schaften los. Ihre Gerechtigkeit bleibt eine jenseitige, von welcher nicht zu begreifen ist, wie sie menschliche Kräfte in Bewegung setzen könne. Nach ihr ist es ein kategorischer Imperativ, der den strafenden Staat als solchen in Wirksamkeit versetzt; und zwar ein Imperativ von seltsamem und unmöglichem Inhalte; des Inhalts nämlich: eine Lücke in der Ordnung der Dinge an Stelle der Vorsehung auszufüllen und sich in Nachahmungm göttlicher Gerechtigkeit zu versuchen. In Wahrheit würde in dem Momente, wo die weltliche Straf­ justiz kein anderes Fundament für sich geltend machen könnte, als diesen vermeintlichen Beruf, wo sie ihren Zusammenhang mit den fundamentalen Interessen der Gesellschaft verlöre, die Strafe nicht bloß aufhören, das zu sein, was sie nach jenen erstbesprochenen Theorien sein soll, sondern auch aufhören, gerechte Vergeltung zu sein. Den Staat rufen nur diejenigen Wirkungen der verbrecherischen That zur Reaktton auf, welche auf seinem Lebensgebiete liegen und welche die fundamentalen Interessen in Frage stellen, die seine Seele ausmachen. Wo diese ihn nicht tteiben, da fehlt ihm der Beruf, die moralische Ordnung zu vettreten, da hat er die Vermittlung von Schuld und Schicksal den sonstigen Lebensmächten zu überlassen, denen es auf­ getragen ist. Darin begründet es sich, was jene Theorien nicht zu rechsterttgen vermögen, daß die Grenzen des Strafrechts und die des Strafmaßes überall und wesentlich unter dem Einflüsse jener die Gesellschaft be­ wegenden Interessen stehen. Wenn aber jener Zusammenhang der Strafe mit den Interessen und Zwecken der Gesellschaft nicht geleugnet und nicht gebrochen werden

14

Über vergeltende Gerechtigkeit.

kann, und wenn derselbe der Subsumtion der Strafe unter den Begriff der Vergeltung mit Nichten entgegensteht, so ist es um deswillen, wie schon hervorgehoben wurde, nicht gleichgiltig, wer diesen Zusammen­ hang vermittle und in welchen Formen dies geschehe. Vielmehr hängt der Fortschritt in dm vorhin besprochmen Richtungen, hängt die Fort­ bildung derjenigen Momente, welche eine ethische Auffassung der Strafe seitens des Verbrechers ermöglichen oder begünstigen, davon ab, daß diese Vermittlung durch unparteiliche und den Parteien übergeordnete Organe stattfinde. Wo der einzelne Verletzte sich in den Formen der Privatrache Genugthuung, Restaurirung seines Selbstgefühls und seines Ansehens bei dm Genoffen sucht, da werden der Vergeltung die gerühmten Qualitäten der durch den modernen Staat vermittelten fehlen. Die persönlichen Leidmschasten werden, wo sie in solch unmittelbarer Weise das Richteramt übemehmen, überall leicht über das gerechte Maß hinausschreiten, werden ferner die That mehr ihrer äußeren Seite als ihrem wahren Charakter nach zum Maßstab der Vergeltung nehmen, und den Bestraften endlich mehr unter die Macht einer ihm feindlichen Partei, als unter die des in der Vergeltung sich bekräftigenden ethischen Gesetzes gebeugt erscheinen lassen. Wo dagegen die Gesamtheit durch Organe von unparteilichem Charakter und nach objektiven Normen die Strafe verhängen läßt, da treten jene Interessen und Leidenschaften dem Bestraften gegenüber in den Hintergrund; so daß derselbe sich nicht mehr eine feindselige, ihn zu Streit und Trotz aufreizende Partei, sondem nur das Sühne fordernde Gesetz und dessen unparteiliche Werkzeuge gegenübersieht. Daß jene ersteren auch hier ihren Einfluß auf den Umfang des straftechtlichen Gebiets und auf das Maß der Strafe behaupten, ist unzweifelhaft, allein indem die ihrm Einfluß vermittelnden Faktoren dafür Sorge tragen, daß der Charakter der Vergeltung nicht durch sich überstürzende Leidenschaftm gefälscht werde, und daß ihr Eindmck im Gemüte des Verbrechers kein getrübter sei, nimmt die Straftechtspflege in der That dm Schein einer von menschlichen Bedürfniffen und Leidmschasten los­ gelösten, allein im Dienste der nach göttlicher Anordnung sich voll­ ziehenden Gerechtigkeit stehmden Institution an.

Bemerkungen über bett österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes über Verbrechen und Vergehen. (Gutachten für das österreichische Justizministerium 1867.)

Allgemeiner Teil. Der an ihn ergangenen Auffordemng zu einer Besprechung des neuen Entwurfs einer Strafgesetzgebung nachkommend, kann der Ver­ fasser dieses nicht umhin, der großsinnigen Weise, in welcher in diesem Entwürfe dm Forderungen eines humanen Zeitalters Rechnung ge­ tragen und die Bahn der Reformen betreten ist, eine unumwundene Anerkennung auszusprechen. Insbesondere ist es die Gestaltung des Strafensystems — es sei hier vor allem auf die Verheißung einer allgemeinen Einführung der Einzelhaft, die Aufnahme des Instituts der bedingten Freilassung, die Abschaffung der körperlichm Züchtigung, die Einschränkung der Androhungen der Todesstrafe, die Beseitigung richterlicher Strafschärfungen und die Behandlung, welche den Ehren­ folgen zu Teil wird, Bezug genommen — worin in wohlthuender Weise das ernste Bestreben hervortritt, den Einklang herzustellen zwischen den Forderungen des öffentlichen Gewissens und den in ihrer Entwick­ lung mannigfach zurückgebliebenen Einrichtungen der Strafrechtspflege. Auch in technischer Beziehung erscheint der Entwurf als eine über das bisherige Recht weit hinausschreitende legislative Arbeit. Das in der Hauptsache festgehaltene Streben, Bestimmungen von rein doktrinärem Charakter zu vermeiden, den legislativen Gedankm einen klaren, ein­ fachen und gleichmäßigen Ausdmck zu geben, in die Behandlung des speziellen Teils Durchsichtigkeit und innere Übereinstimmung zu bringen, u. A. wird der Anerkennung seitens aller Kundigen nicht leicht ent­ gehen. Eben deshalb ist es nicht motivirt, hier bei diesen Vorzügen zu verweilen. Im Gegenteile will die Aufmerksamkeit auf solche Seiten und Partien des Entwurfs gelenkt werden, welche dem Verfasser dieses

16

Bemerkungen über

den

österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. s.

w.

eine weitere Prüfung und beziehungsweise eine Verbesserung zu fordern scheinen. Hierbei wird als Quelle mehrfacher Mißstände sich die begreifliche Neigung darstellen, das neue Recht, soweit immer thunlich, an das überlieferte anzuschließen. Wenn dem gegenüber hier ausschließlich der allgemeine wissenschaftliche Standpunkt vertreten wird, so bleibt es die Sache der hiezu berufenen Instanzen, die Vorteile jenes engeren An­ schlusses an das bis dahin in Übung gewesene Recht gegen die einer größeren Korrektheit jenem allgemeinen Standpunkte gegenüber abzuwägen. Im Weiteren wird die Kritik in Bezug auf Arbeiten der vor­ liegenden Art die Schwierigkeiten zu konstatiern haben, welche in der Gegenwart für solche Arbeiten darin liegen, daß so vieles in Wissen­ schaft und Leben in einer Weise als im Flusse begriffen erscheint, daß, welche Position wir auch nehmen mögen, wir in Konflikt mit relativ berechtigten Anschauungen und Bestrebungen zu geraten befürchten müssen. Übrigens ist die Stellung der Doktrin zu diesen Vorlagen zum Teil eine andere als die der politischen Faktoren. Während es dem Reichsrat z. B. kaum erspart bleiben möchte, in prinzipielle Erörter­ ungen über Beibehaltung oder Verwerfung der Todesstrafe, über den Wert der Einzelhaft und andere fundamentale Punkte einzutreten, möchte dies in einer von doktrinärer Seite kommenden Beleuchtung kaum am Platze sein. Die Doktrin hat über die betreffenden Fragen seit lange geredet und darf sich ihnen gegenüber einmal von denjenigen ablösen lassen, denen es aufgetragen ist, das auf theoretischem Gebiet Gewonnene ins praktische Leben überzuführen. I.

Über die Scheidung der im Entwürfe bedrohten Hand­ lungen in Verbrechen und Vergehen. Es ist dem Referenten beizustimmen, wenn er S. 9 f. seiner Motivendarstellung sich gegen die bekannte französische, beziehungsweise preußisch-bayerische Dreiteilung der strafbaren Handlungen, als gegen eine jedes realen Inhalts und also einer inneren Begründung bare, ausspricht. Die technischen Vorteile, welche dieselbe, vermöge ihrer Beziehung auf die Abgrenzung der Kompetenz der verschiedenen Straf­ gerichte, gewährt, werden durch die Willkürlichkeiten und Härten über­ wogen, die ihr, und zwar nicht als etwas Zufälliges, anhaften. Was

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetze- u. s.w. 17

in dieser Richtung von verschiedenen Schriftstellern und auch von dem Berfasser dieses gegen die fragliche Einteilung vorgebracht worden ist, hat durch die in neuer Zeit erfolgten Empfehlungen derselben seine Geltung in keiner Weise verloren. Entschiedene Billigung verdient es auch, daß der Entwurf nicht eine Zweiteilung der Delikte adoptirt hat, wie sie sich im geltmden österreichischen Rechte durchgeführt findet, wonach nämlich die Verbrechen einer-, die Vergehen und Übertretungen andererseits in gesondertm Abteilungen, von welchen jede ihren eigenen allgemeinen Teil hat, be­ handelt werden. Auch darin ferner liegt ein Fortschritt gegenüber dem geltenden Rechte, daß die Polizeivergehen von dem eigentlich kriminellen Unrechte gesondert werden. Dieser Scheidung liegt ein sachliches Prinzip und zugleich ein praktisches Bedürfnis zu Grunde. Dagegen entspricht es einem solchen Prinzipe und Bedürfnisse nt. E. nicht, wenn der Entwurf die letztere Kategorie (das kriminelle Unrecht im e. S.), mit welcher er sich ausschließlich beschäftigt, in Verbrechen und Vergehen zerlegt und sich insoweit also die im bis­ herigen Rechte sich findende Einteilung der strafbaren Handlungen aneignet. Es würde richtiger gewesen sein, von einer jeden derartigen Einteilung als einer für das materielle Strafrecht bedeut­ samen abzusehen. Es sei vergönnt, dieses Urteil, weil es die Grundanlage des Ent­ wurfes betrifft, ausführlicher zu motiviren. a. Zunächst ist es zu verneinen, daß die im Entwurf durchge­ führte Scheidung der „Verbrechen" und „Vergehen" auf ein materielles Prinzip zurückzuführen und also von Gesichtspunkten des materiellen Strafrechtes aus zu begründen sei. Es existirt keine natürliche Ver­ schiedenheit rechtsverletzender Handlungen, mit welcher sie in eine innere Verbindung zu bringen wäre. Zwar hat man sie in einen Zusammen­ hang mit der allerdings fundamentalen Verschiedenheit der vorsätzlichen und fahrlässigen Rechtsverletzungen gebracht, allein dieser Zusammen­ hang ist derart ein äußerlicher, daß ihm ein rechtfertigendes Motiv für die ftagliche Einteilung nicht entnommen werden kann. Man hat nämlich die fahrlässigen Rechtsverletzungen grundsätzlich in die Kategorie der Vergehen gezogen. Neben ihnen aber auch vor­ sätzliche Rechtsverletzungen, und zwar nicht etwa einzelne wenige, und nicht im Sinne von Singularitäten, vielmehr in solcher Menge und

18 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine» Strafgesetze» u. f. w.

in solcher Weise, daß es durchaus unmöglich ist, in den ersteren die eigentlich typischen Vergehensfälle zu erkennen. In der dem Ministerialentwurfe beigefügten Übersichtstabelle der Strafsätze finden sich in der Rubrik der mit Vergehensstrafen bedrohten Rechtsverletzungen zwölf Fälle fahrlässiger Rechtsverletzung gegen einund­ neunzig Fälle vorsätzlicher Rechtsverletzung aufgezählt. Ist es nun möglich, zu sagen, daß jene zwölf Nummern die das Genus charakterisirende Regel, diese einundneunzig die Ausnahme, das indifferente Gefolge der ersteren vorstellen? Aber wir können von diesen Zahlenverhältniffen absehen; das Entscheidende ist, daß in der praktischen Behandlung der Vergehen die fahrläffigen Rechtsverletzungen keineswegs als die typischen Fälle anerkannt erscheinen. Es genügt, auf die für Vergehen aufge­ stellte entehrende Arreststrase hinzuweisen, um dies zu belegen. Es kann nicht für eine durch die Fahrlässigkeit in ihrem eigentlichen Wesen bezeichnete Gruppe von Delikten eine mit infamirenden Folgen ver­ knüpfte Hallptstrafe aufgestellt sein. Auch sonst findet sich keine diese Kategorie betreffende praktische Bestimmung, welche in der hervorge­ hobenen Beziehung derselben zu den fahrlässigen Rechtsverletzungen ihre Erklärung fände. Ist aber mit dieser Beziehung ein sachlicher Grund für die in Frage stehende Einteilung nicht gewonnen, so existirt ein solcher über­ haupt nicht. — Es ist kein das Verbrechen charakterisirendes Merkmal anzugeben, welches sich nicht auch bei Vergehen fände, und keine Grund­ form des Unrechtes, welche nicht in der Klasse der letzteren ihre Re­ präsentanten hätte. Es kann sich daher zu Gunsten der Einteilung nur auf einen quantitativen Unterschied bezogen werden, welcher doch eine qualitativ verschiedene Behandlung der fraglichen Delikte, ivie sie ihnen int Entwürfe zu Teil wird, nicht zu rechtfertigen vermag. Es ist aber selbst dies quantitattve Merkmal nicht festgehalten, wie mit einer Hinweisung auf das Strafensystem, insbesondere auf das Verhältnis der Arrest- zur Gefängnisstrafe, dargethan werden kann. Das mit zwei Jahren Gefängnis bedrohte „Verbrechen" kann nicht ein schwereres Delikt sein als das mit zwei Jahren Arrest, d. i. einer in mehrfacher Beziehung schwereren Strafart (§ 46 bis 48 des M. E.), bedrohte „Vergehen", wenn anders die Schwere der ©traft in Einklang steht mit der Schwere des Verbrechens. (Ein Widersprach bleibt hier freilich in jedem Falle. Indem wir die erstere Handlung als Verbrechen qualifiziren, sagen wir, daß sie die schwerere

äkmertimgen über ben österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes n.s. w. 19

Rechtsverletzung» indem wir sie mit dem leichteren Strafübel verknüpfen» daß sie die geringfügigere Rechtsverletzung fei.) — Auch sonst läßt sich zeigen» daß die Grenze zwischen den „Verbrechen" und den „Ver­ gehen" des Entwurfs sich selbst in quantitativer Hinsicht vielfach ivillkürlich gezogen finde. So möchte es kaum anzuerkennen sein» daß das „Berbrechen" der Hausfriedensstörung ein schwereres Delikt als das „Vergehen" der Urkundenfälschung; das „Verbrechen" der Unterdrückung des Rechts zur Kuratel (§ 279) ein schwereres als das „Vergehen" der Verführung durch Vorspiegelung der Ehe (§ 195); das „Verbrechen" des von Juwelieren begangenen den Betrag von zehn Gulden erreichenden Betruges ein schwereres als das „Vergehen" der dem Berleumdendm eine mehrjährige Freiheitsstrafe zuziehenden Verleumdung sei. Alles zusammenfassend können wir sagen: Der Entwurf selbst negirt die Existenz eines qualitativen Gegensatzes zwischen den von ihm als Verbrechen und den als Vergehen bezeichneten Rechtsver­ letzungen» indem er für jede dieser Kategorien eine infamircnde und eine nicht infamirende Strafe einführt, die Existenz eines quanti­ tativen Gegensatzes, indem er eine Vergehensstrafe (Arrest) aufstellt, welche schwerer ist als eine Verbrechensstrafe (Gefängnis). b. Ist das sub a Ausgeführte richtig, so müssen die mit der fraglichen Einteilung verknüpften praktischen Bestimmungen sich sämtlich als Willkürlichkeiten erweisen lassen. Hierher gehört es, wenn die Richthindernng von Verbrechen als Verbrechen bestraft, die Nicht­ hinderung von Vergehen dagegen gar nicht kriininell gerügt ivird (8 285). Hierher gehört es ferner, ivcnii als Berjährungsfrist für Vergehen ein Jahr bestimmt ist, als solche für Verbrechen fünf, bezw. zehn und zwanzig Jahre (§ 98). Von einem Kreuzer im Betrag des Gestohlenen soll es hiernach abhängen, ob der Dieb nur ivährend eines Jahres oder während des fünffachen Zeitraumes strafrechtlich verfolgt werden kann (268, 69). Es ist unmöglich, einen solchen Sprung in der Fristbestimmung hier und überhaupt bei den betreffenden Fällen als sachlich motivirt zu erkennen. Von dem gleichen Wert­ momente soll es bei dem genannten Delikte abhängen können, ob die Berbrechensstrafe mit dem Minimalsatze von vier Monaten Zuchthaus oder die Vergehensstrafe mit dem Maximalsatzc von vier Monaten Arrest verwirkt sein soll. Während wir es hier sachlich mit fließenden Quantitätsverhältnissen zu thun haben, welche keinen Sprung, ja über­ haupt keine greifbare Trennungslinie zeigen, zieht die formelle, an die

20 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetze- u. s. w. in Rede stehende Einteilung anknüpfende Behandlung eine breite Klüfte über welche nur das außerordentliche Milderungsrecht des § 91 eine Brücke soll schlagen können.

Blos willkürlich ist es ferner, wenn im

§ 12 für Vergehen die Regel aufgestellt wird,

daß die Zurechnung

bei denselben im Zweifel nur Fahrlässigkeit voraussetze; eine Regel, welche, wenn sie denn einmal aufgestellt werden müßte, gerade bei der schwereren Gattung von Delikten minder bedenklich sein würde als bei den Vergehen. Man hat, es ist anzuerkennen, zahlreiche Willkürlichkeiten, welche sich im geltenden Rechte mit der Scheidung von Verbrechen und Ver­ gehen verbunden fanden, im Entwürfe beseitigt, und vielleicht würde eine weitere Revision nicht viel davon übrig lassen.

Allein sobald wir

die letzte jener Willkürlichkeiten beseitigt haben würden, so würde die ganze, so sorgfältig durchgeführte Einteilung zu einer völlig bedeutungs­ losen Ornamentik herabgesunken sein. c. Eine Berufung auf das bisherige Recht zu Gunsten der frag­ lichen Einteilung ist aber vom Standpunkt des Entwurfes aus des­ halb unmöglich, weil die Bedeutung der Einteilung in jenem eine ganz andere ist,

als diejenige, die ihr nach dem Entwurf zukommt.

von Anderem abzusehen (wie z. B. davon, daß nach Rechte

im

Gegensatze zum Rechte des Entwurfs die

Um

dem geltenden „Berbrechen"

sämtlich von Amts wegen verfolgt werden), sei hier des Umstandes gedacht, daß im bisherigen Rechte die Verbrechen, wie auch im preußischen und bayerischen

Strafgesetze,

als die allgemein infamirenden Delikte

auftreten, und daß im Zusammenhange damit eine durchgreifende Ver­ schiedenheit der für sie geltenden Strafmittel von den für die Vergehen eingeführten besteht.

Im Entwürfe dagegen fehlt der Kategorie der

Verbrechen mit dem angegebenen Merkmale das eigentliche Charak­ teristikon der bis dahin so genannten Kategorie. d. Darin liegt, daß hier auch eine Berufung auf eine dem tech­ nischen Gebrauche der Worte „Verbrechen" und „Vergehen" im geltenden Rechte entsprechende Volksauffassung unzulässig sei.

Denn, wenn sich

wirklich diese Auffassung der in jenem Gebrauche fixirten gesetzgeberischen accommodirt hätte, so wäre es nun offenbar die Aufgabe, an ihrer Korrektur zu arbeiten.

Indem wir aber an der bisherigen Einteilung

äußerlich festhalten, scheinen wir im Gegenteile diese Auffassung (wo­ nach die „Verbrechen" allgemein als infamirend gelten sollen u. s. w.) aufs neue zu sanktioniren.

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

21

e. Überhaupt kann diese Einteilung nicht leisten, was sie im Sinne -er Redaktoren des Entwurfes offenbar leisten soll. Es will mit der Subsumtion einer Handlung unter den Begriff des Verbrechens und bezw. des Vergehens dem Volke ein Weiteres über die Natur und relative Verwerstichkeit derselben mitgeteilt werden, als ihm der Spezial­ name de- betreffenden Delikts an die Hand gibt. In Wahrheit aber erfährt dasselbe mit dieser Subsumtion nur teils etwas Selbstverständ­ liches, teils etwas Unwahres. Wenn z. B. die böswillige Zufügung eines Schadens von 51 Gulden im Gegensatze zur Zufügung eines solchen von 50 Gulden als Verbrechen qualifizirt wird (§ 281), so will damit zunächst gesagt sein, daß, was sich von selbst versteht, ein quantitativer Unterschied zwischen den beiden Fällen bestehe. In dieser Beziehung aber bedarf auch das ungebildetste Publikum keiner Belehrung. Es will aber ferner damit gesagt sein, daß die Schädigung um 51 Gulden der Art nach ein schwereres Delikt sei als die um 50 — und dies ist eine Unwahrheit. f. Ebenso würde es auf einer Selbsttäuschung bemhen, wenn man dieser Zweiteilung die Wirkung einer Vereinfachung des Systems der Vorschriften des allgemeinen oder speziellen Teils nachrühmen wollte. Es ist in der That der entgegengesetzte Einfluß von ihr zu erweisen, und es dürfte dies der wichtigste der bisher hervorgehobenen Punkte sein. Es begründet sich nämlich in ihr hauptsächlich die K'omplizirtheit und zugleich Unzulänglichkeit deS Systems der Freiheitsstraftn, wovon sogleich (§ 2) ausführlicher gehandelt werden soll. Da nämlich die wesentlichen Verschiedenheiten, welchen dies System gerecht werden soll (man denke insbesondere an den Gegensatz der Rechtsver­ letzungen von ignominiösem und von nicht ignominiösem Charakter), sich bei den Verbrechen und Vergehen des Entwurfes gleichmäßig finden, so war für jede dieser Kategorien sozusagen ein selbständiges Strafensystem aufzustellen; wie denn der Entwurf für jede eine ent­ ehrende neben einer von Ehrenfolgen nicht begleiteten Strafe kennt, ohne daß damit die ftagliche Aufgabe vollständig gelöst wäre. g. Endlich ist die ftagliche Einteilung nicht auf prozessualische Bedürfnisse berechnet und konnte es nicht sein, weil die prozessualischen Einrichtungen eine definitive Gestaltung noch nicht erhalten haben. Weshalb nun um jeden Preis eine Einteilung haben wollen, für welche in der Natur der Sache kein Anhaltspunkt und außerhalb der­ selben kein Zweck bezeichnet werden kann?

22

Bemerkungen

über

den österreichischen (Entwurf eines Strafgesetze- u. s. w.

II. Vom Strafensysteme des Entwurfs und von Behandlung der Ehrenfolgen insbesondere. Für die Gestaltung des Systems der Freiheitsstrafen, das hier hauptsächlich in Betracht gezogen werden soll, scheint eine zweifache Fordenmg aufgestellt werden zu können. Erstlich nämlich sollen die quantitativen und qualitativen Verschiedenheiten der in Betracht kommenden Rechtsverletzungen einen Ausdruck in der Art und dem Maß der verhängten Strafen finden können. Zweitens sollen die unterschiedenen Freiheitsstrafm sich nach greifbaren, der allgemeinen Auffassung zugänglichen Merkmalen unterscheiden. In beiden Beziehungen scheint mir das System des Ministerin lEntwurfes nicht vollständig zu befriedigen. a. In diesem Systeme stellen sich zunächst die Zuchthaus- und Arreststrafe auf der einen, Gefängnis und Einschließung auf der anderen Seite gegenüber. Es unterscheiden sich nämlich die ersteren Haftarten von den letzteren erstlich durch die Ehrenfolgen, welche sich regelmäßig mit ihnen verknüpfen (§ 67 bis 70), zweitens durch die bei ihnen eintretenden weitergehenden Beschränkungen in Bezug aus Nahrung, Genußmittel, Beschäftigung und Aufenthalt im Freien (§§ 46, i, 47). Sie sind also zugleich als die einer verächtlichen Gesinnung entsprechenden und als die schwereren charakterisirt. Gefängnis und Einschließung sind in beiderlei Hinsicht durch die entgegengesetzten Merkmale bezeichnet. Aus dieser Kombinirung zweier innerlich nicht wesentlich zusammen­ hängender Merkmale (des Jgnominiösen und der Schwere) ergeben sich nicht unwichtige Jnkonvenienzen. Es entsteht hieraus nämlich in Betreff der schweren, aber einer verächtlichen Gesinnung nicht entspringenden Delikte die Alternative, sie entweder trotz ihrer Schwere mit der leich­ teren Hastweise zu bestrafen, oder mit Rücksicht auf ihre Schwere mit der schwereren und zugleich infamirenden Hastweise, so daß ihnen in keinem Falle völlig gerecht zu werden wäre. In der That dürste die allzu häufige Androhung der Zuchthaus- und Arreststrafe, wovon sogleich zu reden sein wird, mit diesem Umstande zusammenhängen. Sollte nun freilich hier eine Mittelstrafe eingeführt werden, welche hinsichtlich der Schwere mit der Zuchthaus- bezw. Arreststrafe, hin­ sichtlich der Ehrenfolgen mit Gefängnis und bezw. Einschließung auf

Scmertungtn über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w. 23

gleicher Linie stünde, so würde das System ein über alle Maßen komplizirteS werden. Wir kämen damit zu sechserlei Freiheitsstrafen, was der Umstand, daß alle in Einzelhaft zu verbüßen wären, als ganz besonders unpassend erscheinen lassen würde. b. Gefängnis und Einschließung unterscheiden sich nach dem Ent­ würfe sozusagen nur in thesi (hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Aus­ dehnung), währmd es in hypoth. für den zu einer bestimmten Freiheits­ strafe Verurteilten praktisch auf eines hinausläuft, ob er dieselbe als Einschließung oder als Gefängnis zu verbüßen habe. Er duldet in beiden Fällen das gleiche, nur verschieden benannte Übel. Hiermit ist gegen die zweite der oben bezeichneten Forderungen verstoßen. Es liegt aber in dem Mangel eines materiellen Unterscheidungsmerkmals, daß die ganze Unterscheidung einem sachlichen Bedürfnis nicht entspreche und sich in einem solchen auch nicht begründen könne. Oder welcher inneren Verschiedenheit mehrerer Rechtsverletzungen konnte man mit der bloßen Namensunterscheidung gerecht werden wollen? In Wahrheit ist die Einführung der Einschließung (welche in dem Referentenentwurfe fehlte) lediglich eine Konsequenz der besprochenen Zweiteilung der Rechtsverletzungen, d. i. sie entspricht nur einem selbstgeschaffenen Bedürfnisse. So zeigt dies System einerseits der Glieder nicht genug (a), andererseits unnötige und sozusagen tote Glieder. Es sind aber zwei Mißgriffe, wenn ich so sagen darf, mit welchen diese Übelstände zusammenhängen. Erstlich nämlich, worauf soeben hin­ gewiesen wurde, die einem sachlichen Bedürfnisse nicht entsprechende Einteilung der Rechtsverletzungen in Verbrechen und Vergehen. Zweitens die feste Verbindung, in welche die Ehrenfolgen mit bestimmten Haft­ weisen gebracht sind. Daß es an sich das Korrektere wäre, die Ehrenfolgen aus dieser Verbindung zu lösm und sie als selbständige Rechtsfolgen derjenigen Delikte, denen sie innerlich entsprechen, zu behandeln, braucht kaum gesagt zu werden. Aber der Gewinn, der sich für die Gestaltung des Strafensystems überhaupt daraus ergäbe, ist wohl noch nicht gebührend hervorgehoben worden. Beseitigen wir nämlich diese Verbindung, und geben wir zugleich jene lediglich künstliche Scheidung der Rechtsver­ letzungen auf, so werden wir in der Lage sein, mit zweierlei Hast­ weisen (einer strengeren und einer leichteren) weiter zu reichen, als es mit den vier Freiheitsstrafen des Entwurfes möglich ist. Wir würdm

24

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. tu.

damit befähigt fein, was nach dem Entwürfe unmöglich ist, jenen schwereren Verbrechensarten mit der strengeren Freiheitsstrafe gerecht zu werden, ohne sie im Widerspruch mit der Wahrhest als aus ver­ ächtlicher Gesinnung stammend zu behandeln. Mit dem Aufgeben jenes festen Zusammenhanges der Ehrenfolgen mit bestimmten Haftarten dürste auf der anderen Seite kein idealer Wert verloren gehen. Wenn die Gesamtheit damit darauf hingewiesen würde, sich in ihrem Urteile und Verhalten einem Delinquenten gegen­ über mehr nach dem Charakter der That als nach dem Namen der Strafe zu richten, so möchte damit im Gegenteile eher ein Fortschritt als ein Rückgang in Aussicht gestellt sein. Auch dies kann nicht gegen jene Trennung geltend gemacht werden, daß man im Volke mit den Worten „Zuchthaus" und „Arrest" den Begriff der entehrenden Sttafen zu verbinden gewohnt sei. Man wähle andere Namen, wenn dies, was für Österreich bezweifelt iverden kann, der Fall sein sollte. Dagegen kann vom Standpunkte des Entwurfes aus um so weniger etwas eingewendet werden, als dieser selbst sich in Bezug auf die Strafnamen nicht an die Überlieferung hält. Vor allem aber ist auf die Wandlung hinzuweisen, welche mit der Be­ deutung des Wottes „Verbrechen" im Entwürfe vor sich gegangen ist. Auch das Wort stand in Verbindung mit dem Begriffe des Jnfamirenden und ist im Entwürfe aus dieser Verbindung heraus­ getreten. Unterlag dies keinen Bedenken, so kann eine solche Wand­ lung in Bezug auf die Bedeutung der Strafnamen noch weniger Bedenken unterliegen. Sollte übrigens jene feste Verbindung der Ehrenfolgen mit der Zuchthaus- und bezw. Arreststrafe beibehalten werden» so müßten nt. E. die Fälle, in welchen diese beiden Freiheits­ strafen angedroht sind, vertnindert werden. Es sind nämlich, wie schon erwähnt, mehrfach Verbrechen und Vergehen, welche int Allgemeinen einer als verächtlich geltenden Gesinnung nicht ent­ springen, trotzdem mit jenen infantirenden Strafen bedroht worden, tveil man die nicht infamirenden und zugleich leichteren Sttafen nicht als paffend für sie erachtete. Dadurch aber ist die Stellung der Ehrenfolgen im Entwürfe, ungeachtet der richtigen Jntenttonen, von welchen man im Allgemeinen in Bezug auf dieselben ausging, zu einer unklaren, und der hier in anerkennenswerter Weise erstrebte Einklang zwischen dem Gesetze und dem ethischen Bolksutteile zum

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetze- u. s. w.

25

Teile illusorisch geworden. Zu den fraglichen Berbrechen gehören aber insbesondere der nicht qualifizirte Totschlag (§ 228 Abs. 2), die (sei es im Affekt, sei es mit Vorbedacht begangene) Tötung eines Einwilligenden, die gegen Einwilligende mit Vorbedacht begangene Körperverletzung (§ 235), die schwerste Art des Duells (die Losung um das Leben, § 186), die bei Gelegenheit einer Rauferei begangenen schweren Verletzungen (§ 231, 35, 36), die fiktive Körperverletzung des § 240, die Überschreitung der Grenzen des Züchtigungsrechtes (§ 251), die aus Mutwillen begangene Sachbeschädigung (§ 282), der Brandstiftungsfall des § 218 b, die Majestätsbeleidigung (§ 105, Abs. 1) und die Beleidigung der Mitglieder des kaiserlichen Hauses (§ 106, i); zu den fraglichen Vergehen die gewaltsame Selbsthilfe (§ 261 i. t. 63), die durch Täuschung vermittelte (unter § 280 fallende) Selbsthilfe, die bei Gelegenheit einer Rauferei begangene leichte Körperverletzung (§ 236), das Vergehen der Drohung (§ 263, 64), der Sachbeschädigung (§ 281, 82), des fahrlässigen Bankbruches (283, 84), der Ehrfurchtsverletzung gegen den Kaiser und die Mit­ glieder des kaiserlichen Hauses (§ 105, Abs. 2, § 106, Abs. 2). Auf einzelne der genannten Delikte wird in der Folge ausführlicher zurückzukommen und dabei Gelegenheit gegeben sein, das hier aus­ gesprochene Urteil näher zu begründen. Für die fraglichen Mißstände ist aber im § 90, welcher dem Richter das Recht giebt, auf Gefängnis und bezw. Einschließung herabzugehen, wenn im einzelnen Falle die Handlung nicht aus verächtlicher Gesinnung hervorgegangen ist, eine genügende Korrektive nicht gegeben; selbst abgesehen von dem bereits hervorgehobenen Umstande, daß der Richter sich hier stets entschließen muß, mit den Ehrenfolgen zugleich die sonstigen Qualifikationen der ZuchthauSoder Arreststrafe zu erlassen. Einmal nämlich wird durch die Möglich­ keit einer richtigen Behandlung der Ehrenfolgen im einzelnen Falle seitens des Richters die allgemeine Stellung des Gesetzes zu denselben keine korrekte. Dann aber ist die ftagliche Abhilfe nur auf singuläre, d. i. auf solche Fälle zu beziehen, welche den beim Genus voraus­ gesetzten ethischen Charakter nicht haben, nicht aber auf Verbrechens­ arte», welche einer verächtlichen Gesinnung im Allgemeinen nicht entspringen, vom Gesetze aber fingirtermaßen so behandelt werden, als wäre dies der Fall. So z. B. ermächtigt der § 90 den Richter sicherlich nicht, bei Gelegenheit einer Rauferei begangene Körper-

20 Stmtrtungen übet bm österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

Verletzungen mit Rücksicht darauf, daß dieselbm nach allgemeiner Auffassung mit dem Makel der ehrlosen Gesinnung nicht als behaftet erscheinen, nur mit Gefängnis, bezw. Einschließung, zu bestrafen; denn indem der Gesetzgeber diese Handlungen allgemein mit der infamirenden Strafe bedroht, ignorirt er jene auch ihm bekannte Auffasiung und will sie vom Richter gleicher Weise ignorirt haben. Wäre dies anders, so hätte die Drohung von Zuchthaus oder Arrest in solchen Fällen gar keinen Sinn. Der 8 48 des Ministerialentwurses — eine Verschlechterung, wie mir scheint, der §§ 48 und 66 des Referentenentwurfes — welcher den Zuchthaus- und Arreststräslingen die den Gesängnissträflingen allgemein bewilligten Erleichterungen als besonders zu bewilligende Ausnahmsbegünstigungcn in Aussicht stellt, bringt hierbei verschiedenartige Rücksichten in eine nicht logische und zn Willkürlichkeiten führende Verbindung, nämlich die Rücksicht auf die Bildungs­ stufe und gewohnte Lebensweise und die Rücksicht auf das Wohl­ verhalten des Sträflings. Wenn die erstere Rücksicht in der Forderung eines gerechten Verhältnisses zwischen der Strafe und der Schuld eine Begründung findet (und nur sofern dies der Fall, darf sie hier eine Stelle finden), so ist es ungerecht, die Gewährung der in Frage stehenden Erleichterungen von Umständen in Abhängigkeit zu bringen, welche mit dem angegebenen Verhältnisse nichts zu thun haben. Es geht nicht an, diese Gewährung als eine Forderung der Gerechtigkeit anzuerkennen und sie zugleich als eine Sache der Disziplin zu behandeln. Sollte dagegen das Wohlverhalten während der Strafzeit eine Belohnung in diesen Erleichterungen finden, so war uingekehrt die Hinweisung auf einen gewissen Bildungsgrad u. s. w. weg­ zulassen, da mit dieser die Bestimmung den Sinn erhielt, daß das Wohlverhalten bei Gebildeten und bezw. Wohlhabenden eine Belohnung verdiene, nicht aber bei anderen. Die Art, wie im § 49 die Einzelhaft unter die Disziplinar­ mittel eingeführt wird, steht mit der sonstigen Behandlung derselben in Widerspruch. Während hier wenige Tage einsamer Abschließung gegenüber von gleich vielen lagen gemeinsamer Hast als eine besondere Strafe auftreten, werden im § 35 sechs Monate solcher Abschließung sechs Monaten gemeinsamer Haft grundsätzlich gleichgestellt. — Kommt ferner die Einzelhaft nach § 33 zur Durchführung, so bleibt das ftagliche Disziplinarmittel nur auf diejenigen anwendbar, auf welche

Bemerkungen über den österreichischen Envours eines Strafgesetze» u. s. w. 27

es als unanwendbar anerkannt ist. Überhaupt aber scheint es mir bedenklich, das eigentliche Hauptstrafmittel zugleich als Disziplinarstrafmittel aufzustellen. Im § 50 Abs. 2 ist die längste Dauer von Arrest und Ein­ schließung auf zwei Jahre festgesetzt. Im § 222 wird aber die qualifizirte fahrlässige Brandstiftung mit zwei bis vier Jahren Ein­ schließung bedroht, im § 232 ebenso die fahrlässige Tötung mehrerer Menschen. Nachdem man sich auf den Antrag des Referenten hin entschieden hatte, dem Sträfling unter gewisien Voraussetzungen die bedingte Freilasiung gesetzlich in Aussicht zu stellen, wäre es gewiß konsequenter gewesen, dieses Institut mit dem Referentenentwurfe als Rechtsinstitut zu behandeln. Die Form, die es im Ministerialentwurfe erhalten hat, ist eine Halbheit (eine Begnadigung, die durch das Gesetz in Aussicht gestellt wird und deren Suspensiv- und Resolutivbedingungen gesetzlich fixirt sind), welche ihre Erklärung, wie mir scheint, nur in dem Mißtrauen einiger Kommissionsmitglieder gegen den Wert des Instituts überhmlpt findet. Nach § 53 soll im Falle des Widerrufes der ganze bedingt erlassen gewesene Strafrest ohne Rücksicht auf die Zeit, welche der Betreffende in der Stellung unter polizeiliche Aufsicht verbracht hat, verbüßt werden. Hat nun diese letztere mehrere Jahre gedauert, so ergiebt sich hieraus eine mehrjährige Verlängerung der Freiheits­ beschränkung (denn die polizeiliche Aufficht involvirt doch eine solche), welche ihre Rechtfertigung in dem bezw. „schlechten Betragen" des Delinquenten oder in einer Übertretung der im § 60 für ihn begründeten Verpflichtung finden muß. Jedenfalls aber dürste damit das Maß einer gerechtfertigten Disziplinarstrafe wegen schlechten Betragens überschritten sein. Auch in Betteff des § 66 als Folge der Verurteilung zur Todes- oder Zuchthausstrafe festgestellten Adelsverlustes ist dem in der Minorität gebliebenen Referenten beizustimmen. Die Ehren­ vorrechte, welche die Gesellschaft dem Adel einzuräumen pflegt und auf welche die M.-Motive das entscheidende Gewicht legen, sind durch die Staatsgewalt nicht gewährleistet, und es ist daher kein Widerspruch vorhanden, wenn der Staat ebenso wie die Gewährung, so die Versagung derselben dem Unwürdigen gegenüber der Gesell­ schaft überläßt.

28

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetze- u. s. w.

III. Allgemeine Bemerkungen über die Entwurfs.

Strafmaße des

Der Entwurf huldigt dem Prinzip der relativ unbestimmten Strafsätze, macht jedoch eine Ausnahme bei der Androhung der Todesstrafe so wie der lebenslänglichen Zuchthaus- bezw. Gefängnis­ strafe. Hinsichtlich der letzteren greift indes das weitgehende Mildemngsrecht des 8 91 Platz; daher nur die Todesstrafe völlig bedingungslos gedroht ist. Im Referentenentwurfe fand sich diese Anomalie nicht. Als rationell können derartige an die Strafart anknüpfende Beschränkungen des richterlichen Strafausmessungsrechtes nicht anerkannt werden. Sie stehen als nicht weiter zu motivirende Konzessionen an die Über­ lieferung da. Vielleicht befürchtete man bezüglich der Todesstrafe, daß die richterliche Strafänderungsbefugnis in ihrer Anwendung hierauf zu einer indirekten Beseitigung derselben mißbraucht werden könne? Daß in der Ausdehnung des Milderungsrechtes auf die Todesstrafe ein Eingriff in das Begnadigungsrecht liege, könnte nur von demjenigen behauptet werden, der das Recht, den Modifikationen der Schuld bei der Bestimmung der Strafe gerecht zu werden, mit dem Begnadigungsrecht verwechselt. Die relativ bestimmten Strafsätze des Entwurfes lassen dem richterlichen Ermessen im allgemeinen einen weiten Spielraum, und es möchten auch die Minimalsätze hierbei vielfach richtig getroffen sein. Doch ist hier ein Unterschied zu machen zwischen den für die gewöhn­ lichen Verbrechensformen und den für die qualifizirten Fälle aufgestellten. Hinsichtlich der ersteren werden sich Härten nur in ver­ hältnismäßig wenigen Fällen nachweisen lassen. Unter anderem in Betreff der Minimalsätze für gewisse politische Verbrechen (§§ 119, 105 Abs. 2), für den Raub (§ 256, a). Anders, was die letzt­ erwähnten Straffätze angeht. Die Art, wie dieselben normirt sind, wird, wenn adoptirt, eine allzu häufige Anwendung des AushilfSparagraphs (91) notwendig machen. Als geringster Straffatz für die qualifizirten Fälle wird nämlich regelmäßig der für die gewöhnlichen Fälle, bezw. der für die vorausgehende Qualifikationsstufe aufgestellte höchste Straffatz eingeführt. So z. B. tritt der für den nicht aus­ gezeichneten Toffchlag aufgestellte Maximalsatz von zwölf Jahren

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. s. w.

29

Zuchthaus als Minimalsatz für den an Verwandten der auf- oder absteigenden Linie, bezw. an Ehegatten begangenen Totschlag (§ 228 mit § 225 d) auf; so der Maximalsatz für den ordinären Raub als Minimalsatz für den auf offener Landstraße begangenen Raub (§ 256 a, b) u. s. w. Auf diese Weise wird dem System der Straf­ drohungen eine gewisse Durchsichtigkeit und leichte Übersichtlichkeit gewonnen. Allein sie entspricht der Natur der Sache entschieden nicht. Die meisten Qualifikationen, um deren Würdigung es sich hierbei handelt, erscheinen nicht derart als feste Größen» daß sie einen solchen Sprung in der Strafenstala motivirten. Vielmehr bieten ihre Erscheinungen eine Stufenfolge dar, deren unterstes Glied in seiner Bedeutung dem Nullpunkte nahesteht und eine besondere Berücksichtigung im Straffatze nicht fordert. Daher hier in der Regel zwar ein höherer Maximalsatz, nicht aber ein höherer Minimal­ satz als gerechtfertigt erscheint. Am wenigsten ist das dem Entwürfe charakteristische Aufsteigen mit dem letzteren bis zum sonstigen Höchstausmaße zu begründen. Dadurch wird die Modalität, der meist nur unter gewissen Voraussetzungen eine wesentliche Bedeutung beiwohnt, geradezu zur Hauptsache gemacht. So wird die Verbreitung von für einen Dritten kompromittirenden falschen Nachrichten im Allgemeinen mit einer bis vier Wochen Einschließung bestraft, im Falle sie aber durch ein Druckwerk begangen wird, mit einem bis vier Monaten (§ 206 c, 210). Minimum und Maximum erscheinen hier vier Mal höher, so daß also im allgemeinen drei Viertel der zu verhängenden Strafe auf die Modalität zu beziehen wären, trotzdem daß derselben keineswegs für alle Fälle eine erschwerende Bedeutung zukommt. Es kann vielmehr eine mündliche Mitteilung betreffender Nachrichten, z. B. an eine versammelte Menge, möglicher­ weise eine größere Verbreitung derselben herbeiführen und damit die Verletzung als eine schwerere erscheinen kaffen als eine Mitteilung durch die Presse (z. B. im Inseratenteil eines am betreffenden Orte wenig gelesenen Blattes). Erwähnt mögen noch werden als auffallende Beispiele zu der in Frage stehenden Bestimmungsweise des Minimal­ satzes: Das Minimum, welches für die an ehelichen Kindern begangene Kindestötung gedroht ist, (12 Jahre Zuchthaus), und das für die qualifizirte widerrechtliche Gefangenschaft gedrohte. Ein kasuelles Moment soll bei der letzteren den sonstigen Maximalsatz (1 Jahr Zuchthaus) zum Minimalsatze werden laffen (§ 253 a, b).

30

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetzes u. f. n>.

Eine Berufung auf das außerordentliche Milderungsrecht des 8 91 würde dieser methodisch durchgeführten Normirung der Minimal fätze gegenüber natürlich nicht am Platze fein. Übrigens ist auch dieses außerordentliche Milderungsrecht durch Minimalsätze beschränkt, von denen es bezweifelt werden kann, daß sie begründet seien. Davon im Folgenden (Nr. 11). IV. Allgemeine Bemerkungen über die Ökonomie des Ent­ wurfes und die Stellung desselben zur Rechtsprechung durch Geschworene. Der Entwurf verzichtet darauf, und ohne Zweifel mit Recht, zugleich Funktionen eines Lehrbuches durchführen und dem Richter selbst alle für ihn nötigen strafrechtswissenschaftlichen Kenntnisse mit« teilen zu wollen. Es wird dies allezeit unthunlich bleiben, und ein dahin zielender Versuch würde neben anderen seit lange konstatirten Unzuträglichkeiten auch diese mit sich führen, ein Jgnoriren der Wissenschaft seitens der Praxis und eine mechanisch-formalistische Gesetzanwendung zu begünstigen. Wenn aber die Haltung des Entwurfes in diesen Beziehungen im ganzen und großen Lob verdient, so ist doch im einzelnen mehrfach ein Festhalten bestimmter Gesichtspunkte und die wünschenswerte Gleichmäßigkeit zu vermissen. Einerseits nämlich ist die Zurückhaltung, die sich der Gesetz­ geber darin auflegt, hier und da eine übertriebene; andererseits finden sich gelegentlich Exkurse von theoretisirendem Charakter, welche füglich weggelassen werden könnten. In ersterer Hinsicht kann auf die Behand­ lung der Strafausschließungs- und Milderungsgründe hingewiesen werden. Dieselbe steht in entschiedenem Gegensatze zu der Behandlung, welche den Qualifikationen der einzelnen Delikte, wie z. B. denen des Diebstahls, zu teil wird. Auffallend ist auch, daß der Notstand, während er als Strafausschließungsgrund inter ceteros abgethan wird, unter den Strasausmessungsgründen eine spezielle Berücksichtig­ ung findet. In der anderen Hinsicht kann die Ausführung über den Kausal­ zusammenhang im § 224 als Beispiel gelten. Es ist das ein

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetze- u. s. w.

31

Exkurs, der nicht mit mehr Recht an der betreffenden Stelle steht, wie es mit etwaigen Ausführungen über den Vorsatz, die Zurechnungssähigkeit u. a. der Fall sein würde. Eine Bestimmung doktrinären Charakters haben wir ferner im § 74. Auch die sich mehrfach findenden Abstraktionen zu den Bestimmungen des speziellen Teils oder auch des allgemeinen Teils gehören hierher. Bergt, insbesondere die §§ 76 und 77, auch § 92. Auch die §§11 und 12 sind in gewissem Sinne hier anzuziehen. Bon den meisten dieser Paragraphen wird im Folgenden speziell gehandelt werden. Wichtig ist in der besprochenen Rücksicht natürlich der Umstand, ob das projektirte Gesetz seine Anwendung durch gelehrte oder durch ungelehrte Richter finden soll. Wie die Dinge liegen, wird wohl das Letztere vorausgesetzt werdm dürfen. Dieser Eventualität ist im Referentenentwurfe entschiedener als im Ministerialentwurfe Rechnung getragen. Der Punkt ist aber ein sehr wichtiger, und man wird bei dm bevorstehmdm Prüfungen des Entwurfes in dieser Rücksicht eine bestimmte Position zu nehmen haben. An dieser Stelle will von der bezeichneten Voraussetzung aus auf Folgendes aufmerksam gemacht werden. Eine prinzipmäßige Teilung der Funktionen zwischen gelehrten Richtern und Geschwornen involvirt, daß dem Urteil der letzteren nicht nur die Anwendung der besonderen Berbrechensbegriffe, sondern auch diejenige der auf den allgemeinen Berbrechensthatbestand bezüg­ lichen Begriffe (des Versuches, der ausgeschlossene» Zurechnungsfähig­ keit u. s. w.) übertragen werde; so wie ferner, daß auch die im Gesetze bezeichneten Qualifikationen der einzelnm Verbrechensarten in das Bereich der an sie zu richtenden Fragen zu ziehen seien. Diese Fragen aber sollen in möglichst engem Anschlüsse an die Worte des Gesetzes formulirt werden können. Damit ist dem Gesetzgeber einer­ seits aufgelegt, bei seinen Begriffsbestimmuingen eine gewisse Voll­ ständigkeit anzustreben, andererseits hierbei vag und allgemein gehaltene Bestimmungen möglichst zu vermeiden. Dagegen verstößt es u. a., wenn der Notstand unter den Straf­ ausschließungsgründen keine ausdrückliche Erwähnung findet. Abgesehen davon, daß die in den M. Motiven geforderte Subsumtion desselben unter die Zustände der gänzlich mangelnden Freiheit der Willens­ bestimmungen korrekter Weise nicht möglich ist, wovon im Folgenden ;u handeln sein wird (§ 8), unterliegt es nt. E. entschiedenen Bedenken,

32

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines StrasgeiegeS u. f. ro.

die Frage an die Geschwornen betreffenden Falles auf den unklaren Begriff der „gänzlich" mangelnden Willensfreiheit zu richten. Ebenso möchten Begriffe wie der der „schweren" Körperverletzung (§ 233), deS „tückischen" Mordes (§ 225), der „entfernten" Gehilfschaft (§ 77, c) u. s. ro., wobei keine Andeutung darüber gegeben ist, was unter schwer, tückisch, entfernt verstanden ist, so wie Bestimmungen gleich derjenigen des § 253, b sich wenig dazu eignen, der Frage­ stellung zum Anhalte zu dienen. — Auch der unbestimmte Milderungsgrund des § 91 unterliegt in der fraglichen Rücksicht, wie mir scheint, begründeten Bedenken (S. unter Nr. 11). V. Zur systemmäßigen Gliederung des allgemeinen Teiles. Die Gliedemng des allgemeinen Teiles scheint mir nicht durch­ weg eine glückliche zu sein. Gegen die Weise wenigstens, wie in den Titeln III und V die Materien einerseits geteilt, andererseits zu­ sammengezogen sind, möchten sich verschiedene Einwendungen machen lassen. Die mit dem subjektiven Thatbestände zusammenhängenden Strafausschließungs-, Strafmilderungs- und Strafminderungsgründe sind ihrem Wesen nach identisch. Sie behaupten nur, der verschiedenen Potenzirung entsprechend, in welcher die betreffenden Momente auf­ treten können, einen verschiedenen Einfluß auf die Bestrafung. Dem­ gemäß tritt im Entwürfe die Jugend sowohl als Strafausschließungs­ grund (§ 17), wie als Milderungsgrund (§ 85) und als Minderungs­ grund (§ 77, i) auf. Bgl. im Übrigen den § 13 mit dem § 77, d u. h. Es ist nun gewiß unnatürlich, daß diese also identischen Dinge vom Entwürfe, so wie es der Fall ist, auseinander gerissen werden. Es kann dies in dieser schwierigm Materie die Orientirung nicht erleichtern. In allen jenen Stufen berühren die fraglichen Momente gleichmäßig sowohl die Schuld-, wie die Straffrage. Der Entwurf aber behandelt dieselben, je nach der Gradation, in der sie auftreten, bald unter der Rubrik von der Zurechnung zur Schuld, bald unter der von der Zuerkennung der Strafe und schiebt zwischen beide Rubriken überdies den ausgedehnten Abschnitt von den Strafen. Andererseits sind im dritten Titel eine Reihe von Materien zusammengedrängt, welche nicht wesentlich zusammengehören und welche

Bemerkungen über den österreichische» Entwurf eines Strafgesetzes tLf.to.

33

sich in allen übrigen deutschen Strafgesetzbüchern auseinander gehalten finden. Was haben die Bestimmungen über die Zusammenrechnung der Beträge mehrerer Diebstähle oder Betrügereien mit denjenigen über die Voraussetzungen der Zurechenbarkeit zu thun? Weßhalb nicht den Bestimmungen über den Berbrechensversuch und denjenigen über die Teilnahme eine selbstständige Stellung einräumen? Ich halte diese Sparsamkeit in Betreff der Titel und Überschriften im allgemeinen Teile nicht für motivirt. Vielmehr scheint mir eine größere Glieder­ ung der Materie gerade hier sachentsprechend, soll anders auch dem Laien eine leichte Orientirung und eine klare Auffassung der Grund­ verhältnisse, mit welchen es die Strafgesetzgebung zu thun hat, ermöglicht werdm. — Im Zusammenhang mit den besprochenen Umständen steht es, daß die Überschrift des 3. Titels ihren Gegen­ stand nicht deckt, ja, daß es ungewiß wird, welcher Begriff mit derselben zu verbinden sei. Die §§ 11 bis 14 weisen darauf hin, daß es sich bei der „Zurechnung zur Schuld" um die Zurückführung des äußeren verletzenden Vorganges auf den Willm eines zurech­ nungsfähigen Individuums handle. Allein ist bei der Überschrift an diesen Begriff gedacht, so gehören die Bestimmungen über Konkurrenz und vieles andere offenbar nicht in die Rubrik. Die fraglichen Ver­ hältnisse kommen nur darin überein, daß sie bei der Frage, ob und in welchem Umfange gestraft werden soll, in Betracht zu ziehen sind. Verbinden wir aber mit der Titelrubrik einen solchen weiteren Begriff, so gehören die meisten Bestimmungen des 5. Titels, in erster Linie die der §§ 74, 75, 76, 77 und 90, hierher. Jedenfalls aber zeigt die fragliche Überschrift dem Laien nicht deutlich an, über was er in dem fraglichen Titel Belehrung zu erwarten hat. M. E. würde etwa folgende, der in den deutschen Strafgesetzen hergebrachten Ordnung sich anschließende Gliederung des allgemeinen Teiles mehr zu empfehlen sein: I. Von strafbaren Handlungen. II. Von den diesem Strafgesetze unterworfenen Personen. III. Von den Strafen (der Verbrechen und Vergehen). IV. Bon Vorsatz und Fahrlässigkeit. V. Von den Verhältnissen, welche die Strafbarkeit ausschließen oder beschränken. VI. Vom Verbrechensversuch. VII. Bon verschiedenen Arten der Teilnahme.

34 Brmerkungkn über den Sfterrrichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w. VIII. Bom Zusammentreffen mehrerer Berbrechen (Rechtsver­ letzungen^. IX. Vom Rückfall. X. Von der Erlöschung der Strafe. Zu I. Gelegentlich sei hier bemerkt, daß der im tz 1 aufgestellte Grundsatz eigentlich in dem nur die Verbrechen und Bergehm be­ treffenden Gesetze seine richtige Stelle nicht hat. Er würde in die Berfaffungsurkunde aufzunehmen sein. Zu III. Der Titel von den ©trafen geht nt. E. richtiger voran, weil er sonst zusammenhängende Materien, wie es im Entwürfe der Fall ist, zerreißt. Zu VI und VII. Hierüber s. Nr. 9 und 10 unten. Das Kapitel von der Zumessung der Strafe würde als ein selbstständiges verschivinden. Siehe hierüber Nr. 10. VI. Über die Zurechnung bei Verbrechen und Vergehen. Der M.-Entwurf unterläßt es, Begriffsbestimmungen von Dolus und Culpa zu geben, und es will die Triftigkeit der hierfür bei­ gebrachten Gründe hier nicht bestritten werden. Weniger mottvirt aber als diese Auslassungen möchte das sein» was der M.-Entwurf in Betreff dieser Begriffe von Bestimmungen enthält, und es möchten insbesondere die entsprechenden Paragraphen des Referentenentwurfs durch die Zusätze und Modifikationen, welche sie in jenem erhalten haben, nicht verbessert worden sein. Der § 1 besagt zunächst, daß die Kategorie der Verbrechen nur vorsätzliche Rechtsverletzungen begreife. Dies ist eine Abstraktton zu den einschlagenden Bestimmungen des speziellen Teils, worüber Nr. 5 verglichen werden mag. Ob sie völlig korrekt sei, davon sogleich. Aber was ist der weitere Inhalt btd § 2? Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als wolle eine allgemeine Vermutung dafür auf­ gestellt werden, daß in Bezug auf sämtliche Elemente der einzelnen Berbrechensbegriffe Vorsatz gefordert sei, eine Vermutung» welche nur der ausdrücklichen Berfitgung des Gegenteils weichen solle. Allein wäre dies die Meinung gewesen, so hätte man es sicherlich bestimmter ausgedrückt und vor allem das Wörtchen „ausdrücklich" nicht ver­ mieden. Ist dies aber nicht die Meinung gewesen, so ist der Sinn

Bemerkungen über den Ssterrrichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

35

des Satzes der: In Bezug auf die Frage, ob alles, was zum That­ bestand« eines „Verbrechens" gehört, von dem Verbrecher beabsichtigt sein müsse, gilt, was nach den Begriffsbestimmungen des speziellen Teils darüber gelten soll — d. h. es ist nichts damit gesagt. — Behält man daher den Paragraph bei (was selbstverständlich nur der Fall sein kann, roemt man die Einteilung der Rechtsverletzungen in Verbrechen und Vergehen festhält), so wird es richtiger sein, zu der einfachen Faffung des § 15 des Restrentenentwurfs, die den zuerst hervorgehobenen Gedanken bestimmt genug wiedergiebt, zurückzukehren. Um eine Bestimmung von praktischem Charakter aber handelt es sich, wie schon erwähnt, hierbei nicht. Übrigens ist im speziellen Teile mehrfach in Bezug aus sehr wesent­ liche Bestandteile eines Verbrechensthatbestandes von dem Erfordernis des Vorsatzes Umgang genommen. So bei der Körperverletzung in Bezug auf dasjenige Moment, von welchem die Berbrechensqualität selber abhängt. Entscheidend soll hiefür nämlich der Umstand sein, ob die zugefügte Gesundheitsstörung eine „schwere" sei. Es ist aber nicht gefordert, daß der Vorsatz gerade auf eine schwere Störung ge­ richtet gewesen sei. Im § 218, b ist von dem fraglichen Erfordernis sogar in Bezug auf dasjenige Moment, von welchem die rechtsverletzende Qualität der Handlung abhängt, nämlich in Bezug auf die Gefährdung fremden Eigentums oder freinden Lebens abgesehen. Es ist hier nur gefordert, daß der Betreffende diese Gefahr erkennen „mußte". Bei dem Verbrechen der schweren körperlichen Beschädigung des § 240 endlich haben wir es überhaupt nur mit einer fiktiven Zurechnung zu thun. Es ist daher nicht vollkommen begründet, wenn der Zusammenhang des Berbrechensbegriffes mit dem des Vorsatzes so sehr urgirt wird. Bedenklicher als die Abweichung vom Referentenentwurs im § 11 ist die im tz 12. Im ersteren Entwürfe ist nur zur Charakterisirung der Kategorie der Vergehen gesagt, daß dieselbe auch fahrlässige Hand­ lungen begreife (Nr. 5.) Im § 12 des M.-Entwurfs dagegen scheint eine allgemeine Vermutung dafür aufgestellt zu sein, daß bei den als Ver­ gehen bezeichnetm Rechtsverletzungen Vorsatz nicht vorausgesetzt werde. Oder wollte auch hier nur gesagt sein, daß in Betreff der Fahrlässig­ keit gelte, was nach den gesetzlichen Begriffsbestimmungen darüber gelten soll? In diesen» letzteren Falle gilt auch in Betreff dieses Paragraphen das über den § 11 Gesagte. Ist aber das Erstere der

36

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eineS Strafgesetzes u.s.w.

Fall, so ist gegen den Inhalt des Paragraphen Verwahrung einzulegen. Er würde, zum Gesetz erhoben, zahlreiche Kontroversen hervorbringen, und in mehreren Richtungen eine gänzlich unmotivirte Ausdehnung des strafrechtlichen Gebietes zur Folge haben. Dabei liegt es auf der Hand, daß eine derartige Bestimmung in Betreff der schweren Ver­ letzungen, an

welche man

bei dem Worte „Verbrechen"

denkt, eher

zu begründen wäre, als in Betreff der leichteren, an welche bei dem Worte „Vergehen" gedacht werden soll. Die fragliche Auslegung des Paragraphen würde z. B. zur Annahme einer gegen den Kaiser be­ gangenen kulposen Ehrfurchtsverletzung (§ 105,2. Abs.) führen, währmd von

einem kulposen Hochverrate nicht

geredet

werden

könnte.

Es

wäre dies aber offenbar ein geradezu unsinniges Verhältnis, wenn die schwerere Verletzung, die zum Begriff des Hochverrats gehört, nur als vorsätzlich zugefügte, die leichtere dagegen auch als fahrlässig zugefügte zugerechnet werden würde. Jedenfalls sind diese Paragraphen aus das gemeine Verständnis nicht berechnet.

Auch ist die Fassung des § 12 sprachlich bedenklich.

Nach dem Wortgefüge ist man versucht, das „von demselben" auf den „Vorsatz" zu beziehen.

VII. Über die Ausschließung der Zurechnung. In Betreff der Fassung des § 13 ist zu bemerken, daß das Wort „gänzlich"

derselben

zu

keiner

größeren

Bestimmtheit

verhilft

und

richtiger wegbleiben würde. Der

Entwurf

erwähnt

unter

den Strafausschließungsgründen,

wie schon erwähnt, den Notstand nicht.

Nach den Motiven zum

M.-Entwurf wollte damit diesem Grunde der Nichtzurechnung die An­ erkennung nicht versagt sein.

Vielmehr dachte man, daß der Richter

keinen Anstand nehmen werde, betreffende Fälle unter § 13 zu subsumiren, also den Notstand als einen Ausschließungsgrund der Freiheit des Willens zu behandeln (M.-Motive S. 20). Dem ist entgegenzusetzen: 1. In Wahrheit ist der Notstand unter § sumiren.

13 nicht zu sub-

Ohne eine Enffcheidung der in der Doktrin noch unausge-

tragenen Kontroversen der Lehre vom Notstände zu antizipiren, können wir sagen, daß der Notstand an sich die Zurechnungsfähigkeit nicht

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetze- u.s.w.

37

ausschließe und seine Bedeutung als Strafausschließungsgrund nicht von einem im einzelnen Falle vielleicht nachweisbaren Einfluß auf die Zurechnungsfähigkeit des Handelnden ableite.

Wer mit klarem Be­

wußtsein und völliger Besonnenheit das Mittel wählt, das bei einer Gefahr für das Leben seiner Angehörigen allein Rettung bringen kann, von dem läßt sich nicht sagen, daß seine Zurechnungsfähigkeit aufge­ hoben oder selbst nur modifizirt sei. Trotzdem ist hier weder die Thatsache des Notstandes, noch die rechtliche Bedeutung dieser Thatsache in Frage zu stellen.

Auch treten

die M.-Motive dieser Auffassung nicht entgegen; behaupten aber, daß sich ein Argument gegen die Anwendbarkeit des § 13 auf den Not­ stand hieraus deshalb nicht ergebe,

weil in diesem Paragraph von

Zurechnungsfähigkeit nicht die Rede sei.

Allein indem sie einerseits

anerkennen, daß der Notstand die Zurechnungsfähigkeit nicht ausschließe, andererseits mit der Subsumtion desselben unter § 13 die Meinung aufstellen, daß beim Notstand

„die Freiheit der Willensbestimmung

gänzlich mangle", statuiren sie eine Zurechnungsfähigkeit bei gänzlich aufgehobener Willenssieiheit, d. i., wenn wir uns an den gewöhnlichm Sinn der Worte halten, einen absoluten Widerspruch. 2. Trotzdem ist es möglich, ja wahrscheinlich, daß sich die Praxis vorkommenden Falls zu helfen wissen würde, in ähnlicher Weise, wie dies anderswo geschehen ist.

Nämlich

— ein Anderes ist unmöglich

— durch eine sophistische Auslegung des in Frage stehenden oder eines anderen Paragraphen.

Es ist aber sicherlich nicht rationell, den

Richter durch die Fassung des

Gesetzes

zu

sophistischer Auslegung

geradezu zu veranlassen. 3. Wenn

in

den M.-Motiven

die Befürchtung

ausgesprochen

wird, daß eine besondere Erwähnung des Notstandes eine laxe Gesetzes­ anwendung zur Folge haben möge, so ist eine solche Gefahr einfach damit zu beseitigen, daß man nach dem Vorgang anderer Strafgesetze die Grenzen bestimmt, innerhalb welcher der Notstand als Strafaus­ schließungsgrund gelten soll. Dagegen begründet sich umgekehrt in der Weglaffung bezüglicher Normen die Gefahr einer laxen Anwendung des Freiheitsbegriffes; insofern nämlich die Praxis hierdurch veranlaßt wird, den fraglichen Begriff so auszuweiten, daß der Notstand als Ausschließung-grund der Freiheit betrachtet werden kann. 4. Damit aber würde, und dies dürste das wichtigste Moment sein, für die Entscheidung der in Betreff des Notstandes sich ergebenden

38

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetzes u. f. w.

Detailfragen geradezu ein falscher Gesichtspunkt adoptirt sein. So nehmen wir z. B. cm, daß im Falle der Existenz besonderer RechtSpflichtm zum Bestehen betreffender Gefahren die durch dieselben begründete Notlage nicht mehr als Strafausschließungsgrund gelten könne. Sonst würde auch der Soldat, der, um fein Leben zu sichern, zum Verräter wird, von diesem Strafausschließungsgründe profitiren. Wenn wir aber davon ausgehen» daß beim Notstand die Willens­ freiheit ausgeschloffen sei, so können wir solchen besonderen Pflichtverhältniffen konsequenter Weise nicht Rechnung tragen. Denn es wäre ungereimt, zu sagen, daß ein besonderes PfiichtverhältniS die Willens­ freiheit ersetze.

VIII. Über die Behandlung des Gehilfen. Die Behandlung des Gehilfen im § 18 f. zeigt manche Vorzüge. Dieselben verlieren jedoch zum Teile ihre Bedeutung durch die Grund­ sätze, welche der Entivurf im 5. Titel und bezw. im speziellen Teile aufstellt. Hiernach nämlich ist der Gehilfe in Bezug auf die Strafbarkeit im allgemeinen dem Thäter gleichgestellt. Damit aber ist der allge­ meinen Unterscheidung des 8 18 in der Hauptsache der praktische Wert genommen. An die Stelle dieser Unterscheidung tritt in praktischer Beziehung eine andere, nämlich die zwischen dem „Hauptschuldigen" und den „entfernten" Gehilfen (§ 77, c, § 226, 228), für welche sich aber allgemeine Merkmale nicht aufgestellt finden. Ob nun diese Substitution, von welcher sich im Referentenentwurfe nichts findet, eine glückliche sei, darf füglich bezweifelt werden. Für die allgemeine Unterscheidung zwischen Gehilfen und Thätern lassen sich prinzipielle Merkmale auffinden. Jedenfalls ist dieselbe als eine prinzipiell bedeutsame weithin anerkannt. Wenn das Gesetz ihr im Sinne des Ref.-Entwurfs eine durchgreifende Bedeutung beilegte, so würde es die Autorität der deutschen Mffenschaft und der Gesetzgebung der meisten deutschen Länder für sich haben. Mit der im M.-Entwurf an ihre Stelle gesetzten Unterscheidung ist dies alles anders. Sie hat keine prinzipielle Natur und läßt überall keine bestimmte Grenzziehung zu. Auch wird es schwerlich irgendeine Autorität stir sich haben, mit

Bemerkungen über

den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w. 39

dem vagen Merkmal der Entfernung die praktische Trennungslinie zwischen den verschiedenen Arten der Teilnahme zu verbinden! Zwar macht der § 77, c hier geringe Bedenken; größere aber die Stelle, welche die fragliche Unterscheidung im 19. Titel spielt. Hier finden sich nämlich besondere Strafrahmen für die entfernten Ge­ hilfen gegenüber von den Hauptschuldigen aufgestellt, und es ist von der Auslegung des fraglichen Begriffes der Entfernung u. a. abhängig gemacht, ob Todesstrafe oder zeitliche Zuchthausstrafe zur Anwendung kommm (§ 226), bezw. ob 12 jähriges Zuchthaus als Maximalsatz oder als Minimalsatz der angedrohten Strafe (§ 227) betrachtet werden solle. Ein Mißstand ist es auch, daß die Subsumtion der Handlung unter den Begriff des Gehilfen im § 18, eine Subsumtion, welcher keine unmittelbare praktische Bedeutung zukommt, den Geschwornen, die Anwendung des praktischen Begriffes der entfernten Gehilfenschaft (8 77, c) im allgemeinen dem gelehrten Richter zufallen würde, was jedenfalls eine eigentümliche Arbeitsteilung wäre. Abstrahiren wir indes von diesem Punkte und prüfen wir die Behandlung, die dem (entfernten) Gehilfen im übrigen seitens des Entwurfes zu teil wird. Der Referent hatte beanttagt, grundsätzlich festzustellen, daß die bloße Gehilfenschaft bei einer strafbaren Handlung allgemein geringer zu ahnden sei, als die Thäterschaft. Nach meiner Auffassung mit bestem Rechte. Die Gründe hierfür bedürfen an dieser Stelle keiner Entwickelung. Es ist nicht aus Unbekanntschaft mit dem Verdikt der Wissenschaft in diesem Punkt geschehen, daß die Kommission den ent­ gegengesetzten Grundsatz accepütt hat. Auch bedarf es der Stoffen jener zur Bekämpfung des von der letzteren eingenommenen Standpunttes nicht, da uns der M.-Entwurf solche Waffen selbst zur Genüge an die Hand giebt. In den Motiven zum M.-Entwurf ist ausgeführt, daß. die Schuld des Gehilfen keineswegs regelmäßig geringer fei als die des Thäter-; daß vielmehr die Beteiligung deffelben an der That objekttv eben so wichtig und subjektiv eben so verwerflich sein könne, wie die des Haupt­ schuldigen (M.-Motive, S. 24). Abgesehen nun davon, daß es auf einen einfachen Widerspruch hinausläuft, den Gehilftn die „Haupt­ schuldigen" oder „Hauptthäter" gegenüberzustellen und dann von ihnen zu behaupten, daß ihre Thättgkeit im allgemeinen mit derjmigen

40

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

der letzteren gleichbedeutsam sei, kann diese Behauptung nicht im all­ gemeinen richtig sein, ohne es auch sür die schwersten Verbrechen, Mord unb Totschlag, zu sein. Diesen Verbrechen gegenüber machte sich aber, wie es scheint, das Gefühl von der Unwahrheit des aufgestellten Grundsatzes unwillkürlich und mit aller Entschiedenheit geltend. Wenigstens wüßte ich keine andere Erklärung dafür, daß der fragliche Unterschied hier plötzlich als ein solcher von durchgreifender, prinzipieller Bedeutung behandelt wird. Übrigens ist auf die fragliche Unterscheidung auch bei den Minderungsgründen in der besprochenen Weise Bezug genommen. Man hat daher nicht umhin gekonnt, der richtigen Auffassung verschiedentlich, wenn auch in zaghafter und inkonsequenter Weise Rechnung zu tragen. Gewiß aber wäre einer solchen Haltung die vom Referenten empfohlene vorzuziehen gewesen. Sie hat vor der letzteren nichts voraus als die Inkonsequenz. Wenn beim Raube eine dem Gehilfen nicht zurechenbare Tötung des Beraubten vorkommt, so würde es gewiß unbillig sein, das höhere Strafmaß des § 256, c auf ihn zur Anwendung zu bringen. Es würde dies auch dem im § 14 aufgestellten Grundsätze widersprechen. Vielleicht aber wäre es richtig, der allgemein lautenden Regel des § 19 gegenüber auf derartige Fälle ausdrücklich hinzuweisen, etwa indem man hinter den Worten „zu beurteilende Zurechnung" folgen ließe: „der That überhaupt oder einzelner Bestandteile derselben handelt". IX. Die Behandlung des Verbrechensversuches. Dem Versuch wird im M.-Entwurfe (in gleichem Gegensatze zum Referentenentwurfe) eine ähnliche Behandlung zu teil wie der Bei­ hilfe, und es gilt demgemäß das in Betreff der letzteren Bemerkte mehrenteils auch hier. Im § 23 ist die gleiche Behandlung von Versuch und Bollmdung als Regel aufgestellt; im § 77 b wird der Umstand, daß es beim Versuche geblieben, als allgemeiner Minderungs­ grund anerkannt und im speziellen Teile werden bei einzelnen Ver­ brechen besondere Strastahmen für den Versuch aufgestellt, wobei als Maximalsatz der für die vollendete That aufgestellte Minimalsatz ein­ geführt wird. Daß diese Behandlung-weise eine konsequente sei, wird niemand behaupten wollen. Im Gegenteile bewegen sich die fraglichen Bestimmungen in einander direkt entgegengesetzten Richtungen. Die

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w.

41

Regel des § 23 vertritt ein Extrem, die letzterwähnte Ausnahme das andere der hier möglichen Auffassungen. Während jene die Meinung zum Ausdruck bringt, daß der Versuch an sich und im allgemeinen nicht minder strafbar sei wie die vollendete That, repräsentirt die letztere im Gegensatze hierzu die gleich irrige und in den M.-Motiven ausdrücklich verworfene Meinung, daß ein versuchter Mord, eine ver­ suchte Brandstiftung u. s. w. niemals so strafbar sein könne wie ein (anderer) vollendeter Mord, eine vollendete Brandstiftung. Die Be­ stimmung des § 77 b endlich hält sich zwar in der Mitte zwischen beiden Exttemen, aber sicherlich nicht in der richtigen Weise. Wenn in den M.-Motiven geltend gemacht wird, daß der Richter, vermöge des ihm eingeräumten Spielraumes in Betteff des Strafinaßes, „nicht gehindert" sei, den Verschiedenheiten der Sttafbarkeit von Versuch und Vollendung gerecht zu werden, so ist damit, wie mir scheint, ein nicht korrekter Standpunkt eingenommen. Die legislative Aufgabe ist mit der „Nichthinderung" gerechter Urteile nicht erledigt, es handelt sich darum, Garantien für solche im Gesetze aufzustellen. Dazu gehört vor allem, daß der Gesetzgeber selbst den fundamentalen Prinzipien gegenüber bestimmte Position nehme. Hier handelt es sich nicht um die Entwirrung komplicirter Lehren, nicht um Definirung heiklicher Begriffe, sondern um ein einfaches „entweder — oder", um eine Anerkennung oder um eine Verwerfung der in der deutschen Wissenschaft und im deutschen Rechtsleben vorherrschenden Auffassung, wonach das vollendete Verbrechen grundsätzlich mit einer höheren Strafe zu belegen ist als der Versuch des gleichen Verbrechens. Statt dessen die eine Auffassung zu adopttren, zugleich aber dafür zu sorgen, daß für die entgegengesetzte Raum bleibe, in wichtigsten Fällen dann der letzteren selbst zu huldigen und endlich in den Motiven die Sache dem Richter ins Gewissen zu schieben, kann unmöglich korrett sein. Auf die Rubrizimng des Versuches unter die Ausmessungsgründe wird zurückzukonimen sein. Die Definition des Versuches im § 22 ist zum Teile schwerfällig und abstrakt. Der vorausgeschickte Satz: „Zu einem Verbrechen. . . vollbracht wurde" kann füglich gestrichen werden. Der erste, positive Teil der Definition („auch derjenigen" bis „desselben enthält") würde einfacher, etwa in dieser Weise, zu fassen sein: „Der Versuch eines Verbrechens oder Vergehens ist strafbar, sobald die Ausführung des darauf gerichteten Vorsatzes begonnen hat."

42

Bemerkungen

übet den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w.

Der im 8 22 gegebene Begriff ist im fptziellen Teile nicht zum Ruhme des Entwurfs mehrfach verleugnet worden. So bei einigen politischen Berbrechen, beim Duell, bei der Fälschung und Brand­ stiftung. Die Jnkonvenienzen, welche sich hieraus ergeben, werden in den Bemerkungen zum speziellen Teile zu erörtern sein. X. Bon den erschwerenden und mildernden Umständen. In Betreff der Strafausmessungsgründe, welchen im Entwurf eine bedeutende Stellung gegeben ist, sei es vergönnt, etwas weiter auszuholen. Die Frage, wonach in concreto die Strafe zugemessen iverden soll, ist keine spezielle Frage, mit welcher sich ein einzelner Paragraph oder ein einzelnes Kapitel zu besassen hätte, sondern sie macht mit der Frage, ivelche Handlungen als strasbar gelten sollen, den eigent­ lichen Gegenstand der Strafgesetzgebung aus. Ihre Beantwortung liegt in der Gesamtheit der Bestimmungen, welche die Merkmale einerseits des allgemeinen Thatbestandes, andererseits der besonderen Thatbestände der einzelnen Verbrechensarten und Verbrechensunterarten, sowie ihrer mannigfachen Qualifikationen und bezw. Abschwächungen betreffen. In je bedeutenderer Potenzirung diese Merkmale int ein­ zelnen Falle auftreten, desto strafbarer erscheint die That und resp. desto mehr vermindert sich ihre Strafbarkeit. Handelt es sich z. B. um die Ausmessung der Strafe für einen Diebstahl, so werden wir uns zunächst an die gesetzliche Begriffsbestimmung, sowie an die zahl­ reichen Spezialbestimmungen über diejenigen Umstände, welche als qualifizirend beim Diebstahle gelten sollen, zu halten haben. Die hierin aufgestellten Merkmale können in verschiedensten Steigerungen auftreten und motiviren es so, daß die betreffenden Straffätze nicht absolut be­ stimmt, sondern einer Stufenfolge von Erscheinungen angepaßt sind. Diesen besonderen für das Strafmaß bestimmenden Umständen aber treten diejenigen zur Seite, mit welchen sich der allgemeine Teil des Strafgesetzes in seinen Bestimmungen über die Zurechnung, über Ver­ such und Teilnahme, Rückfall u. s. f. beschäftigt. Die Frage nun ist, welche Bedeutung dem gegenüber einer besonderen Zusammenstellung der für das Strafmaß bestimmenden Momente im Gesetze zukommen könne. Nach der Fassung, ivelche die einschlagmden

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- GtrosgcsetzeS u.f.ro.

43

Paragraphen im Entwürfe wie im geltendm österreichischen Rechte und in mehreren anderen deutschen Strafgesetzen haben, scheint es sich um eine allgemeine Theorie zu der Gesamtheit der eben erwähnten, in allen Teilen deS Strafgesetzes zerstreuten StrafbestimmungSgründe zu handeln. Es ist aber die Frage, ob eine solche im Strafgesetze ihrm richtigen Platz habe, und weiterhin, ob sie, wie sie hier in der Regel auftritt, nicht ihre bedenklichen Schwächen habe. In ersterer Hinsicht ist die schon gemachte Bemerkung zu wieder­ holen, daß die Gesetzgebung dem Richter die für ihn wünschenswette theoretische Bildung nicht geben könne. (Nr. 5 oben.) Die allgemeinen Gesichtspunkte, welche es ihm ermöglichen, die Jntenttonen des Gesetz­ gebers richttg aufzufasien, seine Verfügungen zu verständiger Anwendung zu bringen und, soweit dies gestattet ist, etwaige Lücken aus dem Geiste des gegebenen Rechts heraus auszufüllen, muß ihm die vor­ bereitende theorttische Ausbildung gegeben haben. Schlimm für die Rechtspflege, wenn er es durch das Gesetz erfahren muß» daß er bei der Ausmesiung der gesetzlichen Strafe auf das Maß der Schuld und also auf die für dasselbe entscheidenden erschwerenden und mildernden Umständen Mcksicht zu nehmen hat (§ 74 des Entwurfs); wenn er den in den Spezialbestimmungen über den Diebstahl, die Körper­ verletzung u. s. f. aufgestellten Sttafmaßstab nicht zur Anwendung zu bringen vermag, ohne den ihm in den §§ 76 und 77 des Entwurfs gebotenen Leitfaden. In der zweiten Hinsicht ist auf folgendes aufmerksanl zu machen: 1. Die fraglichen Paragraphen enthalten in allen Gesetzen, in welchen sie sich finden, schiefe Verallgemeinerungen. Die bettesfenden Merkmale sind mehrfach von einzelnen Berbrechensarten oder Verbrechens­ fällen hergenommen und hier zu allgemein bedeutsamen ausgespreizt. Dies gilt z. B. vom § 77, e, des Entwurfs. Wenn jemand einen Anderen doloser Weise körperlich verletzt, kann eS als ein Milderungsgrund gelten, daß er ihn, wiewohl er die Macht dazu hatte, nicht ermordete? Oder wenn jemand einen Anderen eine Woche lang widerrechtlich eingesperrt hielt, — daß er es nicht noch länger fortsetzte? Ferner vom § 77, f. Wenn die Nachlässigkeit eines Hof­ besitzer- es einem Neider erleichtert, ihm das Haus über dem Kopf anzuzünden, soll darin ein mildernder Umstand liegen? Ferner int § 76, e. ES kann völlig indifferent sein, und zwar auch bei Bermögrnsverletzungen, ob ein Verbrechen sich in mehrere oder wenigere

44

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. s.w.

Teilakte zerlegt.

Niemand

fragt

beim Diebstahle,

mit

wie vielen

Griffen eine betreffende Summe weggenommen wurde, oder beim Ehe­ bruch, aus wie

Dielen

Teilakten derselbe bestanden habe.

lich ein Bandit durch die „Verheißung" (§ 77, d)

Wenn end­

einer bedeutenden

Geldsumme zur Verletzung eines Anderen verführt wird, soll er dies zu seinen Gunsten geltend machen können? 2. Andererseits werden sich diese Bestimmungen überall als un­ zulängliche, den Gegenstand nicht erschöpfende erweisen

lassen.

Sie

umfassen den Inhalt der übrigen Teile des Strafgesetzes nicht, ge­ schweige denn, daß sie dmselben, was man von ihnen erwarten möchte, allsestig ergänzten.

Eine solche Ergänzung würde nur mit der sorg­

fältigen Ausführung der dem Gesetze zu Grunde liegenden Strafrechts­ theorie zu gewinnen sein.

Derartige Ausführungen

aber sind,

und

nicht ohne Grund, aus unseren Gesetzen verbannt worden. Auch von den Aufzählungen des Entwurfs, so weitumfassend die einzelnen Nummern zum Teil auch sind, läßt sich die Lückenhaftigkeit leicht nachweisen.

So fehlt

z. B.

das

Moment der beleidigenden

Provokationen, welche bei der Injurie, bei der Körperverletzung, beim Duell eine Bedeutung in Anspruch nehmen; ferner das Moment der Einwilligung seitens des Verletzten in die verletzende Handlung, welche bei einer gewissen Anzahl von Delikten nicht als indifferent behandelt werden darf; der Umstand, daß der Wert der rechtswidrig entzogenen Sache sofort bei der That deponirt wurde; das Moment der größeren oder geringeren Öffentlichkeit bei beleidigenden Äußerungen

u. s. w.

Freilich ist es gewiß, daß diese Momente ihre richtige Stellung dem speziellen Zusammenhange haben würden, weisen.

in

auf welchen sie hin­

Aber dies gilt für diese strafmindernden und -erhöhenden Ber-

hältnisie überhaupt.

Sie stehen alle in Zusammenhang teils mit der

besonderen Natur der einzelnen Verbrechensarten,

teils mit den auf

den allgemeinen Thatbestand sich beziehenden Instituten und haben daher ihre Würdigung teils in den verschiedenen Kapiteln des speziellen Teiles, teils im allgemeinen Teile im Kapitel von den Verhältnissen, welche die Zurechenbarkeit der That ausschließen oder modistziren, in den Kapiteln vom Versuch und von der Teilnahme, in dem von der Verjährung u. s. w. zu finden.

Sind hier Lücken vorhanden, so sind

sie da auszufüllen, wo sie sich finden. 3. Indem wir statt dessen den Richter auf die fraglichen Para­ graphen Hinweisen, lenken wir seine Aufmerksamkeit von den wichtigsten

Bemerkungen über den Sverreichtschen Entwurf eines Strafgesetzes u. f.w.

45

Quellen der Strafausmessungsgründe, die wir in der besonderen Natur der einzelnen Verbrechensarten gegeben finden, ab und bieten ihm einen bequemen Anhalt, das schwierige und wichtige Geschäft der Straf­ ausmessung auf dem Wege eines Durchlaufens der fraglichen Register äußerlich abzuthun. 4. Andererseits begründet sich eine Gefahr teils in der vagen Fassung der fraglichen Bestimmungen, welche sich zum Teile mehr ivie Weisungen für den Gesetzgeber denn als solche für den Richter ausnehmen, teils darin, daß sie den Kreis der für die rechtliche Würdigung der That entscheidenden Momente mehrfach überschreiten. In letzterer Hinsicht weisen zwar die §§ 74 und 75 ausschließlich auf die in der konkreten That sich begründende rechtliche Schuld hin; allein die in den §§ 76 und 77 folgende Exemplifikation hält sich nicht an die. hiermit gezogene Grenze. So sind für das Maß der konkreten Schuld irrelevant: der unbescholtene Lebenswandel vor der That (§ 77, k), bezw. der früher bewiesene Hang zu ähnlichen Ver­ gehen (76, h), die Selbstanzeige und das reuige Bekenntnis (77 1), der Ablauf eines Teiles der Verjährungsfrist (77, m). Mögen diese Umstände auch an sich die Berücksichtigung verdienen, welche ihnen der Entwurf angedeihen läßt, so bleibt es bedmklich, daß letzteres gerade in diesem Zusammenhange geschieht. Da nämlich diese Aufzählungen bloß exemplifikativer Natur sind, so wird der Richter durch die Ein­ fügung der zuletzt erwähnten Bestimmungen ermächtigt, über die Be­ rücksichtigung der konkreten Schuld nicht etwa in einer einzelnen Richtung, sondern überhaupt hinauszugehen. 5. Wollten endlich diese Paragraphen in technischer Beziehung einer Prüfung unterzogen werden, so würde sich zeigen lassen, daß zwischen den Bestimmungen des § 76 und denen des § 77 kein richtiges Verhältnis besteht. Es handelt sich nämlich im letzteren zum Teile um die Abwesenheit von Umständen, auf deren Vorhandensein sich der erstere Paragraph bezieht. Die erstere wird als Minderungs­ grund, die letztere als Erschwerungsgrund behandelt. Die Folge ist, daß ein und dasselbe Moment zwei Mal in Ansatz gebracht wird. Nehmen wir, daß bei zwei übrigens gleichen Diebstählen die Gelegen­ heit im einen Falle sich unerwartet darbot, int anderen nicht. Für den ersteren ist damit der Minderungsgrund des § 77 6 begründet, bei dem letzteren kommt derselbe in Wegfall. Aber nicht genug damit. Hat sich die Gelegenheit nicht von selbst dargeboten, so ist sie auf-

46

Bemerkungen übst den österreichischen Entnnirs eines Strafgesetzes u.i'.iu.

gesucht worden, worin sich der Erschiverungsgrund des 8 76 8 be­ gründet. Derselbe Umstand äußert daher hiernach für den Delinquenten des letzteren Falls eine zweifache Wirksamkeit. Erhöhungs- und Minderungsgründe sind im allgemeinen der Materie nach nichts Ver­ schiedenes, werden aber hier so behandelt, als wären sie es. 6. Nach allem wird es nicht als grundlos erscheinen, wenn dagegen Verwahrung eingelegt wird, daß im Entwürfe die ausge­ stalteten Institute des allgemeinen Teils: Versuch, Beihilfe, Rückfall dieser amorphen und trüben Masse der Ausmessungsgründe einverleibt und unter die gleichen vagen und unklaren Gesichtspunkte mit diesen gezogen werden. Daß übrigens die hier aufgezeichneten Mißstände auch in irgend­ welchem Umfange in der Praxis hervorgetreten seien, dafür spricht die Besei­ tigung der fraglichen Aufzählungen in den neuesten deutschen Strafgesetzen. Mein Vorschlag ginge daher dahin, den Versuch, die Beihilfe, den Rückfall aus der fraglichen Verbindung zn befreien und ihnen zu der gebührenden Selbständigkeit zu verhelfen; die auf die Zurechnung der That bezüglichen Minderungsgründe im Zusammenhange mit den korrespondirenden Strasausschließungs- und bezw. Milderungsgründen zu behandeln (Nr. 6, Bogen 13); die in den fraglichen Paragraphen enthaltenen Abstraktionen zum besonderen Teile zu streichen, dafür aber bei der Behandlung der einzelnen Verbrechensarten darauf zu achten, daß die besonderen Erschwerungs- und Milderungsgründe, welche bei ihnen vorkommen, eine möglichst vollständige Berücksichtigung erfahren; den Minderungsgrund der teilweisen Verjährung (77, m), wenn man es nicht vorzieht, denselben fallen zu lassen, im Zusammen­ hang mit dem Strafausschließungsgrund der Verjährung zu erwähnen. Der frühere Lebenswandel des Delinquenten, sowie überhaupt das sonstige Verhalten desselben endlich, könnte unter einer Rubrik mit dem Rückfalle seine Würdigung erfahren. XI. Über das außerordentliche Milderungsrecht dieses Entwurfes. Die Bestimmung deS § 90 ist weife und läßt keine Einwendung« zu. Auch ein außerordentliches Milderungsrecht im Sinne des 8 91 ist, zumal den Strafmaßbestimmungen des speziellen Teiles des Ent-

Bemerkungen über den

österreichischen

Entwurf eine- Strafgesetzes u. s.w.

47

gegenüber, unentbehrlich. Doch sei es gestattet, gegen die Art, wie dasselbe in diesem Paragraphe geordnet ist, einige Bedenken vorzutragm. Es wird nicht als eine korrekte Begrenzung der Geschworenen­ funktionen betrachtet werden können, wenn denselben, wie es nach dem Entwürfe sein würde, jeder Einfluß auf die Strafmilderung abge­ schnitten ist. Andernteils will die Übertragung des Milderungsrechtes auf die Geschworenen im Sinne des französischen Systems der circonstances attenuantes noch weniger empfohlen sein. Wir sind aber, so lange wir uns nicht entschließen, die Milderungsgründe im Gesetze selbst zu bestimmen, an die bedenkliche Alternative gebunden, die Geschworenen entweder prinziplos auszuschließen oder völlig souverain zu machen. Bei solcher Sachlage wird es schwieriger sein, eine Einigung der verschiedenen kriminal-politischen Parteien herbeizuführen. Es wird insbesondere kaum ausbleiben, daß das erwähnte französische System der mildernden Umstände, die irrationellste Einrichtung, die sich denken läßt, eine eifrige Befürwortung finde. — Auf das, was sich sonst gegen das völlig unbestimmte Milderungsrecht sagen läßt, und was von dem Verfasser dieses an anderer Stelle weitläufiger ausgeführt worden ist, mag hier, weil es die Anfordemngen, welche in der Gegen­ wart an die Gesetzgebung gestellt werden, nicht in jener unmittelbaren Weise berührt, nicht eingegangen werden. Es sei hier nur die Möglich­ keit betont, die Milderungsgründe im Gesetze zu spezialisiren, ohne in Widerspruch mit dem Gerechtigkeitsprinzip zu treten. Die Ver­ hältnisse, denen gegenüber die Minimalsätze des ordentlichen Straf­ maßes im allgemeinen als Willkürlichkeiten erscheinen, sind dieselben, welche in ihrer höchsten Steigerung die Strafbarkeit vollständig aus­ schließen. Es sind diejenigen, welche die faktische oder rechtliche Zurechenbarkeit in Frage stellen. Den objektiven Verschiedenheiten der Rechtsverletzungen kann in der Gliederung des ordentlichen Strafmaßes in genügender Weise Rechnung getragen werden. Wenigstens liegt hier in der Natur der Sache kein Hindernis, während dies bei den erst­ erwähnten Verhältnissen allerdings der Fall ist. Bei diesen nämlich haben wir es mit einer Kette von Erscheinungen zu thun, deren letztem Gliede der völlige Ausschluß der ©traft entspricht und welche durch jeden Minimalsatz willkürlich durchbrochen wird. — Hiernach würde die gesetzliche Normirung der Mildemngsgründe nicht größeren Schwierig­ keiten unterliegen, wie die gesetzliche Normirung der SttafausschließungSWurfes

48

Bemerkungen übet den österreichische» Entwuri eines LtrasgesetzeS u. ,'.w.

gründe, und es würde beides in unmittelbarem Zusammenhange zu erfolgen haben. Das ist der Weg, den das bayerische Strafgesetz und, konsequenter, das sächsische Strafgesetz verfolgt haben. Daß hier das Vorhandensein der Milderungsgründe in concreto ebenso wie das der Strafausschließungsgründe durch die Geschworenen festzustellen wäre, versteht sich von selbst. Hierbei würden aber für die zu mildernde Strafe keine neuen Minimalsätze einzuführen sein, da diesen gegenüber dieselben Bedenken Platz greifen würden, wie den Minimalsätzen des ordentlichen Straf­ rahmens gegenüber. Auch hätte diese Latitude in Bezug auf das Strafmaß angesichts der Bestimmtheit der materiellen Verhältnisse, um deren Würdigung es sich handelt, keine Bedenken. Ist sie doch selbst dem geltenden österreichischen Rechte nicht völlig fremd (Straf­ prozeßordnung Art. 311). Insbesondere aber ist hierfür das sächsische Strafgesetz (Art. 73, 88, 89, 90, 96, 97) anzuziehen. Vergleiche auch das thüringische (Art. 59). Dafür, daß die geringeren Fälle, auf welche betreffende Minimalsätze nicht mehr passen, auf die Be­ gnadigung verwiesen bleiben sollen, existirt kein Grund. Es ist völlig willkürlich, aus der Kette der hier in Frage kommenden Erscheinungen einige Glieder der richterlichen Würdigung zu entziehen und doch wieder die Schlußglieder derselben (die Strafausschließungsgründe) dieser Kognition zu überweisen. XII. Zu den Bestimmungen über die Verjährung. Wie in Bezug auf mehrere der bisher besprochenen Punkte, so enthält der M.-Entwurf in Bezug auf die Verjährung der Strafen eine Deteriorirung des Referentenentwurfes. Bei den Bestimmungen des ersteren ist hier die konsequente Durchführung eines klaren Ge­ dankens zu vermissen. Insbesondere weisen die Bestimmungen des § 99 auf eine gewisse Ängstlichkeit dem fraglichen Institute gegenüber hin, die uns hier überall nicht richtig führen dürste. Hat der Ablauf der Zeit wirklich die sühnende Kraft, wie die Redaktoren offenbar an­ nehmen, so müssen wir uns hüten, die Forderungen, die sich hieraus ergeben, an beliebige, mit dieser Sühnung außer Zusammenhang stehende Bedingungen zu knüpfen. So verliert die Zeit ihre sühnende Kraft nicht dadurch, daß der Delinquent im Auslande lebt (§ 99, 2).

Bemerkungen

über btn

österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w.

49

Ziehen wir nun um dieses Umstandes willen das gesühnte Verbrechen dennoch zur Bestrafung, so bestrafen wir eigentlich nicht mehr das Verbrechen, sondern die Flucht des Delinquenten und bezw. den fort­ gesetzten Aufenthalt in der Fremde. Die Gründe, welche die Motive zum M.-Entwürfe hierfür vorbringen, würden, wenn sie durchschlagend wären, gegen das ganze Institut beweisen. Der Delinquent hofft in der Regel, sich, sei es durch die Flucht, sei es in anderer Weise, dem Auge und bezw. dem Arme der Justiz zu entziehen, und mit dieser Hoffnung verknüpft sich die Aussicht auf Befreiung von der Straf­ verfolgung durch die Verjährung. Hebt diese Aussicht daher die repressive Kraft der Strafdrohung auf, so ist daraus ein Argument gegen das Institut überhaupt herzuleiten. Auch für die Bedingung der geleisteten Wiedererstattung dürsten genügende Gründe nicht erbracht sein. Ein Anderes ist die Civilentschädigung, ein Anderes die Strafe. Die Bestrafung gilt dem öffent­ lichen Geiste und hat da nicht mehr einzutreten, wo derselbe das Verständnis dafür verloren hat, mag auch der Civilpunkt unausge­ glichen sein. Ja selbst vom Standpunkte des Privatverletzten ist jene Verknüpfung des Civilpunktes mit dem kriminellen nicht motivirt. Das Verlangen nach Genugthuung für die in dem Verbrechen für ihn gelegene Kränkung stumpft sich ab, trotzdem, daß die Ersatzforderung unerfüllt und das Interesse an deren Realisirung lebendig bleibt.

Spezieller Teil. I.

Über die Behandlung der politischen Berbrechen. Nur mit Widerstreben berührt der Verfasser die von den politischen Verbrechen handelnden Kapitel. Angesichts der eminenten Schwierig­ keiten, welchen hier seitens des Strafgesetzgebers Rechnung getragen werden will, ziemt es dem Ausländer ohne Zweifel, seinem Urteile eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen. Doch darf er vorn allgemeinen Standpunkte aus, dessen Vertretung ihm zunächst obliegt, betonen, daß die Geltung der Grundmaximen des Strafrechts den politischen Ver­ brechen gegenüber nicht hinwegfalle, sowie daß die konsequente Durch­ führung derselben hier nicht etwa einem geringeren Interesse entspreche wie in Bezug auf die übrigen Rechtsverletzungen, daß im Gegenteile das Ansehen der strafrechtlichen Institutionen in ganz besonderem Maße davon abhängig erscheine, daß der Gesetzgeber den sonst von ihm adoptirten Grundsätzen und Maximen auch in diesem Gebiete treu bleibe. Nur insofern dies geschieht, werden die Funktionen der Strafrechts­ pflege überall nicht das Gepräge von Ausflüflen der Leidenschaft und der Interessen Einzelner an sich tragen, sondern als reine Äußerungen des ethischen Gemeinwillens erscheinen. In dem fraglichen Gebiete uns von den allgemeinen Regeln dispensiren, heißt nichts anderes, als hier den Rechtsfragen Interessen- und Machtfragen substituiren. Wir tönnen dies aber nicht in Bezug auf einen Teil der strafrechtlichen Funktionen, ohne damit der sittlichen Dignität des Ganzen im allgemeinen Be­ wußtsein Abbruch zu thun. Deshalb ist es sehr zu rühmen, daß der Entwurf, die Gewöhnungen des bisherigen Strafrechts hinter sich lassend, den ihm charakteristischen humanen Maßstab im ganzen und großen auch diesen Verbrechen gegenüber zur Geltung bringt. Ins­ besondere ist es anzuerkennen, daß der Natur der Sache entsprechend

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

51

die nicht infamirende Gefängnis- (bezw. Einschließungs-)Strafe als das normale Strafmittel für die polittschen Delitte eingeführt ist. Allein die aufgestellte Forderung bewegt sich noch in anderen Richtungen. Sind absolute Sttafdrohungen int allgemeinen verwerflich, so sind sie es auch hier.

Wird die bloße Vorbereitungshandlung int

allgemeinen mit Grund einer anderen Behandlung unterzogen als die vollendete Rechtsverletzung, so sollte hier nicht, wie es im 7. und 8. Titel des

Entwurfes

mehrfach

geschieht,

eine

Jdenttfikatton

von

beidem

platzgreifen! Man unterschätze den Wert der von uns geforderten Konsequenz nicht. Es ist wahrlich nicht bloß ein theorettscher, dem sich das Gewicht aller prakttschen Rücksichten gegenübersetzte.

Die Geschichte des Fort­

schrittes in der Entwicklung der Sttafrechtspflege ist zu einem guten Teile die Geschichte des Triumphes jener allgemeinen Prinzipien über die Macht der von Vorurteilen und Sonderintereflen gegen sie ins Feld geführten angeblichen „prakttschen Notwendigkeiten". Es ist eine lange Reihe von Verirrungen im Bereiche des Strafrechtes, ivelche als Konzessionen an diesen vielangerufenen Götzen sich eingeführt und mehr oder minder hartnäckig behauptet haben, um am Ende je in ihrem Gebiete der Erkenntnis weichen zu müssen, daß das von der Wissen­ schaft Geforderte, grundsätzlich Richtige, sich auch

als das

wahrhaft

Praktische erweise. Es sind einige ihrer letzten Ausläufer, die wir in den für die politischen Verbrechen festgehaltenen Anomalien bekämpfen. Unter anderem möchte auch die Forderung möglichst scharfer Be­ grenzung des strafrechtlichen Gebietes in Bezug auf die

genannten

Delikte ebenso aufrecht zu erhalten sein wie in Bezug aus die nicht politischen. Verfehlungen hiergegen mit ihrem Gefolge von Schwankungen in der Rechtsanwendung und bezw. von unnützen und gehässigen Unter­ suchungen sind im allgemeinen, und hier jedenfalls nicht minder tute sonst, weit eher dazu angethan, die Justiz zu kompromittircn, als für den dauernden Bestand der Einrichtungen, um deren

Schutz

es sich

handelt, die erwünschten unfehlbaren Garantien zu geben. Es sei vergönnt, einige Partien in den die polittschen Delikte betreffenden

Titeln des vorliegenden Entivurfs zu

bezeichneit,

gegen

tvelche die letzteren Bemerkungen platzgreifen dürften. Der Entwurf kennt neben dem Verbrechen der Majestätsbeleidigung ein Vergehen der Ehrfurchtsverletzung (§ 105, 2), dessen Merkmale an einer bedenklichen Vagheit zu leiden scheinen. Alle gegen den Kaiser

52

Semcrfunflcn über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w.

gerichteten Aeußerungen, welche eine persönliche Beleidigung desselben einschließen, sowie alle öffentlichen Handlungen, welche, mögen sie aus einer beleidigenden Absicht hervorgegangen sein oder nicht, geeignet er­ scheinen, andere zu Haß oder Verachtung wider die Person des Kaisers aufzureizen, fallen unter den Begriff der Majestätsbeleidigung. Äußeriingen aber, welchen die bezeichneten Eigenschaften fehlen, möchten im allgemeinen nicht geeignet sein, zum Gegenstände krimineller Verfolgung gemacht zu werden. Es bleiben hier Verletzungen der Etiquette und Delikatesse, Taktlosigkeiten und Tölpeleien übrig, deren Sphäre mit juristischer Exaktheit nicht zu begrenzen ist und deren strafrechtliche Ahndung einem wirklichen Bedürfnisse schwerlich entsprechen möchte. Es ist überall eine bedenkliche Sache, das Geziemende auf kriminellem Wege sicherstellen zu wollen. Wenn das Unziemliche in der hier frag­ lichen Sphäre einen graueren Charakter hat als sonst, so wiegen auch die Unzuträglichkeiten, die sich der Natur der Sache nach mit seiner strafrechtlichen Verfolgung verbinden, hier um so schwerer. Es ist unter der Würde des kaiserlichen Namens, einem durch die öffentliche Meinung nicht geforderten, ängstlichen und kleinlichen Kriege gegen Anstands­ widrigkeiten zur Legitimation dienen zu müssen. Dagegen aber, daß dieser Krieg gelegentlich einen kleinlichen und gehässigen Charakter annehme, sind in der fraglichen Begriffsbestimmung jedenfalls keine Garantien gegeben. Man hat anderswo in Bezug auf verwandte Verbrechensbegriffe die Bestimmung getroffen, daß eine Verfolgung auf Grund derselben nur mit Genehmigung des Ministeriums eingeleitet werden sollte. Und es möchte sich, wenn man nicht darauf verzichten will, den Respekt vor der Majestät mit jenem ausgedehnten kriminellen Schutzapparate zu umgeben, das bezeichnete Korrektiv jedenfalls zu ernster Jnbetrachtnahme empfehlen. Vielleicht sogar in Beziehung auf die Majestätsbeleidigung. Wer die zur Aburteilung kommenden Verbrechensfälle aus diesen Kategorien überschaut, der wird leicht erkennen, daß sie in ihrer Mehrzahl weder auf den Bestand einer Gefahr für das Ansehen des Monarchen, noch selbst auf eine persönliche feindselige Gesinnung gegen die Person desselben bei dem Delinquenten Hinweisen. Es kann hier auf dasjenige Bezug genommen werden, was in der Motivendarstellung des Referenten, S. 84 und 85, auf Grund einer ohne Zweifel ausgebreiteten Erfahrung entwickelt worden ist. Wir haben es hier vielfach mit Äußerungen

Bemerkungen

über den

österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

53

des Unwillens über irgend welche Regiemngshandlungen zu thun, welche eine Richtung gegen den Monarchen nur annehmen, weil der Ungebildete der Regierung als einer Abstraktion gern eine Persönlichkeit und in specie die Person des Souveräns substituirt, oder auch mit gedankenlosm Ausbrüchen übermütiger Stimmungen, denen man eine zu große Wich­ tigkeit beilegt, wenn man sie zum Gegenstände einer öffentlichen Ver­ folgung macht. Jedenfalls begründet es sich in diesen Umständen, wenn das Mindestausmaß der Strafe für die einschlagenden Delikte niedrig ge­ griffen wird. Die bezüglichen Sätze des Entwurfes, wiewohl im Ver­ hältnis zu denen des geltenden Rechts und der außerösterreichischen Strafgesetze nicht hoch gegriffen, werden dennoch zu manchen Härtm führen. Insbesondere gilt dies von dem für das Vergehen der Ehr­ furchtsverletzung aufgestellten Minimalsatze. In Anbetracht, daß es sich hierbei um Äußerungen handelt, welche nicht aus einer beleidigenden Absicht hervorgegangen sind, und resp. daß bloß fahrlässige Respekts­ widrigkeiten unter den Begriff deffelben gezogen werden können, erscheint die Drohung von mindestens einem Jahre Arrest ohne Zweifel als eine zu strenge. Oder sollte es richtig sein, diese fahrlässige Respekts­ verletzung im Minimum mit einer dreifach längeren Freiheitsberaubung zu bedrohen als die fahrlässige Tötung eines Menschen (§ 232), und darüber hinaus noch mit einer Entziehung von Ehrenrechten?! — Der Kategorie allzu vager Bestimmungen gehört ferner § 107, c an. Wer eine Gefahr für den Staat von außen herbeiführt oder befördert und wer eine solche Beförderung auch nur vorbereitet, soll hiernach mit acht bis zwölf, bezw. zwölf bis zwanzig Jahren Gefängnis bestraft werden (§ 108). Dahin würde jeder gewagte Schritt in der äußeren Politik und jede Befürwortung desselben in der Presse zu rechnen sein. Es ist aber wohl von selbst einleuchtend, daß die Frage, ob irgend ein zur Erörterung oder zum Vollzüge kommender Akt der äußerm Politik eine Gefahr für den Staat herbeiführen könne, durchaus ungeeignet sei, zum Gegenstand richterlicher Sentenzen gemacht zu werden. Und nun einem Thatbestände von so völlig unbestimmter Tragweite gegenüber, bei welchem ein irgendwie bestimmter Dolus nicht vorausgesetzt wird, dieses exorbitant hohe Strafminimum! In das Bereich dieser Bestimmung fallen auch die im § 137 speziell hervorgehobenen Handlungen. Dieselben werden aber dort mit Geldbuße von fünfzig bis fünfhundert Gulden, bezw. mit Einschließung

54

Bemerkungen über

den

ösierretchischen Entwurf eine- Strafgesetzes u.f.w.

von ein bis vier Monaten bedroht. In welch' seltsamem Verhältnisse stehen diese Strafsätze zu denen für das seiner Natur nach subsidiäre Verbrechen des § 107, c! — Vor allem aber ist an demselben aus­ zusetzen, daß er keinen Unterschied zwischen Inländern und Ausländern macht. Nach § 6 (conf. § 4) des Entwurfes nämlich sind diese Be­ stimmungen auch auf Ausländer zu beziehen. Nun bedenke man, wohin eine konsequente Anwendung derselben in dieser Richtung führen mürbe. Jede Beförderung einer den österreichischen Interessen sich entgegen­ setzenden und somit eine Gefahr für Österreich in sich schließenden Politik seitens beliebiger Ausländer würde hiernach eine Veranlassung abgeben, dieselben als Verbrecher zu verfolgen; ohne daß doch irgend eine rechtliche oder selbst nur ethische Schuld sich in solchem Benehmen für sie be­ gründete. Daß die internationalen Verhältnisse es unmöglich machen, in solcher Weise praktisch vorzugehen, dürfte von selbst klar sein. Sogar Angehörige eines mit Österreich im Kriege begriffenen Staates, in Bezug auf welche hier die Grundsätze des Bölkerrcchts in Anwendung zu bringen sein würden, erscheinen nach dem Entivurfe als den fraglichen Strafbestimmungen unterworfen. Denn in den einschlagenden Para­ graphen des allgemeinen Teils ist nur aus Staatsverträge, nicht auf das Völkerrecht überhaupt als ausnahmebegründend Bezug genommen. Hier dürfte eine Korrektur >vohl unstreitig gefordert sein. Hiernach würde die „generalis clausula“ des § 107, c jedenfalls auf Inländer zu beschränken sein. Glaubt man sie für diese nicht entbehren zu können, so würde wenigstens auf eine schärfere Fassung derselben zu sinnen und unbedingt das mit ihr verbundene Strafmaß und zwar insbesondere dessen Minimalsatz herabzusetzen sein. Insoweit übrigens die Ausländer mit Recht unter die Bestimmungen des § 107 zu ziehen sind, würden mildere Strafsätze für dieselben motivirt sein, da die Verletzung der Pflichtverhältnisse, in welchen der Inländer zum Staate steht, bei der rechtlichen Würdigung der ben „Staatsverrat" konstituirenden Handlungen unmöglich als ein gleich­ gültiges Moment behandelt werden kann. Von bedenklicher Weite ist auch die Fassung des § 138. Der­ selbe verpönt Handlungen, welche geeignet sind, Anderen wider be­ stehende Nationalitäten, anerkannte Religionsgenossenschasten oder gegen ganze Klaffen oder Stände der Gesellschaft feindselige Gesinnungen einzuflößen, und überhaupt ein Verhalten, welches die Staatseinwohner zu feindseligen Parteiungen gegm einander anreizt. Auch damit sind

Bemerkungen über den ösierretchlschen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.ro.

55

Berbrechensbegriffe aufgestellt, deren konsequente Handhabung vielfache Unzuträglichkeiten in sich schließen würde. Wohl mögen in Vergangen­ heit und Gegenwart des österreichischen Staatslebens mächtige An­ regungen zu dem Versuche liegen, umfaffendere Garantien für den Bestand des öffentlichen Friedens zu gewinnen und über die Abwehr unmittelbarer Angriffe hinaus entferntesten Gefahren für denselben zu begegnen. Aber es darf in Zweifel gezogen werden, daß mit straf­ gesetzlichen Bestimmungen dieser Art große Erfolge zu erzielen seien. So lange die Gegensätze des nationalen, politischen und kirchlichen Lebens fortbestehen, wird auch der Parteikampf mit seinen Gefahrm für den öffentlichen Frieden dauern und wird feindselige Gesinnungen zum Ausdruck bringen und erzeugen. Was dem gegenüber die innere Politik zur Sicherung des Friedenszustandes leisten kann, ist hier nicht zu berühren. Gewiß aber scheint, daß sie für ihre Präventionsversuche in der Kriminalgesetzgebung (im Gegensatze zur Polizeigesetzgebung) nur unsichere und bedenkliche Stützen finden kann. Es wird für die­ selbe unmöglich bleiben, die Grenzen mit der von ihr zu fordernden Exaktheit zu bestimmen, innerhalb welcher sich jener geistige Kampf bewegen könnte, ohne den äußeren Frieden zu gefährden; wie denn die im Entwürfe hierfür aufgestellten Merkmale an einer erschreckenden Vagheit leiden und die bedeutungsvolle Linie zwischen strafbar und erlaubt, statt sie zu markiren, zu einer völlig „unfindbaren" machen. Aus dieser unvermeidlichen Unbestimmtheit der Begriffe aber, mit welchen hier zu operiren wäre, ergiebt sich, daß die darauf be­ züglichen Urteile mehr oder minder mit dem Charakter des Willkür­ lichen und dämm Gehässigen behaftet sein müssen. Derartige Sentenzen aber wirkm in dem hier fraglichen Gebiete bekanntlich leicht wie das Wasser auf Feuer, wenn es in unzulänglicher Menge ausgegoffen wird. Keinesfalls werden sie, selbst unsicher und einem ununterbrochen fort­ flutenden Kampfe gegenüber sporadisch einfallend, diesen Kampf in dem erwünschten sicheren Bette festzubannm vermögm. Noch anderen Bestimmungen der in Frage stehenden Titel des Entwurfs gegenüber (z. B. denen des § 146 und 147) möchten sich die bisher vertretenen Gesichtspunkte geltend machen laffen. Es mag hier indeß genügen, sie im allgemeinen einiger Beachtung empfohlen zu haben. Im übrigen mögen, die politischen Berbrechen anlangend, nur wenige Bemerkungen hier angefügt iverden:

56

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.iv.

Die Gründe, welche für die Behandlung geltend gemacht werden, die der M.-Entwurf (§ 109) im Gegensatze zum Referentenentwurfe den Berbrechen wider die Kriegsmacht des Staates zuteil werden läßt, sind nicht allgemeiner Natur. Auch liegt das Allgemeine zur Sache im wesentlichen klar genug, daher hier von einer Polemik dagegen Umgang genommen werden darf. Nach § 119 sollen diejenigen, welche eine Zusammenrottung zum Zweck der Gewaltthätigkeit gegen die Obrigkeit angestiftet haben, des Aufmhrs schuldig sein, wenn die Obrigkeit sich veranlaßt sieht, die Aufruhrakte zu verkündigen. Dies ist eine Qualifikation ex post; der Umstand, von welchem sie abhängt, folgt der Handlung nach, und zwar als eine Äußerung des freien Ermessens der Behörden. Dies ist eine Anomalie, welche wohl ohne materielle Einbuße beseitigt werden könnte. Wenn der Thatbestand des Verbrechens der Wahlbestechung im Referentmentwurfe (§ 125, d und 139, d) zu weit gefaßt sein dürfte, indem hiernach jede Zuwendung von „Vorteilen" zum Zwecke der Beeinflusiung der Wahl den Thatbestand erfüllen soll, womit eine in konsequenter Weise gar nicht zu wahrende Grenze zwischen erlaubter und verbrecherischer Wahlbeeinflussung gezogen zu sein scheint, so möchte es in der entgegengesetzten Richtung zu weit gehen, wenn die Motive zum M.-Entwurfc (S. 79) nur die Bestechung der Wähler durch „unmittelbar körperliche Geschenkgabe" hintangehalten sehen wollen und wenn demgemäß im § 124 des M.-Entwurfs nur derjenige der aktiven Wahlbestechung schuldig erklärt wird, welcher „durch ein Geschenk" einen Wähler zur Ausübung seines Wahlrechts nach einer gewiflen Richtung... zu bestimmen sucht. Jedenfalls wäre hier daS Versprechen einer künftigen Schenkung der unmittelbaren Hingabe eines Geschenks gleichzustellen, wie dies seitens des Entwurfes selbst in Bezug auf die passive Wahlbestechung (verbis: wer als Wahlberechtigter... ein Geschenk annimmt oder sich versprechen läßt) geschieht. Ein Grund, die akttve Wahlbestechung in dieser Beziehung anders zu behandeln, existirt nicht. Ferner möchte es sich empfehlen, dem wenig bestimmten Begriffe des „Geschenks" den des „pekuniären Botteils" zu substituiren. Auf die körperliche Hingabe, also die Form der Zuwendung im Gegensatze zu der Natur des zugewendeten Vorteils, mit den M.-Motiven Gewicht zu legen, ist nicht mottvirt. Hiernach würden die Worte „durch ein Geschenk"

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetze- u.s.w.

57

im § 124 durch die Worte „durch Zuwendung oder Verheißung pekuniärer Vorteile" zu ersetzen sein. Der M.-Entwurf läßt, im Gegensatze zum Referentenentwurfe, die Mitglieder der Reichsvertretung und der Landesvertretungen eines besonderen Schutzes gegenüber von beleidigenden Eingriffen nicht teil­ haftig werden. Dies möchte an sich Bedenken nicht unterliegen. Würde es sich doch vertreten lassen, daß die Ehre der einzelnen Individuen überhaupt in ihren sämtlichen Beziehungen, also auch nach der Seite der etwaigen öffentlichen Wirksamkeit dieser Individuen hin, in den allgemeinen Bestimmungen gegen die Ehrverletzungen ihre Vertretung finden könnten. Dem allgemeinen Jntereffe an der Integrität der Ehre aller öffentlichen Funktionäre würde hier Rechnung zu tragen sein mit einer Beschränkung des Verfügungsrechtes der Beleidigten über die Anklage in Fällen, wo sich die Beleidigung, auf ihren öffentlichen Charakter bezieht. Daneben würden unbefugte Eingriffe in ihre öffentliche Wirksamkeit selbst (wie dies unter anderem im § 125 des M.-Entwurfs geschieht) zu verpönen sein. — Allein, wenn einmal die besondere Ehre sämtlicher Bediensteten mit selbständigen Schutz­ wehren umgeben wird, so scheint es inkonsequent und bedenklich zu sein, der besonderen Ehre der Volksrepräsentanten einen solchen Schutz zu versagen. Denn die auszeichnende Behandlung der Amts- und Dienst­ ehre begründet sich in der Beziehung dieser Ehre zur Autorität des Gesamtwillens, welchen die betreffenden Funktionäre in irgend einer Richtung vertreten. Auch die Mitglieder des Reichsrats und der Landesvertretungen aber handeln als solche unter der Autorität dieses Willens, und die Verhöhnung ihrer Wirksamkeit berührt nicht minder die Ehre der Gesamtheit wie die Herabwürdigung der Thätigkeit be­ liebiger Beamteten. Oder sollte die Ehre des Nachtwächters oder des Korporals in einer näheren Beziehung zur Majestas civitatis stehen als die der Reichsrepräsentanten? Gegen die Notwendigkeit und beziehungsweise Nützlichkeit der Bestimmungen des § 136 über gesetzwidrige Veröffentlichungen, ge­ richtliche Untersuchungen und Verhandlungen betreffend, möchten sich entschiedene Bedenken geltend machen lassen. Wir werden das öffentliche Interesse nicht verhindern können, bei wichtigeren Berbrechensfällen die gerichtliche Untersuchung und Verhandlung mit hunderterlei bedachten und unbedachten Äußerungen und mehr oder minder entschieden Partei nehmend zu begleiten. Wenn dies die Unabhängigkeit des richterlichen

58

Bemerkungen über den östrrreichtschen Entwurf eine- Strafgesetzes u.f.io.

Urteils gefährdet» dann wird dieselbe auch durch Bestimmungen der fraglichen Art nicht zu sichern sein. Ist sie solch ein schwankes Rohr, so wird es an dem Wind nie fehlen, der sie hierhin und dorthin niederbeugt.

II. Zu den Bestimmungen über den Zweikampf. Daß der Entwurf den Zweikamps nicht mit dem geltenden Rechte zu den Berbrechen gegen die Sicherheit des Lebens, sondern zu den Störungen des öffentlichen Rechtsfriedens zählt, daß er denselben ferner nicht mit der entehrenden Zuchthausstrafe, sondern nur mit Gefängnis und, von besonderen Qualifikationen abgesehen,

mit niedrigen Straf­

sätzen bedroht, dies alles bedarf keiner Rechtfertigung und keiner An­ erkennung, da es einer sicheren Rechtsüberzeugung und der Natur der Sache zweifellos entspricht. Auch abgesehen von dem Zwange nämlich, den in Bezug auf dies Vergehen die in gewissen Kreisen herrschende Meinimg

ausübt

und

welcher

von

dem

Gesetzgeber nicht ignorirt

werden darf, würde der Umstand, daß die Handlung ihrer allgemeinen Natur nach auf Motive hinweist, welche nicht als entehrende gelten können, sowie der fernere Umstand, daß die etwa sich ergebende Körper­ verletzung oder Tötung aus einer von dem Verletzten selbst gebilligten Prozedur hervorgeht, ihre Bedeutung behalten und sowohl die Ver­ hängung der Zuchthausstrafe wie die einer Gefängnisstrafe verbieten, welche den für gemeine Körperverletzung und Tötung gedrohten Straf­ übeln quantitativ entspräche.

Vgl. hierüber die Motivendarstellung

des Referenten S. 97. Die Frage aber ist, ob der Entwurf dem bezeichneten Stand­ punkte im einzelnen vollkommen gerecht geworden sei, und hier möchten sich verschiedene Zweifel begründen lassen. 1. Der M.-Entwurf behandelt in Übereinstimmung

mit dem

geltenden Rechte die Herausforderung als das vollendete Verbrechen des Zweikampfs (§ 149),

während dieselbe nach dem Referenten-

entwurfe als eine bloße Einleitungshandlung mit Strafe gar nicht belegt werden soll. Die erstere Behandlungsweise nun schließt nicht bloß eine sprachliche Unmöglichkeit ein (insofern hiernach in Bezug auf einen einseitigen Akt, die Herausforderung, von vollendetem Zwei­ kampf zu reden ist), sondern auch eine Abweichung von der natürlichen

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

59

ratio. Zwar wird in den M.-Motiven dafür geltend gemacht, daß die bloße Herausforderung bereits den Frieden im Staate störe (S. 90); was nicht bestritten werden kann. Allein es ist hierbei die Friedensstörung in einem anderen Sinne verstanden, als in welchem sie das spezifische Merkmal des in Frage stehenden Verbrechens aus­ macht. In jedem Eingriffe in die Rechtssphäre eines Anderen nämlich liegt eine Friedensstörung, insoferne der Bestand des öffentlichen Friedens an die Herrschaft des Rechts geknüpft und in gewisiem Sinne mit ihr identtsch ist. Der Zweikampf aber hat darüber hinaus ein besonderes Verhältnis zum Bestände öffentlichen Friedens, insofern es sich bei ihm um die Austtagung eines Streites in anderen als den vom Rechte gesetzten Formen handelt. Damit sind die besonderen Garantten bei Seite gesetzt, welche in der normalen Berwirklichungsiveise des Rechtes für die Erhaltung des Friedens geboten find. Erst mit dem Kampfe selber aber ist dem rechtlichen Verfahren das eigen* mächtige, friedenstörende, substituirt. In der Herausforderung liegt nur ein Versuch, diese Substitution herbeizuführen. Dieselbe als vollendeten Zweikampf zu behandeln, ist daher nicht logischer und rattoneller, als es sein würde, etwa die Aufforderung zu einem Meineide als vollendeten Meineid zu behandeln. Auch würde die Argumentation der M -Motive streng genommen noch über die Herausforderung hinaus in ein früheres Stadium zurück­ führen. Die erste Friedensstörung (in dem zuerst erwähnten Sinne des Wortes) wird nämlich häufig nicht mit der Herausforderung, sondern mit der Beleidigung, welche ihr vorausgeht und sie provozirt, gegeben sein. Von dieser Beleidigung kann Alles gelten, waS in den M.-Mottven von der Herausforderung ausgesagt wird. Dieselbe kann eben so wie die letztere die Gegenpartie in die Zwangslage versetzen, sich entweder zu dem in Frage stehenden Verbrechen zn entschließen „oder dem Hohne und der Nichtachtung ganzer Gesellschaftskreise zu verfallen". Nach jener Argumentatton der M.-Motive müßten daher derartige Beleidigungen bereits als vollendete Zweikämpfe qualifizirt werden! Wenn in den M.-Motiven ferner bemerkt wird, daß es dem herausfordernden Benehmen des Raufbolds Vorschub leisten würde, wenn man nicht schon die Herausforderung als Zweikampf strafbar erklärte (1. c.), so ist zunächst hierbei wieder irriger Weise voraus­ gesetzt, daß dem Raufbold stets die Rolle des Herausforderers zufalle.

60

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.ro.

Nehmen wir an, daß ein Ehrenmann durch systematische Provokationen zu einer Herausforderung gedrängt wird. Nach dem M.-Entwurfe würde hier, wenn es nicht zum Kampfe (bezw. zur Stellung zum Kampfe) kommt, der Beleidigte wegen vollendeten Zweikampfs zu bestrafen, der die Schuld an der Affaire tragende Beleidiger dagegen mit Strafe zu verschonen sein! — Dann ist übersehen, daß von einem Vorschubleisten in dem erwähnten Sinne da keine Rede sein könne, wo bei der Strafausmessung das gebührende Gewicht darauf gelegt wird, welche Partie die Hauptschuld an der in dem Duelle gegebenen Friedensstörung trage. Der Entwurf steilich hat, wie weiterhin zu zeigen sein wird, diesem Momente den ihm zukommenden Einfluß auf die Strafzumessung nicht gewahrt. Übrigens hat der Entwurf selbst dem Standpunkte, den er mit der besprochenen Fassung des Verbrechensbegriffs einnimmt, nicht in jeder Beziehung Rechnung getragen. Nach § 151 soll der Zweikamps „Verbrechen" sein, wenn er den Tod eines der Streitenden zur Folge hatte. Abgesehen davon, daß die Herausforderung (an welche nach dem Entwürfe bei dem Worte Zweikampf zunächst zu denken ist) an sich den Tod der Streitenden nicht zur Folge haben kann, wird hier die strafrechtliche Qualifikation der Handlung von Umständen abhängig gemacht, welche im Sinne des Entwurfs dem konsumirten Delikte nachfolgen und völlig außerhalb der Begriffssphäre desselben liegen. Ferner wird im § 155 dem freiwilligen Abstehen vom Kampfe eine strafausschließende Wirkung beigelegt, was sich vollständig recht­ fertigen nur läßt, wenn im Verhältnis der Herausforderung zum Kampfe selbst ein Aufsteigen der Strafbarkeit stattfindet und wenn für die strafrechtliche Betrachtung der Schwerpunkt in dem letzteren, nicht in der ersteren gelegen ist. 2. Der Entwurf legt sowohl bei der Unterscheidung des „Ver­ brechens" vom „Vergehen" des Duells (§ 151) wie in seinen Straf­ bestimmungen (§ 152, s) alles Gewicht auf die materielle Verletzung, welche aus dem Zweikampf hervorgeht und bezw. auf welche die Ver­ abredung gerichtet war. Wenn nun das letztere Moment, die Berabredung eines bestimmten Erfolges, nicht mit Unrecht hervorgehoben zu sein scheint (s. unten), so entspricht dagegen die Art, wie die zufällig resultirenden Verletzungen als entscheidend hingestellt werden, dem Standpunkte des Entwurfes und der Natur der Sache nicht. Indem nämlich der Entwurf das Duell trotz seiner thatsächlichen Richtung

Bemerkungen

über den

österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f.w.

61

gegen das Leben und die körperliche Integrität in erklusiver Weise als Friedensstörung qualifizirt und die Annahme einer Konkurrenz von Tötung, bezw. Körperverletzung und jener ausschließt, rückt er die fraglichen Verletzungen an Leib und Leben unter den Gesichts­ punkt des «volenti non fit injuria» und macht es sich damit logischer Weise unmöglich, das Maß der Verschuldung in erster Linie als in Abhängigkeit gerade von diesen Verletzungen stehend zu erklären. Wollen wir hier nicht faktisch auf den vom Entwurf mit Recht perhorreszirten Standpunkt des geltenden Rechtes zurückkehren und also das Duell als ein Verbrechen gegen die Sicherheit von Leib und Leben behandeln, so dürfen wir die in Rede stehenden Verletzungen nur neben und im Zusammenhange mit anderen, zuoi Teile wichtigeren Momenten und nur als Zumessungsgründe innerhalb der durch andere Rücksichten bestimmten Strafrahmen in Betracht ziehen. Es sei vergönnt, diese Auffassung der im Entwürfe vertretenen gegenüber etwas genauer zu entwickeln. a. Zunächst würde mit dem Entwürfe Gewicht auf die Art des vereinbarten Kampfs, bezw. Kampfresultates zu legen sein, indem der Friedensbruch als ein um so intensiverer erscheint, in je weiterem Umfange und in je energischerer Weise durch die Vereinbarung an die Stelle der gesetzlichen Rechtsverfolgung die eigenmächtige gesetzt wird. Hierdurch bestimmt sich die Kluft, welche zwischen einem auf den Tod eines der Streitteile gestellten Duelle und einem gewöhn­ lichen Studentenduelle besteht; eine Kluft, welche durch die auch bei dem letzteren möglicher Weise eintretende Tötung eines der Duellanten nicht ausgefüllt wird. Vom Standpunkte des öffentlichen Friedens aus erscheint es weitaus wichtiger, welche Art von Duell gewählt sei, welche Regeln und Bedingungen bei dem Kampfe gelten, als was im einzelnen Falle dabei herauskomme. Anders natürlich von dem hier bekämpften Standpunkte des geltenden österreichischen Rechts aus. — Mit dem fraglichen Momente würde die Unterscheidung des Ver­ brechens vom Vergehen des Duells in ausschließliche Verbindung zu bringen sein. Die absoluten Strafabstufungen dagegen, welche der Entwurf mit Bezug auf dasselbe etablirt, würden besser wegfallen. Sie lassen für die Berücksichtigung der sonstigen Schuldmomente den gebührenden Raum nicht. b. Weiterhin würde darauf zu sehen sein, ob die zur Bestrafung kommende Partie die Schuld, bezw. Hauptschuld an der im Duelle

62

Bemerkungen übet den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.ro.

liegenden Friedensstörung trage, ober ob sie jene Zwangslage für sich geltend machen könne, in welche gegenüber den bestehenden Vor­ urteilen auch der Rechtschaffenste in Bezug aus eine Herausforderung zum Duelle geraten kann. Für denjenigen, welcher einen Zweikamps ohne Not und in frivoler Weise herbeiführt, leitet sich aus jenen Vorurteilen selbstverständlich keinerlei Entschuldigung ab. Wenn hier die Einwilligung der Gegenpartie sich als eine nur äußerliche, abge­ nötigte herausstellt, kann sich die Strafbarkeit des ersteren unter Umständen der des Mörders annähern, während die Strafbarkeit desjenigen, der, in einen gewissen Notstand versetzt, sich widerstrebend zur Eingehung des Duells entschließt, nach allgemeinen Grundsätzen nur als eine geringe, dem Nullpunkte sich nähernde betrachtet werden kann. Hier habm wir eine so große Verschiedenheit der Strafbarkeit, wie sie nur bei wenigen Verbrechensarten vorkommen kann, und für deren Würdigung, wenn nicht in besonderen Bestimmungen positive Garantien dafür geboten werden wollen, jedenfalls die Möglichkeit durch die Aufftellung weiter Strafrahmen gewahrt werden muß. Der Entwurf aber bietet mit seinen nach einem hiermit in keinem Zu­ sammenhange stehenden Merkmale abgestuften Strafmaßen (§ 152, a—d) diese Möglichkeit nicht. Auch scheinen die Redaktoren einer solchen umfassenden Berücksichtigung der dem Duelle unterliegende» Verhältnisse entgegen zu sein. Wenigstens sprechen sich die M.-Motive gegen ein Hervorziehen der Motive des Streites in die Öffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens aus, weil darin für den Betroffenen leicht ein härteres Übel gelegen sein könne, als in der gesetzlichen Strafe selbst. (1. c. S. 89.) Aber es ist klar, daß wir den die Motive des Zweikampfes deckenden Schleier nicht respektiren können, ohne auf ein die subjektive Seite des Vergehens klarlegendes und folglich auf ein die materielle Schuld ergründendes Verfahren zu ver­ zichten. Es bleibt hier nur die Möglichkeit einer rein formalistischen Behandlungsweise, wie sie polizeilichem Unrechte im eigentlichen Sinne, nicht aber kriminellem Unrechte gegenüber gerechtfertigt werden kann, und welche gerade in Bezug auf das Duell besonderen Bedenken unterliegt, Bedenken, welche die für dasselbe in den M.-Motiven geltend gemachten Rücksichten überwiegen bürsten. So gewiß es weise ist, den in Bezug auf das Duell bestehenden Meinungen im Gesetze Rechnung zu tragen, so gewiß würde eS unweise sein, den Unfug, der diese Meinungen zum Deckmantel nimmt, gesetzlich zu protegiren. Es

Bemerkungen

über den österreichischen

Entwurf eines Strafgesetzes

u.s.w.

63

geschieht dies aber unzweifelhaft, roenn wir jene dem Duelle unter­ liegenden Berhältnisfe der richterlichen Würdigung entziehen. c. Endlich würde die thatsächlich resultirende Verletzung in Be­ tracht zu ziehen sein. Allein es scheint unmöglich zu sein, den Ur­ heber und den Dulder derselben einander gleich zu stellen. Wenn wir dem Umstand, daß eine Kugel traf, dem Umstande gegenüber, daß sie mit der Einwilligung des Verletzten auf diesen abgefeuert wurde, überhaupt als schulderhöhend gelten lassen wollen, so sind wir hierbei auf die Analogien der Körperverletzung u. s. w. hingewiesen und müssen folglich den Thäter von dem Opfer der That unterscheiden. Oder sollen wir denjenigen, der an dem Gegner absichtlich vorbei­ schießt, selber aber von diesem lebensgefährlich verwundet wird, um deswillen, weil er nicht unverletzt davon gekommen, und also um der sicheren Hand seines Gegners willen mit härteren Strafen belegen? Die Fassung des Entwurfs scheint dies zu fordern. Rechtspolitische Gründe aber dürften für das Gegenteil sprechen, und der natürliche Rechtssinn möchte für einen derartigen Rigorismus kein Verständnis haben. Von den hier hervorgehobenen Punkten abgesehen, möchte den Bestimmungen deS Entwurfs über den Zweikampf (insbesondere auch den auf die Teilnahme und die vorsätzliche Verletzung der Kampfes­ regeln bezüglichen) Beifall zu spenden sein. Auch die besondere Hervorhebung der Losung um das Leben (§ 156, f) und die Bedrohung derselben mit härteren Strafen ist zu billigen. Doch möchte es sich nicht rechtfertigen lassen, daß die infamirende Zuchthausstrafe für dieselbe vorgeschlagen wird. Daß bei diesem Verbrechen, was nicht zu leugnen ist, dem Betrüge Raum ge­ geben sei, darf nicht dazu verleiten, eine praesumtio Juris et de jure dafür aufzustellen, daß die Begehung dieses durch eine betrügerische oder sonst infamirende Intention der Partien wirklich charakterisirt sei. III. Über die strafbare Selbsthilfe. Am Schlüsse des Titels von den Friedensstörungen enthält der Referentenentwurf eine allgemeine Bestimmung über die eigenmächtige Verfolgung eines wirklichen oder vermeintlichen Rechtes (§ 163 des R. ($.), welche im Ministerialentwurfe als angeblich überflüssig weggebliebm

64

Bemerkungen über den Sstrrreichische» Entwurf eines StrasgcseyeS u.i.ro.

ist. In den Erwägungen» welche die Kommission zur Streichung der­ selben veranlaßt haben, scheint aber ein wichtiger Gesichtspunkt, welcher für ihre Annahme geltend gemacht werden konnte, außer Betracht ge­ blieben zu sein. Man glaubte nämlich von jener allgemeinen Bestimmung darum Umgang nehmen zu tonnen, weil alle diejenigen Fälle eigenmächtiger Selbsthilfe, welche nach heutiger Rechtsauffassung eine Bestrafung for­ derten, unter irgend welche sonstige Verbrechens- oder Vergehensbegriffe des Entwurfes gezogen werden könnten (M.-Motive, S. 92).

Es

handelt sich aber überall nicht bloß darum, rechtswidrige Handlungen im Bereiche der Strafgesetzgebung irgendwo und irgendwie zu plaziren, sondern, was die Redaktoren sonst nicht außer Augen gelassen haben, auch darum, ihnen diejenige Stellung darin zu geben, die ihrer inneren Natur entspricht und ihnen eine gerechte und sachentsprechende Behand­ lung sichert. Nun ergiebt sich in Bezug auf die verschiedenen Arten der eigen­ mächtigen Selbsthilfe die Frage, wonach sich ihre Behandlung in erster Linie zu bestimmen habe, ob nach dem bei allen diesen Arten gleichen materiellen Kerne der Rechtsverletzung, oder ob nach den verschiedenen Formen, in welche sie sich kleidet und welche zum Teil eine strafrecht­ liche Bedeutung gar nicht, zum Teil nur in untergeordneter Weist in Anspruch nehmen? Man setze, daß jemand die Bezahlung einer For­ derung durch Täuschung seines Schuldners herbeiführt. Diese Handlung ist eine rechtswidrige, nicht insoferne sie sich als eine auf Täuschung angelegte Wahrheitsentstellung, sondern insoferne sie sich als eigenmächtige Selbsthilfe charakterisirt.

Es wäre daher offenbar verkehrt, wenn wir

nicht die letztere, sondern die erstere Eigenschaft für ihre strastechtliche Behandlung in erster Linie entscheidend sein ließen.

Es geschähe dies

aber, wenn wir sie dem Verbrechen des Betruges subsumirten oder zur Seite stellten, indem sie mit diesem Verbrechen eben nur jene äußer­ liche, an sich bedeutungslose Eigenschaft gemein hat. Man setze ferner, daß jemand eine von ihm gekaufte, von dem Verkäufer aber wider­ rechtlich zurückgehaltene Sache heimlich an

sich nimmt.

Von dieser

Handlung gilt wie von der vorigen, daß sie das Recht nur als eigen­ mächtige Selbsthilfe verletzt. Als Überführung der fremden Sache in die Herrschaft des Handelnden dient sie im Gegenteile dazu, eine recht­ liche Anfordemng zu verwirklichen. Es wäre daher durchaus unlogisch, sie um dieser letzteren Eigenschaft willen, die sie mit dem Diebstahle

Bemerkungen über

den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetzes u.s.w.

65

gemein hat, unter den Begriff des letzteren Verbrechens zu ziehen und sie mit dem für dieses aufgestellten Maße zu messen. Es würde dies nicht bloß ein formeller Fehler sein, dem keine praktischen Jnkonvenienzen entsprächen. Vielmehr würde der logische Verstoß eine Verneinung der materiellen Gerechtigkeit einschließen, wenn es anders eine Unge­ rechtigkeit enthält, eine Handlung als Diebstahl zu qualifiziren und mit den Diebstahlsstrafen zu verbinden, welche mit dem Diebstahl nur eine rein äußerliche, iu einem strafrechtlich bedeutungslosen Merkmale sich begründende Ähnlichkeit hat. Die eigenmächtige Selbsthilfe weist in allen ihren Formen und in allen Steigerungen nicht auf eine entehrende Gesinnung hin und ist daher mit entehrenden Strafen nicht zu bedrohen, mit entehrenden Verbrechen nicht zu identifiziren und nicht in Zusammenhang zu bringen. Wenn irgend ein Merkmal darauf Anspruch hat, bei der Scheidung und Gruppirung der Rechtsverletzungen in Betracht zu kommen, so ist es diese ihre Stellung zur Infamie, und wenn irgend welche Rechtsver­ letzungen hierzu eine bestimmte, jeden Zweifel ausschließende Stellung einnehmen, so sind es die verschiedenen Arten der Selbsthilfe auf der einen, die ihnen äußerlich ähnelnden gewinnsüchtigen Eigentumsverbrechen (Betrug, Diebstahl, Erpreffung) auf der entgegengesetzten Seite. Der Entwurf aber ignorirt dies, indem er die Eigenmacht je nach ihren formellen Merkmalen mit dem Diebstahle, dem Betrüge, der Erpressung in Beziehung bringt und sie mit den nur für diese passenden infamirenden Strafen bedroht. Dabei ist die Behandlung derselben zugleich eine natürliche Folge der Zersplitterung des Stoffes, eine willkürlich ungleichmäßige. Hierher gehört es, wenn die in die Form der Erpressung sich kleidende straf­ bare Eigenmacht nach dem Entwürfe nur auf Antrag des Verletzten zur Bestrafung gezogen werden soll (§ 260), während die durch Täuschung sich vermittelnde, welche ohne Zweifel einen minder graven Charakter hat, von Amtswegen verfolgt werden soll (§ 280). Während ferner die letztere ganz allgemein bedroht wird, soll die durch psychologischen Zwang vermittelte nur dann als strafbar gelten, wenn die Drohung auf Körperverletzung gerichtet ist (§ 258, 1). Nach Allem wird es nicht als eine Willkürlichkeit erscheinen, wenn hier dem Systeme des Entwurfes gegenüber eine selbständige und ein­ heitliche Behandlung der eigenmächtigen Verfolgung von Rechtsansprüchen empfohlen wird.

66

Bemerkungen übet den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.ro.

Man macht jedoch gegen die letztere geltend» daß sie die Grenzen des strafrechtlichen Gebietes in einer nach Maßgabe der Anschauungen und Bedürfnisse der Jetztzeit zwecklosen Weise erweitere. Nach diesen Bückrfniffen nämlich sei umgekehrt eine Erweiterung der im bürgerlichen Rechte begründeten Befugnisse, sich selber Deckung und Hilfe zu ver­ schaffen» angezeigt (I. c. S. 92). In dieser Bemerkung liegt ohne Zweifel etwas Richtiges. Der Zug der Zeit geht auf eine Ausdehnung der Grenzen freier Bewegung in dm Rechtsbeziehungen der Einzelnm zu einander. Wir erkennm in ihnen die natürlichen Wächter ihrer eigenen und der in diesm engagirtm allgemeinen Jnteressm und räumen ihrer Entschließung und Thätigkeit dementsprechend einen mannigfachen Einfluß auf die Verwirklichung der Rechtsgmndsätze ein. Hierher gehört die Abhängigmachung der Strafverfolgung bei zahlreichen Vergehen vom Antrage des Privatverletzten sowie der Einfluß des Verzichtes auf die Bestrafung seitens desselben nach Stellung des Strafantrages (§ 95 des M.-Entwurfs). Hierher gehört ferner die Behandlung, welche heutzutage im allgemeinen den Übeworteilungen im Vermögensver­ kehre zuteil wird. Femer, worauf die M.-Motive hinweisen, die Be­ günstigung gewisser Formen der Selbsthilfe im neueren Handelsrechte. Wenn nun hier das allgemeine bürgerliche Recht sich im Rückstände befindet, indem es dem Retentionsrechte des Einzelnen allzu enge Schranken zieht, so möchte daraus eine Anfordemng an den Civilgesetzgeber er­ wachsen, den civilistischen Fehler auf civilistischem Gebiete zu korrigiren, ein Grund gegen die hier vertretene strafrechtliche Behandlung der Eigenmacht dagegen nicht abzuleiten sein. Vielmehr dürste sich aus der besprochenm Rechtsauffassung ein Argument gerade gegen das System des Entwursts ergeben, indem nichts in schrofferem Widersprüche mit derselben zu stehen scheint, als ein Zusammmwerfen der Selbsthilfe mit den schweren und infamirenden Verbrechen, von welchm sie die äußeren Merkmale borgt. In Frage ziehen läßt es sich indes, ob die rationell gezogene Grenze der rechtlich erlaubten Selbsthilfe allgemein unter strafgesetzliche Sanktion zu stellen, ob also die im Referentenentwurfe vorgeschlagene ausnahmslose Bedrohung ihrer Überschreitungen motivirt sei Es läßt sich insbesondere darüber streiten, ob die eigenmächtige Besitzstörung eine Bestrafung fordere (M.-Motive, S. 92). Unseres Erachtens hat es kein Bedenken, die allgemeine Strafbestimmung über die Selbsthilfe sich auch auf diesen Fall erstrecken zu lassen, wenn nur das Mindestausmaß der

Bemerkungen über den österretchtschen Entwurf eines Strafgesetzes u s w.

67

Strafe niedrig genug gegriffen ist. Sollte sich indes auch eine Be­ schränkung dieser Strafregel begründen lassen (was genauer zu prüfen hier zu weit führm würde), so möchte sich daraus jedenfalls ein durch­ schlagender Grund gegen die Aufstellung der Regel selbst, der brnrn nur die betreffende Ausnahme beizufügen wäre, nicht ergeben. Übrigens möchte es sich empfehlen, in die Definition des Ver­ gehens, wie sie sich im Referentenentwurf findet, die Worte „außer den Fällen erlaubter Selbsthilfe" aufzunehmen. An die Stelle des Arrestes würde nach dem Gesagten, in Übereinstimmung mit dem VerbesserungSantrag des Referenten, die Strafe der Einschließung zu treten haben. Dabei aber würde sich angesichts einer großen Mannigfaltigkeit von schwereren und leichteren Fällen rechtswidriger Selbsthilfe einerseits ein höheres Strafmaximum, andererseits ein niedrigeres Strafminimum empfehlen. Daß eine Verfolgung nur auf Verlangen des Verletzten eingeleitet werden solle, ist im Referentenentwurf mit Recht bestimmt. IV. Zu den Bestimmungen über die Urkundenfälschung. Zu den am wenigsten glücklichen Bestimmungen des Entwurfes dürften die über die Urkundenfälschung so wie die über die analog behandelte Fälschung öffentlicher Siegel gehören. Es ist aber, um dies Urteil zu rechtfertigen und für irgend welche Vorschläge eine Grundlage zu gewinnen, hier ein weiteres Ausholen erforderlich, weil für die gesetzliche Behandlung dieser Verbrechensarten bis dahin ein aller Anfechtung enthobener und einer weiteren Begründung nicht mehr be­ dürftiger Standpunkt überhaupt noch nicht gewonnen ist. 1. Die entscheidende Frage, durch deren Beantwortung die Stellung des Gesetzgebers diesen Verbrechen gegenüber zunächst bestimmt werden muß, ist die nach dem Objekte, gegen welches sie sich richten und um dessen Integrität und Sicherheit es dem Gesetzgeber bei den bezüglichen Strafbestimmungen zu thun ist. Dieses Angriffsobjekt nun ist bei den verschiedenen Fälschungs­ arten und gewissen denselben nach ihrem wesentlichen Charakter nahe­ tretenden Verbrechen in dem öffentlichen Kredit zu suchen, dessen gewisse für den Verkehr und bezw. für die Rechtspflege unentbehrliche Beglaubigungsformen oder -Zeichen teilhaftig sind. Hierher gehören die

68

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eineS Strafgesetzes u.f.ro.

öffentlichen Geld-, Wert- und Verkehrszeichen, die öffentlichen Siegel, die Formen der öffentlichen und Privaturkunden u. f. w. Es schließen sich an der Eid und das öffentliche Zeugnis. Das in Frage stehende Objekt nun, d. i. der Kredit dieser Formen, wird durch jede bolofe Inanspruchnahme dieses Kredits für Nachahmungen der bezeichneten Formen, also für falsche oder gefälschte Urkunden, falsche öffentliche Siegel, falsche Eide u. f. w., verletzt. In der Wahrung desselben aber handelt es sich unmittelbar um ein allgemeines gesellschaftliches Interesse. Wir werden daher die gegen denselben gerichteten Angriffe, wenn wir sie überhaupt als selbständige Verbrechensarten behandeln wollen, nicht den gegen die Rechte Einzelner gerichteten Privatverbrechen (Betrug, Diebstahl, Erpreffung u. f. n» ), sondern den unmittelbar gegen die Ge­ samtheit gerichteten Verbrechen einzureihen haben, wiedies im M.-Entwurfe auch geschehen ist. 2. Es kommen diese Verbrechen aber regelmäßig in engster Ver­ bindung mit gewissen anderen Rechtsverletzungen (am meisten mit der betrügerischen Verletzung fremder Vermögensrechte) vor, welche mit Hilfe der Fälschung, bezw. des Meineids ausgeführt werde» wollen. Ja wir können sagen, daß von diesen Verbrechen nur da die Rede sein könne, wo zugleich ein direkter und indirekter Angriff gegen irgend welche sonstige reale oder ideale Güter (Vermögen, Freiheit, Leben u. s. m.) vorliegt. Denn der Kredit jener Formen ist eines rechtlichen Schutzes überall nur teilhaftig um feines Zusammenhanges mit der Integrität dieser Güter willen, und dämm auch nur insoweit, als ein solcher Zusammenhang wirklich besteht. So ist die Zuverlässigkeit des Eides mit rechtlichen Garantien nur umgeben um der realen und idealen Güter willen, welche durch den Meineid verletzt werden können, und nur insoweit, als sich in letzterem eine Gefahr für die betreffenden Güter begründet. Ein falscher Eid über rechtlich gleichgiltige (d. i. eben jene Güter nicht berührende) Thatsachen wird nicht mit Strafen belegt. Das Gleiche gilt von den Fälschungen. Auch bei ihnen lassen sich jene zwei Beziehungen nachweisen: die auf jenen öffentlichen Kredit» das allgemeine Objekt dieser Verbrechensarten, und die auf die besonderen Güter, gegen welche sich der Gebrauch der betreffenden falschen Beglaubigungsformm richtet. In diesem Zusammenhange begründet sich die Möglichkeit einer zweifachen Behandlungsweife der ftaglichen Verbrechen und in specie der Urkundenfälschung. Wir können denselben, wie es oben voraus-

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf einte Strafgesetzes u.f.w.

69

gesetzt worden ist, eine selbständige Behandlung zuteil werden lassen oder sie als Auszeichnungsgründe beim Betrüge und überhaupt bei denjenigen Verbrechen aufführen, welche mit ihrer Hilfe begangen werden können. Das erstere System findet sich, was die Urkundenfälschung betrifft, u. a. im preußischen Strafgesetze, das zweite im neuen bayrischen und neuen sächsischen Strafgesetze (vergl. das geltende österreichische Recht) adoptirt. Für die erstere Behandlungsweise spricht die immer steigende Bedeutung jener Beglaubigungsformen und speziell der öffent­ lichen und Privaturkunden und ihres Kredits für den allgemeinen Ver­ kehr. Es heißt diese Bedeutung verkennen, wenn wir von den soebm unterschiedenen Beziehungen der einzelnen in Rede stehenden Verbrechen die Beziehung auf den öffentlichen Kredit als die untergeordnete be­ handeln. Ferner ist für dies System die Eigenartigkeit des Objekts, um dessen Schutz es sich hier handelt, geltend zu machen. Derselben ist in vollkommener Weise nur Rechnung zu tragen in selbständigen Schutzbestimmungen. Auch besteht in Bezug auf die selbständige Be­ handlung gewisser Fälschungsarten (z. B. der Münzfälschung und der Fälschung öffentlicher Kreditpapiere) kein Dissens. In einem konsequent entwickelten Systeme aber beanspruchm alle Arten dieses Verbrechens die gleiche selbständige Behandlung. Die zweite Behandlungsweise ist dagegen die technisch einfachere. Sie umgeht die Schwierigkeiten, die sich auf dem Wege der ersteren ergeben, was immerhin einer unzulänglichen Bewältigung derselben vorzuziehen sein dürfte. Der Entwurf nun, statt sich für eines dieser Systeme, wie es geschehen muß, zu entscheiden, sucht beide neben einander zu verwirk­ lichen! Er giebt der Fälschung eine selbständige Stellung im 12. Titel und stellt daselbst eine selbständige Strafenstala für sich auf; zugleich aber behandelt er sie als Auszeichnungsgrund beim Betrüge (§ 275, e), ohne daß diese beiden einander ausschließenden Berücksichtigungsiveisen in ein alternatives Verhältnis zu einander gesetzt wären. Hier­ nach würde das in der Fälschung gelegene Schuldmoment in der Regel (nämlich so oft die Fälschung als Mittel zum Betrüge vorkommt) zwei­ mal in Ansatz zu bringen sei! — In dem zitirten § 275, e ist allerdings nur die Fälschung öffentlicher Urkunden unter den Qualifi­ kationen des Betrugs aufgeführt, allein aus der inklavirten Verweisung so wie aus dem Zusammenhange (vgl. § 275, i mit § 163) scheint hervorzugehen, daß wir es hier nur mit einem redaktionellen Versehen

70

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetzes u.s.w.

zu thun haben. — Vielleicht denkt man, daß nach der Intention der Redaktoren der selbständige Fälschungsthatbestand der §§ 168, f (bezw. der §§ 163, f und 167) nur zur Anwendung kommen solle, wenn die Fälschung nicht als Mittel zu einem Betrüge figurire und also die Bestimmung des § 275, e (bezw. 275, g, h, i) nicht platzgreifc? Dem steht aber der Inhalt sowohl des § 170, wie der des § 171 entgegen, indem in ihnen ausdrücklich von Fällen die Rede ist, wo die Fälschung einem Betrüge zur Vermittelung dienen sollte. — Oder glaubt man vielleicht beide Behandlungsweisen in der Art vereinigen zu können, daß man die Fertigung der falschen Urkunde (bezw. des falschen Siegels, der falschen Wertzeichen u. s. w.) auf den selbständigen Berbrechensthatbestand der §§ 168, f (bezw. 163, f, 167), die An­ wendung der gefälschten Instrumente dagegen auf die Qualifikationen des ß 275 bezogen haben will? Auch dem steht der Inhalt der zitirten Paragraphen aufs entschiedenste entgegen (vgl. insbesondere § 168, 4; 164, II, III). — So führt uns hier keine mögliche Interpretation über die Zumutung hinaus, das als Fälschung charakterisirte Unrecht zugleich als selbständiges Delikt und als Betrugsqualifikation zu bestrafen. Aber der Entwurf geht hier noch weiter. Nicht nur das die Fälschung als solche charakterisirende Schuldmoment (die Verletzung jenes öffentlichen Kredits), sondern auch das andere, welches nach dem oben Ausgeführten in dem Thatbestände dieses Verbrechens liegt (der Angriff auf die besonderen Rechte, denen gegenüber das gefälschte Instrument geltend gemacht werden will), würde nach dem Entwürfe in der Regel in doppelten Ansatz zu bringen sein. Mit der Bestrafung eines Verbrechens nämlich kommen sämtliche Momente, welche zu seinem Thatbestände gehören, zur Berücksichtigung. So mit der Bestrafung der Fälschung der besprochene, zu ihrem Thatbestände gehörige Angriff gegen fremde Vermögens- oder andere Rechte. Wenn wir dieses Schuld­ moment daneben noch mit selbständigen Strafen verknüpfen, so bringen wir dasselbe, wie auf der Hand liegt, zweimal in Rechnung. Der Entwurf aber fordert dies, indem er im § 171 bestimmt, daß, wenn die Fälschung einem Betrüge oder anderen Verbrechen (bezw. Vergehen) zur Ausführung diene, die Strafe dieses Verbrechens (bezw. Vergehens) noch neben der Fälschungsstrafe verhängt werden solle. Es sollen also hier die Gmndsätze über Konkurrenz Platz greifen, ohne daß doch wirkliche Konkurrenzfälle vorliegen. Denn es ist keine Verbrechens­ konkurrenz, wenn ein und dasselbe Schuldmoment (hier der besprochene

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetzes u.f.o.

71

Angriff gegen fremde Vermögens- oder andere Rechte) in zwei Ber­ brechensbegriffen vorkommt. Wenn wir mit dem M.-Entwurfe die Fälschung einer selbständigen Behandlung unterziehen, so können wir, wenn wir exakt verfahren wollen, den Umstand, daß der in der Handlung liegende Angriff gegen die fremden (Vermögens-) Rechte beim Versuche stehen geblieben, bezw. daß er zur Vollendung vorgeschritten, nur bei der Sttafabstufung zur Berücksichtigung bringen. 3. Was nun den selbständigen Thatbestand der Urkundenfälschung anbetrifft, so schließt derselbe, wie schon aus dem Bisherigen hervorgeht, als ein wesentliches Requisit den Gebrauch des gefälschten Instru­ mentes ein. Erst mit diesem liegt ein Angriff gegen jene Grundlage des Verkehrs, die „publica fides" der in Frage stehenden Be­ glaubigungsformen, vor. Die Fettigung einer Urkunde mit erdichtetem Inhalte und die anderen im § 168, 1 bis 3 bezeichneten Handlungen enthalten an sich keinen Eingriff in eine fremde Rechtssphäre. Eben so wenig wie die Anschaffung einer Waffe, mittelst welcher ein Mord ausgeführt werden kann. Wir haben darin möglicher Weise eine Vor­ bereitungshandlung für eine künftige Rechtsverletzung, weiter nichts. Diese bloß möglichen Vorbereitungshandlungen für ein Verbrechen der Fälschung werden aber int Entwürfe als vollendete Verbrechen der Urkundenfälschung behandelt. Liegen für eine solche anomale Behandlung derselben zureichende Gründe vor? Ohne Zweifel kann auch die Bestrafung einer bloßen Borbereitungshandlung unter dem Gesichtspunkte der Gefährlichkeit gerechtfertigt erscheinen. Und es gilt dies auch in Bezug auf die Borbereitungshandlungen bei gewissen Fälschungsarten. So z. B. ist die Verpönung der Fettigung falscher Münzen (wiewohl dieselbe an sich einen (Singriff in eine fremde Rechtssphäre nicht enthält) motivirt wegen der unmittelbar drohenden und eminenten Gefahr für die Sicherheit des Verkehrs, welche sich darin begründet, und weil die Ausgabe der falschen Münzen, und somit das eigentliche Delikt, sich der gerichtlichen Feststellung leicht entzieht, während doch bezüglich der Absicht einer rechtswidrigen Verwendung derselben im allgemeinen kein Zweifel sein wird. Bei der Urkundenfälschung aber trifft dies alles nicht zu. Die bloße Existenz einer Urkunde mit unrichtigem Inhalte bei Jemandem z. B. begründet keine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit

72

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetzes u.f.ro.

des Verkehrs und keinen Beweis in Betreff der rechtswidrigen Absicht, und die eigentliche Rechtsverletzung, d. i. der Gebrauch der falschen Urkunde, entzieht sich der gerichtlichen Feststellung hier durchaus nicht mehr wie bei anderen Delikten. Sollte man gleichwohl die Bedrohung der bloßen Fertigung einer falschen Urkunde nicht aufgeben wollen, so würde dieselbe doch jeden­ falls nur in dem Sinne zulässig sein, in welchem der Besitz unrichtiger Maße und Wagen mit Strafm verknüpft zu werden pflegt, d. i. in einem lediglich polizeilichem Sinne. Der Entwurf aber stempelt sie zu kriminellem Unrechte und identifizirt sie mit den eigentlichen Verbrechen der Urkundenfälschung» was nimmermehr gerechtfertigt werden kann. Eine Konsequenz dieser Behandlungsweise ist es, daß das freiwillige Abstehen von dem Verbrechen hier nach dem Entwürfe gänzlich ohne Einfluß auf die Bestrafting bleiben soll, während sonst das freiwillige Abstehen nicht bloß von der Rechtsverletzung überhaupt, sondern sogar von der Vollendung des bereits versuchten Verbrechens straflos macht! 4. Aber es ist nicht genug damit, daß von der Urkunde irgend welcher, vielleicht rechtlich indifferenter Gebrauch gemacht werde, sondern es muß der Kredit der echten Urkunde für sie in Anspruch genommen werden (s. oben s. 1), oder, was dasselbe ist, sie muß als Beweismittel in Bezug auf irgend welche Rechtsverhältnisse präsentirt werden. Jeder andere Gebrauch berührt das oben besprochene Angriffsobjekt der Fälschungsverbrechen nicht. In den einschlagenden Bestimmungen des Entwurfes aber (§ 170) ist diese Grenze nicht gezogen. 5. Der Gebrauch der falschen Urkunde muß ferner, wie sub 2 näher dargelegt worden ist, eine Richtung gegen die Rechte Anderer haben. Die Bestrafung eines Gebrauchs, der Niemandes rechtliche Interessen beeinträchtigt und auf eine solche Beeinträchtigung nicht angelegt ist, entspricht keinem Bedürfnisse. Daß diese Richtung ferner int Bewußtsein des Handelnden liegen, daß derselbe also in rechtswidriger Absicht handeln müsse, ist bei der Urkundenfälschung jedenfalls zu fordern. Ein fahrlässiges Gebaren mit falschen Urkunden zum Nachteile fremder Rechte ist ohne Zweifel denkbar; aber als ein durchaus vereinzelt auftretendes und sozusagen zufälliges, keiner Nachahmung fähiges Vorkommnis würde es eine Gefahr für den Kredit der echten Urkunden nicht in sich schließen. Eher läßt es sich motiviren, wenn ein solches fahrlässiges Gebaren

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetze- u. s. w.

73

in Bezug auf falsche Geld-, Wert- und Verkehrszeichen mit Strafe bedroht wird (§ 166 des Entwurfes), weil dieselben in Masse produzirt zu werden pflegen und die Thatsache, daß etwas davon ausgegeben worden ist, häufig genügen wird, eine gewisie Unsicherheit hervorzu­ bringen. Der Entwurf aber sieht auch von den letztgenannten Requisiten der Urkundenfälschung ab und zieht damit eine Menge von Handlungen unter den Begriff dieses Verbrechens, welche weder mit der Verletzung jener Grundlage des Verkehrs etwas zu thun haben, noch überhaupt eine Bestrafung rechtfertigen. Man sehe wohl zu, was man hier von den Elementen des Ver­ brechens übrig behält! Wenn wir mit dem Entwürfe von der Anwendung der falschen Urkunde als einem allgemeinen Requisite absehen, so bleibt uns, wie oben gezeigt wurde, in ihrer Herstellung nur eine mögliche Vorbereitungshandlung für ein Verbrechen übrig. Eine wirkliche Vor­ bereitungshandlung haben wir darin aber nur, wenn sie in rechts­ widriger Absicht erfolgt. Indem wir nun mit dem Entwürfe auch die letztere als ein all­ gemeines Requisit nicht anerkennen, bleibt uns vom Verbrechen der Urkundenfälschung einfach nichts — ein kriminalistisches Pendant zu dem Messer ohne Stiel und Klinge — in Händen! ‘ Wer in einer Schuldverschreibung die ihm geschuldete Summe eigenmächtig herabsetzt, der würde nach dem Entwurf (§ 168, 3; 170 i. f.) für diese generöse Handlung als Fälscher mit mehrmonatlicher Einschließung zu belohnen sein. Wer sich mit Bezug auf ein gar nicht bestehendes Forderungsver­ hältnis als Schuldner bekennt, oder wer in Bezug auf ein materiell begründetes Schuldverhältnis eine Urkunde mit fingirtem Titel errichtet, oder wer ein Blanquet eigenmächtig mit beliebigem harmlosen Inhalte ausfüllt, diese alle gesellt der Entwurf (§ 168, 2; 169 b) in der Kategorie der Fälscher den gefährlichsten Feinden des VermögensVerkehrs, infamen Gaunern und Betrügern zu. 6. Nach dem bisher Gesagten würde nur derjenige als der Ur­ kundenfälschung schuldig zu betrachten sein, der von einer falschen oder gefälschten Urkunde und zwar als von einer Urkunde und in der Absicht, die Rechte Anderer dadurch zu beeinträchtigen, Gebrauch macht. Von den hierin zusammengefaßten Merkmalen würde der Begriff der Urkunde eine genauere Erläuterung verdienen. Die einschlagenden ge­ setzlichen Definitionen sind aber vielfach zu umfassend. So die des

74

Bemerkungen Aber

den österreichischen Entwurf eines StrasgesetzeS u.s.w.

preußischen, welches eine Schrift fordert, die zum Beweise von Rechten und Rechtsverbindlichkeiten „von Erheblichkeit" ist. Was kann nicht alles in diesem Sinne als erheblich charakterisirt werden! Richtiger würden Schriften vorauszusetzen sein, welche zum Beweise von Rechten und Rechtsverbindlichkeiten zu dienen bestimmt sind. Denn in der Wahrung des Kredits solcher Schriften ist der praktische Zweck einer legislativen Auszeichnung der Urkundenfälschung gegeben. 7. Neben der so begrenzten Urkundenfälschung aber würden andere Schristfälschungen, wenn wir dieses Wort in einem weiteren Sinne gebrauchen dürfen, in besonderen Bestimmungen zu berücksichtigen sein. So die unbefugte Nachahmung von ftemden Fabrik- und Warenzeichen (M.-Entwurf § 169, c). Wir habm in ihr eine eigentümliche und minder grave Verletzung jener publica fides, für welche es motivirt wäre, besondere Strafsätze aufzustellen. Ferner die Fälschung von Zeugnissen über thatsächliche Verhältnisse, sofern sie auf Personen lauten, welchen öffentliche Glaubwürdigkeit beigelegt ist. Eine allge­ meine Ausdehnung solcher Bestimmungen auf Privatzeugnisse dürste keinem Bedürfnisse entsprechen. — Ferner die unbefugte Ausfüllung eines Blanquets (§ 169, b). Sie würde mit der Strafe der Urkunden­ fälschung selbstverständlich nur unter den gleichen Voraussetzungen wie die letztere selber zu bedrohen sein. Die Herstellung einer Urkunde mit erdichtetem Inhalte wird vom Entwürfe der Urkundenfälschung ganz allgemein zugezählt. Es ist dies ein auffallender und weder mit theoretischen, noch mit praktischen Gründen zu rechtfertigender Rigorismus. Die Bedrohung dieser „intellektuellen Fälschung" würde auf öffentliche Urkunden zu beschränken und dabei ebenfalls an die sub 4 und 6 entwickelten Voraussetzungen zu binden sein. Simulationen in Privaturkunden berühren das Objekt der Fälschungsverbrechen nicht. Dienen sie einem Betrüge zur Durchführung, so genügt es, wenn der Letztere zur Bestrafung kommt. 8. Das Strafmaß ist für die Fälschung natürlich höher zu greifen als für den Betrug. Ein Angriff gegen jenen öffentlichen Kredit wiegt für die Gesamtheit schwerer als ein gegen die Vermögens­ rechte Einzelner (das Objekt des Betruges) gerichteter. Außerdem schließt ja der Thatbestand der Fälschung, wie sich aus dem oben Ausgeführten ergiebt, für die Regel einen Betrug, bezw. Betrugs­ versuch ein, welcher in der zu verhängenden Strafe seine Berücksichtigung ebenfalls finden muß. — Daß von diesen beiden Verbrechenselementen

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w.

75

das erstere das bedeutsamere sei, ist bei der selbständigen Behandlung der Fälschung vorausgesetzt. Das Strafmaß des Entwurfes würde dem exakt begrenzten That­ bestände der Urkundenfälschung gegenüber viel zu niedrig sein. Die Einschließungsstrafe würde hier zu streichen, die Zuchthausstrafe dagegen einzuführen sein. Die auffallende Milde der Straffätze des fraglichen Paragraphen (§ 170) hat ihren Grund offenbar in dem eigentümlichen, ungeklärten Verhältnis, in welchem die Fälschung im Entwürfe zum Betrüge und speziell zu dem durch Fälschung qualifizirten Betrüge steht. Der durch die Urkundenfälschung begangene oder versuchte Betrug ist, wie schon erwähnt, bei Ausmesiung der Strafe für die erstere in Ansatz zu bringen, und es ist dies bei der Normirung des Kläglichen Strafmaßes im Gesetze zu berücksichtigen. Der Entwurf aber proklamirt hier die Grundsätze über Konkurrenz, während er in Bezug auf die anderen Fälschungsarten zum Teile ein anderes System vertritt. So in Betreff der Geldfälschung und der Fälschung öffentlicher Kredit­ papiere. Bei Ausstellung des bezüglichen Strafmaßes ist an eine Kumu­ lirung der hiernach zu verhängenden Fälschungsstrafe mit der Betrugs­ strafe sicherlich nicht gedacht worden. Eine singuläre Berücksichtigung findet ferner der durch Verwendung öffentlicher Wert- oder Verkehrs­ zeichen begangene Betrug im § 164, III. Der Gegensatz, den hier die M.-Motive (S. 94) zwischen einem durch die Fälschung an sich herbei­ geführten und einem für Dritte durch Irreführung mittels des Falsifikates erwachsenden Nachteile machen, hat keine Bedeutung. Der erstere ist mit dem die Fälschung als solche charakterisirenden Momente der Ver­ letzung der publica fides eben so wenig identisch wie der letztere, und dieser bei der Würdigung der konkreten Fälschung ebenso wenig als gleichgültig zu behandeln wie jener. V. Zur Bestimmung über die Verbreitung atheistischer Ansichten. Während im Referentenentwurfe das int geltenden Rechte sich findende Verbrechen der Unglaubenverbreitung völlig und mit Recht übergangen worden ist, hat dasselbe im Ministerialentwurfe eine Fort­ existenz, wenn auch nur in beschränkteren Formen, gewonnen. Deffelbe

76

Bemerkungen über den Ssterreichtschen Entwurf eines Strafgesetzes u. s. w.

bedroht nämlich im § 184 f. denjenigen, welcher Andere öffentlich von dem Glauben an Gott abwendig zu machen sucht, als Verbrecher mit vier bis zwölf Monaten, bezw. ein bis vier Jahren Zuchthaus. Wenn für die fortdauernde Notwendigkeit einer solchen Bestimmung spezifisch österreichische Verhältnisse angerufen würden, so wäre es für einen Ausländer schwierig, dem gegenüber Position zu nehmen. Allein in den M.-Motiven werden nur Gründe allgemeinerer Natur hierfür beigebracht, Gründe, benot sich vom allgemeinen Standpunkte aus mit Gegengründen antworten läßt. Die fragliche Bestimmung hat ihre eigentliche Bedeutung philo­ sophischen Erörterungen atheistischer Richtung gegenüber. Denn wer nicht durch Gründe, sondern durch Schmähungen oder sonst durch die Form seiner Äußemngen die in Frage stehende Wirkung herbeizuführen suchte, für dessen Bestrafung wären in den sonstigen Bestimmungen des 15. Titels (von strafbaren Handlungen wider die Religion) Anhalts­ punkte genug gegeben. Nun räumen die M.-Motive ein, daß Aus­ führungen der ersteren Art einen Einfluß auf weitere Kreise nicht zu gewinnen pflegen, was gewiß in dem Sinne richtig ist, daß dem Volke im ganzen das Gottesbewußtsein nimmermehr abhanden kommen wird, sowie daß diejenigen Bestandteile der Bevölkerung, welche hier als eines Schutzes bedürftig und fähig allein bezeichnet werden könnten, Erörter­ ungen jener Art nicht zugänglich zu sein pflegen. Diejenigen Gesell­ schaftskreise, an welche sich dieselben ihrer Natur nach richten, auf strafgesetzlichem Wege gegen gewifle Überzeugungen schützen zu wollen, würde thöricht sein. Betreffende Strafbestimmungen würden sich hier auch als „Gitter im Wasser" ausweisen, welche die Wellen des immer­ währenden Meinungskampfes nicht verhindern könnten, herüber und hinüber zu gehen. Es ist völlig eitel, die Schranken der Wissenschaft niederreißen und derselben doch gewisse Ziele strafpolizeilich verlegen zu wollen; der Philosophie freien Raum geben, den Lehren atheistischer oder pantheistischer Denker gegenüber eine Gedankensperre festhalten zu wollen! Die Zeit des Kämpfens um Überzeugungen mit den Waffen der Kriminal­ justiz ist im Gebiete unserer Kulturländer vorbei. Machen wir uns — man verzeihe daS Wort — nicht einer neuen Don-Quixoterie schuldig, indem wir sie festzuhalten suchen! Wir können uns damit nur Ver­ legenheiten schaffen und gelegentlich die öffentliche Meinung Europas alarmiren. Oder welchen anderen Effekt hätte es haben können, wenn

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w.

77

man gelegentlich Schopenhauer oder Feuerbach wegen ihrer atheistischen Lehren mit gemeinen Verbrechern zusammengeworfen hätte? Weder ein theoretisches, noch ein praktisches Argument gegen die Verbreitung ihrer Meinungen wäre damit gewonnen gewesen. Die Wahrheit wird künftig nur Triumphe feiern durch ihre eigene Kraft. Wenn wir aber gegen die Meinungen mit jenen Mitteln nichts ausrichten können, so hat die Verfolgung der Personen den Charakter unwürdiger Rancune. Wenn aber in den M.-Motiven in Bezug auf Erörterungen der hier in Frage stehenden Art bemerkt wird, daß sie die Tendenz einer unmittelbaren Einwirkung auf Andere nicht an sich trügen und daß sie deshalb unter die ftaglichen Strafbestimmungen nicht zu ziehen sein würden, so ist dem entschieden zu widersprechen. Warum soll eine philosophische Vertretung eigener Überzeugungen diese Tendenz weniger an sich tragen als eine unphilosophische? Sollte nicht die aufgewendete geistige Kraft den richtigen Maßstab abgeben für das Interesse der Einwirkung auf das Erkenntnisvermögen der Anderen, und ist die in jenen philosophischen Erörterungen der höchsten Probleme konsumirte Kraft nicht eine unendlich viel höhere als die zu dilettantischem Geschwätze oder zu frivolen Äußerungen eines unwisienschastlichen Radikalismus aufzuwendende? VI. Über die Bestimmun gen gegen Verleumdung und Ehrenkräntung. Nach der Natur dieser Erörterungen ist die dem Verfasser an die Hand gegebene normale Form einer Beifallsäußerung das Still­ schweigen, da es sich in der Hauptsache darum handelt, mit Rücksicht auf die in Aussicht stehende Durchberatung des Entwurfes die der Verbesserung bedürftigen oder doch fähigen Partien möglichst scharf als solche hervortreten zu lassen und so behufs einer möglichen Wert­ erhöhung desselben die Rolle des advocatus diaboli dem Entwürfe gegen­ über zu übernehmen. Wäre dies anders, so würde bei den Titeln XIII bis XVI lobend zu verweilen und nicht, wie es hier geschehen soll — und zwar gerade weil sie des Löblichen viel enthalten und zu ver­ hältnismäßig wenigen Ausstellungen Anlaß geben — stillschweigend vorüberzugehen sein.

78

Bemerkungen übet den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w.

Auch die Bestimmungen über die strafbaren Handlungen gegen das Recht auf Ehre (Titel XVII) sind als mit Umsicht redigirte anytttfernten, möchten jedoch gleichwohl an verschiedenen Punkten die Kritik herausfordern. a. Zunächst erscheinen sie zum Teil mehr als wünschenswert komplizirt sowie in einigen Richtungen von allzu vager Ausdehnung. Beides ließe sich an der Behandlung derjenigen Äußerungen, welche „geeignet sind, Jemanden in der Achtung Anderer zu beeinträchtigen", deutlich machen. Dieselben werden 1. als Verleumdungen bestraft, wenn sie bestimmte Handlungen betreffen und mit dem Bewußtsein der Unwahrheit vorgebracht werden (§ 204, a); 2. als Ehrenkränkungen schwerster Art, wenn sie unwahr sind, aber von dem Aussagenden ohne zureichenden Grund für wahr gehalten werden (§ 206); 3. als Ver­ gehen des § 207, wenn sie wahr sind, jedoch in schmähender Absicht erfolgen; 4. als Vergehen des § 208, wenn sie öffentlich vorgebracht werden. Die zuletzt erwähnte Bestimmung greift ohne Zweifel zu weit, wie unten spezieller nachgewiesen »verden soll. Die Hervorhebung des dritten Falles dagegen ist überstüssig. Die Absicht zu schmähen kann die wahre Mitteilung nur zu einem Delikte stempeln, wenn sie sich manifestirt, d. i. wenn sie die fragliche Mitteilung in beschimpfender Form auftreten läßt. In diesem Falle aber greift die allgemeine Be­ stimmung über Beschimpfungen (§ 207, d) platz. Was endlich die beiden ersten Fälle angeht, so ist darauf aufmerksam zu machen, daß „Beeinträchtigung in der Achtung Anderer" nicht identisch ist mit „der Verachtung Anderer preisgeben", und daß sie ferner keineswegs not­ wendig ein „Verachtung bezeigen" seitens des Handelnden einschließt. Das besondere Maß von Achtung, dessen sich Jemand bei Dritten erfreut, kann durch Umstände bedingt sein, welche mit der sittlichen Integrität desselben in keinem Zusammmhange stehen, wie z. B. durch den Besitz von Titeln und Würden, durch vornehme Verbindungen, durch politische oder religiöse Ansichten, intellektuelle Gaben u. s. w. Jene besondere Achtung kann daher auch durch Äußerungen und Mitteilungen gemindett werden, welche die sittliche Integrität des Bettoffenen nicht in Frage stellen und Verachtung weder ausdrücken, noch heworzurufen geeignet sind. Ob dieselben nun mit Recht, wie es im § 204 und 206 des Entwurfes geschieht, mit der Mitteilung ehrenrühriger Thatsachen identifizirt werden, darf füglich in Zweifel gezogen werden.

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eineS Strafgesetzes u.f.ro.

79

b. In den Strafbestimmungen des § 205 spielt die Einteilung der Rechtsverletzungen in Verbrechen und Vergehen, wie leider mehrfach, eine entschieden unglückliche Rolle. Die Verleumdung soll nämlich als „Verbrechen" angesehen und behandelt werden, wenn sie geeignet ist, ein strafgerichtliches Verfahren wegen eines „Verbrechens" herbeizu­ führen; im übrigen soll sie als „Vergehen" gelten. Es wird hier also als für die Behandlung dieses Deliktes entscheidend der Umstand aufgestellt, ob das dem Verleumdeten angedichtete Delikt sich der Kategorie der Verbrechen einreihe oder nicht.

Daß dies aber der Natur dieses

gegen die Ehre gerichteten Deliktes widerstreite, daß die Merkmale, nach welchen im Entwürfe Verbrechen und Vergehm sich unterscheiden, mit der Frage, in welchem Umfange eine Handlung jenes Angriffs­ objekt (die Ehre) verletze, nichts zu thun haben, ist leicht einzusehen. Der Entwurf zählt den Verbrechen zahlreiche nicht infamirende Delikte, den Vergehen zahlreiche infamirende zu; es ist aber von selbst ein­ leuchtend, daß eine auf letztere sich beziehende Verleumdung die Ehre des Verleumdeten tiefer verletze als eine auf nicht infamirende Hand­ lungen bezügliche, möchten diese letzteren auch mit quantitativ höheren Strafübeln bedroht sein. So verletzt es die Ehre unstreitig tiefer, wenn dem Verleumdeten ein nicht qualifizirter Betrug im Betrag von fünfzig Gulden nachgeredet wird, als wenn die Nachrede eine Hausfriedens­ störung betrifft, trotzdem daß jener Betrug nur als Vergehen,

diese

Hausfriedensstörung als Verbrechen qualifizirt und mit den schwereren Verbrechensstrafen bedroht wird.

Indem der Entwurf hier die den

Betrug betreffende Verleumdung als die minder schwere behandelt, erklärt er das Verhältnis, in welchem die vorgegebenen Handlungen zur Ehre des Verleumdeten stehen, also das für die Verleumdung charakteristische und essentielle Verhältnis als relativ gleichgültig. Wenn dagegen einige Kreuzer im Betrage des Betrugs über die Verbrechensqualität dieses letzteren Deliktes (§ 275) und damit über die Verbrechensqualität der auf Betrug sich beziehenden Verleumdung entscheiden sollen, so wird umgekehrt das für die Würdigung des in Frage stehenden Deliktes Gleichgültige als das Wesentliche ausgegeben. Und nun die Art, wie die auf solche Weise begründete Unter­ scheidung des Verbrechens vom Vergehen der Verleumdung durchgeführt wird!

Das (nicht durch ein Druckwerk verübte) Vergehen der Ver­

leumdung soll höchstens vier Monate Arrest nach sich ziehen, das Ver­ brechen der Verleumdung mindestens vier Monate Zuchthaus.

Nun

80

Bemerkung»» über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

nehme man folgende Fälle. Es wird Jemand verleumdet, er habe mittels Urkundenfälschung einen Betrug im Betrage von zehn Gulden verübt, und wird in Folge der Verleumdung zu mehrmonatlichem Arrest ver­ urteilt. Der Verleumder kann hier nach § 205 i. f. höchstens vier Monate Arrest erhalten. Wird dagegen der Betrag des vorgespiegelten Verbrechens auf elf Gulden angegeben, so ist dem Verleumder unter den angegebenen Voraussetzungen nach § 205 b eine Strafe von ein bis vier Jahren Zuchthaus zuzuerkennen! Wenn hier der Sprung in den Strafsätzen völlig unmotivirt erscheint, so wird in anderen Fällen die Schwere der nach § 205 zu verhängenden Strafübel sogar im umgekehrten Verhältnisse zur Größe der Rechtsverletzung stehen. Denn eine Verleumdung, in Folge deren dem Verleumdeten eine mehrjährige Einschließungs- oder Arreftstrafe erwächst, soll nach dem zitirten Para­ graphen mit Arrest bis zu vier Monaten geahndet werden; eine Ver­ leumdung dagegen, welche für den Betroffenen nur die Gefahr begründet, mit einer einmonatlichen Verbrechensstrafe belegt zu werden, mit Zucht­ haus bis zu zwölf Monaten und, wenn die Gefahr sich realisirt, mit Zuchthaus bis zu vier Jahren (205 a, b)! Auch im übrigen sind die Strafabstufungen des § 205 nicht gut­ zuheißen. Es ist dabei überall nur auf ein einzelnes von den für die Schuld des Verleumders maßgebenden Momenten, nämlich auf den Umfang der den Verleumdeten etwa erwachsenden strafrechtlichen Folgen Rücksicht genommen, wobei unter Anderem übersehen scheint, daß die innere Seite der That die gleiche Beachtung in Anspruch nehme wie die äußere, welcher das hervorgehobene Merkmal angehört. Setzen wir. daß bei einer Verleumdung, welche dem Verleumdeten eine mehrmonat­ liche Freiheitsbeschränkung zugezogen hat, diese Folge dem Verleumder nur in unbestimmter Weise als eine nicht in Absicht genommene ent­ fernte Möglichkeit vorgeschwebt habe, daß dagegen in einem anderen Falle, in welchem dem Betroffenen nur eine einmonatliche Freiheits­ beschränkung erwuchs, die Absicht des Verleumders auf eine solche Folge gerichtet und seine Thätigkeit arglistig darauf berechnet gewesen sei — welche von beiden Übelthaten werden wir als die strafbarere betrachten müssen? Ohne Zweifel die letztere. Der Entwurf aber fordert, indem er ausschließlich die äußeren Folgen der That betont, das Gegenteil (205 a, b). Im übrigen ist hier auf die Nr. 3 der Bemerkungen zum allgemeinen Teile zurückzuverweisen. c. In der Reihe der in den §§ 206 und 207 bedrohten Ehren-

Bemerkungen übet den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

81

kränkungen findet sich eine Lücke, deren Ausfüllung um der Konsequenz willen gefordert sein möchte. Es wird nämlich durch den Schlußsatz des § 206 das Vorbringen falscher, jedoch für wahr gehaltener That­ sachen der in diesem Paragraphen bezeichneten Art schlechthin, also auch für den Fall, daß es in der Absicht zu schmähen erfolge, für straflos erklärt, während der Fall des Vorbringens wahrer Thatsachen in schmähender Absicht nach § 207 bestraft werden soll. Hiernach würde die Unwahrheit der in schmähender Absicht vorgebrachten Thatsache die Kraft eines Strafausschließungsgrundes haben. d. Ein schwieriges und interesiantes Problem behandelt § 208 b, worin nämlich die ohne Nötigung erfolgende öffentliche Mitteilung für Dritte kompromittirender Thatsachen mit Strafe bedroht ist. Hiermit wollen gemeiner Skandalsucht, die gar oft die Maske uneigennütziger Wahrheitsliebe anlegt, die Wege des öffentlichen Lebens verschlossen werden. Daß mit der Verwirklichung dieser Absicht dem öffentlichen Jnteresie gedient sein würde, bedarf keiner Ausführung. Auf der anderen Seite aber ist das Gesamtwohl wie das Wohl der Einzelnen in mannigfacher Weise dabei engagirt, daß in der öffentlichen Schätzung von Personen und Verhältnissen die Wahrheit sich Geltung verschaffen könne; daß die gangbare Münze des ge­ meinen Urteiles nicht am Ende unter der Herrschaft von Argwohn und Heuchelei alles Wahrheitsgehaltes verlustig gehe. Diesem letzteren Interesse nun will im Entwürfe durch die Beschränkung der Straf­ drohung auf denjenigen, welcher zu jenen Publikationen schreitet, „ohne durch besondere Umstände dazu genötigt zu sein". Rechnung getragen werden. Es verdient wohl einer genaueren Prüfung unterzogen zu werden, ob auf diese Weise eine richtige Auseinandersetzung zwischen den be­ zeichneten mit einander kollidirenden Interessen zu Stande komme. Man setze, es handle sich in öffentlicher Versammlung um die Übertragung eines Vertrauenspostens an einen zuverlässigen und fähigen Mann, und es habe ein hierfür in Vorschlag gebrachtes Individuum durch frühere Handlungen bewiesen, daß ihm die vorausgesetzten Eigen­ schaften mangeln. Ist hier die Aufklärung der Versammlung über diesen Punkt als rechtswidrig und strafbar anzusehen? Sicherlich nicht! Die fragliche Mitteilung verletzt Niemandes Recht (der Unfähige hat kein Recht auf den Ruf der Fähigkeit, der Schurke kein Recht auf das Ansehen des Ehrenmannes), kollidirt mit

82

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w.

keinem allgemeinen Interesse und begründet nicht einmal eine moralische, geschweige denn eine strafrechtliche Schuld. Der Entwurf aber scheint, indem er eine „Nötigung" zu der betreffenden Mitteilung als Vor­ aussetzung ihrer Straflosigkeit aufstellt, der entgegengesetzten Auffassung zu huldigen. Denn Nötigung und Notstand find korrespondirende Be­ griffe.

Bon einem Notstände kann aber in Bezug auf unseren Fall

nicht wohl gesprochen werden. — Oder soll die hier geforderte Nötigung in einem uneigentlichen Sinne, in welchem sie jede Veranlassung durch ein der Vertretung fähiges eigenes Jntereffe begreifen würde, verstanden werden? Abgesehen davon, daß dieser Auslegung der sonstige Gebrauch des Wortes im Entwürfe entgegensteht, würde mit ihr eine haltbare Grenze zwischen strafbaren und erlaubten Publikationen der fraglichen Art noch keineswegs gewonnen sein.

Es würde danach immer noch

derjenige zu bestrafen sein, der jener Versammlung, ohne irgend

ein

eigenes Interesse dabei zu haben, die bewußte Mitteilung machte. In Bezug auf ihn könnte von einer Nötigung in keinem Sinne gesprochen werden, und doch wäre es verkehrt, ihn wollen.

zum Verbrecher stempeln zu

Man denke ferner an Mitteilungen der in Frage stehenden

Art in Geschichtswerken. Man wird nicht sagen wollen, daß die Ge­ schichte mit den Thatsachen des Privat- und Familienlebens

nichts

zu thun habe, abgesehen davon, daß es für den Geschichtsschreiber un­ möglich sein würde, hier überall eine bestimmte Grenze zu ziehen. Sollten nun aber betreffende Publikationen unter die Strafbestimmungen des § 208 gezogen werden, so würde dies gleichbedeutend sein mit dem Verbote wahrheitsgetreuer Geschichtsschreibung in Bezug auf die letzten drei Generationen.

Denn soweit erstreckt sich nach § 214, Abs. 4 der

strafrechtliche Schutz des Rechts der Ehre. Nötigung hier keinen Ausweg an die Hand. könnte zwar vielleicht,

Auch giebt die geforderte Denn von einer solchen

unter der Voraussetzung, daß überhaupt da;

Geschichtswerk geschrieben werden mußte,

in Bezug

auf die einzelne

Mitteilung gesprochen werden. Allein jene Voraussetzung wird sich u der Regel nicht begründen lassen. ES kann hier daher irgend ein Müssen als Bedingung der Straf­ losigkeit nicht aufgestellt werden. Vielmehr hat überall, wo die Publi­ kation sich auf ein achtbares Interesse bezieht (mag dasselbe nun einer psychologischen Zwang auf den Handelnden ausgeübt haben oder nicht. eine Bestrafung keinen verständigen Sinn. Damit aber werden wir auf einen mehr moralischen als juristischer

Bemerkungen

über dm österreichischen Entwurf eines Strafgefe-eS

u.f.w.

83

Standpunkt der Beurteilung hingeführt; ein Umstand, der sich für die Übertragung der Anwendung des fraglichen Begriffes auf Geschworne oder Schöffen geltend machen ließe. e. Bedenken erweckt der im § 209 b, in. aufgestellte (im Referentenentwurfe nicht aufgeführte) Erschwerungsgmnd der öffentlichen Stellung des Beleidigten. Von der Amts- und Dienstehre (und selbstverständlich der Ehre des Monarchen) abgesehen, welche mit besonderen Schutzwehren um­ geben sind, ist daS Recht der Ehre prinzipiell ein gleiches. Me das Leben und die körperliche Integrität des Einen rechtlich nicht höher und nicht anders zu taxiren ist als das Leben und die Gesundheit des Anderen, so ist es auch mit der Ehre. Es ist nichts Zufälliges, fonbrni von prinzipieller Bedeutung, daß unser heutiges Recht nicht mehr wie bekannte Rechte unserer Vorfahren für diese Güter verschiedene Wert­ sätze haben, je nachdem es sich um Angehörige dieses oder jenes Standes handelt. In der That, es steht hier das eigentliche Fundamental­ prinzip unseres modernen Rechts, das Prinzip der gleichen Berechtigung jeder menschlichen Persönlichkeit als solcher, in Frage. Denn in dem Schutz der Ehre erfährt die Persönlichkeit ihre unmittelbarste Aner­ kennung und Würdigung, in der Injurie die unmittelbarste Verneinung ihrer Geltung. Daher eine grundsätzlich verschiedene Behandlung der letzteren, je nachdem sie sich gegen verschiedene Individuen richtet, eine grundsätzlich verschiedene Schätzung der Persönlichkeiten selber einschließt. Es ist nicht einzuräumen, daß die Beamten, wie die M.-Motive anzunehmen scheinen, in rein menschlichen Beziehungm eine höhere Achtung in Anspruch zu nehmen hätten als andere Leute, daß der Richter ein größeres Recht auf den Namen eines ehrlichen Mannes habe als der Arzt, der Künstler u. s. w. Ebenso wenig, wie es richttg wäre, dem guten Namen des Arbeiters einen geringeren rechtlichen Schätzungswert beizulegen als dem des gesellschaftlich höher gestellten Arbeitgebers. Die sozialen Rangstufen' sind nicht ins Rechtliche zu übersetzen und die Unterscheidungen der Ettquette nicht zu Merkzeichen verschiedener Grade der Rechtsfähigkeit zu erheben. Der Staat ist ohne Zweifel dabei interessirt, daß seine Funkttonäre der öffentlichen Achtung teilhastig seien; allein die einzige wirkliche Garantie hierfür kann nur in dem entsprechenden Verhalten dieser Furiktionäre selbst gefunden werden, und es möchte sich daher aus jenem

84

Bemerkungen übet den -sierrcichtjchen Entwurf eineS Strafgesetzes u.s.w.

Interesse nicht irgend ein besonderes Recht, sondern lediglich eine be­ sondere Verpflichtung für dieselben ableiten, die von ihnen abhängigen Bedingungen jener Achtung mit aller Sorgfalt zu wahren.

VII. Über die Behandlung der Brandstiftung im Entwürfe. a. Der Umstand, daß eine Sachbeschädigung

auch

durch das

Mttel der Inbrandsetzung des Gegenstandes ausgeführt werden kann, rechtfertigt

an

sich

nicht die Aufstellung eigentümlicher Grundsätze

für die Behandlung derselben und nicht die Aufstellung eines besonderen Verbrechensthatbestandes.

Ob ein wertvoller Kupferstich widerrechtlich

zerriflen oder widerrechtlich verbrannt wird, ist in rechtlicher Hinsicht völlig indifferent, und es wäre sinnlos, in Bezug auf die Zurechen­ barkeit u. a. die beiden Fälle verschieden zu behandeln. ferne

Nur inso-

die Brandstiftung fremdes Leben oder fremdes Eigentum in

unbestimmtem Umfange, als gemeingefährliches Verbrechen, gefährdet, kommt ihr die ausgezeichnete Stellung zu, welche ihr im Entivurf zu Teil geworden ist. Dies erkennt der Entwurf auch insoferne an, als er dies Ver­ brechen in der Titelrubrik („Brandstiftung und andere gemeingefähr­ liche Handlungen" .. .) gleichsam als den Typus der gemeingefährlichen Delikte hinstellt und insofern die besonderen Grundsätze, die er

für

dasselbe aufstellt, die angegebene Eigenschaft zur Voraussetzung haben. Dahin gehört die besondere Bestimmung des Momentes der Vollendung, indem dieselbe nach § 218 mit dem „in Brand stecken" gegeben sein soll.

Damit nämlich ist die Gefahr, welche das Wesen des gemein­

gefährlichen Verbrechens ausmacht, existent geworden.

Dagegen liegt

bei der nichtgemeingefährlichen Sachbeschädigung der Schwerpunkt in der Schädigung selbst,

deren Dasein daher

zur Konsummation des

Delikts gehört. Dahin gehört ferner die Bedrohung der fahrlässigen Begehung der Brandstiftung, während bezüglich der Sachbeschädigung sonst an dem Erfordernis der bösen Absicht festgehalten wird. Allein in

der Begriffsbestimmung (§ 218 a und b) ist trotz

alledem die gemeine Gefahr als ein Erfordernis nicht anerkannt. Mit der Forderung einer nicht etablirt.

„Feuersbrunst"

ist dasselbe, wie mir scheint,

Wer einen sehr großen Strohhaufen anzündet, der er­

regt eine „Feuersbrunst", und doch ist, wenn der Haufen isolirt liegt.

Bemerkungen übet den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. s. ro.

85

von gemeiner Gefahr nicht zu reden. Die Anwendung der strengen Straftrohungen des § 219 würde derartigen Fällen gegenüber nicht gerechtfertigt sein. Die „Feuersbrunst" giebt uns nur ein quantitatives Merkmal an die Hand; mit einem solchen aber vermögen wir es nicht zu rechtfertigen, daß die Brandstiftung von der Sachbeschädigung getrennt und als etwas von ihr der Art nach verschiedenes unter eigentümliche Grundsätze gezogen wird. Rach dm Bestimmungm des Entwurfes über die Sachbeschädigung soll Zuchthaus von 4 bis 8 Jahrm eintreten, wenn der Schaden mehr als 500 fl. beträgt, sich also als ein besonders großes darstellt (§ 282, I); nach dm Bestimmungm über Brandstiftung dagegen soll Zuchthaus von 8 bis 12 Jahrm ein­ treten, u. a., wmn ein sehr großer Schaden durch die Feuersbrunst herbeigeführt wurde (219, b). Wie rechtfertigt sich die Berschiedmheit dieser Strafmaße? Ein quantitativer Unterschied ist hier nicht vor­ handen und nach einem qualitativen ist dm Definitionm des Entwurfes gegenüber nicht zu frugen. b. In Bezug auf die Vollendung des Verbrechms schließen, wie mir scheint, die Ausdrücke des Entwurfes nicht jeden Zweifel aus. Eine „Feuersbrunst bewirken", was nach § 218, a hierzu gehört, ist doch wohl nicht identisch mit dem „in Brand steckm" einer Sache, wovon § 218, b spricht, und eine Sache kann in Brand gesetzt sein, ohne daß, nach Maßgabe des gewöhnlichen Wortsinnes, „Feuer ausgebrochen" ist, was nach § 219, c als zum Thatbestände gehörig anzusehen ist. Ferner ist eine besondere Berücksichtigung der thätigen Reue nach der formellen Vollendung des Verbrechens zu vermissen. Wenn der Brandstifter durch seine Veranstaltung selbst die Ausbreitung des Feuers hindert, ehe ein bemerkenswerter Schaden durch dasselbe ver­ ursacht wurde, so ist sicherlich eine Strafmildemng, zumal dm hohen Strafsätzm des Entwurfes gegenüber, rechtlich und politisch motivirt. Im Falle das Verbrechen durch eine Anzündung eigener Sachen vermittelt wird, § 218, b müßte dieser thätigen Reue die strafmildernde Wirkung natürlich bis zur Schädigung des fremden Eigentums beige­ legt werden. c. Die besondere Natur dieses Falles kommt im Entwürfe nicht vollständig zur Geltung. Die Inbrandsetzung eigener Sachen ist an sich nicht rechtswidrig und kommt hier nur als ein mögliches Mittel der Inbrandsetzung, bezw. Gefährdung fremden Eigentums in Betracht. Folglich ist hier von einer vorsätzlichen Rechtsverletzung nur zu reden,

86

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetze- u.s.w.

wenn der Vorsatz auf die letztere, nicht wenn er lediglich auf bie erstere ging. Hiergegen aber verstößt die Fassung des § 218, b. Danach ist nämlich, damit der Begriff der vorsätzlichen Brandstiftung zur Anwendung gebracht werden könne, nur zu fordern, daß der Vor­ satz auf die Anzündung der eigenen Sache ging; in Bezug auf die Gefährdung des fremden Eigentums ist nur grobe Fahrlässigkeit (eine Sachlage, aus welcher der Betreffende diese Gefahr „erkennen mußte") voraussetzt. Es werden in diesem Paragraphen daher vorsätzliche und fahrlässige Vergehungen in einen Begriff zusammengefaßt und diese bedenkliche Verbindung wird den strengen Strafbestimmungen des § 219 b bis d gegenüber festgehalten. Daß bei der fahrlässigen Brandstiftung (§ 222) die Fahrlässig­ keit sich ebenso wie bei der vorsätzlichen der Vorsatz auf die Ver­ letzung des ftentbm Eigentumsrechts beziehen müsse, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Die Fassung des Entwurfs giebt jedoch auch in dieser Beziehung für eine entgegengesetzte Meinung Anhaltspunkte. d. Der Anzündung der eigenen Sache steht die Anzündung einer ftemden mit Einwilligung ihres Eigentümers gleich und fand sich auch im Referentenentwurfe mit ihr in der geforderten Verbindung. Im M.-Entwurf dagegen findet sich zwischen der Anzündung fremder Sachen mit und derjenigen ohne Einwilligung des Eigentümers ein Unterschied mit Unrecht nicht gemacht. e. Die Strafsätze des § 119 sind zum Teil, wenigstens was ihre untere Grenze anbetrifft, sehr hart und in einem Mißverhältnisie zu sonstigen Strafbestimmungen des Entwurfs. Dies gilt u. a. von der Androhung von 12 bis 20 Jahren Zuchthaus für den Fall, wo sich eine fahrlässige Tötung mit der Inbrandsetzung eigener Sachen verbindet. Welches Mißverhältnis zur Drohung von 4 Monaten bis zu 2 Jahren Einschließung für die fahrlässige Tötung im § 232, zr welcher doch in jenem Falle nur ein an sich indifferentes Merkmcl (im der Anzündung der eigenen Sache) hinzutritt! Auch die Auszeichnungsgründe des § 219 lassen zum Teil Ein­ wendungen zu. So die „Brandstiftung an verschiedenen Stellen' (§ 219, b). Dies Merkmal wird unter Anderem in den Fällen dir Inbrandsetzung eigener Sachen, wie sie im § 218 charakterisirt ist nur eine sehr geringe Bedeutung in Anspruch nehmen und keinesfalls die Erhöhung des Mindestausmaßes der Strafe auf 8 Jahre Zuchrhaus rechtfertigen.

Bemerkungen über den Ssierrrichischen Entwurf eines Strafgesetze- u.s.w.

87

VIII. Über die Behandlung von Mord und Totschlag. 1. Bekanntlich ist das Problem, die Verbrechen des Mordes und Totschlages in einer befriedigenden Weise zu besinnen, unter denen, mit welchen es die Strafgesetzgebung zu thun hat, eines der schwierigsten und eines von denjenigen, dessen Lösung jedenfalls bis dahin von den Gesetzgebern vergeblich angestrebt wurde. Am richtigsten wäre es m. E., statt sich um eine solche Lösung fernerhin zu bemühen, das so gefaßte Problem und den mit ihm etablirten Dualismus gänzlich fallen zu lasten, an Stelle der Defini­ tionen von Mord und Totschlag eine allgemeine Definition des Ver­ brechens der vorsätzlichen Tötung zu setzen und im übrigen auf die im allgemeinen Teile zu entwickelnden Grundsätze über die Modi­ fikationen der Zurechnungsfähigkeit zu verweisen, welche im Gebiete dieser Verbrechensart natürlich die gleichen sind wie überall. Hierbei würde selbstverständlich das auf diese Modifikationen bezügliche Milderungs­ recht auch den auf die Tötung gesetzten Strafen gegenüber anzuer­ kennen und überhaupt das in Bezug auf die Ausmessung der Strafen selbst als richtig Anerkannte auch hier uneingeschränkt in Geltung zu bringen, also vor allem das System der absolut bestimmten Straf­ drohungen auch in Bezug auf dieses Berbrechen zu verlassen sein. Auf diesem Wege allein werden wir die materiellen und formellen Jnkonvenienzen vermeiden, welche sonst jeder Weise der Behandlung der vorsätzlichen Tötungen anhaften. Allein man wird sich, wie die Dinge liegen, zum Betreten dieses Weges aus verschiedenen, hier nicht zu erörternden Gründen nicht leicht entschließen. Daher wird es besser sein, anstatt bei den Vor­ zügen jenes allein korrekten Systems länger zu verweilen, auf den Standpunkt des Entwurfes zu treten, welcher an dem in den (nicht­ österreichischen) deutschen Sttafgesetzen eingebürgerten Dualismus fest­ hält und den Mord schlechthin mit der Todesstrafe, den Totschlag dagegen für die Regel nur mit zeitlicher Zuchthausstrafe bedroht. Wie eminent wichtig bei dieser Verschiedenheit der mit diesen beiden Ver­ brechensindividualitäten verbundenen Sttafsätze eine richttge Grenz­ ziehung zwischen denselben sei, braucht nicht hervorgehoben zu werden. Prüfen wir denn, inwieweit die einschlagenden Bestimmungen des Entwurfes den sich hieraus ergebenden Anforderungen entsprechen.

88

Bewertungen über den Ssierretchischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.ro.

Zu loben ist nun hier, wiewohl es Manchem überraschend sein mag, daß in positiver Weise nur der Totschlag, nicht der Mord befmirt ist. Es ist dies zunächst einer Definirung beider Verbrechen unstreitig vorzuziehen, da es sich bei letzterer leicht ergiebt, daß die beiden Begriffe einander nicht in der erforderlichen Weise begrenzen und ergänzen. Es entspricht jenes Verfahren aber ferner den natür lichen Verhältnissen mehr als das umgekehrte einer bloßen Definirung des Mords. Denn der letztere charakterisirt sich nach richtiger Auffassung durch bloß negative Merkmale, nämlich durch die Abwesenheit der im Tot­ schlage zur Berücksichtigung kommenden Milderungsgründe. Was nun aber die im Entwürfe gegebene Definition des Tot­ schlages selbst betrifft, so kann sie als eine völlig befriedigende nicht gelten. Nach derselben würde es nämlich dem Totschlag wesentlich sein: 1. daß der Vorsatz zu töten in heftiger Gemütsbewegung ge­ faßt und ausgeführt wurde, 2. daß derselbe plötzlich gefaßt und so­ gleich ausgeführt wurde. Durch diese letzteren Requisite aber kommt eine entschiedene Disharmonie in den Begriff und es wird durch sie der Totschlag allzu eng begrenzt, das Gebiet des Mordes allzu sehr erweitert. Die vorausgesetzte Gemütsbewegung ist nämlich entweder von einer solchen Heftigkeit, daß sie die Zurechnungsfähigkeit des Thäters in den entscheidenden Momenten als eine beschränkte erscheinen läßt, oder sie ist es nicht. Im ersten Falle (an welchen bei der in der Defini­ tion geforderten „heftigen Gemütsbewegung" wohl allein zu denken ist) muß die Verhängung der Todesstrafe, wenn hier anders rationelle Gesichtspunkte zur Geltung gebracht werden wollen, ausgeschlossen bleiben. Wir dürfen diesen Ausschluß daher nicht noch von ander­ weitigen Merkmalen abhängig machen, und zumal nicht von an sich bedeutungslosen Merkmalen, wie sie in der Plötzlichkeit von Entschluß und Ausführung (welche an sich keinerlei Entschuldigungsgründe involviren) gegeben sind. Vielleicht aber wird man sagen, daß die Gemütsbewegung jene vorausgesetzte Energie nur momentan haben könne und daß also Ent­ schluß und Ausführung des Verbrechens auf einen Affekt von solcher Energie überall nur zurückgeführt werden könnten, wo sie plötzlich ins Leben traten? Wäre dies aber auch der Fall, so würde es genug damit sein, nur eben jene heftige Gemütsbewegung als Erfordernis

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f.ro.

89

des Totschlags aufzustellen, indem damit ja jene anderen Requisite von selbst gegeben wären. Es ist aber entschieden zu bestreiten, daß jene Annahme richtig sei. Es ist sehr wohl denkbar und häufig genug vorgekommen, daß eine langsam reifende und bis zur Beschränkung der Zurechnungs­ fähigkeit sich steigernde Leidenschaft den Gedanken einer verbrecherischen That zuerst in unbestimmter Weise, dann in festeren Umrissen in der Seele auftauchen läßt, bis sich aus dem Phantasiegebilde ein bestimmter Entschluß entwickelt. Auch die Raschheit der Ausführung des einmal gefaßten Entschlusses ist mitnichten ein notwendiges Merkmal der durch eine tiefe Gemütsbewegung charakterisirten That. Wenn ein tiefgehender Affekt, was unleugbar ist, einen chronischm Charakter an­ nehmen und während einer längeren Frist die Zurechnungsfähigkeit als beschränkt erscheinen lassen kann, so ist nicht abzusehen, warum nicht auch der Schößling desselben, der auf ihn zurückweisende ver­ brecherische Entschluß, seine Existenz während eines ausgedehnteren Zeitraumes behaupten soll sönnen?1) Hat aber der Affekt die bisher vorausgesetzte Tiefe nicht, so wird es vollständig gleichgiltig sein, ob er als ein akuter oder als ein chronischer auftritt, und ob der Entschluß, der ihm entspringt, ein plötzlich gefaßter ist oder nicht. Worauf es allein ankommen kann und was an Stelle jener Plötzlichkeit zu fordern wäre, das ist, daß der die Zurechnungsfähigjeit modifizirende Affekt während des Zeitraumes, in welchen die Genesis des Entschlusses und der That fällt, möge derselbe nun mehr oder minder ausgedehnt sein, ununterbrochen fortgedauert habe. 2. Den besprochenen Begriffen läßt der Entwurf in Überein­ stimmung mit einer alten Tradition einen Abschnitt aus der Lehre vom allgemeinen Berbrechensthatbestande (den Kausalzusammenhang betreffend) folgen (§ 224). Von dieser Tradition abgesehen, möchte sich aber für die exklusive Verbindung desselben mit dem Thatbestände des Mordes und Totschlags kein Grund entdecken lassen. Wichtiger ist, daß diese legislative Belehrung des Richters nicht in jeder Beziehung leistet, was sie nach der Intention der Redaktoren leisten soll. Sic bringt nämlich die unterlassene Pflichtausübung in l) Instruktiv ist in dieser Beziehung u. a. der in diesem Jahre in Halle zur Verhandlung gekommene Fall Otto, von dem soeben eine lesenswerte Darstellung (von Professor Hugo Meyer) erschienen ist.

90

Bemerkungen übet den österretchischen Entwurf eines Strafgesetzes u. s.w.

eine keineswegs klare, wenn auch verbreitetsten Vorstellungen entsprechende Verbindung mit dem Kausalzusammenhange. Dieser Zusammenhang soll nach ihr vorliegen, wenn infolge jener Unterlassung durch eine von dem Unterlassenden in Anschlag gebrachte Ursache, obgleich ohne sein weiteres Zuthun, der Tod des Anderen bewirkt wurde. Nun kann aber eine Unterlassung nicht dadurch zur wirkenden Ursache des Todes Jemandes werden, daß sie sich als eine pflichtwidrige darstellt, ebenso wenig wie dadurch, daß die wirkliche Ursache von dem Unterlasienden „in Anschlag gebracht" wird. Der Sohn, der seinen Vater in eine Gmbe stürzen sieht und ihn dort ohne Hilfe und so dem Tode des Verschmachtens entgegengehen läßt, macht sich ohne Zweifel der „Unterlassung einer ihm obgelegenen Pflichtausübung" schuldig. Trotzdem wäre es absurd, in seinem Verhalten die Todesursache finden zu wollen; möchte er auch die den Tod herbeiführenden Umstände bei seiner Unterlassung „in Anschlag gebracht" haben. Die Berechnung des Eintritts eines Ereignisses ist nicht gleichbedeutend mit seiner Herbei­ führung. Man mag die in einem solchm Verhalten dokumentirte Pflichtvergessenheit mit besonderen Strafbestimmungen treffen, wenn man es für zweckmäßig erachtet, allein man darf nicht zur Begründung einer solchen Strafbestimmung „nicht retten" und „töten" für identisch erklären. Der übrige Inhalt des Paragraphen ist unzweifelhaft korrekt. Auch möchte er in einem vorzugsweise auf Geschworene berechneten Strafgesetze an seinem Platze sein. Bei dem gelehrten Richter aber, an welchen sich der Entwurf im allgemeinen wendet, müßte eine Be­ kanntschaft mit diesen Dingen vorausgesetzt werden können. 3. Der Entwurf führt im Anschluß an das bisherige Recht als ausgezeichnete Arten des Mordes den Raubmord, den Berwandtenmord, den Meuchelmord und den Banditenmord auf (§ 225). Davon würden die beiden letzteren Spezies gewiß richtiger gestrichen werden. Der Meuchelmord schon wegen der Vagheit des ihn charakterisirenden Merkmals der „tückischen" Ausführung der That. Auch möchte es sich bezweifeln lassen, ob es als eine rechtlich schwerere That zu be­ trachten sei, wenn Jemand einen Anderen von einem Hinterhalte aus erschießt, als wenn er einen Wehrlosen mit der Axt anfällt und ihm in offenem Angriffe einen vorausgesehenen schrecklichen Tod bereitet. Jedenfalls ist der Unterschied zwischen diesen Fällen kein so klarer und bedeutender, daß es sich rechtfertigen ließe, verschiedene Straffkalen fiir

Bemerkungen über den österretchischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

dieselben» wie es im Entwürfe geschieht, aufzustellen.

91

Umstände von

gleicher Bedeutsamkeit wie die „tückische Weise" der Ausführung ließen sich in großer Zahl aufführen.

Dieselben können aber in ihrer Ge­

samtheit dem gleichen Kerne dieses furchtbarsten Verbrechens gegenüber nur eine geringe Bedeutung in Anspmch nehmen. Und zwar in Bezug auf den Gehilfen, um welchen es sich hier praktisch allein handelt, eine noch geringere als in Bezug auf den Hauptthäter.

Es

ist un­

möglich, in der Bestrafung des „entfernteren" Gehilfen von 12 Jahren Zuchthaus auf 20 Jahre (int Maximalmaße) aufzusteigen, wenn die Hauptthäter bei ihrem Werke hinterlistig oder tückisch (vielleicht ohne Borwisien des Gehilfen) verfahren sind (§ 226)! Die gleichen Auszeichnungsgründe hält der Entwurf beim Tot­ schlag fest (§ 228).

Hier aber möchte sich nur die Begehung bei

Gelegenheit eines Raubes (und selbst diese nicht vom streng wissen­ schaftlichen Gesichtspunkte) als Qualifikationsgrund rechtfertigen lassen. Was zunächst den Banditentotschlag betrifft, Möglichkeit in Frage ziehen kaffen.

so möchte sich

dessen

Zwar kann der in Aussicht ge­

stellte Lohn einen heftigen Affekt bei dem zur Tötung Gedungenen hervorrufen.

Allein es möchte doch bedenklich sein, in demselben die

heftige Gemütsbewegung, welche nach § 223 den Totschlag charakterisiren soll, zu finden. Angenommen aber, es liege in einem derartigen Falle wirklich eine die Zurechnungsfähigkeit modifizirende Auftegung vor, so wird von einem ausgezeichneten Totschlage nicht mehr die Rede sein können. Wir werden es hier daher stets entweder mit Mord oder mit ein­ fachem Totschlage zu thun haben.

Was ferner die Auszeichnung des

tückischen Totschlages betrifft, so gilt dagegen, was soeben über die des tückischen Mordes gesagt worden ist. Auch die des Verwandtentotschlages endlich läßt gewichtige Einwendungen zu.

Gerade in verwandtschaft­

lichen Verhältnissen begründen sich häufig die heftigsten Affekte,

und

der gratete Charakter der äußeren That wird hier häufig mehr als ausgewogen durch die größere Macht der Motive, die zu derselben drängten.

Die Witwe, die ihr Kind, um es unvermeidlichem Elende

zu entziehen, und mit dem Entschlüsse, ihm im Tode nachzufolgen, tötet, ist sie strafbarer als der Raufbold, der im leicht erregten Zorne einen beliebigen Dritten ersticht? Läuft es nicht vielmehr auf eine pure Fiktion hinaus, wenn der Entwurf dies mit der Aufstellung eines absolut niedrigeren Strafmaßes für Fälle der letzteren Art behauptet?

92 Bemerkungen übet den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.ro. — Hinsichtlich des Raubtotschlages aber erweckt die gedrohte Strafe Bedenken. Der M.-Entwurf bedroht hier nämlich im Gegensatze zum Referentenentwurfe die Hauptschuldigen mit der Todesstrafe. Man erwäge nun wohl, daß beim Totschlage stets eine durch Affekt geminderte Zurechnungsfähigkeit vorauszusetzen ist. Eine Verhängung der Todes­ strafe in solchen Fällen muß einem kultivirteren Rechtsgefühl entschieden widerstreben und kann durch keinen praktischen Strafzweck gefordert sein. 4. Der Entwurf belegt, gleich dem bisherigen Rechte, bei den in Frage stehenden Verbrechen die Hauptgehilfen (welche den Thätern gleichgestellt werden) und die entfernteren Gehilfen mit sehr verschiedenen ©trafen; so beim Mord die ersteren mit der Todesstrafe, die letzteren mit 8 bis 12, beziehungsweise, wenn es sich um qualifizirten Mord handelt, mit 12 bis 20 Jahren (beim Raubmord mit lebenslänglichem) Zuchthaus. Es erhellt, wie überaus wichtig hierdurch die Frage nach den die beiden Arten von Gehilfen unterscheidenden Merkmalen werde. Der Entwurf nun bezeichnet als Hauptgehilfen im § 226 diejenigen, welche unmittelbar bei Vollziehung der Tötung selbst Hand anlegen oder auf eine thätige Weise hierbei mitwirken. Daß damit aber eine sehr bestimmte Scheidelinie gezogen sei, darf wohl in Frage gezogen werden. Was soll hier als Gegensatz zur „thätigen" Mitwirkung gelten? Eine Mitwirkung, welche nicht irgend welche Thätigkeit ein­ schließt, ist gar nicht zu konstruiren. Was aber das Handanlegen bei der Vollziehung der Tötung betrifft, so möchte dies eher auf eine Unterscheidung der Thäter von den Gehilfen als auf die in Frage stehende Unterscheidung einer Art von Gehilfen von einer anderen hinausführen. Wird hier endlich, wie es scheint, allgemein Gewicht darauf ge­ legt, ob die Mitwirkung bei der Vollziehung der That erfolgte oder in einem früheren Stadium, so möchte dies nicht motivirt sein. Derjenige, der unmittelbar bei Vollziehung des Verbrechens die Wache hält, ist gewiß mit weniger Grund als ein Hauptgehilfe zu betrachten, wie derjenige, der vorher die Mittel und Wege zur Begehung des Verbrechens an die Hand giebt. Die Wahrheit ist, daß die Natur der Verhältnisse hier überhaupt keine bestimmte Scheidelinie erkennen läßt. Die fraglichen Begriffe des Haupt- und des Nebengehilfen sind daher einer wissenschaftlichen Formulirung gar nicht fähig, weshalb

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

93

auch an eine gleichmäßige Handhabung derselben in der Praxis nicht zu denken ist.

Und doch ist durch dm Entwurf an das unfindbare

Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden nichts Geringeres als die Ver­ hängung der Todesstrafe geknüpft! Möchte man in dieser Beziehung, wie es nach dem Entwurf in so mancher anbeten geschehen soll, das Geleise des geltenden Rechtes verlassen und, indem man der unsicherm Unterscheidung zwischm Hauptschuldigen und entfernten Gehilfen die ohne Zweifel einer exakteren Formulimng fähige zwischm Thätem und Gehilfen substituirte, die Todesstraft, die man dem Morde gegenüber festzuhalten mtschlossm scheint, wmigstens auf den Mörder selbst beschränkm. 5. Das dm Totschlag gegenüber vom Morde charakterisirende Merkmal ist ein bei dem Thäter „persönlich eintretender Umstand", und zwar ein die Zurechnung betreffender.

Umstände dieser Art aber

sollen nach § 21 (vergl. § 19) den übrigen Beteiligten nicht zugute kommen.

Beim Totschlag ist nun aber im Entwürfe nach dem ent­

gegengesetzten Prinzip verfahrm.

Während nämlich die (entfernteren)

Gehilfen beim gemeinen Morde mit 8 bis 12 Jahren Zuchthaus bedroht werden, sind dm (entfernteren) Gehilfen beim gemeinen Tot­ schlage nur 4 bis 8 Jahre angedroht.

Hier liegt nun zwar kein

formeller Widerspruch vor (weil der Toffchlag im Entwurf als eine selbständige Verbrechensart behandelt wird, während im § 21 an bloße Milderungsgründe gedacht ist), wohl aber eine materielle Inkongruenz. Es ist keineswegs notwendig, daß die Gehilfen beim Totschlage von demselben Affekte beherrscht sind wie der Thäter.

Wo dies nun

nicht der Fall ist, wo jene mit kaltem Blute und raffinirter Bosheit den im Zorne handelnden Thäter unterstützen, da kann der Affekt des Letzteren ihnen unmöglich zur Entschuldigung dienen. Ihre Strafbar­ keit ist dann vielmehr derjenigen der Gehilfen des Mörders völlig gleich. — Umgekehrt kann ein Gehilfe beim Morde im Affekte handeln und daher die mildere Strafe, welche im Entwürfe für die Gehilfen des Totschlages gedroht ist, verdienm. Es folgt hieraus, daß für die Gehilfen bei Mord und Toffchlag nur ein einziger Straftahmm auf­ zustellen sei. Auch hier zeigt sich, nebenbei bemerkt, daß die einheitliche Behandlung des Verbrechens der Tötung, wie sie im Anfang dieser Nr. 8 empfohlen worden ist, die sachenffprechende sein würde. — Es gilt in der fraglichen Hinsicht für die Gehilfen des Toffchlages ganz dasselbe wie für die Gehilfen der Kindestötung.

94

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetze- u.s.w.

Beide Unterarten des Verbrechens der Tötung sind durch Zustände in der Seele des Handelnden charakterisier, auf welche sich dritte Beteiligte der Natur der Sache nach nicht berufen können. Bei der Kindestötung erkennt der Entwurf diese Konsequenz auch an, indem er in Betreff der Gehilfen ausdrücklich auf den zitirten § 21 verweist, während dies beim Totschlag unterlaffen ist. 6. Daß der Verschickenheit des Schuldmaßes, welches die vollendete verbrecherische That und der bloße Versuch derselben repräsentiren, bei Mord und Totschlag in durchgreifender Weise Rechnung getrogen ist, verdient natürlich alle Anerkennung, steht nur leider im Widerspruch mit der im übrigen festgehaltenen Auffaffung. Daß von den mit Rücksicht auf die unter verschiedenen Kategorien des Verbrechens der Tötung aufgestellten Strafmaßen, sowie von dem Verhältnisse der Gehilfen des Mordes und des Totschlages zu einander hier das Gleiche gelte wie bei der Vollendung (oben sub 3 und 5), versteht sich von selbst. 7. Wünschenswert würde beim Totschlag besondere Berücksichtigung der Provokation sein. Wenn der Thäter durch schwere gegen ihn selbst oder seine nächsten Angehörigen gerichtete Beleidigungen oder Mißhand­ lungen zur That gereizt ward, so ist seine Schuld gewiß eine erheblich geringere, als wenn die Initiative völlig auf seiner Seite liegt. Insbesondere wird in jenen Fällen die Verhängung der entehrenden Zuchthausstrafe (deren allgemeine Androhung beim Totschlage über­ haupt gewichtigen Bedenken unterliegt) in offenbarstem Widerspruche mit der inneren Natur des Deliktes stehen. Eine Bestimmung über diesen Punkt, wie sie sich in vielen Gesetzgebungen findet, wird hier um so weniger als entbehrlich bezeichnet werden können, als die Provo­ kation nicht einmal unter den zahlreich aufgeführten Ausmessungs­ gründen im allgemeinen Teile des Entwurfes eine Berücksichtigung gefunden hat. 8. Mehr noch ist eine besondere Bestimmung über die Tötung eines Einwilligenden im M.-Entwürfe (im Referentenentwurfe fand sich eine solche) zu vermissen. Es ist hier nicht der Ort, in die Streitfrage einzutreten, ob hier überhaupt noch von einem Verbrechen zu reden sei. Aber es sollte überall keines Nachweises bedürfen, daß das Verhalten des zunächst verletzten Willens bei der Beurteilung seiner Verletzung nicht als gleichgiltig gelten könne. Die entgegen­ gesetzte Annahme steht auf der seltsamen Voraussetzung, daß uns die eigene körperliche Integrität, juristisch betrachtet, nichts angehe! —

Bemerkungen

über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetzes u.f.w.

95

Allerdings bestrafen wir auch die unmittelbar gegen den Einzelwillen gerichteten Delitte nicht um dieses, sondern um der Gesamtheit willen. Aber die letztere kann im Einzelwillen doch nur verletzt sein, insoferne und insoweit es dieser letztere selber ist; und die Behauptung, daß es in Bezug auf deffen Verletzung gleich sei, ob sie von ihm gewollt sei oder nicht, würde offenbar auf eine Absurdität hinauslaufen. Nach ihr würde es einerlei sein, ob der Beohrfeigte sich die Ohrfeige erbeten habe oder nicht, und ob ich mir die Zähne vom Zahnarzt ausziehen lasse oder ob sie mir von einem Unberufenen wider meinen Willen ausgeschlagen werden! Auch die körperliche Integrität und die Ehre, um welche es sich in diesen Fällen handelt, sind „unveräußerliche" Güter wie das Leben. Wenn man daher die Jdenttfikatton der Tötung des Einwilligenden mit dem Morde mit der Unveräußerlichkeit des Lebens, wie es vielfach geschieht, zu begründen sucht, so beweist man damit offenbar zu viel und deshalb gegen sich. Am wenigsten paßte diese Jdenttfikatton in den Entwurf, der in mehr als einer Weise einer richttgen Auffaffung in der fraglichen Richtung Rechnung trögt; wie z. B. in seiner Behandlung des Duells und der Beihilfe zum Selbstmord (die er gar nicht bedroht). Auch leugnen die Redattoren des Entwurfes die Bedeutung der Einwilligung der Tötung nicht, meinen aber, dem Richter sei die Möglichkeit ihrer Berücksichtigung innerhalb der relattv bestimmten Sttafmaße gegeben, und halten eine besondere Bestimmung deshalb für überflüssig. Abgesehen davon aber, daß diese Möglichkeit gerade bei dem mit der Todesstrafe absolut bedrohten Morde ausgeschlossen ist, kann es nicht die richttge Stellung des Gesetzgebers einem so wichttgen Momente gegenüber sein, daß er sich mit der Möglichkeit der Berücksichtigung desselben tröstet, während er es ängstlich vermeidet, mit irgend einer Hindeutung darauf Garantten für diese Berücksichttgung zu geben. Auch entspricht es seiner Bedeutung nicht, nur als Aus­ messungsgrund unter ungezählten anderen Ausmessungsgründen zu fungiren. Vielmehr würde es durchaus gefordert sein, die Tötung des Einwilligenden in Bezug auf Sttafart und Maß selbständig zu behandeln. In ersterer Hinsicht erscheint hier die infamirende Zucht­ hausstrafe im allgemeinen als unpassend, in letzterer würde vor allem eine niedrigere Minimalgrenze als bei allen übrigen Tötungsarten aufzustellen sein.

96 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w. IX. Zur Behandlung der Kindestötung. Tie Behandlung, die dem Kindesmorde im Entwürfe (§ 230) zuteil wird, verdient in mehrfacher Beziehung (jo hinsichtlich der aus­ gestellten Strassätze, hinsichtlich der Fristbegrenzung, der Behandlung der Gehilfen u. s. w.) Lob. Mit Recht ist auch der Fall, wo das Kind infolge der vorsätzlichen „Unterlassung des nötigen Beistandes" seitens der Mutter umkommt, speziell hervorgehoben und mit einem besonderen, niedrigeren Strafsatze bedacht. Inkorrekt ist es nur. daß diese strafbare Unterlassung pflichtmäßiger Obsorge in der diese Be­ stimmungen einleitenden Definition einfach dem vorsätzlichen „Töten" subsumirt wird. Es ist dem gegenüber an das in Nr. 8 sub 2 zum § 224 Bemerkte zu erinnern. Daß wir es hier mit einem Ausfluß der 1. c. besprochenen Meinung, wonach die pflichtwidrige Nichthinderung einer Verletzung gleicher Weise wie die.... Herbeiführung einer solchen zum Urheber derselben stempeln soll, zu thun haben, scheint aus der Bezugnahme auf den § 224 in der in Frage stehenden Definition hervorzugehen. Eben deshalb würde sich eine Beseitigung jenes formellcu Mißstandes empfehlen. Am richtigsten würde die Mutter, welche ihr Kind durch jene Unterlassung umkommen läßt, in einem besonderen Absätze des § 230 selbständig in Berücksichtigung genommen. Dagegen möchte sich eine Ausdehnung jener den Paragraphen ein­ leitenden Definition auf den Fall empfehlen, wo die Mutter das Kind nicht selber tötet, sondern durch die ihr bei der Geburt Assistirenden töten läßt. Daß die besondere Berücksichtigung des bloßen Verbrechensversuchs bei diesem Delikte, welches sich den vorher behandelten doch seiner ganzen Natur nach aufs engste anschließt, plötzlich abbricht, ist sehr auffallend. Hiernach sind für den versuchten Kindesmord (im Falle es sich um ein uneheliches Kind handelt) 8 bis 12, bezw. 4 bis 8 Jahre Zuchthaus gedroht, d. i. ebenso viel wie für den Versuch des ausgezeichneten, bezw. gemeinen Totschlages. Es kann diese Gleich­ mäßigkeit aber nicht wohl eine sachentsprechende sein, wenn die Ver­ schiedenheit der vom Entwürfe für den vollendeten (ausgezeichneten) Totschlag und den vollendeten (am unehelichen Kinde begangenen) Kindesmord aufgestellten Strafsätze sachlich begründet ist.

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines StrasgesetzeS u.f. w.

97

X. Zur Behandlung der sonstigen Verletzungen des Lebens und der körperlichen Integrität. Das Streben nach Gewinnung objektiver Kriterien für die Ab­ stufungen der Strafbarkeit rechtswidriger Handlungen, wie es im Entwürfe überall hervortritt, verdient entschiedene Anerkennung. Es hat dasselbe jedoch an einzelnen Stellen mit Unrecht zu einer völligen Vernachlässigung des subjektiven Momentes in der Fassung wichtiger Bestimmungen geführt. So u. a. bei dem Verbrechen der „tödlichen Verletzung", welches im § 231 normirt ist. Hier wird zwar in Bezug auf die Körperverletzung oder Mißhandlung, von welcher in der Definition die Rede ist, Vorsatz gefordert; aber in Bezug auf den infolge der zugefügten Verletzung eintretenden Tod, durch welchen doch die Signatur des Verbrechens durchaus bestimmt wird, weder Vorsatz, noch Fahrlässigkeit vorausgesetzt. Es könnte daher auch eine rein kasuelle Tötung, welche sich mit einer vielleicht geringfügigen vorsätzlichen Mißhandlung verbindet (man denke an eine Ohrfeige, welche eine nicht voraussehbare tödliche Gehirnaffektion zur Folge hat), nach diesem Paragraphen als tödliche Verletzung zur Bestrafung gezogen werden. Dagegen kann man sich auch nicht etwa auf den die subjektive Seite der Verbrechen betreffenden 8 11 des allgemeinen Teils berufen, da derselbe nach seiner vagen Schlußwendung derartige Subsumtionen unter Verbrechensbegriffe mit nichten ausschließt. Es ist aber doch von selbst einleuchtend, daß auf Fälle der erwähnten Art eine Drohung von Freiheitsstrafen bis zu 12 Jahren Zuchthaus, wie sie sich für die tödliche Verletzung im § 231 ausgesprochen findet, in keiner Weise paffen könne. Auch in Bezug auf die Qualifikationen der Körperverletzung (§ 235 c; 237 b; ebenso in Bezug auf die Quali­ fikationen der widerrechtlichen Freiheitsberaubung u. s. w.) ist das sub­ jektive Moment nicht zu seinem vollen Rechte gekommen. Man macht hier im einzelnen faktisch einem Standpunkte Konzessionen, den man grundsätzlich nicht befürworten, vielmehr perhorresziren würde; dem Standpunkte einer Zeit, welche der verletzenden äußeren That gegenüber für die Frage nach dem Willensmomente und seinen möglichen Ver­ schiedenheiten nicht Besinnung genug hat. Dem Standpunkte der heutigen Rechtsauffassung und dem Standpunkte des Entwurfes selber

98

Bemerkungen aber den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f. tu.

entspricht es allein, keine Seite der äußeren That, keine nahe oder entfernte Folge derselben strafrechtlich in Betracht zu ziehen, wenn denselbm nicht eine rechtswidrige Willensbestimmung bei dem Thäter korrespondirt. Allerdings ist die Schwierigkeit der Klarstellung des subjektiven Momentes den hier in Frage stehenden Qualifikationen der äußeren That gegenüber im allgemeinen eine sehr große. Allein es ist zu leugnen, daß der Geist unseres heutigen Strafrechtes eine Um­ gehung derselben, auf dem Wege der Jgnorimng des Willensmomentes, gestatte. 2. Sehr anzuerkennen ist es, daß bei den in Frage stehenden Delitten dem Affekte eine die infamirende Zuchthaus- und bezw. Arrest­ strafe ausschließende Wirkung beigelegt ist (231, 235, 236). Im übrigen gilt in Bettefs des Affektes sowie in Betreff der Provokation und der Einwilligung des Verletzten das soeben bei Besprechung von Mord und Totschlag Entwickelte auch hier. Wollen wir, um bei dem letzteren Puntte zu verweilen, dem Profosen in 90t., der einem Fremden auf dessen inständiges Ersuchen den Gefallen that, ihm 25 aufzuzählen, mit einer infamirenden Freiheitsstrafe belegen? 3. Bei der fahrlässigen Tötung möchte die obere Strasgrenze (2, bezw. 4 Jahre Einschließung) zu niedrig gezogen sein. Man bedenke, wie nahe die schwersten Arten der Fahrlässigkeit an gewisse Formen des Dolus herantreten! Jedenfalls besteht ein Mißverhältnis zwischen der hier gedrohten Sttafe und den im § 231 und im § 219 a init. (in welchen es sich in der Hauptsache auch um kulpose Tötungen handelt) gedrohten. 4. Gegen die Behandlung, welche dem Auszeichnungsgrunde der Rauferei (§ 231, 35, 36) und (auf Grund der Minoritätsanträge in der Kommission) der Teilnahme an einer von nachteiligen Folgen begleiteten Rauferei (§ 240) im Entwürfe zuteil wird, ist schon früher Verwahrung eingelegt worden. Es mögen Gründe vorhanden sein, dem Raufhandel mit besonderer Sttenge entgegenzutreten. Aber man sollte sich dadurch nicht zu einer strafrechtlich unwahren Behandlung verleiten lassen, nicht günstige Resultate von einer solchen in Abhängig­ keit glauben. Der kriminalisttschen Unwahrheit aber ist zu bezichttge» eine Bestrafung, die nach dem allgemeinen Volksurteile mit der Ver­ schuldung nicht im Einklänge steht, eine Belegung von Handlungen, welche nach diesem Urteile aus eine ehrlose Gesinnung nicht zurückzu­ führen sind, mit der infamirenden Zuchthausstrafe, ein strafrechtliches

Bemerkungen über den öperretchtschen Entwurf eines Strafgesetzes u. s. w.

Verfahren endlich, das seine Begründung in Fiktionen findet.

99 Mit

alledem aber haben wir es in den fraglichen Bestimmungen über den Raufhandel zu thun. Während der Affekt sonst als Milderungsgrund anerkannt ist,

welcher bei den Verbrechen der Körperverletzung und

der tödlichen Verletzung die infamirende Strafe ausschließen soll, ist in Betreff der Rauferei, die doch ein Kind des Affektes zu sein pflegt, hier überall das Gegenteil bestimmt.

Daß wir es in ihr mit einer

rohen Bethätigung der Leidenschaft zu thun haben, kann hierfür keine Begründung abgeben.

Der Gebildete pflegt seine Affekte überhaupt

nicht in der Form der Körperverletzung, des Totschlages oder der tödlichen Verletzung zu äußern.

Auch der als Mildcrungsgmnd an­

erkannte Affeft bei Begehung dieser Verbrechen wird vielmehr in den meisten Fällen eine gewiffe Rohheit im Charakter des Thäters erkennen lassen. Es ist dieselbe aber überall nicht identisch mit ehrloser Gesinnung und kann deshalb eine Verhängung infamirender Strafen (wie sie es im Sinne der Redaktoren beim Raufhandel thun soll) nicht rechtfertigen. Was nun insbesondere die Behandlung der Teilnahme an einer von nachteiligen Folgen begleiteten Rauferei im § 240 angeht, so ist darin ein Stellvertretungsprinzip etablirt, wie es innerhalb der Kriminal­ gesetzgebung einer Rechtfertigung nicht fähig ist. Wo es nicht konstatirt werden kann, wer bei einer Rauferei eine bestimmte Verletzung zu­ gefügt hat, da sollen nämlich nach diesem Paragraphen alle Beteiligten an Stelle des Thäters und zwar „als des Verbrechens schuldig" zur Bestrafung gezogen werden.

Da haben wir denn ein fiktives Delift,

das, theoretisch unmöglich und einer praktischen Notwendigkeit nicht entsprechend, auch in technischer Beziehung Bedenken unterliegt. seltsam muß sich hierbei die Strafzumessung gestalten!

Der Richter

hätte sich hier auf einem rein hypothetischen Boden zu beivegen. erschwerenden oder mildernden

Umstände,

welche

Wie

vorliegen

Die

würden,

wenn der betreffende Jnkulpat die That begangen hätte, müßten das Objekt der richterlichen Untersuchung bilden!

Wie würde sich ferner

eine an die Fassung dieses Paragraphen sich anschließende Fragen­ stellung und bezw. die Fragenbeantwortung seitens der Geschworenen eigentümlich ausnehmen!

Es würde hierbei die Grundlage für eine

Schuldigerklärung der Hauptsache nach

in einem negativen Verdikte

(nämlich: daß sich nicht erweisen lasse, wer die That begangen habe) zu gewinnen sein!

100

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

5. Bei dem Vergehen der Mißhandlung würde eS sich empfehlen, in Analogie zu den Verfügungen des § 217 und in Übereinstimmung mit dem § 224 des Referentenentwurfes, der Kompensation zu gedenken. XI. Zu den Bestimmungen über die widerrechtliche Gefangenhaltung. Unter den Paragraphen des 20. Titels sollen hier nur die auf die widerrechtliche Gefangenhaltung bezüglichen herausgegriffen werden, als welche allein einige Ausstellungen vertragen möchten. Das genannte Delikt wird nämlich im M.-Entwurfe mit einer unverhältnismäßigen Strenge behandelt. Während leichte Körper­ verletzungen und Mißhandlungen den Vergehen eingereiht werden, ist die rechtswidrige Gefangenhaltung auch in ihren niedrigsten Stufen als Verbrechen charakterisirt; während bei jenen in der Regel nur aus Verlangen des Verletzten vorgegangen werden soll, ist bezüglich der Letzteren allgemein Verfolgung von Amtsw.gen vorgeschrieben. Auf­ fälliger noch kontrastirt die Behandlung der rechtswidrigen Gefangen­ haltung mit der der qualifizirten Verleumdung im § 205. Wenn die Verleumdung eine zweijährige Einschließung für den Verleumdeten zur Folge hat, so soll sie als Vergehen mit 4 bis 12 Monaten Arrest belegt werden; eine über eine Stunde sich erstreckende rechts­ widrige Einspermng, selbst wenn sie sich nur als eine Überschreitung schulmeisterlichen Züchtigungsrechtes darstellt, als Verbrechen mit ebenso viel Monaten Zuchthaus!! — Im Referentenentwurfe sind die leichteren Fälle dieses Deliktes gleich den leichteren Körperverletzungen nur als Vergehen und als nur auf Antrag seitens des Verletzten zu verfolgende Delikte behandelt. Die Gründe, welche für die Abweichungen des M.-Entwurfes vom Referentenentwurfe in diesen Beziehungen in den Motiven zum ersteren aufgeführt werden, sind als stichhaltige nicht anzuerkennen. Ohne Zweifel hat die Strafrechtspstege in der persönlichen Freiheit ein hohes Gut zu schützen. Allein dasselbe ist in seinem Werte der Ehre und der Gesundheit nicht derart übergeordnet, daß eine analoge Behandlung der Verletzungen aller dieser Güter ausge­ schlossen wäre: Oder ist die Verletzung desjenigen, der von einem Dritten mit der Hundspeitsche mißhandelt wird, als eine der Art oder dem Grade nach minder bedeutsame anzusehen als die Verletzung des

Bemerkungen über den österretchischen önlrourf eines Strafgesetzes u s w. 101

Schuljungen, der von seinem Lehrer ungerechtfertigter und böswilliger Weise einige Stunden eingesperrt wird? In Bezug auf daS „pflichtwidrige Verschweigen", welches im § 252 als eine mögliche Beranlasiung grundloser Jnhaftimngen er­ wähnt wird, ist auf das zu § 224 Ausgeführte zurückzuverweisen.

Über die Lehandlung, welche den Eigeutumsverdrecheu im Ent­ würfe zuteil wird. a.

Im a ((gemeinen.

Sowohl in dem neuen Entwürfe eines Strafgesetzes über Ver­ brechen und Vergehen, als in dem neuen Strafprozeßordnungsentwurfe tritt mehrfach das rühmliche Bestreben hervor, dem individuellen Willen und der Beziehung des Verbrechens auf ihn und seine Interessen auch im Gebiete der Strafrechtspflege die gebührende Berücksichtigung wieder zuteil werden zu lassen. Es gehört dies zur Signatur unserer fort­ schreitenden Rechtsentwicklung, daß sie dem Einzelwillen auch in dieser Sphäre des öffentlichen Lebens neben der Staatsgewalt eine thätige Rolle wieder zuweist. Zu lange hat man in dem Verdrängen desielben aus der Beteiligung bei der Verfolgung verbrecherischer Handlungen und in dem Jgnoriren desselben bei der Beurteilung dieser Handlungen, der Philosophie der Restaurationsepoche gemäß, ausschließlich einen Fortschritt und einen absoluten Fortschritt erkennen wollen, während man über das rechte Ziel hier doch unzweifelhaft weit hinausgeschritten war. Indem man an dieser Beurteilungsweise meist auch seitens der­ jenigen festhielt, die im übrigen einer liberalen Auffassungsweise zu­ neigten, übersah man den einheitlichen Charakter der Entwicklung, welche in diesem Punkte unser öffentliches Leben durchgemacht hat und bezw. durchzumachen im Begriffe steht. Jenes gewalffame Zurück­ drängen des individuellen Willens im Felde der Kriminaljustiz hat im wesentlichen den gleichen Charakter und die gleichen Ursachen wie diese Erscheinung in politischem Gebiete und die langsam eintretende Reaktion dagegen auf jenem Felde steht ihren Erklärungsgründen und ihrem Geiste nach im innigsten Zusammenhange mit der gleichen Reaktion auf den übrigen Feldern des öffentlichen Lebens. Es ist indes zu bemerken, daß jenem privatrechtlichen Elemente im Strafprozeßentwurfe in rückhaltsloserer Weise Rechnung getragen

102 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w. ist als im Entwürfe über Verbrechen und Vergehen. Doch kann dies Urteil hier nicht näher begründet werden, da nur der letztere Entwurf hier unser Thema bildet. samen

Bewegung

Was aber dessen

gegenüber angeht,

Stellung jener bedeut­

so bieten uns die Paragraphen

über die Eigentumsverbrechen eine willkommene Gelegenheit, die hieraus bezüglichen Materialien,

welche bereits in früheren Bemerkungen bei­

gebracht worden sind (man vergleiche namentlich, Einwilligung des

Verletzten in die Verletzung

was in Betreff der bei Besprechung der

Bestimmungen über den Zweikampf und über Mord und Toffchlag sowie was in Betreff der strafbaren Selbsthilfe ausgeführt worden ist), zu vervollständigen. Bor allem ist hier auf die Art Bezug zu nehmen, wie der frei­ willige Ersatz des zugefügten Schadens bei den

Eigentumsverbrechen

behandelt wird. Es sollen nämlich nach § 96 Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, sein,

Eigentumsbeschädigung und Hehlerei

wenn

aufhören,

der Schuldige selbst oder durch einen

strafbar

zu

Dritten, bevor er

einer strasgerichtlichen, staatsanwaltschastlichen oder Sicherheitsbehörde als der strafbaren Handlung verdächtig bekannt geworden ist, vollen Ersatz für

den aus seiner Handlung entstandenen

(ober sich

mit dem Beschädigten über den Ersatz dieses Schadens,

wenngleich

auf einen geringeren Betrag verglichen hat und den Ver­

gleich auch zuhält,

Schaden geleistet

oder im Falle der Nichtzuhaltung doch von dem

Beschädigten nicht zur Untersuchung angezeigt wird). Diese Bestimmung hat mehrfach und von hervorragender Seite entschiedenen Tadel er­ fahren. Der Verfaffer dieses aber kann sich, indem er jene oben aus­ gestellten Gesichtspunkte subsumirt, der Hauptsache nach diesem Tadel nicht anschließen. Denjenigen freilich,

welche zwischen dem Interesse des verletzten

Einzelnen und demjenigen der in ihm verletzten Gesamtheit überall einen abstrakten Gegensatz machen, müffen Bestimmungen dieser Art, welche auf die Zufriedenstellung des Ersteren ein entscheidendes Gewicht legen, als grundsätzlich verwerfliche erscheinen. ist eine irrige.

Allein diese Auffassungsweise

Dem Unrechte gegenüber ist das Interesse des ver­

letzten Einzelnen mit dem der Gesamtheit in wesentlichen Beziehungen identisch, und es kann innerhalb gewisser Grenzen die Bethätigung und das Schicksal des Ersteren als ein Maßstab zur letzteren gelten.

Beurteilung dieses

Und zwar ist dies überall in einem um so weiteren

Umfange möglich, eine je höhere Gesittungsstufe die öffentliche Meinung

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetze-

iLf.ro. 103

eines Landes einnimmt und je mehr dieselbe sich im Einklänge mit dem die Gesetze beherrschenden Geiste befindet. Indes möchte die fragliche Bestimmung, wenigstens nach der Entwicklungsstufe, die unser gegenwärtiges Rechtsleben einnimmt, ihrer­ seits die richtigen Grenzen überschreiten. Insbesondere scheint dem freiwilligen Ersätze mit Unrecht auch in Bezug auf ausgezeichneten Diebstahl und ausgezeichneten Betmg eine strafausschließende Wirkung beigelegt zu sein. Wenigstens dürste sich hierfür kein anderes Argument als das in der Berufung auf das bisherige österreichische Recht und deffen Durchführbarkeit gelegene (defien Wert sich der genaueren Be­ urteilung des Verfasiers entzieht) mit einigem Scheine geltend machen lasten. Man denke an den bewaffneten, an den gewerbsmäßigen, an den von einer Bande ausgeführtm Diebstahl. Kann hier die Zufriedenstellung des einzelnen Verletzten das in weiten Kreisen gestörte Gefühl der Sicherheit wieder Herstellen? Kann die Erklärung des Bestohlenen, daß er seine Sachen wieder erhalten habe, den Eindruck neutralisiren, den das in der That gegebene Beispiel auf die Freunde und auf die Feinde der Rechtsordnung in entgegen­ gesetztem Sinne hervorbringt? Oder ist damit irgend eine Garantie dafür gegeben, daß bei dem Verbrecher die verbrecherische Gewöhnung erloschen oder daß die Berbrecherbande aufgelöst sei? Andererseits hat die besprochene Bestimmung in mehrfacher Hin­ sicht den Charakter des Fragmentarischen, willkürlich Abgegrenzten. So ist es durchaus willkürlich, wenn der Ersatz, während er bei den schwersten Arten des Diebstahls als Strafausschließungsgrund aner­ kannt ist, bei der (auf Vermögensgewinn gerichteten) Erpreffung, und zwar selbst bei der leichtesten Art derselben, nicht einmal als Minderungs­ grund figurirt; da doch diejenigen Umstände, welche bei den ersteren zur Bermögensverletzung hinzukommen, von weitaus graverer Natur sind als das bei der nicht qualifizirten Erpressung neben der Ver­ mögensverletzung in Betracht kommende Moment des psychischen Zwangs; wie dies der Entwurf selbst in seinen Straffätzen für den qualifizirten Diebstahl einer-, für die Erpressung andererseits anerkennt. Ihre Erklärung, aber nicht ihre Rechtfertigung, findet die hierin liegende Inkonsequenz in dem weiterhin zu besprechenden Umstande, daß die gegen die Vermögensrechte gerichtete Erpressung vom Entwürfe mit sonstigen strafbaren Nötigungen in einen Begriff zusammengezogen wird. Die Konsequenz möchte ferner erfordern, daß auch der teilweise Ersatz.

104 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.ro.

bei den in Rede stehenden Verbrechen eine gewisse Berücksichtigung finde, was am einfachsten durch die Vorschrift geschehen würde, daß derselbe von dem bei der Strafausmessung in Betracht kommenden Schadensbetrage abgezogen »erben solle. Eine Disharmonie besteht auch zwischen jener weitgehenden Be­ rücksichtigung des hinterher gebotenen und der Nichtberücksichtigung des von vornherein gebotenen Aequivalentes für dm mtzogmm Gegenstand. Der Entwurf nämlich läßt dm eigenmächtigen Tausch, bei welchem für das widerrechtlich Entzogme sofort ein mtsprechender Gegenwert gegeben wird, so daß ein auszugleichender Vermögensverlust auf der Seite des Verletztm gar nicht entsteht, unter den Begriff des Dieb­ stahls rc. (vom Betrüge scheint er ausgeschloffm) subsumirm und mit der ungeminderten Diebstahlsstrafe rc. belegen. Ist es nun aber konsequent, diese Ersatzleistung, welche, wenn hinterher kommend, alle Strafe ausschließen soll, beim rechtswidrigen Tausch um ihres sofortigen Eintritts willen für gänzlich unbeachtenswert zu erklären? Rein juristisch betrachtet, nimmt dieselbe sogar gerade im letzteren Falle, wo sie als ein integrirender Bestandteil der That selbst erscheint, eine größere Bedeutung in Anspruch. Denn hier schließt sie das eigentliche Charakteristikon der infamirenden Eigentumsverbrechen: die Aneignung fremden Gutes ohne Entgelt (s. unten), vollständig aus, während im anderen Falle die auf diese Aneignung gerichtete Absicht bereits ihre Verkörperung erlangt hat und nur nachträglich in ihrer Bedeutung eine Abschwächung er­ fährt. Mögen nun auch rechtspolitische Rücksichten umgekehrt der hinterherigen Ersatzleistung ein größeres Gewicht beilegen lassen, so rechtfertigt dies doch keineswegs die völlige Jgnorirung der sofortigen. — Auch dies scheint ferner nicht im Einklänge mit der dem Ersätze bei­ gelegten Wirkung zu stehen, daß man bei dm in Frage stehmden Verbrechen zum Teile einen auszugleichenden Wertverlust auf Seiten des Verletztm gar nicht als ein Erfordernis aufstellt, sondern die fraglichen Begriffe auf die Entziehung von Gegenständen ohne jetten Schätzungswert ausdehnt. Man vergleiche in dieser Beziehung ins­ besondere den vom Entwürfe aufgestellten Diebstahlsbegriff. Endlich liegt hier noch eine andere Vergleichung nahe. Der Entwurf stellt die straftechtliche Verfolgung bei verhältnismäßig zahl­ reichen Rechtsverletzungen in Abhängigkeit von dem Antrag des Privat­ verletzten, und es subsumirt sich auch dies unter den an die Spitze

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w. 105

unserer Erörterung gerückten Gesichtspunkt. Der Staat soll die Ein­ zelnen, wie wiederholt betont wurde, als die natürlichen und berufenen Wächter der allgemeinen Interessen anerkennen, insofern und insoweit als diese allgemeinen Interessen in concreto zusammenfallen. Das aber ist der Fall in Bezug auf die Verfolgung einer Reche von Delikten, bei welchen die Gesamtheit sich zunächst im Einzelnen verletzt und mit der Versöhnung desielben auch ihrerseits beruhigt findet. Hier mag die Initiative zu dieser Verfolgung den Einzelnen überlasien werden. — Was nun speziell die Eigentumsverbrechen angeht, so steht bei ihnen die Frage nach der Bedeutung des Ersatzes mit der nach der Abhängigmachung der Strafverfolgung vom Antrag des Verletzten offenbar in einem nahen Zusammenhange. Der freiwillig gebotene Ersatz zielt zunächst auf eine Ausgleichung der Privatverletzung, auf eine Zufriedenstellung des verletzten Einzelnen. Ob dieselbe damit wirklich erreicht werde, ist im allgemeinen ungewiß. Kann nun die Gesamtheit in Bezug auf gewisse Delikte sich einem solchem Versuche gegenüber ihrerseits zufrieden geben, so wird die, wenn auch durch andere Mittel, erreichte Zufriedenstellung des Privatverletzten um so gewisser einen Anspruch auf ihre Berücksichttgung haben. Denn der Ersatz ist für sie nur eine an sich gleichgiltige Form für die auf Befriedigung des unmittelbar Verletzten gerichtete thättge Reue des Verbrechers, wie dies der Entwurf in dem zittrten Schlußsätze des § 96 unzweideutig anerkennt. So ist es indifferent für sie, ob der durch Hunger oder Lüstern­ heit verführte Dieb den Bestohlenen durch die Vergütung des Entzogenen oder durch andere Mittel zu versöhnen weiß. Sie wird es hier daher dem Berichten überlassen können, das Faktum der geschehenen Aus­ gleichung oder Nichtausgleichung der erlittenen Rechtskränkung und bezw. das Bedürfnis einer solchen Ausgleichung durch seine Erklärungen oder sein Sttllschweigen zu konstatiren. Mit anderen Worten, sie wird die strafrechtliche Verfolgung von dem Anttage des Privatverletzten abhängig machen können. Sie stellt damit im Gmnde kein für dm Delinquenten günstigeres Prinzip auf als der auf die Wirkungen des Ersatzes bezügliche § 96 des Entwurfs. Denn es wird in häufigen Fällen dem Verlchten mit der bloßen Ersatzleistung nicht genug gethan sein, vielmehr bald eine noch in anderer Weise Bethätigte Reue, bald ein über den Schadensbetrag hinausgehendes Sühngeld von ihm ge­ fordert werden.

106 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.s.w.

Damit will indes, wie sich nach dem über den ausgezeichneten Diebstahl Bemerkten von selbst versteht, mit nichten empfohlen sein, die in Frage stehenden Verbrechen allgemein in die Kategorie der „Antragsverbrechen" aufzunehmen. Es soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Entwurf nicht konsequent verfährt, wenn er in Bezug auf Diebstahl, Betrug, Eigentumsbeschädigung u. s. w. den steiwilligen Ersatz allgemein als Strafausschließungsgrund anerkennt, während er diese Delikte sämtlich von Amtswegen verfolgt haben will. Davon abgesehen würde sich die Abhängigmachung der Straf­ verfolgung vom Antrag des Verletzten unbedenklich anordnen lasien in Betreff der Eigentumsbefchädigung und des nicht eigennützigen Betruges (s. unten), ferner in Betreff der Fundunterschlagung und jedenfalls in Betreff der im § 271 der Unterschlagung gleichgestellten Fälle der rechtswidrigen Verfügung über eine mit Beschlag belegte Sache seitens des Eigentümers und über eine verkaufte und bereits bezahlte Sache seitens des Verkäufers. Daß dieselbe in Betreff der in der Form des Diebstahls, Betruges oder eines anderen hierher gehörigen Deliktes auftretenden strafbaren Selbsthilfe gefordert sei, ist bereits früher hervorgehoben worden. Bezüglich der in der Form der Erpressung auftretenden Selbsthilfe ist dies im Entwürfe anerkannt (§ 260). Mit der Berücksichtigung, welche der Entwurf bei den Eigentums­ verbrechen der freiwilligen Ausgleichung des zugefügten Schadens zuteil werden läßt, stimmt es dagegen innerlich zusammen, daß er bei seinen Strafmaßbestimmungen für diese Verbrechen auf den Umfang des zu­ gefügten Schadens überall entscheidendes Gewicht legt. Es hat dies letztere aber noch entschiedeneren Tadel erfahren wie das erstere, und es verlohnt sich daher, zu Gunsten dieser Abstufung der Strafe nach dem Betrage der Verletzung ein Wort der Rechtfertigung vorzubringen. Meines Erachtens ist es der Konsequenz und der Natur der Sache entsprechend, wenn die materielle Benachteiligung, welche im Begriff der Eigentumsverbrechen eine so wesentliche Stellung einnimmt, auch in den Strafbestimmungen für dieselben eine Rolle spielt. Warum soll bei ihnen in dieser Beziehung etwas anderes gelten wie bei anderen Delikten? Wird doch nirgends sonst der Umfang, in welchem die einer Berbrechensart charakteristische Verletzung zugefügt wird, als gleichgiltig oder als von nur sekundärer Bedeutung behandelt! Vielmehr bestimmt sich die relative Strafbarkeit einer Körperverletzung

Bemerkungen über den österreichüchen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

107

in erster Linie nach dem Maße, in welchem die körperliche Integrität rechtswidriger Weist verletzt ist, die relative Strafbarkeit der rechts­ widrigen Gefangenhaltung nach der Ausdehnung, in welcher dem Ver­ letzten seine Freiheit entzogen wurde, die relative Strafbarkeit einer Ehrenkränkung nach der Intensität der zugefügten Kränkung, die relative Strafbarkeit gemeingefährlicher Handlungen nach dem Umfange, in welchem fremdes Leben oder fremde Güter durch die Handlung ge­ fährdet wurden u. s. w. Diest zum Begriff der betreffenden Delikte gehörigen Verletzungen gebot bei der Beurteilung ihrer relativen Straf­ barkeit den festen Ausgangspunkt und den Prinzipalen Maßstab ab, durch dessen Anerkennung eine Berücksichtigung sonstiger, die konkrete That charakterisirender Umstände natürlich nicht ausgeschloffen wird. Es ist jedoch die Art, wie der fragliche Maßstab im Entwürfe gehandhabt wird, allerdings eine bedenkliche. Gewiß ist ein Diebstahl von 11 fl. an sich, d. i. alle übrigen für die Beurteilung der Schuld des Thäters relevanten Verhältniffe als gleich gedacht, strafbarer als ein Diebstahl von 10 fl. Allein damit rechtfertigt es sich nicht, daß der erstere, wie es im Entwürfe geschieht (vergl. § 268 in. mit § 270, III und i. f.; § 272, II mit § 273, u. s. ».), als ein unter allen Umständen und zwar weitaus strafbarerer behandelt wird als der letztere. Dies würde motivirt sein, wenn zwischen dem Diebstahl von 10 und dem von 11 fl. eine breite Kluft sich ausdehnte, während es sich hier in Wahrheit um einen geringen Abschnitt auf einer ins Unendliche sich verlaufenden Skala handelt, und wenn überdies die Gesamtheit aller sonstigen bei der Beurteilung der That in Betracht kommenden Verhältnisse niemals im Stande wäre, jene Kluft zu überbrücken! Es würde absurd sein, sich hier ernstlich auf die Natur der Sache berufen zu wollen. Es existirt aber gar kein Grund für ein so schroffes Jgnoriren derselben. Allerdings finden sich solche willkürliche Durch­ schnitte wieder zwischen einem Diebstahlsbetrage von 10 fl. und von mehr als 10 fl. in allen Sttafgesetzen, und es mag hier dahingestellt bleiben, ob wir sie vollständig entbehren können. Jedenfalls ist dies nicht der Fall, so lange wir an der Einteilung der Rechtsverletzungen in Verbrechen und Vergehen oder einer ähn­ lichen künstlichen Einteilung festhalten. Allein die im Entwürfe mit diesen Durchschnitten verbundenen Härten könnten wesentlich gemildert iverden, indem man nämlich, wie es wiederholt von uns gefordert wurde, in einander übergreifende Sttafrahmen aufftellte. Hiernach

108

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

würde also z. B. der für den qualifizirten Diebstahl von 10 fl. oder weniger aufgestellte Strafrahmen von 1 bis 4 Monaten Arrest nach oben hin, der für den qualifizirten Diebstahl von mehr als 10 fl. aufgestellte Strafrahmen von 4 bis 12 Monaten Zuchthaus dagegen nach unten hin zu erweitern fein. Mit dieser Abstufung der Strafe nach dem Berbrechensbetrage stehen die Bestimmungen des § 28 über die Zusammenrechnung der Beträge mehrerer gemeinsam zur Bestrafung kommender Eigentumsverbrecheir derselben Art in notwendigem Zusammenhange. Dieselben sind im wesentlichen gutzuheißen (nur ist auch hier die Erpressung ausgeschlossen) und daher nicht näher von uns in Betracht zu nehmen. Übersehen wir das Gebiet der in Frage stehenden Eigentums­ verbrechen, so hebt sich eine Gruppe von unter einander psychisch nahe verwandten Delikten mit scharf ausgeprägter juridischer Physiognomie hervor. Es sind diejenigen Eingriffe in fremdes Eigentum, welche nicht bloß auf eine Benachteiligung des Anderen, sondern zugleich auf eine Bereicherung des Delinquenten auf Kosten des Verletzten zielen; also die eigennützigen oder gewinnsüchtigen Eigentumsverbrechen, als deren Typus wir den Diebstahl bezeichnen können. Die rechtswidrige Zueignung fremden Eigentums ohne Entgelt, welche sie charakterisirt, hat eine andere Bedeutung, sowohl in sozialer, wie in ethisch-rechtlicher Beziehung, als die aus Bosheit oder Mutwillen erfolgende Schädigung fremden Eigentums. Das ethische Volksurteil unterscheidet hier durchaus. Eine härtere Behandlung der ersteren, wie sie durch kriminalpolitische Rücksichten gefordert scheint, ist seiner Zustimmung überall gewiß. Auch erscheinen ihm Diebstahl, Betrug u. s. w. weit entschiedener mit dem Makel einer ehrlosen Gesinnung behaftet, als die boshafte Sach­ beschädigung mit ihren Geistesverwandten. Wer einem Andern absichtlich die Fenster einschlägt, den bezüchtigt die öffentliche Meinung um des­ willen noch nicht einer ehrlosen Gesinnung, wenn sie auch einer Bestrafung desselben zustimmt. Wohl aber trifft denjenigen, der dem Anderen den Wert, welchen jenes Fenster repräsentirt, heimlich oder in betrügerischer Weise ent­ zieht, um denselben sich zuzueignen, jenes ethische Bemichtungsurteil ohne weiters. Diese rechtswidrige Zueignung fremder Vermögensobjekte nun kann entweder durch den Delinquentm direkt in eigenmächtiger Weise, oder durch Vermittlung des zu seiner eigenen Verletzung mißbrauchttn

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. s. w.

109

Berechtigten erfolgen. Das Letztere findet statt bei dem Zwillingspaar Betrug und Erpressung, und zwar wird der Berechtigte dort durch Täuschung, hier durch Drohungen zu der ihn beschädigenden Handlung gebracht. Das Andere findet statt bei Raub, Diebstahl und Unter­ schlagung, wovon der Erstere noch durch das bedeutsame Mommt der gegen die Person gerichtetm Gewalt charakterisirt ist. An den Betrug reiht sich der betrügerische Bankerott, an Diebstahl und Unterschlagung reihen sich Rechtsverletzungen von geringerem Belange. — Diese verschiedenen Formen der strafbarm Zueignung fremder Bermögensstücke bedingen eine verschiedme Strafbarkeit und zum Teil eine eigentümliche technische Behandlung der unter sie zu subsumirenden Hand­ lungen, lasten aber den gleichen geistigen Grundcharakter derselben nicht in Hintergrund beten. Die Auffassung derselben aber als Glieder der umschriebenen Gruppe ist für die Würdigung sowohl der ihnen gemeinsamen, wie der sie unterscheidenden Merkmale bedeutsam. Der Entwurf nun hebt dieselbm als eine besondere Gruppe nicht hervor, wiewohl er ihrer Eigmtümlichkeit materiell in mehrfacher Hinsicht gerecht wird. Rur ist hierbei die Erpressung auszuschließen. Dieselbe wird im Entwürfe nicht als gewinnsüchtiges und überhaupt (wie schon erwähnt) nicht als Eigentumsverbrechen behandelt. Die Individualität der auf Vermögensgewinn gerichteten Erpressung ist hier in der Summe rechtswidriger Nötigungen Anderer zu irgend einem Thun oder Lassen untergegangen. Femer werden die nicht gewinnsüchtigen Vermögensverbrechen mit demselben Maße gemessen wie die gewinnsüchtigm. So wird die betrügerische Zueignung fremden Eigentums ohne Entgelt mit der bloßen fraudulösm Benachteiligung unter einen Begriff gezogen und auch den Strassätzen gegenüber nicht von ihnen geschiedn!. So wird die (nicht gewinnsüchtige) Eigentumsbeschädigung mit den Diebstahlsstrafen bedroht. In diesen Punkten möchte eine Revision gefordert sein (s. unten). Halten wir uns den wesentlichen Kern der zu jener Gruppe gehörigen Verbrechensarten und den Grund ihres ignominiösen Charakters (die Zueignung fremden Eigentums ohne Entgelt) vor Augen, so wird uns kein Zweifel darüber bleiben, daß die mehrbesprochene Selbsthilfe, sowie ferner der eigenmächtige Tausch und endlich die rechtswidrige Aneignung einer Sache ohne Schätzungswert von den einschlagenden Begriffen auszuschließen seien.

110 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. re.

b. Zu den Bestimmungen über den Raub insbesondere. Hinsichtlich der Definition des Raubes im § 255 („wer mittelst Anwendung oder Androhung von Gewalt gegen einen Anderen sich einer fremdm beweglichen Sache bemächtiget, um dieselbe sich oder einem Anderen zuzueignen") möchte eS sich empfehlen, an Stelle der überflüssigen Worte „oder einem Anderen" das Wort „rechtswidrig" aufzunehmen, wodurch die gewaltsame Selbsthilfe von dem Begriffe dieses Verbrechens ausgeschlossen würde. Was die Straffätze für den Raub (§ 256) betrifft, so ist gegen das Minimum von vier Jahren Zuchthaus Verwahrung einzulegen. Dasselbe würde einer überaus großen Zahl von Fällen gegenüber zu großen Härten führen. Von der den Raub gegenüber vom Diebstahl charakterisirenden Gewalt gegen die Person gilt, was von so vielen kriminalistischen Merkmalen, daß ihre Bedeutung im einzelnen Falle sich bald als eine eminente, bald als eine verschwindende darstellt. Sie bilden in ihren Erscheinungen eine Stufenleiter, welche sowohl aufwärts, wie abwärts keine bestimmte Grenze erblicken läßt, daher ihnen eng begrenzte Strafrahmen und bedeutende Sprünge in der Strafenskala nicht entsprechen. So würde es sich an der Hand zahl­ reicher Erfahrungen leicht zeigen lassen, daß der Sprung von dem Minimum der Diebstahlsstrafe, eine Woche Arrest, zu dem Minimum der für den Raub gedrohten Strafe (4 Jahre Zuchthaus) durch das in Frage stehende Merkmal der Gewalt in keiner Weise zu recht­ fertigen sei. Wollen wir denjenigen, der einem Anderen ein Taschentuch wegnimmt, dann mit einer Woche Arrest bestrafen, wenn er es dem Eigentümer heimlich aus der Tasche zieht, dann aber, wenn er es ihm aus der Hand reißt und damit fortspringt (in welchem Falle die Handlung als Raub qualifizirt werden kann), mit dem mehr als Zweihundertsachen jener Strafe: mit vier Jahren Zucht­ haus ?! Auch hinsichtlich der Qualifikationen des Raubes möchte sich Einiges gegen die Bestimmungen des Entwurfes erinnern lassen. Der Ausdruck: Raub „mit" Waffen (§ 256 b) ist zweideutig. Die un­ bedingte Auszeichnung des „Straßenraubs" (ebendas.) ist nicht motivirt. Soll jener Taschentuchräuber dann, wenn er seine That auf offener Straße verübt, gar mit 8 bis 14 Jahren Zuchthaus bedroht sein?

Bemerkungen über den Ssterretchtschcn Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

111

c. Zu den Bestimmungen über Erpressung» Nötigung und gefährliche Drohung insbesondere. Neben den die Fälschung betreffenden Paragraphen möchten die auf die Erpressung bezüglichen zu den am wenigsten glücklich rebigtrten gehören. Es sei vergönnt, dies im einzelnen näher zu begründen. Wie schon im Vorigen hervorgehoben wurde, zieht der M.-Entwurf die auf rechtswidrigen Vermögensvorteil gerichtete Androhung von Gewalt, d. i. diejenige, welche man vielfach ausschließlich unter Erpreffung versteht, mit denjenigen Rechtsverletzungen, welche man unter „Nötigung" zu begreifen pflegt, in einen Begriff zusammen, wogegen sich im R.-Entwurfe diese Verbrechensarten auseinander gehalten finden. Die Folge jener Bereinigung aber ist, daß weder die Erpreffung im engeren Sinne, noch die Nötigung im engeren Sinne im M.-Entwurfe voll­ ständig zu ihrem Rechte kommen. Wir haben gesehen, daß die Erstere sich den am meisten infamirenden Delikten einreiht, während die Letztere auf eine ehrlose Gesinnung keines­ wegs allgemein zurückweise. Es ist daher nicht sachentsprechend, wenn diese an der für jene passenden Bedrohung mit infamirenden Strafen gleichmäßig partizipirt. Wie in diesem Punkte, so würde auch in Betreff der Verfolgung von Amtswegen die Nötigung im engeren Sinne einer minder strengen Behandlung unterzogen werden können, als die Erpressung im engeren Sinne. Dagegen sollte die Letztere an den für die Eigen­ tumsverbrechen und bezw. für die gewinnsüchtigen Eigentumsverbrechen aufzustellenden gemeinsamen Grundsätzen und Gesichtspunkten (in Betreff des Ersatzes, der Zusammenrechnung der Beträge, der Abstufung der Strafe nach dem Betrage, der von Familiengenossen gegen einander begangenen Delikte u. s. w.) partizipiren, wovon sie durch ihre Ver­ mengung mit der Nötigung ausgeschlossen wird. Übrigens giebt der Entwurf keine einheitliche Definition von den nach ihm unter „Erpressung" zu begreifenden Rechtsverletzungen, unter­ scheidet vielmehr drei Kategorien, die er im § 258 gesondert charakterisier: 1. Erstlich nämlich soll nach ihm als Erpreffung behandelt werden: das Erzwingen einer Leistung, Duldung oder Unterlassung mit rechts­ widriger Anwendung oder Androhung von Gewalt (soweit es nicht als Raub erscheint, § 258, 1). Hier ist zunächst kein Unterschied gemacht zwischen dem Erzwingen einer geschuldeten und dem einer nicht geschuldeten Leistung; die Nötigung

112

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

zur Erfüllung von Rechtsansprüchen und bezw. zur Unterlassung von Rechtsstörungen (soweit dies letztere nicht als Notwehr erscheint) wird also begrifflich mit den schwersten Arten der infamirendm Erpressung identifizirt. Die Bestimmungen des § 260, wonach jene Fälle der strafbaren Eigenmacht nur als „Vergehen" behandelt werden sollen, enthalten dem gegenüber keine genügende Korrektive, auch abgesehen davon, daß sie auch für dies „Vergehen" der Erpressung die (auf die Eigenmacht nicht paffende) infamirende Arreststrafe drohen. Unter der „Androhung von Gewalt" in dem zitirten Passus ist nach § 116 nur die Drohung mit Körperverletzungen zu verstehen. Neben dieser wird in den folgenden Abschnitten des § 258 nur noch die Drohung mit für den Bedrohten nachteiligen Enthüllungen und die mit der Geltendmachung von Rechtsansprüchen berücksichtigt. Weshalb aber diese Beschränkung des Thatbestandes? Auch durch Drohungen mit Brandstiftung, Freiheitsverletzung u. s. w. kann eine Erpressung begangen werden, und dieselbe ist, so verübt, nicht minder strafwürdig als in den vom Entwürfe berücksichtigten Fällen. Auch waren diese Begehungsweisen im Referentenentwurfe in den Begriff der Erpressung eingeschlossen. Der Ministerialentwurf belegt dagegen die fraglichen Drohungen nur für den Fall mit Strafe, daß sie bloß in der Absicht erfolgen, Andere in Furcht oder Unruhe zu versetzen (§ 263). Stehen sie im Dienste einer schlimmeren Absicht, so liegt eine Strafbestimmung in ihm nicht für sie vor. In der zitirten Definition ist eine „rechtswidrige" Anwendung oder Androhung von Gewalt gefordert, während in der Definition des Raubes sich dies Wort nicht findet. Gewiß aber ist das fragliche Er­ fordernis dort nicht mehr an seiner Stelle, als es hier sein würde. Jedenfalls würde hier eine gleichmäßige Fassung zu fordern sein. 2. Ferner wird unter den Begriff der Erpressung gezogen: das Er­ zwingen einer Leistung, Duldung oder Unterlassung, worauf der Zwingende kein Recht hat, durch eine der im § 259 bezeichneten strafbaren Drohungen, insostrne dieselben . . . gegründete Besorgnis einzuflößen geeignet er­ schienen (§ 258, 2). Der zitirte § 259 handelt von Drohungen mit nachteiligen Ent­ hüllungen und unterscheidet drei Kategorien solcher Drohungen. Diese Unterscheidungen des § 259 sind nicht exakt und kompliziren daher die Sache, statt sie zu klären. Wie unterscheiden sich die Mit­ teilungen über „Thatsachen des Privat- und Familienlebens", wovon

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

113

Abschnitt 2 dieses Paragraphm handelt, von Mitteilungen über „die Personen, Handlungen, Familim-, Erwerbs- oder sonstigen Verhältnisse" des Bedrohten, welche im Abschnitte 3 desselben aufgeführt werden? Und wie die im Abschnitt 1 erwähnten Handlungen, welche geeignet sind, den Bedrohtm in der Meinung Anderer zu beeinttächttgen", von den in Abschnitt 3 erwähnten Handlungen, welche geeignet sind, denselben „in der Meinung Anderer auf eine nachteilige Weise herabzusetzen?" Die fraglichen Drohungen sind zum Teil an sich weder strafbar, noch rechtswidrig. So z. B. ist die Drohung mit der Anzeige einer strafbaren Handlung nicht rechtswidrig. Dieselben sind daher im § 258, 2 nicht als „strafbare" Drohungen, wie es geschieht, vorauszusetzen. Der soeben erwähnte Umstand, daß auch an sich harmlose Droh­ ungen, bezw. Drohungen mit erlaubten Vornahmen (wie z. B. mit der Aufdeckung verbrecherischer Handlungen) den zur Herstellung des Thatbestandes der Erpressung geeigneten Handlungen eingereiht werden, ist entschieden bedenklich. Würde dieser Thatbestand in Bezug auf die Zwecke der Drohung in der oben geforderten Weise (nämlich auf das Erpressen rechtswidriger BermögenSvorteile) beschränkt, so möchte sich jene Latttude in Betteff der Mittel der Begehung vielleicht rechtfertigen lassen, wiewohl auch dies mit beachtenswerten Gründen bestritten worden ist. Nun aber der Thatbestand hinsichtlich dessen, was erzwungen werden will, vollständig unbestimmt ist, kann die Ausdehnung desselben hinsichtlich der Begehungsweise jedenfalls nicht gutgeheißen werden. Hiernach würde z. B. derjenige, der Jemanden durch die Drohung mit der Anzeige strafbarer Handlungen oder mit der Enthüllung ihn kompromittirender Thatsachen zu einem ordentlichen Lebenswandel zu zwingen sucht, als des Verbrechens der Erpressung schuldig anzusehen und nach den Bestimmungm des § 261, 2 mit der infamirenden Zuchthaus­ strafe zu belegen sein! Dem gegenüber kann hier nur wiederholt die Wichttgkeit einer maßhalttgen Ökonomie bei der Bestimmung der Grenzen des straf­ rechtlichen Gebiets betont werden. Wie die Bestrafung eines ungerecht Beschuldigten im allgemeinen nicht von geringerem Nachteile für das Ansehen und die Wirksamkeit der Sttafjustiz ist als die Freisprechung eines Schuldigen, so hat eine zu enge Fassung der strafgesetzlichen Definitionen im ganzen und großen nicht größere Schädlichkeiten im Gefolge als eine Fassung derselben, welche die Grenzen des Straf­ rechtes zwecklos ausdehnt oder ins Ungewisse rückt. Merkel, 21., Gesammelte Abhandlungen.

g

114 Bemerkungen übet den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w. 3. Endlich wird im dritten Abschnitt des § 258 die Drohung mit der Geltendmachung eines Rechtes allgemein unter den Begriff der Erpresiung gezogen für den Fall, daß damit „eine gesetzwidrige oder unsittliche Leistung, Duldung oder Unterlassung" erzwungen werden will. Dagegen möchte sich prattisch nicht viel erinnern lassen, insofern wir die Bestimmung ihrem Wortlaute gemäß handhaben.

Allein die

Att, wie die M.-Mottve sich darüber äußern, zieht den Sinn derselben in einer bedenklichen Weise ins Unbestimmte. Es wird nämlich S. 137 derselben von dm fraglichm Fällen bemertt, daß die Handlung sich als eine strafbare darstelle, „weil sie auf Abnötigung von etwas Un­ sittlichem oder auf Erlangung eines nach dem Rechte nicht zustehenden Botteils gerichtet war". Wenn wir das „gesetzwidrig" der geschlichen Definitton in diesem Sinne, also dahin interprettrm, daß der Zwang auf Botteile gerichtet sein müsse, worauf der Zwingende kein Recht hat, so stellen wir die Strafbarkeit der hier fraglichen Drohungen auf dieselben Bedingungen, wie sie im § 258, 2 für die Strafbarkeit der Drohung mit kompromitttrenden Enthüllungen aufgestellt sind, erweitern damit aber in einer durchaus unzulässigen Weise die Grenzen dieser Verbrechensatt.

Es würde damit der Gläubiger, der seinen Schuldner

durch die Drohung mit der Anstellung einer ihm zustehenden Klage zu einem Vergleiche zu zwingm sucht, zum infamen Verbrecher gestempelt! Fassen >vir alles zusammen, so werden wir sagen können, daß die künstlichen und schwer übersichtlichen Unterscheidungen der besprochenen §§ 158 und 59 (welche überdies bei der Fragenstellung an schworenen große Schwierigkeiten bereiten würden)

die Ge­

eine sichere und

sachentsprechende Begrenzung des Gebietes dieser Verbrechen nicht an die Hand geben. Es würde sich mit einer einzigen kurzgefaßten Definition hier entschieden mehr erreichen lassen.

Vielleicht würde sich in Betreff

der Erpressung im engeren Sinne die folgende Fassung empfehlen: Wer (außer dem Falle des Raubes) Jemanden zu einer Handlung. Duldung oder Unterlassung zwingt, um dadurch sich oder Dritten einen rechtswidttgen Vermögmsvotteil zuzuwenden, ist der Erpressung schuldig Für die Nöttgung im engeren Sinne möchte etwa folgende Fassunx vorzuschlagen sein: Wer (außer dem Falle des Raubes und der Erpressung) Jemanden durch körperliche Gewalt oder durch Androhung rechtswidriger Ver­ gewaltigung oder Benachteiligung zu einer Handlung, Unterlassung zwingt, ist. . .

Duldung oder

Bemerkungen über den ösierretchtschen Entwurf eine- Strafgesetzes u. f. w.

115

An die besprochenen Delikte schließt sich noch die in den §§ 263 und 264 des Entwurfes normirte „gefährliche Drohung" an. Auch die Definition von diesem Delikte ist in letzterem zu weit gefaßt. Das Erfordernis der Rechtswidrigkeit der angedrohten Benachteiligungen durfte in derselben nicht ausgelassen werden. Ein Beleidigter, der seinem Gegner mit einer Klage und damit indirekt mit einer „Verletzung an Vermögen, Ehre oder Freiheit" als dm mutmaßlichen Folgen der Klage droht, bloß um denselbm in „Furcht oder Unruhe zu versetzen", der müßte nach dem Entwurf, um der Auslassung jenes Erfordernisses willen, mit der infamirendm Arreststrafe belegt werden. Noch mag darauf hingewiesm werden, daß die Strafbestimmungen für die hier besprochenen Delikte, namentlich den Minimalsätzm nach, im Verhältnis zu den für andere Delikte, insbesondere den für dm Diebstahl, vorgeschlagenen zu hart sind. Während der Letztere, wmn er weder dem Betrage, noch der Begehungsweise nach qualifizirt ist, nur mit Arrest von ein bis vier Wochm bestraft werden soll, sind für die geringsten Fälle der Erpressung und bezw. der Nötigung (von dem Falle der Selbsthilfe abgesehm) vier Monate bis ein Jahr Zuchthaus vorgesehen, dem Mindestausmaße nach also das Sechszehnfache der Diebstahlsftage. Und selbst für die leichtere Art der gefährlichen Drohung ist ein vierfach höheres Strafmaß als für den nichtqualifizirtm Diebstahl aufgestellt. Während der Letztere ferner nur bei einem sehr hohen Betrage, oder wenn die Begehungsweise im höchstm Grade qualifizirt ist, oder wenn in beiderlei Hinsicht Erschwerungm vorliegm, als Verbrechen behandelt werden soll, sind Erpressung und Nötigung (von dem Falle der Selbsthilfe abgesehen) unabhängig von allen und jeden Erschwerungen als Verbrechen qualifizirt. Darin ist offenbar keine Harmonie.

d. Zu den Bestimmungen über den Diebstahl insbesondere. Mehr Beftiedigung als die Fassung der zuletzt behandelten Be­ griffe gewährt die des wichtigen Diebftahlsbegriffes, wiewohl auch in Betreff ihrer bereits einige Zweifel angeregt wurden. Des Diebstahls schuldig soll nämlich nach § 265 sein, wer eine fremde bewegliche

116 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

Sache aus der Gewahrsame eines andern eigenmächtig wegnimmt, um dieselbe sich oder einem anderen zuzueignen. Darin ist, worauf schon hingewiesen wurde, die Entwendung einer Sache ohne Schätzungswert eingeschlossen. Dagegen ist geltend zu machen, daß dieser Entwendungs­ fall in der Regel von zu geringer Bedeutung sein werde, um dem Handelnden den mit einer Verurteilung wegen Diebstahls sich ver­ knüpfenden unauslöschlichen Makel aufzuprägen, ausnahmsweise aber zwar bedeutsam erscheinen werde, aber nach anderen Rücksichten als der eigentliche Diebstahl. Man denke an die mittelst Einsteigens in eine fremde Wohnung erfolgende Wegnahme eines Briefes und ver­ gleiche den Fall mit einem auf solchem Wege ausgeführten Kassendiebstahl. Es liegt hier wohl mehr als eine bloß quantitative Ver­ schiedenheit vor. Auch der rechtswidrige heimliche Tausch ist in dieser Definition eingeschlossen. Ebenso gewisse Fälle der Selbsthilfe. Von alledem war bereits zur Genüge die Rede. In Betreff der Vollendung des Deliktes scheint die Definition nicht jeden Zweifel auszuschließen. Der Dieb, der die ergriffene Sache in den Räumen des Bestohlenen versteckt, um sie später daselbst abzuholen, hebt damit die Verfügungsgewalt des Letzteren auf und seine That würde daher nach den ohne Zweifel richtigen Ausführungen in den R.-Motiven als vollendeter Diebstahl zu behandeln sein. Allein läßt sich von ihm sagen, daß er die Sache damit „aus der Gewahr­ same" des Bestohlenen wegnehme? Vielleicht! doch ist dies anderswo in Frage gezogen worden, und es möchten daher andere, der gesetz­ geberischen Intention zweifellos entsprechende Worte („aus der Jnnehabung wegnimmt", oder auch „der Verfügungsgewalt entzieht" ?) statt der zitirten zu wählen sein. Der in Frage stehende Titel gehört zu denjenigen, in welchen sich die Einteilung der Rechtsverletzungen in Verbrechen und Vergehen als eine Quelle künstlicher Unterscheidungen ausweist. Man konnte nicht Diebstähle von geringerem Betrage allgemein der Kategorie der Verbrechen einreihen und doch wohl auch den Gegensatz zwischen höherein und geringerem Betrage hier nicht ausschließlich entscheiden lassen. Daher denn das künstliche System der §§ 266—70. Daher diese langatmige Aufzählnng von Qualifikation-gründen zweiter Ordnung, die in Verbindung mit einem Diebstahlsbetrage von mehr als 10 Gulden die Verbrechensqualität Herstellen sollen. Von diesen Quali­ fikationsgründen werden die meisten in der Anwendung Zweifel und

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w.

117

Schwierigkeiten hervorrufen und jedenfalls auf willkürliche Scheidungen hinausführen. Auch ließe sich von einigen darthun, daß sie eher eine mildere denn eine strengere Bestrafung betreffender Handlungm motiviren würden. So finden sich z. B. die Entwendungen von noch unzubereiteten Erzeugnisien des Bodens anderwärts mehrfach nach milderen Spezialgesetzen behandelt, während sie im Entwurf unter die qualifizirten Diebstähle gezogen meiden. Allerdings sind diese Erzeug­ nisse, so lange sie sich noch mit dem Boden verbunden finden, im allgemeinen schwer zu sichern; ein Umstand, der jener auszeichnenden Behandlung zu Grunde liegt. Allein es läßt sich in Frage ziehen, ob die exponirte Lage eines Gegenstandes, möge dieselbe sich auch in den natürlichen Bedingungen seiner Erzeugung oder seiner Nutzbarmachung begründen, für sich allein einen wahren Oualifikationsgrund abgebe; ob nicht vielmehr für die Berücksichtigung dieses Umstandes und die Ausgleichung feiner Bedeut­ ung mit der des besonderen Anreizes zur That, der sich in der gleichen Sachlage begründet, innerhalb eines nicht zu eng begrenzten Straf­ rahmens der erforderliche Spielraum gegeben sei. ES ist nämlich darauf aufmerksam zu machen, daß wir in einer Lage der Sache von gerade entgegengesetztem Charakter ebenfalls einen Auszeichnungsgrund zu finden pflegen. Befindet sich die Sache unter besonderer Obhut, unter besonderem Verschlüsse, innerhalb einer Einfriedigung u. s. w., so sehen wir in ihrer Wegnahme die Äußerung einer besonders ver­ wegenen oder frechen Gesinnung und um deswillen eine strengere Be­ strafung derselben motivirt. Es kann nun nicht wohl zugleich das Vorhandensein und zugleich die Abwesenheit einer besonderen Schutz­ wehr Qualifikationsgrund sein. Vielmehr muß sich zur besonderen Schutzlosigkeit der Sache eine besondere Schutzwürdigkeit gesellen, wenn es motivirt sein soll, ihr durch eine ausgezeichnet strenge Bestrafung sie betreffender Vergehen einen „höheren Frieden" zu verleihen. Hiernach aber dürsten die Oualifikationsgründe h bis v des § 268, welche sich fast ausschließlich dem besprochenen Gesichtspunkte der besonderen Exponirtheit des Gegenstandes subsumiren, sehr zu reduziren sein. Bei dem oben hervorgehobenen Falle der Entwendung noch nicht losgelöster Bodenerzeugnisse kommt noch der Umstand in Betracht, daß diese Gegenstände noch nicht in die nahe Verbindung zur Persönlichkeit eines bestimmten Berechtigten getreten sind, welche durch den auf sie gerichteten Fleiß bei Einscheuerung, Verarbeitung derselben u. s. w. hergestellt

118 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u.f.w. wird.

Dies Moment ist trotz seiner scheinbar sehr spiritualistischen

Natur für das gemeine Urteil von nicht geringer Bedeutung.

Die

ärmere Klasse sieht iiy Diebstahl von noch nicht geschlagenem Holze, von Waldstreu u. bergt., von Früchten vom Baume oder von ge­ fallenen Früchten u. s. w. kaum ein Unrecht. Gesetzgeber

den

damit bezeichneten

Wenn nun auch der

Standpunkt natürlich

nicht

zu

adoptiren hat, so hat er doch überall darauf Bedacht zu nehmen, daß eine Bestrafung und das Maß derselben im Volke als gerecht empfunden werden können, und es ist deshalb die nach zweifellosem Voltsurteile leichtere

That

Vergleiche in

nicht als eine

vorzugsweise

schwere

zu

behandeln.

dieser Beziehung auch den § 250 des Referentenent­

wurfes, welcher Entwendungen der fraglichen Art, wenn sie den Be­ trag eines Guldens nicht übersteigen, nur als Polizeivergehen geahndet sehen will. Auffallend ist auch, daß man an der Subsumtion der Verletz­ ungen des Okkupationsrechtes an Wild unter den Diebstahlsbegriff festhält und diesen nur sogenannten Diebstahl sogar als yualifizirten Diebstahl behandelt.

Das Gesetz selbst darf nicht ein Beispiel von

Inexaktheit in der Handhabung seiner Begriffe geben. liegt hier aber unzweifelhaft vor. Entwürfe

Denn von den Merkmalen des vom

aufgestellten Diebstahlsbegriffes fehlen

Wilddiebstahle nicht

weniger

Ein solches

als zwei.

beim

sogenannten

Das herrenlose Wild, das

den Gegenstand deffelben ausmacht, ist nicht „fremde" Sache und nicht in „der Gewahrsame eines Anderen". Auch entspricht dieser formell juristischen Verschiedenheit zwischen dem sogenannten Wilddiebstahle und eigentlichen Diebstahle oder, allge­ meiner gefaßt, zwischen der Verletzung ausschließlicher Anrechte auf den Erwerb des Eigentums an bestimmten Sachen und der Verletzung be­ gründeter Eigentumsrechte nt. E.

auch

öffentlichen Beurteilung derselben.

Wenn in den vorhin besprochenen

Fällen

(der

Entwendung

noch

eine Verschiedenheit

in

der

unzubereiteter Bodenerzeugnisse) die

Beziehung des Gegenstandes der Aneignung zur Persönlichkeit des Berechtigten nicht greifbar hervortritt, so ist bei der rechtswidrigen Aneignung herrenlosen Wildes oder anderer Gegenstände ausschließ­ licher Okkupationsberechtigung eine solche unmittelbare Beziehung zur Person des Berechtigten noch nicht vorhanden, und dieser Umstand macht sich dem unreflektirten Gefühle gegenüber nicht weniger als der juristischen Analyse gegenüber geltend.

Bemerkungen über den österreichischen Liilwurs eines Strafgesetzes u. s. tu. 119

e. Zu den Bestimmungen über die Unterschlagung insbesondere. Die Unterschlagung verhält sich als ein Complement zum Diebstahle. Wer sich fremde Sachen eigenmächtig zueignet, der „unterschlägt", falls nicht die Merkmale des Diebstahls vorliegen.

Der Entwurf

huldigt thatsächlich dieser Auffassung, hat jedoch einer solchen Fassung des Begriffs der Unterschlagung» in welcher jenes Verhältnis derselben zum Diebstahle ausdrücklich statuirt würde, eine positive Fassung vor­ gezogen, indem er die verschiedene Weise, in welcher abgesehen vom Diebstahle die Jnnehabung einer fremden Sache gewonnen werden kann, in taxativer Weise und ohne Bezugnahme auf den Diebstahl zu bestimmen sucht (§ 271). Es fragt sich, ob es zweckmäßig sei, sich die Aufgabe in dieser Weise zu erschweren. Wie leicht entstehen bei diesem Verfahren Lücken, welche bei der Gesetzanwendung zu gewaltsamen Interpretationen ver­ führen!

Auch die in Frage stehende Definition läßt solche Lücken.

Alle diejenigen Fälle, wo die veruntreute Sache in die Hände des Delinquenten auf gewaltsame oder eigenmächtige, jedoch nicht diebische Weise gelangt war, sind unberücksichtigt geblieben. Hiernach würde z. B. der Fall, wo die Sache einem Betrunkenen, um denselben wehrlos zu machen, oder einem auf fremdes Gebiet Ein­ gedrungenen als Pfändungsgegenstand abgenommen und nachher unter­ schlagen

wurde,

iverden können.

als Unterschlagung nicht zur Bestrafung

gezogen

Denn die Sache war hier weder anvertraut, noch

gefunden, noch infolge einer Geschäftsführung,

noch

durch

oder Irrtum (§ 271) dem Unterschlagenden zugekommen.

Zufall

Statt uns

nun hier um Vollständigkeit zu bemühen, wobei wir Gefahr laufen, in die Begriffssphäre anderer Delikte überzugreifen,

ohne doch das

Ziel mit Sicherheit zu erreichen, würde es einfacher sein, den Begriff, jenem negativen Verhältnisse der Unterschlagung zum Diebstahle gemäß, etwa so zu fassen:

Wer sich außer dem Falle des Diebstahls (und

bezw. Raubes) in eigenmächtiger Weise eine fremde bewegliche Sache zueignet, um damit sich oder Dritten einen rechtswidrigen VermögensVorteil zuzuwenden, begeht ... — Einer besonderen Erwähnung des Betruges, wie sie sich in der Definition des Entwurfes findet, bedarf es nicht. Wo immer eine eigenmächtige Zueignung der fremden Sache vor-

120 Bemerkungen über den Ssterreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w. liegt,

da

ist der Begriff dieses

geschlossen.

letzteren Deliktes

von selber

aus­

Denn dem Betrug ist es charakteristisch, daß bei ihm die

Zueignung der fremden Bermögensstücke in formeller Übereinstimmung mit dem Willen des Berechtigten, auf Grund einer freiwilligen Dis­ position desselben, also nicht in eigenmächtiger Weise erfolgt. — Die Worte: „einen rechtswidrigen Vorteil zuzuwenden"

würden statt der

im Entwurf gebrauchten: „rechtswidrig einen Vorteil zuzuwenden" zu setzen sein,

weil die letzteren die in Form der Unterschlagung auf­

tretende Selbsthilfe nicht ausschließen, ohne daß bestimmt zu sagen wäre, was sie sonst ausschließen sollen. Im zweiten und dritten Absatz des § 271 werden zum Teil im Anschluß an das geltende Recht mehrere Rechtsverletzungen der Unter­ schlagung gleichgestellt, welche ihrer juristischen Natur nach zum Teil eine andere Stellung beanspruchten möchten.

Insbesondere

gilt dies von

dem Verbrauch, der Veräußerung oder Verpfändung einer verkauften und bereits bezahlten, haben es

da

jedoch

noch

nicht übergebenen

Sache.

Wir

mit einer sehr graven Verletzung eines obligatorischen

Anspruches zu thun, welche sich unter gewissen Voraussetzungen aller­ dings als kriminelles Unrecht darstellen, dann aber nicht unter den Begriff der Unterschlagung, sondern unter den des Betruges und eventuell den der weiterhin zu besprechenden subsidiären Vermögensbeeinträchtigung fallen wird.

Unabhängig von den Merkmalen dieser letzteren Delikte

wird hier eine Besttafung nicht mehr motivirt sein als in Bezug auf sonstige Vertragsverletzungen. Mit mehr Recht ist die Veräußerung einer verpfändeten Sache seitens des im Besitz gebliebenen Schuldners der Unterschlagung im eigentlichen Sinne an die Seite gestellt, insofern es sich

hier nicht

bloß um eine Verletzung obligatorischer, sondern zugleich um eine Ver­ letzung dinglicher Rechte handelt.

Gleichwohl möchte es richtiger sein,

auch auf diese Erweiterung des Begriffs der Unterschlagung zu ver­ zichten.

Der bezeichnete Fall der Verletzung der Rechte des Pfand­

gläubigers ist offenbar anderen Fällen der Verletzung dieser Rechte (Fällen,

wo der Eigenthümer nicht im Besitz der Pfandobjekte

ge­

blieben ist) zunächst verwandt, ohne daß sich der Begriff der Unter­ schlagung füglich auch auf die letzteren ausdehnen ließe.

Davon ab­

gesehen erscheint jene Jdentifikatton um deswillen als bedenklich, weil sich die nach dem Werte des

veruntreuten Gegenstandes abgestuften

Straffätze nicht ohne Gewalffamkeit auf die Veruntteung des Pfand-

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetzes u. f. w.

121

objektes anwenden lassen. Denn der Wert des letzteren giebt nicht wie der Wert der fremden Sache bei der eigentlichen Unterschlagung einen Maßstab für den dem Berechtigten zugefügten Nachteil ab. Jener Wert des Pfandobjektes kann den Betrag der Forderung des Berechtigten weit übersteigen. Auch bedingt die Entziehng des Pfand­ objekts keineswegs den vollständigen Verlust des Betrages dieser Forder­ ung. Die Entziehung des Deckungsmittels ist nicht identisch mit der Entziehung des Gegenstandes, auf welchen sich die Deckung bezog. Bei der Aufstellung gleicher Strast'ätze für beiderlei Fälle aber werden dieselben thatsächlich als identisch behandelt. In redaktioneller Beziehung möchte der Eingang des dritten Ab­ satzes des § 271 („diese Handlungsweise" . . .) eine Änderung er­ fordern, da die in diesem Abschnitte charakterisirte Handlungsweise mit der in den vorausgehenden Abschnitten charakterisirten weder ihren äußeren, noch ihren inneren Merkmalen nach identisch ist. Mit Recht sind die Strafsätze für die Unterschlagung niedriger gegriffen als beim Diebstahle, da sich jenes Delikt an Allgemein­ gefährlichkeit mit dem letzteren nicht vergleichen läßt. Doch erscheinen dieselben der Fundunterschlagung, der leichtesten Spezies dieser Ver­ brechensart, gegenüber immer noch als verhältnismäßig streng, und möchte dieselbe in den die Bestrafung der Unterschlagungen betreffenden Paragraphen überhaupt eine besondere Berücksichtigung verdienen (siehe oben sub a). f. Zu den Bestimmungen über den Betrug insbesondere. Sehr anzuerkennen ist, daß der Entwurf den Begriff des Betruges auf Vermögensverletzungen einschränkt und damit diesem Verbrechen einen bestimmten Charakter verleiht, ohne welchen eine Aufstellung bestimmter Normen für dasselbe keinen rechten Sinn hat. Daß hierbei das Erfordernis eines Vermögensnachteils auf Seiten des Betrogenen absolut nicht blos in alternativer Verbindung mit einem Vermögensvorteil auf Seiten des Betrügers aufgestellt wird, ist nur konsequent, denn der Genuscharakter eines Verbrechens bestimmt sich nach dem Gute, gegen welches es gerichtet ist. Wie wir nicht von einem Morde sprechen können, welcher niemandes Leben antaste, so nicht von einem Eigentumsverbrechen, welches niemanden in seinem Eigentum schädige. Ziehen wir den Betrug daher in die Kategorie

122 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. s. tu. der Eigentumsverbrechen,

wie es gefordert ist, so müssen wir eine

Eigentumsverletzung unbedingt, nicht blos, wie es von manchen Ge­ setzen geschieht, in alternativer Verbindung mit irgend einem anderen Erfolge, in seinen Thatbestand aufnehmen. Was speziell den rechtswidrigen Vorteil betrifft, welchen man mehrfach in dieser Weise der rechtswidrigen Benachteiligung zur Seite gestellt hat, so ist derselbe nicht in eine alternative, sondern in eine kumulative Verbindung mit der letzteren zu bringen, d. h- es ist zu fordern, daß der Betrüger die Vermögensobjekte, die er dem Anderen entzieht, sich selber aneigne, wie dies seitens des Diebes, des Räubers, des

Unterschlagenden . . .

geschieht.

Erst

mit

einer

solchen

Be­

schränkung des Betruges auf eigennützige Vermögensverletzungen würde sich, wie bereits oben (sub a) ausgeführt wurde, die Parallelisirung desselben mit den letztgenannten Verbrechen vollständig rechtfertigen. Der nicht eigennützige Betrug, die bloße Benachteiligung Jemandes in seinem Vermögen durch ein fraudulöses Benehmen, welche der Entwurf mit dem eigennützigen Betrüge zusammenfaßt, stellt sich ihrem recht­ lichen Charakter nach der im 15. Titel behandelten vorsätzlichen Be­ schädigung fremden Eigentums

zur Seite und wäre in Verbindung

mit dieser zu behandeln. Wie in Bezug auf den Gegenstand des Angriffs, so ist auch in Bezug auf die vorauszusetzende Form des Angriffs der Begriff des Betruges im Entwürfe enger gefaßt als im geltenden Rechte.

Auch

hier mit Grund, jedoch auch hier, ohne daß in der fraglichen Richtung vollständig genug geschehen wäre. Das geltende Strafgesetz nämlich schließt in seine Definition des Betruges auch die bloße (listige) Benützung eines fremden Irrtums, den man nicht selbst hervorgehoben hat oder durch sein Benehmen zu unterhalten sucht, ein und geht damit über die natürlichen Grenzen dieser Kategorie unnützer und gefährlicher Weise weit hinaus.

Zahl­

reiche Handlungen, welche nach allgemeiner Auffassung nicht einmal bürgerliches,

auf dem Civilwege zu verfolgendes Unrecht enthalten,

werden damit in diese Verbrechenskategorie hereingezogen. derjenige,

So würde

welcher Staatspapiere oder beliebige sonstige Gegenstände

unter für ihn günstigen, dem Verkäufer aber ungünstigen und diesem listiger Weise verschwiegenen Konjunkturen aufkauft, nach der Betrugs­ definition können!

des geltenden Rechts

zum

Verbrecher

gestempelt werden

Natürlich entfaltet ein solcher Begriff in der Praxis nicht

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. s. ro.

123

alle die Härten, welche, theoretisch betrachtet, in ihm eingeschlossen liegen.

Allein es geschieht überall aus Kosten einer gleichmäßigen

und sicheren Justiz, wenn das Gesetz praktisch nicht realisirbare Be­ griffe ausstellt. Der Entwurf nun substituirt der Benützung den Mißbrauch des fremden Irrtums und stellt ausdrücklich als Erfordernis aus,

daß

dieser Irrtum als Bestimmungsgrund der Handlung des Irrenden erkannt wurde.

Allein auch damit dürste die richtige Begrenzung des

Thatbestandes noch nicht gewonnen sein.

Wo zwischen dem Irrtum

und der Handlung des Irrenden ein Kausalzusammenhang nicht be­ steht, da kann überall nicht von einer Benützung des Ersteren die Rede sein, und wo dieser Kausalzusamntenhang nicht erkannt wurde, jeden­ falls nicht von einer „listigen" Benützung.

Als Mißbrauch aber wird

sich die Benützung des stemden Irrtums stets bezeichnen lassen, wenn sich dieselbe moralisch nicht rechffertigen läßt.

Abgesehen davon aber,

daß die moralische Beurtheilung der Gewöhnungen des Verkehrs und der klugen Benützung seiner Formen bei verschiedenen Individuen eine sehr verschiedene ist, kann nicht davon die Rede sein, daß mit dem moralischen Tadel ohne weiteres ein Verhängnis krimineller Strafen begründet sei.

Es wäre zwar verdienstlich, die laxen Gewöhnungen

des Verkehrs auf ein sittliches Maß zurückzuführen, wenn dies mög­ lich wäre. Aber mag es sonst tote immer hiermit bestellt sein, mit dem schwerfälligen Apparate der Kriminaljustiz Wege nicht viel ausrichten.

werden

wir auf diesem

Wir werden vielmehr durch eine rigoristische

Ausdehnung der Strastechtsgrenzen hier leicht eine Reaktion hervor­ rufen, die der Achtung vor den Grundsätzen, die man damit zu ver­ treten denkt, nichts weniger als günstig sein würde. Das „Betrügen" schließt nach natürlicher Auffassung das „Lügen" ein.

Wo das Benehmen des Handelnden

widriges

an sich kein

und auf Irreführung des Anderen nicht

wahrheits­

angelegt ist, wo

jener nur die für ihn günstigen Wirkungen des fremden

Irrtums

acceptirt oder auch die für den Anderen infolge des Irrtums mißliche Situation sich nach Kräften zu nutze macht, da liegt ein verbrecherischer Betrug nicht vor, mag das Verfahren auch als ein nicht ehrenwertes erscheinen und mag das Zivilrecht auch unter gewissen Voraussetzungen dem Benachteiligten seine Hilfe in Aussicht stellen. Ein Weiteres fordern hier die Bedürfnisse des Verkehrslebens

124 Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w. nicht. Der natürliche Gegensatz der Interessen weist hier im all­ gemeinen darauf dahin, die Beseitigung von Irrtümern, die Ergänzung mangelhafter geschäftlicher Kenntnisse nicht von der Gegenpartie im Geschäfte zu erwarten. Stellen wir daher ein aus Täuschung berechnetes Benehmen als allgemeines Requisit des strafbaren Betruges auf und werfen wir den Passus von dem bloßm Mißbrauch fremder Irrtümer unbedenklich über Bord. Übrigens ist mit den bisher bezeichneten Requisiten das Gebiet des strafbaren Betrugs noch nicht allseitig begrmzt. Nicht jede Aneignung ftemder Vermögensobjekte vermittelst eines auf Täuschung berechneten Benehmens dürfen wir nach den unser Verkehrsleben be­ herrschenden Anschauungen als Verbrechen behandeln. Wer verfälschte Weine als unverfälschte, oder in Sachsen gewachsene Weine für RheinWeine, oder wer einen alten Klepper als ein junges Roß an den Mann zu bringen weiß, der gilt uns im allgemeinen noch nicht als ein dem Zuchthaus zu überweisender Verbrecher. Der Entwurf fordert mit Bezug auf diese Anschauungen gleich dem geltenden Rechte „listige" Vorstellungen oder Handlungen. Allein es ist damit ein Merkmal von ziemlich unsicherem, der verschiedensten Deutung fähigem Charakter aufgestellt. Geben wir demselben, wie es mehrfach geschehen ist (vergldie M. M. S. 148 oben), eine subjektive Deutung, so ist damit die geforderte Beschränkung des Begriffs nicht gewonnen; wir werden mit demselben dann auf das den Bettug überhaupt gegenüber von den gewaltsamen Verbrechen psychologisch charakterisirende Moment hingefühtt. Geben wir dem Merkmal dagegen, wie es wohl das Richtigere ist, eine objekttve Deutung, d. h. fordern wir damit, daß die an­ gewendeten Täuschnngsmittel raffinitte, schwer als solche zu erkennende, welche auf das Erkenntnisvermögen des Bettogenen einen gewissen Zwang ausübm mußten, gewesen seien, so beschränken wir umgekehrt dm Begriff allzu sehr. Danach würde z. B. derjenige, der einem dummen Jungm Kieselsteine für Diamanten verkauft, ohne dabei irgend eines besonderen Täuschungsapparates zu bedürfen, straflos ausgehen. Die Aufstellung des so verstandmen Erfordernisses der List würde nur gerechtfettigt sein, wmn es» wie Manche angenommen haben, gesetzgeberische Weisheit wäre, die Dummköpfe eines strafgesetzlichen Schutzes zu berauben und demgemäß Prellereien für straflos zu erklären, welchen gewitzigte Leute nicht verfallen sein würden.

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf etnrS Strafgesetzes u. f iv, 125 Aber diese Art von Ungleichheit vor dem Gesetze hat zu viel Bar­ barisches an sich, als daß man gewillt sein könnte, sie zu sanktioniren. Mit gleichem Rechte könnte man einen an Schwächlingen begangenen Raub, einen an Zerstreuten begangenen Diebstahl für indisierent er­ klären. — Man kann sich hiergegen und zugunsten des Erfordernisses der

„listigen"

berufen.

Vorspiegelungen nicht auf die bisherige Rechtsübung

Es ist wahr, daß die Handhabung des fraglichen Begriffs

bisher zu einer Exploration der Dummköpfe durch die Klugm nicht Veranlaffung gegeben hat. Allein es ist eben so wahr, daß die Praxis in dem besprochenen Merkmale nichts weniger als einen sicheren Maßstab für die Unter­ scheidung strafbarer und strafloser Übervorteilungen in der Hand hatte. Zwar

behaupten die M. M., daß der

Begriff der List durch

die

Praxis allgemein geläufig und genau festgestellt sei (S. 147). Allein die Mitteilungen, die von den M. M. weiterhin (S. 148) über die Auslegung deffelben (allerdings zunächst in seiner Beziehung auf die bloße Benützung fremden Irrtums) gemacht werden, bestätigen im Gegenteile br.3 Urteil des Verfassers.

Wäre der fragliche Begriff

in der behaupteten Weise sichergestellt, so könnte derselbe nicht,

wie

es nach den M. M. vorkommen soll, vollständig hinweginterpretirt werden und überall nicht „die größten Schwierigkeiten machen"! Wollen wir das gesuchte Unterscheidungsmerkmal zwischen krimi­ nellem Betmg und solchen Uebervorteilungen,

welche entweder über­

haupt keine rechtliche Verantwortlichkeit oder wenigstens keine straf­ rechtliche begründen sollen, zeichnen,

so

Raum geben

werden

wir

müssen.

im Gesetze selbst und mit Exaktheit be­ einer

selbständigen

Es sei vergönnt,

die

Formulirung Ergebnisse

desselben

eingehender

Untersuchungen über diesen Punkt hier in Kürze darzulegen, nachdem der Begriff des Betmges, wie er sich ohne Rücksicht auf die fragliche Abgrenzung fassen ließe, bestimmt worden ist. Als Betrüger möchte im allgemeinen zu bezeichnen sein: Derjenige, welcher Jemanden durch ein auf Täuschung berechnetes Verhalten zu einer Verfügung über Vermögensrechte veranlaßt und dadurch sich, zum Nachteile des Getäuschten oder eines Verfügungen abhängigen) Dritten,

(von dessen

einen rechtswidrigen Vermögens­

vorteil verschafft. Beim gewinnsüchtigen Betrüge geht wie bei Diebstahl, Erpressung und Unterschlagung

das Objekt des

Verbrechens aus der Herrschaft

126

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. ro.

des Verletzten in die des Verletzenden über. Es kann dies aber in der Form des Betruges nur stattfinden, wenn der Getäuschte und der Benachteiligte entweder eine und dieselbe Person sind oder in einem solchen rechtlichen Verhältnisse zu einander stehen, daß der Erstere über Vermögensstücke des Letzteren verfügen zu können in der Lage ist. Daraus beziehen sich die Worte: „von dessen Verfügungen abhängigen Dritten" in der gegebenen Definition. — Ein „rechtswidriger" Vor­ teil ist in derselben gefordert, um die durch Täuschung vermittelte Realisirung von Rechtsansprüchen (die Selbsthilfe in der Form des Betruges) vom Betrüge auszuschließen. Die gegebene Definition nun würde durch die Bestimmung zu ergänzen sein, daß eine Bestrafung nur einzutreten habe, wenn das fragliche Verhalten: 1. eine zivilrechtliche Verbindlichkeit zum Ersätze oder zur Zurück­ gabe des Entzogenen erzeuge; 2. auf Vereitelung der Geltendmachung dieser Verbindlichkeit und zwar in einer Weise gerichtet sei, welche in den Gewöhnungen des Verkehrs eine Entschuldigung nicht findet. g. Zu den Bestimmungen über die Eigentumsbeschädigung insbesondere. Die bisher besprochenen Verbrechensarten sind durch zwei Elemente charakterisirt: einen rechtswidrig herbeigeführten Verlust von Ver­ mögenswerten auf der einen Seite und einen rechtswidrig herbei­ geführten Gewinn dieser Werte auf der Gegenseite. Ihnen stellen sich solche das Vermögen betreffende Rechtsverletzungen gegenüber, bei welchen nur das erstere Element sich findet, also Eigentumsbeein­ trächtigungen, welche nicht zugleich Anmaßungen fremden Eigentums sind. Der Entwurf hat keine allgemeine Strafbestimmung für dieselben, nimmt vielmehr in Übereinstimmung mit dem bisherigen Rechte nur eine einzelne hierzu gehörige Spezies, die vorsätzliche Beschädigung fremden Eigentums, in das System seiner Verbrechensbegriffe auf. Sehen wir zunächst davon ab, ob diese einer löblichen Vorsicht entspringende Beschränkung nicht beachtenswerten Bedenken unterliege, und prüfen wir die Behandlung, welche den hiernach zur Berück­ sichtigung kommenden Eigentumsbeeinträchtigungen zu teil wird. Es ist oben auf die Bedeutung des bei ihnen fehlenden Merkmals der rechtswidrigen Zueignung des dem Anderen Entzogenen hingewiesen

Bemerkungen

über

den östrrreichtschen Entwurf eines Strafgesetzes u. f. w.

127

worden (sub a). Die durch dasselbe charakterisirtm Vermögens­ verletzungen erscheinen als gemeingefährlicher und von entschiedener infamirmdem Charakter. Ist dies aber der Fall, so ist die im Entwürfe sich findende Parallelisirung der Eigentumsbeschädigung mit dem Diebstahle entschieden zu verwerfen. Es würde sich statt befielt eine mildere Behandlung der Ersteren und zwar in dreifacher Be­ ziehung empfehlen: a. hinsichtlich des Umfanges der gedrohten Freiheitsstrafen; b. in Betreff der anzuwendenden Sttafart, indem eine allgemeine Drohung infamirender ©trafen hier nicht passend erscheint. Die aus Mutwillen begangene Sachbeschädigung so wie die im Affekt begangene weism auf eine eigmtlich ehrlose Gesinnung nicht hin. Diesen wichügen und keineswegs eine Ausnahme bildenden Fällen gegenüber geht es nicht an, auf das Milderungsrecht des § 90 hin­ zuweisen, das eben nur auf singuläre Fälle zu beziehen ist. Die Sachbeschädigung gehött hiernach zu denjenigen Delitten, in Bezug auf welche sich die Behandlung, welche im Entwürfe den Ehrenfolgen zu teil wird — die feste Verbindung derselben mit den schwereren Strafen und die Art, wie das richterliche Ermessen hierzu gestellt wird — als eine unvollkommene erweist; c. in Betreff der Ver­ folgung von Amts wegen. Dieselbe ist hier allgemein angeordnet, während gerade bei der Eigentumsbeschädigung eine Übertragung der Initiative zur Verfolgung auf den Privatverletzten wenig bedenklich sein würde. Die Gründe, welche bei Mißhandlungen und leichten Körper­ verletzungen für einen Ausschluß der ex ollioio-Berfolgung sprechen, greifen im allgemeinen auch bei der Eigentumsbeschädigung Platz: nämlich, daß die That in den besonderen Beziehungen zwischen dem Verletzenden und dem Verletzten ihre Erklärung zu finden und ihren unmittelbaren Wirkungen nach innerhalb dieser Sphäre zu verlaufen pflegt. Dies ist beim Diebstahl anders, indem derselbe auf eine gegen fremdes Eigentum überhaupt gerichtete feindselige Gesinnung schließen läßt und daher sofort ein Gefühl der Unsicherheit des Besitzes in engeren oder weiteren Kreisen verbreitet. Die Eigentumsbeschädigung würde hiernach, und zwar ohne Rücksicht auf den Bettag der Ver­ letzung, zum „Antragsverbrechen" zu machen sein. Eine Abgrenzung nach dem Betrage würde hier, wie in den R.-Moüven mit Recht

128

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eines StrasgesetzeS u. f. tu.

hervorgehoben wird, zu entschiedenen Unzuträglichkeiten führen.

Bei

höherem Betrage wird sich der Verletzte zur Verfolgung regelmäßig veranlaßt sehen. stellende

Es sei denn, daß ihm privatim

Genugthuung geboten

werde,

in welchem

eine

zufrieden­

Falle

sich

die

Gesamtheit im allgemeinen mit dem Einzelnen zufrieden geben kann. Nur wo ein ihre Interessen unmittelbar berührender Auszeichnungsgmnd vorliegt, wird dies anders sein.

So wenn die That zugleich

die Merkmale einer Störung des öffentlichen Friedens an sich hat oder sich als eine gemeingefährliche darstellt, in welchem Falle sie zugleich unter die Begriffe anderer, stets ex officio zu verfolgender Delikte fällt.

So ferner in dem Falle, wo sie gegen dem Gottes­

dienste gewidmete Gegenstände gerichtet ist, wenn man diesm Fall als einen praktischen zu betrachten hat. Nach

gleichen

Grundsätzen

wie

die vorsätzlichen

Eigentums­

beschädigungen sind in der Hauptsache auch die fraudulösen (durch Täuschung oder List vermittelten) Vermögensverletzungen, welche nicht zugleich auf die Aneignung der fremden Vermögensobjekte

gerichtet

sind (wohin z. B. die Schädigung Jemandes in seinen Vermögens­ interessen durch die Ausstreuung falscher Gerüchte gehört), zu behandeln. Nur in einem Punkte sind für dieselben die für den gewinnsüchtigen Betrug entwickelten Gesichtspunkte maßgebend. nämlich,

welche das

In Betreff der Grenze

kriminelle Unrecht von indifferenten

und von

solchen Einwirkungen auf die Vermögensverhältnisfe anderer, welche in Zivilprozesse ihre genügende Ausgleichung erfahren, trennt.

Diese

Grenze ist bei dieser fraudulösen Benachteiligung natürlich nicht weiter hinauszurücken eigentlichen

als

Betrüge.

bei dem

auf rechtswidrigen

Es würden

demnach

die

Gewinn gerichteten oben

bezeichneten

Merkmale einer strafbaren Einwirkung auf fremde Vermögensrechte hier zu reproduziren sein. Ob die Bestimmungen der in Rede stehenden Paragraphen noch auf andere Vermögensverletzungen auszudehnen wären?

Der Entwurf

handelt nur von Schädigungen fremden Eigentums und schließt somit Fälle aus, wo die Handlung gegen fremden Nießbrauch, gegen fremde Pfandrechte, obligatorische Rechte u. s. w. gerichtet ist.

Nach der

dermaligen Gestaltung unseres Vermögensverkehrs, wonach gar häufig ein Nichteigentümer das größere oder selbst das ausschließliche Interesse an der Integrität eines Gegenstandes hat, möchte es sich bezweifeln lassen, daß jene Beschränkung des

Strafgebots auf

Eigentumsver-

Bemerkungen über den österreichischen Entwurf eine- Strafgesetzes u.s.w. 129

letzungen gerechtfertigt sei. Daß in jenen anderen Fällen stets der Begriff eines anderm Deliktes erfüllt fei, ist nicht anzuerkennen. Die Handlung des Eigentümers z. B.» der seine mit Pfandrechten über­ lastete Sache anzündet in der Absicht, seine Gläubiger zu benach­ teiligen, fällt unter keinen der früher besprochenen Deliktsbegriffe. Die Bestimmungen des Entwurfes sind ferner beschränkt auf Beschädigungen fremden Eigentums, wodurch ebenfalls zahlreiche Ver­ mögensbeeinträchtigungen ausgeschieden werden, wie z. B. die rechts­ widrige Anmaßung des Gebrauchs einer fremden Sache, die Benach­ teiligung Jemandes durch die Veruntreuung anvertrauter Fabrikgeheimniffe u. s. w., ohne daß für diese Ausscheidung durchschlagende innere Gründe zu erbringen wärm. Eine Erweiterung des im Entwurf sich findenden Begriffs in den beidm soeben bezeichnetm Richtungen würde uns auf ein die fraudulösm Bermögensverletzungen mitumfassendes Vergehen der „rechts­ widrigen Beeinträchtigung Anderer in ihren Vermögensinteressen" hinausführm. Demselben würde natürlich eine wesmtlich subsidiäre Stellung zukommen. Es kann jedoch die Einfühmng dieser ausgedehnten Kategorie in das System unserer Gesetze nur empfohlen werden unter der Voraus­ setzung: 1. daß in Bezug auf alle durch psychische Einwirkung ver­ mittelten Fälle dieser Kategorie die gleichen Bedingungen der Straf­ barkeit anerkannt werden wie in Bezug auf dm gewinnsüchtigen Betrug; 2. daß dies Vergehen nicht allgemein als ein infamirendes behandelt werde; 3. daß die Minimalsätze der zu drohenden Strafen niedrig gegriffen werdm; 4. daß die Verfolgung von dem Antrag des Verletzten abhängig gemacht werde.

Zur Reform der Strafgesetze.

(Bortrag gehalten bei Eröffnung der Vorlesungen über österreichisches Strafrecht in Prag im Oktober 1868.)

Indem ich von dieser Stelle,

von der aus es meine bedeutsame

Aufgabe sein wird, künftige Richter, Verteidiger, öffentliche Kläger in Grundsätzen des Rechts darf ich

zu

unterrichten,

sozusagen

Besitz

ergreife,

wohl einer gewissen solennen Stimmung, wie sie natürlich

ist beim Eintritt in eine neue Wirkungssphäre, einen kurzen Ausdruck geben. Ich möchte denselben in die Erklärung legen, daß ich dem Rufe an die hiesige Hochschule, besser: Freuden

gefolgt

bin,

trotzdem

dem Rufe nach Oesterreich,

daß

ich

mich

in

Bezug

auf

mit die

Schwierigkeiten und Schattenseiten der Situation, in die ich eintreten sollte, keinen Illusionen hingab.

Ich bin ihm gefolgt als dem Rufe

in ein Land, wo der Geist der Bevölkerung sich mächtig hineindrängt in frisch geöffnete Bahnen sozialen und politischen Fortschritts, gelockt durch den weithin getragenen Glanz eines neu aufleuchtenden geistigen Lebens, der die Freunde humanen Fortschritts in weiter Runde in ernster Spannung, in einer Mitte zwischen Hoffen und Fürchten hält: ob derselbe Bote sei eines für die österreichischen Völker anbrechenden heiteren Tages der Freiheit und des Friedens oder Bote gewaltiger verhängnisvoller Gewitterstürme. Ich bin ihm gefolgt, beseelt von dem Wunsche,

inmitten

dieses

großen

Widerstreits

von

Interessen und

Meinungen, wie er dermalen hier alle Lebensgebiete durchkreuzt, dem Dienste der humanen Sache auch meine Kräfte, von der bescheidenen Stelle einer Lehrkanzel aus, widmen zu können. Auch in dasjenige Gebiet,

welches ich zunächst hier anzubauen

haben werde, das der Sttaftechtspflege, ist jener reformfreudige Geist, und nicht mit dem

mindesten Nachdruck,

eingedrungen.

Er hat die

Zur Reform der Strafgesetze.

131

fortdauernde Geltung der einschlagenden Gesetze bereits aufs ernstlichste in Frage gestellt und in neuen Entwürfen eines Strafgesetzes') über Verbrechen und Vergehen und einer Strafprozeßordnung einen bedeutsamen Fortschritt vorbereitet. Diese Sachlage ist für die Auf­ gabe, welche der Lehrer des Sttasrechts sich gegenwärtig hier zu stellen hat, von eingreifender Bedeutung. Es kann die Aufgabe jetzt, wenn dies auch sonst zulässig wäre, auf eine Reproduktton des Para­ grapheninhaltes der geltenden Gesetze nicht von ihm beschränkt werden wollen, da seine Hörer diese Gesetze menschlicher Voraussicht nach nicht mehr prakttsch anzuwendm haben werden. Er gäbe ihnen bannt für ihren künftigen Bemf nur ein Arbeitsgeräte mit, das sie vor seiner Benutzung aus der Hand zu legen haben würden. Es kann nun seine Aufgabe überhaupt, wie mir scheint, nicht ausschließlich auf das im Momente geltende Recht beschränkt werden. Es wird neben dem letzteren das Recht ins Auge zu fassen sein, welches sich Geltung zu erringen im Begriffe steht; und da dies letztere in seinem Detail noch unbesttmmbar ist, so wird mit um so entschiedenerem Nachdrucke auf die legislattven Gedanken und Motive hinzuweisen sein, welche, int wesentlichen durchaus klar liegend, für die Reform bestimmend sein werden. Wenn ich nun heute schon auf solche Mottve eingehe, den dog­ matischen und historischen Ausführungen, aus welchen sich erst ein volles Verständnis ihrer Bedeutung ergeben kann, vorgreifend, so ge­ schieht es in der Meinung, meinen Hörern damit von vornherein eine Anregung zugunsten einer geistigeren Erfassung des uns beschäfttgenden Gegenstandes, meinen verehrten Kollegen aber, welche der Jnaugurirung meiner Wirksamkeit dahier durch ihre Anwesenheit in freundlicher Weise den Schein der Bedeutsamkeit verleihen, Anhalts­ punkte für die Beutteilung meines Standpunktes im Gebiete der Strafrechtswissenschaft geben zu können. Wer, von den erwähnten Entwürfen und den neuesten legislattven Arbeiten des Auslands, an welche sie sich anschließen, ausgehend, die Entwicklung des Sttaftechts rückwätts verfolgt bis zum Erscheinen der ersten Kodifikation modernen Stils in Oesterreich, des Strafge­ setzbuches der Kaiserin Maria Theresia vor nun gerade hundert l) Neuesten Nachrichten zufolge ist der Entwurf des Strafgesetzes über Per­ brechen und Vergehen von der Regierung zurückgezogen worden. ES ändert dies aber an der Berechtigung der im Folgenden entwickelten Austastung nichts.

132

Zur Reform der Strafgesetze.

Jahren,

dem

wird

als

charakteristisch

für

Summe von Erscheinungen entgegentreten,

diese

Entwicklung

eine

die er mit den Worten:

fortschreitende Humanisirung des Strafrechts zu bezeichnen geneigt sein wird. Art, die sich

Es gehören hierher Erscheinungen mannigfaltigster

aber bei genauerer Betrachtung unter zwei Gesichts­

punkten zusammenordnen. stimmen lassen,

Der eine von diesen dürste sich dahin be­

daß die Justiz ihre Zwecke für und für mit

einem geringeren Einsätze von Übeln für die Gesellschaft und für Einzelne zu die

Kräfte,

welche

erreichen sucht; die

Strafjustiz

der andere in

dahin, daß

Bewegung

setzen,

mehr und mehr einen rationellen und sittlichen Charakter zeigen. Der eine von diesen Gesichtspunkten würde uns hiernach jenen Entwicklungsprozeß nach seiner quantitativen, der zweite nach seiner qualitativen Bedeutung kennzeichnen. Ich beabsichtige nun, zunächst für die Realität der bezeichneten Erscheinungen einige Belege beizubringen,

um dann zur Darlegung

ihrer Bedeutung und des kulturhistorischen Zusammenhangs,

welchem

sie angehören, überzugehen. Was zunächst jene quantitative Seite des in Frage stehende» Prozesses angeht, so

kann in Betreff ihrer auf die Veränderungen

hingewiesen

welche

werden,

an

der

Stufenleiter der

jeweils zur

Anwendung kommenden Strafmittel hervorgetreten sind und bezw. sich zu vollziehen im Begriffe stehen.

Wir können nämlich ein all­

mähliches Abbrechen dieser Skala von oben her konstatiren.

In der

schon erwähnten Theresiana finden wir als oberste Spitze derselben die „härteren Todesstrafen" als: lebendige Verbrennung, des Verbrechers, Radbrechen von oben und von unten.

Vierteilung Es schließen

sich an die durch Zusätze, wie Reißen mit glühenden Zangen, Riemen­ schneiden, Zungenabschneiden, Nackenausreißen, Ausreißen der Brüste, Schleifung zur Richtstatt u. a. geschärften Tödtungen.

Diese Straf­

arten sind für immer aus unseren Gesetzbüchern verschwunden.

Die

zunächst rangirende gemeine Todesstrafe hat sich zwar bis dahin in den

meisten

Grenzen.

Gesetzbüchern

Aus dem

behauptet,

größeren

jedoch

Teile ihres

nur

in

ehemaligen

beschränkteren Herrschafts­

gebietes hat sie einen unaufhaltsamen und nach menschlicher Voraus­ sicht unwiderruflichen Rückzug angetreten.

Im neuen österreichischen

Entwürfe behauptet sie nur noch einige wenige Positionen» und ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, welchen gewaltigen Sturmlauf

Zur Reform der Strafgesetz«.

133

jüngst die besten Kämpen der Nation gegen diese Positionen, und wohl nicht im Sinne eines letzten, unternommen haben. Die Art, wie die neuesten Entwürfe sich zur Strafe der lebenslänglichen Frei­ heitsberaubung stellen, scheint derselben das gleiche Schicksal mit der Todesstrafe in Aussicht zu stellen. Die verstümmelnden Strafen, welche sich der letzteren in der Theresiana anreihen, sind über Bord geworfen. Diesen Vorgängen im Gebiete des Strafensystems lassen sich andere im Gebiete des Verbrechenssystems zur Seite stellen. Es haben gewisse, früher in vorderster Linie stehende Verbrechens­ gruppen einen ebenso unaufhaltsamen Rückzug aus diesem Gebiete an­ getreten, wie es soeben in Betreff des ersteren Gebietes von wichtigsten Strafarten konstatirt worden ist. Es gehören hierher die noch in der Theresiana figurirenden Verbrechen der Hexerei, Zauberei, Wahr­ sagerei. Dann das Verbrechen des Selbstmords, das bereits im geltenden Rechte keine Stelle mehr gefunden hat. Dann die Gruppe der Glaubensverbrechen, welche die breite Position, die sie in jenem noch behaupten, im Entwürfe bis auf einen, ebenfalls unhaltbaren Posten verloren haben. Endlich gewisse, nicht qualifizirte Sittlichkeits­ verbrechen. Andere Verbrechensarten, wie Ehebruch, Bigamie u. s. w.» sind in der strafrechtlichen Schätzung aufs Wesentlichste herabgesunken. Zahlreiche andere Erscheinungen schließen sich den beiden bezeichneten Gruppen an; insbesondere wenn wir die Betrachtung auf das gesamte Gebiet der Rechtspflege ausdehnen und sie nicht auf das letzte Jahr­ hundert beschränken. So kann aus dem Gebiete der Zivilrechtspflege das allmähliche Verdrängen des Moments der Strafe durch das des Schadenersatzes, *) dann das allmähliche Verschwinden der Personal­ exekution angezogen werden; aus dem Gebiete des Strafprozesses die fortschreitende Einschränkung der Übel, welche sich für den Verdächtigen und den in Anklagezustand Versetzten aus den Formen der Justiz­ verwaltung herleiten; aus dem Gebiete des materiellen Strafrechts noch die im Laufe der Zeit eingetretene Erweiterung der subjektiven Voraussetzungen einer Bestrafung, und die teils schon erfolgte mehr noch in Aussicht stehende Reduktion der Strafmaße und der staats­ bürgerlichen Folgen der Bestrafung . . . Was nun aber jene qualitative Seite der Entwicklung angeht, so genügt ein Blick auf die der Theresiana angehängte Ab') Vergleiche hierüber: Daö Schuldmoment int römischen Privatrecht, von R. Jhering, S. 58 f.

134

Zur Reform der Strafgesetze.

schilderung der damals beim Prager Stadtmagistrat üblichen Peinigungs­ arten und ein Übergleiten desselben auf die Einleitung zu den Motiven des neuen Entwurfs, um die Überzeugung hervorzubringen, daß in der geistigen Physiognomie der Strafjustiz sich eine sehr wesentliche Ändemng vollzogen habe, bezw. zu vollziehen im Begriffe stehe. Es ist heute nicht mehr wie ehemals die Leidenschaft, welche die Züge der menschlichen Gerechtigkeit charakterisirt, sondern die Sorge um das wahre Wohl des Verbrechers wie aller Glieder der Gesellschaft. Das Verbrechen erscheint uns im normalen Verlauf des gesellschaftlichen Lebens nicht mehr als ein Gegenstand aufregender Furcht, von dem wir uns durch blindes Zuschlagen zu befreien suchen, nicht mehr als, was sie in vorigen Zeiten gewesen ist, die Äußerung einer Macht, mit der die Gesellschaft im verzweifelten Kampfe um ihre Existenz ringt, sondern als ein Gegenstand der Forschung gleich anderen Er­ scheinungen auf sozialem Gebiete und dies speziell als ein Symptom allgemeiner gesellschaftlicher Übelstände. Der Verbrecher selbst aber erscheint im Gebiete der Strafjustiz nicht mehr als ein Gegenstand des Hasses, in dessen Leiden ein empörtes Gefühl Befriedigung sucht, sondern als eine noch immer berechtigte Persönlichkeit, dem gegenüber die gesellschaftlichen Pflichten nicht erlöschen, sondern sich erweitern. An die Stelle des Affekts ist so im wesentlichen eine maßhaltende, humanen Rücksichten überall Raum gebende Besonnenheit getreten, und es scheint die Herrschaft derselben sich stetig erweitern und be­ festigen zu wollen. Während das Strafrecht der vorigen Jahrhunderte, so sehr es sich als ein göttliches auffpreizte, geistig im wesentlichen auf gleichem Boden mit der zu Gewaltthätigkeiten geneigten Masse des Volkes stand, ja sich vielfach von denselben Leidenschaften, der­ selben Gefühlsroheit und dem gleichen Aberwitze beherrscht zeigt, wie die ordnungsfeindlichen Elemente, mit denen es einen nicht immer glücklichen Krieg führt, zeigt sich das fortgeschrittene Strafrecht der neueren Gesetze und Entwiirfe auf einem nicht bloß absolut, sondern auch relativ höheren Niveau: es spiegelt den Geist nicht der Elemente, die es bekämpft, sondern derer, die berufen sind, jene emporzuziehen. Fast alle prinzipiellen Änderungen, welche der neue österreichische Entwurf an dem geltmden Rechte vornimmt, hängen mit diesem inneren Läuterungsprozeß, in den die Strafjustiz eingetreten ist, zu­ sammen. Hierher gehören die Bestimmungen des Entwurfs, die auf eine Reform des Gefängniswesens im Sinne des Pönitentiarsystems

Zur Reform der Strafgesetze.

135

gerichtet sind; dann die Aufnahme des Instituts der bedingten Ent­ lastung des eine Besterung in Aussicht stellenden Sträflings in dem­ selben; dann die Beseitigung der vom Richter zuzuerkennenden, der edukatorischen Bestimmung des Strafvollzugs widersprechenden Straf­ schärfungen; die Beseitigung der das Ehrgefühl vernichtenden körper­ lichen Züchtigung; die Abschaffung, bezw. Einschränkung derjenigen Straffolgen, welche sich der sozialen Rehabilitimng und moralischen Wiederaufrichtung des Bestraften entgegensehen u. a. Überall tritt das Bestreben hervor, in der Strafe alle Momente auszutllgen, die auf die besprochenen trüben Quellen zurückweisen. Dieselbe soll sich nicht mehr darstellen als eine Quälerei und als berechnet auf die Ver­ nichtung des Selbstgefühls im Verbrecher. Bestimmt, die moralischen Faktoren in der Natur destelben zu beleben und zu kräftigen, soll sie nicht fürder damit anfangen, ihn in seiner Kraft zu brechen. So wird sie ihm künftig erscheinen können als die Bethätigung einer ihm nicht bloß äußerlich übergeordneten, sondern einer ihn geistig und moralisch weckenden hebenden sittlichen Macht — und wir sind auf dem Wege, mit einer Anwendung der Grundsätze christlicher Ethik auf die Funktionen der Staatsgewalt auch auf diesem Gebiete — den Feinden der Gesellschaft gegenüber — Ernst zu machen. So möchte die Realität der behaupteten Metamorphose keinem Zweifel unterzogen werden können. Auch besteht in Bezug auf die­ selbe in der That kein Streit. Wohl aber ist Streit, so selstam es scheinen mag, in Bezug aus die Bedeutung der Thatsache. Ob sie dem Zeitalter, das sie charafterisirt, zur Ehre oder zur Unehre ge­ reiche, ob Hoffnungen oder Befürchtungen für die Zukunft damit zu verknüpfen seien, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Der Majorität, welche die bezeichneten Tendenzen mehr oder minder bewußt vertritt und durchsetzt, steht eine auch mancherlei Kategorien sich zusammensetzende Minorität gegenüber, welche dem Vordringen von jenen teils bedauerndes Kopfschütteln, teils eifrigen Widerstand entgegensetzt. Auch in Österreich existirt dieselbe und hat insbesondere auch im österreichischen Reichsrath Sitz und Stimme, wie u. a. die Debatten über Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe dargethan haben. Es gehören zu dieser Minorität die Rigoristen, welche in der charakterisirten Humanisirung des Strafrechts das bedauerliche Symptom einer Deteriorirung des öffentlichen Geistes erkennen wollen. Das

136

Zur Reform der Strafgesetze.

Strafrecht ist nach ihnen der natürliche Ausdruck des sittlichen Volks­ urteils über verdammenswerte Handlungen

und

die Strenge dieses

Urteils und folgeweise des Strafgesetzes der natürliche Maßstab für die Energie des ihm zu Grunde liegenden sittlichen Gefühls.

Das

Nachlassen der Strenge des Strafgesetzes ist ihnen daher Beweis für ein Erfchlaffm der im Volke lebendenden sittlichen Kräfte. Es gehören dazu ferner orthodoxe Eiferer, welche in der Hin­ richtung von Mördern und Hochverrätern

— in schlechter Harmonie

mit dem Worte: „Gott will nicht den Tod des Sünders ..." — vorzugsweise eine göttliche Einrichtung erkennen wollen und daher dem Weiterschreiten auf der fraglichen Bahn, welches über kurz oder lang über die Institution hinausführen setzen zu können meinen.

müßte,

religiöse Motive entgegen­

Sie folgen den Spuren der Priester, welche

in den Jahrhundetten, die hinter uns liegen,

der blutigen Kriminal­

politik despotischer Gewalthaber unter kirchlichem Gepränge die Schleppe gebogen haben. Es gehören ferner hierher die Extremen unter den Konservativen, welche der zwischen

der Entwickelung freiheitlicher Zustände und der

Humanisirung des Strafrechts unläugbar bestehende Zusammenhang zu bitteren Gegnern der Letzteren macht. Endlich erwähne ich die Schar der Ängstlichen, in welchen das Verbrechen, das nicht ausstirbt, die Furcht lebendig hält vor den un­ heimlichen Gewalten, von welchen es Zeugnis giebt, und welche mit jeder Reduktion

der angedrohten Strafübel gewichtige Waffen gegen

diese Gewalten aus der Hand zu legen meinen. Ich werde jetzt auf eine Darlegung und Krittk der Argumente, welche für diese Auffassungen und bezw. geführt

werden,

nicht

eingehen.

Statt

dies Verhalten ins Feld dessen

will

ich

Meinung über die in Frage stehende Thatsache darlegen. wird sich daraus von selbst ergeben,

die

eigene

Vielleicht

daß es den Gegnem an einer

genügenden Kenntnis der für die Entwickelung der Sttafrechtspflege bestimmenden Verhältnisse und speziell derjenigen, unter welchen int Laufe der Geschichte eine Neigung zur Strenge oder zur Milde im Gebiete derselben hervorgetreten ist, fehle. Diese Vorgänge nämlich sind nicht als für sich isolirt auftretende Erscheinungen zu betrachten, sondern als integrirende Momente in der allgemeinen Entwickelung der öffmtlichen Zustände. Und zwar bezeichnet die Tendenz der Milderung des Sttafrechts eine höhere Stufe dieser

Entwickelung, als die entgegengesetzte. In dem Maße, als die allge­ meine Gesittung sich erhöht und im Zusammenhange dainit die öffent­ lichen Zustände zugleich im Sinne der Ordnung und der Freiheit sich entwickeln, kann der Einsatz von Leiden, welche wir um dieser Ordnung und Freiheit willen von Rechtswegen verhängen, sich mindern und mindert sich in der That in einer von der Willkür Einzelner unab­ hängigen Weise. So ist es nicht auf eine Laune unserer Gesetzgeber zurückzuführen, daß die Androhung der Todesstrafe auf wenigere und immer wenigere Fälle beschränkt wird, oder daß wir heute nicht mehr wie vordem aus scheußlichen Menschenquälereien demoralisirende Volks­ schauspiele machen. Und es ist kein Zufall, daß die Zeitperiode, welche durch solche Veränderungen sich charakterisirt, zugleich durch eine Erhöhung der Sicherheit von Leib und Gut und eine höhere Ausbildung der staatlichen Einrichtungen in dem bezeichneten zwei­ fachen Sinne charakterisirt ist. Vielmehr besteht hier zwischen dem Steigen der einen Schale und dem Sinken der anderen, das ist: zwischen der Erhöhung des Maßes, in welchem die Gesellschaftszwecke ihre Erfüllung finden, und der Rümktion und zugleich Ethisirung der Mittel, welche um dieser Zwecke willen int Namen der Gerechtigkeit in Bewegung gesetzt werden, ein wesentlicher Zusammenhang: es ist die eine Erscheinung das Korrelat der anbeten.1) Ich werde versuchen, dies durch kurze Hinweisungen auf die Genesis des Strafrechts zu verdeutlichen, bemerke jedoch, daß ich innerhalb der von mir einzuhaltenden Grenzen es nicht versuchen kann, den frag­ lichen Zusammenhang seinen sämtlichen Seiten nach zu erhellen, werde dies daher nur mit Bezug auf das wichtigste der Mittelglieder, durch welche er sich herstellt, unternehmen. Als dieses wichtigste Mittelglied erscheint mir nämlich die fort­ schreitende Paralysirung der Leidenschaften im Gebiete des staatlichen *) In der schon zittrten Schrift von R. Jhering findet sich der folgende, mit dem Int Texte ausgeführten wesentlich übereinstimmende Satz: „Wenn die Idee deS Rechts wächst, sterben die Strafen ab; der Aufwand von Strafmitteln steht im um­ gekehrten Verhältnisse zu der Vollkommenheit der Rechtsordnung und der Reife der Völker" (8. 67, 1. c.). Derselbe wird zwar daselbst nur in Beziehung auf das Privatrecht näher entwickelt und begründet. Die betreffenden Ausführungen geben aber genügende Anhaltspunkte für die Beantwortung auch der von Jhering aus­ drücklich offen gehaltenen Frage, ob diesem Satze nicht auch jenseits der Grenzen deS Privatrechts Gültigkeit zukomme. In dem vorliegenden Vortrage will diese Frage natürlich nicht wiffenschaftlich erledigt, sondern gleichsam nur ihr gegenüber Position genommen werden.

138

Zur Reform der Strafgesetze.

Lebens.

Dieselbe ist bedingt durch die Befestigung und Ausbildung

des Ganzen der öffentlichen Einrichtungen und gestaltet sich im Gebiete der Strafrechtspflege zu dem vorhin geschilderten Läuterungsprozesfe. Leidenschaften und Affekte erscheinen nämlich in diesem Gebiete anfänglich als die eigentlich bewegenden Kräfte.

Sie sind es, welche

ursprünglich Motiv und Maßstab für die Verknüpfung von Straf­ übeln mit rechtswidrigen Handlungen abgaben.

Und zwar ist es zuerst

das empörte Gefühl des durch die Übelthat in seinen Rechten Ge­ kränkten.

Es ist der

inftinktmäßige

dämonische Trieb

zur Rache,

personifizirt in den die Verbrecher verfolgenden Furim der antiken Götterwelt, in welchem wir das älteste, als solches durch die Geschichte aller Völker beglaubigte Werkzeug der vergeltenden Gerechtigkeit zu erkennen haben. Der sich entwickelnde Staat, der die Privatrache mehr und mehr beschränkt und durch die von seinen Organen in seinem Namen ver­ hängten Strafen ersetzt,

beseitigt damit nicht sofort auch die Wirk­

samkeit dieses Triebes.

Derselbe wechselt zunächst nur die Formen

und Organe seiner Bethätigung. An die Stelle der vindicta privata tritt die vindicta publica, gleich jener geneigt, überall zum Äußersten zu schreiten, und einer Anerkennung bestimmter Maße bei der Züch­ tigung des Beleidigers innerlich

widerstrebend.

Bei Zunahme der

Bevölkerung und Vermehrung der Güter, welche zu Verbrechen reizen können, treten jenen

ursprünglichsten

andere Faktoren zur Seite und

verändern allmählich die Physiognomie der Strafjustiz.

Zunächst der

Affekt der Furcht, der Furcht des Besitzenden vor dem Nichtsbesitzenden. Auch sie, wiewohl in ihren Inspirationen ein deutlich erkanntes Ziel verfolgend und im Grunde mehr gegen das Verbrechen als gegen den Verbrecher gerichtet, macht zu maßlosem

Dreinschlagen geneigt und

charakterisirt die durch sie beherrschte Justiz, nicht minder wie es mit der Rachsucht der Fall ist, als eine grausame, zerstörungssüchtige.

Es

steht der Verbrauch an menschlichen Gütern, zu dem sie Anlaß giebt, in einem traurigen Verhältniffe zu den damit erreichten Resultaten. Wer

die

Geschichte

der

Eigentumsverbrechen

bei

den

verschiedenen

Völkern studirte, der würde den charakteristischen Spuren dieses Faktors nur

allzu häufig begegnen.



Neben ihm möchte

ich, mancherlei

Richtungen menschlicher Affekte unter einem Ausdruck zusammenfassend, die politischen Leidenschaften nennen.

Ich begreife hierunter zunächst

die Herrschsucht der Einzelnen und der Parteien.

Sie hat fast alle-

Zur Reform der Strafgesetze.

139

zeit auf die Qualität und daS Maß der verhängten Strafübel bei einer großen Anzahl von wirklich oder angeblich rechtswidrigen Hand­ lungen einen verhängnisvollen Einfluß geübt und in dem durch letzteren charakterisirten Strafrechte die stets geschliffenen furchtbarsten Waffen zur Vernichtung oder Mederhaltung der Widersacher gefunden. Wer Belege dafür suchte, würde sie in der Geschichte der politischen Verbrechen in specie der Geschichte des „Verbrechens der beleidigten Majestät" in Fülle finden. Dann ziehe ich hierher den Fanatismus, der, in mancherlei Gestalten auftretend, die iMviduelle Überzeugung zum Zwangsgesetze für die Gesamtheit zu erheben trachtet. In der uner­ meßlichen Schar von Opfern, die von seiner blutigen Wirksamkeit Zeugnis gebm, wandeln die erlauchtesten Gestalten, welche das Menschen­ geschlecht aus seinem Schooße hervorgehen sah. Es ist die Geschichte der Glaubensverbrechen, in der Sie ihren Denkmalen begegnen. Das sind die vornehmsten Faktoren, welche das Strafrecht der vergangenen Jahrhunderte teils verbunden, teils einander ablösend durch ihren Einfluß charakterisiren. Ihre relative Berechtigung im Haus­ halte des noch auf einer niedrigen Entwickelungsstufe verharrenden Völkerlebens will von mir nicht in Frage gezogen werden. Sie erscheinen als die ursprünglichsten Stützen des Rechts, an denen dasselbe sich langsam und mühsam emporrankt, bis es die ehemaligen Stützen zu zerbrechen die Kraft gewinnt. — Im Kampfe gegen jene elementaren Gewalten ist zuerst die Aus­ bildung einer mächtigen Staatsgewalt, welche die Wahrung des indi­ viduellen Friedens und der individuellen Ehre als eine Sache der eigenen Ehre und Würde behandelt, von entscheidender Wichtigkeit. In dem Maße, als es ihr gelingt, das Vertrauen in ihre Macht und in die Energie ihres Wollen- zu verbreiten, beschwichtigen sich die Faktoren des Hasses und der Furcht im Herzen der Bevölkerung und lassen ihr Widerspiel: das Mitleid mit dem zur Rechenschaft gezogenen Verbrecher in demselben zu Worte kommen. Was aber jene Leiden­ schaften und Affekte in ihrer Bethätigung durch die Organe der Staats­ gewalt selbst betrifft, so ist es die Ausbildung und Gliederung der­ selben im Sinne der Herbeiführung eines Gleichgewichts aller natürlich berechtigten Faktoren des politischen Lebens und die Entwickelung aller sonstigen Garantien bürgerlicher Freiheit, wodurch der Einfluß der­ selben auf Gesetzgebung und Praxis mehr und mehr gemindert, ja für den normalen Verlauf des staatlichen Lebens im wesentlichen beseitigt

140

Zur Reform der Strafgesetze.

wird. Auch über den Einfluß des letzterwähnten der alten Faktoren des Strafrechts, den Fanatismus in seinen Varietäten und Abstufungen, führt die Entwickelung der öffentlichen Zustände in freiheitlicher Richtung allgemach hinaus. Ihr ist es charakteristisch, die ursprünglich im allgemeinen Bewußtsein ungefchieden zusammen-existirenden und in identischen Formen sich äußernden Elemente des Ethischen zu unter­ scheiden und ihnen allen in gesonderten Formen und Institutionen die Entfaltung ihrer Eigenartigkeit zu ermöglichen. So scheidet sich das an die Herrschaft von Zwangsgesetzen gebundene Recht von anderen Elementen des Ethischen, welche der fteien Pflege des Einzelnen oder freier Vereinigungen anheimgegeben werden, und welche fortan dem Er­ steren gegenüber in mehrfacher Richtung die Grenzen ihres Gebietes schrittweise erweitern. Je weiter wir aber auf diesem Wege fortschreiten, desto mehr vermindert sich die Gefahr, daß leidenschaftlicher Eifer die Grenzen dieser verschiedenen Lebensgebiete aufs neue verwirre und ein bloß Individuelles zum Zwangsgesetze für die Gesamtheit aufspreize. Übrigens sind mit alledem jene Kräfte nicht aus der Welt geschafft. Sie leben fort, wenn auch im Friedensstande der Gesellschaft gleichsam in latentem Zustande. Wo aber der normale Gang des staatlichen Lebens unterbrochen wird, da raffen sie sich auf, um in die alte Rolle wieder einzutreten. Da wird der gewaltige Apparat der Straf­ justiz wieder zur Waffe in der Hand der Parteien, und die aus dem immer leisen Schlummer geweckten Furien suchen aufs neue ihre Opfer. Wenn jüngst in dem großen Mittelpunkte politischen Lebens London auf den Trümmern des von den Feniern in die Luft gesprengten Gefängnisses das Lynchgesetz proklamirt ward, wenn dasselbe wieder und wieder im fernen Westen in den Grenzgebieten des staatlich geordneten Lebens geschieht, oder wenn nun in den Großstädten Spaniens beim Zusammensturz eines morschen Staatsgebäudes die Volksrache der Justiz vorauseilt, so sind dies wenige von vielen Zeichen, daß hinter dem kunstvollen Aufbau unserer Kulturschöpfungen verborgen die alte Ordnung der Dinge steht und daß, wo Stützen von jenen zusammenbrechen, sofort die Repräsentanten der letzteren sich auf den Schauplatz drängen und die Arbeit der Jahrhunderte in Trümmer zu schlagen drohen. In dem Maße aber, als im geordneten politischen Leben jene elementaren Kräfte zurückgedrängt und gebunden werden, gewinnen ethische nnd rationelle Faktoren Raum und bringen in ihrer

Zur Reform der Strafgesetze.

141

Bereinigung jene quantitativen und qualitativen Veränderungen im Gebiete der Strafjustiz hervor, von denen im Anfange die Rede war. Hier ist vor allem das Mitleid mit dem zur Bestrafung Gezogenen zu nennen, das in dem Verhalten der Bevölkerung in mancherlei Weise sich kundgiebt. Dahin gehört es, wenn die öffentliche Meinung auch bei nichtpolitischen Verbrechen die Verteidigung im allgemeinen mehr begünstigt als die Anklage, wenn ihrem Einflüsse unbewußt Raum gebend die Gerichte fast allwärts die gesetzlichen Strafmaße in der Anwendung reduziren, indem sie für Straffälle mittlerer Schwere nach den niedrigsten Straffätzen greifen u. s. w. Dem Mitleid schließt sich der Gerechtigkeitssinn an, der auch im Verbrecher die unveräußer­ lichen Rechte der Persönlichkeit geachtet sehen will. Die schrittweise Erfüllung seiner Forderungen ist es, welche den Forffchritt im Gebiete des Strafprozesses charakterisirt. Seinem Einfluffe ist es zuzuschreiben, daß in der Gesellschaft ein Pflichtbewußffein dem Sträfling gegenüber auflebt, den sie zuvor nur unter dem Gesichtspunkte wirklicher oder eingebildeter Berechtigungen betrachtete. Von diesem Bewußtsein geben die überall auftretenden, auf eine humanere Gestaltung des Straf­ vollzugs gerichteten Bestrebungen, die Vereine zur Sorge für entlassene Sträflinge u. a. Zeugnis. Unter den rationellen Faktoren aber denke ich zunächst die Fähig­ keit des Unterscheidens von Schuld und Unschuld und verschiedener Schuldstufen einer gegebenen äußeren Verletzung gegenüber. Dieselbe erscheint ursprünglich als gebunden durch den Affekt. Der unzivilisirte Mensch reagirt gegen den Urheber eines Schmerzgefühles, gleichviel in welcher Beziehung der Wille desselben zu der zugefügten Verletzung stehe. Der Schmerz verwandelt sich jählings in Haß gegen seinen Urheber und läßt die Frage nach Schuld oder Unschuld neben dem mit ihm gegebenen Bedürfnis der Rache nicht lebendig werden.') Die Unterscheidung der inneren Seite der verletzenden That von der äußeren bezeichnet einen ersten Schritt auf dem Wege der stufenweisen Erhöhung der sich im Gebiete der Rechtsverwirklichung kundgebenden Besonnen­ heit, und die Anerkennung der inneren Seite als der in ihren Modali­ täten für das Ausmaß und die Gestaltung der Strafe vorzugsweise enffcheidenden bedeutet, daß im allgemeinen Bewußtsein die ethischen und intellektuellen Kräfte neben den durch das Verbrechen wachgerufenen ') Vgl. Jhering, I. e. S. 9, ff.

142

Zur Reform bet Strafgesetze.

Affekten endlich, und nicht bloß feiertagsweife, das Primat errungen haben. In diesen Prozeß greift die wissenschaftliche Erforschung der Auf­ gabe, welche die Justiz zu lösen hat, und des Verhältnisses, in welchen! die Strafe hierzu steht, in nicht unwesentlicher Weise ein. Allerdings erst, nachdem zwischen dem überlieferten Rechte und den durch die Wirksamkeit der eben genannten ethischen Faktoren charakterisirten Empfindungen des Volkes ein entschiedener Zwiespalt eingetreten ist. Nun erst begegnet die wissenschaftliche Arbeit in dieser Sphäre einem Interesse, wie sie es zu ihrem Gedeihen bedarf. Nun erst kann sie hoffen, eine Macht zu werden, mit der sich die politischen Mächte, ob willig oder widerstrebend, auseinanderzusetzen haben, und auch im Bewußtsein der Bevölkerungsmehrheit ein Licht anzuzünden, das nicht jeden Augenblick im Sturm der Affekte zu erlöschen droht. Wann aber dieser Zwiespalt bei uns eingetreten sei, darüber brauche ich Ihnen keine Auskunft zu geben. Es war in dem Zeit­ alter, das wir in Österreich am liebsten als das Josephinische bezeichnen, dem Zeitalter, an dessen Bestrebungen wir heute in so mancherlei Beziehungen wieder anzuknüpfen haben. Wenn andere in anderen Gebieten den Beruf in sich fühlen mögen, den vielverleumdeten Repräsentanten jener Zeit, den Verkündern und Pflegern des mensch­ lichen Gefühls, das damals wie nie zuvor die Herzen der Völker bewegte, den Führern im Kampfe eines geistreichen, beredten und sein­ feinfühligen Geschlechts gegen die Barbarei in der Maske des Rechts, den Voltaire, Beccaria, von Sonnenfells und wie sie alle heißen, ihre Irrtümer und Fehler vorzurücken, dem Vertreter der Wissenschaft, welche uns hier beschäftigt, geziemt es, ihrer mit Pietät zu gedenken und an der Zeit ihres Wirkens nicht vorüberzugehen, ohne ein Lorbeer­ reis auf ihre Ruhestätte zu legen. Es war eine schöne Zeit, die Zeit ihres jugendlichen Wirkens. Nichts schien dem strebenden Geiste damals unerreichbar. Ein glänzendes Morgenrot breitete sich vor dem Auge jener Trefflichen über Höhen und Tiefen des Völkerlebcns aus und der Odem eines goldenen Zeitalters ging leise, verheißend, durch die Welt. Sie aber standen auf ragender Warte, des Tages harrend, dem Wanderer vergleichbar, der auf hoher Alpenspitze die nahende Sonne erwartet, wenn das erste Licht, die Nebel zerteilend, die zahl­ losen Gipfel rings in Purpur kleidet und einen wundersamen und rührenden Glanz über die harrende Welt verbreitet.

Zur Reform der Strafgesetz«.

143

Seitdem ist der Gedanke mächtig geworden in der alten Domäne der Leidenschaften. Er hat die Arbeit siegreich unternommen» die Schöpfungen der letzteren, wo sie seine Prüfung nicht ertragen, zu zerstören und, wo er sie gelten lassen muß, ihnen das eigene Gepräge aufzudrücken. Freilich sind wir mit dieser Arbeit noch weit vom Ziele. Hat doch die Wissenschaft selbst sich noch von den letzten Nachwirkungen des ehemals allbeherrschenden Einflusses jener Gewalten zu bereinigen. In der allmählich sich vollendenden Emanzipation von diesem Einflüsse liegt die negative Seite des Fortschrittes im Gebiete der Theorie. Sie steht mit der positiven: der Erweiterung ihres Gesichtsfeldes, der ernsthaften Ausdehnung der Untersuchung auf den Zusammenhang, welchem Verbrechen und Strafen im sozialen und politischen Leben angehören, und folgeweise mit der Steigerung ihrer Befähigung zur Lösung der eben bezeichneten Aufgabe in nahem Zusammenhange. Ich greife, tun diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, aus der Flut von Theorien über die Natur der Strafe, die seit 100 Jahren sich unaufhörlich ergossen hat, zivei Gedanken heraus, die wieder und wieder darin auftauchen, und welche in ihrer Entwickelung die der Wissenschaft überhaupt zu charakterisiren scheinen. Die Strafe soll nach der Meinung vieler Prävention: Verhütlmg künftiger Verbrechen sein; nach der Meinung anderer ist sie Vergeltung für das begangene Verbrechen. Diese Gedanken lassen sich in Zusammenhang bringen mit den beiden wichtigsten Faktoren der alten Strafjustiz: Furcht und Rachsucht. (a) Die Strafe soll also nach der ersten Meinung künftigen Missethaten vorbeugen und zwar zunächst (I) solchen, welche von Dritten, durch das gegebene böse Beispiel verführt, begangen werden könnten. Nun könnte man denken, daß sie zu diesem Behufe so einzurichten sei, daß sie einen möglichst tiefen und möglichst allgemeinen Eindruck auf die Bevölkerung mache. Dem entsprechend würde sie in möglichster Öffentlichkeit zu vollziehen und möglichst plastisch in einer die Sinne auftegenden Weise zu gestalten sein. Diese Erwägungen entsprechen in ihrer Kurzsichtigkeit noch einem durch die Furcht beherrschten Zustande. Sie gehören ihrem Wesen nach dem Zeitalter der öffentlichen Exekutionen an, wo es als eine Angelegenheit ersten Ranges galt, den Galgen an dem weitschauendsten, oder dem frequentesten Orte, allem Volke im Auge und „zum abscheu-

144

Zur Reform der Strafgesetze.

lichen Exempel", zu errichten, und wo die mit möglichstem Gepränge in Scene gesetzte Hinrichtung den eigentlichen Mittelpunkt des Strasverfahrens bildete.

Ten Anschauungen ihrer Redaktoren nach gehört

die Theresiana diesem Zeitalter im wesentlichen noch an. Besonnenere Betrachtung mußte aber erkennen lassen,

daß diese

Exempelstatuimng die vermeintliche präventtve Kraft nicht habe, daß sie eher Verbrechen Hervorrufe als verhüte.

ja

Wenn es aber der

Vollzug der einzelnen Sttafe nicht ist, von dem jene Wirksamkeit aus­ geht, so scheint es,

kann dieselbe nur

von

dem

Strafe

Gesetze selbst, das in der regelmäßigen Verknüpfung und Sttafen seine Macht beurkundet, ausgehen.

drohenden

von Verbrechen

Ist es so, dann wird

es nur darauf ankommen, daß die Thatsache des regelmäßigen Einttitts der gedrohten Sttafe, allen offenbar, bestehe. Diese Erwägung erklärt das allmähliche Überbordwerfen aller auf die Phantasie berechnetet, in der Regel eine Grausamkeit

involvirender

Äußerlichkeiten

des Strafvollzugs und insbesondere auch die Beschränkung der Öffent­ lichkeit desselben bei der Todesstrafe.

Daß eine Strafe nur unter der

Voraussetzung der Existenz eines Gesetzes

lbezw.

einer Rechtsnorm)

einzutreten habe, versteht sich von diesem Standpunkte aus von selbst. Auf diese Weise tritt hier die Strafe in einen Zusammenhang

ein und nimmt,

überall

wirklich juristischen

auf ein

Allgemeines, die

objektive Norm, bezogen, einen geistigeren Charakter an. Nun kann es scheinen, daß dem Strafe drohenden Gesetze jene präventtve Kraft nur zukommen könne, strenge und durchaus bestimmte sei.

wenn die Strafdrohung eine

Und in der That hat diese Meinung

bestanden und auf die Gesetzgebung einer bestimmten Zeit einen wesent­ lichen Einfluß ausgeübt.

Aber der Verbrecher kennt in

der Regel

das ihn betteffende bestimmte Gesetz und die von ihm gedrohte Strafe nicht; und einen größeren Einfluß als die Frage nach der Größe der letzteren pflegt die andere auf ihn auszuüben, dem Arme der Justiz sich zu entziehen.

ob er Aussicht habe,

Dies führt uns dahin, an­

statt des einzelnen Gesetzes das Ganze der strafrechtlichen Institutionen zum Ausgang zu nehmen und ein größeres Gewicht auf die Sicher­ heit ihrer Wirksamkeit als auf die Strenge derselben zu legen.

Auch

läßt es uns ohne Sorge dem Richter einen solchen Spielraum beim Ausmaß der Strafe einräumen, wie es nötig ist, um den Anforderungen der materiellen Gerechtigkeit entsprechen zu können. Hier liegt es nahe, jenes Ganze der strafrechtlichen Institutionen

Zur Reform der Strafgesetze.

145

selbst wieder als ein einzelnes Glied in der Kette staatlicher und sozialer Einrichtungen aufzufassen, welche unmittelbar oder mittelbar an der Befestigung und Sicherung der Herrschaft des Rechtes Teil haben, und zwar als dasjenige Glied, dessen Wirksamkeit, als am meisten Kräfte und Güter konsumirend, nur als eine subsidiäre, die der übrigen ergänzende, mit äußer­ ster Sparsamkeit zu entfalten sei. Dieser Einsicht korrespondirt eine andere, welche uns das Ver­ brechen, dem wir so viel als möglich zuvorkommen wollen, ebenfalls als letztes Glied einer Kette darstellt, und zwar einer Kette, welche über den Zusammenhang des Berbrechens im Bewußtsein des Thäters hinausführt auf allgemeine gesellschaftliche Zustände und Gebrechen. Die einzelne Miffethat erscheint uns hier als ein Symptom allgemeiner Übelstände, und es läßt uns diese Auffassung unsere präventtve Thätig­ keit vor Allem richtm gegen diese außerhalb des Verbrechers liegenden Bedingungen des Verbrechens. Daß aber diese Auffasiung eine berechttgte sei, zeigt die Statistik. Dieselbe lehrt uns, daß beim Fort­ bestände gleicher sozialer Verhältnisie die Zahl der Verbrecher im wesentlichen die gleiche bleibt, womit der behaupttte Zusammenhang zwischen jenen und diesen dargethan ist. Die Einführung der Stattstik aber in unser Gebiet giebt ihrer­ seits ein sprechendes Zeugnis dafür, wie weit wir uns im Puntte der Besonnenheit, mit welcher die Zwecke der Justiz verfolgt werden, von den geschilderten Ausgangspunkten entfernt haben. (II) Die Strafe soll nun ferner Verbrechen zuvorkommen, welche seitens des zu Bestrafenden selbst in der Zukunft begangen werden könnten. Und auch nach dieser Seite hin läßt sich eine Entwickelung des Gedankens den hier aufgestellten Zielpunkten zu behaupten. Während man in älterer Zeit überall geneigt war, die Präventton hier durch physische Unschädlichmachung des Verbrechers zu erreichen, oder auch in der Weise jenes württembergischen Bürgermeisters, der einen tollen Hund, „damit Niemanden ferner Schaden durch ihn geschehe" — über die Grenze ins Bayerische jagen ließ, »erfolgen wir heute das gleiche Ziel durch psychologische Einwirkung auf den Verbrecher; und hier ist ferner ein Fortschritt darin zu erkennen, daß man zuerst in ein­ seitiger Weise auf die sinnlichen Triebfedern im Verbrecher wirken ivollte, während wir gegenwärttg die gesamte Persönlichkeit desselben ins Auge fassen und auf dem Wege der Nacherziehung des meist in Merkel, SL, Gesammelte Abhandlungen.

146

Zur Reform der Strafgesetze.

der Erziehung vernachlässigten der Gefahr von Rückfällen vorzubeugen suchen. (b) Nach der zweiten der vorhin einander gegenüber gestellten Meinungen will die Strafe Vergeltung sein. In der ältesten durch den Trieb zur Rache charakterisirten Strafjustiz ist für keinen anderen Gedanken Raum, und zwar nimmt derselbe hier die Gestalt an, daß dem Verbrecher genau das gleiche Übel zuzufügen sei, das er durch seine That anderen zugefügt hat, also „Auge für Auge, Zahn um Zahn; wer Blut vergossen hat, deß Blut soll wieder vergossen werden" u. s. w. Diese Forderung entspricht den unreflektirten Äußerungen jenes Triebes bei jugendlichen Völkern gleichwie bei Kindern. Selt­ samerweise aber hat gerade die Doktrin in der Person hervorragender Repräsentanten diesm Grundsatz der spezifischen Gleichheit zwischen Verbrechen und Strafen lange in Ehre gehalten, während ihn das Rcchtsleben in der Hauptsache früh überwunden hat. Indes mußte sich auch in jener die Einsicht Bahn brechen, daß in einer kindischen Kopirung des Verbrechens durch die Strafe das Wesen der letzteren unmöglich gelegen sein könne. Man substituirte demgemäß dem Grund­ satz der spezifischen den der Wertgleichheit: das Strafübel soll dem das Verbrechen charakterisirenden seiner idealen Bedeutung nach gleich sein. Eine Emanzipation von der Empfindung, in welcher das „Auge um Auge" seine Wurzel hat, war indes auch damit nur halbwegs vollzogen. Eine ernsthaftere Prüfung der Frage nach Sinn und Bedeu­ tung der geforderten Vergeltung mußte über das Prinzip des gleichen Maßes überhaupt als eines jeder rationellen Basis entbehrenden unver­ meidlich hinausführen. Kann der Gesetzgeber in demselben Sinne Vergeltung üben wie der durch das Verbrechen in Affekt versetzte Einzelne, der in den Leiden des Verbrechers Trost für sich, ein Äquivalent der eigenen Leiden findet? Oder kann ihm die Schädigung der Güter des Sträf­ lings Selbstzweck sein? Enffpricht nicht der negativen, zerstörenden Seite der Vergeltung eine positive, konservirende? Und ist es nicht die letztere, woraus es dem Staate ankommt? Wer zweifelt, daß die letzteren Fragen, nicht die ersteren, zu bejahen seien? In der That beginnt diese Erkenntnis endlich zu tagen. Erst wenn dieselbe im Bereiche der Wissenschaft den ihr gebührenden Einfluß errungen, wenn sie in allen Teilen der Lehre von Verbrechen und Strafen ihre Kon-

Zur Reform der Strafgesetze

147

sequenzen zur Geltung gebracht hat, werden wir sagen können, daß die Wissenschaft frei geworden sei vom Einfluß der Instinkte! Nicht um des Unrechts mitten strafen wir also, sondern um des Rechts und seiner Herrschaft willen. Es ist eine Bedingung ihres Bestandes, die wir in der Strafe herstellen; eine Bedingung, die hin­ sichtlich ihres Umfanges von dem Maße abhängt, in welchem die rechtliche Ordnung sich in ihren positiven Grundlagen befestigt. Daß uns diese Auffassung über den Gmndsatz der Vergeltung nach gleichem Maße hinausführe, liegt auf der Hand. An seine Stelle ist die Forderung zu setzen, daß jederzeit das niedrigste Strafmaß zur Anwendung gebracht werde, welches sich mit dem sicheren Bestände der Rechtsordnung ver­ trägt. Unsere Wünsche aber sind darauf zu richten, daß daffelbe einer fortschreitenden Rckmktion unterworfen werden könne. Jene konservative Tendenz ist aber vor Allem hinsichtlich der qualitativen Charakterisirung der Strafe entscheidend. Die menschliche Justiz soll dem Verbrecher künftig nicht mehr erscheinen können, wie ein eisernes Räderwerk, das ihm Arme und Beine zerstört, weil er ihm zu nahe gekommen ist, sondern als eine strenge Schule, in der er die positiven Kräfte seiner Natur zu üben und zu bilden gezwungen wird. Die Vergeltung aber soll ihren eigentlichen Schauplatz in dem Bewußtsein des Sträflings und in den wiederbelebten sittlichen Trieb­ federn in demselben ihre ächten Vollzugswerkzeuge finden. Sie wird sich dann interpretiren lassen als Beglaubigung der Realität der moralischen Ordnung in der inneren Erfahrung desien, der sich gegen sie aufgelehnt hat. Übrigens brauche ich wohl kaum darauf aufmerksam zu machen, daß die besprochenen Gümnken der Prävention und Vergeltung sich in ihrer Entwickelung, wie sie von mir angedeutet wurde, einander mehr und mehr annähern, und daß dies in dem Maße stattfinde, als sie von dem geistigen Zusammenhange mit der alten,' durch die Herr­ schaft des Affektes charakterisirten Strafjustiz und den auf dieselbe zurückweisenden Irrungen und Vorurteilen sich loslösen.

Über die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller.

(AuS einem Vortrag, gehalten in Prag.)

1870. Wenn heute die Aufforderung an Sie ergeht,

eine Wanderung

im Reiche der Phantasie an der Hand des Kriminalisten

anzutreten

und ihm zu den Hallen der göttlichen Jungfrau Dike zu folgen, die dort hochthronend das Gericht hält über Thaten, die nie geschehen sind, und eben deshalb nach dem Worte des Dichters nie veralten — so mögen lebhafte Zweifel in Ihnen lebendig werden, ob Sie in solchem Gebiete sich solchem Führer anvertrauen sollen. Ist doch sein Dienst einer anderen Gerechtigkeit gewidmet, die mit jener im Gebiete der Poesie regierenden wenig gemein zu haben scheint — einer Gerechtigkeit, die in unseren Gerichten aus trockenen Texten schlecht redigirter Gesetze in mühseligen Prozeduren langsam sich herausarbeitet, einer Gerechtigkeit für Gauner und Vagabunden, Aufwiegler und sonstige Störenfriede, die um der öffentlichen Sicher­ heit willen eine Zeit lang einzusperren sind. Diese Misere soll der „Ritt ins romantische Land" uns ja eben vergessen lassen.

Wird jener Führer nicht zur unrechten Zeit daran

erinnern? Wird derselbe überhaupt die Brücke finden von dem harten Boden der Wirklichkeit, den seine Justiz bearbeitet, ins Sternenreich der Poesie? Und giebt es hier überhaupt eine Brücke? Meinung verneint es. besten Vertreter.

Die gemeine

Nicht so die Poesie selber im Munde ihrer

Läßt doch Shakespeare den Zweck des Schauspiels

durch Hamlet dahin bestimmen:

der Natur den Spiegel vorzuhalten,

der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild, dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. In der That sieht nur die an der Außenseite der Dinge haftende Betrachtung, das Vorurteil, das ewig und unzerstörbar ist, wie die Weisheit, hier getrennte Welten.

Die Welt des Künstlers ist keine

Über die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller.

149

andere wie die Welt des Mannes der Wissenschaft, ist die wirkliche Welt, wie sie sich spiegelt im Auge des künstlerischen Genies. Aller­ dings gehen hier Veränderungen vor sich; aber nicht solche, welche die Wahrheit verstecken und fälschen, sondern solche, welche sie in hellerem Lichte leuchten lasten. In jenem Spiegelbilde treten die wesenhaftm Beziehungen der Dinge deutlicher hervor, und es lösen sich dieselben aus dem verwirrenden Zusammenhange der Interessen und Leidenschaftm. In den Menschen des Dichters schaut uns die Seele der Welt un­ mittelbarer und bedeutsamer an, und in ihren Geschicken treten die Gesetze zutage, welche in ihrer unabänderlichen Wirksamkeit dm Bestand der moralischen Ordnung ausmachm. So ist denn auch die Gerechtigkeit der Poeten dem Wesen nach keine andere, wie die in der Geschichte waltende, und keine andere, als die durch den Staat zur Geltung kommende, welche den Rechtsphilosophm und den Kriminalisten beschäftigt. Aber lasten wir zunächst die Brücken hinter uns, die uns hier aus einem ins andere Gebiet führm, und halten wir uns an diejmigen Formen der Gerechtigkeit, in welchen sie in der dramatischen Poesie und speziell in den Tragödien Schillers auftritt. Zum Drama gehört nach Goethe ein bedeutender Charakter und eine bedeutende Handlung und, füge ich hinzu, als drittes wesentliches Glied ein bedeutsames Geschick. Diese drei (Stemmte dürfen nun, wie sich von selbst versteht, nicht bloß äußerlich neben einander gestellt sein, dürfen nicht bloß durch ein blindes Ohngefähr im Rahmen der Dichtung zusammengewürfelt erscheinen, sondern müssm vielmehr in einem bestimmten inneren Zu­ sammenhange zu einander stehen. Hier scheinen sich nun zwei Forderungen aufftellen zu lassen: 1. Es soll die Handlung dem Charakter, das Schick­ sal der Handlung entsprechend, d. i. gerecht sein. 2. Es soll die Handlung aus dem Charakter, das Schicksal aus der Handlung sich in naturgemäßer Weise entwickeln. Die erstere Forderung scheint wenig Bedenken zu machen. Daß die Handlung dem Charakter angepaßt sein müsse, scheint selbstverständlich und kaum minder, daß auch das Schicksal, der Untergang oder der Triumph des Handelnden, seiner Handlung entspreche, ihr gerecht sei. Franz Moor darf nicht triumphirend und im Besitze der geraubten

150

Über die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller.

Güter vom Dichter entlassen werden. Karl Moor darf nicht damit endigen, die Ordnung der Gesellschaft definitiv in Stücke zu schlagen; Fiesko darf nicht zum Lohne für seinen Verrat an der Freiheitsidee den Purpur davontragen. Dies Alles nicht etwa um der Moral willen, was den Dichter unmittelbar nichts angeht, sondern um der poetischen Wahrheit oder besser um des poetischen Eindrucks willen, der durch jene Wahrheit bedingt ist. Indes werden wir uns bei einer genauerm Betrachtung der Schöpfungm unserer großen Dramatiker davon überzeugen müfien, daß jene Forderung der Übereinstimmung zwischm dem Geschicke des Helden und feinen Handlungen eine unbedingte Geltung nicht hat. Sie gilt, soweit eine gewaltige Persönlichkeit handelnd und wirkend zum eigmtlichm Mittelpunkte eines bedeutsamen Schauspiels gemacht wird; sie gilt nicht, soweit der einzelne im Dienste einer allgemeinen Sache auftritt und an ihm das allgemeine Geschick und Recht der Menschheit selbst zur Anschauung gebracht werden will. Sie gilt ohne Zweifel in Bezug auf Richard III., Macbeth, Antonius, Coriolan u.s.w., sie gilt nicht in Bezug aus Hamlet und Brutus. Die zweite Forderung ging dahin, daß Charakter, Handlung und Schicksal in einem gesetzmäßigen Zusammenhange stehen. Sie begründet sich leicht, so schwer es auch ist, ihr völlig gerecht zu werden. Man denke sich nur, daß Franz Moor durch einen bloßen Zufall zur Be­ strafung komme, etwa in der Art, daß er im 5. Akte zn rechter Zeit zum Fmster hinausfiele; oder daß Fiesko im Drama, so wie es in der Geschichte geschah, ebm da er das Ziel seines Ehrgeizes erreicht zu haben glaubt, durch zufälliges Ausgleiten auf betn Wege zum Schiffe ins Wasser falle und ertrinke. Eine derartige poetische Ge­ rechtigkeit würde ohne Zweifel mit dem Fluche der Lächerlichkeit behaftet sein, und zwar einfach deshalb, weil es an der geforderten inneren Kausalverbindung zwischen Verbrechen und Strafe fehlen würde. In Betreff dieses Punktes finden sich indes große Verschiedenheiten in den Dramen verschiedener Zeiten und Völker und selbst bei dem­ selben dramatischm Dichter. Allerdings zieht nur die niedrigste Gattung von Schauspielen und Possen den nackten Zufall in den dramatischen Prozeß herein. Etwa in der Weise, daß der Held der Komödie, der im ersten Akte in eine ftemde Kaffe gegriffen hat, im letzten Akte durch ein ungünstiges Un­ gefähr der Polizei in die Arme geführt wird.

Übet die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller.

151

Ein kaum minder naiver, aber mehr poetischer Standpunkt setzt an die Stelle des Zufall- das Wunder, das unmittelbare Eingreifen einer höheren Macht, einer Gottheit, einer Fee, eines guten Engels. Wir haben da den „deus ex machina“ der antiken Tragödie, den Gott, der im entscheidenden Momente aus der dramatischen Maschine hervorkommt» um dem Helden aus der Not und dem steckengebliebenen poetischen Fahrzeug ans Ziel zu helfen. Es ist einleuchtend, daß in der ernsthafter angelegten Tragödie eine derartige Verknüpfung von Handlung und Schicksal — Schuld und Straft verwerflich ist. Sie würde ein Stück auf das Niveau der Puppentheaterpoesie oder etwa des dramatischen Märchens herabdrücken. Im Letzteren nämlich haben derartige Lösungen allerdings eine Berechtigung, da das Märchen gerade in der Bernachlässtgung des gesetzmäßigen Zusammenhanges der Erscheinungen seine Eigentümlichkeit hat. Hierher gehört die liebliche Sakuntala, in welcher natürliche und übernatürliche Verknüpfungm nebeneinander und durcheinander laufen, wo das Wunder und die natürliche ursächliche Verbindung wie Geschwister einig zusammen wohnen. Auch in der Ballade mag die übernatürliche Verknüpfung der Dinge eine Stelle finden, wie es in Schillers Gang nach dem Eisenhammer der Fall ist. Wenn dagegen in einem so prätentiösen Stücke wie Molidres Tartüfft die schließliche Lösung an das Wunder anstreift, so ist dies ein Fehler, der den poetischen Wert des Dramas wesentlich heruntersetzt. Zwar ist es dort nicht ein Gott, welcher sich ins Mittel legt, aber an Stelle desselben ist es der König von Gottes Gnaden, der, da es an der Zeit ist, die ausgleichende Gerechtigkeit durch die Polizei zur Stelle bringen läßt. Auf andere Stücke, welche auch in ähnlicher Weise das Problem der poetischen Gerechtigkeit zu einer lediglich äußerlichen Lösung bringen, beziehen sich die Schlußworte in dem Schillerschen Gedichte „Shakespeares Schatten" : Der Poet ist der Wirt und der letzte Aktus die Zeche. Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch. Seine Bestätigung findet das Gesagte im übrigen in Schillers Bemerkungen zu Fiesko, wo gesagt wird, daß die Natur des Dramas den Finger des Ohngefährs oder der unmittelbaren Vorsehung nicht dulde. Einem mehr reflektirenden Standpunkte entspricht es, dem Zufall, den man nicht völlig zu entbehren vermag, ein philosophisches Gewand umzuhängen und ihn mit allerlei geheimnisvollen und poetischen Attributen auszustatten. Er tritt hier als Schicksal im

152

Übet die Idee bet Gerechtigkeit bet Schiller.

Sinne der Alten, als Fatum, mit einem mehr oder minder grausigen Gefolge auf. So in der antiken und modernen Schicksalstragödie. Daß die letztere als eine Verirrung zu betrachten sei, darüber ist heute kein Streit. Bei den Alten behauptete das Fatum eine wichtige Stellung neben den Göttern, als deren Ergänzung in der religiösen Weltanschauung, und spielte daher auch in der Poesie, dem Spiegelbild des Lebens, eine Rolle. Für uns Neuere dagegen ist dies Fatum nichts als ein Wort für das Nichtbegriffene und nicht weiter Be­ greifliche, das x einer unaufgelösten und unauflöslichen Gleichung. Die Poesie aber soll Lösungen bieten, soll den Zusammenhang und das Zusammenstimmen der Erscheinungen uns vors innere Auge rücken, nicht mit der Unfähigkeit dazu, d. i. der Unfähigkeit, über den nackten oder verkleideten Zufall hinauszukommen, Parade machen. Was bleibt nun nach allem, wenn wir Zufall und Wunder in allen Formen und Verbrämungen aus dem ernsthaften Drama ver­ bannen? Was soll den Zusammenhang herstellen zwischen Schuld und Strafe? Was anderes als die natürliche Ordnung der Dinge, das Gesetz, das die Verkettung der Dinge in der physischen und moralischen Welt beherrscht. Das Gesetz, wonach die Frucht den Baum erkennen läßt, der sie trägt, und wonach sie für den Gärtner, der den Baum gepflanzt hat, keinen anderen Geschmack hat als für diejenigen, denen sie zugedacht war. Es liegen in jener natürlichen Ordnung gewisse Garantien dafür, daß die verderblichen Wirkungen einer frevelhaften That sich in weiteren oder kürzeren Kreisen zu dem Thäter zurückwenden und ihn die Qualität seines Wirkens an sich selbst erfahren lassen. „Die blutige Lehre", sagt Macbeth, „die wir anderen geben, fällt gern zurück auf des Erfinders Haupt und die gleichwägende Gerechtigkeit zwingt ihn, den eigenen Giftkelch auszuleeren." Die Kräfte, welche diese Umkehr der That, diese natürliche Vergeltung vermitteln, diese sind es» die der Dichter uns in ihrer gesetzmäßigen Wirksamkeit zur Anschauung zu bringen hat. Seine Gerechtigkeit wird dann erscheinen als das natürliche Echo der That, als das Echo, das uns aus dem eigenen Gewissen und aus dem der Gesellschaft, das uns aus der Welt, auf die wir wirken, entgegenschallt. Die Gesetze, die im Innern des Menschen Schuld und Leiden mit einander verbinden, sind die nämlichen, welche das geistige Leben überhaupt beherrschen. Dem Rückschlag, den der Schuldige im eigenen Bewußtsein erfährt, entspricht der Rückschlag in

Übet die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller.

153

der Außenwelt. Die äußere Vergeltung repräsentirt uns das Gewissen der Welt. Daß diese Auffassung selbst in Bezug auf das staatliche Straf­ recht, das hier weit abzuliegen und sich in völlig entgegengesetzter Weise zu charakterisiren scheint, eine Verwertung zulaffe, daß auch dieses sich betrachten lasse als ein Stückchen von jener natürlichen Ordnung, habe ich an einer anderen Stelle nachzuweisen versucht. Die Aufgabe des Dichters läßt sich hier einfach dahin bezeichnen, daß er in der Verknüpfung von Verbrechen und Strafe die Realität einer moralischen Ordnung zur Anschauung zu bringen habe, nicht um moralischer Effekte willen oder mit Rücksicht auf philosophische Theoreme, sondern um der Aufgabe willen, die dem Künstler gestellt ist: Das Leben in seinen wesentlichen und bedeutsamen Beziehungen zur Darstellung zu bringen. Aber freilich besteht hier zwischen den Stufen philosophischer Erkenntnis und den Entwickelungs- und Wert­ stufen des Dramas ein genaues Verhältnis. Der Weltbetrachtung, welche hinter jede bedeutende Erscheinung überirdische Gestalten: Götter oder Dämonen, Engel oder Teufel stellt, entspricht der „deus ex machina“ der Poesie. Der Lehre dagegen, welche darauf hinweist, daß wir die geschichtlichen Thaten an ihren Früchten erkennen, daß in diesem Sinn „der Ausgang ein Gottesurteil" sei, entspricht das Drama, welches uns diese Wahrheit im Schicksal des Helden zur Anschauung bringt, indem es denselben die Qualität seiner Handlungen an deren natürlichen Früchten erkennen und kosten läßt. Wenden wir uns den Schillerschen Dramen zu. Wie steht es in ihnen mit der Gerechtigkeit? wie speziell mit der Uebereinstimmung von Charakter, Handlung und Schicksal und der gesetzmäßigen Ent­ wicklung des letzteren aus den ersteren? Scheiden wir, indem wir die Antwort hierauf suchen, hier das Verhältnis von Charakter und Handlung einer-, das von Handlung und Schicksal andererseits. In der ersteren Beziehung hat uns Schiller ein klares Glaubens­ bekenntnis und die Richtschnur seiner schöpferischen Thätigkeit in den Worten Wallensteins hinterlassen: „Des Menschen Thaten und Gedanken, wißt, Sind nicht wie Meeres blindbewegte Wellen, Die innere Welt, sein Mikrokosmus, ist Der tiefe Schacht, aus dem sie ewig quellen----------

154

Über Me Idee der Gerechtigkeit bei Schiller. Hab' ich des Menschen Kern erst untersucht» So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln." Daß

Schiller

allgemeinen

diesem

Bekenntnisse

treu geblieben

ist,

daß

in

die

seinen

Dichtungen

int

Handlungen seiner Moor,

Marquis Posa, Wallenstein, Elisabeth u. s. w. sich unter den gegebenen Einwirkungen gesetzmäßig zu entwickeln scheinen, wie aus dem Kerne unter Regen und Sonnenschein

Baum und Frucht, das ist es, was

ihn in erster Linie zum dramatischen Dichter macht. Handlung,

nur

was

aus

dem

tiefen

Gmnde

mächtig hervorspringt, wie der eingepreßte Quell, Tage

gebrochen

wird,

macht

unS

Nur eine solche

des eigenen Wesens dem der Weg zum

im vollen Maße verantwortlich,

und nur das Geschick, das sich auS solchen Thaten entwickelt, ist ein vollkommen verdientes. Gegenteil.

Nach

verantwortlich,

Das herrschende Vorurteil

lehrt freilich das

ihm macht nur die Handlung sittlich und rechtlich

die ebenso gut unterbleiben konnte,

Thäter gekommen ist,

er

Qhngefähr vom Baum

weiß selbst

des

und Juristen teilen dasselbe.

zu der also der

nicht wie. die

das grundlose

Charakters gebrochen hat.

Philosophen

Sie sind vergeblich in der Schule des

Dichters gewesen! Fordern wir indes hiernach, daß der Dichter nur solche Thaten zum Träger des Geschickes seiner Helden mache, in denen die natür­ liche Frucht

ihres

Geistes,

den sie nicht verleugnen dürfen, gegeben

ist, so müssen wir anerkennen, daß Schiller ausnahmsweise trotz jener richtigen Erkenntnis seine Aufgabe verfehlt habe.

So in der Jung­

frau von Orleans und in der Braut von Messina. dieser Stücke

Bei den Helden

läßt der Dichter nämlich Affekte entstehen

und sich in

Thaten äußern, welche für die Charaktere derselben, wie sie von ihm gezeichnet sind, weder als notwendige noch als natürliche erscheinen. Bei der Jungfrau die Liebe zu Lionel; unnatürliche Bruderhaß.

in den Brüdern der

Diese Affekte und die daraus entspringende

Schuld weisen auf hinter den Handelnden stehende überirdische Mächte hin, gegen welche die Betroffenen die Klage des Alten im Wilhelm Meister erheben könnten: „Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt Ihr ihn der Pein, Denn alle Schuld rächt sich aus Erden."

Über die Idee bet Gerechtigkeit bei Schiller.

155

Es war ein unglücklicher Gedanke, eine derartige Schuld zum Mittelpunkte einer modernen Tragödie machen zu wollen. Eine Nemesis, die erst schuldig werden läßt, um dann zu strafen, befriedigt und erhebt uns weder, noch auch empört sie uns. Sie läßt uns vielmehr kalt, weil wir nicht an sie glauben, und damit ist der Stab über ihre poetische Existenz gebrochen. Was nun zweitens das Verhältnis des Schicksals der Helden zu ihren Handlungen betrifft, so erscheint dasselbe in den meisten Schillerschen Dramen ohne Zweifel als ein gerechtes. Der Untergang der Räuber, Fieskos» Wallensteins, Maria Stuatts, Don Cesars ... ist an sich ein verdienter. Allerdings aber ist die an ihnen sich bewährende Gerechtigkeit eine blutige. Wiederholt macht sich dabei die rigoristische Auffassung geltend, daß Blut nur mit Blut gesühnt werden könne, eine Auffassung, die bekanntlich auch im Gebiete der staatlichen Strafjustiz eine Bedeutung, nämlich zugunsten der Todesstrafe, gewonnen hat und noch behauptet. Auch dürfte sie für das Gebiet der Tragödie, deren Horizont mit dem der staatlichen Sttafjustiz nicht zusammenfällt, eine gewisse Geltung noch in Anspmch nehmen, wenn sie im Munde der Juristen lächerlich geworden sein wird. Die ©träfe erscheint in diesen Dramen ferner als reine Ver­ geltung. Von dem Charakter vormundschaftlicher Nacherziehung, welcher nach einer hier in Prag blühenden Philosophie das Wesen der Sttafe ausmachen soll, hat sie noch nichts an sich. Andere Helden der Schillerschen Dramen scheinen dagegen ein ungerechtes Schicksal zu erleiden. Die Schuld der Jungfrau von Orleans, wie sie der Dichter auch aufspreizen möge, rechtfettigt an sich den Untergang derselben nicht. Wenn derselbe trotzdem eine Mißstimmung nicht in uns erzeugt, so liegt dies darin, daß das Prinzip, dessen begeistette Trägerin die Jungftau ist, ttiumphirt — durch sie und in ihr, zu ihrer eigenen wie zu ihrer Freunde Ge­ nugthuung triumphirt. Dies führt uns auf einen höheren Begriff von der poettschen Gerechtigkeit, welcher zugleich der höhere Begriff von aller, auch der staatlichen Gerechttgkeit ist. Das Wesentliche nämlich liegt überall, in der Poesie wie in der Wirklichkeit, darin, daß die moralische Ordnung sich bewähre demjenigen gegenüber, der sich gegen sie auf­ lehnt, und dem zum Troste, der für sie leidet.

156

Über die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller.

Aber auch in diesem Sinne kommt die poetische Gerechtigkeit nicht in allen Schillerschen Dramen zu voller Geltung. Ferdinand und Luise sterben in „Kabale und Liebe" als Opfer des Vorurteils und der Kabale. Äußerlich triumphirt hier die Macht des Bösen. Aber dieser Triumph ist von der Art des Pyrrhusschen, in Bezug auf welchen der siegreiche König ausrief: „Noch einen solchen Sieg und ich bin verloren." Ja, es sind die Vertreter des scheinbar sieg­ reichen Prinzips im Drama mit dem Eintritt der Katastrophe bereits wirklich verloren und gerichtet. Bedenklicher noch steht es mit der Gerechttgkeit in Don Carlos. Die Schuld des Helden Marquis Posa ist im Grunde nur ein Rechenfehler, und mit dem Schicksale, das sich daran knüpft, kann uns nur die Bettachtung einigermaßen versöhnen, daß bei demjenigen, der ungeheuere und verhängnisvolle Unternehmungen verwegen auf eigene Faust betreibt, der Fehler Ver­ brechen ist. Weniger einfach noch als die Frage, ob und inwiefern das Schicksal der Schillerschen Helden ein gerechtes sei, beantwortet sich die andere, ob dies gerechte Schicksal sich aus den Handlungen der Helden naturgemäß und mit innerer Notwendigkeit entwickele. Hierbei wird es vor allem auf die Werkzeuge ankommen, welche der Ver­ geltung in diesen Dramen die Wege bahnen. Die erste Rolle spielt nun hier mit Recht das eigene Ge­ wissen des Schuldigen, ein in Wahrheit natürlicher und berufener Vermittler der Nemesis. Dasselbe lehtt im verhängnisvollen Momente die Unausbleiblichkeit der Vergeltung, die in der natürlichen Ordnung begründete Umkehr der That gegen den Thäter, um diesem selber ihren Stachel ins Herz zu drücken. In bedeutsamen Worten giebt Wallenstein in dem für ihn entscheidenden Augenblicke davon Zeugnis. „Ich erwart' es," sagt er, „daß der Rache Stahl auch schon für meine Brust geschliffen ist. Nicht hoffe, wer des Drachen Zähne säet, Erfreuliches zu ernten. Jede Unthat trägt ihren eigenen Rache­ engel schon, die böse Hoffnung, unterm Herzen." Die vorher verkündete Vergeltung wird durch das Gewissen auch herbeigeführt oder beschleunigt. Karl Moor, im Forum des eigenen Bewußtseins gerichtet, liefert sich freiwillig dem äußeren Gerichte aus. Don Cesar vollzieht das strenge Urteil jenes Forums, weil ein äußeres Gericht für ihn nicht

157

Über die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller.

besteht, mit eigener Hand.

„Nicht in der Welt lebt," ruft er, „wer

mich richtend strafen kann, drum muß ich selber an vollziehen."

mir selber es

Und zum toten Bruder gewendet:

„Deine heilige Unschuld sollte ungerächt im tiefen Grabe liegen, und ich, dein Mörder, sollte glücklich sein?

Das verhüte der all­

gerechte Lenker unsrer Tage, daß solche Teilung sei in seiner Welt!" Hier erscheinen die sittlichen Kräfte der inneren Natur unmittelbar als stellvertretende Bundesgenosien der äußeren Träger und Stützen der moralischen Ordnung. Im Geschicke Franz Moors zeigen sich beiderlei Faktoren in paralleler Wirksamkeit.

Die Furien, die im Bewußtsein des Mörders

aus der Erinnerung an die begangenen Verbrechen aufleben, unter­ graben und durchwühlen das keck so daß es kaum des desselben bedarf.

getürmte Gebäude seines Glücks,

von außen kommenden Sturms zum Sturze

Die Räuber aber,

die das Werk der Vergeltung

zu Ende führen, handeln im Dienste des Rachetriebs, jener dämonischen Macht und uralten Wächterin des Rechts, der zuerst in der Gesell­ schaft die Ausgleichung zwischen dem Geschick des Verbrechers und dem seines Opfers aufgetragen war. Mittelbar erscheint das Gewisien als Werkzeug der Nemesis im Demetrius nach der Anlage des Stückes.

Demetrius siegt, so lange

er an sein Recht glaubt und sich dem Unrechte in Boris gegenüber weiß.

In dem Bewußtsein des eigenen Unrechts erwächst ihm dann

der gefährlichste Gegner,

der im Bunde mit den äußeren Feinden

ihn unwiderstehlich ins Verderben zieht. Die Kräfte, die sich im Bewußsiein regen und an eine Schuld und

an

die Pflicht ihrer Tilgung mahnen, treten überall leicht in

eine verhängnisvolle Verbindung mit den Repräsentanten der verletzten Ordnung in der Außenwelt und arbeiten mit diesen gemeinsam dem äußeren Gerichte in die Hände.

Das ist nirgends schöner zur An­

schauung gebracht als in den Kranichen des Jbykus. bewußtsein

der

Mörder

tritt hier

unwillkürlich

Das Schuld­

in Bund mit den

Sendlingen des Ermordeten und mit den über die Bühne schreitenden Rachegöttinnen. Aber nicht bloß mit dem Schuldbewußtsein — mit der Innen­ welt überhaupt steht die äußere Natur in engem Bunde.

Sie läßt

uns überall verwandte Kräfte, verwandte Regungen finden.

Sie prägt

uns den eignen Lebensinhalt in großen Zügen aus, ist uns Gestaltung

158

Über die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller.

inwohnender Ideen und fördert und nährt in tausenderlei Formen im Innern arbeitende, auf unser Glück oder unser Verderben gerichtete Kräfte. Sie giebt dem Schuldbewußtsein die Fäden, die es zum verderb­ lichen Netze zusammenflicht, der sittlichen Kraft aber baut sie die Stufen, darauf sie aus Not und Bedrängnis zu idealer Freiheit emporführt. Diesen Sinn hat es, wenn bei unserem Dramatiker Natur­ erscheinungen und Naturgewalten in den dramatischen Prozeß herein­ gezogen werden, wenn ihnen Einfluß eingeräumt wird auf das Geschick der Helden. Derselbe erwächst ihnen aus dem Herzen der von ihnen Beherrschten selber. So knüpft der ehrgeizige Günstling des Glücks sein Geschick gern an die Gestirne, oder füllt sich den Raum mit Geistern, mit geheimnisvollen Gewalten, denen er Macht einräumt über sein Gemüt, auf daß sie ihn vorwärts treiben auf dem Wege, den er zu gehen sich sehnt, aber ohne Stützen zu gehen die Kraft nicht findet, auf daß er seine Thaten in bedeutsamem Zusammenhange fühle mit Faktoren, denen er, wenn der Gewinn gesichert ist, die Schuld aufbürden könnte. In diesem Sinne bringt Wallenstein seine Entschlüsse in Zusammenhang mit dem Gang der Gestirne. Sie sollen sein Geschick regieren, und sie regieren es gerecht als die Leuchten auf dem selbstgewählten Wege, in deren verlockendem Schein ihm das Feuer der eigenen Begierden winkt. Unabhängig von den Regungen im eignen Bewußtsein tritt bei Fiesko die Vergeltung ein. Hier ist es der aufrichtige Vertreter der von jenem verratenen Freiheitsidee: Verina, dem das Amt des Rächers übertragen ist. Derselbe wendet die Maxime des Tyrannenmords, welche Fiesko den Dorias gegenüber proklamirt und zur Anwendung gebracht hat, nun auf den heuchlerischen Freiheitshelden selber an. Die Geister, die der Betrüger gerufen, die wird er nun nicht los. Der Mohr muß gehen, nachdem er seine Schuldigkeit gethan hat; Leidenschaften aber und Ideen lassen sich nicht beliebig wecken und wieder zum Schlummer bringen. Sie fordern ihr Recht, wenn nicht in der Gestalt des Sieges und Triumphes, dann wenigstens in der der Rache! Auch im Fiesko erscheint demnach die Bermittelung zwischen Schuld und Schicksal natürlich und bedeutsam, indem sie all­ gemein giftige psychologische Gesetze zur Grundlage hat. Wieder andere Werkzeuge und Formen der Vergeltung treten in

anderen Dramen hervor, verschieden nach der Art der Schuld, um deren Sühnung es sich handelt. Dieses Schuldmoment und der geistige Zusammenhang, in dem es auftritt, mag uns noch einen Moment beschäftigen. Verschiedene Gestaltungen desselben haben wir bereits kennen gelernt. Suchen wir darin ein Element von allgemeinerer Bedeutung, so wird es in der Überhebung des Einzelnen, in der Überschreitung der Grenzen zu finden sein, die der Geltung des Einzelwillens in der Ordnung des Lebens gesetzt ist. Das zu hoch gespannte Kraft- und Selbstgefühl, das den eignen Willen mit seinen besonderen Jnterefien und Maßen den objektiven Lebensmächten entgegensetzt — das ist es, was den meisten tragischen Helden den Weg zur Dike führt, der auf die steilste Höhe des Lebens hinanfiihrt, um den vom Erfolge Berauschten dort jählings in den Abgrund der unvermeidlichen Vergeltung zu stürzen. In der Anschauung der antiken Dichter sorgt der Neid der Götter dafür, daß der zu hoch gestiegene Günstling des Glückes jenen Weg nicht verfehle. Bei den Neueren tritt dies ttagische Moment in einem ethisch reineren Zusammenhange auf. Jene Schranken der Geltung des Einzelnen sind durch die moralische Ordnung gesetzt, d. h. eine Macht, die dem Einzelnen nicht feindlich gegenübersteht, sondern im eignen Bewußtsein desselben sich bethätigt und, auch wenn sein eignes Glück ihr zum Opfer fällt, in ihm selber ttiumphirt. Indes begegnen auch in diesem Punkte verschiedene Auffassungen, bei den Dichtem nicht minder wie bei den Philosophen und Politikem. Auch die Dichter geben dem Einzelwillen eine verschiedene Stellung zu den überkommenen Ordnungen und Gesetzen im ethischen Haushalte der Gesamtheit, entsprechend dem Wechsel und Zwiespalte der Anschauungen über Sitte und Recht, welche die Gesellschaft beherrschen und in der Ord­ nung des Gemeinlebens sich zu verwirklichen oder zu behaupten streben. Eine solche Beziehung zu den der Zeit charakteristischen geistigen Strömungen läßt sich auch bei Schiller nachweisen. In den Werken des noch jugendlichen Dichters tönt vernehmlich das Stumilied der Revolution. Wiederholt schildert er die Auflehnung einer kräftigen Individualität gegen eine Ordnung, innerhalb der sie nicht Raum für sich und ihre Ideale findet. Der Druck, unter dem Schillers Jugend geseufzt hat, machte ihn empfänglich für die Lehren Rousseaus und seiner Zeitgenossen. Sie finden in des Dichters tragischen Helden beredte Apostel. Auch ward die Verwandtschaft dieser Dichtungen

160

Über die Idee der Bcrechtigkeil bei Schiller.

mit dem Geiste, der die französische Revolution erzeugte, wohl erkannt. Der Moniteur von 1792 findet in Fiesko (der in der Bearbeitung für die Bühne den Freiheitshelden sich bewähren läßt) den Triumph des Republikanismus in Theorie und That und die französische National­ versammlung gesellt den Dichter, indem sie ihm das Ehrenbürgerrecht verleiht, den liberalen Größen des Zeitalters zu. Aber lange, ehe diese urkundliche Bestätigung seiner angeblichen Verdienste um die Revolution in die Hände des Dichters gelangte, hatte er dieser definitiv den Rücken gekehrt und eine völlig veränderte Auffassung von der Stellung des Einzelnen innerhalb der Gliederung der Gesellschaft und zu den objektiven Lebensmächten in sich aus­ gebildet und in mancherlei Formen zum Ausdruck gebracht. Statt der Revolution verherrlicht er fortan die Ordnung, „die segensreiche Himmelstochter, die das Gleiche leicht und frei und fteudig bindet", verherrlicht er „den kunstreichen Bau des Weltgewölbes, wo Alles Eines, Eines Alles hält, wo mit dem Einen Alles stürzt und fällt!" Zwar handelt es sich im Teil im Grunde wieder um eine Revolution, doch um eine solche von äußerst konservativem Geiste, deren Held über­ dies als ein Muster von Maßhaltung und Bescheidenheit geschildert ist. Auch verwahrt er sich in den bekannten Strophen über Tell aus­ drücklich dagegen, daß die von ihm geschilderte Erhebung der Kantone als eine Lösung des Ankers, an dem die Staaten „hängen", das ist, als eine Revolution im gemeinen Sinne begriffen werde. Immer ist freilief» Schiller der Dichter der Freiheit geblieben, aber es hat sich der äußeren Freiheit, wie Goethe bemerkte, später die innere, sittliche Freiheit substituirt, die Freiheit des Willens, der das Gesetz, die objektiv bestimmte Ordnung des Lebens, nicht als eine ver­ haßte Fessel zu brechen sucht, sondern dasselbe in sich aufnimmt und auf solche Weise die Schranke überwindet. In den angegebenen Beziehungen begründet es sich, wenn die polittsch erregte Zeit sich stets mit Vorliebe den jugendlichen Arbeiten des Dichters zuwendet und insbesondere die Räuber als eine Mahnung an die große Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts und deren Sttebungen über die Bühne schreiten läßt. Überhaupt aber wird jede ernster gestimmte, unter dem Einfluß großer Ereignisse lebende Generatton sich stets in höherem Maße von der geistigen Energie und sittlichen Hoheit unseres großen Dramatikers angesprochen finden.

Unter solchen Ereignissen aber leben auch wir. Wieder wird gerungen aus manchem Felde „um der Menschheit große Gegenstände": Herrschaft und Freiheit, und in dem überallher tönenden Waffen­ geräusche, in dem jähen Zusammenbrechen alter Ordnungen, dem Sturz uralter Throne scheint uns der Ruf der alles beherrschenden, der un­ erbittlichen Nemesis vernehmlich durchzuklingen. Das bedeutsame Schauspiel, das die Geschichte dieser Jahre vor uns aufrollt, lenkt den Blick des Nachdenklichm über den Widerstreit der alten und neuen Ordnungen, über das Recht, das in der Zeit entsteht und untergeht, auf diejenigen Gesetze hin. aus welchen die menschlichen ihre vergängliche Kraft ableiten, und auf diejenige Ge­ rechtigkeit, welche in dem tragischen Geschicke der Individuen und der Völker nicht ihren Untergang findet, sondern ihre Bestätigung. Unter ihren Priestern aber stehen voran die Dichterfürsten aller Zeiten und unter ihnen ragt unvergleichlich an prophettscher Kraft der geistesgewaltige deutsche Schiller.

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches für Norddeutschlaud. (Gutachten für den IX. deutschen Juristentag. 1871.

„Verhandlungen", Bd. 2.)

Vorbemerkung.

Der an ihn ergangenen ehrenden Aufforderung zu einer Begut­ achtung des Strafgesetzentwurfs für Norddeutschland kommt der Verfasser dieses, soweit es ihm die Umstände gestatten, mit lebhafter Genugthuung nach, so geringe Aussichten auch seine bezüglichen Ausführungen bei dem vorgerückten Stande dieses gesetzgeberischen Unternehmens und dem beschleunigten Gange, den dasselbe einhalten zu sollen scheint, auf eine Berücksichtigung an maßgebender Stelle haben dürften. Ist doch dies Unternehmen bedeutsam genug — nicht bloß für den Norden Deutschlands —, um sich auch durch ein Minimum solcher Aussicht in lebhafte Bewegung setzen zu lassen. Die Gründe jenes raschen Vorangehens mögen über jede Diskussion erhaben sein. Jedenfalls liegt ihre Prüfung außer dem Bereiche der dem Verfasser gestellten Aufgabe. Aber der Wissenschaftler darf es von seinem Standpunkte aus bedauern, daß bei dieser Gelegenheit das auch auf legislativem Gebiete beachtenswerte „nonum prematur . . “ durch das den Deutschen sonst wenig geläufige „carpe diem . . " so entschieden aus dem Felde geschlagen zu werden bestimmt scheint. Nicht als ob über den vorliegenden Entwurf hier ohne weiteres als über das Resultat einer Übereilung der Stab gebrochen werden wollte. Schon der Anschluß an das preußische Strafgesetzbuch mußte ihm einen gegen ein derartiges Urteil sicher stellenden Wert verleihen. Auch hat die Kommission den bekannten Vorzügen dieses Gesetzbuches andere hinzugefügt, die ihrer Einsicht und Vorurteilslosigkeit ein rühm­ liches Zeugnis ausstellm. Der Entwurf würde daher, zum Gesetze

Butachten übet den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

163

erhoben, ohne Zweifel zu dem Besten gehören, waS die Gegenwart auf diesem Gebiete kennt. Aber leider kennt dieselbe hier nichts Befriedigendes. Die großen Probleme der Strafrechtspflege sind im wesmtlichen ungelöst, und auch die neuesten legislativen Arbeiten dürsten das Wort der Lösung für fie nicht enthalten. Unter solchen Umständen bedeutet es wenig, unter den Vordersten zu marschiren! Für ein Voraneilen aber auf zum Teil neuen Wegen» wie es von der deutschen Gesetzgebung heute zu fordern wäre, dazu bedarf es umfassenderer Zurüstung und einer energischeren Zusammmfassung der disponiblen Kräfte, als beides im gegebenen Falle, wenn ich nicht irre, stattgefunden. Zu § l. Über die Dreiteilung der strafbaren Handlungen. Der Entwurf hat die Dreiteilung der Delikte beibehaltm. Aber man hat den gegen sie erhobenen Einwendungen insofern Rechnung getragen, als man die praktische Bedeutung derselben — die grund­ sätzliche Verschiedenheit in der Behandlung der also geteilten Gruppm — gegenüber von dem preußischen und stanzösischen Strafrechte wesentlich reduzirt hat. Ein Mittelweg, in Bezug auf welchen das „in medio veritas“ nicht gelten dürfte! Ist diese Dreiteilung im Gebiete des materiellen StrastechtS eine wirklich zu begründende, dann wird die „konsequente und ausgeprägte" Durchführung derselben, wie sie dem code penal seitens der Motive nachgerühmt wird, der verwaschenen Weise, in welcher sie im Entwürfe festgehalten ist, ohne Zweifel vor­ zuziehen sein. Sind dagegen jene Einwendungen begründet, dann ist es allein richtig, diese Einteilung gänzlich fallen zu lassen, denn die­ selben treffen das Prinzip, nicht (oder doch nicht bloß) die Art seiner Durchführung. Nach dem, was von wiffenschastlicher Seite sowohl diesseits wie jenseits des Rheins gegen die famose Einteilung gesagt worden ist, hätte man vielleicht erwarten dürfen, daß die Redaktoren des Ent­ wurfes den Gedanken, von dem sie ausgingen indem sie sich zur Übertragung derselben in den letzteren entschieden, und ihr grade die bestimmte Tragweite gegeben haben, die ihr in ihm beigelegt ist, zu einem präzisen Ausdruck in den Motiven bringen würden. Aber eS

164

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

ist daselbst nichts dieser Art zu finden. Vielmehr weist das, was statt dessen gegeben ist, darauf hin, daß man über einen klar erfaßten Gedanken dieser Art überhaupt nicht verfügt habe. Das Argument, daß die preußischen Juristen, wenn man die Dreiteilung fallen ließe, umsonst gelernt haben würden, enthält einen solchen Gedanken natürlich nicht. Ebenso wenig die Berufung auf die ominöse Autorität Carpzovs. Oder sollte am Ende diese Dreiteilung, die von Einigen bisher als etwas spezifisch Französisches bekämpft worden ist, nun als spezifisch deutsches Erbgut sich entpuppen? Ernsthafter gemeint ist ohne Zweifel das Argument, daß durch diese Einteilung die Regulirung der Zuständigkeit im Strafverfahren erleichtert werde. In ihm ist der Kernpunkt der Ausführungen aller Verteidiger der Dreiteilung gegeben. Mit ihm fällt ihre Sache. Und doch ist leicht zu zeigen, daß das gerade Gegenteil dieser Behauptung wahr sei. Wir erleichtern die sachgemäße Erledigung einer Aufgabe nicht, indem wir ihr präjudiziren. Handelt es sich bei der Dreiteilung der Delikte um ein straf­ prozessualisches Interesse, so hat sie nach strafprozessualischen Rücksichten, also unter Berücksichtigung der bestehenden oder der zu erwartenden strafgerichtlichen Einrichtungen zu erfolgen. Ist dies im Entwurf geschehen? Schon deshalb nicht, weil die künftigen strafprozessualischen Einrichtungen noch im Ungewissen liegen. Man wäre hier auf Ver­ mutungen hingewiesen gewesen. Aber auch auf das hier zu Vermutende ist in den Motiven nirgends Bezug genommen, und die Abgrenzung sowohl der „Verbrechen" wie der „Übertretungen" im Entwürfe läßt erkennen, daß man sich mit Konjekturen dieser Art nicht abgegeben habe. Wie wenig man hier an jene Regulirung gedacht habe, geht u. a. auch daraus hervor, daß man die Verbrechens- und Vergehens­ qualifikation vielfach nicht an die im Strafgesetze bezeichneten allge­ meinen Merkmale der verschiedenen Arten von Delikten, sondern an das Bild, welches sich der Richter von dem konkreten Fall entwirft, also erst an das Ergebnis der Untersuchung anknüpft. Wenn man also aus prozessualischen Rücksichten zur Aufnahme der Dreiteilung schritt, so hat man den Grund dieses Schrittes, während man ihn machte, total vergessen und verleugnet. Und daraus soll sich eine Erleichterung der Erledigung prozessualischer Aufgaben ergeben?

Gutachten Ober den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

165

Eine Einteilung wie diese, welche in prozessualischen Bedürfnissen sich begründet, findet sich,

was

leicht einzusehen

ist,

nur

in

der

Strafprozeßordnung in ihrem natürlichen Zusammen­ hange, wie es jetzt auch von Frhrn. v. Groß (deutsche Strafrechts­ zeitung im Septemberhest S. 465 f.) näher nachgewiesen worden ist. Sie in das Gebiet des materiellen Strafrechts zu übertragen und sie dort mit einer künstlichen, aber weittragenden Bedeutung auszustatten, dies kann sich in prozessualischen Berhältnisien unmöglich begründen. Wenn wir ein Delikt um seiner Schwere willen den Geschworenen zuweisen wollen, ist es dazu notwendig, oder wird dies

erleichtert

dadurch, daß wir es im materiellen Strafrechte mit einer dort nicht begründeten Bedeutung begaben, daß wir es mit einer schwereren Strafe belegen, als es nach seiner materiellen Beschaffenheit nach sich zu ziehen hätte, daß wir es als infamirend behandeln, wiewohl ihm keine ver­ ächtliche Gesinnung zugrunde liegt u. s. w. ?

In der That, dies ist

hier die Logik des französischen und preußischen Strafrechts, eine Logik, von welcher es Zeit wäre, sich zu emanzipiren. Und wmn nun gar bei dieser Übertragung eines prozessualischen Gedankens

auf das

materielle strafrechtliche Gebiet derselbe seinen

Zusammenhang mit dem Prozesse und also mit den Gründen seines Daseins verlöre, ohne doch im ersteren Gebiete in einen neuen legitimirenden Zusammenhang cinzutretm — wie dies alles in Betreff der Dreiteilung des Entwurfes nachzuweisen ist —, soll der so Ent­ wurzelte, in seiner Fixirung dem bloßen Zufall Preisgegebene, dennoch berufen sein, eine Gmndlage abzugeben für das deutsche Strasiecht der Zukunft?

Etwa weil eine aufgeklärte Praxis nicht gegen ihn

revoltirt, sich sogar an seinesgleichen an mehreren Orten sehr gewöhnt hat?

Aber wir tragen uns mit manchen imaginären Werten und

halten um so entschiedener an ihnen fest, je unklarer unsere Vorstellungm über sie sind. Man

hat hier

fortwährend

den

Fehler

begangen, die straf-

prozessualischen Gesichtspunkte mit den materiell strafrechtlichm einfach für identisch zu nehmen, während es sich bei näherer Prüfung heraus­ stellt, daß

hier keineswegs eine Kongruenz stattfinde, daß für dm

Prozeß bedeutsame Unterschiede dies nach materiellen strafrechtlichm Gesichtspunkten

nicht

seien,

und

umgekehrt.

Wenn wir z. B. im

Gebiete des Prozesses die durch die Presse begangenen Delikte von anderen im übrigen gleichartigen unterscheiden, so geschieht dies nicht,

166

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches s. Norddeutschland.

um materiellen strafrechtlichen Unterschieden gerecht zu werden, und umge­ kehrt hat der im materiellen strafrechtlichen Gebiete bedeutsame Unterschied zwischen den infamirenden und den nicht infamirenden Handlungen keine Tragweite auf prozessualischem Gebiete. Auf dem letzteren kommt vor allem die relative Schwere der Delikte in Betracht, während dieselbe im Bereich des materiellen Strafrechts im allgemeinen nur eine quantitativ, nicht auch eine qualitativ verschiedme Behandlungsweise rechtfertigt. Gehen wir bei der Abgrenzung der Übertretungen z. B. von materiellen straf­ rechtlichen Gesichtspunkten aus, so wird es durchaus gefordert sein, sie auf polizeiliches Unrecht und die reinen Omissivdelikte zu beschränken, nicht beliebige Arten kriminellen Unrechts, insofern sie in geringeren Maßverhältnissen auftreten, mit ihnen zusammenzuwerfen. Die Auf­ stellung gemeinsamer Grundsätze für diese Gruppe, wie sie sich z. B. im Entwürfe int § 4 i. f., im § 345 und u. f. finden, würde sonst zur baren Willkür. Gehen wir hier dagegen von prozessualischen Gesichts­ punkten aus, so werden wir konsequent zur entgegengesetzten Entscheidung, d. i. zur Vereinigung kleiner Betrügereien und Diebstähle u. s. w. mit dem polizeilichen Unrechte gelangen. Ich verweise in Betreff der sich hier anknüpfenden Fragen auf die Ausführungen des Frhrn. v. Groß im Gerichtssaal XXI. Seite 249 flg. und in der deutschen Strafrechtszeitung 1. c. Aber lassen wir die Beziehung der Dreiteilung auf den Prozeß beiseite. Man könnte der Meinung sein, daß eine Abteilung der zahlreichen Deliktsarten in eine Mehrzahl von Gruppen mit Rücksicht auf die mit ihnen verbundenen Strafmaxima jedenfalls nicht viel gegen sich haben könne. (Bergl. Meyers Beurteilung des Entwurfs S. 4.) Hierbei ist aber selbstverständlich von der Voraussetzung auszugehen, daß die so geteilten Delikte genau dieselbe Behandlung erfahren, welche ihnen unabhängig von dieser Scheidung ihrer sachlichen Natur entsprechend zuteil geworden sein würde. Ist dies der Fall, so haben wir in dieser Einteilung allerdings eine völlig unschädliche, aber auch (was Meyer übersieht) eine völlig unnütze Sache, in Bezug auf welche nur die Frage auszuwerfen wäre, ob die Harmlosigkeit eine Legitimation für gesetzliche Anordnungen sei! Anders, wenn wir mit Rücksicht auf die einmal vorgenommene Einteilung verschiedene Grundsätze für die so zustande gebrachten Kategorien aufstellen; wenn wir die mit den verschiedenen Delikten

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

167

zu verbindenden Freiheitsstrafen mit Rücksicht auf die Qualifikation der ersteren als „Verbrechen" oder als „Vergehen" eigentümlich ge­ stalten und benennen und mit verschiedenen Folgen verknüpfen; wenn wir besondere Grundsätze über Versuch, Verjährung, mildernde Um­ stände u. s. w. mit Rücksicht auf eben diese Qualifikation für sie auf­ stellen. Hierdurch erst wird die Sache Sinn und Bedeutung erhalten. Aber es ist klar, daß wir durch jede dieser Änderungen an den mt= abhängig von dem Schema eintretenden Deliktsfolgen, mag sie an sich bedeutend oder nicht bedeutend sein, uns von der Wahrheit der Sache entfernen, daß diese Schmarotzerpflanze im Gebiete der Strafgesetzgebung durchaus nur Leben erhalten könne auf Kosten der Natur der Sache. In Betreff der Dreiteilung des Entwurfs wird Gelegenheit sein, dies näher darzulegen. Wo immer wir ihrem Einflüsse begegnen, da ist auch irgend eine Konsequmz aus der Natur der Sache unterdrückt, irgend einem sachlichen Motive der ihm zukommende Spielraum verkürzt. Allerdings ist nicht zu leugnen, daß der Entwurf die bedenklichsten der im preußischen Strafgesetzbuch begegnenden Äußerungen dieses Ein­ flusses unterdrückt hat. Das ist als eine relative Unschädlich­ machung der Schablone dankbar zu acceptiren. Allein für den Rest existiren keine besseren Titel. Ja, derselbe nimmt sich nur um so sonderbarer aus, je mehr er zusammenschmilzt, und je mehr die Sachen, um die es sich handelt, zu ihrem Rechte kommen. Der Entwurf ist den Intentionen ihrer Verfasser nach über ihn hinaus. Aber sie haben ihr Werk nicht überall von den Fesseln einer unerleuchteten Tradition zu lösen vermocht. So führt es denn auch in jenem Reste wertlosen Ballast, der den Schein einer Bedeutung nur hat, so lange das Schifflein der Legislation mit wirklichen Werten zu leicht befrachtet ist. Zu 8 2. Übet die rückwirkende Kraft des Strafgesetzes. In Betreff des zweiten Absatzes dieses Paragraphen dürste Berners Meinung (Kritik des Entw. S. 5) zu stützen sein. Der Entwurf beschränkt die rückwirkende Kraft seiner Bestimmungen, im allgemeinen mit gutem Grunde, auf Straffachen, in Bezug auf welche noch kein Endurteil vorliegt. In Bezug auf gewisse Bestimmungen aber wird man weiter gehen und dieselben auch gegenüber von bereits abgeurteilten Sachen gelten lassen müssen.

168

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches s. Norddeutschland.

Der Entwurf beseitigt (Art. V des Einführungsgesetzes) gewisse im geltenden Recht verschiedener Bundesländer vorkommende Straf­ mittel, bezw. Strafschärfungen und Straffolgen, weil sie als unnütz oder auch als dem heutigen Rechtsbewußtsein widersprechend gelten. Die Staatsgewalt aber soll nicht zur selben Zeit einander wider­ sprechende Überzeugungen zum Ausdruck bringen, nicht dieselbe Strafe zugleich als verwerflich und als notwendig anerkmnen. Es wird daher richtig sein, in Bezug auf die fernere Anwendung jener Strafmittel keinen Unterschied zu machen zwischen abgeurteilten und nicht abge­ urteilten Sachen. Dem Begnadige! es zu überlasien, der Übertragung des Gesetzgebers die Grenzen ihrer Geltung hier von Fall zu Fall zu bestimmen, dürste nicht richtig sein. Ebensowenig, dies der Gesetz­ gebung der einzelnen Bundesstaaten zu überlassen. Übrigens gehört diese Ausgleichung zwischen dem heutigen und dem früheren Stand­ punkte des Gesetzgebers in das Einführungsgesetz und ist hier nur des Zusammenhangs wegen erwähnt. Zur Vergleichung mag auf das österreichische Gesetz vom 15. November 1867 hingewiesen werden. Noch mag auf den Widerspruch aufmerksam gemacht werden, der sich in den einander genau entsprechenden §§ 2 und 337 des Entwurfs in Betreff des mit dem Worte Handlungen verbundenen Begriffes findet. In dem ersteren Paragraphen nämlich schließt derselbe die Unterlassungen ein, in dem letzteren aus. Zu 8 4. Über die im Ausland begangenen Verbrechen. In Betreff des § 4 dürsten die Bemerkungen des Frhrn. v. Groß (Strastechtszeitung, S. 469) Beachtung verdienen. Es scheint nicht billig, nur die Pflichten und Lasten des Inländers im Auslande als fortbestehend anzuerkennen, nicht deren Korrelat: die Schutzpflicht auf Seiten des Staates. Mit dem „kann" im 2. Absätze wird man sich nicht befreunden können, jedenfalls nicht in seiner Beziehung zu pos. 3. Wandeln wir jedoch das „kann" in ein „soll" um, so wird eine Einschränkung dieser pos. 3 gefordert sein. Vergl. hierüber Bindings „Entwurf eines Strafgesetzbuchs für den norddeutschen Bund" S. 134, 136 (daselbst die Paragraphenzusammenstellung im § 7).

Gutachten über den Entwurf eine- Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

169

Zu § 8. Der § 8 sagt etwas Selbstverständliches in einer Weise, daß man versucht sein könnte, etwas Anderes, was nicht darin liegen soll, darin zu suchen. Der Entwurf schweigt so oft, wo wirkliche Zweifel zu lösen wären, weshalb hier reden, wo niemand zweifelt, und wo wir entweder nichts damit wirken oder etwas Nichtgewolltes? Zu § 11, 2 und § 19. Über die Ausdehnung der zeitlichen Freiheitsstrafe und die bedingte Freilassung. Eine glückliche Initiative haben die Verfasser des Entwurfs in Betreff der Frage ergriffen, ob nicht die zeitliche Freiheitsstrafe einer wesentlichen Kürzung zu unterziehen sei. Sie haben sich damit frei gezeigt von der Herrschaft des alten Vorurteils, welches durch Massenhaftigkeit der aufgewendeten Mittel wirken zu können und zu müssen meint, wie weiland die mit maßlosen Latwergen operirende Medizin. Wir wissen heute, daß es auf beiden Gebieten nicht darauf ankomme, möglichst vieles an Heilmitteln, sondern im Gegenteil darauf, das Minimum des Geforderten zur Anwendung zu bringen. Wir wissen, daß jede Strafe im Verlustkonto der Gesell­ schaft figurire. Dieselbe befindet sich strafend in der Lage des Schiffers, der, um sein Schiff flott zu erhalten, sich genötigt sieht, Wertgegen­ stände über Bord zu werfen. Von diesem Gesichtspunkte aus die überlieferten Strafmaße einer unbefangenen Prüfung und in Folge davon einer wesentlichen Reduktion unterzogen zu haben, ist ein entschiedenes Verdienst der Verfasser des Entwurfs, das sie vorteilhaft von zahlreichen Gesetzgebern unterscheidet, welche es hier wie sonst für legislative Weisheit ansehen, das Über­ kommene (das so vielfach an der Hand des Vorurteils und der Leiden­ schaft Überkommene) unter beliebig geänderten Verhältnissen zu konserviren. Es gehört aus dem Entwürfe insbesondere hierher die Herab­ setzung des Maximums der zeitlichen Zuchthausstrafe und, was als int engen Zusammenhange hiermit stehend zu betrachten ist, die Art, wie das Beurlaubungssystem von ihm aufgenommen worden ist. Jenes Maximum ist auf 15 Jahre festgesetzt. Die Gutachten der zu Rate gezogenen Sachverständigen befürworteten zum Teil, in

170

Autochten übet den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

Übereinstimmung mit der Meinung einiger Regierungskommissare, eine weitere Herabsetzung desselben auf 10 Jahre. Auch sind die dafür geltend gemachten Gründe an sich nicht widerlegbar. Eine Ausdehnung der Hast über 10 Jahre (ja eine solche über 6 Jahre) hinaus fördert im allgemeinen die Zwecke des Pönitentiarsystems nicht, sondern pflegt sie zu vereiteln. Ja schon die sichere Aussicht auf eine solche Dauer der Strafe stellt ihre Erreichung von vornherein in Frage. Daraus «giebt sich nun freilich nicht ohne weiteres die Grenze, bis zu welch« wir in der Reduktion des Strafmaßes zu gehen haben. Wenigstens für alle diejenigen nicht, welche neben der Rücksicht aus den B«brecher noch andere als für die Strafgesetzgebung maßgebend anerkennen. Für diese «giebt sich aus jenen Thatsachen nur, daß das letzte Ziel, welches wir hier anzustreben haben, mit der vom Entwurf vorgeschlagenen Reduktion allerdings lange nicht erreicht sei. Aber wir dürfen uns diesem Ziele jeweilig nicht weiter nähern, als es d« Bestand d« rechtlichen Ordnung verträgt. Wo nun hier in einem gegebenen Momente die Grenze liege, das läßt sich a priori nicht mit Sicherheit bestimmen. Die hierbei maßgebenden Faktoren erscheinen zum Teil, so lange die stagliche Grenze nicht überschritten ist, als latent und damit der Maßbestimmung entrückt. Eine Wahr­ nehmung a posteriori aber setzt Störungen voraus, wie sie die Straf­ gesetzgebung uns gerade soll vermeiden lassen. Daraus «giebt sich, daß wir hier nicht sprungweise, sondern langsam und mit vorsichtiger Prüfung des Bodens, auf den wir treten, voranzugehen haben. Und dies ist die Art, wie im Entwürfe vorangegangen wird. Man scheute sich, von 20 Jahren Zuchthaus — dem Marimum im preußischen Strafgesetzbuch — mit einem Male auf 10 Jahre od« noch weiter herabzugehen, suchte aber auf anderem, minder be­ denklich scheinendem Wege die hi« anzustrebenden Resultate zu erreichen. Als dieser andere Weg erschien der Kommission, wenn ich richtig interpretire, die Einführung eines weitgreifenden Beurlaubungssystems. Die hinauf bezüglichen Bestimmungen des Entwurfs würden im allgemeinen trotz der immer noch hohen Strafsätze die Möglichkeit begründen, Gebesserte zu einer Zeit zu entlassen, wo eine Fortsetzung der Haft das erreichte Resultat wieder in Frage stellen oder sogar sie vollständigem moralischen und körperlichen Ruine zuführen müßte.

Gutachten über den Entwurf eines Strasgesetzduche» f. Norddeutfchland.

171

Daß dieses ein bedeutsames Moment sei, wird man nicht ver­ kennen wollen. Auch darf man nicht sagen, daß damit die Beibe­ haltung höherer Strafsätze völlig bedeutungslos werde. Abgesehen davon, daß diese Beibehaltung einen größeren Spielraum für die Be­ rücksichtigung verschiedener Schuldgrade im richterlichen Urteile gewährt, ist es praktisch nicht einerlei, ob Zuchthaus von 8 Jahren ausge­ sprochen werde oder Zuchthaus von 15 Jahren mit dem Beisatze, daß der Sträfling durch musterhaftes Verhalten sich einen Teil derselben (bis zur Hälfte) in bedingten Urlaub verwandeln könne. Die psycho­ logische Kraft der letzteren Sentenz wird, um von Anderem hier abzusehen, eine weit intensivere sein. Nur aus dem angegebenen Zusammenhange freilich läßt sich die Ausdehnung rechtfertigen, in welcher der Entwurf die Beurlaubung zuläßt. Im Sinne eines allmählichen Überganges nämlich zu niedrigerm Strafsätzen und also nur als eine provisorische Einrichtung. Dagegm läßt sich aus der spezifischen Natur des Beurlaubungssystems eine Rechtfertigung für diese Behandlungsweise nicht gewinnen, und insofern haben Berner (1. c. S. 11) und v. Groß (1. c. S. 472) mit ihren Einwendungen gegen dieselbe Recht. Dieser spezifischen Natur nach dient die Beurlaubung dem edukatorischen Gedanken. Es handelt sich dabei einerseits um eine Einwirkung auf den Sträfling int Interesse sittlicher Haltung und der Befähigung zu selbständiger Führung eines geordneten Lebens, andererseits um eine Prüfung der in dieser Hinsicht erreichten Resultate. Diesen Intentionen aber darf, wenn der Charakter der Strafe nicht verwischt werden soll, kein allzu großer Einfluß auf das Maß der Strafe eingeräumt werden. Auch finden dieselben ihre vollständige Verwirklichung nur in dem Progressivsystem. Daher das in Frage stehende Institut eine dauernd bedeutsame und seiner Natur entsprechende Stellung nur als ein Glied von diesem haben würde. Vgl. v. Groß, 1. c. An jene Herabsetzung des Maximums der zeitlichen Zuchthaus­ strafe knüpft sich die Aufgabe, die sämtlichen Delikte verhältnismäßig an der darin sich begründenden Milderung teilnehmen zu lassm. In dieser Hinsicht dürfte sich manches an den Strafsätzen des speziellm Teils aussetzen, manche Ungleichmäßigkeit rügen lassm. Auch ist die obengerühmte Ökonomie in der Androhung von Strafen nicht überall beobachtet worden. Zur Begründung dieser Behauptung mag einst­ weilen auf Binding, 1. c. Seite 11—42, verwiesen werden.

172

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches s. Norddeutichland.

Zu §§ 11-16. Über die Freiheitsstrafen. Der Entwurf kennt drei nach der Strafanstalt, in welcher sie zu verbüßen sind, und den Modalitäten des Strafvollzugs unterschiedene Freiheitsstrafen: Zuchthaus, Einschließung und Gefängnis. Davon möchte die Einschließung in ihrer Gestaltung und der Anwendung, die von ihr gemacht wird, zu wenig Weiterungen Anlaß bieten. Die Letztere ist eine sehr ökonomische, was, wie mir scheint, zu loben ist. Sie läßt sich, wenn ich nicht irre, nur solchen Verbrechensarten gegenüber rechtfertigen, deren besondere Natur eine klare und greifbare Begründung für die Verhängung einer „Anstands­ strafe", wie sie in der Einschließung gegeben ist, enthält. Das ist aber nur bei wenigen Arten der Fall. Daher ist dem Johnschen Vorschlage «Entwurf zu einem Straf­ gesetzbuch . . S. 78 f.) nicht beizutreten, wonach die Einschließung wenigstens alternativ bei allen Verbrechensarten zu drohen wäre, welche nicht lediglich unter der Voraussetzung einer gemeinen Gesinnung be­ gangen werden könnten. Dabei ist übersehen, daß sich kaum eine Verbrechensart bezeichnen läßt, welche nicht unter irgend ivelchen Komplikationen auch von einem nicht gemeinen Menschen begangen werden könnte. Jedenfalls würde ein Bedürfnis zu solcher Hand­ habung der Einschließung nur vorliegen, wenn die übrigen Freiheits­ strafen in ihrer Anwendung schlechthin auf die fragliche Voraussetzung gestellt wären. Daß dies im Entwürfe nicht der Fall sei, braucht nicht hervorgehoben zu werden. Es ist ein Vorzug von ihm, daß er selbst das Zuchthaus von dieser Voraussetzung gelöst hat. Noch weniger würde es sich empfehlen lassen, diese custodia honesta auf die mögliche Individualität nicht der Verbrechensfälle, sondern der Verbrecher zu beziehen, wie es anderswo geschehen ist. Wo eine Strafart sich solchergestalt von dem Charakter der That loslöst und in dem Thäter den Maßstab ihrer Gestaltung sucht, da wird sie kaum den Schein eines gehässigen Privilegiums vermeiden können. Duellanten mit Rücksicht auf die Beurteilung, welche das Duell in der öffentlichen Meinung noch immer erfährt, mit einer AnstandSftrafe zu belegen, das wird Niemandem anstößig erscheinen; einen ChorinSky dagegen mit Rücksicht auf seine Personalien damit zu bedenken, das wird sich auch dem verständigen Teile der Bevölkerung

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

173

nicht sinngerecht machen lassen. DaS aber ist die bedenklichste Art der Jndividualisirung, die sich von einer Begünstigung der »nobiliores« nur mit den Mitteln der Schule unterscheiden läßt. Die Art, wie das Verhältnis der Einschließung zum Gefängnis in den W 1 und 16 festgestellt ist, schließt einen handgreiflichm Widerspruch in sich. — Eine eingehende Prüfung verdient dagegen das Verhältnis, in welchem Zuchthaus und Gefängnis im Entwürfe zu einander stehen. Mancherlei Gesichtspunkte können zu einer Unterscheidung ver­ schiedener Arten von Freiheitsstrafen Anlaß geben, und wir würden, Allen Rechnung tragend, hier unfehlbar zu einem sehr komplizirten Systeme gelangen. Aber es fehlt hierzu an einer wesentlichen Bedingung, nämlich an der Möglichkeit, unverwerfliche Unterscheidungsmerkmale für die verschiedenen Haftarten zu finden. Wir haben daher den oder die wichtigsten unter den möglichen Einteilungsgründen mit Sorgfalt auszuwählen. Welche Wahl nun hat der Entwurf getroffen? Wie mir scheint, hat er keinen von jenen Gesichtspunkten verworfen, aber auch keinen konsequent zur Geltung gebracht. Und wir dürften hierin eine Frucht der Dreiteilung zu finden haben. Es lassen sich hier die folgenden Momente unterscheiden: a) Die verschiedene Schwere der Berbrechensarten. Auf dieses Moment wird man zunächst geneigt sein, die Unter­ scheidung von Zuchthaus und Gefängnis im Entwurf zu beziehen. Darauf weist u. a. die Charakterisirung der beiden Strafarten in den 88 12 und 14 und entschiedener noch das Wertverhältnis hin, in welches 8 16 sie zu einander setzt. Nun kann man zweifelhaft sein, ob ein Bedürfnis vorliege, mit Rücksicht auf bloß quantitative Unterschiede verschiedene Arten von Freiheitsstrafen einzuführen. Auch bleibt es zweifelhaft, ob der Gesetz­ geber seine Intentionen mit einer solchen Unterscheidung unter den gegebenen Bedingungen überall erreiche. Wenn, nach dem Zeugnisse von Valentinis (das Verbrechertum im preußischen Staate, S. 140), die meisten Sträflinge in Preußen das Zuchthaus dem Gefängnisse vorziehen, so zeigt dies, daß das Unterscheidungsmerkmal, worauf im Gesetze hauptsächlich Gewicht gelegt ist, wenigstens im Bewußtsein der Sträflinge nicht zur Geltung gekommen sei. Dies läßt seine Bedeutung aber als eine sehr problematische erscheinen.

174

Butschten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Rorddeutschland.

Sei dem jedoch, wie ihm wolle. Jedenfalls wird man fordern müssen, daß man das Einteilungsprinzip, von dem man bei der Unterscheidung des Zuchthauses von dem Gefängnisse ausgeht, bei der Normirung der beiden Hastarten im Auge behalte. Liegt nun jenes hier in der verschiedenen Schwere der zur Bestrafung zu ziehenden Delikte, so wird man vor allem fordern müssen, daß dies in dm Maximal- und Minimalsätzen bei beiden Freiheitsstrafen hervortrete. Dies ist aber nicht der Fall, wenn, wie im Entwürfe, das Zucht­ haus bis auf ein Jahr herabsteigt, das Gefängnis dagegen bis auf 5 Jahre und ausnahmsweise sogar bis auf 15 Jahre (§ 50,2) in die Höhe. Darin ist vielmehr das stagliche Einteilungsprinzip ge­ radezu verlmgnet. Denn es liegt darin offenbar, daß Gefängnis für Deliste in Anwendung kommen solle, welche weitaus schwerer sind als andere, welche mit Zuchthaus bedroht sind, daß also hinsichtlich der Anwendung der einen oder anderen Freiheitsstrafe hier die Schwere der zu strafenden Deliste als gleichgiltig zu behandeln sei. Dem fraglichen Einteilungsgrunde entspricht allein die Art, wie Gefängnis und Zuchthaus im Johnschen Entwürfe behandelt werden. Das Gefängnis muß mit seinem Maximalsatze so weit, aber nicht weiter, reichen, daß sich zwischen ihm und den Minimalsätzen des Zuchthauses keine Lücke hinsichtlich der Gradationen der Strafe ergiebt. Es wäre also das Gefängnis etwa bis auf 3 Jahre hinauf-, das Zuchthaus bis auf 2 Jahre herabgehen zu lassen. (John 1. c. S. 83 flg., 96 flg.). Daß sich in Preußen, worauf in den Motiven Bezug genommen wird, daS Bedürfnis einer Herabsetzung des Minimalsatzes des Zucht­ hauses auf ein Jahr herausstellte, findet seine Erklärung einzig und allein in dem festen Zusammenhange, in welche diese Strafart mit der Kategorie der „Verbrechen" gebracht war, also in dem Einfluß der Schablone. Der Entwurf hat diesen Zusammenhang gelockert, ohne ihn vollständig aufzugeben, und an diese Halbheit knüpft sich der in Frage stehende Widerspruch. b) Das verschiedene Verhältnis der Berbrechens­ arten zu den Ehrenrechten. Die Zuchthausstrafe ist in Preußen wie anderswo die spezifisch entehrende Freiheitsstrafe. Im Entwurf ist dies insofern geändert, als er mit der Verurteilung zu Zuchthaus nicht mehr allgemein den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verknüpft. Doch hat er sich von der hier vorhandenen Tradition nicht voll-

Gutachten übet den Entwurf eine- Strafgesetzbuch«» f. Rordbeutschlanb.

175

ständig losgemacht. Dies tritt nicht bloß darin hervor, daß wenigstens die zeitweilige Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter nach ihm eine Selbstfolge der Verurteilung in Zuchthausstrafe fein soll, sondem auch in der Art und Weise, wie daS Strafmittel im einzelnen gehandhabt wird. Hierher gehört es z. B., wenn beim Vorhandensein mildernder Umstände nicht auf einen geringeren Satz der Zuchthaus­ strafe, sondem auf Einschließung oder Gefängnis herabgegangen werden soll. Aber frellich würde die Rücksicht auf dm infamirendm oder nicht infamirmden Charakter der That — wenn man ihr hier zur Geltung verhelfen wollte — eine ganz andre Normimng der fraglichm Freiheits­ strafen fordern, als sie ihnen im Entwurf zuteil wird. Ihr mtspricht die Art, wie das Verhältnis derselbm u. a. in Lübeck und Sachsen festgestellt wurde, da das Jnfamirende der That mit ihrer Schwere nicht zusammenhängt. Sollte man daher darauf zurüÄommen — was, wie weiterhin zu zeigm sein wird, ein trauriger Rückfall wäre —, bei der Scheidung von Zuchthaus und Gefängnis die Ehrenfolgen der Delikte zu ver­ werten, so würde man dem Gefängnis die gleiche Ausdehnung zu geben haben wie dem Zuchthaus. Man würde ferner die Beziehung des letzteren auf eine besondere Schwere der Delikte fallm zu lassen haben. Damit aber würde es sich schwer vereinigm, das Zuchthaus als eine spezifische „Berbrechensstrafe" festzuhalten. Bemer macht dm Vorschlag, dem Zuchthaus, das nach ihm den infamirmden Charakter beibehalten soll, eine nicht infamirende „Zwangsarbeit" an die Seite zu setzen (Kritik, S. 14). Aber die Gründe, welche ihn dm „Verbrechen" gegenüber hierzu bestimmen, wiederholen sich dm „Ver­ gehen" gegenüber. Er wird daher von seinem Standpunkte aus konsequenterweiser zu einem sehr komplizirtm Strafensysteme ge­ langen müssen, etwa zu einem solchen, wie es sich im öster­ reichischen Entwürfe von 1867 findet. Die Mängel eines solchm sind in meiner Kritik dieses Entwurfs (vergl. obm S. 22 ff.) näher dargelegt wordm. Im übrigen siehe in Betreff der Ehrenfolgen die Bemerkungen zu § 25. c) Die verschiedenen im Strafvollzüge zu lösenden Aufgaben. Die unter a und b besprochenen Einteilungsgründe beziehen sich auf die Natur der zu bestrafenden Delikte. Hier nun haben wir es mit einem Momente zu thun, welches sich auf die

176

Gutachten übet den Entwurf eines Strafgesetzbuches s. Norbdeutfchlanb.

verschiedene Natur nicht der Übelthaten, sondern der Übelthäter bezieht. Unter diesen läßt sich eine große Zahl von Individuen aus­ sondern, welche einer nachbessernden, sittlichen Zucht sowohl in ihrem Interesse wie in dem der Gesellschaft zu unterziehen sind. Es gehört dahin insbesondere das habituelle im Gegensatz zu dem sogenannten „zufälligen" oder „Gelegenheits-Verbrechertum". Bei diesem letzteren tritt das edukatorische Moment im Strafvollzüge natürlich zurück. Derselbe befindet sich bei ihm geringeren Ausgaben gegenüber und kann daher eine andere Gestalt als jenem habituellen Berbrechertume gegenüber annehmen. Grund genug, ihn in besondere Anstalten zu verlegen. Wollen wir anders mit dem Prinzip der Jndividualisirung int Strafvollzüge Ernst machen, so werden wir mit einer solchen Scheidung der Strafanstalten mit Rücksicht auf die verschiedenen Aufgaben, die in denselben zu lösen sind, voranzugehen haben. Für eine Berücksichtigung dieser Verschiedenheit bei der Charakterisirung der verschiedenen Freiheitsstrafen ist in dem Maße Spielraum gegeben, als die unter a und b besprochenen Ge­ sichtspunkte hier in ihrem Einflüsse zurücktreten. Dies Letztere aber geschieht im Zusammenhange mit einem durchaus normalen Entwick­ lungsprozesse, auf welchen im weiteren zurückzukommen sein wird. Der Gedanke, das oben bezeichnete einer sittlichen Zucht bedürftige Verbrechertum dem Zuchthause zuzuweisen, ist nicht neu. Weist doch der Name dieser Strafanstalt schon auf ihn hin! Aber er ist, wenn ich nicht irre, nirgends zu vollständiger Verwirklichung gekommen. In Preußen ist er bei Gelegenheit der Vorberatungen zum Straf­ gesetzbuch mehrfach aufgetaucht, aber das Letztere verleugnet ihn in seinem Strafensystem durchaus. Dagegm weist die Gestaltung des Straf­ vollzugs in den preußischen Zuchthäusern im Gegensatz zu derjenigen in den Gefängnissen mit Bestimmtheit auf ihn hin. Als maßgebend anerkannt ist er u. a. auch bei John (1. c. S. 82 flg ). Allein die Behandlung, welche dem Zuchthause in seinem Entwürfe zuteil wird, steht damit in sehr wichtigen Punkten im Widerspruch. Auch bei John ist das Zuchthaus in wesentliche Beziehung zu den schwereren Delikten gebracht (1. c. S. 83). Ja seine Abgrenzung dem Gefängnis gegenüber ist ausschließlich durch diese Rücksicht bestimmt. Dies würde aber dem vorangestellten Gedanken nur entsprechend sein, wenn die Frage nach dem Bedürfnis methodischer Zucht bei einem Verbrecher identisch wäre mit der Frage nach der Schwere seines Verbrechens,

Gutachten übet den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norbbeutfchlanb.

177

während in Wahrheit zwischen beiden Fragen kein Zusammenhang besteht. Jene- Bedürfnis tritt am entschiedensten bei Anfängern und im Bereich der gewinnsüchtigen BermögenSverbrechen hervor. Mördern und Totschlägern gegenüber wird dagegen meist eine edukatorische Gestaltung des Strafvollzugs jedes Sinnes entbehren. Die beiden hier vermengten Einteilungsgründe vertragen sich daher eben so wenig mit einander, wie die unter a und b charakterisiern. Im Entwürfe ist der uns beschäftigende Gedanke völlig unbeachtet geblieben. Der Umstand, daß im Gefängnisse nach § 14 ein größerer Spielraum für eine individualisirende Behandlung eingeräumt sein soll als im Zuchthause, daß ferner das Gefängnis die normale Strafart für die gewinnsüchtigen Eigentumsverbrechen bilden soll, sowie daß jugendlichen Verbrechern gegenüber dem Gefängnis der Vorzug gegeben ist, könnte auf dm Gedankm führm, daß jme methodische Zucht grade im Gefängnisse im Gegmsatze zum Zuchthaus ihre Stätte finden solle. Aber damit steht vieles Andere in evidentem und keines Nachweises bedürftigem Widersprüche. Das Resultat ist, daß man bei der Normimng der in Frage stehenden wichtigsten Sttafmittel keinen der besprochenen Gesichtspunkte zur Richtschnur genommen habe. Aber es dürfte sich kein anderer bezeichnen lassen, der hier auf Beachtung Anspruch hat. Gleichwohl ist man bei dieser Normirung von einem sehr be­ stimmten Gedanken ausgegangen. Man bedurfte einer besonderen Freiheitsstrafe für „Verbrechen" und einer besonderen für „Vergehen", wenn anders die Scheidelinie zwischen diesen fikttven Gattungen von Delitten deutlich gezogen werden sollte. Da nun diese Scheidung auf keinem Prinzip beruht, da bei ihr weder die Rücksicht auf den infamirenden Charakter der Delikte noch die auf die verschiedenen Aufgaben des Sttafvollzugs, noch selbst die auf die verschiedene Schwere der strafbaren Handlungen oder irgend eine rationelle Rücksicht zur Geltung gekommen ist (vgl. hierüber nun auch Binding 1. c. S. 46 ff.), so ist auch die damit verknüpfte Scheidung der Freiheitsstrafen prinziplos. Dafür ttiumphirt die Schablone. Zu § 17. Über das System der Strafverbüßung. Die Kommission hat wohl erkannt, daß es an der Zeit sei, zur Frage der Reform des Sttafvollzugs und in specie der Einführung der Einzelhaft mdlich auch in der Gesetzgebung Stellung zu nehmm. Merkel, A., Gesammelte Abhandlungen.

178

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

Allein ob dies mit den §8 17 und 18 des Entwurfs in befriedigender Weise geschehen würde, das möchte sich in Zweifel ziehm lassen. Der § 17 sanktionirt im Grunde nur den bisherigen faktischen Zustand. Es soll die Zulässigkeit der Einzelhaft, die bisher unabhänigig von ihrer gesetzlichen Anerkennung behauptet wurde, nun gesetzlich ausge­ sprochen werden. Irgend welche Garantien dafür, daß auf dem Wege der Reform in sachgemäßer und einheitlicher Weise nun wirklich vor­ angegangen werde, bietet er nicht. Unabhängig davon aber möchte jenes formelle Zugeständnis nur wenig Wert habm. Nicht das, was geschehen „kann", sondern das, was geschehen „soll", wäre heute zu bestimmen. Es handelt sich dämm, eine einheitliche Bewegung auf diesem Gebiete der Reform zu veranlassen und die Wege gesetzlich zu bezeichnen, in welche dieselbe einzulenken hat. Allerdings scheint es nicht wesentlich, daß betreffende fundamentale Bestimmungen gerade einen Teil des Strafgesetzbuchs bilden, wiewohl sie hier in ihrem natürlichen Zusammenhange stehen würden. Auch ist die Forderung selbstverständlich nicht aufzustellen, daß auch das Detail des Strafvollzugs einer gesetzlichen Regelung unterzogen werde. Letzteres schon darum nicht, weil man die hier gestellten Aufgaben nur allmählich, unter jeweiliger Benutzung von Mitteln und Umständen und gemachten Erfahrungen zu einer vollständigen Lösung bringen kann. Das Wesentliche ist, daß die Grundlinien des zu realisirenden Systems von der Bundeszentralgewalt im gesetzlichen Wege und gleich­ zeitig mit der Bearbeitung des Strafgesetzbuchs festgestellt werden. Das Letztere, damit das System der Strafandrohungen in Einklang gebracht werden könne mit dem System des Strafvollzugs. Wem diese Gleichzeitigkeit gleichgiltig oder gar unzweckmäßig erscheint, der übersieht, daß die Ordnung in jenem und die in diesem Gebiete sich nicht indifferent zu einander verhalten können, daß wir hier entweder Übereinstimmung oder schädlichen Widerspruch haben werden, und daß wir auf die erstere nur rechnen können, wenn wir ihre Bedingungen von Anfang ins Auge soffen. Eine einfache Erwägung kann dies deutlich machen. Schwerlich wird man in sämtlichen Strafanstalten da- gleicht System einführen. Man wird vielmehr, das ist mehr als wahrscheinlich, im Zuchthause den Strafvollzug zum Teil nach anderen Gesichtspunkte» einrichten als im Gefängnisse. Dies würde nun aber nach der Be-

Gutachten über den Entwurf

eines Strafgesetzbuches f. Rorddeutfchland. 179

Handlung von Zuchthaus und Gefängnis im Entwürfe die auffallendsten Unzuträglichkeiten mit sich führen. Einfach darum, weil man bei der Androhung von Zuchthaus und Gefängnis an das in beiden zur An­ wendung kommende System und dessen psychologische Voraussetzungen nicht gedacht hat. Auch sage man nicht, daß man ja den Strafvollzug in den unterschiedenen Strafanstalten den Gesichtspunkten anpaffen könne, nach welchen im Entwurst die Delinquenten dem Zuchthause und bezw. dem Gefängnisse zugewiesen werden. Denn dies ist nach der Natur dieser Gesichtspunkte einfach unmöglich. Man bedroht mit jenem die „Verbrechen", mit diesem die „Vergehen". Es zeigen aber jene so wenig wie diese einen einheitlichen psychologischen Charakter, und ebenso wenig besteht zwischen diesen und jenen ein bestimmter psychologischer Unterschied. Die Rücksichten, welche bei einer ver­ schiedenartigen Gestaltung des Strafvollzugs maßgebmd sein können, sind bei der Unterscheidung der Delikte und folgeweise der Strafanstalten im Entwürfe in keiner Weise berücksichtigt worden. Es wird sich daher die in den letzteren einzuführende Behandlungsweise der Delin­ quenten einem Teile von diesen gegenüber notwendig als willkürlich und unangemessen erweisen. Es ist auffallend, daß es noch motivirt sein kann, an die Mög­ lichkeit und das Bedenkliche eines Widerspruchs zwischen den für das Strafgericht und den für den Strafvollzug aufzustellenden Normen zu erinnern, nachdem dieser Widerspruch in der Wirklichkeit seit lange in den schädlichsten Wirkungen zu Tage getreten ist. Man lese v. Balentinis Mitteilungen über das Verhältnis von Zuchthaus und Gefängnis in Preußen und die daran sich knüpfenden Übelstände, und man wird diese Wirkungen vor Augen haben. Aber freilich auch im Gebiete der Doktrin sind die hier zu stellenden Forderungen nicht völlig zum Bewußtsein gekommen, wie u. a. der Entwurf von John zeigen kann. Derselbe will das Progressivsystem nur im Zuchthause zur Anwendung gebracht haben, während er doch zahlreiche Kategorien von Delinquenten, für welche dieses System speziell als passend erscheint, mit Gefängnis bedroht und umgekehrt solche, in Bezug auf welche dasselbe keinen Sinn hat, mit Zuchthaus. Letzteres ist eben auch bei ihm die Strafe für schwere Delikte, eine Qualifikation, die mit dem für dasselbe proponirten System der Strafverbüßung einfach nichts zu thun hat. Auch nach diesem Entwürfe würde es, wie gegenwärtig in praxi, der normale Verlauf sein, daß die Anfänger im Verbrechen

180

Butschten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches s. Norddeutschland.

unter dem Einflüsse des für das Gefängnis angenommenen Systems zu unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechern heranreifen, um dann, nachdem es zu spät ist, unter den Einfluß des int Zuchthaus durch­ geführten Pönitentiarsystems gebracht zu werden. Der Entwurf hat den Fehler vermieden, die Einzelhaft nur im Zuchthause für anwendbar zu erklären. Da er aber nichts vorschreibt, sondern nur gestattet, so giebt er keine Gewähr dafür, daß an jenen bisher vorhandenen Widersprüchen etwas geändert werde. Aber es ist bis dahin nur eine Einzelheit besprochen worden. Noch in anderen Beziehungen erweist es sich als nachteilig, wenn bei der Beratung des Strafgesetzbuchs auf ein anerkanntes System der Strafverbüßung nicht Bezug genommen werdm kann. So bei der Normirung der bedingten Entlastung (s. die Bemerk, zu § 19), der Polizeiaufsicht u. s. w. Es wird uns nicht gelingen, ein jedes der strafrechtlichen Institute in seinen natürlichen Zusammenhang zu bringen und überall hier auf realen Boden zu kommen, so lange wir nicht mit der Reform des Strafvollzuges Ernst machen und unS auch hier eine feste und gesetzliche Basis erringen, und so lange wir nicht den Abschnitt von den Strafen, sowie den gesamten speziellen Teil des Strafgesetzbuchs in beständigem Hinblick auf die dort legalisirten Grundsätze bearbeiten. Als ein anderes Ergebnis aber aus dem Bisherigen möchte ich den Satz aufstellen, daß die Unterscheidung verschiedener Strafanstalten im Strafgesetze mit genauer Beziehung auf die Gesichtspunkte zu erfolgen habe, welche für die Gestaltung des Strafvollzugs verschiedenen Kategorien von Sträflingen gegenüber aber maßgebend erscheinen. Vgl. die Bemerk, zu § 11 bis 16, unter c. Im Übrigen liegt es mir fern, über diese Gestaltung hier eingehendere Vorschläge zu machen. Man hat des Materials und der Sachverständigen genug zur Hand, um, wenn man will, ein umfasiendes Reformprogramm sofort zu Stande zu bringen. Über die Art, wie man für die Verwirklichung eines solchen einen praktstchen Ausgang gewinnen könne, sind u. a. von Frhn. v. Groß wieder­ holt beachtenswerte Vorschläge gemacht worden (1. c. S. 474 u. s. tu.). Zu § 25. Über die Ehrenfolgen der Delikte. Sehr bedeutsam sind die Bestimmungen des Entwurfs über die Ehrenfolgen der Delikte. Sie gehören zu denjenigen, welche einen

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

181

wesentlichen und lebhaft zu begrüßenden Fortschritt über das preußische Straftecht hinaus mchalten. Möchte man dabei beharren, auch wenn es Proteste dagegen regnen sollte. Die Beseitigung des Verlustes der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit und die Beschränkung der Suspension der bürgerlichen Ehrenrechte hinsichtlich ihrer Dauer und hinsichtlich der dapon betroffenen Rechte wird wohl kaum einer ernstlichen Opposition (vgl. jedoch Meyer, Beurteilung des Entwurfs . . . S. 23) begegnen. Anders die Loslösung dieser Ehrenfolgen der Delikte aus der festen Verbindung mit dem Zuchthause, in welcher sie sich im geltenden Rechte finden. Bereits haben sich achtbare Stimmen gegen diese Loslösung aus­ gesprochen, denen aller Wahrscheinlichkeit nach sich andere, mutmaßlich auch im Reichstage, anschließen werden. Und doch handelt es sich gerade hierbei um einen wesentlichm Schritt auf dem Wege zu einem rationellen Strafsysteme. Daher wird es wohl gerechtfertigt sein, hier für den Standpunkt des Entwurfs mit kurzen Ausführungen einzutreten. Die feste Verknüpfung des Verlustes der bürgerlichen Ehrenrechte mit gewissen Arten der Freiheisstrafe (eine Verkoppelung zweier unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten zu be­ trachtender Strafmittel) gehört demselben Standpunkte an, wie die oben charakterisirte Dreiteilung der Delikte, und findet daher dieselbm Vertreter. Wie bei dieser eine Handlung eine bestimmte Freiheits­ strafe nach sich zieht, nicht weil sie ihrer individuellen Natur nach gerade auf diese hinweist, sondern weil sie diesseits oder jenseits der Linie liegt, welche zwischen „Verbrechen" und „Vergehen" künstlich hergestellt ist, so verknüpfen sich dort gewisse Ehrenfolgen mit der Handlung, nicht weil sie ihrem individuellen Gepräge nach auf eine gemeine Gesinnung hinweist, sondern weil sie (auf Grund ganz anderer Merkmale) mit der Zuchthausstrafe bedroht ist. Hier wie dort tritt zwischen den Charakter der Handlung und die rechtliche Folge — die Vergleichung erschwerend, den etwaigen Widerspruch zwischen jenem und dieser verdeckend — die Schablone. Der ausgezeichnete Diebstahl ist ex. c. im preußischen Strafgesetz im Gegensatze zum nicht ausgezeichneten mit dem Verluste der bürger­ lichen Ehrenrechte nicht um deswillen verbunden, weil er an sich infamirender wäre als der letztere (was durchaus nicht der Fall ist), sondern weil er mit Zuchthaus, der nicht ausgezeichnete dagegen nur

182 Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches s. Norddeutschland. mit Gefängnis bedroht ist; und er ist mit Zuchthaus bedroht, nicht deshalb, weil der Strafvollzug in diesem irgend eine spezifische Be­ ziehung hätte auf die in der Diebstahlsqualifikation zum Ausdruck kommende Gesinnung (was nicht der Fall ist), sondern weil der aus­ gezeichnete Diebstahl „Verbrechen" ist.

Was aber ein „Verbrechen"

im Gegensatze zu bloßen „Vergehen" sei, das weiß

das Volk nicht

und wifien die Sträflinge nicht, deren Schicksal durch diese Begriffe bestimmt wird (v. Balentini, 1. c. S. 141 ff.).

Die Strafe ist hier

von der That durch zwiefache undurchsichtige Mittelglieder getrennt. Und zu welchem Endzwecke?

Das ist nicht leicht zu sagen.

Gewiß

scheint nur, daß ein Enthusiasmus für die Schablone existirt, der den Beweis ihrer Nützlichkeit oder Notwendigkeit, so oft er auch gefordert werde, beharrlich überspringt. Dieser Schablone gegenüber gilt es, der Natur der Sache zu ihrem Rechte zu verhelfen. Nicht weil jene uns zufällig aus Frankreich überkommen ist, sondern weil ihre Herrschaft eine niedere Stufe der Gesetzgebung charakterisirt. Aber der Gegensatz, mit dem wir es hier zu thun haben, läßt sich vielleicht noch in anderer Weise präzisiren. Zugunsten jener festen Verknüpfung der Ehrensolgen mit bestimmten anderweitigen Verbrechens­ folgen und in specie mit dem Zuchthause wird vorzugsweise geltend gemacht, wie auch die Motive hervorheben, daß in der Meinung des Volkes die Ehrlosigkeit sich an die Strafanstalt knüpfe. Und in der That ist die Masse stets geneigt, sich in ihrem Urteile und Verhalten statt nach der Ursache vielmehr nach der mehr oder minder zufälligen Folge zu richten, Jemanden mit Steinen zu bewerfen, nicht weil er gefehlt hat, sondern weil er verurteilt wurde, nicht weil er Verbrecher, sondern weil er Sträfling ist, nicht weil er ein ehrloser Mensch ist, sondern weil er so heißt.

Aber zu allen

Zeiten hat sich der Standpunkt der Gebildeten im Gegensatze hierzu durch den Corneilleschen Satz charakterisirt: .,Le crime fait la honte et non pas Pechafaud.“ Welchen Standpunkt nun soll hier der Gesetzgeber einnehmen, den der Gebildeten oder den der Masse?

Der österreichische Gesetz­

geber des 18. Jahrhunderts war hier überall nicht im Zweifel. Die Meinung des Volkes, welche seit lange die Verhängung der Spezial­ untersuchung als infamirend betrachtete, veranlaßte ihn nicht, dieselbe nun auch gesetzlich mit diesem Charakter zu bekleiden. Vielmehr stellte

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Rorddeutfchland.

183

er ihr die richtige Meinung der Gebildeten mit Entschiedenheit ent­ gegen. Und ebenso hielt er es bezüglich des Zuchthauses. Der Gesetz­ geber des 19. Jahrhunderts hielt es für weiser, jenen Kampf nicht aufzunehmen und auf diesem wenig erhellten Gebiete die „ewig Blinden" zu Führern anzunehmen. Freilich behauptet man, daß es dem Gesetzgeber nicht getingen werde, die vulgäre Meinung, indem er sich ihr entgegenstemmt, zu korrigiren. Allein ein Anderes ist es, ein Faktisches, das sich nicht ändem läßt, eben deshalb bestehen zu lassen, ein Anderes, es mit dem Schein einer höheren Berechtigung zu bekleiden; ein Anderes, das bestehende Vorurteil im gesellschaftlichen Leben seine Wirkungen äußern zu lassen, ein Anderes, es in Gesetzesparagraphen zu redigiren. Wir befinden uns hier inmitten einer Entwicklung, welche nicht Allen, die an ihrer Fortführung teilhaben, in ihren Ausgangs- und Zielpunkten vollkommen deutlich zu sein scheint. Es sind nicht viele Menschenalter vorüber, daß man im Gebiete der Strafjustiz allen Nachdmck auf die plastischen Exempel legte, die man an den Verbrechem in möglichster Mannigfaltigkeit statuirte, auf die wohl besetzten Galgen, welche die Landstraßen zierten, auf das Schaugepränge der öffentlichen Hinrichtungen und auf das Volksvergnügen öffentlicher Beschimpfungen. Man befand sich durchaus im Einklänge mit den Neigungen und Anschauungen einer unzivilisirten Menge. Der Standpunkt der staat­ lichen Gewalt ragte über den der „ewig Unmündigen" nicht um eines Gedankens Breite hinaus. Wir haben uns im Laufe der Zeit von diesem Standpunkte weit genug entfernt. Ich unterlasse es, die Stationen des Weges, den wir zurückgelegt haben, hier zu bezeichnen. Auch heute freilich lenken wir die Aufmerksamkeit auf ein öffent­ liches Schauspiel, aber ein Schauspiel anderer Art wie ehemals. Nämlich auf die richterliche Verhandlung, auf die unter den Augen und unter Mitwirkung des Volkes erfolgende Feststellung der Wahr­ heit und auf die in der Subsumtion unter das Gesetz gegebene öffentliche Charakterisirung der That. Hier soll das in seinen Ordnungen ver­ letzte Volk seine Genugthuung finden: in der Gewißheit, daß diese Ordnungen sich behaupten, daß der sich gegen sie Auflehnende der Demütigung nicht entgehe, daß er vergeblich seine Willkür an die Stelle des Rechts zu setzen versuche.

184

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Rorddeutfchland.

Der Strafvollzug zieht die Konsequenzen des richterlichen Urteils und gewährleistet den Ernst jenes Schauspiels. Zugleich dient er edukatorischen Zwecken den Sträflingen gegenüber. Dagegen will er dem Volke weder wie ehemals ein in die Sinne fallendes Exempel, noch in dem Gezüchtigten, als einem wandelnden Denkmale geübter Rache, eine Augenweide bieten. Es soll der Verbrecher nicht mehr durch die Strafe den Leidenschaften und Vorurteilen der Menge — wie es ehedem nicht bloß mit dem Gebrandmarkten geschah — als ihr öffentlich gezeichnetes Opfer überliefert werden. Vielmehr suchen wir denselben ihrer Macht und den demoralisirenden Wirkungen ihres Einflusses durch mancherlei Mittel und Wege zu entziehen. Die Gesellschaft soll fortan dem Bestraften als ein versöhnter Gegner, der bereit ist, das Andenken der That in seinem Gedächtnisse auszulöschen, nicht als ein unversöhnlicher, ihm seine That beständig vorrückender und dem Aufbau eines geordneten Lebens mit allen Mitteln entgegen­ wirkender Feind erscheinen. Nur im Bereich der Ehrenstrafen soll nach Vielen die Gestaltung des Strafvollzugs nach jenen Vorurteilen sich richten, werden die Pflichten des Gesetzgebers noch aus den Neigungen der Menge gefolgert. Diesen entspricht es nicht, zu individualisiren, es ist bequemer für sie, sich an Schablonen zu halten, den „Verbrecher" und, noch besser, den „Zuchthäusler" als infam traktiren zu können. Darin nun will man das Volk nicht irre gemacht haben. Man hält es für überaus wichtig, daß ihm seine Opfer nicht entzogen werden, und weil dies allerdings leicht geschieht, wenn wir die Straffolgen gleichsam zersplittern und insbesondere die Infamie aus dem populären Zusammenhange der äußeren Anstalt lösen, in welcher die sonst verwirkte Strafe verbüßt wird, so hält man ein derartiges Vorgehen für einen großen legis­ lativen Mißgriff. Das aber ist eine Argumentation, wie sie in den Zusammenhang unserer heutigen Strafjustiz nicht paßt. Überhaupt aber haben sich auf diesem Gebiete, wie in einem vergessenen Winkel, die Elemente erhalten, aus welchen sich die Apparate des „peinlichen" Rechts von ehedem und bezw. die Anschauungen, die es beherrschten, zusammensetzten. Der Entwurf aber bewegt sich mit seinen Reformvorschlägen unverkennbar auf der Linie der eben angedeuteten Entwicklung. Dahin gehört es, wenn er die Infamie von der Todes- und Zuchthausstrafe loslöst, wenn er den lebenslänglichen Verlust der Ehrenrechte über

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

185

Bord wirst, die Dauer ihrer Suspension verkürzt u. s. w. Ob er steilich das hier aufzustellende Ziel erreiche, das ist eine andere Frage, worüber weiter unten. Vielleicht aber sind es ganz außerhalb des Gedankenkreises, in welchem wir uns bis jetzt bewegten, liegende Rücksichten, welche manche so eifrig für eine Verknüpfung der Ehrenfolgen mit bestimmten Straf­ anstalten — um hierauf noch für einen Moment zurückzukommen — eintreten lassen? Fordert etwa der Strafvollzug gegenüber von Sträflingen, denen die Ehrenrechte aberkannt sind, eine besondere Gestaltung? Die meisten Vertreter jener Verbindung haben sich diese Frage, wie es scheint, gar nicht aufgeworfen. Nur v. Valentini sucht für diejenigen Gefängnissträflinge, welchen die Ehrenrechte aberkannt sind, eine besondere Einrichtung des Strafvollzugs zu begründen (1. c. § 21). Allein das Progressivsystem, welches er für dieselben aufstellt und in Gefängnisien zweiter Klasse ausgeführt haben will, entspricht genau demjenigen, welches er in den „Zuchthäusern" (die bei ihm von den „Strafanstalten" unterschieden werden) für das Gewohnheits­ verbrechertum vorschlägt, und welches in dem Charakter dieses Letzteren eine unbestreitbare Begründung findet (1. c. § 22). Nun ist aber das Gewohnheitsverbrechertum keineswegs identisch mit dem In­ begriff derjenigen, deren Handlungen auf eine infame Gesinnung hin­ weisen. Und zwar ebensowenig im Bereich der „Verbrechen", wie in dem der „Vergehen". Der Mord z. B. gilt uns als infamirend. Aber der Mörder gehört deshalb nicht zum Gewohnheitsverbrechertum. Eine aus Haß gegen eine bestimmte Persönlichkeit ausgestreute Ver­ leumdung weist bei dem Thäter auf eine gemeine Gesinnung hin, aber zum Gewohnheitsverbrecher wird er dadurch nicht gestempelt. Daraus aber folgt, daß eine Einrichtung, welche in den psycho­ logischen Eigentümlichkeiten des Gewohnheitsverbrechertums ihre Be­ gründung findet, für die Kategorie der Ehrlosen als solche keine spezifisch passende sein könne. Dies Letztere ist bezüglich des Progressiv­ systems leicht einzusehen. v. Valentini behauptet allerdings, daß das Gewohnheitsver­ brechertum sich aus der Kategorie der Ehrlosen rekrutire, also daß der Keim zu jenem in diesen vorliege. Und es scheint seine Meinung, daß die Entwicklung dieses Keimes durch dieselben Einrichtungen zu hindern sei, durch welche wir den entwickelten zu unterdrücken suchen.

186

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches s. Rorddeutschland.

Allein wenn dem so wäre, so würden auch in die „Zuchthäuser" v. ValentiniS die sämtlichen Ehrlosen (ich denke hier natürlich an die infamia facti, nicht an die mit der Psychologie in keinem Zusammen­ hange stehende Infamie des preußischen Strafrechts) aufzunehmen sein, was doch v. Valentinis Intentionen keineswegs entsprechen würde. Aber der hier vorausgesetzte Zusammenhang zwischen der Infamie und dem Gewohnheitsverbrechertum besteht nicht. Ich berufe mich dafür auf die vortrefflichen psychologischen Ausführungen v. Valentinis selbst. Aus ihnen geht zur Genüge hervor, daß die Kennzeichen für das Vorhanden­ sein einer Disposition zum habituellen Verbrechertum in anderen Umständen zu suchen seien, als in dem ehrlosen Motiv einer bestimmten That. Mit alledem will nicht gesagt sein, daß die Jndividualisirung im Strafvollzüge bei der Unterscheidung des wirklichen und werdenden habituellen Verbrechertums von dem Gelegenheitsverbrechertume stehen bleiben solle, daß sie nicht zu einer Berücksichtigung der durch das ehrlose oder nicht ehrlose Motiv des Verbrechens charakterisirten Ge­ sinnung des Sträflings fortschreiten dürfe. Nur darf die letztere, um von den oben besprochenen Gründen ihrer Einschränkung hier abzu­ sehen, nicht die Geltendmachung der auf diesem Gebiete in erster Linie maßgebenden Gesichtspunkte dlirchkreuzen. Dies würde aber durch eine Verbindung der Ehrenfolgen mit dem Zuchthause, sowohl in der Art, wie sie das preußische Strafgesetzbuch enthält, wie in der Art, wie sie Berner und Meyer vorschlagen, geschehen. Eine andere Bedeutung als die Verknüpfung der Infamie mit gereiften anderweitigen Strafmitteln hat die Verknüpfung derselben mit bestimmten ihrer allgemeinen Natur nach als infamirend geltenden Verbrechensarten. So entschieden in Betreff der Auflösung jener ersteren Verbindung auf die Seite des Entwurfs zu treten ist, so zweifelhaft kann man sein in Betreff der Auflösung der zuletzt genannten Verbindung. Der Gesetzgeber will in seinen Bestimmungen über bestimmte Verbrechensarten das rechtlich-sittliche Urteil seines Volkes über die­ selben zum Ausdruck bringen und zugleich die Garantie dafür geben, daß es int richterlichen Urteile zum Ausdruck gebracht werde. Dies gilt auch in Betreff der bei zahlreichen Delikten von Rechtswegen eintretenden Ehrenfolgen. So lange daher die Strafjustiz an diesen festhält, wird es richtig sein, den Maßstab für ihre Verhängung int Gesetze selber mit thunlichster Bestimmtheit hinzustellen, nicht es dem

Putschten über

den Entwurf eine- Strafgesetzbuches f.

Norddeutschland.

187

Richter zu überlassen, nach souveränem Ermessen eine Handlung als infamirend oder als nicht infamirend zu behandeln. Es werden daher diejenigen Verbrechensarten, welche ihrem allgemeinen Charakter nach auf eine verächtliche Gesinnung hinweisen, wie Diebstahl, Betrug u. a., im Zusammenhange der besonderen Vorschriften für dieselbm mit den Ehrenstrafen zu bedrohen sein. Da aber auch derartige Delikte unter Umständen begangm werden können, welche ausnahmsweise den Schluß aus der That auf eine verächtliche Gesinnung ausschließen, so würde der Richter im allgemeinen Teile des Gesetzes, im Zusammmhange mit der Normirung des Milderungsrechtes, zu ermächtigen sein, von der Verhängung der Ehrenstrafen in den bezeichneten Fällen Umgang zu nehmen. Bei richtiger Behandlung der besonderen Verbrechens­ begriffe würden sich derartige Fälle nur selten findm, so daß dm Forderungen der individualisirenden Gerechtigkeit mit jener allgemeinen Ermächtigung genugsam Rechnung getragen wäre. Der Entwurf schlägt hier (darin den Johnschen Vorschlägen folgend) einen andern Weg ein. Er droht den Verlust der bürger­ lichen Ehre überall nur fakultativ. Dies aber in einem sehr weiten Umfange. Einerseits nämlich für alle nicht mit Einschließung bedrohte „Verbrechen", andererseits für gewiffe „Vergehen", bezüglich bereit es im speziellen Teile besonders bestimmt ist. Darin haben wir ein Zuwenig und ein Zuviel, ein Verfehlen des Richtigen nach zwei Seiten hin. Erstlich nämlich ist damit den oben erwähnten schimpf­ lichen Verbrechensarten gegenüber die dem Gesetzgeber zukommende Position, und zwar ohne jeden Grund, aufgegeben. Man fasse ex. c. den Fall des § 313 (Bestechung zum Zwecke der Herbeiführung einer Verletzung der Amtspflicht) ins Auge. Da haben wir ein Delikt von sehr bestimmtem rechtlich-sittlichen Gepräge. Es ist kein Grund vorhanden, weshalb der Gesetzgeber mit seinem Urteile über diese Art von Handlungen hinter dem Berge halten sollte. Der Entwurf verlangt dies, indem er nur fakultative Androhung der Ehrenfirafen vorschlägt, also hier einfach alles dem Richter ins Gewissen geschobm haben will. Nun können freilich auch hier singuläre Fälle vorkommen, bezüglich welcher eine Hilfe gegeben sein muß. Aber dies hindert doch nicht, daß der Gesetzgeber seine Meinung über den Genuscharakter solcher Handlungen ausspreche und damit dem Richter einen festen Ausgangspunkt für seine Beurteilung des einzelnen Faktums biete, statt ihn mit einem bloßen „Können" in die Irre zu schicken!

188 Gutachten übet den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Storddeutfchland.

Zweitens aber bedroht der Entwurf eine Reihe von Verbrechens­ arten (fakultativ) mit Ehrenftrasen, bezüglich deren dies nicht begründet ist. Es gehörm durchaus nicht alle „Verbrechen" zu den spezifisch infamirenden Delikten, vielmehr hat diese Kategorie an sich zur Ehrenfrage lediglich keine Beziehung. Zwar können alle „Verbrechen" ebenso wie alle „Vergehen" und Übertretungen möglicherweise aus ehrlosen Motiven begangen werden. Aber darum handelt es sich bei dieser ganzen Frage nicht, weil wir nicht Motive bestrafen, sondern Hand­ lungen, und diese nach Maßgabe ihrer allgemeinen Bedeutung. Man hat dies den letzteren Kategorien gegenüber anerkannt und bei ihnen jene allgemeine Möglichkeit ignorirt, nicht aber bei den „Verbrechen", btzw. den mit Zuchthaus bedrohten Delikten. Ein Grund für dieses verschiedene Verfahren existirt nicht. Zu den §§ 27 und 28. Über die einzelnen Ehrenstrafen. In den auf die Ehrenstrafen bezüglichen Paragraphen handelt es sich, wie in manchen andern auch, um die Fixirung einer in raschem Flusse befindlichen Lehre, eine Fixirung, welche Mllkürlichkeitm nicht leicht vermeiden und kaum mehr als ein neues Provisorium herstellen kann. Bei solcher Sachlage befindet sich die begutachtende Doktrin allemal in einer mißlichen Lage. Sie strebt überall nach definitiven und erschöpfenden Lösungen, während die Praxis sich vielfach, wie im gegebenen Falle, in begreiflicher Scheu vor radikalen Entscheidungen, mit Kompromissen durchzuhelfen sucht. Einen Kompromiß zwischm einander innerlich widerstreitenden Gesichtspunkten enthalten nämlich die neuesten Gesetze und Entwürfe in Beziehung auf die Ehrenstrafen unverkennbar. Auch wird es fürs Nächste vergeblich sein, dagegen anzukämpfen. Nur zur Ergänzung des früher Gesagten, und um in Betreff dieser wichtigen Fragen wenigstens vollständig Position zu nehmen, mag hier einigen allgemeineren Bemerkungen Raum ge­ geben sein. Man hat nicht genugsam, wie ich glaube, die Verschiedenheit, welche unter den Ehrenstrafen besteht, in Erwägung gezogen. Man kann dieselben nämlich nach den Gesichtspunkten, welche für ihre Ver­ knüpfung mit bestimmten Handlungen als maßgebend erscheinen, in zwei Gruppen teilen, nämlich in:

Gutachten über den Entwurf eine- Strafgesetzbuches f. Norddeutschland. 189

1) Ehrenfolgen der Delikte» für deren Eintritt nicht spezifisch strafrechtliche» sondern sonstige öffentlich-rechtliche Gesichtspunfte entscheidend sind, bei welchen es sich nicht um Neutralisirung des Verbrechens» nicht um Sühne» Genugthuung oder Besserung handelt, sondern um die Rechte» welche den Gegenstand der Strafe bilden, um die Wahrung ihrer Bedeutung im Gemein­ leben. Hierher gehört der Verlust der öffentlichen Ämter. Prävalirend ist bei seiner Anordnung ohne Zweifel die Rücksicht auf das Amt. Die Würde desselben ist in Frage» wenn sein Träger ein Gegenstand öffentlicher Verachtung geworden ist» mag er sich dieselbe durch öffentlich konstatttte Verbrechen oder in anderer Weise zugezogen haben, und der Aufrechterhaltung dieser Würde gilt seine Entfernung vom Amte. Man mag dieselbe immerhin unter dm Begriff der Sttafe subsumirm» wenn man eben unter dmselben alle Übel ziehm will, welche für den Verbrecher aus dem Verbrechen von Rechtswegen hervorgehen. Aber das ist der Sinn nicht, der sonst in Wissenschaft und Praxis mit dem Worte „Sttafe" verbundm zu werden pflegt. Denn unter jene Übel gehört auch die privattechtliche Entschädigungspflicht, die man nicht als Sttafe zu bezeichnm pflegt, und von der Niemand glaubt, daß sie im Strafgesetze zu normten sei. Auch tritt die Sttafe (das Wott im technischen Sinne genommen) nicht ein um des SttafmittelS — des Gutes, welches den Gegenstand der Strafe bildet — willen. Dies ist aber bei jener sogenannten Ehrenstrafe unleugbar der Fall. Hierher gehört ferner der Verlust des Rechts, Mitglied bei gereiften Korporationen zu sein, der Verlust des Rechts zum Geschworenen­ dienste, Waffendienste u. s. w. Die Sttafjustiz könnte auskommen ohne das in solchem Verluste liegende Sttafübel. Aber das öffent­ liche Interesse an der Aufrechterhaltung des Ansehens dieser Funttionen und Rechte scheint denselben zu fordern. — Auch die im Entwürfe ausgesprochene lebenslängliche Eidesunfähigkeit des Meineidigen gehört hierher. Auch sie sucht ihre Begründung in der Sebeutung des ab­ gesprochenen Rechts. Nicht um das dem Meineid mtsprechmde Sttafmittel oder Sttafmaß handelt es sich dabei, sondem um Bedürfniffe des Prozesses. Freilich ergiebt eine schärfere Prüfung gerade von diesem Gesichtspuntte aus, daß die fragliche Ehrenfttafe in Wahrheit nicht zu begründen sei, wie dies von John in seinem Entwürfe näher dargelegt worden ist. In den Mottven zu dem Regierungsentwurfe findet sich keine Widerlegung dieser Ausführung. Im wesentlichen

190

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutfchland.

gilt das Gesagte auch in Betreff der im § 27 n. 4 aufgeführten Ehrenstrafe. Wenn die in Frage stehenden Rechte als „Ehrenrechte" bezeichnet werden, so ist dies irreleitend. Dieselben werden nicht verliehen, um zu ehren, sondern weil es im Gesamtinteresse gefordert ist, daß die betreffenden Funktionen verwaltet werden. Diese Verwaltung aber fällt primär unter den Gesichtspunkt der Pflicht, nicht den des Rechts. Deshalb hat auch die Entziehung derselben nicht den Charakter einer eigentlichen Strafe. Sie erfolgt vielmehr, weil eine der Voraus­ setzungen hinfällig geworden ist, unter welchen die Gesamtheit von betreffenden Diensten Gebrauch machen kann. Daher ist die Stellung des Richters hier eine andere wie sonst. Um die Ausgleichung von Schuld und Strafe handelt es sich hier nicht, sondern um das Ver­ hältnis gewiffer Arten des Handelns zu bestimmten öffentlichen Funk­ tionen und den Bedingungen ihrer ersprießlichen Verwaltung. Auf jene Ausgleichung von Schuld und Strafe aber bezieht sich der weite Spielraum, den wir heute im allgemeinen dem richterlichen Ermessen einräumen. Daher in Betreff der in Frage stehenden Ehrenstrafen die Einräumung eines solchen Spielraums nicht begründet ist. Grade hier aber wollen Andere die Schranken des richterlichen Ermessens völlig beseitigt haben. Und der Entwurf macht dieser Auffassung wmigstens eine gewisse Konzession, indem er den Verlust jener angeb­ lichen Ehrenrechte in weitem Umfange bloß fakultativ androht. (Siehe hierüber die Bemerkung zu § 25.) — Daß die Bedingungen für den Eintritt dieser Verbrechensfolgen richtiger in denjenigen Rechtsteilen festgestellt würden, in welchen im übrigen Erwerb und Verlust be­ treffender Rechte normirt sind (ohne daß sich gegen eine Bezugnahme darauf im Strafgesetze etwas einwenden ließe), ergiebt sich aus dem Gesagten von selbst. 2) Ehrenstrafen, für deren Verhängung spezifisch strafrecht­ liche Rücksichten entscheidend sind, Strafen im eigentlichen Sinne, welche dm infamirendm Charakter der That zum Ausdruck bringm sollen. Diese Kategorie war ehemals eine außerordentlich inhaltreiche. Aber die Entwicklung, auf welche oben hingewiesen worden ist, hat sie mehr und mehr mtleert und läßt die Fortexistmz auch des Restes als eine problematische erscheinm. ES gehören hierher sämtliche eigmtlich beschimpfende Strafen, die sich mit dem Geiste unseres modemen Strafrechts anerkanntermaßen nicht vertragen. Femer die

Gutachten

über den Entwurf

eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

191

rein symbolischen Ehrenstrafen. Dieselben haben gleich manchem anderen juridischen Symbol ihre Bedeutung eingebüßt. Letzteres gilt auch bezüglich des in diese Kategorie zu ziehenden Verlusts des Rechts, die Landeskokarde zu tragen (Entw. § 27, 1). Bgl. John, Entw. S. 127. Dann eine Summe anderer, den symbolischen verwandter Ehrenstrafen, die sich vielleicht als demonstrative bezeichnen lassen. Dahin ist u. a. zu ziehen der Verlust des Rechts, Würden, Titel, Orden und Ehrenzeichen zu erlangen (§ 27. 2). Das Interesse an der Erhaltung der Dignität betreffender Würden fordert diese Ehren­ strafen nicht, da ja eine Notwendigkeit auch ohne die Letzteren nicht bestehen würde, grade eines ehrlosen Verbrechens Überwiesene mit diesen Würden zu bekleiden. Auch diese Klasse von Ehrenstrafen nun (soweit sich ihre Dauer über die der Freiheitsstrafen hinaus erstreckt) ruht auf keinem sicheren Fundamente mehr. Es ist unschwer zu erkennen, daß ihre Beibehaltung in innerem Widersprüche mit dem neuerdings angenommenen System der Strafverbüßung stehe, eine Art von Mißtrauensvotum in Bezug auf die Bedeutung des letzteren in sich schließe. Die erste Voraussetzung nämlich, auf welche sie hin­ weisen, ist, daß die Verbüßung der Freiheitsstrafe die ehrlose Gesinnung des Sträflings bestehen lasse, also nach dieser Seite hin ihre Aufgabe unerledigt lasse. Eine andere Voraussetzung derselben ist, daß es notwendig sei, der fortbestehenden ehrlosen Gesinnung einen rechtlichen Ausdruck zu geben. Diese Notwendigkeit aber führt auf eine Er­ streckung der Ehrenstrafen bis zum Beweis eines vollzogenen Gesinn­ ungswechsels, bezw. zur Lebenslänglichkeit derselben. Indem wir diese mit dem Entwürfe aufgeben, verlieren wir nt. E. eine auf die Dauer haltbare Position. Je mehr dies aber hervortreten wird, umso ent­ schiedener werden sich die mit den einzelnen Ehrenstrafen noch ins­ besondere sich verknüpfenden Jnkonvenienzen, nicht gewollte und an sich bedenkliche Folgen derselben, wie sie z. B. bezüglich des AdelsverlustS leicht zu erweisen sind (vergl. z. B. Held, Bemerk, z. Entw. S. 27). geltend machen. In Bezug auf einige der int Entwürfe beibehaltenen Ehrenstrafen endlich möchte es nützlich sein, sich darüber Rechenschaft zu geben, von welchem der erwähnten Gesichtspunkte aus man sie festhalten zu müssen glaubt. So insbesondere in Betreff des Verlusts der Ruhe­ gehalte. Handelt es sich dabei um die Bedeutung des Rechts, welches man aberkannt haben will, oder um eine der Schuld entsprechende

192 Butachten übet den Entwurf eines StrasgesetzbucheS f. Rorddeutschland. Strafe? Vielleicht würde man zu dem Resultate kommen, daß weder das Eine noch das Andere zutreffe, ohne daß man imstande sein möchte, ein Drittes zu begründen. In Betreff des § 29 kann auf Berner (Kritik S. 15) Bezug genommen werden. Zu § 31. Über die Einziehung. Die Fassung des ersten Absatzes des § 31 paßt nicht in ein auch auf Laien berechnetes Strafgesetz. Auch dürste dieser Absatz mit Rücksicht auf Art. IV. des Einführungsgesetzes als überflüssig erscheinen. Die Bestimmung im 2. Absätze greift viel zu weit. Es ist zu wundern, daß man sich durch die Schwierigkeiten, welche die ent­ sprechende Bestimmung des preußischen Strafgesetzes der Praxis bereitet und dieselbe zu einer ziemlich bedenklichen Interpretation genötigt hat, nicht zu einer vorsichtigeren Fassung des Paragraphen veranlaßt sah. Die Produkte des Verbrechens sind einer Konfiskation füglich nur zu unterwerfen, wenn das letztere auf ihre Hervorbringung gerichtet war. Der Umstand ferner, daß eine Sache bei der Ausführung eines Ver­ brechens benutzt wurde (z. B. der Park Jemandes zu verbotenen Vereinigungen), rechtfertigt an sich die Einziehung derselben nicht. Die eine solche Rechtfertigung enthaltenden Umstände aber sind im Entwürfe mit Stillschweigen übergangen und damit als entscheidende verneint. Wenn die Motive behaupten, daß das Boot, auf welchem unberechtigt geangelt wurde, unter die stagliche Bestimmung nicht falle, so steht dies im Widerspruch mit dem Wortlaut derselben. Ob freilich die Praxis es darunter subsumiren werde, das ist eine andere Frage. Dieselbe entschließt sich überall nicht leicht, den Gesetzgeber ad absurdum zu führen, wozu die stagliche Vorschrift in der That manche Gelegenheit geben würde. Aber wenn uns diese Erwägung beruhigt, dann ist es gleichviel, wie wir die Gesetze redigiren. — Die ganze Bestimmung würde richtiger im allgemeinen Teile gestrichen werden. Es würde genügen, wenn die Konfiskation bei den wenigen Verbrechensarten, bei welchen sie eine Berechtigung hat, mit Bezug auf die Gegenstände, denen gegenüber dies der Fall ist, speziell an­ geordnet würde. Vgl. Glasers Bemerk, zum Zürcher Entwurf S. 20. Eventuell würde dem Vorschlage Meyers (Norddeutsches Strastecht, S. 24, 25) beizutreten sein, das „sollen" in dem zweiten Absätze des

Butschten übet den Entwurf eines Strafgesetzbuches s. Rorddeutschland.

193

Entwurfs in ein „können" zu verwandeln. Wir würden dann den Richter wenigstens nicht in die Zwangslage versetzen, sich den Weg zu einer vernünftigen Handhabung des Konfiskationsrechts durch eine gewaltsame Auslegung des Gesetzes zu bahnen. Zu § 19 flg. und § 33 flg. Über bedingte Freilassung und Polizeiaufsicht. Die Bestimmungm über Polizeiaufsicht sollten in einen gewissen Zusammenhang mit dem Beurlaubungssysteme gebracht werden. Wenn der bedingt Entlassene während der Zeit seines Urlaubes keinen Anlaß zum Widerrufe gegeben und damit die Probe für die Befähigung zu einer gesetzmäßigen Lebensführung bestanden hat, die wir ihm auferlegen, dann ist es schwerlich angemessen, ihn weitere Jahre der Polizeiaufsicht und damit wieder einer strengeren Beschränkung seiner Freiheit zu unterwerfen. In dieser Folge wäre keine Logik. Das hieße, dem progressistischen Strafvollzüge einen verunstaltenden Zopf anhängen. — Die Kommission hat sich im übrigen bemüht, Garantien gegen eine unnütze Anwendung des bedenklichen Präventiv­ mittels der polizeilichen Beaufsichtigung zu geben. Sie sucht solche insbesondere darin, daß der Richter nur über die Zulässigkeit derselben, über ihren wirklichen Eintritt dagegen die Landesbehörde nach ver­ büßter Freiheitsstrafe entscheiden soll. Nun ist es gewiß richtig, hier als die eigentlich entscheidende Instanz diejenige gelten zu lassen, welche das Verhalten des Sträflings während der Strafzeit ihrer Entscheidung zugrunde legen kann. Auf der anderen Seite läßt sich aber nicht leugnen, daß die Übertragung der ftaglichen Gewalt an die Verwaltungsstelle ihr Bedenkliches habe, und daß mit derselben daher nicht weiter zu gehen sei, als ein evidentes Bedürfnis es fordert. Der oben bezeichneten Kategorie von Fällen gegenüber liegt nun ein solches Bedürfnis entschieden nicht vor. Die Frage, welche die Polizei­ behörde beantworten soll, hat hier bereits eine greifbare Erledigung gefunden. Es möchte sich deshalb empfehlen, dem zweiten Abschnitt des § 33 die Worte anzuhängen: Diese Befugnis entfällt jedoch, wenn der Sträfling infolge vorläufiger Ent­ lassung den Rest seiner Strafzeit in der Freiheit ver­ bracht hat. Zu den Bestimmungen über die vorläufige Entlassung mag noch bemerkt werden, daß sich ihre Ausdehnung auf die lebenslängliche

194

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

Freiheitsstrafe, wie sie sich im Zürcher Entwürfe (§ 28 a) findet, empfehlen dürfte. Was ferner den zweiten Abschnitt des § 20 betrifft, so wird man sich wohl bei näherer Prüfung von dessen Änderungsbedürftigkeit überzeugen. Die im Urlaub verbrachte Zeit darf bei der Wiederein­ ziehung nicht einfach ignorirt werden, weil sie nicht als etwas außer­ halb der Strafe Liegendes, sondern als ein Bestandteil derselben zu betrachten ist. Über das richterliche Milderungsrecht und die lebens­ längliche Zuchthausstrafe. Die Kritik findet sich dem vorliegenden Entwürfe gegenüber in einer zweifelhaften Lage. Müssen wir es heute für wichtiger ansehen, daß auf dem Gebiete gemeinsamen Rechts überhaupt etwas und rasch geschaffen werde, als daß ein durch seine Vortrefflichkeit hervor­ ragendes und hierdurch für die Zukunft unseres Rechtslebens bedeut­ sames Werk zu Stande komme, bann wird es ihre Aufgabe sein, sich zu resigniren und höchstens an Wortstellungen mäkelnd sich durch die Harmlosigkeit ihrer Beiträge den Zulaß in die Bauhütte zu verdienen suchen. Liegt es anders, so wird es gelten, die Aufmerksamkeit immer tvieder auf den Grundriß der Arbeit, auf die Erledigung der funda­ mentalen Fragen zu lenken, da von dieser die Bedeutung des Werks in dem letzteren Sinne abhängt. Die Entscheidung mag schwierig sein. Wünschenswert aber ist es auf alle Fälle, daß hier ein Werk aus einem Guß entstehe, in welchem für den Aufbau gemeinsamen deutschen Rechts ein Eckstein und ein Bürge seiner Festigkeit und Dauerbarkeit gewonnen sei. Der Entwurf aber ist, trotz der vor­ trefflichen Intentionen, die er zum Ausdruck bringt, ein Werk solcher Art nt. E. nicht. Es ist bereits wiederholt auf Bestandteile hin­ gewiesen worden, welche, außer allem inneren Zusammenhange mit diesen Intentionen stehend, keine andere Legitimation für sich erbringen können, als daß man den Entschluß nicht fand, sich von ihnen zu befreien. Wir werden weiterhin im System der mildernden Umstände Flickwerk kennen lernen, mit dessen Beibehaltung auf eine in sich übereinstimmende Behandlung des Strafmaßes verzichtet scheint. Neben im Ganzen wohlthuender, in einzelnen Fällen (so z. B. in Betreff der nicht qualifizirten gewinnsüchtigen Eigentumsverbrechen) über das Maß hinausgehender Milde tritt hier und dort eine auffallende Härte

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Rorddeutfchland.

195

hervor, und während man im allgemeinen die ungeläuterte Abschreckungs­ tendenz der älteren Gesetzgebung glücklich überwunden hat, macht dieselbe sich in einer Anzahl von Bestimmungen völlig unvermittelt geltend. In der fraglichen Abschreckungstendenz allein nämlich finden die ehemals normalen absoluten Strafdrohungen ihre Erklärung. Der Entwurf aber droht in 2 Fällen Todesstrafe, in 19 lebenslängliches Zuchthaus absolut. Daß die betreffenden Verbrechensarten immer die gleiche Schuldgröße repräsentirten, daran ist natürlich nicht zu denken. Ebensowenig daran, daß Todes- oder lebenslängliche Freiheitsstrafe gerade auf die Mindestschweren der zu diesen Arten gehörigen Fälle berechnet wären, oder daß bei ihnen wesentliche Milderungsgründe nicht vorkommen könnten. Die Behauptung, daß bei Mord, Hoch­ verrat, Bundesverrat, Totschlag an Aszendenten u. s. w. kein Zusammen­ treffen von Umständen die Schuld beträchtlich reduziren könne, würde ebenso thöricht sein, wie die damit verwandte, daß bei diesen Verbrechensarten die Schuld nie ausgeschlossen sein könne. Auch läßt sich nicht behaupten, daß bei ihnen zwischen den Milderungs­ und Ausschließungsgründen der Schuld eine ganz besonders breite Kluft existire, welche dem Sprunge von lebenslänglichem Zuchthaus oder gar von der Todesstrafe auf gänzliche Freisprechung entspräche. Die Minderungs-, Mildemngs- und Ausschließungsgründe bilden viel­ mehr bei ihnen in der nämlichen Weise wie bei allen übrigen Ber­ brechensarten eine Kette, in welcher sich Glied an Glied in ununter­ brochener Folge anschließt. Weshalb nun aber gerade bei den schwersten Verbrechensarten diesen unleugbaren Wahrheiten bei der Normirung der Strafe nicht Rechnung getragen werden soll, weshalb nur die Vollbringer kleiner Übelthaten auf eine der konkreten Schuld sich an­ passende Bestrafung Anspruch haben sollen, das ist nur von einem Standpunkte aus, nämlich dem der erwähnten Abschreckungstendenz aus, zu begreifen. Der Entwurf freilich verleugnet hier diese Wahr­ heiten nicht durchaus. Vielmehr anerkennt er auch in Bezug auf die fraglichen Verbrechensarten und den für sie aufgestellten absoluten Straffätzen gegenüber den Milderungsgrund der geminderten Zurech­ nungsfähigkeit. Aber gerade gegen diesen Milderungsgrund richten sich heftige Angriffe, so daß es zweifelhaft erscheint, ob man der ma­ teriellen Gerechtigkeit hier nicht auch diesen Weg der Verwirklichung verschließen werde. Davon abgesehen ist mit der Eröffnung desselben nicht genug geschehen.

196

Gutachten übet bei, Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norbdeutfchlanb.

Die mannigfaltigen die Schuld modifizirenden Umstände, für deren Berücksichtigung man sonst in den relativ bestimmten Straf­ drohungen Raum läßt, finden sich bei Mord, Hochverrat u. s. w. in nicht geringerer Fülle wie sonst und fordern hier nicht in geringerem, vielmehr, da höhere Güter in Frage stehen, in erhöhtem Maße Be­ achtung. Allerdings liegt hier eine Schwierigkeit in der Natur der Straf­ mittel und ihrem Verhältnis zu einander. Die konttnuirlich auf­ steigende Skala der ©trafen bricht mit dem Maximum der zeitlichen Zuchthausstrafe ab. Zwischen ihm und der lebenslänglichen Zucht­ hausstrafe dehnt sich eine breite und nicht genau zu schätzende Kluft. Ebenso zwischen der letzteren und der Todesstrafe. Für diejenigen Schuldgrößen, welche in der Mitte liegen zwischen denjenigen, welchen das Maximum der zeitlichen Freiheitsstrafe, und denjenigen, welchen die lebenslängliche Freiheitsstrafe, beziehungsweise zwischen denjenigen, welchen die letztere und denjenigen, welchen die Todesstrafe zu ent­ sprechen scheint, sind hiernach die geeigneten Sttafsätze nicht zu finden. Daraus hat John ein Argument zugunsten der absoluten Drohung jener schwersten Strafen abgeleitet. Allein der Umstand, daß jene Mittelfälle nicht zu ihrem Rechte kommen können, enthält doch im Ernste keinen Grund dafür, nun auch die geringeren Schuldgrößen, diejenigen, welche zwischen den mit 15 Jahren Zuchthaus bedrohten und der völligen Schuldlosigkeit in der Mitte liegen, über das gleiche Prokrustesbett zu spannen. Vielmehr hieße dies: weil die Gerechtigkeit nicht vollkommen sein kann, die Ungerechtigkeit zum Prinzipe machen wollen. Selbst in Betreff jener Mittelfälle ist die An­ drohung der schwersten Sttafe (die ja vorausgesetztermaßen ihnen nicht enffpricht) mit nichten begründet. Vielmehr würde, wo die Wahl gegeben ist zwischen zu harter und zu gelinder Bestrafung, nach den Grundregeln des Sttafrechts zu letzterer zu schreiten sein. Die Gründe, welche die neuere Gesetzgebung veranlassen, die relattv bestimmten Strafdrohungen zur Regel zu machen und auch ihnen gegenüber noch ein richterliches Milderungsrecht anzuerkennen, sind, richttg verstanden, durchaus universeller und ausschließender Natur. Denn die Verbrechensarten und Unterarten erscheinen als abgeschlossene Individualitäten nur nach gewissen Seiten hin; meist nur hinsichtlich der Gestalt des Erfolgs, bisweilen auch hinsichtlich des verbrecherischen Mittels u. s. w. Nach anderen Seiten hin, insbesondere im Bereiche

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

197

des inneren Thatbestandes, zeigt ihr Begriff dagegen keine Bestimmt­ heit. Dies gilt selbst in Betreff des Mords, wiewohl denselben gerade in subjektiver Hinsicht eine seltene, aber immerhin nur relative, Bestimmtheit auszeichnet. Auch er repräsentirt daher keine allseitig geschloffene Figur, zeigt vielmehr gleich allen übrigen Verbrechens­ arten, gegenüber von jenen allgemeinen Beziehungen und Momenten, auf welche wir vor allem die Aufmerksamkeit des Richters zu lensen haben, nur die Individualität der Welle. Woraus sich ergiebt, daß die Voraussetzungen der absoluten Strafdrohungen, da eine bestimmte Strafgröße eine bestimmte Schuldgröße voraussetzt, bei keiner Ber­ brechensart vorliegen. Übrigens verdient, wie ich glaube, nicht bloß die Beibehaltung der absoluten Strafdrohungen überhaupt Tadel, sondern noch speziell die Art und Weise dieser Beibehaltung im Entwürfe. In den meisten Fällen nämlich ist die lebenslängliche Freiheitsentziehung an dm Tod des Verletzten, roenn derselbe als eine Folge des Verbrechms eintritt, als an ihren Grund geknüpft (§§ 153, 154, 188, 192, 202, 229,2, 285, 87, 90, 291, 295, 303, 304, 306). Hierbei ist meist weder ausdrücklich noch stillschweigend, weder dirett noch indirekt darauf hingewiesen, daß der eingettetene Tod dem Verbrecher zurechmbar sein müffe! Es scheint hier also der Zufall als der eigentlich entscheidmde Faktor hingestellt zu sein, der die verschiedensten Schuldgrößen zu dem gemeinsamen Lose, mit jmer furchtbaren Strafe verknüpft zu werdm, zu vereinigen hat. — Aber auch abgesehen hiervon, findet sich diese Sttafe mehrfach an Umstände geknüpft, welche eine Begründung für dieselbe in Wahrheit nicht enthalten. So z. B. beim Totschlage an die Verwandtenqualität des Verletzten. Bergl. hierüber die richtigen Bemerkungen Held- (Bemerk. S. 22). Über das System der mildernden Umstände. Man hat das System der mildemden Umstände in der Art, wie es der (hier durch ein Mißverständnis vermittelte) Einfluß des fran­ zösischen Vorbildes seinerzeit in Preußen aufnehmen ließ, im Entwurf festgehalten, unbekümmert um die Gründe, die von verschiedmer Seite (zuletzt von John in seinem Entwurf) gegen dasselbe ins Feld geführt worden sind. Um so weniger wird man gmeigt sein, einer nachttäglichm Polemik gegen dasselbe Beachtung zu schenken. Es bleibt daher nur übrig, eine Verwahrung einzulegm zugunsten einer in anderer Zeit

198

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland,

anzustrebenden rationelleren Lösung der hierbei in Frage stehenden Probleme: einer richtigen Normirung der Strafzumessung und einer sachgemäßen Beteiligung des Laimelements bei der letzteren. Die erstere würde vor allem voraussetzen, daß man nicht Begriffe gleich dem der „mildemden Umstände" eine entscheidende Rolle in Bezug auf das Strafmaß spielen lasse, ohne sich eine deutliche Rechen­ schaft über ihren Inhalt zu geben. Milderungs- und Minderungs­ gründe stehen zunächst im Gegensatze zu Schärfungs- und Erhöhungs­ gründen. Mit diesen gemeinsam ferner int Gegensatze zu denjenigen Umständen, deren Einfluß durch sie modifizirt werden soll. Wie diese Umstände sich charakterisiren, ob sie etwa in den konstitutiven Merk­ malm der verschiedenen Berbrechensarten gegeben feien, das fragen wir vergeblich. Es ist aber klar, daß wir mit dem Begriff der mildernden Umstände im Finstem bleiben, so lange ihr Gegensatz als ein un­ aufgelöstes $ erscheint. Wie es sich nun aber damit auch verhalten möge, jedenfalls soll das Vorliegen mildernder Umstände einen Fall bezeichnen, der im Vergleich zu dem vom Gesetzgeber bei dem ordentlichen Strafmaße vorausgesetzten als ein leichterer erscheint. Es handelt sich dabei um eine Vergleichung zweier Schuldgrößen, von welchen die eine aus den gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere den das Strafmaß betreffenden, zu erschließen ist (vergl. die Motive, S. 113 verb. „hierdurch sollte..."). Diese Vergleichung nun überträgt man dem dafür durchaus nicht ausgerüsteten Laien, indem man ihm zugleich untersagt, bei seinem Urteile die Strafdrohung ins Auge zu fassen. Man giebt demselben also eine Vergleichung auf und schließt ihm zugleich einem der zu vergleichenden Faktoren gegenüber die Augen. Siehe da im Gebiete der Strafjustiz ein aufs schönste arrangirtes — Blindekuhspiel! Will man den Geschworenen einen direkten Einfluß auf die Er­ ledigung der Straffrage einräumen, so kann dies widerspruchslos kaum in anderer Weise geschehen, als indem wir sie mit den gelehrten Richtern zu dieser speziellen Funktion vereinigen. Handelt es sich dagegen lediglich dämm, den Geschworenen das Schuldurteil in mög­ lichster Vollständigkeit zu überweisen, ohne sie direkt auf die Fest­ stellung der Strafe Einfluß nehmen zu lassen, so ist im Bereich der materiellen Strafgesetzgebung nichts anderes zu thun, als die für die Schuld bestimmenden Momente soweit möglich im Gesetze zu beftimmm, und zwar in solcher Weise, daß die den Geschworenen vorzulegenden

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

199

Fragen ohne Schwierigkeit und in Anlehnung an die vom Gesetzgeber gebrauchten Worte auf sie ausgedehnt werden können. In dieser Hin­ sicht aber könnte weit mehr geschehen, als im Entwurf geschehen ist. Vor allem würde es sich um eine vollständige Entwickelung des Systems der allgemeinen Strafausschließungs- und Milderungsgründe handeln, in Bezug auf welches der Entwurf eine auch in anderer Hinsicht be­ denkliche Schweigsamkeit entfaltet. Vielfach wird eine solche Ausdehnung der den Geschworenen zu unterbreitenden Fragen auf gesetzlich bestimmte allgemeine Milderungs­ gründe als in mancherlei Hinsicht bedenklich perhorreszirt. Aber wie radikal erscheint dagegen das System der mildernden Umstände, zu dessen Einführung man sich so leicht entschloß! Mit ihm wird die Herrschaft juristischer Gesichtspunkte im Bereich des Strafausmaßes, sowie die Gleichmäßigkeit deffelben frischweg in die Schanze geschlagen. Daß die Geschwormen die im einzelnen Falle noch in Ansatz zu bringenden Umstände von denjenigen zu unterscheiden wüßten, welche im ordentlichen Strafmaß bereits zur Geltung gekommen sind, oder von denjenigen, welche der gelehrte Richter kraft besonderer Bestimnrungen ohnedies berücksichtigen muß, oder von denjenigen, welchen nur der Begnadiger einen Einfluß einräumen darf, daran ist natürlich nicht zu denken. Und nun die Folgen ihres Spruchs! Der Gesetzgeber verknüpft mit ihm, unbekümmert um die Verschiedenheit der Motive, welche ihm zu Gmnde liegen können, bestimmte Folgen in Betreff der Bestrafung, und zwar nicht bloß in Betreff der Art des Maßes derselben, sondern auch in Betreff der Art des anzuwendenden Strafmittels. So z. B. soll in einer Anzahl von Fällen bei Konstatirung mildernder Um­ stände an die Stelle des Zuchthauses Einschließung als eine custodia honesta treten, während doch nicht der Schatten einer Garantie dafür vorhanden ist, daß in den angeblich mildernden Umständen die spezifischen Voraussetzungen gegeben seien, unter welchen eine Anstandsstrafe als gerechtfertigt erscheint. Es kann daher hier leicht geschehen, daß Grund und Folge wie Faust und Auge zu einander passen. Aber es ist ohne Beweisführung einzusehen, daß die Aufgabe der Strafbemessung eine unteilbare sei, und daß jenes System, das auf die Zerreißung dieser einigen Funktion gebaut ist, nur der systemisirte Widerspruch sein könne. Wenn man aber die Beibehaltung desselben als ein leidiges

200

Gutachten über den Entwurf etneS Strafgesetzbuches s. Norddeutschland.

Faktum zu betrachten hat, so muß man mit Berner u. a. fordern, daß es auch seine Stelle ausfülle, daß es überall da, wo seine faktischen Voraussetzungen vorliegen, auch rückhaltlos zur Geltung gebracht werde. Die Grenzen, innerhalb bereit es im Entwürfe auftritt, sind willkürlich und lassen sich wohl nur aus der Furcht erklären, das Gelände des preußischen Strafrechts infolge einer radikalen Reformirung des Systems außer Sicht zu bekommen. — Vor allem wäre zu fordern, daß in allen Fällen, wo nun der Entwurf ausschließlich Todesstrafe oder lebenslängliches Zuchthaus droht, ein Herabgehen auf geringere Strafen im Falle des Vorhandenseins mildernder Umstände zuge­ lassen werde. Zu § 52. Über Irrtum, culpa und den inneren Thatbestand überhaupt. Der allgemeine Teil des Entwurfs berührt den inneren That­ bestand der Verbrechen nur in wenigen Paragraphen und hier nicht durchaus in korrekter Weise und mit glücklichem Griffe. Schwer dürfte es z. B. sein, einen Grund dafür beizubringen, weshalb aus der vielumfassenden Lehre von den Voraussetzungen rechtlicher Schuld gerade das Bruchstück des § 52') einer besonderen gesetzlichen Sanktion zu unterziehen sei. Der gesetzlichen Entscheidung bedürftige Kontro­ versen liegen hier nicht vor. Wo auf den Inhalt desselben bezügliche Zweifel in der Praxis hervorgetreten sind, da haben sie ihren Ursprung regelmäßig in der betreffenden gesetzlichen Bestimmung selbst, die somit hier das gerade Gegenteil dessen wirkt, was Gesetze wirken sollen. Indes möchte man die Überflüssigkeit des § 52 auf sich beruhen lassen, wenn derselbe nur besagte, was er besagen soll. Es ist aber unschwer zu zeigen, daß der Gedanke, der darin zum Ausdruck ge­ bracht ist, und zwar zu völlig unzweideutigem Ausdrucke, mit den Intentionen, welchen der Paragraph sein Dasein dankt, gar nichts zu schaffen hat. Wer auf der Jagd fahrlässiger Weise einen Menschen erschießt, *) „Wenn Jemand bet seiner Handlung Umstände oder Eigenschaften nicht kannte, durch bereit Dasein die Strafbarkeit jener Handlung bedingt ist, so ist die­ selbe straflos. Waren dem Handelnden solche Umstände oder Eigenschaften nicht bekannt, durch deren Dasein die Strafbarkeit der Handlung erhäht wird, so sollen ihm diese Umstände oder Eigcnkchasten nicht zugerechnet werden."

Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

201

dm er, durch ein Gesträuch von ihm getrennt, für ein Wild hält» der wird, auch nach den Jntmtionen des Entwurfs, wegen fahrlässiger Tötung zur Bestrafung zu ziehen sein. Nach § 52, 1 aber würde dies unbedingt zu unterlassen sein, denn der Umstand, von desim Dasein hier die Strafbarkeit der Handlung abhängt, die Menschen­ qualität des Getöteten, war dem Thäter bei seiner Handlung ver­ borgen. Der Fall paßt auf das genaueste unter die angezogene Bestimmung. Gleich ihm paßt darunter jede kulpose Rechtsverletzung. Denn die culpa ist ganz allgemein durch einen solchm Irrtum charakterisirt, wie er int § 52 definirt und zu einem Strafausschließungsgrunbe gestempelt ist. Unter anderem gehört auch die Unkenntnis des Strafgesetzes hierher, denn das Dasein des Strafgesetzes gehört ja ebenfalls zu dm die Strafbarkeit bedingmden Umständen. Gewiß aber war es nicht die Willensmeinung der Autoren des Entwurfs, diese Unkmntnis allgemein zu einem Strafausschließungsgrunde zu machen. — Vergl. Binding (der Entwurf u. s. w.) S. 72 ff. Man hat in diesem § 52 dm 8 44 des preußischen Straf­ gesetzbuches seinem Gehalte nach konserviren wollen. Aber es läßt sich >vohl bezweifeln, ob die Weglassung des Wortes „besondere" nur, wie man annahm, eine redaktionelle Änderung enthalte. Davon abgesehen fragt es sich, ob dmn dieser § 44 des preußischen Strafgesetzes sich in der Rechtsprechung so wohl bewährt habe, daß er eine solche Über­ tragung verdiene. Man hat etwas Ähnliches behauptet. Mir aber scheint das Gegenteil davon evident zu sein. Die zur Bmrteilung vorliegenden Entscheidungen und Erwägungen, welche auf diesen § 44 des preußischen Strafgesetzes Bezug haben, tragen wahrlich nicht das Gepräge von Ausflüssen eines klaren und richtigen Gedankens. Es ist einiges darunter, was eine Prüfung durchaus nicht verträgt. Und doch ist gerade nur dies wirklich auf Rechnung des Paragraphen zu setzen. Das Übrige steht zum Teil in direktem Widerspruch mit Wort­ laut und Sinn desielben, zum Teil wenigstens unabhängig von dem­ selben. So ist auf Rechnung des Paragraphen das zu setzen, was sich bei Oppenhoff (Strafg. 4. Ausg.) bei § 44 sub 8 und 9 in Bezug auf die Beweispflicht und über die Unbekanntschaft mit dm Bedingungen der Strafbarkeit als einer Bedingung der Nichtzurechnung mitgeteilt findet. Dann der Zweifel, ob auch die Unbekannffchast mit gehörig kundgemachten Gesetzen hierherzuziehen sei (n. 6 daselbst), so­ wie die Unterscheidung in n, i, I, c. Daß aber eine wohldurchdachte

202

Gutachten über den Entwurs eines Strasgesetzbuches s. Norddeutschland.

und begründete Vorschrift derartige Blasen treiben könne, wird kein Verständiger glauben. — In direktem Widerspruch mit dem Inhalt des Paragraphen (welcher vorschreibt, daß unter den angegebenen Ver­ hältnissen die Handlung „nicht zuzurechnen" sei) ist dagegen die Be­ hauptung, daß in den einschlagenden Fällen eine Handlung zur Fahr­ lässigkeit zurechenbar sein könne (1. c. u. 10), als wenn die Zurechnung zur culpa nicht auch eine Zurechnung wäre. Wie nun aber die Zweifel, welche sich in Betreff der Auslegung des ß 44 des preußischen Strafgesetzes ergeben haben, durch die Fassung des § 52 des Entwurfs ihre Erledigung gefunden haben sollen (Motive S. 105), das ist nicht einzusehen. Der Gedanke, den man in diesem Paragraphen zum Ausdruck bringen will, kann nicht wohl ein anderer sein, als der, daß ein Irr­ tum, der rechtswidrigen Vorsatz und Fahrlässigkeit ausschließe, damit auch die Strafbarkeit beseitige. Ein Gedanke, in Bezug auf welchen kein Meinungsstreit besteht. Derselbe hat aber auf dem Wege zu seiner Formulirung eine seltsame Umgestaltung erfahren. Abgesehen davon, daß er in seiner vorliegenden Gestalt die culpa beseitigt, giebt er zu der Meinung Anlaß, als handle es sich hier überall nicht um ein positives Erfordernis der Zurechnung, sondern, wie man in der preußischen Praxis in der That angenommen hat, um eine von dem Be­ schuldigten zu erweisende „Bedingung der Nichtzurechnung". Schon die Stellung des Paragraphen in dem Abschnitte von den Ausschließ­ ungsgründen der Strafe führt auf diesen Irrtum. Der zweite Absatz des § 52 fordert keine besondere Erörterung. Wie der erste die culpa für entschuldigend erklärt in Bezug auf die konstitutiven Merkmale der That, so der zweite in Bezug auf die Erschwerungsgründe u. s. w. In Bezug auf die von sachlichen Mängeln unabhängigen redaktionellen Schwächen des Paragraphen s. Binding, 1. c. Nach allem dürfte der Vorschlag wohlbegründet sein, den § 52 gänzlich zu streichen. Wenn John zugunsten einer entsprechenden Bestimmung in seinem Entwürfe geltend macht, es genüge unter Umständen, „wenn man wisse, was eine Gesetzesformel bedeuten wolle," so mag man damit einem gegebenen Gesetze gegenüber einverstanden sein. Aber da, wo es sich um die Schaffung eines neuen Gesetzes handelt, wie in unserem Falle, ist dies ein seltsamer Resignationsvorschlag, überraschend zumal

Butschten übet den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland. 203

im Munde eines so eifrigen Freundes korrekter Formulirungen. Sollen wir dem Gesetzgeber zumutm, dem Richtigen das evident Unrichtige vorzuziehen, in der Hoffnung, daß die Praxis sich nicht dadurch werde beirren lassen? Welche Rolle für den Gesetzgeber, welche Rolle für das Gesetz! Andere Grundsätze lassen sich bezeichnen, beten gesetzliche Auf­ stellung statt der besprochenen am Platze und von Nutzen sein würde. Die innere Seite der Verbrechen kommt im Entwurf, wie schon angedeutet wurde, nicht überall zu ihrem Rechte. Hierher gehört es, daß in zahlreichen Paragraphen mit äußeren Umständen (z. B. dem Eintritt des Todes eines Menschen» dem Verlust eines wichtigen Körpergliedes u. s. w.) schwere Rechtsfolgen, eine enorme Steigerung der sonst eintretenden Strafen, verbunden werden, ohne daß dabei in irgend einer Weise auf die Bedingungen ihrer Zurechenbarkeit hin­ gewiesen wäre. Der Entwurf macht hier also zwischen kasueller und kulposer Herbeiführungkeinen Unterschied. Es fragt sich, ob dies bewußt und in der Absicht geschehe, den Eintritt der strengeren Be­ strafung von den Schwierigkeiten einer Feststellung der Voraussehbarkeit betreffender Folgen des Verbrechens unabhängig zu stellen, oder ob dies nicht der Fall sei. Für den Bejahungsfall mag auf das Bedenkliche der hierin liegenden umfassenden Einführung des casus unter die das Strafmaß bestimmenden Faktoren hingewiesen werden. Man stelle sich die Straffätze zusammen, welche in der erwähnten Weise an zufällige Folgen des Verbrechens geknüpft sind, und man wird erstaunen, zu welcher Potenz man hier den Zufall neben der Schuld gemacht hat. Für die Praxis hat dies allerdings bedeutende technische Vorteile. Allein ob dieselben mit einem so eingreifenden Verzichte auf eine reine Durchführung der strafrechtlichen Prinzipien nicht zu teuer erkauft sind? Die allein mögliche Begründung desselben weist, wie mir scheint, allzusehr auf dm Geist und die Gewöhnungen einer Ent­ wickelungsstufe der Strafjustiz hin, welche wir mit Genugthuung als hinter uns liegend zu betrachten pflegen. — Auch tritt der Entwurf mit diesem Verfahren in einen seltsamen Widerspruch mit sich selbst. Nach § 52,2 sollen die „bei der Handlung" vorliegenden qualifizirenden Umstände nur unter Voraussetzung des dolus in Betracht kommen, während nach den in Frage stehenden Paragraphen die aus der Handlung hervorgehenden sogar bei reinem casus eine

204

Gutachten über ben Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norbbeutfchland.

höhere Bestrafung begründen sollen! Ein innerer Grund für eine so verschiedene Behandlung dieser wissenschaftlich gar nicht zu scheidenden Kategorien von qualifizirenden Umständen existirt natürlich nicht. Ferner unterliegen die ftaglichen Verbrechenssolgen, wie z. B. der Eintritt des Todes eines Menschen, einer ganz entgegengesetzten Be­ handlung, wenn in ihnen allein die Rechtsverletzung besteht. Es greift dann der Grundsatz des § 52 auch in Betreff ihrer Platz. Ist dagegen die Voraussetzung, daß man in Bezug auf die in Frage stehenden Verbrechensfolgen die Zurechenbarkeit nicht in Betracht gezogen haben wolle, irrig, so gebe man seiner Meinung einen unzwei­ deutigen Ausdruck. Oder sieht man es für selbstverständlich an, daß die Folgen einer Handlung nur insoweit straftechtlich in Betracht kommen können, als sie zurechenbar sind? Von wiffenschaftlichem Standpunkte aus ist hier freilich kein Zweifel möglich. Daß aber der Standpunkt der Praxis einem gegebenen Gesetze gegenüber mit dem wissenschaftlichen nicht zusammenfällt, dafür giebt u. a. die preußische Praxis den entsprechenden Bestimmungen des preußischen Strafgesetzes gegenüber Belege. Sie hat diese Bestimmungen mehrfach in dem oben vorausgesetzten Sinne interpretirt. Nach allem dürfte der Vorschlag begründet sein, anstatt des § 52 (jedoch an anderer Stelle, in einem Abschnitte von den allge­ meinen Voraussetzungen der strafbaren Handlung, worüber Meyer 1. c. S. 27 verglichen werden möge) eine Bestimmung etwa folgenden Inhalts aufzunehmen: Bei der Bestrafung einer Handlung sind nur solche Umstände und nur solche Eigenschaften und Folgen der Handlung als belastend in Betracht zu ziehen, bezüglich welcher entweder rechtswidriger Vorsatz oder Fahrlässigkeit bei dem Handelnden vorliegt. Noch eine andere auf die Fahrlässigkeit sich beziehende Bestimmung würde sich nach dem Vorgänge anderer Gesetzgebungen und aus sehr nahe liegenden Gründen empfehlen, eine Bestimmung des Inhalts nämlich, daß fahrlässige Handlungen nur in den vom Gesetze ausdrücklich bezeichneten Fällen strafbar seien. Die Begriffe der verschiedenen Verbrechensarten sind im Entwürfe keines­ wegs durchweg so präzis bestimmt, daß eine solche Vorschrift als überflüssig bezeichnet werden könnte. Vielmehr würde sich dieselbe als eine nicht unnütze Ergänzung zu § 2,1 charakterisiern.

Gutachten über den Entwurf etneS Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

205

Wir haben gesehen, daß der Entwurf in Bezug auf die Berück­ sichtigung gewisser Umstände von den Bedingungen der Zurechenbarkeit dann absieht, wenn dieselben im Zusammenhange mit anderen straf­ begründenden Momenten auftreten. So z. B. in Betreff der Herbei­ führung des Todes eines Menschen, im Falle er in Verbindung mit einer Brandstiftung auftritt (§§ 285, 87, 90). Daß er dagegen dann, wenn diese Umstände für sich isolirt auftreten (z. B. bei ein­ facher Herbeiführung des Todes eines Menschen), mindestens culpa voraussetze (§ 194), beziehungsweise nach dem unglücklichen § 52,1 sogar in ausschließender Weise dolus. Zu dieser Ungleichmäßigkeit nun gesellt sich noch eine andere. Die fraglichen Umstände erfahren nämlich zum Teil hinsichtlich des Strafmaßes eine viel energischere Berücksichtigung im ersten als int zweiten Falle, ohne daß sich dafür ein Grund erbringe ließe. So z. B. zieht fahrlässige Tötung, wenn sie für sich allein auftritt, Gefängnis bis zu zwei Jahren nach sich (§ 194); fahrlässige oder kasuelle Tötung dagegen, wenn sie in Verbindung mit Brandstiftung auftritt, eine Steigerung der für die Letztere gedrohten zeitlichen Zuchthausstrafe auf Todesstrafe. Zu § 46. Vom Ausschluß der Zurechnungsfähigkeit. Die Bestimmungen des Entwurfs über die Ausschließungs- und Milderungsgründe der Strafe sind, wie schon erwähnt wurde, wesentlich unvollständig. Zugleich geben sie in anderer Hinsicht zu Bedenken Anlaß. Es mag versucht sein, dies zunächst zu erweisen in Bezug auf den Inhalt des § 46 („Eine Handlung ist als Verbrechen oder Vergehen nicht zu betrachten, wenn die freie Willensbestimmung des Thäters zur Zeit der That attsgeschlossen war"). Der § 46 ist unvollständig insofern, als er die Fälle einer bloß relativen Zurechnungsunfähigkeit nicht einschließt. Der Ausschluß der freien Willensbestimmung weist, was man auch im übrigen bei den Worten denken möge, jedenfalls auf einen allgemeinen psycho­ logischen Zustand hin, der in einem bestimmten Momente nicht in einer Rücksicht vorhanden, in einer anderen nicht vorhanden sein kann. Derjenige, welcher in einer bestimmten Zeit der freien Willens­ bestimmung ermangelt, kann wegen dessen, was er in dieser Zeit gethan, nicht zur Verantwortung gezogen werden, welchen Charakter

206 Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

sonst auch dieses Thun haben möge. Nun ist es aber in der Wissen­ schaft anerkannt, daß die Zurechnungsfähigkeit grade in Bezug auf dieses konkrete Thun beurteilt sein will. Die Falle sind nicht so überaus selten, wo einem Individuum die rechtliche Unterscheidungsfähigkeit in Bezug auf bestimmte Handlungen fehlt, nicht infolge irgend welcher abnormen Zustände, sondern infolge mangel­ hafter geistiger Ausbildung. Dasselbe ist im übrigen Herr seiner Kräfte und würde in Bezug auf andere in der gleichen Geistesverfasfung begangene Handlungen als zurechnungsfähig gelten müssen. Dies wird z. B. in Bezug auf gewisse Handlungen Taubstummer sowie auS einer anderen Kulturwelt zu uns versetzter Fremder der Fall sein. Nicht minder in Fällen gleich dem, da ein Bauer zur Zeit des Kriegs einen feindlichen Soldaten ermordet, in der Überzeugung, damit ein patriotisches Werk zu vollbringen (Herbst, grundsätzliche Entscheidungen des österreichischen O. A. G. zu § 2). Von Ausschluß der Willensfteiheit zu reden, wäre hier ohne Sinn. Es handelt sich lediglich um eine mangelhafte Ausbildung des sittlich-rechtlichen Urteils, welche nicht bloß bei Unmündigen und Minderjährigen, sondern auch bei Erwach­ senen vorkommt und den Erklärungsgrund für gesetzwidrige Handlungen abgiebt. Infolge des Mangels richtiger Bestimmungen über Zurech­ nungsfähigkeit werden derartige Fälle unter beliebige andere, stets unpassende, Gesichtspunkte (Unbekanntschaft mit dem Strafgesetze oder im Gegensatze dazu error facti) subsumirt. Der fragliche Paragraph geht aber zugleich zu weit, indem er den Mangel der freien Willensbestimmung „zur Zeit der That" überall als strafausschließend anerkennt, während es doch für die Beurteilung der Schuld keineswegs ausschließend auf diesen Moment ankommt. Der mehrfach in den Gesetzen besonders erwähnte Fall der Herbeiführung völliger Betrunkenheit in Absicht auf das Verbrechen steht hier nicht allein. Die Geistesverfassung des Thäters zur Zeit der That erscheint öfters nur als das letzte, an sich wenig bedeutsame Glied in einer Reihe von inneren, in ihrer Gesamtheit den Maßstab für die sittliche Beurteilung an die Hand gebenden Vorgängen. Der Entwurf aber macht jenes letzte Glied zum allein entscheidenden, sowohl an dieser Stelle, wie in seinen Bestimmungen über Mord und Totschlag. Die ftagliche Bestimmung ist ferner eine außerordentlich vage, welche dem Richter in Bezug auf wichtigste Fragen keine Weisung

Gutachten über den Entwurf etneS Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

207

giebt, k»ezw. ihn mit denselben an eine zwar ehrwürdige, aber hier bedenkliche Adresse schickt. Denn der Begriff der Willensfreiheit führt ins Gebiet der Philosophie, ein Gebiet, in dem zwar Antworten auf alle Fragen zu holen sind, welches aber das Eigentümliche hat, daß man niemals wissen kann, mit welcherlei Belehrungen der Frager es verlassen werde. Handelt es sich ihm etwa um eine Antwort auf die Frage, ob Motive von besonderer Macht, welche jedoch keine krankhaftm Störungen herbeiführen, die Willensfreiheit ausschließen, oder ob eine krankhafte Störung der Gehirnfunktionen Willensunfteiheit bedinge, so erhält er vielleicht die präjudizirliche Belehrung — daß es Willensfreiheit überhaupt nicht gebe. Die Kommission glaubt zwar mit der Einführung dieses Begriffs den juristischen Standpunkt gewahrt zu haben gegenüber von dem medizinischen, aber nicht mit Grund. Dieser Begriff ist an sich so wenig ein juristischer wie ein medizinischer. Der juristische Begriff, auf welchen es hier ankommt, ist der der Zurechnungsfähigkeit. Vom Standpunkte der Kommission, welche hier nicht analysiren wollte, würde es daher, wie mir scheint, richtiger gewesen sein, einfach vom Ausschluß der Zurechnungsfähigkeit zu sprechen, wie dies jetzt von Dr. W. Jessen (Über Zurechnungs­ fähigkeit, Denkschrift zum Entwurf) empfohlen wird. Damit wäre wenigstens nach keiner Seite hin präjudizirt, und wir blieben auf juristischem Gebiete. Die jetzt vorliegende Bestimmung giebt mehr, wenn man will. Aber dies Mehr besteht in einer weder klaren noch richtigen Direktive. Vergl. auch Binding 1. c. S. 68, 69. Die fragliche Bestimmung ist ferner keineswegs, wie die Motive annehmen, geeignet, die Kompetenz der Richter und die der Mediziner in sachentsprechender Weise gegen einander abzugrenzen. Vielmehr dürsten die in dem Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für die Medizinalverwaltung gerade in dieser Hinsicht erhobenen Bedenken nicht zu entkräften sein. Daß der Begriff der Willensunfreiheit ungeeignet sei, durch den medizinischen Sachverständigen zur An­ wendung gebracht zu werden, wird nicht bestritten werden. Überlassen wir es aber dem Richter, den fraglichen Begriff in seine Bestandteile zu zerlegen und dieselben nach seinem Ermessen dem Urteil des medizinischen Sachverständigen zu unterbreiten oder nicht zu unter­ breiten, so geschieht es leicht, daß die Zuständigkeit des Letzteren über Gebühr eingeschränkt und in manchen Fällen Zurechnungsfähig­ keit irrigerweise und lediglich deshalb angenommen werde, weil das

208 Gutachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Norddeutschland. im Gebiete der Medizin liegende punctum saliens nicht von medi­ zinischem Gesichtspunkte aus beurteilt wurde. Für die fragliche Kompetenzregulirung Anhaltspunkte zu geben, ist aber

unzweifelhaft

eine

Aufgabe des

Gesetzgebers.

Und zwar

würde dies in sachentsprechender Weise schon dadurch geschehen, daß er dem Begriffe

der Zurechnungsfähigkeit

die Gründe ihres Aus­

schlusses zur Seite stellt und dieselben zugleich nach ihren wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen klassifizirt.

Welche von ihnen der Kognition

der Mediziner zu unterbreiten seien, wird sich dann von selbst heraus­ stellen.

Dem

entspricht

auch

der

Vorschlag

der wissenschaftlichen

Deputation, an dem sich verschiedene Ausstellungen machen lassen, der aber prinzipiell gewiß das Richtige trifft. Das Gesagte würde auf eine Bestimmung etwa folgenden In­ halts hinausführen: Eine

Strafe

tritt

nicht ein,

krankhafter Störungen

wenn

infolge

der Geistesthätigkeit,

oder besonderer körperlicher Zustände (Trunken­ heit,

Schlaftrunkenheit u. s. w.)

hafter

geistiger

Ausbildung

oder mangel­

dem

Thäter

die

Fähigkeit abging, seine That in ihrer sittlichen und rechtlichen Bedeutung zu beurteilen. Äußere Gewalt sammenhang.

und Drohungen

gehören nicht in diesen Zu­

Bringen sie innere Störungen hervor, so sind es diese,

welche die Zurechnungsfähigkeit ausschließen.

Davon abgesehen, steht

ihre rechtliche Wirkung unter anderen Gesichtspunkten.

Zu § 47. Über den Milderungsgrund

der geminderten

Zurechnungsfähigkeit. Aendert man die Fassung des § 46 im Sinne der obigen Aus­ führungen, so hat selbstverständlich eine entsprechende Änderung auch im § 47 einzutreten.

Derselbe ließe sich dann etwa folgendermaßm

fassen: Wenn die im § 46 charakterisirte Fähigkeit in erheblichem Grade beeinträchtigt war oder sich bei ihm nur unvollkommen entwickelt zeigt, so ist auf eine Strafe zu erkennen, welche............,

Butschten über bett Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Rorddeutfchland.

209

Mit einer derartigen Fassung der Bestimmung würde man von selbst über dm Schulstreit hinausgeführt werden, welcher sich auf dm Begriff der gemindertm Zurechnungsfähigkeit bezieht. Dmn sie geht länglich von Voraussetzungen aus, welche außerhalb deffelbm liegen, und deren Richtigkeit verständigerweise nicht bezweifelt werden kann. Daß eine Unvollkommmheit des sittlichen und rechtlichm Unter­ scheidungsvermögens, wie sie sich bei den Unmündigen findet, auch bei (dem Alter nach) Mündigen sowohl dauemd als vorübergehend vorkommm könne, ist selbstverständlich, und daß dieselbe auch hier zu berücksichtigen sei, nicht minder. Eines weiterm Fundaments aber be­ darf es für die Aufstellung des in Frage stehenden Milderungsgrundes nicht. Man behauptet jedoch, daß derselbe aus der Maffe der übrigm für das Strafmaß bestimmenden Umständm nicht ausgesondert »erben dürfe. Einen Grund dafür habe ich nicht ausfindig machm sönnen. Man behauptet ferner, daß derselbe in keine Beziehung zu dem Strafausschließungsgrunde der Zurechnungsunfähigkeit gebracht »erben dürfe. Aber Strafausschließungs- und Milderungsgründe stehen überall in einem nahen Zusammenhange und speziell in Betreff des in Frage stehenden Ausschließungs- und Milderungsgrundes liegt dieser Zu­ sammenhang auf der Hand. Bei beidm handelt es sich um die Wirk­ samkeit der nämlichen Kräfte, nur daß im einen Falle der völlige Ausschluß dieser Wirksamkeit, im andern eine bloße Schwäche oder Hemmung derselben vorliegt. Zugleich sind es Verhältnisse der näm­ lichen Art lwie Krankheit, Trunkmheit, Erziehungsmangel, unglückliche Geistesanlage u. s. w.), welche einerseits jenen Ausschluß, andrerseits diese Schwäche herbeiführen. Ein „Widersinn" liegt daher in der Zusammenstellung jenes Ausschließungs- und dieses Milderungsgmndes nicht, vielmehr einfach das, was die Natur der Sache fordert. Auch machen sich die Gegner eines auffallenden Widerspmchs schuldig, indem sie bei der Jugend dem gänzlichen Mangel des (recht­ lichen) Unterscheidungsvermögens die bloße Unvollkommenheit desselben zur Seite stellen und in Betreff dieser letzteren alles das fordern und thun, was sie bezüglich des gleichen Momentes bei Erwachsenen als unlogisch und durchaus verwerflich bekämpfen. Um eine „Halbimng der Zurechnung" handelt es sich bei diesen so wenig als bei jener. Die Frage nach dem Vorhandensein der Unterscheidungsfähigkeit oder Zurechnungsfähigkeit ist in Bezug auf

210

Gutachten über den Entwurf eine- Strafgesetzbuches f. Norddeutschland.

eine bestimmte That allerdings stets entweder mit ja oder mit nein zu beantworten.

Aber die Bejahung läßt die Frage nach dem Maße

übrig, in welchem sich die Unterscheidungsfähigkeit entwickelt zeigte und in welchem sie sich zu bethätigen vermochte. Betreff der Verhältnisse,

welche

Das Gleiche gilt in

dieser Bethätigung

entgegenwirken.

Krankheit, Trunkenheit u. s. f. sind allerdings entweder vorhanden oder nicht vorhanden.

Aber zwischen

völliger,

die Besinnung aus­

schließender Tmnkenheit und vollkommener Nüchternheit liegen viele Zwischenstufen und die Gesundheit ist

bekanntlich ein sehr relatives

Ding .... Was die Gegner vorbringen, läßt sich scheiden in: 1) Gründe

gegen die Existenz eines

dem Ausschluß der Zu­

rechnungsfähigkeit entsprechenden Milderungsgrundes, wie ich ihn oben zu definiren suchte.

Diese Gründe dürsten durch das Gesagte wohl

erledigt sein. 2) Gründe gegen eine Aufstellung dieses Milderungsgrundes im Gesetze.

Hierher gehört

die Behauptung Meyers,

daß

in derselben

eine einseitige Berücksichtigung der inneren Thatseite gegenüber von der äußeren liege-

Hierbei ist übersehen, daß die Modalitäten des äußeren

Thatbestandes eine systematische Berücksichtigung int speziellen Teile (in der Unterscheidung der Verbrechensarten und Unterarten, der Auf­ stellung

von

Auszeichnungsgründen u. s.

w.)

finden,

während

die

Modalitäten des inneren Thatbestandes, weil sie im wesentlichen bei den verschiedenen Verbrechensarten die nämlichen sind, ihre systematische Berücksichtigung im allgemeinen Teile zu finden haben. — Hierher gehört ferner die Behauptung der Überflüssigkeit einer gesetzlichen Aus­ zeichnung dieses

Milderungsgrundes.

Es genüge,

wenn die Straf­

rahmen weit genug ausgedehnt seien (was im Entwurf jedoch vielfach nicht der Fall ist), um eine Berücksichtigung der fraglichen Verhält­ nisse zu ermöglichen.

Allein die betreffenden Ausführungen beweisen

entweder die Überflüssigkeit gesetzlicher Anhaltspunkte für das Ausmaß der Strafen (falls nur die Strafrahmen weit genug ausgedehnt wären!) überhaupt, oder sie beweisen nichts. — Am Gewichtigsten dürfte das Argument sein, das insbesondere von Berner näher ausgeführt worden ist,

daß

dieser Milderungsgrund dem

Praktiker in Fällen,

wo die

Alternative eine strikte ist, wo es sich fragt, ob ein bestimmter Um­ stand die Zurechnungsfähigkeit durchaus beseitige oder ungemindert be­ stehen (affe, einen bequemen Ausweg zu eröffnen scheine, auf dem er

Butachtrn über den Entwurf eine# Strafgesetzbuches f. Rordbeutfchland.

211

sich einer wirklichen Beantwortung der Frage entschlagm könne. Eine Gefahr solcher Anwendung des fraglichen Mildemngsgrundes mag in der That bestehen. Aber schwerlich in andrer Weise als sie auch in Betreff des Systems der mildernden Umstände, das in Berner feinen hervorragendsten Vertreter hat, und deffen vollständigere Ausbildung nach ihm jenen Milderungsgrund überflüssig machen soll, besteht. Ja es würdm die Geschworenen im ganzen mehr geneigt sein, sich einer strikten Alternative gegenüber einen AuSweg zu suchen, als der gelehrte Richter, und das Halbdunkel jenes Systems wird dies ihrem Gewiffen erleichtern. Überhaupt aber besteht jene Gefahr in Bezug auf alle Mittelglieder der Stufenfolgen, welchen wir im Bereich des materiellen und formellen Strafrechts begegnen. So z. B. auch in Betreff der culpa. Nicht eben selten dürfte der Fall sein, wo man sie in Betreff eines Vorgangs bloß um deswillen als vorliegend erkennt, weil der Beweis des bösen Vorsatzes nicht gelungen oder zweifelhaft ist, und man sich zur Freisprechung, bezw. Außerachtlassung eines betreffenden Umstandes nicht entschließen kann. So ehemals in Betreff der Ver­ dachtsstrafen u. s. w. In Bezug auf diese letzteren lag die Hilfe nahe. Dagegen ist in Bezug auf jene ersteren Mittelglieder keine Hilfe, es sei denn in der geschlichen Fiktton, daß zwischen dolus und casus, bezw. zwischen vollkommener Geistesfreiheit und völliger Geipeszerrüttung nichts in der Mitte liege, d. i. also in der Sanktton einer schreienden Unwahrheit. 3) Gründe oder vielmehr unbegründete Proteste gegen eine Los­ lösung dieses Mildemngsgrundes von der ungestalteten und ungesichtetm Materie der Ausmessungsgründe; wobei übersehm ist, daß die Ent­ wicklung des Strafrechts gutenteils in der Zersetzung dieser Maße und der individualisirenden Ausbildung ihrer Bestandteile bestehe. 4) Gründe, welche lediglich die Formulimng des MilderungSgmndes in § 47 des Entwurfs oder beliebige anderweittge Formulirungen betreffen . . . Schließlich mag auf die Krittk der §§ 46 u. folg, von I. v. Rönne („die kriminalistische Zurechnungsfähigkeit u. s. »."), welche viel Beachtenswertes enthält, Bezug genommen werden. Über den Notstand. Unter anbetn Strafausschließungsgründen ist der Notstand im Entwurf übergangen. Möglicherweise war man der Ansicht, daß die

212

Gurachten über den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Rorddeutschland.

Praxis betreffende Fälle unter § 46 subsumiren werde. Wenigstens war es eine dementsprechende Erwägung, welche den Notstand im österreichischen Entwurf übergehen ließ. Man erwartete, daß die Praxis in ihm einen Ausschließungsgrund der Willensfreiheit finden werde. Daß hierin ein Irrtum liegen würde (da der Notstand in Wahrheit mit diesen Ausschließungsgründen der Willensfreiheit nichts gemein hat), hat man entweder für gleichgiltig erachtet oder übersehen. Das erstere enthielte noch einen schlimmeren Irrtum als jene Sub­ sumtion. Es ist keineswegs eine gleichgiltige Sache, wenn die Praxis im Gesetze geradezu eine Aufforderung findet, sich über wissenschaftliche Unterscheidungen und Begriffe hinauszusetzen, ein „verachte nur Ver­ nunft und Wissenschaft" im Munde des Gesetzgebers! Das letztere wäre ein weiterer Beweis für die völlige Unklarheit der Vorstellungen, welche man mit dem „Ausschluß der freien Willensbestimmung" verbindet. Eine sichere und in sich übereinstimmende Anwendung von Vor­ schriften ist aber jedenfalls nicht zu erwarten, wenn der zu Grunde liegende legislative Gedanke, wegen der Widersprüche, die er in sich birgt, wie im vorausgesetzten Falle keines wissenschaftlichen Ausdrucks fähig ist. Auch nötigt die Subsumtion des Notstandes unter die Gründe der Willensfteiheit direkt zu verkehrten Entscheidungen. So z. B. ist es widersinnig, wegen Notstands die Willensfreiheit als ausgeschlossen anzunehmen und trotzdem mit Rücksicht auf vorliegende besondere Verpflichtungen zum Bestehen der Gefahr zu bestrafen. Und doch heben solche Verpflichtungen anerkanntermaßen die entschuldigende Kraft des Notstandes auf. Möglich ist es nun, daß die obige Voraussetzung in Betreff des vorliegenden Entwurfs nicht zutrifft. Vielleicht wollte man die Be­ rücksichtigung des Notstandes der Begnadigungsinstanz vorbehaltm. Aber abgesehen davon, daß hierin eine grundlose Willkür läge, hat man jener Meinung nirgends einen Ausdruck gegeben und überläßt damit den Richter seinem wissenschaftlichen oder auch unwissenschaft­ lichen Dafürhalten. Wenn John gegen die Berücksichtigung des Notstandes im Ge­ setze geltend macht, daß sich infolge davon „die vermeintlichen Not­ standsfälle in auffallender Weise mehren" würden, so ist dies eine Prophezeiung, welche durch die in Hessen, Sachsen, Braunschweig, Bayern und anderswo gemachten Erfahrungen, wie ich glaube, wider­ legt war, ehe sie ausgesprochen wurde.

Gutachten übet den Entwurf eines Strafgesetzbuches f. Rorddeutfchlond.

213

Was die Formulirung dieses Strafausschließungsgmndes betrifft, so möchte sich es empfehlen, dem Meyerschen Vorschlage (1. c. S. 30) entsprechend, etwa zu sagen: Eine Strafe tritt nicht ein, wenn der Thäter durch eine seine Schuld ausschließende Zwangslage zu der That gedrängt ward. Dem Strafausschließungsgründe des Notstandes würde ein ent­ sprechender Milderungsgrund anzureihen sein. Aber es mag dies hier nicht weiter verfolgt roerben. Betreffende Vorschläge würden einem Systeme angehören, welches sich mit dem im Entwürfe festgehaltenen (insbesondere so lange das System der mildernden Umstände einen Bestandteil desselben bildet) schwer in Einklang bringen läßt. An ein Aufgeben des letzteren ist aber wohl, falls nicht eine wesentliche Änderung der Sachlage eintritt, nicht zu denken.

Gutachten übet die Gesehgebuu-sfrazeu: 1) Läßt sich eine Berbefserung der Strafrechtspflege von der Ein­ führung von Schöffengerichten, d. h. von der Zuziehung von Laien zu den Strafgerichten mittlerer und unterster Ord­ nung erwarten? 2) Empfiehlt sich die Einfühmng der Schöffengerichte nament­ lich auch dann, wenn die Berufung gegen die Urteile der ge­ nannten Strafgerichte beseitigt wird? 3) Ist den Schöffen das Richteramt in seinem vollen Umfange zu übertragen, oder ist denselben ein beschränkter Wirkungs­ kreis (etwa die bloße Entscheidung der That- oder Beweis­ frage) zuzuweisen?

(„Berhandlungen des 9. deutschen Juristentags", Bl>. II, 1871.)

I.

Es sei gestattet, die erste der gestellten Fragen in die folgenden zwei Fragen aufzulösen: 1) Ist eine Beteiligung von Laien bei der Aburteilung mittlerer und leichter Straffälle wünschenswert? 2) Soll diese Beteiligung, insofern sie sich als wünschenswert dar­ stellt, in der Form des sogenannten Schöffengerichts stattfinden? (I-IV.) Die Deputation scheint, da sie diese beiden Fragen nicht aus­ einander hält, von der Ansicht auszugehen, daß eine über die bisherigm Grenzen hinausgehende Zuziehung von Laien zu strafrichterlichen Funk­ tionen nur in der angegebenen Form ausführbar sei. Es liegen jebocf) keine Thatsachen vor, welche diese Annahme ohne weiteres als

Gutachten über btet Gesetzgebungsfragen betr. bte

Schöffengerichte.

215

begründet erscheinen ließen. Vielmehr dürste das in Frage stehmde Problem gerade nach dieser Seite hin besondere Schwierigkeiten bereiten und zu eingehenderen Erörterungen Anlaß geben. Die Frage nämlich, ob eine durchgreifende Beteiligung von Laien bei der Handhabung der Strafgesetze wünschenswert sei, beantwortet fich, wenigstens auf theoretischem Gebiete, leicht. Wer mit dem Ver­ fasser dieses in der Einführung der Geschworenengerichte nicht ein verfehltes Experiment, sondern eine ihren Grundgedanken nach berechtigte und in die Gesammtentwicklung unserer öffentlichen Einrichtungen als ein wichtiges Ferment eingreifende Reform erkennt, für den versteht sich die Bejahung dieser Frage (wie für den Gegner die Verneinung derselben) von selbst. Denn jenen Grundgedanken entspricht die ge­ wöhnliche Beschränkung der Kompetenz der Laienrichter auf die schwersten Straffachen nicht. Vielmehr erscheint dieselbe, nach diesem Maßstabe beurteilt, als willkürlich und verwerflich. Zur Begründung dieses Satzes genügt es, jene Gedanken ihrem wesentlichen Gehalte nach in Erinnerung zu bringen. Sie sind mit den Motiven der Laienbeteiligung überhaupt identisch. Da diese uns auch für die nachfolgenden Ausführungen die leitenden Gesichtspunkte an die Hand geben, so mag eine kurze Verweilung bei denselben ge­ rechtfertigt sein. Von gewissen Besonderheiten sind folgende Erwägungen für die Beteiligung von Nichtjuristen bei der Rechtsprechung entscheidend: 1) Diese Beteiligung vervollständigt die im konstitutionellen System gegebenen Garantien gegen eine von dem nationalen Bewußtsein ab­ irrende Entwicklung des Rechts und der juristischen Praxis. 2) Dieselbe bringt, und hierauf ist vor allem Nachdruck zu legen, das Recht selbst in allen Teilen der Bevölkemng zu lebendigerem Bewußtsein und folgeweise zu enffchiedenerer Geltung. Damit aber ist geradezu gesagt, daß die große Aufgabe der Justiz durch sie zu vollständigerer Lösung gelange. Denn diese Aufgabe besteht in nichts anderem als in der Auflichtung und Befestigung der Herrschaft des Rechts im Bewußtsein und im Verkehr der Menschen. Hierfür aber giebt es kaum ein wirksameres Mittel, als eine successive Berufung aller vollberechtigten Bürger zur aktiven Teilnahme an der Verwirk­ lichung desselben. Damit hängt vieles andere zusammen. Es wird dadurch eine Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen hergestellt, welche nicht durch selbstsüchtige Motive charakterisirt ist

216

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen bett. die Schöffengerichte.

und sich als das wichtigste Element eines echten

Gemeinsinns

dar­

stellt u. s. w. 3) In dem Umstande, wird,

daß niemand

zur Bestrafung

gezogen

von dessen Schuld nicht eine Mehrzahl verschiedenen Ständen

angehöriger, mit spezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten nicht aus­ gerüsteter Männer überzeugt werden konnte, findet man eine wichtige Garantie für eine volkstümliche und, vom Standpunkte des Ange­ schuldigten aus betrachtet, materiell gerechte Handhabung der Gesetze (Mösersches Argument). 4) Juristen und Nichtjuristen ergänzen sich in Bezug auf die Bedingungen

einer Vertrauen

begründenden Rechtsprechung.

entsprechend ist es bei der Jury die Aufgabe jener: standpunkte ausgehend, der Individualität,

der

Dem­

„vom Rechts­

Eigentümlichkeit

des

Falles ihr Recht zu wahren" (Glaser). Die berufsmäßige Thätigkeit des Juristen entwickelt die für die erstere Funktion wesentlichen Eigen­ schaften, hat dagegen, was die letztere betrifft, häufig eine nicht un­ bedenkliche Neigung und Gewöhnung im Gefolge: die Neigung zu einer schablonenhaften Behandlung der in seinen Gesichtskreis sich massen­ weise eindrängenden Fälle. 5) In der Zuweisung dieser ineinandergreifenden Funktionen a» verschiedene Funktionäre

begründet sich für

diese

eine Nötigung zu

angestrengtester Geistesthätigkeit hinsichtlich der einem Jeden besonders zu ungeteilter Verantwortlichkeit übertragenen Aufgabe. 6) Vom Standpunkte eines auf fteiheitlicher Grundlage errichteten Gemeinwesens erscheint die Übertragung jener

wichtigsten Funktionen

im Staatsleben an die Vertreter eines bestimmten Standes nur insoweit als motivirt, als deren sachentsprechende Durchführung an die spezifischen Eigenschaften dieses Standes gebunden ist. Hinsichtlich der kriminellen Beweisftage aber ist dies, wenigstens nach dem in der Einführung der Jury zum Ausdruck gekommenen Urteile der Zeitgenossen, nicht der Fall. Daß diese Gesichtspunkte zur Bejahung unserer ersten Frage hin­ führen, ist leicht einzusehen. Dieselben haben zunächst keine ausschließende Beziehung auf gewisse Arten oder Formen des strafbaren Unrechts. Es lassen sich Verbrechensformen bezeichnen (man denke an die Preßvergehen), bezüglich welcher sich neben den charakterisirten noch ferne« Gesichtspunkte zugunsten der Zuziehung von Laien geltend machen, keine dagegen, deren Merkmale in einem verneinenden Verhältnisse zu jenen allgemeinen Erwägungen stünden.

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betr. die Schöffengerichte.

217

Dieselben haben ferner keine Beziehung auf die Schwere und Wichtigkeit der abzuurteilenden Fälle. Es ist hier nämlich die Wichtigkeit des einzelnen Falls von der Wichtigkeit der Kategorie zu unterscheiden, zu welcher er gehört. Der einzelne Mord nimmt eine größere Bedeutung in Anspruch als der einzelne Diebstahl. Gleich­ wohl ist die Frage, ob das Strafgesetz und das strafgerichtliche Verfahren sachentsprechend seien, in Bezug auf die Kategorie des Diebstahls nicht von geringerem Belange als in Bezug auf die Kategorie des Mords. Mit dieser Frage aber haben wir es bei dem Problem der Laien­ beteiligung zu thun. Auch bezüglich der Bagatellsachen ist die an­ gegebene Differenz von Bedeutung. Nichts ist verkehrter, als die Wichtigkeit einer Vertrauen begründenden Organisation der niederen Strafjustiz nach der relativen Wichtigkeit der einzelnen Übertretung zu beurteilen. Dazu kommt, daß hinsichtlich der schwersten Verbrechens­ arten in dem an den einzelnen Fall sich knüpfenden allgemeinen Jnteresie gewisse Garantien für eine sorgsame, nur mit dem allgemeinen Bewußtsein übereinstimmmde Behandlung gegeben sind, welche hinsichtlich der geringeren Verbrechensarten fehlen. Daß die in concreto zu überwindenden prozessualischen Schwierig­ keiten von der Schwere des Delikts unabhängig seien, ist von selbst einleuchtend. Speziell gilt dies von denjenigen, mit Rücksicht auf welche die Zuziehung von Laien als besonders wünschenswert erscheint. So ist ein unbefangenes Eingehen auf die Individualität des Falls (Punkt 4) gerade bei gewissen leichteren Deliktm, wie z. B. bei den Injurien, vor allem gefordert. Lokale Beziehungen insbesondere machen sich hier in weiterem Umfange geltend und sind von höherem Gewichte als bei schwereren Verbrechensarten. Auch ist es, um auf das polizeiliche Unrecht zurückzukommen, keineswegs leichter, sondern schwerer, der Rechtspflege hinsichtlich ihrer einen volkstümlichen Charakter zu verleihen, als hinsichtlich des krimi­ nellen Unrechts. Nach allem ist der in der Schwere der Verbrechen gegebene Maßstab für die Abgrenzung des Wirkungskreises der Laienrichter mit bloßer Willkür identisch. Eine willkürliche Grenzziehung dieser Art bringt aber bedenkliche Ungleichheiten und Widersprüche in die Verwaltung der Strafjustiz. Für den Charakter der Letzteren ist die Mitwirkung der Laien nicht

218

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betr. die Schöffengerichte.

ohne wichtigen Einfluß. Es ist aber ein arger Mißstand, wenn dieselbe willkürlich abgeteilten Fällen zeigt;

gegenüber einen verschiedenen Charakter

wenn die nämlichen Fragen, je nachdem es sich um die eine

oder die andere Gruppe handelt, in verschiedenem Geiste erledigt werden. Ferner übt eine solche Verschiedenheit naturgemäß einen Einfluß auch auf die äußeren Formen des Verfahrens aus, so daß wir auch hier wieder

innerlich

unbegründete und

Verschiedenheiten erhalten.

mit Jnkonvenienzen

verbundene

Hierher gehören insbesondere die in Betreff

der Berufung bestehenden Verschiedenheiten. Alles dies führt indessen nicht zu einer Zuziehung von Laien zur Aburteilung sämtlicher Straffälle, sondern nur dazu, bei der hier vor­ zunehmenden Ausscheidung von der Schwere der abzuurteilenden De­ likte und von ihren Genusmerkmalen abzusehen.

Statt ihrer haben

die prozessualischen Aufgaben, welche in den verschiedenen Fällen zu lösen sind, den Maßstab für diese Ausscheidung abzugeben. Hierher gehört es,

wenn

(wie z. B. in der sächsischen Strafprozeßordnung)

dem glaubwürdigen Geständnisse ein maßgebender Einfluß in der an­ gegebenen Richtung

eingeräumt wird.

Die Garantien, welche gegen

eine Verletzung der rechtlichen Interessen des Angeschuldigten und für eine gründliche, die Individualität des Falls berücksichtigende Behand­ lung des Letzteren in der Beteiligung der Laien gewonnen werden wollen (Punkt 3, 4, 5),

erscheinen hier, wenn nicht als bedeutungslos, doch

als minder bedeutsam.

Daher es nicht einfach Willkür ist, wenn von

dieser Beteiligung hier Umgang genommen wird. Abschnitt III. Übrigens ist der Bejahung

unserer

Siehe im übrigen

ersten Frage eine wichtige

Klausel anzuhängen. Indem wir dem Laienelemente den ihm gebührenden Einfluß

einräumen,

müssen

wir Sorge tragen, daß nicht über der

Rücksicht auf die Individualität des Falls die auf das fixirte Recht und die Objektivität und Gleichmäßigkeit seiner Handhabung bei Seite gesetzt werde.

Nur unter der Voraussetzung, daß nicht Einrichtungen

beliebt werden, welche die Bedeutung eines Preisgebens der spezifisch juristischen Seite der Aufgabe haben,

oder die eines Fortschritts in

rein prozessualischer Hinsicht auf Kosten des zur Verwirklichung kom­ menden materiellen Rechts, wie es z. B. hinsichtlich des sogenannten Systems der mildernden Umstände der Fall ist, könnte in der Erwei­ terung der Kompetenz der Laienrichter eine wirkliche Verbesserung der Strafrechtspflege gefunden werden.

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen bett. die Schöffengerichte.

219

II. In Bezug auf die Art und Weise der Laienbeteiligung bei der Handhabung der Strafgesetze stehen sich gegenwärtig daS Geschworenen­ gericht und das sogenannte Schöffengericht gegenüber. Für letztereist die Bereinigung von Laim und Juristm in Einer Richterbank zu ungeteilter Arbeit» für ersteres die Bildung zweier Richterkollegim (eines Laien- und eines Juristmkollegiums), denen, ihrer verschiedmm Qualifikation entsprechend» verschiedme Funktionen zugeteilt sind, charakteristisch. Zwischen diesen Jnstitutm besteht m. E. dieses Verhältnis» daß dem Schöffmgerichte nur dort eine Berechtigung zukommt, wo das Ge­ schworenengericht unter keinerlei Modalitätm sich als ausführbar erweist. Der Grund für diese Bestimmung ihres relativm Wertes liegt darin» daß das Geschworenmgericht den für die Laienbeteiligung überhaupt maßgebenden Gesichtspunktm in höherem Maße als das Schöffengericht entspricht. Es ist dies bezüglich sämtlicher sub I. zusammengestellter Gesichtspunkte, welche einerseits nichts Unwesentliches, andererseits das Wesentlichste begreifen dürften, nachweisbar. Was zunächst den unter 1 und 2 erwähnten Einfluß dieser Be­ teiligung einerseits auf das Recht, andererseits auf die Laien selbst betrifft, so ist klar, daß derselbe ein um so bedmtsamerer sein werde» je selbständiger die Rolle ist, welche dieselben unter ihrer alleinigen Verantwortlichkeit durchzuführen haben, und je mehr im Zusammen­ hange damit ihre moralischen und geistigen Kräfte in Anspmch genommm werden. Dies charakterisirt aber eben das Geschworenengericht, daß es die Laien zu selbständig funktionirenden Organen der RechtSanwmdung macht. — Daß ferner das Mösersche Argument (Punkt 3) auf eine Beantwortung der Schuldftage durch ein Kollegium von Laim­ richtern und also auf das Geschworenengericht hinweise, versteht sich von selbst. — Femer ist die sub 4 charakterisirte Arbeitsteilung nur in den Formen des Geschworenengerichts sicherzustellm. Bei einer Ber­ einigung von Laien und Juristen zu ungeteilter Arbeit bleibt es un­ gewiß, ob jeder Teil gerade nur den ihm zukommenden Einfluß und diesen mit dem vollm Gefühle ungeteilter Verantwortlichkeit geltend mache. — Daß der sub 5 erwähnte Grund nur auf die Formen deS Geschworenengerichts passe, erhellt von selbst. — Desgleichen, daß der sub 6 aufgestellte Gesichtspunkt auf diese Formen hinweise.

220

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betr. die Schöffengerichte.

Es fragt sich dem gegenüber nur, ob nicht die sub I. am Schlüsse bezeichneten Rücksichten ein Argument gegen diese Form der Laien beteiligung abgeben, d. h. ob dieselbe es nicht unmöglich mache, dem juristischen Elemente den ihm zukommenden Einfluß in dem nämlichen Umfange zu wahren, wie dem volkstümlichen: Daß aber diese Un­ möglichkeit nicht bestehe, wird u. a. durch die englisch-amerikanische Jury dargethan. Bei uns freilich steht es in der angegebenen Be­ ziehung vielfach nicht, wie es sollte. Allein ein Argument gegen die Jury überhaupt oder wenigstens gegen die französisch-deutsche würde sich daraus nur ergeben, wenn Gesetzgebung und Praxis die sich hier bietenden Mittel und Wege zur Vervollkommnung des Instituts er­ folglos erschöpft hätten, was bekanntlich nicht der Fall ist. Es handelt sich hier einerseits darum, Rechtsirrtümern bei den Geschworenen wirk­ samer vorzubeugen, andererseits dämm, etwa doch mit unterlaufende RechtsirMmer besser erkennbar und korrigibel zu machen. Auf die beachtenswerten Vorschläge und Versuche, die in dieser Hinsicht gemacht worden sind, spezieller einzugehen, ist hier nicht der Ort. Es genügt, zu konstatiren, daß ihre Bedeutungslosigkeit bis dahin weder theoretisch noch praktisch demonstrirt worden ist. Übrigens fallen die hier rücksichtlich des Rechtspunkts sich erge­ benden Schwierigkeiten bei dem Schöffengerichte nicht weg, sondern werden nur deplazirt und durch das Geheimnis der Beratungen zwischen Juristen und Schöffen und das gemeinsame Votum derselben zugedeckt. Wenn wir den Schöffen an der Entscheidung der gesamten Schuld­ frage teil nehmen lassen, so ergiebt sich ganz wie bei dem zu dieser Enffcheidung berufenen Geschworenen das Bedürfnis, daß er hierzu in Stand gesetzt werde. Es müssen daher die einschlagenden Rechtsbe­ griffe seinem Verständnis zugänglich gemacht werden, und zwar in solchem Maße, daß er mit ihnen dem gegebenen Falle gegenüber selb­ ständig zu operiren vermag. Nur insofern dies geschieht, kann seinem Votum ein selbständiger Wert zugeschrieben werden. Dafür aber, daß es geschieht, sind bei dem Schöffengerichte keineswegs bessere Garanüeen gegeben als bei der Jury. Die Stellung von Fragen in Betreff des Rechtspunkts ist dem mit den Juristen auf der nämlichen Richterbank vereinigten Schöffm allerdings bequemer gemacht. Aber einerseits liegt keine Nöügung zu deren Stellung vor — es ist noch bequemer, sich dem Votum der Juristen, worin ja alle etwa auszuwerfenden Fragen implicite beantwortet sind, anzuschließen —, andererseits ist die Nöügung

Gutachten über drei Gesetzgebung-fragen betr. die Schöffengerichte.

221

zu einer gründlichen und rein objektiven Beantwortung dieser Fragen eine geringere als bei der Jury, da bei dieser die vorgeschriebene Be­ lehrung unter öffentlicher Kontrole erfolgt. Versuchen wir es dagegen, den Rechtspunkt auszuscheiden und die Schöffen mit dem § 29 des sächsischen Gesetzes vom 1. Oktober 1868 auf „thatsächliche Feststellungen" zu beschränken, so geraten wir un­ vermeidlich auch hier in jenes pfadlose Gestrüpp von Schwierigkiten, in welches der nämliche Scheidungsversuch bei dem Geschworenengerichte geführt hat, nur daß wieder geringere Garantien für das Aufbieten aller Kräfte zugunsten einer wenigstens annäherungsweisen Lösung der Aufgabe geboten sind, als bei der Letzteren. Auffallenderweise hat man in der Schwierigkeit dieser Scheidung von Rechts- und Thatftage den Punkt zu finden geglaubt, von dem aus man die Jury aus den Angeln zu heben vermöchte, um das Schöffengericht an seine Stelle zu setzen, während doch in Wahrheit gerade daher ein entscheidendes Argument gegen das Schöffengericht sich ergiebt. Aus dem engen Zusammenhange jener beiden Elemente ergiebt sich vor Allem das Eine: daß das unbestrittene Übergewicht des Juristen hinsichtlich des einen Elements naturgemäß ein Übergewicht desselben auch hinsichtlich des zweiten nach sich ziehe. Wenn diejenigen Bestand­ teile der Aufgabe, welche außerhalb des Verständnisses des Laien liegen, sich von denjenigen nicht scheiden lassen, in Bezug auf welche et als urteilsfähig erscheint, so muß es um seine Selbständigkeit der gesamten Aufgabe gegenüber schlecht bestellt sein. Es bleibt ihm dann nichts übrig, als sich in Bezug auf die Lösung derselben dem Urteile seines vollständiger ausgerüsteten Mitarbeiters unbedingt und allgemein unter­ zuordnen. Es sei denn, daß ihm das Verständnis auch in Betreff der ihm ursprünglich dunklen Seiten der Aufgabe eröffnet und daß zugleich dem Einfluß des rücksichtlich ihrer überlegenen Genossen eine künstliche Schranke gesetzt werde. Mit Letzterem aber ist ein Charakteristikon des Geschworenengerichts gegenüber vom Schöffengerichte bezeichnet. Gerade das Zusammenfallen von Rechts- und Thatfragen im Bereiche der kriminalistischen Schuldftage also macht eine vollständige Lösung des unter I. besprochenen Problems in einer anderen als in der Form des Geschworenengerichts unmöglich. Bei alledem übersehe man nicht, daß, was mit Recht hervor­ gehoben wurde (Glaser), Rechtsftagen an den Schöffen in weit um-

222

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen Bett, die Schöffengerichte.

fassenderem Maße herantreten als an den Geschworenen, man müßte denn die Funktionen des Ersteren, der Grundanlage des Schöffeninstituts zuwider, nach dem in den Formen der Jury gegebenen Maßstabe ein­ schränken. Wenn man einmal Laien und Juristen zu Einem Kollegium vereinigt, so ist es der Konsequenz gemäß, die Ersteren an der Erledigung sämtlicher während der Hauptverhandlung an dieses Kollegium heran­ tretenden Fragen teil nehmen zu lassen. Schließt man mit dem zitirten sächsischen Gesetze die Schöffen

von der Mitwirkung in Bezug

einen Teil dieser Fragen aus, bezw.

auf

giebt ihnen (so hinsichtlich der

Straffrage) nur das Recht, eine Meinung zu äußern, und erlaubt ihnen etwa in Bezug auf einen weiteren Teil nur die Stellung von Anträgen (1. c. § 25 Abs. 3), so schwächt man damit die ohnedies nicht starke Position derselben den Juristen gegenüber und verleiht dem Institut den Schein der Künstelei. Beim Schöffengerichte wird es nach allem naturgemäß Regel herauskommen,

was

als die

bezüglich der gemischten Handelsgerichte

behauptet worden ist: daß die Laien nur das Urteil billigen, das sie nicht selbst gefunden haben.

Nicht, weil zu befürchten wäre, daß

von Seiten der Juristen eine unberechtigte „Pression" ausgeübt werde, sondern wegen des soeben besprochenen natürlichen Zusammenhangs von Rechts- und Thatfrage. Es will nun ein solches Ergebnis hier keines­ wegs als etwas völlig Wertloses hingestellt werden. Die Zwecke, welche mittelst der Heranziehung der Laien zur Rechtsprechung erreicht werden wollen, kommen auch damit in gewissem Umfange zur Verwirklichung. Auch mit der Annahme dieser Formen erreichen wir insbesondere das Eine, daß die Justiz wieder vollständig hinter dem Vorhänge hervor­ tritt, der ihre Wirksamkeit den Augen der Mehrheit des Volks so lange verborgen hatte, und ihr Tribunal wieder inmitten desselben aufschlägt. Indem sie die selbständigen Mitglieder desselben wechselsweise zu ihren Vertretern beruft, macht sie es Allen offenbar, daß in ihr nicht ein fremder Wille wirksam sei, sondern der eigenste Wille des Volks, das nationale Gewissen selbst. Allein dieser Gesichtspunkt ist wie alle für die Laienbeteiligung entscheidenden Gesichtspunkte in den Formen der Jury und konsequenter zur Geltung gebracht.

energischer

Das Schöffengericht ist

ein Kompromiß zwischen der Berechtigung dieser

Gesichtspunkte und

den praktischen Schwierigkeiten ihrer Realisirung, ein Stehenbleiben auf halbem Wege, welches die Gefahr einer Umkehr in sich schließt. Denn

Gutachten über drei GesetzgebungSsragen bett. Me Schöffengerichte.

223

die Ideen haben eine Aussicht auf dauernde Herrschaft nur in der ihnen adäquaten Form» nicht in Schöpfungen, welche den Charakter der Halbheit nicht verleugnen können. Die Geschichte der deutschen Schöffengerichte giebt hierzu ein nicht wohl abzuweisendes Exempel. Nur hinsichtlich der Zuziehung von Schöffen bei den Gerichten unterster Ordnung (beit Einzelgerichten) dürste sich jene Befürchtung nicht begründen laffen, weil in der Beteiligung der Schöffen hier eine wesentliche Bedingung für die Durchführung der in der heutigen Straf­ justiz anerkanntm Prinzipien gegeben ist (IV.). Darin liegt eine Garantie dafür, daß der Schein der Überflüssigkeit dieser Beteiligung hier nicht entstehen werde. Dies ist anders bei dem Schöffengerichte für mittlere Straffachen, bei welchem eine Mehrheit von Juristen mit einer Mehrheit von Laim verbundm ist. Hier kann jener Schein sich, namentlich für die Schöffen selbst, leicht bilden; zumal wenn zahlreiche Fragm lediglich durch die Juristen entschieden werden und diese damit den Schöffen als ein besonderes, mit umfaffenderen Rechten ausgestattetes Kollegium gegen­ übertreten. Ist dieses in Betreff der Schuldstage einig (man bemerke, daß die Juristm ihre Stimmm nach den betreffenden Gesetzen zuerst abgeben sollen), so werden die Schöffen Scheu trogen, dem Votum desselbm ihr eigenes entgegenzusetzen. Sind dagegen die Juristen ge­ teilter Meinung, so wird dies leicht eine Quelle der Verlegenheit für die Schöffen sein, wenigstens wenn die Differenz in einer verschiedenen Auffassung des Rechtspunkts sich begründet. Über die von jenen vor­ gebrachten Gründe und Gegengründe abzuurteilen, werden sie sich nicht in der Lage sehen, insbesondere weil die Ausführungen der Streitenden naturgemäß mehr auf die Auffassung der Gegner, die man widerlegen will, als der beim Streite nicht beteiligten Schöffen berechnet sein werden. Die Letzteren werden sich daher häufig, um nicht zu einem „non liquet“ genötigt zu sein, an äußerliche und zufällige Kriterien halten, was dem Gefiihl der Bedeutsamkeit ihrer Stellung und Wirk­ samkeit natürlich nicht förderlich sein kann. Dazu kommt, daß auch die Vorträge der Parteien zumeist auf die Denkweise der Juristen als der im allgemeinen ausschlaggebenden Mitglieder des Gerichts berechnet sein werden. Die günstigen Erfahrungen, auf welche man sich zugunsten des Schöffengerichts beruft, dürften eine enffcheidende Instanz gegen das hier abgegebene Urteil nicht bilden. Soweit dieselben sich auf die

224

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betr. die Schöffengerichte.

Gerichte unterster Ordnung beziehen, stehen sie mit diesem Urteile nicht in Widerspruch.

Soweit es sich dagegen um die zuletzt besprochenen

Schöffengerichte handelt, dürften sie nicht reichhaltig genug sein, um ein abschließendes Urteil jetzt schon darauf zu gründen.

Jedenfalls

wäre es thöricht, das Wertverhältnis zwischen Jury und Schöffengericht, worum es sich bei dieser Untersuchung handelt, nach diesen gegenwärtig vorliegenden Erfahrungen bestimmen zu wollen, davon abgesehen, daß wir mit der Jury den Weg der Reformen betreten und keineswegs vollendet haben, einen Weg, der hinsichtlich des Schöffengerichts nur in beschränkter Weise offen steht.

III. Die Ausdehnung des Wirkungskreises der Geschworenengerichte auf mittlere Straffälle scheint

mir unter gewissen

möglich und folglich empfehlenswert.

Voraussetzungen

Zu diesen Bedingungen aber

rechne ich vornehmlich: 1) Eine Verengerung dieses Wirkungskreises in der sub I. an­ gegebenen Richtung. Es liegen in dieser Hinsicht weitgehende Vorschläge von beachtenswerter Seite vor, deren Annahme und Durchführung mir jedoch nur im Zusammenhange mit einer Inangriffnahme des uns beschäftigenden Problems als empfehlenswert erscheint. Man will nämlich die Aburteilung durch Geschworene von dem Willen der Parteien ab­ hängig machen (Heinze, v. Bar).

Es giebt zahlreiche Strafsachen,

deren Erledigung keine prozessualischen Schwierigkeiten bietet und deren Überweisung an die Juristenkollegien, bezw. Einzelrichter unbedenklich sein würde. Die Fälle des glaubwürdigen Geständnisses gehören hierher, erschöpfen aber die Kategorie nicht.

Da nun einerseits eine scharfe

Abgrenzung derselben durch das Gesetz Schwierigkeiten bietet, anderer­ seits die in Betracht kommenden Gesichtspunkte natürliche Vertreter in den Parteien finden, so scheint es angemessen zu sein, diesen die Ent­ scheidung über die Zuziehung oder in die Hand zu geben. Dispositionsrecht geben.

Nichtzuziehung von Geschworenen

Bar will lediglich dem Angeklagten

ein

Dagegen läßt sich aber einwenden, daß die

Einführung der Geschworenengerichte nicht lediglich, wenn auch vor­ zugsweise, im Sinne einer Erweiterung der Garantien gegen ungerechte Verurteilungen erfolgt ist.

Den sub I. unter 4 und 5 erwähnten

Gesichtspunkten wird sich vielmehr nicht selten eine Beziehung auf die

Gutachten über tret Gesetzgebung-fragen betr. di« SchSffengrrichtr.

225

durch den Kläger, sei es den Privatkläger oder den öffentlichen, ver­ tretenen rechtlichen Jntereffen geben lassen. Deshalb würde beiden Parteien das Recht einzuräumen sein, auf der Aburteilung der Sache durch Geschworene zu bestehen, bezw. dieselbe zu provoziren. Dabei würde der öffentliche Kläger auf die in Betracht kommenden allgemeinen Gesichtspunkte im Gesetze besonders hinzuweisen sein. 2) Daß man sich entschließe, bei der Jury für mittlere Straf­ sachen eine schwächere Besetzung der Geschworenenbank eintreten zu taffen. Die gleichartigen Verhältnisse, welche auf dem Kontinente die Jury zur Einführung und zur Einführung unter wesentlich gleichen Modalitäten gelangen ließen, haben viele daran gewöhnt, diese Modali­ täten als zum Wesen des Instituts gehörig zu betrachten. So denkt man sich die Beziehung auf schwere Verbrechen als eine wesentliche, so die Zwölfzahl der Geschworenen als ein unveränderliches und gleichsam durch den Begriff der Jury gegebenes Element derselben. Beides ohne zureichenden Grund. Für die Aburteilung schwerer Verbrechen ist an der Zwölfzahl ohne Zweifel festzuhalten, und umgekehrt, so­ lange an dieser Zahl festgehalten wird, ist es wegen der Kostspieligkeit und des imposanten Charakters des Apparats natürlich, der Jury nur schwere Straffachen zuzuweisen. Die eine Schranke fällt aber mit der andern. Der Charakter der Jury weist allerdings auf eine relativ starke Besetzung der Geschworenenbank hin. Damit ist jedoch nicht jede Be­ rücksichtigung der größeren oder geringeren Wichtigkeit der abzuurteilenden Sachen ausgeschlossen. Wenn die Zwölfzahl dem Gewichte der bisher haupffächlich in die Kompetenz der Jury fallenden schwersten Straf­ sachen enffpricht, so wird eine geringere Zahl der Bedeutung geringerer Sachen gemäß sein. Praktische Bedenken dürften sich gegen eine Reduktion der Geschworenenzahl jedenfalls dann nicht erheben lassen, wenn man den unter 3 zu bezeichnenden Weg betreten würde. 3) Bei der geforderten kleinen Jury würde es jedenfalls nicht angehen, die einfache Majorität zu Ungunsten des Angeklagten ent­ scheiden zu lassen. Dies ist freilich auch bei der großen Jury verkehrt. Das allein Prinzipgemäße ist die Forderung der Einstimmigkeit für die Beur­ teilung. Sie allein enffpricht dem Charakter der Jury (I., Punkt 3), und sie allein dem Charakter der Straffache, bei welcher es sich nicht darum handelt, festzustellen, welche von den Parteien eine relativ

226

Gutachten über biet Gesetzgebungsfragen betr.

die Schöffengerichte.

größere Wahrscheinlichkeit für sich habe, und ob das Zünglein der Wage nach der Seite der Klage oder nach der Seite der Verteidigung ausbiege, sondern, ob der letzte berechtigte Zweifel an der Schuld ge­ hoben sei, sodaß, um im Bilde zu bleiben, in der Schale der An­ klage sich sämtliche Gewichte vereinigen.

Liegen Umstände vor, welche

die strikte Durchführung dieser Fordemng als unthunlich erscheinen lassen, so lasse man Modifikationen insoweit eintreten, als die Not­ wendigkeit hierzu vorliegt. gewöhnlich

aufgestellten

Zu den in den kontinentalen Prozeßgesetzen Regeln,

welche

auf die Voraussetzung der

prinzipiellen Angemessenheit des Gegenteils gegründet sind, wird man dabei wohl niemals gelangen.

Im Falle einer allgemeinen Beteiligung

der Laien bei der Rechtsprechung in dem hier befürworteten Sinne dürfte sich aber m. E. eine derartige Notwendigkeit überhaupt nicht Herausstellen. Jedenfalls nimmt diese Frage gegenüber von der in Vorschlag gebrachten Erweiterung der Kompetenz der Laienrichter eine besondere und wesentliche Bedeutung in Anspruch. — IV. In Bezug auf den Wirkungskreis der bisherigen Einzelgerichte ist natürlich

an eine Einführung der Geschworenengerichte nicht zu

Senfen.

Es würde deshalb hier nach dem früher Bemerkten die Zu­ ziehung von Schöffen zu befürworten sein. Mit ihr allein wird hier die Möglichkeit gewonnen,

den

sub I. entwickelten Gesichtspunkten

wenigstens in gewissem Umfange gerecht zu werden Weise

dem

gesamten Strafprozesse in

und

auf diese

wesentlichen Beziehungen

zu

einem einheitlichen Charakter zu verhelfen. Dazu kommt, daß nur durch eine solche Ergänzung des Einzelrichters das Prinzip der Öffent­ lichkeit und die Anklageform hinsichtlich der in Frage stehenden Sachen zu einer nicht bloß auf eine Karrikirung hinauslaufenden Durchführung gelangen zu können scheinen; sowie, daß dem Urteile des Richters durch die Mitwirkung der Schöffen, in welcher eine Garantie gegen Einseitigkeiten und Willkürlichkeiten des Ersteren immerhin geboten sein dürfte, „das moralische Gewicht einer Kollegialentscheidung" verliehen wird.

Damit wieder steht es im Zusammenhang, daß durch die Zu­

ziehung von Schöffen die Frage wenigstens zu einer diskutirbaren wird, ob die Berufung nicht auch in Betreff dieser Gerichte unterster Ordnung zu beseitigen sei (V.).

Die Wirksamkeit der Laien beim

Gutachten über drei Gefetzgebungsfragen betr. die Schöffengerichte.

227

Schöffengerichte kann zugleich als eine Art von Schule für die selbst­ ständigere Wirksamkeit derselben im schwurgerichtlichen Verfahren gelten. Jedenfalls endlich dürste der Einfluß jener im Lande zerstrmten Tri­ bunale durch die Zuziehung von Schöffen in der Richtung einer Be­ lebung des Rechtssinns und des Vertrauens auf die Existenz einer unparteiischen und mächtigen Justiz in wünschenswerter Weise erhöht werden. Alles dies ist bereits von mehreren ©eiten geltend gemacht worden und es dürste eine ernstliche Meinungsdifferenz in Betreff dieser Ar­ gumente auch in den Verhandlungen des Juristentags schwerlich her­ vortreten. Dasjenige aber, was oben zu Ungunstm der mit der Jury konkurrirenden Schöffengerichte gesagt worden ist, trifft bei der hier in Frage stehenden Ergänzung des Einzelrichters durch zwei Schöffen teils überhaupt nicht, teils nur in minderem Maße zu, die geringere Wichtigkeit des einzelnen Falles läßt die Schöffen dem Juristen gegenüber eher zu einiger Selbständigkeit gelangen. Auch fällt die bei ihnen hier vorauszusetzende Kenntnis von Personen und Lokal­ verhältnissen bei der geringeren Ausdehnung des Amtsbezirks dieser Gerichte sowie mit Rücksicht auf den Charakter der meisten von ihnen abzuurteilenden Sachen hier bedeutsamer ins Gewicht. Ich würde also die Frage 1 der Deputation dahin beantworten, daß allerdings eine Verbesserung der Strastechtspflege von der Be­ teiligung von Laien an der Wirksamkeit der Strafgerichte mittlerer und unterster Ordnung ermattet werden könne, daß diese Beteiligung aber nur hinsichtlich der Kompetenz der Letzteren in der Form des Schöffengettchts, hinsichtlich der Kompetenz der Ersteren dagegen in der (freilich entsprechend zu modifizirenden) Form der Jury stattfinden sollte. V. Wenn man sich entschließt, die Berufung in Bezug auf die Ent­ scheidung der Beweisstage abzuschaffen, so fügt man damit den bisher berücksichtigten Mottven für die Erweiterung der strafttchterlichen Thättgkttt der Laien einen weiteren gewichttgen Grund hinzu, wenn anders die oben entwickelte, und beziehungsweise die herrschende, Meinung über die Bedeutung dieser Thättgkeit begründet ist. Wir ermatten von der Beteiligung der Laien einen günstigen Einfluß auf die Gründlichkeit des Beweisverfahrens und eine Verstärkung der

228

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betr. die Schöffengerichte.

Garantie gegen ungerechte Verurteilungen, wir glauben ferner in ihr eine Gewähr dafür zu finden, daß Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Anklageform zu wirksamer Durchführung gelangen, und meinen, daß alles dies eine Steigerung des Vertrauens, zumal der Angeklagten, in die Strafrechtspflege, wenigstens hinsichtlich der Entscheidung der Schuldfrage, herbeiführen müsse. Ist zu solcher Erwartung Grund vorhanden, so ergibt sich von selbst, daß die Bedenken, welche sich gegen die Beseitigung der Berufung erheben lassen, durch die Zuziehung der Laien wesentlich abgeschwächt werden müssen. Denn die Bedeutung dieser Bedenken steht im umgekehrten Verhältnisse zu den behaupteten Vorzügen. So kommt dem bekannten Argumente gegen das Aufgeben der Berufungsinstanz, daß die Angeklagten häufig erst durch das Urteil in erster Instanz erführen, worum es sich gegen sie handle, sodaß sie erst in jener das Feld wirksamer Verteidigung fänden, offenbar eine um so höhere Berechtigung zu, in je unvollkommenerem Maße Münd­ lichkeit, Parteienöffentlichkeit und Anklageform zur Durchführung gebracht sind. Die Befürchtung ferner, daß die Beseitigung der Berufung eine Erschütterung des Zutrauens der Angeklagten zur Folge haben werde, ist selbstverständlich um so begründeter, auf je schwächeren Füßen der Kredit der erstinstanzlichen Urteile steht. Dem entspricht die Erfahrung, welche hinsichtlich des Wegfalls der Berufung gegenüber von den Urteilen der Schwurgerichte gemacht worden ist. Man hat diesen Wegfall von vornherein als durch den Charakter des schwurgerichtlichen Verfahrens geboten angesehen, ohne daß man gerade in diesem Umstande einen Grund gegen die Ein­ führung des Geschworeneninstituts gefunden hätte. Auch sind hinsichtlich desselben keine Erscheinungen hervorgetreten, welche das Institut diskreditirt, oder wenigstens eine allgemeinere Bewegung zugunsten der Einführung einer irgendwie gestalteten Revisionsinstanz hervorgerufen hätten. Allerdings sind von Einzelnen Vorschläge in dieser Richtung gemacht worden. Aber einerseits sind dieselben als Ausdruck einer allgemeineren Stimmung nicht zu betrachten, andererseits stützen sie sich nicht auf die oben angedeuteten, jetzt vornehmlich zugunsten der Berufung geltend gemachten Gründe. Was nun die Zuziehung von Laien in der Form des Schöffen­ gerichts betrifft, so gilt auch hier das oben über das Verhältnis von Jury und Schöffengericht Gesagte. Die Gesichtspunkte, welche bei

Gutachten übet drei Gesetzgebun-Sfragen bett. Mt Schöffengerichte.

229

der Ersteren die Beseitigung der Bemfung als minder bedenklich er­ scheinen lassen, machen sich auch zum Teile in Betreff des Schöffen­ gerichts geltend, wenn auch nach der hier entwickelten Ansicht nicht durchaus in dem nämlichen Maße. Hinsichtlich der Gerichte unterster Ordnung kann von einer Be­ seitigung der Berufung selbstverständlich nur unter der Voraussetzung die Rede sein, daß der Einzelrichter durch Schöffen verstärkt wird. Ob freilich diese Beseitigung hier unter der angegebenen Voraussetzung unbedenklich sei, ist eine andere und, solange nicht umfaffendere Erfahmngen hinsichtlich der Wirksamkeit dieser gemischten Gerichte vor­ liegen, schwer zu beantwortende Frage. M. E. ist den Verurteilten hier das Recht der Berufung jedenfalls insolange nicht zu entziehen, als man an dem Majoritätsprinzip auch zu Ungunsten der Angeklagten festhält (III.). Sollte man übrigens eine Beseitigung der Berufung gegen Ur­ teile derartiger Schöffengerichte nicht als zulässig erachten, so möchte ich in Betreff der Behandlung der geringeren Straffachen vielleicht die Einschlagung eines anderen, freilich bis dahin praktisch nicht er­ probten Weges statt des sub IV. besprochenen empfehlen. Es würd« dann vielleicht angemessener sein, von der Zuziehung von Laien in erster Instanz hier völlig abzusehen, dafür aber gegen die Enffcheidungen des Einzelrichters eine Berustmg an die (kleine) Jury (III.) zu ge­ statten. Ähnliches ist bereits von Anderen vorgeschlagen worden. Es ist hier indes nicht der Ort, dabei zu verweilen. Hiernach würde die zweite der von der Deputation gestellten Fragen zu bejahen sein. Es bezieht sich aber das hier Gesagte nur auf den Rekurs gegen die Enffcheidung der Schuldfrage, nicht auf den gegen die Entscheidung der Straffrage. Hinsichtlich des Letzteren s. unten sub VII. VI. Die dritte der gestellten Fragen läßt sich wieder in die folgenden auflösen: 1) Ist den Laien (Schöffen) nur die Enffcheidung der Thatfrage oder die Entscheidung der gesamten Schuldstage (die Fest­ stellung der relevanten Thatsachen samt deren Subsumtion unter den gesetzlichen Begriff) zu übertragen?

230

Gutachten über drei GesetzgebunAsfragen betr. die Schöffengerichte.

2) Ist denselben eine Mitwirkung bei der Entscheidung der Straf­ frage einzuräumen? ad 1. Hinsichtlich der Jury kann die erstere Frage als seit geraumer Zeit erledigt gelten. Es besteht jedenfalls im Bereiche der Doktrin kein Zweifel darüber, daß die Geschworenen nicht auf that­ sächliche Feststellungen zu beschränken seien, daß ihnen vielmehr die Feststellung der Schuld vor dem Gesetze (wozu die Subsumtion des Faktums unter den gesetzlichen Begriff wesentlich gehört) obliege. Die Gründe hierfür liegen einerseits in der Idee, welche wir mit dem Geschworenengerichte verbinden (I., Punkt 3), andererseits in dem engen Zusammenhange von Faktum und Rechtspunkt und den technischen Schwierigkeiten, welche der Versuch einer Beschränkung des Geschworenen­ verdikts auf das Erstere überall hervortreten ließ. Was nun das Schöffengericht betrifft, so fragt es sich zunächst, ob die angedeuteten Gründe für die Erstreckung der Laienthätigkeit auf die gesamte Schuldfrage bei ihm in Wegfall kommen. Dies ist zu verneinen. Jenen ideellen Gesichtspunkten ist die Berechtigung gegenüber von dem Schöffengerichte ebenso wenig abzusprechen wie gegenüber von der Jury. Und in den Formen des Schöffengerichts liegt nichts, was eine konsequente Scheidung von Rechts- und That­ frage leichter macht oder überhaupt als durchführbar erscheinen ließe. Wenn man mit dem sächsischen Gesetze den ständigen Richtern aufgiebt, die Fragen, bei deren Beantwortung die Schöffen mitwirken sollen, im Sinne einer Beschränkung der Letzteren auf thatsächliche Fest­ stellungen (endgiltig) zu fixiren (§ 29 1. c., § 2 der Ausführungs­ verordnung), so ist nicht abzusehen, wie der Umstand, daß es sich um Schöffen und nicht um Geschworene handelt, die in der Natur der Sache liegenden Schwierigkeiten einer derartigen Operation verschwinden lassen soll. Es ist aber ferner zu behaupten, daß bei dem Schöffengerichte zu diesen Gründen gegen die Beschränkung der Laien auf die Fest­ stellung des Faktums noch andere hinzutreten. Hinsichtlich der sub IV. besprochenen Dreirichterkollegien springt dies in die Augen. Durch die Zuziehung der Schöffen soll hier die Entscheidung die Bedeutung einer Kollegialentscheidung gewinnen. Dies entfällt aber, wenn die Schöffen nur über Teilfragen, welche und wie sie von dem ständigen Richter für sie aus der Schuldfrage herausgeschnitten werden, zu urteilen haben.

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betr. die Schöffengerichte.

231

Überhaupt aber ist die in Frage stehende künstliche Beschränkung der Laienwirksamkeit mit der Grundform des Schöffengerichts in weit entschiedenerem Widerspruch als mit der des Geschworenengerichts, wie bereits oben (sub II.) auszuführen versucht wurde. Auf der anderen Seite ist die Gefahr, daß der mit der Sub­ sumtion betraute Laie sich willkürlich über das Gesetz hinaussetzen oder wenigstens die von dem Juristen gegebene Erläuterung desselben ignoriren werde, bei den Schöffen, deren Stellung kaum eine volle Selbständigkeit, geschweige denn eine Überhebung zuzulassen scheint, jedenfalls eine geringere als bei den Geschworenen. VII. ad 2. Die Grundgedanken des Geschworenen- und Schöffen­ institutes geben an sich kein Motiv für den Ausschuß der Laien von der Entscheidung der Straffrage an die Hand. Sie stehen vielmehr zu dieser in dem nämlichen Verhältnisse wie zu der im engeren Sinne sogenannten Schuldsrage, von welcher im Bisherigen die Rede war. Gleich dieser fällt die Straffrage nach einer Seite hin in den Bereich der quaestio facti, und somit in das den Laien grundsätzlich zuerkannte Gebiet. Die Frage nach dem Vorliegen der für das Straf­ maß entscheidenden schulderhöhenden oder schuldmindernden Umstände ist ebenso faktischer Natur wie die Frage nach dem Vorliegen der zu einer Verbrechensart gehörigen oder der einen Strafausschließungsgrund konstituirenden Thatsachen; oder, mit anderen Worten, die Umstände, welche auf eine bestimmte Schuldgröße und folgeweise auf ein bestimmtes Strafmaß hinweisen, fallen ebenso in das Gebiet der thatsächlichen Feststellungen, wie die Umstände, von welchen Schuld und Strafe überhaupt abhängen. Auch besteht ein solcher Zusammenhang zwischen den für die strafrechtliche Beurteilung eines Delikts relevanten That­ sachen oder den verschiedenen Seiten der von dem Strafrichter zu beantwortenden quaestio facti, daß eine Übertragung ihrer Fest­ stellung und Würdigung an verschiedene Funktionäre an sich als will­ kürlich und unnatürlich erscheint. Von diesem Punkte aus würden wir daher zu der Forderung einer Beteiligung der Laien auch bei der Entscheidung der auf das Strafmaß bezüglichen Fragen gelangen. Andererseits handelt es sich auch bei der Straffrage um die An­ wendung der gesetzlichen Grundsätze auf die in concreto vorliegenden Thatsachen, also um eine juristische Funktion. Dieselbe steht aber

232

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betr. die Schöffengerichte.

mit der Erledigung der erwähnten faktischen Fragen im engsten Zusammenhange. Ja es ist hier eine Trennung der beiden Funktionen in einem weit strikteren Sinne undurchführbar als bei der Schuld­ frage im engeren Sinne. Mit der Feststellung von Umständen, welche in die Kategorie der schulderhöhenden oder schuldmindernden fallen, ist die Straffrage ihrer faktischen Seite nach nicht erschöpft. Der Schwer­ punkt liegt hier vielmehr in der Bestimmung der Maßverhältnisse, in welchen solche Umstände bei der That sich geltend machten. So würde z. B. mit der. einfachen Konstatirung des Affekts bei den Tötungsverbrechen im allgemeinen gar nichts bewiesen sein. Denn nicht leicht wird ein schweres Verbrechen in schlechthin affektlosem Zustande begangen. Andererseits kann der Affekt von solcher Bedeutung sein, daß eine Bestrafung der That gar nicht mehr als gerechtfertigt erscheint. Damit sind die Endpunkte einer Skala bezeichnet, welche zahllose Abstufungen umfaßt. Dieselben aber lassen einen bestimmten Ausdruck nach Zahl, Maß oder Gewicht nicht zu. Statt ihrer dient uns die Strafenskala. Wir bestimmen die faktische Bedeutung eines betreffenden Milderungsgrundes, indem wir auf dieser Strafenskala eine entsprechende Zahl von Stufen herabsteigen. Damit ist hier aber zugleich die Rechtsfrage erledigt. Die Beantwortung der quaestio facti und die Subsumtion des Faktums unter das Gesetz fallen hier also in Einem Ausdrucke zusammen und bilden nur verschiedene Seiten einer wesentlich unteilbaren Funktion. Dies würde uns auf die Alternative hinausführen, den Laien entweder auch die Subsumtion unter das Gesetz, d. h. hier die Bestimmung des Strafmaßes, zu übertragen, beziehungsweise sie zur Mitwirkung hierbei zu berufen, oder aber mit dieser Subsumtion auch die Entscheidung der quaestio facti zu entziehen. Die meisten Gesetzgebungen freilich lassen diese Alternative nicht gelten, sondern versuchen es mit einer Teilung. Sie überlassen die Konstatirung der im Gesetze mit besonderen Folgen verbundenen Strafbestimmungsgründe den Geschworenen. Ebenso zum Teile die Konstatirung nicht weiter bestimmter „mildernder Umstände". Aber sie bringen damit in das Zusammenwirken der beiden Richterbänke nur eine gewisse Unklarheit und beziehungsweise Unwahrheit. Oder liegt darin nicht eine Unklarheit, wenn die Geschworenen das Vorhanden­ sein eines Milderungsgrundes feststellen, der Gerichtshof aber, der vielleicht von dem Nichtvorhandensein desselben überzeugt ist, den

Gutachten über drei Gesetzgedungsfragen betr. die Schöffengerichte.

233

Umfang, in welchem er existiren soll, zu bestimmen und die ihm dem­ entsprechend beizumessende Bedeutung innerhalb der weiten hierfür gesetzten Grenzen zu fixiren hat! Und involvirt es nicht eine Un­ wahrheit, wenn der Gerichtshof den relativen Wert der von den Geschworenen kvnftatirten „mildernden Umstände" innerhalb des hierfür aufgestellten außerordentlichen Strafmaßes bestimmt, und wenn auf der anderen Seite der Geschworene in souveräner Weise über das ordentliche Strafmaß verfügt, ohne es selbst und die Umstände zu tarnen, auf welche es berechnet ist! Auf dem Wege einer Teilung der Straffrage zwischen den gelehrten und den Laienrichtern ist daher hier nicht zum Ziele zu kommen. Ebenso wenig aber geht es an, dieselbe in der Weise wie die Schuldfrage im schwurgerichtlichen Verfahren dem Urteil der Laien­ richter ungeteilt zu untabreiten. Es steht dem zunächst entgegen, daß der Rechtspunkt hier ein weit komplicirtaer ist als bei da Schuldfrage. Bei der Letzteren handelt es sich in da Hauptsache um die Anwendung eines einzigen Begriffs: des Verbrechensbegriffs, welcher angeblich in der Handlung verwirklicht wurde. Bei der Straf­ bemessung dagegen handelt es sich um eine Vergleichung des einzelnen Falls mit dem Gesamtinhalte der Gesetzgebung, um die Fruchtbar­ machung des letzteren für den einzelnen Fall im Wege der Analogie, d. h. um eine Funktion, für welche dem Laien die Voraussetzungen nicht in der Weise wie für die Entscheidungen der Schuldfrage, durch eine kurze Belehrung, gegeben werden können. Dazu kommt die wichtige Rücksicht auf die Behandlung, welche ähnlichen Fällen zuteil ward. Die Forderung gleichmäßiger Hand­ habung der Gesetze spielt hier in dem Maße eine größere Rolle wie bei der Schuldfrage, als der für das richterliche Ermessen bezüglich der Straffrage eingeräumte Spielraum Verletzungen derselben in höherem Maße möglich macht und befürchten läßt. Sollen dieselben in den Grenzen relativer Unschädlichkeit eingeschlossen bleiben, so müssen die ständigen Richter, wenn nicht ausschließlich, so doch in erster Linie zur Entscheidung der Straffrage berufen bleiben. Andererseits entspricht der völlige Ausschluß der Laienrichter von dieser Funktion dem Charakter des Geschworenen- und des Schöffen­ gerichts nicht. Die Prinzipien, welche wir mit der Einführung dieser Institute zur Geltung zu bringen suchen, weisen, wie bereits bemerkt wurde und wie aus dem über die Natur der Straffrage Gesagten

234

Gutachten über drei Gesetzgebungssragen betr. die Schöffengerichte.

hervorgeht, auf eine Beteiligung der Laien auch bei der Entscheidung dieser Frage hin. Wir wollen durch die Heranziehung der Laien zur Urteilsfindung den Inhalt des geltenden Rechts dem allgemeinen Bewußtsein näher bringen und Garantien gewinnen für die Erhaltung des Einklangs zwischen diesem und jenem. Dieses Interesse besteht aber hinsichtlich des Strafmaßes in derselben Weise wie hinsichtlich der Grenzen des strafrechtlichen Gebietes. Wir wollen in der Thätigkeit der Laienrichter ferner ein Gegengewicht gegen das büreaukratische Element und damit eine Garantie gegen ein schablonenhaftes Behandeln der Verbrechensindividualitäten gewinnen. Diese Rücksicht aber ist gerade in Betreff des Strafmaßes eine besonders bedeutsame. Wenn einerseits der ständige Richter allein die zu fordernde Gleichmäßigkeit der Strafmaßpraxis gewährleisten kann, so ist derselbe andererseits gerade hier der Gefahr ausgesetzt, über äußeren Ähnlichkeiten das Besondere zu übersehen oder zu unterschätzen. Auch das bekannte Mösersche Argument hat in Bezug auf die Behandlung des Strafmaßes die nämliche Be­ deutung wie in Bezug auf die Entscheidung der Schuldfrage u. s. w. Da nun der Ausschluß der ständigen Richter von der Entscheidung der Straffrage verworfen werden muß, der Ausschluß der Laienrichter von derselben als inkonsequent erscheint und eine Teilung der Frage unmöglich ist, so empfiehlt sich für diese Funktion eine Vereinigung von Juristen und Laien in der dem Schöffengerichte charakteristischen Form. Das natürliche Übergewicht, welches bei dieser Vereinigung den Juristen zufällt, entspricht hier der Natur der zu lösenden Aufgabe. Die Mitwirkung der Laien wird aber um dieses Übergewichts der Juristen willen hier keine bedeutungslose sein. Vielmehr dürften sie bei der Abschätzung der die Schuld erhöhenden oder mindernden Um­ stände sowohl berufen wie geneigt sein, eine selbständige Meinung zum Ausdruck zu bringen, dadurch aber mit der Zeit einen wichtigen Ein­ fluß auf die Entwicklung des Strafmaßes ausüben und zwar im Sinne einer fortgesetzten Ausgleichung zwischen dem letzteren einerseits und der Volksüberzeugung und Volksstimmung in Bezug auf die Be­ strafung der Verbrechen und der allgemeinen Gesittung andererseits. Bei dem Schöffengerichte erscheint es ohne weiteres als das Natürliche, in den Bereich der gemeinsamen Beratung und Abstimmung auch die Straffrage hereinzuziehen. Bei den durch Schöffen verstärkten Einzelgerichten macht sich überdies der Umstand geltend, daß dem Urteile auch in seiner Beziehung auf die Straffrage die Bedeutung

Gutachten über drei Gesetzgebungsfragen betr. die Schöffengerichte.

235

der Kollegialentscheidung zu wünschen, aber nur durch die Mitwirkung der Schöffen auch in Bezug auf diese Seite der richterlichen Aufgabe zu gewinnen ist. Wenn aber diese Mitwirkung hier als unbedenklich erscheint, wie man mehrfach anerkannt hat, so ist nicht einzusehen, wie sie bei den Schöffengerichten mittlerer Ordnung gefährlich und unzulässig sein soll. Auch

hinsichtlich

des Schwurgerichts

dürfte

ein

entscheidender

Grund gegen ein derartiges Zusammenwirken von Laien und Juristen zur Entscheidung der Straffrage nicht vorliegen.

Jedenfalls ist darin

die einzig mögliche Vermittlung zwischen den oben charakterisirten mit­ einander kollidirenden Rücksichten auch in Betreff des schwurgerichtlichen Verfahrens gegeben. Vergl. hierzu aus den „Verhandlungen des 22. d. Juristentags" (Bd. IV. 1893): Antrag Merkel: Es empfiehlt sich die Durchführung der Schöffen­ gerichtsverfassung bei den Gerichten der mittleren Ordnung. Begründung: Mein Wunsch geht dahin, daß wir uns zur Zeit beschränken auf eine Befürwortung der Schöffengerichtsverfassung bei den Gerichten mittlerer Ordnung. fach.

Die Gründe dafür sind sehr ein­

Ich bin für ein schrittweises Vorgehen der Gesetzgebung.

Aber

ich bin auch für ein schrittweises Vorgehen bei unseren Beschlüssen. Ich möchte nicht, daß der Juristentag als seine Anschauung zum Aus­ druck bringt: wir wollen schrittweise, den Erfahrungen folgend, vor­ gehen, aber wir beschließen bereits jetzt, welche Erfahrungen der erste Schritt nach sich ziehen muß.

Geben wir der Schöffengerichtsverfassung

die wichtige Positton in der mittleren Ordnung und lassen wir sie hier wirksam werden.

Weisen die Erfahrungen, die wir damit machen,

und die Einwirkung derselben auf die Volksanschauungen auf eine all­ gemeine Durchführung dieser Verfassung hin, dann werden alle die Befürchtungen, die wir heute äußern hörten, hinfällig sein; dann wird die Entwurzelung des „Weltrechtsinstituts" der Jury das Rechtsgefühl im Volke nicht verwirren können.

Ich meine, daß auch Freunde der

Schwurgerichte, und ich gehöre selbst zu ihnen, meinem Anttage zu­ stimmen können,

es sei denn, daß sie Scheu tragen, die voller ent­

wickelte Jnstttuüon der Schöffengerichte in offene Konkurrenz mit den Schwurgerichten

treten

Majorität angenommen.)

zu

lassen.

(Der Antrag wird

mit

großer

Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen. (Antritts-Vorlesung an der Wiener Universität.)

1872.

Der Gegenstand der heute zu eröffnenden Vorlesungen, das Straf­ recht, ist, wie das Wort an die Hand giebt, durch die Begriffe des Rechts und der Strafe bestimmt. Jenen kann ich als bekannt voraus­ setzen; dieser soll uns heute samt seiner Geschichte beschäftigen. Nach dem Strafrechte der römischen Republik hatte der Dieb das Vierfache oder nach Umständen das Doppelte des Werts der gestohlenen Sache an den Bestohlenen zu bezahlen. Diese Zahlung schloß zwei Bestandteileinsich: den Ersatz des zugefügten Schadens und die verwirkte Strafe. Ersatz und Strafe erscheinen hier aber in nichts geschieden. Die nämliche Klage ging auf Beides. Ein Rechtsstreit umfaßte und erledigte Beides und die Zahlung erfolgte ungeteilt an denselben Kläger. Dies weist uns auf die Ausgangspunkte der Rechtsentwicklung hin. Die rechtliche Folge, welche sich mit den Rechtsverletzungen ver­ bindet und dieselben in ihrer praktischen Bedeutung für das Rechts­ leben aufzuheben bestimmt ist, erscheint ursprünglich als eine einheitliche, in gleichen Formen sich vollziehende. Erst allmählich sondert sie sich den äußeren Formen nach in die privatrechtliche Ausgleichung, zu welcher der Ersatz gehört, und die strafrechtliche Ausgleichung. Wie es aller Entwicklung charakteristisch ist, ursprünglich Verbundenes zu sondern und in eigenartigen Formen zu selbständigem Leben zu bringen, so auch der Entwicklung des Rechts. Von einfachen Formen aus­ gehend, führt sie zu gegliederten Instituten, welche den Reichtum der im Begriffe des Rechts, des Unrechts und der Bekämpfung des Un­ rechts, oder, um an dem schon gebrauchten Ausdrucke festzuhalten, der rechtlichen Folgen des Unrechts, enthaltenen Beziehungen zur Anschauung und zur Geltung bringen.

Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen.

237

Einmal gesondert haben Ersatz und Strafe ihre eigene Geschichte, die in ihren weit auseinandergehenden Bahnen die ursprüngliche Ver­ bundenheit und die wesentliche Gleichheit dieser Bestandteile der recht­ lichen Folge des Unrechts durchaus zu verleugnen scheint. Auffallend ist hier vor allem die Einfachheit und Gleichförmig­ keit der Geschichte des Ersatzes und überhaupt der privatrechtlichen Ausgleichung im Gegensatze zu dem Reichtum an Wandlungen und mannigfaltigsten Gestaltungen, welcher in der Geschichte der Strafe hervortritt. Nur dem tiefer dringenden Auge ist es erkennbar, daß dieser reiche Wechsel sich innerhalb der Peripherie des bereits bestimmten einfachen Begriffs der rechtlichen Folge des Unrechts bewegt und nichts zum Vorschein bringt, was nicht, wenigstens dem Keime nach, auch in dem Begriff des privatrechtlichen Ersatzes eingeschloffen liegt. Die Erklärung der bezeichneten Verschiedenheit ergiebt sich uns, wenn wir die fraglichen Formen rechtlicher Ausgleichung: Ersatz und Strafe ihren besonderen Merkmalen nach ins Auge faffen. Der Ersatz ist Wiederherstellung des dem Rechte entsprechenden Zustandes innerhalb der Vermögensverhältnisse. In der Verletzung dieser letzteren ist für ihn ein fester, einfacher und unveränderlicher Maßstab gegeben; der Dieb, der das Vermögen des Bestohlenen um 100 gemindert hat, kann die privatrechtliche Ausgleichung nur bewirken, indem er 100 zurückerstattet. Dies gilt für heute wie für gestern. Ein Wechsel ist darin nicht denkbar. Auch erledigt sich die Frage, wer zur Forderung des Ersatzes berechtigt sein soll, ebenso wie die Frage nach dem Zweck des Ersatzes von selbst und gleichmäßig für verschiedene Zeitalter und Völker. So stellt sich hier die zu lösende Aufgabe als eine einfache dar, und folgeweise auch die Geschichte ihrer Lösung. Die Strafe dagegen hat es nicht mit einer äußeren Störung und deren Ausgleichung zu thun, sondern mit dem, was übrig bleibt, wenn der äußere Schaden ausgeglichen ist. Dies sind geistige Wirkungen des Verbrechens, welche eine von der äußeren Störung unabhängige Gefahr für den Bestand der rechtlichen Ordnung in sich schließen. Sie treten hervor in dem Bewußtsein des unmittelbar durch die That Verletzten und der ihm Nahestehenden, im Bewußtsein des Verbrechers und seiner Gesinnungsverwandten und im Bewußtsein der nicht direkt verletzten Volksgenossen. Im Bewußtsein des unmittelbar Berichten stellen sie sich insbesondere dar als Gefühl einer erlittenen Kränkung,

238

Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen.

als Rachelust und als Furcht vor weiteren Verletzungen, int Bewußt­ sein des Verbrechers als befestigte Macht der zum Verbrechen führenden Kräfte, im Bewußtsein seiner Gesinnungsverwandten als Lust zur Nachahmung des gegebenen Beispiels, im Bewußtsein der übrigen Volksgenossen als Minderung des Vertrauens in die Macht des Rechts, als Furcht vor Verletzung der Interessen, welche von der Aufrecht­ erhaltung dieser Macht abhängen u. s. w. In diesen Wirkungen des Verbrechens aber haben wir es mit einer komplizirten und wesentlich veränderlichen Größe zu thun. Denn sie sind notwendig verschieden nach dem Charakter der Beteiligten und nach den Zuständen, in welchen dieselben leben. So zeigen die Empfindungen, Gedanken und Bestrebungen, welche im Bewußtsein des Volkes in Bezug auf bestimmte Gruppen von Verbrechen, durch diese veranlaßt, hervortreten, sich nach Inhalt und Kraft verschieden je nach der Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Zustände. Darin begründet es sich, daß die Strafe, welche von diesen Wirkungen des Verbrechens abhängt und ihnen gegenüber den nor­ malen Zustand im Reiche des Bewußtseins aufrecht zu erhalten be­ stimmt ist, sich in verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern nach Qualität und Quantität, nach ihrer unmittelbaren Richtung, nach den Formen und den Bedingungen ihres Eintritts verschieden gestaltet. So mußte der Dieb in bestimmten Zeiten als Strafe den zweifachen, vierfachen, achtfachen Wert des gestohlenen Gutes zahlen, in anderen Zeiten wurde er gehenkt, jetzt wird er mit einer Freiheits­ strafe belegt. Ferner galt zur Forderung der Strafe in bestimmten Zeiten der verletzte Einzelne, in anderen bei gewissen Völkern jeder aus dem Volke, bei anderen lediglich die Gesamtheit in ihren ständigen Vertretern als berufen. Endlich hat die Frage nach Zweck und Grund und Maß der Strafe die verschiedenste Beantwortung, sowohl in der allgemeinen Meinung, wie im Bereiche der Wissenschaft erfahren. Das Problem, das die Strafrechtspflege zu lösen hat, ist sonach ein komplizirtes und in zahlreichen Beziehungen variirendes. Daher der reiche Wechsel in der Geschichte seiner Lösung, sowohl auf prak­ tischem, wie auf theoretischem Gebiete. Der Gegensatz zwischen der privatrechtlichen und strafrechtlichen Ausgleichung hat übrigens nicht bloß diese formale Bedeutung (daß dort Gleichförmigkeit, hier Veränderlichkeit herrscht u. s. w.), sondern zugleich eine ideale Bedeutung. Die ideale Bedeutung der Geschichte

Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen.

239

der Strafe nämlich ist eine andere und höhere als die der privat­ rechtlichen Ausgleichung. Die Strafe hängt, wie bemerkt, von den Wirkungen des Ver­ brechens im Bewußtfein der von mir genannten Beteiligten ab. Diese Wirkungen aber bestimmen sich nach dem Charakter von diesen und nach den Zuständen, in welchen sie leben. Zu den Beteiligten gehört aber vor allem die Gesamtheit der Volksgenossen. Sie hat sich seit lange in dem größeren Teile Europas als der Hauptinteressent geltend gemacht. Darin liegt, daß die Gestaltung der Strafjustiz bei einem Volke charakteristisch sein müsse für dieses selbst und seine Zustände, daß sie uns die bewegenden Kräfte im Bewußtsein desselben erkennen und auf den tiefsten Grund desselben blicken lassen müsse. Sie werden es danach verstehen, wenn ich die Geschichte des Strafrechts als den tiefgreifendsten Kommentar zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit bezeichne. Eine kurze Schilderung, wie sich eine Seite jener Entwicklungs­ geschichte in der Geschichte des Strafrechts spiegelt, mag diese ideale Bedeutung der letzteren klarlegen. Die Geschichte des Strafrechts läßt uns erkennen, daß im Leben der Gesellschaft die Sphäre bewußten, d. h. durch eine deutliche Er­ fassung humaner Zwecke bestimmten und die Mittel zum Zwecke bewußt gestaltenden Handelns sich allmählich erweitert habe, und zwar insbe­ sondere erweitert habe auf Kosten der Herrschaft blinder Affekte und auf Kosten der Herrschaft des Autoritätsprinzips. Die folgenden Daten sollen diese Behauptung erläutern. Auf niedrigeren Stufen völkerfchaftlicher Entwicklung zeigt sich das Strafrecht, wenn dieses Wort auf die Vorläufer einer geordneten staatlichen Strafrechtspflege anwendbar ist, beherrscht durch den Affekt. Der unmittelbar durch das Verbrechen Verletzte übernimmt dessen Ahndung, getrieben durch das empörte Gefühl, durch den Schmerz, den die erlittene Kränkung ihm bereitet. Das erhitzte Blut, nicht Überlegung, treibt ihn zur Rache. Fast unwillkürlich schlägt er nach dem, der ihn zuerst geschlagen, wie das Kind nach dem Stuhle schlägt, an dem es sich weh gethan hat. Innerhalb gewisser Grenzen hat seine That ohne Zweifel die rationellen Wirkungen der Strafe. Denn in der Erfahrung, daß der Bruch des Friedens die Rache seitens des zunächst Beteiligten nach sich ziehe, lag die einzige Garantie für die

240

Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen.

Wahrung der Grundlagen dieses Friedens.

Die Furien erscheinen so

als die ältesten Wächter und Bürgen des öffentlichen Friedens, des Bestandes

einer sanktionirten,

einer

rechtlichen Ordnung.

Aber

die

rationelle Bedeutung der Rache liegt nicht im Bewußtsein des Rächers und ist nicht das

Motiv seines Handelns.

Nicht um die Geltung

der verletzten Norm zu sichern, verfolgt er den Verbrecher, als

Sklave

eines

dämonischen

Affekts.

Er

will nicht

sondern

abschrecken,

präveniren, bessern u. s. w., sondern den leidend sehen, der ihm Leiden zugefügt hat,

ohne sich

darüber Rechenschaft zu geben, warum ihm

dies Befriedigung gewähre. Er realisirt die Aufgaben, welche mittelst der Strafe zu lösen sind, als blindes Werkzeug, und realisirt sie um dieser Blindheit willen in unvollkommenster Weise.

Denn der Affekt

ist wenig geeignet, Maß zu halten und sich ein Ziel zu setzen und das Gleichgewicht herzustellen zwischen den schwebenden Schalen der Schuld und der Strafe. Der Affekt bringt daher die Vergeltung nicht zum Ziel.

Die That des Rächers ist Grund

zu neuer Rache und

verewigt so den Streit, statt ihn abzuschließen. So

vertreten

ursprünglich

niedere

Kräfte

die

Interessen

Gattung und besorgen den Haushalt des Völkerlebens; sorgen ihn schlecht.

der

aber sie be­

Kommen höhere Kräfte zu glücklicher Entfaltung,

so verdrängen sie jene und übernehmen die reinere Lösung der immer aufs neue gestellten, das Wohl der Völker umfassenden Aufgaben. Der Fortschritt über die bezeichnete

Stufe der Herrschaft des

Affekts hinaus wird dadurch vermittelt, daß zwischen den der Begehung einer Übelthat mit oder ohne Grund Beschuldigten und den durch diese That Verletzten Andere, unmittelbar nicht Beteiligte treten und auf die Prüfung der Schuld und deren rechtliche Ausgleichung Einstuß gewinnen.

Dies geschieht in mancherlei Formen und im ganzen und

großen in aufsteigender Progression. An die Stelle des leidenschaftlich erregten Gefühls

tritt

so

allmählich

das

abwägende Urteil

relativ

Unbefangener und verleiht der Strafe mehr und mehr einen rationellen Charakter.

Das

Gebiet,

das

auf diesem Wege der Herrschaft des

Affekts und eines leidenschaftlich erregten egoistischen Interesses ent­ rissen wird, das fällt der Herrschaft des Gedankens zu. Eine älteste Form dieser Einmengung ist in Folgendem gegeben. Die Gemeinde begünstigt die Flucht des eines Verbrechens Beschuldigten, damit Spielraum gewonnen werde für eine auf die Vermeidung oder den Loskauf

der Rache gerichtete Vermittlung.

Denn sie hat vor

Der Begriff der Strafe

in

feinen geschichtlichen Beziehungen.

241

allem ein Interesse daran, daß das durch die That begründete Streitver­ hältnis ein Ziel gesetzt bekomme. „Gar trefflich", heißt es bei Euripides, „Gar trefflich ward dies von den Vätern eingesetzt, Datz aus der Leute Augen wich und nicht im Bolk Sich zeigen durste, wer die Hand mit Blut befleckt: Nicht wieder sterben sollt’ er, sondern durch die Flucht Entsühnung suchen,- denn des Bluteö wäre sonst Ein Ende nie gewesen,- und der letzte Mord Hätt' immer frische Rach' und neuen Mord gezeugt."

Diese Form der Einmengung Dritter läßt an die Stelle der Rache für die Regel das Bußgeld bettn. Dasselbe hat einen rationelleren Charatter als jene, indem mittelst seiner eine wesentliche Seite des Strafzwecks, und zwar gerade die für die Rache überhaupt nicht erreichbare, nämlich die definitive Ausgleichung des Geschehenen zwischm den zunächst Beteiligten, in bewußter Weise verwirklicht wird. Aber bei dieser Form der Einmengung hat es nicht sein Be­ wenden. Mehr und mehr wird vielmehr der unmittelbar durch die That Verletzte beiseite gedrängt und seinem Gefühle der Einfluß auf die Besttafung erschwert. Die Rache wird verpönt. Desgleichen die private Ausgleichung zwischen jenem und dem Verbrecher, das Bußgeld verliert den Charatter des Loskaufgeldes für jene und fließt in die Kassen des Staats. Die Sttafe streift jede spezifische Be­ ziehung auf den verletzten Privaten und dessen Interessen ab, und selbst ihr Eintritt wird innerhalb weiter Grenzen unabhängig gemacht von seinem Willen. An seine Stelle tritt die Gesamtheit mit ihren Organen, in welchen der durch die That entzündete Affekt sich gleich­ sam nur wie im Wiederscheine geltend macht, und welche daher im­ stande sind, der Sttafe einen höheren Charakter zu verleihen. Dort freilich, wo das Volk selbst sich unmittelbar durch die That gettoffen fühlt, gilt von ihm das Nämliche, wie von dem Einzelnen. Der Privatrache steht die öffentliche, von der eine Unter­ art in der Lynchjustiz gegeben ist, mit wesentlich gleichem Charatter zur Seite. Auch treten in ihrer Geschichte ähnliche Erscheinungen zu Tage wie in der Geschichte der Privatrache. Eine bemerkenswette Rolle spielt hier insbesondere das Asylrecht. Dem wegen einer Übel­ that Verfolgten eröffneten sich im Mittelalter, wie vordem bei dm Juden, Griechen und andern Völkern, Zufluchtsstätten, wo sie Muße finden konnten, ihre Unschuld zu erweisen und Freunde und Vermittler

242

Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen.

in Bewegung zu setzen, um eine gerechte oder milde Behandlung für sich zu erwirken. Noch heute findet sich etwas Ähnliches in dem politischen Asylrechte. Dem wegen politischer Verbrechen Verfolgten nämlich öffnen sich Schutzstätten jenseits der Grenzen seines Landes noch heute, und es steht dies in unleugbarem Zusammenhang mit der Thatsache, daß der Teil der Strafrechtspstege, welcher die politischen Verbrechen betrifft, im ganzen der Entwicklungsstufe noch am nächsten steht, welche durch die Herrschaft des Affekts charakterisirt ist, eine Thatsache, welche ihrerseits auf den Charakter des spezifisch politischen Lebens ein bedeutsames Licht wirft. Im übrigen haben wir bessere Garantien gegen den Einfluß der auch in der Gesamtheit und deren Organen mächtigen irrationellen Faktoren gewonnen, als sie in dem Asylrechte gegeben waren. Zwischen jene und den Beschuldigten und allgemein zwischen die durch die That erregten Interessen und Leidenschaften und die Strafe tritt heute ein neutraler Faktor von hoher Bedeutung, nämlich das Gesetz. Nicht die Eindrücke, welche die einzelne That hervorbringt, sollen fortan den Maßstab abgeben für die Behandlung des Thäters, sondern die allgemeine Erfahrung in Bezug auf früher begangene ähnliche Thaten und deren Bedeutung für die rechtliche Ordnung, diese allgemeine Erfahrung, insofern sie einen objektiven, feststehenden Aus­ druck im Gesetze gefunden hat. Das Schicksal der Beschuldigten also soll lediglich bestimmt werden durch das Gesetz und zwar durch ein Gesetz, welches den Maßstab für ihre Beurteilung aufgestellt hat, ehe ihre Thaten begangen waren. Es ist eine lange Entwickelung, welche in der uneingeschränkten Anerkennung dieses Satzes ihren Abschluß findet. Mit ihr aber be­ ginnt eine neue Epoche für die Strafrechtspflege. Dieselbe stellt sich damit auf einen Standpunkt, wo der Wellenschlag, den die einzelne That in den Meinungen und Stimmungen engerer oder weiterer Kreise erregt, nicht mehr zu ihr empordringt. Nun erst scheint Themis die Binde um die Augen zu legen und der Wage in ihrer Hand eine wirkliche Bedeutung zu verleihen. Freilich gilt dies nur dort, wo die Anerkennung des fraglichen Satzes nicht eine bloß theoretische geblieben ist, wo vielmehr praktische Garantien dafür gegeben sind, daß der Richter sich an das Gesetz binde, und daß Gesetzgebung und Regierung nicht in die Sphäre richterlicher Thätigkeit übergreifen.

Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen.

243

In den Ländern aber, wo dies der Fall ist, da vollzieht sich, hier rascher, dort langsamer, eine wesentliche Umwandlung in der Haltung der Strafjustiz. Während bis dahin die Züge der Leiden­ schaft nicht vollständig aus ihrem Anllitz entschwanden, kennzeichnen sie nun immer entschiedener Maßhaltigkeit und Besonnenheit. Eine kritische Prüfung begleitet beständig ihre Wirksamkeit und der Einfluß der Wissenschaft auf sie beginnt ein beherrschender zu werden. Während sie ehedem, dem Standpunkt des Affekts gemäß, ein Hauptgewicht auf sinnliche Eindrücke und äußerliche Spuren ihrer Wirksamkeit legte, geht nun das Bestreben auf eine Belebung geistiger Faktoren. Jener sinnlichen Richtung entsprach u. a. die Öffentlichkeit der Hinrichtungen und sonstigen Exekutionen, dieser geistigen entspricht dagegen die Öffentlichkeit der Verhandlungen über Schuld oder Nicht­ schuld, welche bestimmt ist, die Entwicklung und Befestigung des Rechts­ bewußtseins im Volke zu fördern. Übersehen wir alle die Bestrebungen und Reformen, welche sich dieser Wandlung unterordnen und anschließen, so erhalten wir den Eindruck eines Erwachens aus einer traumartigen und durch trübe Affekte hin und her gezogenen Existenz zu deutlichem Selbstbewußtsein. Die Entwicklung des Letzteren hat übrigens unabhängig von der allmählichen Paralysirung des Affekts eine reiche Geschichte. Auf eine wesentliche Seite derselben, nämlich auf ihr Verhältnis zur Herrschaft des Autoritätsprinzips, habe ich bereits hingewiesen und will bei derselben nun noch kurz verweilen. Der Gedanke, der zuerst im allgemeinen Bewußtsein Macht erlangt, bringt die Strafe in eine Beziehung zu einem höheren, zu dem gött­ lichen Willen. In der Vorstellung, daß das Verbrechen diesen die Sitte und die bestehende Ordnung heiligenden Willen verletze, und daß die Strafe diesem Willen diene, ihm Genugthuung gewähre oder auch einfach die Erfüllung seines Gebotes sei, finden die allgemeineren Beziehungen der Strafe, die über das verletzte Einzelinteresse hinausgreifeuden Wirkungen derselben im allgemeinen Bewußtsein ihren ersten Ausdruck. So erfassen die Völker die allgemeinere Bedeutung von Formen und Regeln des Handelns ursprünglich nur, indem sie dieselben in Zusammenhang bringen mit ihren religiösen Vorstellungen und den Äußerungen eines übergeordneten Willens. Aus diesem Zusammenhang erwächst den Institutionen Ansehen und Kraft, und das intellektuelle

244

Der Begriff der Strafe in feinen geschichtlichen Beziehungen.

Bedürfnis der Völker findet Jahrhunderte hindurch in dieser einfachen Auffassung und Begründung derselben seine Befriedigung. Die Entwickelung der Einrichtungen führt indessen zur Lösung dieses Abhängigkeitsverhältnisses. Die Elemente ethischen Lebens, welche in jener Vorstellung sich verbunden finden, scheiden sich in Folge dieser Entwickelung und behaupten fortan ihre Selbständigkeit gegen einander in gesonderten Formen und Instituten. So setzen sich Recht und Religion auf höheren Entwicklungsstufen zu Beider Vorteil auseinander. An diesem Verweltlichungsprozeß des Rechts, der z. B. bei den modernen Völkern ein wichtiges Blatt in der Geschichte der letzten 100 Jahre ausfüllt, nimmt auch das Strafrecht Anteil. Wie indessen dieser Prozeß in Bezug auf das öffentliche Recht im allgemeinen einen vollständigen Abschluß noch nicht gefunden hat, so insbesondere in Bezug auf das Strafrecht. Gerade hier machen theokratische An­ schauungen sich mit besonderer Zähigkeit geltend. Sie finden hier scheinbar eine besondere Stütze in gewissen viel angerufenen Bibelworten. So in dem Satze von dem Schwerte, das die Obrigkeit nicht umsonst trage, in dem Satze, wer Blut vergossen, deß Blut soll wieder ver­ gossen werden u. s. w. Diese Äußerungen werden in dem Sinne gedeutet, daß die Obrigkeit, indem sie das Schwert der Gerechtigkeit führe, einen göttlichen Auftrag vollziehe, und daß in diesem die von Rück­ sichten der Zweckmäßigkeit schlechthin unabhängige Begründung der Strafe gegeben sei. In den Kämpfen der Gegenwart um Aufhebung oder Beibehaltung der Todesstrafe, für und gegen die Milderung des Strafrechts und die Einschränkung seines Gebietes findet dieser Stand­ punkt beständig eifrige Vertreter. Was irgend an einer theokratischen Auffassung staatlicher Dinge festhält, das setzt sich einer Abschwächung der Strafgewalt in den angedeuteten Beziehungen unter Berufung auf jenen Auftrag und dessen vermeintliche, das ganze Gebiet der Sitt­ lichkeit oder wenigstens der äußeren Sittlichkeit umfassende Bedeutung entgegen. So berief sich Fürst Bismarck in den Verhandlungen des Norddeutschen Reichstags über die Todesstrafe auf den höheren Charakter der obrigkeitlichen Strafgewalt gegen die nach seiner Meinung im Gebiete der Strafrechtspflege platzgreifende Sentimentalität und Schwächlichkeit. Den tiefsten Grund der Letzteren will er darin gegeben finden, daß uns das Bewußtsein jenes höheren Auftrags abhanden gekommen

Der Begriff der Strafe in seinen geschichtlichen Beziehungen.

245

sei, und daß wir daher die furchtbar ernsten Funktionen der Strafjustiz ganz auf unsere menschliche Verantwortlichkeit zu nehmen genötigt seien. In der That handelt es sich bei dm Gegnern dieses Standpunktes gerade darum, die Bestrafung der Verbrechen wie jede staatliche Thätigkeit im Zusammenhang menschlicher Interessen zu begreifm und zu begründen. An die Stelle eines dunklen, uns der Verant­ wortlichkeit überhebenden Auftrags soll die deutliche Kenntnis der Bedingungen und Folgen unserer Wirksamkeit auch auf diesem Gebiete treten, damit wir sie den gesellschaftlichen Interessen entsprechend und so gestalten können, daß wir sie menschlich zu verantworten vermogm. Aber der Streit, der sich in der Sphäre der Strafrechtspflege um diesen Punkt bewegt, hängt mit den allgemeinen Gegensätzm im Bereiche des öffentlichen Lebens zusammen und ist in seinem weiteren, übrigens vorher bestimmbaren Verlaufe von dem allgemeinen Vorwärts­ dringen des wissenschaftlichen Geistes abhängig. In unserem Gebiete hat die Doktrin die bezeichnete rationalistische Aufgabe mit Ernst in Angriff genommen und die verfchiedenen Merk­ male und Beziehungen der Strafe allmählich hervorgestellt und der Praxis gegenüber zur Geltung zu bringen gesucht. Es geschah dies jedoch zunächst in einer Folge von einseitigen und einander ausschließenden Darstellungen. Man vermochte jeweils nur einer einzelnen Richtung der Strafe, z. B. der auf Abschreckung, Vorbeugung oder Besserung gerecht zu werden. Sie sollte die Rechts­ begründung der Strafe in sich schließen, welche doch nur in der Gesamtbedeutung der Strafe für den Bestand der rechtlichen Ordnung gefunden werden kann. Von einer Erklärung der geschichtlichen Ent­ wickelung vom Standpunkte dieser einseitigen Theorien konnte selbst­ verständlich keine Rede sein. Ihre Unzulänglichkeit machte es möglich, daß im Bereiche der Doktrin selbst das freilich hier in rationalistische Formen gekleidete Autoritätsprinzip sich wieder und ivieder etablirte. Die Berufung auf ein höheres Gebot, auf den Willensakt irgend einer den Einzelnen übergeordneten Macht hat den Vorzug, scheinbar keine Frage offen zu lassen und doch keine so präzis zu entscheiden, daß die Unzuläng­ lichkeit der Entscheidung in die Augen spränge. Den religiösen Charakter aber hat das Prinzip in diesem Bereiche abgestreift. An die Stelle der göttlichen Anordnung ist ein kategorischer Imperativ oder die objektive Vernunft, oder auch der Volkswille und die Bolksüberzeugung

246

Der Begriff der ©träfe in seinen geschichtlichen Beziehungen.

getreten. Aber in allen btefeit Potenzen sind nur neue Autoritäten an die Stelle der alten getreten, und ihre gemeinsame Bedeutung ist es, die Schwächen einer unentwickelten Auffassung zu verbergen. So ist die Bemfung auf die Bolksüberzeugung, welche die Strafe fordere und das Maß derselben an die Hand gebe, vortrefflich geeignet, Fragen zu beseitigen, nicht aber sie zu ertebigen. Wir fragen, wie die Veränderungen sich erklären und unter welchen Gesetzen sie stehen, welche in dieser Überzeugung hervorgetreten sind; woher der Zug zur Humanisirung des Strafrechts stamme, der darin sich geltend macht, und woher der Absterbeprozeß, dem ein Teil des Strafrechts unter dem Einfluß dieser Überzeugung verfallen ist. Aber wir haben es mit einer Autorität zu thun, der eine Begründung ihres Verhaltens nicht abzufragen ist, und der gegenüber die Wisienschast daher sich auf die passive Rolle eines Zuschauers und Chronikschreibers zu be­ schränken hätte. Aber dies ist nicht das Ziel des Weges, auf welchem die Wissen­ schaft seit Jahrhunderten vorwärts dringt. Derselbe führt nicht zur Beseitigung, sondern zur Erweiterung ihres Einflusses auf das Verhalten des Volkes und die Entwickelung seiner Zustände. Dies gilt unzweifel­ haft auch hinsichtlich der Wissenschaft des Strafrechts. Die zuletzt bezeichneten Theorien aber sind nur die Platzhalter einer allumfaffenden und zugleich einheitlichen Auffassung, von welcher wir die Einsicht in den Zusammenhang des geschichtlichen Verlaufs und eine höhere Fähigkeit zur Leitung gegenwärtiger Bestrebungen zu erlangen hoffen. Dies mag genug sein, um Sie auf den bedeutsamen Zusammenhang aufmerksam zu machen, in welchem die Geschichte der Strafrechts­ wissenschaft und des praktischen Strafrechts steht und in welchem sie aufgefaßt sein wollen. — Goethe rät denjenigen, welche sich in einer Gegend heimisch machen wollen, einen hohen Standort aufzusuchen und sich den Lauf der Flüsse und Bäche zu merken, welche die Gegend durchziehen, als die beste Vorbereitung für eine Durchwandenmg der Gegend. In diesem Sinne wollte ich Sie heute, vieles antizipirend, auf einen Höhepunkt führen, von dem aus sich das Gebiet, in welchem Sie sich heimisch zu machen gedenken, weithin übersehen läßt, und von dem aus Sie sich den Lauf der Ströme in diesem Gebiete als Merkzeichen für künftige Wanderungen einprägen könnm.

Einige Se-enken gegen Las Strafensystem -es -rutschen Strafgesetzbuches. (Allem Anschein nach ein 1872 dem österreichischen Justizministerium erstattete» Gutachten über den damals zur Beratung stehenden Entwurf etner Strafprozeß­ ordnung.)

Das Strafensystem des deutschen Strafgesetzes ruht auf keiner einheitlichen Grundlage. In der Gestaltung des Verhältnisses von Zuchthaus, Festungshaft und Gefängnis zu einander sind einander ausschließende Auffassungen geltend gemacht worden. 1) Der Regierungs-Entwurf ging von dem zu billigenden Gedanken aus, daß weder bestimmte Arten von Delikten schlechthin als ent­ ehrend zu behandeln seien, noch bestimmte Arten der Freiheitsstrafe. Derselbe ist jedoch in beiden angegebenen Beziehungen nicht zu kon­ sequenter Durchführung gekommen. In der ersteren Hinsicht genügt es auf § 161 und § 181 hin­ zuweisen. In der letzteren kommt zunächst § 31 in Betracht, welcher mit der Zuchthausstrafe die dauernde Unfähigkeit zum Militärdienste und zur Bekleidung öffentlicher Ämter verhindert, damit aber dieser Strafe, wie nicht wohl geleugnet werden kann, den Charakter einer infamirenden verleiht. Dem entspricht § 20, welcher bestimmt, daß, wo das Gesetz die Wahl gibt zwischen Zuchthaus und Festungs­ haft, auf ersteres nur erkannt werden dürfe, wenn die Handlung aus einer ehrlosen Gesinnung entsprang. Diese Bestimmung nötigt den Richter hier mit dem Zuchthause allemal den Verlust der bürger­ lichen Ehrenrechte zn verbinden. Dadurch aber erhält das Zuchthaus offenbar das Gepräge einer spezifisch ignominiösen Strafart. Von dieser Auffassung der letzteren ging auch die Majorität des deutschen Reichstags aus, und aus ihr erklären sich (darüber lassen die Verhandlungen keinen Zweifel) die Änderungen, welche dieselbe in Bezug auf die Anwendung der Festungshaft durchsetzte.

248

Einige Bedenken gegen daS Strafensysirm deS deutschen Strafgesetzbuches.

2) Hinsichtlich der Festungshaft haben sehr verschiedene Auf­ fassungen auf die Bestimmungen des deutschen Strafgesetzes Einfluß gewonnen. Ursprünglich war sie zunächst als eine (speziell dem Zweikampfe sich anpassende) Anstandsstrafe gedacht.

Es wollten für gewisse Delin­

quenten die faktischen Ehrenfolgen vermieden werden, welche in der öffentlichen Meinung mit dem Erleiden der Zuchthausstrafe sich ver­ binden, und welche mit der Gestaltung

des Strafvollzugs

in

den

Zuchthäusern u. a. in einem nicht leicht aufzuhebenden Zusammenhange stehen.

Vergleiche hierüber die Motive z. 2. Entw.

Zugleich aber sah man in der Festungshaft

eine

leichtere

Freiheitsstrafe, und diese Auffaffung ward, mit Beiseitelassung des vorhin erwähnten Momentes, in wichtigen Bestimmungm zur Geltung gebracht.

Hierher gehört es,

Paragraphen exklusiv

für

gedroht

auf die objektive,

den

Fall

wird.

Da

>vie

daß des

die Festungshaft in Vorliegens

die mildernden

zahlreichen

mildernder Umstände

auf die subjektive Seite

Umstände

sich

sowohl

der Handlung be­

ziehen können, so ist hier der Zusammenhang der Festungshaft mit dem Ehrenpunkte im Prinzip ausgegeben.

Hierher gehört ferner die

Art, wie das Verhältnis der Festungshaft zum Gefängnis bestimmt ist.

Sie ist nämlich mehrfach in alternative Verbindung mit dem

letzteren gebracht worden,

ohne daß dabei wie gegenüber vom Zucht­

hause auf die Ehrenfrage Bezug genommen würde.

Man ging viel­

mehr einfach von der Auffassung aus, daß Gefängnis in den schwererm, Festungshaft in den leichteren Fällen zu verhängen sei. des 1. Entwurfs. keine

Stützpunkte

Arg. § 24

Für eine abweichende Auffassung sind im Gesetze gegeben.

Endlich

läßt sich

§ 21

hierherziehm,

welcher achtmonatliche Gefängnisstrafe einer einjährigen Festungshaft gleichstellt. Beiläufig bemerkt, stimmt diese Qualifizimng der Festungshaft nicht zu dem Verhältnis, in welchem sie nach § 1 zur Dreiteilung steht. In den Verhandlungen des

Reichstags machte sich nun, und

zwar in ausschlaggebender Weise, eine dritte Auffassung geltend.

Der

Reichstag sah im Zuchthaus, wie schon erwähnt, die spezifisch infamirende Freiheitsstrafe. Gedanke der

Regierung

Der nicht präzis zum Ausdruck gebrachte fand

kein

Verständnis.

Die

Strafe aber schien für politische Verbrechen unpassend.

infamirende Hier bot sich

nun Festungshaft als eine mit Ehrenfolgen für die Regel nicht ver-

ölntge Bedenken gegen daS Strafendstem des deutschen Strafgesetzbuches.

249

bundene und ihrem bisherigen Gebrauche noch auf infamirende Delikte nicht hinweisende Strafart an. Da die Regierung auf eine exklusive Drohung derselben bei den politischen Verbrechen nicht einging, so drohte man sie alternativ. neben Zuchthaus. Diese Auffassung des Reichstags ist aber nichts weniger als konsequent durchgeführt worden. Den Politikern der Reichstagsmajorität war es natürlich, gerade nur die politischen Verbrechen in Protektion zu nehmen. Sachlich motivirt war dies nicht. Ist Zuchthaus die infamirende, Festungs­ haft die nicht infamirmde Verbrechensstrafe, so ist die ausschließliche Drohung der ersteren bei jeder Verbrechensart ungerechtfertigt. — Daß auch im Gebiet der politischen Verbrechen an eine konsequente Durchführung des Majoritäts- (beziehungsweise Meyer'schen) Gedankens nicht zu denken sei, ergibt ein Blick auf die ersten Abschnitte des speziellen Teils. Mit dieser Auffassung verträgt es sich ferner nicht, daß nach § 20 auf Festungshaft auch erkannt werden kann, wenn die That aus einer ehrlosen Gesinnung entsprang. Desgleichen steht damit im Widerspruch das Verhältnis der Festungshaft zum Gefängnis und die Verbindung, in welche sie mit den mildernden Umständen gebracht ist. Durch die Unklarheit des Gesetzes ist endlich noch für ander­ weitige Auffassungen die Möglichkeit gegeben, sich geltend zu machen. So namentlich für die Auffassung der Festungshaft als einer Surrogat­ strafe für Gebildete. Vergleiche z. B. Oppenhoff § 20 n. 4. Es scheint mir dem im § 1 festgestellten prinzipiellen Verhält­ nisse von Zuchthaus und Gefängnis nicht entsprechend zu sein, daß ersteres bis auf ein Jahr herabgeht. Man könnte dafür geltend machen, daß für manche relativ leichte Delikte der Vollzugsmodus des Zuchthauses als angemessen erscheint und umgekehrt der des Gefäng­ nisses für relativ schwere Delikte. Allein, wenn diese Meinung be­ gründet ist, so weist sie auf eine wesentliche Änderung des Systems hin; nämlich auf die Einführung von Parallelstrafen, welche sich von den Normalstrafen durch eine andere Gestaltung des Strafvollzugs unterscheiden würden. (Siehe unten Bogen 3.) Hierauf weist auch § 57,1 hin, welcher Gefängnis bis zu 15 Jahren anordnet. Hier kann offenbar nicht mehr die Rede davon sein, daß diese Strafart in der Beziehung auf leichtere Delikte ihr spezifisches Merkmal habe. Auch scheint das sonst festgehaltene Verhältnis von Zuchthaus

250 Einige Bedenken gegen das Strafensystem des deutschen Strafgesetzbuches. und

Gefängnis darin

verleugnet zu sein,

daß

Festungshaft

als

Parallelstrafe für beide vorkommt, ohne daß ihre verschiedene Schwere dabei eine Berücksichtigung fände. Was schließlich noch das Verhältnis von Zuchthaus und Festungs­ haft betrifft, so dürste es nicht unbedenklich sein, daß für zahlreiche Kategorien von Verbrechen die letztere, also die hinsichtlich ihrer Schwere noch unter dem Gefängnis stehende Strafart, durch § 20 zur Normalstrafe erhoben ist.

Modifikationen des deutschen Strafensystems? Unbedenklich dürste es sich empfehlen, hinsichtlich der Ehrenstrafen (im weitern Sinne) ein einfaches Entweder-Oder gelten zu lassen.

Die

Halbheit der deutschen Entwürfe in dieser Beziehung hat sich gerächt. Sie machte die Position der Regierung

den Meyerschen Anträgen

gegenüber zu einer unhaltbaren. Hält Zuchthause

man

eine vollständige Loslösung

mit Rücksicht

auf

den

Namen

der Ehrenfolgen vom des

denklich, so wähle man einen anderen Namen.

letzteren

für be­

Der Umstand, daß

die mit Zuchthaus zu bedrohenden Verbrechen meist oder vielleicht sämtlich mit gewissen Ehrenfolgen zu verknüpfen sind, hindert nicht eine formale Scheidung dieser Strafübel.

Die Bestimmung des § 31

würde daher zu streichen sein. Unter der Voraussetzung, daß mit dieser Scheidung Ernst gemacht würde, könnte von der Festungshaft vielleicht ganz Umgang ge­ nommen werden.

Wenigstens wenn ihr keine andere Bedeutung bei­

gelegt werden will, als die ihr nach dem deutschen Strafgesetzbuch zukommt.

Denn:

1) Soweit die Festungshaft nur eine leichtere,

zwischen Ge­

fängnis und Hast stehende, Freiheitsstrafe vorstellt (siehe oben), ist sie unnütz. 2) Soweit sie die Bedeutung einer für gewisse Delikte berechneten Anstandsstrafe hat, dürfte sie entbehrlich sein. es sich hier nur um den Zweikampf.

Im Grunde handelt

Die Gründe aber, welche hier

auf eine besonders milde Behandlung hinweisen, subsumiren sich genauer betrachtet

allgemeineren straftechtlichen

Gesichtspunkten, welche auch

den übrigen Verbrechensarten gegenüber eine Bedeutung erlangen können. Das Besondere liegt nur darin, daß dieselben beim Zweikampfe in der

Einige Bedenken gegen das Strafensystem des deutschen Strafgesetzbuch«-.

251

Regel der Fälle und in besonders hervorstechender Weise stch geltend machen. durch

Die Einführung einer besonderen Strafart wird aber hier­

strenggenommen nicht gerechtfertigt,

jedenfalls

nicht zu einer

Notwendigkeit erhoben. 3) Soweit sie einen Gegensatz zu der infamirenden Zuchthaus­ strafe bilden soll, verliert sie ihren Sinn, sobald die letztere nicht mehr als infamirend behandelt wird. Will man endlich geltend machen, daß durch ihre Anwendung auf die politischen Verbrechen diesen eine Ausnahmsstellung verliehm werde, so halte ich dies für kein glückliches Argument.

Genug, wenn

wir diese

Bereiche des

Berbrechen

im

Prozesse privilegiren.

Im

materiellen Strafrechts kann es sich wohl nur darum handeln, daß den allgemeinen Prinzipien der Zurechnung und Strafbemessung, nament­ lich auch hinsichtlich der Ehrenfrage eine uneingeschränkte Geltung ge­ sichert werde.

Führt uns dies dahin, in der Mehrzahl der Fälle

Ehrenfolgen nur in geringem Umfange oder gar nicht eintreten zu lasten und dem Strafvollzug nicht eine Gestaltung zu geben, welche auf

die Voraussetzung

sittlicher Verdorbenheit

oder

Verwahrlosung

gestellt ist, so wird damit ein Gegensatz zu anderen Verbrechensarten nicht hergestellt, und die Einführung einer speziellen Strafart gerade nur für diese Gruppe der politischen Verbrechen nicht motivirt.

Gleich­

wohl würde es nt. E. wünschenswert sein, zu der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe eine Parallelstrafe einzuführen, wenn die vorhandenen Strafanstalten und die sonst hier in Betracht kommenden Verhältnisse dies gestatten sollten. Der Strafvollzug in den Zuchthäusern geht im allgemeinen von der Voraussetzung einer sittlichen Verwahrlosung des Verbrechers aus und strebt danach, den Charakter einer erziehlichen Zucht anzunehmen. Auch der großen Mehrzahl der den Gefängnissen zuzuweisenden Sträf­ linge gegenüber handelt es sich um Zucht und Erziehung. rität der Delinquenten gegenüber ist dies nicht der Fall.

Der Mino­ Den ent­

gegengesetzten Rücksichten, welche sich hier geltend machen, würde aber vollständig nur zu entsprechen sein, wenn eine Sonderung der betreffenden Kategorien den Anstalten nach durchgeführt wäre.

In diesem Falle

möchte sich auch eine verschiedene Benennung der Anstalten empfehlen. Das Urteil, daß in dem Verbrechen eine sittliche Verwahrlosung sich kund gebe oder nicht kund gebe, fällen.

könnte natürlich nur der Richter

252

Einige Bedenken gegen daS Strafensystem des deutschen Strafgesetzbuches.

Von einer Beschränkung

aus gewisse Verbrechensarten oder auf

die Verbrechen im Gegensatze zu den Vergehen könnte bei der Ein­ führung solcher Parallelanstalten natürlich

keine Rede sein.

Gleich­

wohl würde die Anzahl der ihnen zuzuweisenden Delinquenten keine große sein. Doch mag ich mich auf dem Gebiete eigener Projekte hier nicht vorwagen.

Meine Meinung ist nur,

„Festungshaft"

oder

„Einschließung"

daß für die Einführung einer ein

zureichender

Grund

nicht

vorliegt, wenn man ihr nicht eine wesentliche Beziehung zu dem an­ gedeuteten Momente geben will. Sollte, was mir nicht unmöglich scheint,

die Meinung für eine

Loslösung der Ehrensolgen von der schwersten Art der Freiheitsstrafe sich nicht gewinnen lassen, so bliebe natürlich eine

nichts übrig,

als ihr

nicht infamirende Parallelstrafe an die Seite zu stellen.

Es

würden dann aber dieser Festungshaft oder Einschließung nicht wie im deutschen Strafgesetzbuch noch verschiedene anderweitige mit dem Ehrenpunkte in keinem Zusammenhange stehende Funktionen zu über­ tragen sein.

Insbesondere

die Seite zu setzen sein.

würde sie nicht auch dem Gefängnis an

Dagegen würde die Beschränkung, in welcher

sie im deutschen Strafgesetzbuch neben Zuchthaus gedroht wird, zugeben sein. Ich sammen.

auf­

Ferner wäre § 20 zu modisiziren u. s. w.

fasse meine Ansicht über die Festungshaft

nochmals

zu­

als die mit

dem

Dieselbe hat nur Sinn:

1) Gegenüber

von infamirenden Strafarten

Verluste der bürgerlichen Ehrenrechte nicht verbundene Freiheitsstrafe. In dieser Hinsicht wird sie überstüssig durch die selbständige Normirnng dieses Verlustes.

Davon abgesehen nimmt sie eine Bedeutung in An­

spruch für das ganze Bereich, in welchem infamirende Freiheitsstrafen gedroht sind. 2) Gegenüber von Freiheitsstrafen, auf eine sittliche Zucht berechnet ist.

deren

Durchführungsmodus

Derselbe verhält sich zum Ehr­

gefühle nicht indifferent; insofern besteht zwischen diesem und dem unter 1)

erwähnten

Unterscheidungsmerkmal

ein

gewisser

Zusammenhang.

Gleichwohl berufen sich die Verteidiger der infamirenden Strafen mit Unrecht auf den Zusammenhang des Vollzugsmodus mit dem Ehr­ gefühl.

Auch

kommen

wir

bei

der

Abgrenzung

des

Gebiets

der

Festungshaft keineswegs zu dem nämlichen Resultate, wenn wir dieses zweite Moment als maßgebend behandeln,

wie wenn wir von

der

253

Einige Bedenken gegen daS Strafendstem deS deutschen Strafgesetzbuches.

Frage ausgehen,

welche Delikte mit dem Verluste der

Ehrenrechte (nicht) zu verbinden seien.

bürgerlichen

Bei dieser letzteren spielt z. B.

die Schwere des Verbrechens eine ganz andere Rolle als bei der Frage, ob der Thäter einer sittlichen Zucht

als

bedürftig erscheine und

ob

das Pönitentiarsystem, wie es in den Zuchthäusern durchgeführt ist oder durchgeführt werden soll, auf ihn passe.

Die Behandlung der Übertretungen.

1)

Dem, was in der Anlage

I

über die Ausnahme der Über­

tretungen in das allgemeine Strafgesetz gesagt wird, dürfte sich etwas Stichhaltiges nicht entgegensetzen lassen. Gründe es

sich um

gegen eine solche Aufnahme bestehen nur insoweit, als polizeistraftechtliche Bestimmungen von bloß lokaler oder

bloß vorübergehender Bedeutung oder von wechselndem Inhalte handelt. Die Verletzungen von solchen passen aber ebenso wenig in eine selbst­ ständige

Kodifikation

des

Polizeistraftechts

wie

in

das

allgemeine

Strafgesetz. Im

übrigen stehen die Polizeivergehen zu einem guten Teile in

einem näheren Verhältnisse zu besümmten Verbrechen oder Vergehen, und die betreffenden Vorschriften erscheinen als ein wesentliches Komple­ ment

zu den die letzteren betreffenden Bestimmungen.

So finden die

Vorschriften über Münzverbrechen und -Vergehen, über Urkundenfälschung, Brandstiftung,

über

die

Eigentumsverbrechen,

die

politischen

Ver­

brechen u. s. w. ihre Ergänzung in den die Übertretungen betreffenden Vorschriften.

Es ist dies in umfassendster und zugleich handgreiflicher

Weise im geltenden österreichischen Strafrecht, aber auch im deutschen Strafgesetz, trotz der mehr prinzipiellen Abgrenzung der Übertretungen in demselben, der Fall.

Es ist aber nicht rationell, Normen, welche

sich in Bezug auf den strasgesetzlichen Schutz der nämlichen Institutionen, verwandten Handlungen

gegenüber,

aneinanderschließen,

verschiedenen

Kodifikationen zuzuweisen. Die

abweichenden Grundsätze,

welche in Bezug

auf

die allge­

meinen straftechtlichen Fragen für die Behandlung der Übertretungen aufzustellen sind, sondern

weisen nicht auf eine völlige Absonderung derselben,

auf das Gegenteil hin,

da sie sich als Modifikationen des

im allgemeinen Teile des Strafgesetzes aufzustellenden Systems (welches im übrigen auch für die Übertretungen gelten würde) darstellen.

Es

254

Einige Bedenken gegen das Strafensystem des deutschen Strafgesetzbuches.

ist aber nicht rationell, Regel und Ausnahme in verschiedenen Büchern zu placiren. 2) Der Vorschlag, einen Teil der im deutschen Strafgesetz als „Vergehen" in

behandelten Delikte den Bezirksgerichten zuzuweisen

dieser Hinsicht

schließen,

findet

dem bisherigen

und

österreichischen Rechte sich anzu­

in den gegebenen Verhältnissen ohne Zweifel seine

zureichende Begründung. Eine andere Frage ist, ob es sich empfehle, diese Delikte auch in materiell strafrechtlicher Hinsicht von den Vergehen zu scheiden und mit den Übertretungen zu vereinigen, d. h., sie der künftig einer selbständigen materiellen Behandlung zu unterziehenden Kategorie der „Übertretungen" einzureihen. In dieser Hinsicht würde es sich nicht

um einen

(insofern

als

Behandlung

Anschluß

an

das

bisher

geltende

Recht,

sondern

die fraglichen Handlungen einer grundsätzlich anderen als

die

Vergehen

bisher

nicht

unterlagen)

um

eine

Neuerung handeln. Ich stehe nicht an, diese Frage hinsichtlich der Mehrzahl der in Betracht kommenden Delikte zu verneinen. Indem wir uns bei der Abgrenzung des Gebiets der Über­ tretungen wir

die

nicht

auswärtige Gesetzgebung zum Muster nehmen,

eine

geben

allgemein verständliche und zugleich für die ethisch­

rechtliche Beurteilung bedeutsame Gliederung auf, sondern gewinnen eine

solche.

Denn die im geltenden österreichischen Strafgesetz fest­

gehaltene Gliederung der strafbaren Handlungen ist undurchsichtig und hängt mit den im allgemeinen Urteile hervortretenden Unterscheidungen zu wenig zusammen, um einen idealen Wert repräseutiren zu können. Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man sich nur gegenwärtig zu halten, wie die Übertretungen bald an die Vergehen, bald unmittelbar an die Verbrechen sich anschließen.

Eine bloße Minderung der Straf­

barkeit läßt an die Stelle der letzteren bald ein Vergehen, bald unmittelbar (wie z. B. bei den Eigentumsverbrechen) eine Übertretung treten.

Dadurch wird das Verhältnis dieser Kategorien zu einander

komplizirt und unklar. Die im deutschen Strafgesetz durchgeführte Unterscheidung zwischen Vergehen und Übertretungen steht prinzipiellen Gesichtspunkten näher. Den Übertretungen werden in der Hauptsache Handlungen eingereiht, bei

welchen

die Merkmale

des Ungehorsams

und

der

Gefährdung

fremder Güter als die charakteristischen und gravirenden hervortreten.

einige Bedenken gegen daS Strafendsten» des deutschen Strafgesetzbuches.

255

Durch sie wird der Charakter der Kategorie selbst, und zwar als ein wesentlich eigentümlicher, von dem der Berbrechen und Bergehen sich deutlich unterscheidender bestimmt und für eine abweichende Behandlung der Übertretungen eine greifbare Grundlage gegeben. Auch sind jene Momente dem Volksurteile, wie ich glaube, bei uns so wenig fremd und in ihrer Bedeutung unfaßlich wie in Deutschland. Der Kompetenzregulirung dürste wohl genugsam Rechnung ge­ tragen sein, wenn der in der Denkschrift empfohlene Strafsatz — bis zu sechs Monaten Gefängnis in den die Vergehen betreffenden Vor­ schriften eingeführt und genugsam bestimmte Anhaltspunkte für deffen Anwendung gegeben würden. Was die milde Beurteilung geringfügiger Eigentumsverbrechen seitens der Bevölkerung betrifft, so möchte für eine genügende Berück­ sichtigung derselben gesorgt sein, wenn 1. ein besonderer Minimalsatz bei der Bedrohung des nicht erschwerten Diebstahls, Betrugs u. s. w. nicht eingeführt würde. Der österreichische Entwurf ist hierin strenger als das deutsche Strafgesetz; 2. die Ausscheidung des „Mundraubs", des „Futterdiebstahls", der Entwendung von Erde, Lehm u. s. w. nach dem Vorgang des deutschen Sttafgesetzes; 3. die Ausscheidung von Entwendungen, Betrügereien u. s. w., deren Betrag unter dem der geringsten gangbaren Münze (oder . . .) steht, nach dem Beispiel des (freilich wesentlich zu ändernden) Attikels 330 des sächsischen Sttaf­ gesetzes ; 4. die Ausscheidung der Forststevel und Weidefrevel; 5. die Vermehrung der Anttagsdelitte; 6. die Einschränkung des im österreichischen Strafgesetze aufgestellten Diebstahls- und Betrugs­ begriffs — erfolgen bezw. festgehalten würde. Sollen die Übertretungen wie im deuffchen Sttafgesetz äußerlich von den Verbrechen und Vergehen getrennt werden, so ergiebt sich daraus ein weiteres Argument für die Verengerung des Gebiets der ersteren. Denn abgesehen von dieser würde jene Trennung eine wenig wünschenswerte Zerreißung wesentlich identtscher Materien mit sich führen. — Nur unter der Voraussetzung einer solchen Verengerung dürfte sich diese Trennung empfehlen lassen. Modifikationen des deutschen Strafensystems. Ich komme nochmals auf das Strafensystem des deutschen Sttafgesetzes zurück. Mir erscheint es als eine Sache von großer Wichtigkeit, das Verhältnis der verschiedenen Sttafarten zu einander

256

Einige Bedenken gegen das Strafensystem des deutschen Strafgesetzbuches.

nach

einem einfachen Gedanken zu bestimmen und diesen Gedanken

konsequent festzuhalten und durchzuführen. der Bedingungen Gefängniswesens.

für

Ich sehe darin u. a. eine

einen wesentlichen Fortschritt im Gebiete des

Es würde aber ein derartiges einfaches und auf

sicheren Grundlagen stehendes System durch verhältnismäßig geringe Änderungen des deutschen Systems zu erreichen sein. Ich

würde

die nachfolgenden

Modifikationen des letzteren zu

diesem Behufe empfehlen: 1. Den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte vollständiger auch vom Zuchthause zu lösen. zu

U. a., um der Notwendigkeit überhoben

sein, eine besondere Strafart einzuführen,

welche ihr (alleiniges)

Charakteristikon darin haben würde, einen solchen Verlust nicht nach sich zu ziehen. — Die Halbheit des deutschen Strafgesetzes in diesem Punkte ist hauptsächlich schuld daran, daß das Strafensystem desselben einen

unklaren Charakter

damit

nicht

erhalten

aufgegeben werden.

hat.

Irgend

ein

Wert

würde

Denn am Ende kann es sich doch

nur darum handeln, daß die verschiedenen strafbaren Handlungen mit denjenigen Folgen, auch hinsichtlich der Ehrenrechte, verbunden werden, welche ihrem Charakter gemäß sind.

Jene Loslösung aber hindert

dies nicht, erleichtert es vielmehr. 2. Der an die Stelle der „Festungshaft" tretenden „Einschließung" eine weitere, geben.

zugleich aber einfachere und bestimmtere Bedeutung zu

Dieselbe sollte überall dort eintreten, wo der Richter erkennt,

daß der That eine ehrlose Gesinnung oder eine sittliche Ver­ wahrlosung nicht zu Grunde liegt.

Nur bei wenigen Arten

würde es motivirt sein, dieselbe ausschließend zu drohen (selbst beim Zweikampf nur eine Bestimmung

mit im

Einschränkung). allgemeinen

Im übrigen

Teile

zu

einer

wäre sie durch Surrogat-

Parallelstrafe für Zuchthaus und Gefängnis zu erheben.

oder

Denn der

Gegensatz, um welchen es sich hier handelt, nimmt eine Bedeutung nicht minder für die Kategorie der Vergehen, wie für die der Ver­ brechen in Anspruch. Auch bei jenen ist es geboten, dem Strafvollzüge der Mehrzahl der Deliquenten gegenüber den Charakter einer sittlichen Zucht zu geben, worin sich die Notwendigkeit

begründet,

eine zwie­

fache Form für denselben auch in diesem Gebiete einzuführen. Die Verbindung der Festungshaft im deutschen Strafgesetz mit dem System der mildernden Umstände ist durchaus unglücklich und würde daher nicht beizubehalten sein.

Einige Bedenken gegen das Strasensystem des deutschen Strafgesetzbuches.

257

Eine Beschränkung der Festungshaft auf die politischen Verbrechen würde sachlich unbegründet und in mehrfacher Hinsicht bedenklich sein. Die Fälle, auf welche sie berechnet ist, können bei allen Arten strafbarer Handlungen vorkommen, und es erscheint mir sehr wünschens­ wert, daß hinsichtlich dieses Punktes einer vorurteilsfteien Austastung einmal rückhaltlos Ausdruck gegeben werde. Höchstens würde es motivirt sein, bei gewissen Arten strafbarer Handlungen im speziellen Teile Zuchthaus (Gefängnis) und Ein­ schließung alternativ zu drohen, während hinsichtlich der anderen Zuchthaus (Gefängnis) im sptziellen Teile als Normalstrafe aufzustellen und nur eine allgemeine Ermächtigung zu geben wäre, an die Stelle von Zuchthaus (Gefängnis) unter der bezeichneten Bedingung Einschließung treten zu lasten. Die Folge einer derartigen Änderung des deutschen Systems würde übrigens eine unverhältnismäßige Erhöhung der Zahl der mit Einschließung zu Bestrafenden, wie ich glaube, nicht sein. Denn 1. hat diese Strafe nach dem deutschen Strafgesetz vielfach in leichteren Fällen einzutreten, ohne Rücksicht auf die Gesinnung des Sträflings (siehe meine ftüheren Ausführungen), was nach meinen Vorschlägen wegzufallen hätte; 2. kann der hier vorausgesetzte Fall zwar bei allen Arten von strafbaren Handlungen vorkommen, bildet aber bei den meisten eine seltene Ausnahme. Die meisten derjenigen, bei welchen er öfters vorkommt, sind auch in dem Strafgesetz in eine (zum Teil fteilich unklare und inkorrekte) Verbindung mit der Festungs­ haft gebracht. 3. Der Minimalsatz der Zuchthausstrafe wäre, um deren Charakter zu wahren und sie in ein klares und einfaches Verhältnis zur Gefängnisstrafe zu bringen, auf 3 Jahre (oder höchstens auf 2 Jahre) zu fixiren. Eine Lücke würde dadurch, wenn der Ein­ schließung die befürwortete Bedeutung gegeben würde, nicht entstehen. Handlungen, welche mit 3 Jahren Zuchthaus zu schwer bestraft sein würden, wären mit Gefängnis zu bestrafen. Da 5 Jahre Gefängnis gleichgeachtet werden 31/» Jahren Zuchthaus, so wäre mehr als ausreichend dafür gesorgt, daß der Richter sich nicht in die Alternative versetzt sehen könne, entweder zu leicht oder zu streng zu strafen. Erscheint das Zuchthaus dagegen unangemessen mit Rücksicht auf die Motive der That, so wäre auf Einschließung überzugehen. Es ist kein klarer Gedanke dabei, wenn das deutsche Strafgesetz

258

Einige Bedenken gegen das Straftnsystem des deutschen Strafgesetzbuches.

bei manchen Verbrechensarten für die Regel Zuchthaus von einem Jahre bis . . . droht, bei mildernden Umständen dagegen, das ist in leichteren

Fällen, Gefängnis bis zu 5 Jahren!

Delikte,

welche zu leicht erscheinen, um mit 1 Jahr Zuchthaus bestraft zu werden, können unmöglich mit 5 Jahren Gefängnis gerecht bestraft sein! Bei der Frage, ob 2 Jahre Zuchthaus oder 3 Jahre Gefängnis zu verhängen seien, und bei analogen Fragen führt die Rücksicht auf die relative Schwere des Deliktes zu keiner Antwort.

Der Richter

sieht sich hier auf die verschiedene Einrichtung des Strafvollzugs und auf

die

Gesinnung

des Delinquenten hingewiesen, welche

die eine

oder die andere Einrichtung als für ihn pasiend erscheinen läßt. Aber dies ist die Rücksicht, welche bei der Wahl zwischen Zuchthaus und Einschließung (Festungshaft) entscheiden soll, nicht bei der zwischen Zuchthaus und Gefängnis.

Denn in dem letzteren ist der Straf­

vollzug nach den nämlichen prinzipiellen Gesichtspunkten zu organisiren, wie im Zuchthause.

Bei den dem Gefängnisse zuzuweisenden Dieben

ist ein Zuchtbedürfnis im allgemeinen nicht minder

vorauszusetzen,

als bei den dem Zuchthaus zuzuweisenden u. s. w. Giebt man aber dem Gefängnis eine Beziehung auf Fälle, wo keine ehrlose Gesinnung vorliegt, so ist von dieser Strafart eine andere Anwendung zu machen, und es ist im Zusammenhange

damit die

Grenze zwischen Verbrechen und Vergehen anders zu bestimmen als im deutschen Strafgesetz. Eine

Abweichung von dem,

was hier

logisch

als das allein

Korrekte sich darstellt, würde sich nur rechtfertigen unter dem Gesichts­ punkte, auf welchen die

„Anträge"

sub 4,4 hindeuten;

nämlich als wünschenswert erscheint, den

wonach es

Gegensatz zwischen

Ver­

brechen und Vergehen, der mehr um formaler Rücksichten willen festgehalten wird, in der schwächen.

Auch

materiellen Behandlung der Delikte abzu­

ist nicht zu leugnen, daß im deutschen Strafgesetz

die niederen Sätze der Zuchthausstrafe in der angegebenen Richtung ein gewisses Verdienst in Anspruch nehmen (obgleich von einer bewußtm Benutzung des Umstandes kaum zu reden sein dürfte).

Wenn z. B.

bei der Kindes-Unterschiebung, § 169, für die Regel Gefängnis bis zu drei Jahren gedroht wird, für den Fall der Begehung des Delikts aus gewinnsüchtiger Absicht dagegen unbedingt Zuchthaus bis zu zehn Jahren, so ist dies nur dadurch erträglich, daß der Minimalsatz d«S letzteren Strafmaßes

unter das Maximum

des ersteren herabreicht.

einige Bedenken gegen das Strasensystem des deutschen Strafgesetzbuches.

259

Aber die Härte, welche, hiervon abgesehen, in einer derartigen Be­ stimmung liegen würde, ließe sich offenbarauch in anderer Weffe vermeiden. So dadurch, daß der Übergang zur Zuchthausstrafe nur fakultativ angeordnet würde, oder dadurch, daß von der Zuchthaus­ strafe wieder ein Herabgehen auf Gefängnisstrafe (bei leichteren Fällen und mit Rücksicht auf die allgemeinen und etwaige besondere MilderungSgründe) gestattet würde. Wenn wir in der Regel (darin über die Bestimmungen des deutschen Strafgesetzes hinausgehend) für eine bestimmte Art von strafbaren Handlungen nicht lediglich Berbrechensstrafen drohen und es vermeiden, zwischen dm letzteren und bett Vergehensstrafen unübersteigliche oder schwer zu überfteigmd« Schrankm aufzurichten, viel mehr für einen Übergang von jetten zu diesen und umgekehrt überall Anhalts­ punkte geben, so können wir die in Frage stehende Ausdehnung der Zuchthausstrafe entbehrm. Ist dieselbe aber unnötig, dann ist sie zu­ gleich verwerflich, weil sie mit der Grundanlage des Systems nicht in Einklang steht. Im übrigen würde, was das Verhältnis von Verbrechen und Vergehen betrifft, hauptsächlich zu wünschen sein, daß nicht in der Einrichtung des Gefängnisses ein Gegmsatz zum Zuchthaus hervortrete, welcher in der geringeren Schwere der Vergehen keine Begründung findet, und daß ebenso hinsichtlich der Ehrmfolgen ein solcher Gegensatz zwischen beiden Deliktsarten nicht gemacht werde. Femer würde die int deutschen Strafgesetz sich findende Behandlung des Versuchs der Vergehen einer Revision zu unterziehen sein u. s. w. Wmn bei den Bestimmungen über Verjährung, Rückfall, Konkurrenz u. s. w. die Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen benutzt wird, so hat eine dadurch erzielte Gleichförmigkeit zwar einen gereiften technischen Wert („Studien" . . S. 72), aber es wird dadurch eine, an sich willkürlich gezogene. Linie mit einer unverhältnismäßigen Bedmtung ausgestattet. Die einzelne Bestimmung mag an sich wenig bedenklich sein, aber dadurch, daß alle an dem nämlichm Mommte anknüpfm, kommt als Gesamtwirkung eine künstliche und unangemeffene Bedeutung deffelben heraus. Es wird ein Gegensatz hergestellt, wo sich in natura rerum bloße Übergänge finden. Die bezüglichm Punkte im Einzelnen zu erörtern, dürfte im gegenwärtigen Stadium dieser Angelegenheiten noch nicht angezeigt sein. Die Beibehaltung des Strafsatzes von 20 Jahren (Zuchthaus

260

Einige Bedenken gegen da» Strafendstem

des deutschen Strafgesetzbuches.

oder Einschließung) würde das Strafensystem auf eine niedrigere Stirfe als dasjenige des deutschen Strafgesetzes nicht stellen, wenn: 1. wie vorgeschlagen wird, die lebenslängliche Freiheitsstrafe im Anschluß an den österreichischen Entwurf nur in wenigen Fällen gedroht würde, und 2. weder dieser Strafsatz noch die lebenslängliche Freiheitsstrafe in irgend einem Falle absolut gedroht würde, das Prinzip der bloß relativen Strafdrohungen vielmehr (gleichviel in welcher Form) eine konsequmte Durchführung (abgesehen von dem Falle, in welchem die Todesstrafe gedroht werden wird) fände. Eine Wahl zwischen verschiedenen Freiheitsstrafen würde m. E. dem Richter insofern in einem weiteren Umfange zu gestatten sein, wie dies im deutschen Strafgesetze geschieht, als: 1. derselbe, meinen obigen Bemerkungen entsprechend, in weiterem Umfange anstatt der Zuchthaus- oder der Gefängnisstrafe die Ein­ schließung zu verhängen ermächtigt werden sollte, und 2. in zahlreicheren Fällen ein Übergang von Zuchthaus auf Gefängnis und von Gefängnis auf Zuchthaus zu ermöglichen wäre. Hierbei würden verschiedene Formen anzuwenden sein, und es dürfte sich ein kombinirteres System empfehlen als das im deutschen Straf­ gesetze durchgeführte. Ich werde mir erlauben, hierauf bei Besprechung der Anträge ad IV zurückzukommen. Den Anträgen hinsichtlich der Geldstrafen würde entschieden bei­ zutreten sein. Hinsichtlich der Ehrenfolgen wünsche ich nur, daß die aufgestellten Gesichtspunkte möglichst konsequent und vollständig zur Durchführung kommen möchten. Der Antrag sub b wäre mit Rücksicht auf S. 55 u. s. w. der Studien zu vervollständigen. Darnach würde sich das durchzuführende Programm etwa dahin bestimmen lassen: 1. Keine spezifisch entehrenden Strafen. 2. Keine schlechthin entehrenden Arten strafbarer Handlungen (mögen auch bei einzelnen Verbrechensarten einzelne bestimmte Rechte allemal abzuerkennen sein). 3. Beseitigung oder wenigstens wesentlich eingeschränkte Anwendung des Begriffes der „Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte" oder „des Verlustes der bürgerlichen Ehrenrechte". Thunlichste Spezialisirung der betreffendm Vorschriften. Bezugnahme auf die einzelnen abzuerkennenden Rechte im richterlichen Urteile. 4. Beschränkung des Kreises der zu entziehenden besonderen Rechte nach Maßgabe des § 33 deS deutschen Strafgesetzes

(Einige Bedenken gegen das Strafendstem des deutschen Strafgesetzbuches.

261

und mit Rücksicht auf die Autonomie der verschiedenen Korporationen. 5. Für die Regel Entscheidung der Frage über den Wiedererwerb und bezw. den Neuerwerb der betreffenden Rechte durch diejenigen, welche diese Rechte zu verleihen haben. Soweit nötig Erledigung derselben durch die Spezialgesetzgebung. 6. Beschränkung der Untersagung der Ausübung allgemeiner staatsbürgerlicher Rechte auf die Dauer der Strasteit. Die Frage der gänzlichen Beseitigung der Todesstrafe dürfte unter den gegenwärtigen Berhältnissen eine ziemlich müßige sein, und ist nur zu wünschen, daß dieselbe bei den Beratungen im Reichsrate nicht zu nutzlosen Erörterungen Anlaß gebe. Den praktischen Weg, auf welchem wirklich voranzukommen ist, bezeichnen die „Vorschläge". Die Ab­ grenzung eines Mordes ersten Grades mit Rücksicht auf die Todesstrafe und bezw. den gegenwärtigen Stand der Frage ihrer Beibehaltung ist durchaus empfehlenswert. Auch dürste den Vor­ schlägen darin ohne weiteres zuzustimmen sein, daß dem Richter ein Abgehen von der Todesstrafe mit Rücksicht auf (nicht spezifizirte) „mildernde Umstände" nicht zu gestatten sei. Doch scheint es mir fraglich, ob es nicht zu weit gehe, wenn für die hervorgehobenen Fälle des qualifizirten Mordes die Todesstrafe absolut gedroht werden will, ob insbesondere damit nicht über das Ziel hinausgegangen werde, auf welches die in den Vorschlägen angegebenen Gründe der Beschränkung des richterlichen Ermessens Hinweisen. Daß die Tötung eines Ein­ willigenden unter besondere Bestimmungen zu ziehen sei, wird freilich als selbstverständlich gelten. Ebenso die Aufnahme einer dem § 52 des geltenden Strafgesetzes entsprechenden Bestimmung hinsichtlich des jugendlichen Alters. M. E. aber würde auch den übrigen all­ gemeinen (den allgemeinen Strafausschließungsgründen entsprechenden) Milderungsgründen ein ähnlicher Einfluß wie dem der Jugend bei­ zulegen sein; vorausgesetzt, daß denselben überhaupt eine ausdrückliche gesetzliche Berücksichtigung, was ich für wünschenswert halte (unten ad IV, 5), zuteil würde. Die Befürchtung, daß von Gegnern der Todesstrafe etwa ein Zustand getrübten Bewußtseins (geminderter Unterscheidungsfähigkeit) oder ein (nicht völlig entschuldigender) Notstand angenommen werden möchte, wo der wirkliche Vorgang gar keinen Anhaltspunkt hierfür bietet, ist nt. E. durchaus nicht mehr begründet, als die Befürch­ tung, daß von denselben ein Handeln im Affekte grundlos werde

262 einige Bedenken gegen das Strafensystem des deutschen Strafgesetzbuches.

angenommen werden, wenn man dasselbe zum Merkmale des mit der Todesstrafe nicht bedrohten Totschlages machen würde. Und doch wird dies Letztere wohl unzweifelhaft geschehen. Ich wüßte nicht, daß man dort, wo dem Affekte (bezw. dem Handeln ohne Vorbedacht) bisher schon diese Bedeutung beigelegt würde, Erfahrungen gemacht hätte, welche jene Befürchtung als eine sicher begründete erscheinen ließen, und glaube daher nicht, daß die nämliche Befürchtung hinstchtlich der anbeten in Frage stehenden Umstünde ein anzuerkennendes Fundament für eine an sich bedenkliche, unbillige und mit betn sonst durchgeführten Systeme in Widerspruch stehende Behandlung des Mordes abgeben könne. Auch darf man nicht übersehen, daß auf eine Gleichmäßigkeit der Begnadigungspraxis noch weniger zu rechnen ist, als auf eine Gleichmäßigkeit der Gerichtspraxis. Änderungen des politischen Systems, subjettive Auffassungen der höchsten Ratgeber, persönliche Stimmungen u. s. w. üben hier einen Einfluß aus, für welchen im Bereiche der richterlichen Thätigkeit ein Analogon wohl nicht zu finden ist. Den Anträgen sab IV 1, 2, 3, 4 ist vorbehaltlos zuzustimmen. Die Minimalsätze des Entwurfes sind zum Teile offenbar ohne Rück­ sicht auf die bisherige Sttafmaßpraxis und auf die Bedeutung, welche der „außerordentlichen Strafmilderung" (des § 79) verständigerweise gewahrt werden müßte, aufgestellt worden. Insbesondere gilt dies hinsichtlich der für die qualifizirten Formen der verschiedenen Arten strafbarer Handlungen aufgestellten Minimalsätze. Bezüglich ihrer erlaube ich mir, auf die Bedenken zurückzukommen, welche ich seiner­ zeit in meinen Bemerkungen über den Entwurf von 1867 geäußert habe. Die Art, wie im Entwürfe zahlreiche Abstufungen der Strafbarkeit gemacht und wie die hierfür aufgestellten Strafmaße neben einander gestellt werden (so nämlich, daß die Minimalsätze für die höhere Stufe jedesmal dem Maximalsatze für die vorausgehende ent­ sprechen), ist durchaus willkürlich und müßte, wenn bei der Anwendung der gesetzlichen Sttafmaße korrekt vorgegangen würde, in zahlreichen Fällen zu brutaler Hätte führen. Es ist habet ignorirt 1. daß die meisten Qualifikationsgründe in solchen Formen vorkommen können, welche für die Frage des Schuldmaßes fast gleichgiltig sind, 2. daß dieselben durch Umstände von entgegengesetzter Bedeutung ausgewogen fein können. Dem außerordentlichen Milderungsrechte aber sollte den verschiedenen Schuldstufen gegenüber die nämliche Bedeutung zu-

Einige Bedenken gegen das Strasensyftem de- deutschen Strafgesetzbuches.

263

kommen. Eine ungleiche Behandlung der letzteren kann daher durch eine Berufung auf das Mildemngsrecht nicht gerechtfertigt werden. Eine Vergleichung von Strafsätzen des Entwurfes mit Strafsätzen dedeutschen Strafgesetzes mag jenen Fehler anschaulich machen. Der Entwurf hat für den Zweikampf folgende Strafmaße: Einschließung von 1 Mon. bis 4 Monaten. Das deutsche Strafgesetz „ „4 „ „ 1 Jahr. Festungshaft von „ „1 Jahr „ 4 Jahren. 3 M. „ 5 Jahren. Gefängnis „ 4 Jahr. „ 8 2 I. „10 „ „ 8 „ „ 12 „ 3 3. „10 „ Dazu die Best. des § 208. Für das Verbrechen der Verleumdung: Zuchthaus von 4 Monaten bis 1 Jahr. „ „1 Jahr „ 4Jahren. Das deutscheStrafgesetz „ „ 4 Jahren „ 8 „ hat das Verbrechen der „ „ 8 „ „ 12 „ Verleumdung nicht. „ „ 12 „ „ 20 „ Für die Körperverletzung: Einschließung bezw. Arrest v. 1 Woche bis 1 Monat. „ „ 4 Monaten „ 1 Jahr. „ „ 1 Jahr „ 4 Jahren. ,, .. 4 Jahren „ 8 Das deutsche Strafgesetz Gefängnis bis 3 Jahren. Gefängnis von 1 Monat „ 5 „ .. 1 Jahre 5 oder Zuchthaus „ 5 „ Zuchthaus von 2 Jahren „ 10 „ Das deutsche Strafgesetz hat hier 1. den Vorzug einer größeren Ökonomie in Betreff der gesetzlichen Abstufungen; 2. den Vorzug der Aufstellung übergreifender Strafmaße. Die Letzteren empfehlen sich m. E. nicht bloß dort, wo es sich um den Übergang von der Ver­ gehens- zur Berbrechensstrafe handelt, sondern allgemein, wo mit Rücksicht aus qualifizirende Umstände besondere Strafmaße aufgestellt werden. In diesem Sinne würde sich eine Erweiterung des 4. Antrags (sub IV) empfehlen. Das deutsche Strafgesetz stellt hier bisweilen nur ein höheres Maximum auf (vergl. § 230, 2, 208 u. s. w.), bis­ weilen nur ein höheres Minimum (vergl. § 206), und bisweilen,

264 Einige Bedenken gegen das Strafensystem bt# deutschen Strafgesetzbuches.

oder vielmehr in den meisten Fällen, sowohl ein höheres Marimum als ein höheres Minimum. Unter diesen Formen würde die erst­ erwähnte m. E. eine häufigere Anwendung verdienen. Sehr häufig werden im deutschen Strafgesetz die Strafmaße scheinbar nebeneinandergestellt, indem für die geringere Stufe Ge­ fängnis, für die schwerere Zuchthaus gedroht wird. Aber abgesehen von der Verbindung, welche hier im allgemeinen durch das System der mildernden Umstände hergestellt wird, findet auch hier in Wirk­ lichkeit ein Übergreifen der Strafmaße statt, indem das Minimum des Zuchthauses hinsichtlich seiner Schwere tief unter dem Marimum des Gefängnisses steht. Würde jenes Minimum, wie ich es für richtig halte, erhöht, so würde die in Frage stehende Form der Strafen­ abstufung zu meiden und in den betreffenden Fällen, dem Antrage sub IV, 4 entsprechend, in dem für die qualifizirte Deliktsform aufzustellenden Strastahmen Zuchthaus und Gefängnis direkt in eine alternative Verbindung zu bringen sein. Auch im deutschen Straf­ gesetz findet sich diese Form (z. B. im § 226), hat aber dort keine wesentliche Bedeutung. Übrigens scheint sich der Gesetzgeber des erwähnten Umstandes (daß die Zuchthausstrafe tief unter das höchste Maß des Gefäng­ nisses hinabreicht) nicht überall deutlich bewußt zu sein, wie denn derselbe überhaupt als ein Element der Unklarheit erscheint. Wenn z. B. mit Rücksicht auf mildernde Umstände ein Übergang von Zucht­ haus auf Gefängnis (von 3, 6 Monaten bis zu 5 Jahren) ange­ ordnet wird, so ist dies insofern unklar, als damit Spielraum ebenso gut für ein Aufsteigen als für ein Herabgehen gegeben ist. Das Gefängnis wird hier in Anbetracht des fraglichen Umstandes zur Parallelstrafe von Zuchthaus, was dem Charakter des Ersteren nicht enffpricht und jedenfalls einen rechten Sinn nur hätte, wenn den mildernden Um­ ständen eine spezielle Beziehung auf die Gesinnung des Delinquenten gegeben wäre, was nicht der Fall ist. Wenn es sich in Betreff der Strafmilderung um die Wahl handelt zwischen dem System des deuffchen Strafgesetzes und dem des Entwurfes, so gebe ich ebenfalls dem ersteren den Vorzug, aus den in den Anträgen angegebenen Gründen und weil mir das letztere als eine durchaus äußerliche und geistlose Abfindung mit dem hier vorliegenden Probleme erscheint. Ich möchte mir indes den Vorschlag erlauben, statt der Worte:

Einige Bedenken gegen daS Strafenfystem de- deutschen Strafgesetzbuch«-. 265

„Sind mildernde Umstände vorhanden, so .. ." überall die einfacherm und in jeder Hinsicht passenderen: „In leichteren Fällen" zu gebrauchm. Gründe: Der erstere Ausdruck verdeckt eine Unklarheit unb. ist geeignet, eine solche hervorzubringen. In Wahrheit handelt es sich hier überall nur um den Unterschied zwischm schwereren und leichterm Fällen. Der Ausdmck „mildernde Umstände" aber läßt auf etwas Anderes schließm. Er paßt strmggenommen nur auf außerhalb des besonderm Thatbestandes liegende Umstände. Der Umstand z. B., daß Einer eine geringe Summe gestohlen hat, kann logischer Weise nicht als ein „mlldemder" bezeichnet werden, und doch gehört er zu denjmigm, welche der Gesetzgeber hier berücksichtigt habm will. Die Gefahr eines Mißverständnisses ist aber nicht bloß in der Einbildung vorhanden. So bezieht z. B. v. Buri (im Gerichtssaal) die mil­ dernden Umstände nur auf die subjektive Seite des Verbrechens. Schlimmer noch ist, daß dem Gesetzgeber selbst verschiedene Begriffe bei diesen Wortm vorzuschweben scheinen. Die Art, wie er z. B. die Festungshaft mit den milderndm Umständen in Verbindung bringt, paßt auf den einfachen Gegensatz von schweren und leichten Fällen nicht. Vergleiche auch das oben über den Einfluß der mildernden Um­ stände auf dm Ersatz des Zuchthauses durch das Gefängnis Bemerkte. Am wenigsten kann man den Geschworenen zumuten, bestimmt zu wissen, was unter den mildernden Umständen zu begreifen sei. Auch zweifle ich ein wenig, ob man zur Übertragung des Urteils über deren Vorhandensein in Deutschland sich entschlossen haben würde, wenn man nicht diesen prätentiösen, den wirklichen Sachverhalt nicht klar bezeichnenden Ausdruck rezipirt hätte. Eine Frage an die Ge­ schworenen, ob ein betreffender Fall im Sinne des Gesetzgebers zu den leichteren gehöre, würde etwas Komisches haben — und doch ist die Frage nach den mildemden Umständen richtig verstanden dem Sinne nach mit jener identisch, unterscheidet sich von ihr nur durch eine mehrdeutige und minder adäquate Form. Dürfte ich mir einen weitergehenden Vorschlag erlauben, so würde ich auf die von mir vielfach befürwortete vollständigere Aufnahme der allgemeinen Milderungsgründe (im Anschluß etwa an das sächsische oder auch an das bayerische Strafgesetz) in den allgemeinen Teil zurückkommen. Gründe: I. Wir erhielten dadurch die Möglichkeit, die relative Schwere der einzelnen Verbrechensarten bestimmter zum Ausdruck zu

266

Einige Bedenken gegen das Strafensysiem des deutschen Strafgesetzbuches.

bringen, ohne durch Aufstellung enger Strafrahmen mit hohen Mini­ malsätzen zu harten und ungerechten Strafsentenzen zu nötigen. Indem wir nämlich den Modalitäten des allgemeinen Thatbestandes eine allgemeine Berücksichtigung int Anschluß an die Behandlung der Straf­ ausschließungsgründe zuteil werden lassen, können wir bei der Auf­ stellung der besonderen Strafmaße von ihnen abstrahiren. Ex causa würde es ungeeignet und bedenklich sein, den Mord mit „Gefängnis, Zuchthaus oder Todesstrafe" zu bedrohen. Die einfache Drohung der letzteren aber, in welcher die spezifische Schwere dieser Verbrechensart zum Ausdruck gebracht wird, enthält, wenn sie absolut hingestellt wird (selbst bei der Beschränkung auf qualifizirten Mord) eine strafrechtliche Unwahrheit. Eine wirkliche Vermittlung liegt, wie ich glaube, nur auf dem von mir befürworteten Wege. Wie es nichts Anstößiges hat, die Jugend mit einem besonderen Strafmaße im allgemeinen Teile zu bedenken, und zwar mit Wirkung auch für den Mord u. s. w., so würde es nichts Anstößiges haben, die geminderte Unterscheidungs­ fähigkeit in solcher Weise zu berücksichtigen. — 2. Es ist dies eine Sache der Konsequenz. Die nämlichen Gründe, welche für die aus­ drückliche Anerkennung des Milderungsgrundes der Jugend sprechen, sind für die ausdrückliche Anerkennung der übrigen, den Ausschließungs­ gründen entsprechenden, Motive geltend zu machen. 3. Es scheint mir an sich rationell, für eine thunlichst gleichmäßige Berücksichtigung der wichtigsten Seiten strafrechtlicher Verschuldung bestimmte Anhalts­ punkte und bezw. Garantien zu geben. 4. Eine derartige materielle Bestimmtheit scheint mir umsomehr am Platze zu sein, als man auf die formelle Bestimmtheit, welche die frühere Gesetzgebung durch die Aufstellung enger Strafrahmen erreichte, mit Grund verzichtet hat. Im Entwurf liegt der Ordnung des Strafmilderungsrechts im allgemeinen Teile und bezw. der Sonderung desselben von den beson­ deren Strafmaßbestimmungen ein klarer und berechtigter Gedanke nicht zu Grunde. Aber es kann diese Sonderung einen guten Sinn haben, da der Begriff der Milderungsgründe sich, logisch genommen, nicht auf die Abstufungen des besonderen Thatbestandes, sondern auf die Modifikationen des allgemeinen (soweit sie in jenen nicht enthalten sind) bezieht. Die Letzteren einer Normirung im allgemeinen Teile zu unterziehen, erscheint aber als durchaus sachgemäß. Eine sorgfältige Definirung der in Frage stehenden Milderungs­ gründe nach dem, natürlich nicht einfach abzuschreibenden, Muster deS

Einige Bedenken gegen das Strafensystem

des deutschen Strafgesetzbuches. 267

sächsischen Strafgesetzes dürfte jedenfalls mehr Wert haben, als die Aufzählung der Strafzumessungsgründe in den ßß 63 und 64 des Entwurfes, an deren Stelle sie zu treten haben würde. Da die Dreiteilung festgehalten werden soll, so empfiehlt es sich gewiß, die entscheidenden Merkmale ein für allemal in einem der ersten Paragraphen zu bezeichnen. Hinsichtlich des § 1 des deutschen Strafgesetzes, der hier das nächste Muster abgiebt, mache ich nur darauf aufmerksam, daß die obere Grenze der Bergehenskategorie nach ihm und den folgenden Paragraphen zusammenfällt: 1. mit 5 Jahren Gefängnis; 2. mit 15 Jahren Gefängnis (nach § 57, 1); 3. mit dem Äquivalente von weniger als 18 Monaten Gefängnis (insofern ein Jahr Zuchthaus gleich ist 18 Monaten Gefängnis: §21); 4. mit dem Äquivalente von 3 Vs Jahren Gefängnis (insofern 5 Jahre Festungshaft gleich sind 3 Vs Jahren Gefängnis). Das ist, es werden in gewissen nicht unwichtigen Beziehungm 5 Jahre Gefängnis gleichgesetzt 15 Jahren, 18 Monaten, 3 Vs Jahren. (Hin­ sichtlich des § 57, 1 vertreten die Kommentatoren allerdings eine ab­ weichende Auftastung. S. unten). Diese Mißverhältnisse hängen in der Hauptsache mit dem zusammen, was im Bisherigen (s. die Bemerk, zu II) an dem System des deutschen Strafgesetzes ausgesetzt worden ist. Die Frage, ob Milderungsgründe (im weiteren Sinne des Wortes), welche die Anwendung einer anderen Strafart zur Folge haben, auf die Rubrizirung betreffender Delikte Einfluß üben sollen, dürste eine Beantwortung durch das Gesetz selbst verdienen. Das deustche Straf­ gesetzbuch giebt für eine solche keineswegs so bestimmte Anhaltspunkte, als die Kommentatoren annehmen. Wenn z. B. behauptet wird, daß die Beleidigung stets ein „Vergehen" sei, auch wenn sie mit Haft bestraft wird, so ist die Berufung auf den Wortlaut des § 1 hier­ für keineswegs von zwingender Beweiskraft. Die Sicherheit der Komnientatoren hat hier ihr Fundament zum Teil in der früheren preußischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. An einem solchen würde es bei uns fehlen. Daß die ftagliche Auffassung nicht eine selbstver­ ständliche ist, beweist § 2 des bayerischen Strafgesetzes und die belgische Praxis. Ich glaube nicht, daß bestimmte Erfahrungen vorliegen, welche den Übergang von dem System des geltenden österreichischen Straf-

268 Einige Bedenken gegen das Strafensystem des deutschen Strafgesetzbuches. gesetzes hinsichtlich der Behandlung konkurrirender Delikte zu dem des Entwurfes als geboten erscheinen lassen. Wenigstens hat man nicht versucht, einen Beweis hierfür beizubringen. Die prinzipiellen Erwägungen aber, auf welche man sich stützt, geben nur eine sehr schwache Grundlage für eine so wichtige Neuerung ab. Selbst die „Anträge" scheinen mir hier noch weiter zu gehen, als nötig ist. Ich würde aus dem deutschen Strafgesetz u. a. die folgenden Sätze herüber­ nehmen : „. . . eine Gesamtstrafe. .., welche in einer Erhöhung der verwirkten schwersten Strafe besteht." — „Das Maß der Gesamt­ strafe darf den Betrag der verwirkten Einzelstrafen nicht erreichen", und etwa anschließen: und den höchsten Satz der betreffenden Strafart nicht, den höchsten Satz des für die schwerste der zusammentreffenden Handlungen aufgestellten Strafmaßes nicht um mehr als ein D ritt eil übersteigen. M. E. würde es sich auch empfehlen lassen, den höchsten Satz des für die betreffende Gattung (z. B. Diebstahl) aufgestellten Strafmaßes als eine unüberschreitbare Grenze zu bezeichnen. Doch weiß ich diese verschiedenen Momente nicht in eine einfache Formel zu bringen. — Auch sonst wäre ich geneigt, gegen die §§ 71—73 des Entwurfes zu polemisiren. So gegen die Bedingung der „näm­ lichen Aburteilung", gegen die verschiedene Behandlung der realen und der idealen Konkurrenz, gegen die Jgnorirung der gleichartigen idealen Konkurrenz, gegen die Sanktionirung eines theoretischen Irr­ tums im § 72, gegen die Worte „zu umwandeln" u. s. w.

Über Akkreszer») ttnb Vekrehen) des Strafrechtes und deren Ledinznnzea. (Bortrag in bet Sitzung bet Wiener Juristischen Gesellschaft vom 29. April 1873, abgebruckt in ben „Juristischen Blättern", n. Jahrg., Rr. 18—20.)

Es ist bekannt, daß der Umfang des Strafrechtes nicht allezeit der nämliche gewesen ist, sowohl hinsichtlich der mit Strafe bedrohten Handlungsarten, wie hinsichtlich der Strafarten und der Strafmaße. Vielmehr zeigt die Geschichte des Strafrechtes in dieser Hinsicht, wie in vielen anderen Beziehungen, einen reichen Wechsel und beständige Schwankungen.

Wenn Sie etwa unser heutiges Strafrecht mit dem

vor hundert Jahren in Geltung gestandenen vergleichen,

so

wird es

Ihnen sofort in die Augen springen, daß die Grenzen dieses und jenes in keiner der angegebenen Beziehungen zusammenfallen, und daß das heutige Strafrecht Gebiete beherrscht, welche das Strafrecht vor hundert Jahren nicht berührte, und umgekehrt. Übersehen Sie längere Zeiträume, so erhalten Sie die Anschauung eines kontinuirlichen Prozesses, der sich bald vorzugsweise als ein Prozeß der Ausbreitung, des Wachs­ tums, bald vorzugsweise als ein Prozeß des scheidung von Elementen darstellt.

Absterbens, der Aus­

Fast überall aber begegnet Ihnen

ein Nebeneinander beider Bewegungen, wenn auch im ungleichen Ver­ hältnisse : eine Entwicklung aufsteigender Linie neben einer Entwicklung absteigender Linie, ein gleichzeitiges Wachsen und Welken. das Bild einer Pflanze,

Sie erhalten

die gleichzeitig Blätter abstößt und neue

Blätter ansetzt. Diese Erscheinung ist es, auf die ich heute Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. Obgleich an sich bekannt, verdient sie eine nähere Betrachtung, weil in ihr eine wesentliche Seite der Entwickelung unseres Kultur­ lebens offenliegt,

und weil diese ihre wesentliche Bedeutung, wie ich

270

Über Akkreszenz und Dekreszenz des Strafrechtes und deren Bedingungen.

glaube, nicht genügend erkannt ist, oder

wenigstens eine vollständige

Würdigung nicht erfahren hat. Ich werde zunächst vom Wachstum des Strafrechtes, dann vom Absterben desselben reden, dabei hauptsächlich stehen bleiben bei der Betrachtung des in unserem heutigen Rechtsleben hervortretenden Pro­ zesses und bei der Vergleichung der momentan fixirten Resultate desselben mit dem Strafrechte der vorigen Jahrhunderte; dabei werden zunächst die hauptsächlichsten der unter diese beiden Gesichtspunkte fallenden Thatsachen zusammenzustellen, dann wird die Erklärung derselben zu versuchen sein. Obgleich im Einzelnen nichts Neues mitzuteilen ist und es sich nur um eine Zusammenstellung wesentlich

bekannter Dinge handelt,

so hat doch diese Zusammenstellung ihre Berechtigung, weil aus der zusammenfassenden Betrachtung der einzelnen Thatsachen von selbst die Anschauung ihrer wesentlichen Einheit sich entwickelt und der so her­ vorgebrachte Eindruck etwas

relativ Neues für die Meisten in

sich

schließen dürste. Sehen wir uns denn zunächst nach Thatsachen um, in

welchen

sich ein Wachstum des Strafrechtes begründet. Wir werden solchen in der Regel dort begegnen, wo neue Institu­ tionen eingeführt,

wo neue Rechte sanktionirt oder neue Pflichtver-

hältnisse begründet wurden. Dort finden sich meist Bestimmungen strastechtlichen Charakters, welche eine Verletzung dieser Neubildungen, zugleich

aber auch

einen

Mißbrauch derselben verhüten sollen, Bestimmungen, welche Garantien dafür geben sollen, daß die überlieferte Ordnung den neuen Faktoren gegenüber Bestaick» habe.

Dahin gehören die Schutzbestimmungen zu­

gunsten unserer Verfassung,

unter anderem die Bestimmungen über

Ministerverantwortlichkeit, welche einer sanctio poenalis nicht entbehren; ferner die Bestimmungen strafrechtlichen Charakters zugunsten der unab­ hängigen Wirksamkeit parlamentarischer Körperschaften,

die Bestim­

mungen strafrechtlichen Charakters zugunsten des bei uns neuerdings gewährleisteten Grundrechtes der persönlichen Freiheit; ferner die Be­ stimmungen zugunsten des Hausrechtes, der Wahrung des Briefgeheim­ nisses, zugunsten der ungehinderten Ausübung des Wahlrechtes. Andere Bestimmungen strafrechtlichen Inhaltes von

neuem Datum beziehen

sich auf einen möglichen Mißbrauch des neu gewährleisteten Vereins­ und Versammlungsrechtes.

Ich könnte

weiter zurückgreifend hierher

Über Akkreszenz

und Dekreszenz des Strafrechtes und deren Bedingungen.

271

ziehen manche auf die Presse bezüglichen Strafbestimmungen, welche seinerzeit die Zensur abgelöst haben. Mit Bezug auf die neue Entwickelung der öffentlichen Verhältniffe ist fast allerwärts eine strengere Bestrafung des Amtsverbrechens ein­ geführt worden. Die gegenwärtig in Deutschland auf der Tagesord­ nung stehenden Gesetze gegen den Mißbrauch der kirchlichen Gewalt hängen mit dem fortschreitenden Auseinandersetzungsprozeß zwischen Staat und Kirche und der Erweiterung der Herrschaft rechtlicher Normen in Beziehung auf die zwischen ihnen bestehenden Verhältnisse zusammen. Relativ neu sind die straftechtlichen Schutzbestimmungen zugunsten des Autorrechtes, welches im Zusammenhange mit seiner steigenden wirt­ schaftlichen Bedeutung aus der alten Recht- und Schutzlosigkeit endlich in diesem Jahrhundert erlöst worden ist. Ein sehr weites Gebiet für die Ausdehnung des Strafrechtes öffnet sich nach der Seite des inter­ nationalen Lebens. Der Prozeß, der im Laufe vieler Jahrhunderte im Bereiche des internen Staatslebens zu einer ausgebreiteten Herrschaft des Rechtes geführt hat, steht dort noch in den Anfängen, und es setzen sich der fortschreitenden Entwicklung desselben hier beständige hundertfältige Hemmnisse entgegen. Daß indessen auch auf diesem Ge­ biete ein wirkliches Vorrücken der Herrschaft des Rechts stattfindet, das erkennen wir an den zahlreichen internaüonalen Verträgen, z. B. den Verträgen zugunsten des litterarischen Eigentums, des Markenrechts, des Post- und Telegraphenwesens u. s. w., denen es an pönalen Ele­ menten nicht fehlt. Diese Thatsachen, die sich in sehr bedeutsamer Weise nicht ver­ mehren lassen dürften, bieten für das Verständnis keine Schwierigkeit dar und lassen sich leicht unter einem einheitlichen Gesichtspunkte, einem Gesichtspunkte, auf welchen bereits hingewiesen wurde, zusammenfassen. Wo die Herrschaft des Rechtes sich erweitert, da nimmt regelmäßig die Strafjustiz an diesem Erfolge teil. Wie sich die Liktoren an die Fersen des Konsuls heften, als die Gewährsmänner seiner Au­ torität, so begleitet sie mit ihren Dienern und Werkzeugen das vor­ dringende Recht als ernster Bürge einer nicht bloß ephemeren Geltung desselben. Sie tritt ihm zur Seite, wo immer das Recht über neu erschlossenen oder bisher friedlos gelegenen Lebensgebieten sein Banner flattern läßt, wo immer in neuem Streite, in neuen sozialen Gefahren oder Übeln neue Aufgaben für dasselbe gestellt sind.

272

Über Akkreszenz und Dekrrszenz des Strafrechte- und deren Bedingungen.

In diesem Zusammenhange hat die Erweiterung des Strafrechtes nichts Gehässiges, wenn nur die Neubildungen, welche in den neuen Strafbestimmungen Schutz suchen, wirklich die Merkmale des Rechtes zeigen. Sie hat ferner nichts, was ein Bedauern begründete, wenn nur die neuen Rechtsbildungen einer fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung und nicht einer Erkrankung des sozialen Lebens entsprechen, wenn sie nicht der Ausdruck eines Zustandes sind, welchen das „pessima respublica, plurimae leges“ charakterisirt. Ob das Eine oder das Andere der Fall ist, ob die neuen Straf­ bedingungen auf einen Aufschwung oder Verfall des nationalen Lebens Hinweisen, das läßt sich leicht dem Inhalte dieses Zuwachses ent­ nehmen. Wenn diese neuen Bestimmungen die Grundprinzipien des Rechtes im allgemeinen und des Straftechtes in specie verleugnen, wenn sie, das Gebot der Berhältnismäßigkeit verletzend, ins Maßlose ausgreifen, weisen sie auf eine partielle Erkrankung des sozialen Körpers hin. Ich werde indessen auf die Fragen, die sich hier anknüpfen, und überhaupt auf die Beziehungen, in welchen das Wachstum des Straf­ rechtes steht, jetzt nicht näher eingehen, weil nicht das Wachstum die charakteristische Seite der modernen Entwicklung des Strafrechtes bildet, sondern der entgegengesetzte Prozeß, der des Absterbens, und ich die mir gegönnte Zeit vollauf gebrauchen werde, um diesen letzteren Prozeß in seiner eminenten Bedeutung für unser Rechtsleben zur An­ schauung zu bringen. Sollte es mir gelingen, diese Dekreszenz des Strafrechtes in ihren wesentlichen Beziehungen klarzulegen, so wird von selbst auch auf das Wachstum desselben einiges Licht fallen. Als ich zum ersten Male in dieser geehrten Versammlung darauf hinwies, daß im Bereiche des Straftechtes eine Dekreszenz stattfinde, so rief diese Äußerung einen Ausdruck des Beftemdens hervor. Es wurde auf die wachsende Macht des modernen Staates, auf die Erweiterung seiner Aufgabm und die Ausdehnung seiner Mittel zu deren Bewältigung hingewiesen, als auf Thatsachen, die sich mit einer Dekreszenz des Strafrechtes nicht vertragen. Ich könnte diesen Äußerungen die eines litterarischen Gegners hinzufügen, welcher von einer in der neueren Entwicklung des StrafrechtS hervortretenden Tendenz der Umfangsverringerung nichts wisien will, im Gegenteile eine wichtige Erweiterung desselben in Aussicht stellt, nämlich eine solche auf sämtliche dolose Rechtsverletzungen.

über Akkreszenz und Dckreszenz deS Strafrechtes und deren Bedingungen.

273

Sehen wir uns denn die Thatsachen an. Zunächst diejenigen, welche sich auf das Verhältnis der Straf- zur Civiljustiz beziehen. Im Bereiche der Civilrechtspflege ist bekanntlich das Element der Strafe allmählich abgestorben. Die Strafen, die auch auf diesem Gebiete ehedem eine große Rolle spielten, sind verschwunden. Jhering hat diese Erscheinung in seiner bekannten Schrift: „Über das Schuld­ moment im römischen Privatrecht" zunächst insoweit sie in der Ge­ schichte des letzteren hervortritt, einer eingehenden Würdigung unter­ zogen. Je weiter wir in der Entwicklung dieses Rechtes zurückgehen, einer umso umfassenderen Bedeutung des pönalen Elementes begegnen wir, und die Ausscheidung desielben stellt sich uns als ein bis in die neuere Zeit sich hereinerstreckender kontinuirlicher Prozeß dar. Wenn wir im germanischen Rechte auf die ältesten vorliegenden Zeugnisse zu­ rückgehen, so finden wir ebenfalls in ihnen von einer Scheidung bloß civilrechtlich verantwortlich machenden Unrechtes vom strafbaren Un­ rechte nichts. Was heute als bloßes Civilunrecht gilt, zieht dort ebenso gut straftechtliche Folgen nach sich wie das, was wir heute als strafbares Unrecht auffassen und behandeln. In innerem Zusammenhange mit diesem Verschwinden der Strafen im Bereiche des Civilrechtes steht das Verschwinden der Personalexekution, welche ursprünglich den Charakter der Strafe hatte und beständig ihren unmittelbaren Wirkungen nach der Strafe verwandt blieb. Ich kann hier wohl eine allgemeine Behauptung wagen, unter Bezugnahme auf die erwähnten Thatsachen: Es hat die gesamte Civil­ justiz in gewissem Sinne ihr Terrain der Strafjustiz abgewonnen. Die Erstere ist als ein Reis vom uralten Baume der Straffustiz zu betrachten. Der Beweis liegt darin, daß in der ältesten Zeit kein zwiefaches, sondern nur ein einheitliches Verfahren, das wesentlich unter strafrechtliche Gesichtspunkte fällt, existirt; daß das älteste Recht nicht, wie das heutige, das bloß „objektive Unrecht" als solches vom schuld­ haften Unrecht unterscheidet, sondern nur das letztere kennt, welches überall eine über den bloßen Schadenersatz hinausreichende Reaktion begründet, daß Ersatz und Strafe als verschiedenartige, nach verschie­ denen Normen zu behandelnde Rechtsfolgen des Unrechtes erst allmählich auseinandergetreten und daß sich hier nicht die Strafe vom Ersatz, sondern umgekehrt der Ersatz von der Strafe losgelöst hat. Um das Nämliche anders auszudrücken: Es hat die bloß deklarative Funk-

274

Über Akkreszenz und Dekreszenz des Strafrechtes und deren Bedingungen.

tion der Justiz erst allmählich eine selbständige Bedeutung erlangt. Wir unterscheiden nämlich die repressive Funktion, deren Zweck die Unter­ drückung schuldhaften Unrechtes, und die deklarative Funktion der Justiz, die es mit der Klarstellung dessen, was in einem gegebenen Falle dem Rechte entsprechend ist, zu thun hat. Diese deklarative Funktion hat im Lause der Entwicklung des Rechtes eine stetig sich erweiternde selbständige Bedeutung gewonnen. Gegenwärtig beherrscht sie ausschließend das gesamte Gebiet der Civiljustiz, und die Formen dieser sind nur aus sie berechnet. Es ist dies, glaube ich, bis heute nicht genug gewürdigt worden. Sie finden bei den Meisten, z. B. bei Puchta, als Aufgabe der gesamtm Justiz und speziell der Civiljustiz die Bekämpfung des Unrechtes angegeben, als sei jede Funktion der Justiz ein Ausholen nach irgend einem Übelthäter. Das entspricht dem ältesten Zustande, wo die Justiz in der That sich immer vermeintlichen Übelthätern gegenüber fand, wo sie nur in der Weise des Strafrechtes wirkte. Fiir die heutige Civiljustiz ist diese Bestimmung durchaus unpassend. Sie geht nicht von der Vor­ aussetzung einer zu bekämpfenden Auflehnung gegen das Recht aus, sondern von der Voraussetzung des Bedürfnisses einer autoritativen Feststellung des Verhältnisses zwischen einem bestimmten Faktum oder Zustande und dem Rechte. Selbst im Bereiche der Strafrechtspflege hat diese deklarative Funktion, als Feststellung der in bestimmten Hand­ lungen begründeten Schuld vor dem Gesetze, eine höhere selbständige Bedeutung gegenüber der Vollziehung der Strafe gerammen. Wir finden zu jenem großen Vorgänge eine gewisse Analogie in der Entwicklung einzelner moderner Institute. Es geschieht wohl zu­ weilen, daß ein neues Lebensverhältnis zunächst unter strafrechtlichen Schutz gestellt wird, bis die civilistische Konstruktion des Verhältnisses und die Anknüpfung der zu seinem Schutze erforderlichen Bestimmungen an das überlieferte Rechtssystem gelungen ist. Dann verschwindet die Strafsatzung oder erleidet wenigstens eine wesentliche Abschwächung. So spielte das pönale Moment bei dem Schutze des Autorrechtes im Anfange eine größere Rolle, da man mit der civilistischen Auf­ fassung der Sache noch nicht ins Reine gekommen war; sobald eS der Fall war, trat der strafrechtliche Gesichtspunkt in den Hintergrund. Wenden wir uns nun anderen Seiten unserer Aufgabe und zu­ nächst der Frage zu, welche Arten von Handlungen in dem heutigen Strafrechte, und welche in dem Strafrechte des vorigen Jahrhunderts

Über Akkreszenz und Dekreszenz des Strafrechtes und deren Bedingungen.

275

sich mit Strafen bedroht finden. Im Bereiche des Letzteren treten uns u. a. die Glaubensverbrechen auf breiter Position entgegen. Dieselben sind in den meisten neueren Gesetzesgebungen vollständig ver­ schwunden. Nicht so im geltenden österreichischen Strafgesetze. Im § 122 c und d behaupten sie hier noch eine letzte Position, aber nur noch für kurze Zeit. Im künftigen österreichischen Strafgesetze werden sie auch von daher verdrängt sein. Im praktischen Rcchtsleben hat sich übrigens die Ausscheidung derselben im Widerspruche mit der Gesetzgebung bereits vollzogen. Wenn man den Versuch machen wollte, die ftaglichen Bestimmungen exakt zur Anwendung zu bringen, so würde dies einen europäischen Skandal Hervorrufen. Ausgestoßen hat das moderne Straftecht ferner die Verbrechen der Hexerei, der Zauberei, des Selbstmordes, die Delikte des Fluchens und Schwörens, der Urfehde, des Wuchers, mancherlei Münzdelikte und verschiedene Luxusdelikte. Aus mancher modernen Gesetzgebung ist ferner das Verbrechen der unterlassenen Anzeige begangener Delikte verschwunden. Die Strafgesetzgebung hat sich ferner in der Sphäre der Immorali­ täten eine bestimmtere und engere Grenze gezogen. Gewisse Delikte sind in der strafrechtlichen Schätzung wesentlich herabgesunken, wie z. B. der Ehebruch, der in der heutigen Strafgesetzgebung außer­ ordentlich viel niedriger taxirt wird, als im älteren Straftechte, und im praftischen Rechtsleben, welchem eine Bestrafung dieses Deliktes fast unbekannt ist, weit niedriger als in der Gesetzgebung. Ähnliches gilt von der Gotteslästerung und anderen Delikten. Sämtliche sogenannte Sittlichkeitsverbrechen stehen heute auf einer tiefen Stufe der strafrechtlichen Schätzung. Das Verbrechen der reibet« natürlichen Unzucht finden Sie in den neueren Strafgesetzgebungen zum Teile nicht mehr speziell erwähnt. Die Strafgesetzgebung Belgiens spricht z. B. nur von öffentlichen Verletzungen der Sittlichkeit durch Handlungen, welche die Schamhaftigkeit verletzen. Eine wichtige Einschränkung hat der Thatbestand des Hoch­ verrates erfahren. Ebenso der Majestätsbeleidigung, der Blut­ schande u. s. w. Auch bei den kulposen Delikten ist die Neigung, den Umfang des Strafgesetzes zu verringern, nicht zu verkennen. Ich gehe zur Betrachtung der Strafarten und Strafmaße über. Zwischen der hinsichtlich ihrer eingetretenen Reduktion und der be­ sprochenen Ausscheidung von Delikten besteht ein naher Zusammen-

276

Uber Akkreszenz und Dekreszenz des Strafrechtes und deren Bedingungen.

hang.

Die nämlichen Gründe,

welche die frühere Ausdehnung des

Gebietes der strafbaren Handlungen herbeiführten, haben auch die un­ geheuerliche Steigerung des Strafmaßes und die Vermehrung der Straf­ akten herbeigeführt.

Das kann u. a. die Geschichte des Hochverrats

imb des „Lasters der beleidigten Majestät"

deutlich machen.

Um­

gekehrt pflegt der Ausscheidung von Delikten eine Reduktion des Straf­ maßes voranzugehen. Aus dem Strafenjysteme sind ausgeschieden worden: die qualifizirten Todesstrafen, wie: das Vierteilen, Verbrennen, Radbrechen (Theresiana), das Ertränken, das noch im 18. Jahrhundert vorkam, das Lebendig­ begraben und Pfählen u. s. w.; verschwunden sind die verschärfenden Zusätze zur Todesstrafe, wie: das Abschneiden der Zunge, das Aus­ reißen der Brüste, des Nackens, das Schleifen zur Richtstätte, das Reißen mit glühenden Zangen, das Riemenschneiden (Theresiana), das Handabhauen vor der Tötung, die nachträgliche Verbrennung, das nachträgliche Flechten aufs Rad, Aufhängen auf Schandpfählen u. s. w. Verschwunden sind die verstümmelnden Strafen, wie das Ab­ schneiden der Ohren, das Ausstechen der Augen, Hände u. s. w.

das Abhauen der

Verschwunden sind zahlreiche beschimpfende Strafen,

wie die Brandmarkung, das gemeine Halseisen und der Schandpfahl, das unehrliche Begräbnis, die öffentliche Züchtigung, endlich die körper­ liche Züchtigung

überhaupt.

Verschwunden

sind

die beschämenden

Strafen, wie: der erzwungene Widerruf, die erzwungene Abbitte und Ehrenerklärung.

Verschwunden sind die Vermögenskonfiskationen und

die Verbannung von Inländern, die ehedem eine große Rofle spielten. Hinsichtlich anderer Strafen ist das Anwendungsgebiet wesentlich eingeschränkt worden, wie z. B. hinsichtlich der Todesstrafe; bezüglich ihrer ist ein beständiges Sichzurückziehen auf ein immer engeres Terrain zu konstatiern.

Die Freiheitsstrafen mußten seinerzeit Ersatz bieten

für die ausscheidenden Strafarten und gelangten im Zusammenhange damit zu einer ausgedehnteren Anwendung; bald aber trat auch hier jener Absterbeprozeß allmählich sparsamer

ein.

Die lebenslängliche Freiheitsstrafe

zur Anwendung

gebracht und

bereits auf den Aussterbeetat gesetzt worden.

ist

von

wird vielen

Ferner eröffnete sich ein

Kampf gegen die hohen Maximalsätze der zeitlichen Freiheitsstrafe. Bekanntlich ist in dieser Hinsicht bereits eine bedeutende Herabsetzung in mehreren Gesetzgebungen, so im deutschen Reichsstrafgesetze, erfolgt. Auch für unsere künftige österreichische Gesetzgebung ist eine solche

Über Mrrszenz und Dekreszmz deS Strafrechtes und deren Bedingungen.

277

Herabsetzung projektirt. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhange ferner das Institut der bedingten Entlassung, welches auf eine wesentliche Reduktion des zur Anwendung kommenden Strafmaßes hinausführt. Ferner das Verschwinden der vom Gerichte auszu­ sprechenden Schärfungen der Freiheitsstrafen. Die nämliche Dekreszenz ist hinsichtlich der Ehrenfolgen der straf­ gerichtlichen Verurteilung zu konstatiren. Es genügt zum Belege, auf die Novelle vom 15. November 1867 und deren Verhältnis zum Strafgesetzbuche von 1852 hinzuweisen. In Betreff der Einschränkung des Anwendungsgebietes mancher Strafen hebe ich noch hervor, daß die Leibesstrafen nach dem Rechte der vorigen Jahrhunderte unter Umständen auch am Leichnam voll­ zogen werden konnten, ferner, symbolisch, am Bildnisse. Endlich mache ich noch auf einen bedeutsamen Prozeß aufmerksam, der im Bereiche des Vollzugs der Freiheitsstrafen im Zusammenhange mit der Adoption des Pönitentiarsystems hervorzutreten beginnt. In steigendem Maße gewinnt hier nämlich das edukatorische Moment an Einfluß und be­ schränkt die ehedem ausschließende Herrschaft des Momentes der Ver­ geltung. Auch auf diesem Gebiete ist daher eine Dekreszenz zu kon­ statiren. Es werden die Elemente, welche einst für die Strafe allein charakteristisch waren, mehr und mehr in Hintergrund gedrängt durch Elemente, welche einem anderen Systeme von Anschauungen und Empfindungen angehören. Überschauen Sie die zusammengestellten Thatsachen, so wird es Ihnen ohne Zweifel als sichergestellt erscheinen, daß der Dekreszenz des Strafrechts für die neuere Zeit eine höhere Bedeutung beizumessen sei als der Akkreszenz desselben. Zugleich wird es sich von selbst aufdrängen, daß wir es bei den Maßregeln, auf die ich hingewiesen habe, und in den verschiedenen Vorgängen, die erwähnt worden sind, nicht mit bloßen Zufälligkeiten oder Ausflüssen gesetzgeberischer Willkür zu thun haben, daß vielmehr unter ihnen selbst und zwischen ihnen und der gleichzeitigen Entwickelung unseres öffentlichen Lebens ein wesentlicher Zusammenhang bestehen müsse. Denn es haben die Gesetzgeber im allgemeinen nur eine be­ schränkte Macht über die Bestrafung der Verbrecher. Es ist nicht einfach in ihr Belieben gegeben, das Straftecht beliebig zu erweitern oder zu beschränken und das Maß der Strafen zu steigern oder zu reduziren.

278

Übet 4Cttreficn$ und Delteszenz des Lttaftechtes und beten Sebingungen. Wenn man z. B. heute die Strafe des Diebstahls

aufgehoben erklärte,

so

würde

die Folge

die

sein,

plötzlich für

daß aller Orten

die Lynchjustiz auftauchte, und zwar keineswegs zugunsten des Ver­ brechers; denn das Normalstrafmittel dieser Form der Justiz ist die Todesstrafe.

Jedenfalls würde die Strafe, des Gesetzgebers spottend,

sich in geänderten

Formen behaupten

und

die mit

diesen

Formen

sich verbindenden allgemeinen Übel würden den Gesetzgeber in Bälde nötigen, die staatliche Straft'atzung wieder in Kraft treten zu lassen. Wenn man heute die Todesstrafe in solchen Ländern abschaffen wollte, in welchen die dem Institute der Todesstrafe ursprünglich zu Grunde liegenden Faktoren noch mit der alten Kraft sich geltend zu machen vermögen, da würde sich

bald ein gefährlicher Kampf zwischen der

Bevölkerung und der Justiz

entspinnen und es dieser schwerer und

schwerer machen, den Verbrecher gegen die empörte Masse zu schützen und

ihre spezifische

zu erfüllen.

Aufgabe,

Wahrung

des

öffentlichen

Friedens,

Wenn heute noch wie ehedem Differenzen in Glaubens­

sachen die Leidenschaften auflodern lassen und zu Friedensstörungen Anlaß geben würden, wäre die Rolle dieser Glaubensverbrechen nicht, wie es der Fall ist, in unserem Rechtsleben ausgespielt. Umgekehrt kann der Gesetzgeber nicht beliebig in dem Maße der Strafe aufsteigen.

Es ist vergeblich, daß die französische Gesetzgebung

die Tötung im Duell mit der Strafe des gemeinen Mordes bedroht. Er bewirkt damit nichts

als

die Straflosigkeit des

Thäters.

würde es vergeblich sein, gewisse Deliktsformen festzuhalten, die

So der

herrschenden Auffassung nicht mehr als solche erscheinen. Wenn der Gesetzgeber hier über gewisse Grenzen findet

er

aus

seinem

Wege

den

hinausgeht,

Selbsterhaltungstrieb

der

so

Gesell­

schaft, der ihn über kurz oder lang zum Stillstehen bringen wird; trägt der Gesetzgeber nicht den Leidenschaften Rechnung, Verbrechen aufteizt,

welche das

so wenden dieselben sich wieder wie vordem un­

mittelbar gegen den Verbrecher, der Justiz zuvorkommend und an ihre Stelle tretend oder den von ihr geschlagenen Wunden andere, gefähr­ lichere zufügend. In der staatlichen Strafe

haben wir die Form

einer Sache,

welche ihrem Wesen nach von der staatlichen Justiz unabhängig ist. Die Strafe verknüpfte sich

mit dem Verbrechm,

ehe ein Strafgesetz

und ein staatliches Gericht existirte, und sie würde sich wenn Gesetzgebung und Gericht verschwänden.

behauptm,

Wie der einzelne Mensch,

Übet Akkreszenz und Dekreszenz des Strafrechtes und beten Bedingungen.

279

ja wie jedes lebendige Geschöpf gegen Verletzungen reagirt, um sich zu behaupten und das Geschehene in seiner verderblichen Bedeutung auszugleichen, so die Gesellschaft. Es giebt keine ursprünglichere Funktion als diese und keine, welche schwerer zu unterdrücken wäre. Die staatliche Strafe ist eine Form derselben, welche andere Formen abgelöst hat und ihrerseits durch andere Formen abgelöst werden kann. Die staatliche Strafe steht, an dem Zwecke aller Strafen ge­ messen, höher als die von ihr abgelöste Selbsthilfe, daher es wichtig ist, daß sie sich dieser gegenüber in ihrer Ausschließlichkeit be­ haupte. Soll sie aber ihr Terrain nicht wieder an jene verlieren, so muß der Gesetzgeber die Strafe in Einklang zu halten suchen mit dem Maße der in der Bevölkerung hervorgerufenen Affekte und speziell mit dem Verhältnisse, in welchem Haß und Furcht auf der einen Seite, Mitleid auf der anderen Seite im Bewußtsein derselben zu einander stehen. Wo dieser Zusammenhang verloren wird, da findet unfehlbar ein partielles Herabsinken des öffentlichen Zustandes auf eine tiefere Stufe statt. Es giebt aber auch Formen des Ausgleichs, welche höher stehen als die staatliche Strafe. Auch sie kann eine Ablösung erfahren durch die Formen einer freien, mit äußeren Friedensstörungen nicht mehr verbundenen Bethätigung der sozialen oder individuellen Kräfte. So erscheint z. B. hinsichtlich der Ehrenkränkungen die staatliche Bestrafung des Beleidigten selbstverständlich als die höhere Form der Ausgleichung gegenüber der Rache und dem Duelle; dagegen als die niedrigere Form gegenüber dem durch freiwillig gebotene Genug­ thuung erfolgten Ausgleich. Daß aber die Möglichkeit einer derartigen Ablösung der staat­ lichen Strafen sich in Verhältnissen begründe, welche der Macht des Gesetzgebers nur in beschränktem Maße unterworfen sind, ist von selbst einleuchtend. Sehen wir uns nun nach dem tieferen Zusammenhange um, in welchem die näher dargelegte Dekreszenz des Strafrechts, wie aus dem soeben Gesagten hervorgeht, stehen muß. Die Strafe ist ursprünglich nicht ein Produkt der Überlegung. Nicht dem Haupte ist sie entstiegen, sondern dem Sitz der Leiden­ schaften. Die Reaktion gegen den Verbrecher stellt sich ursprünglich dar als eine instinktive Äußerung des Selbsterhaltungstriebs, welche im Bewußtsein der Nächstverletzten die Form des Rachebedürfnisses

280

Über Mfftefjcnj

und Dekreszenz des Strafrechtes unb

beten Bedingungen.

annimmt. Diesem Affekte gesellt sich unter bestimmten Verhältnissen als ein gleich einflußreicher Faktor die Furcht vor der Erneuerung der Übelthat zu. Die durch jenen oder diesen Affekt beherrschte Justiz zeigt die Tendenz, die Strafe ins Ungemesfene zu steigern. Die Geschichte des Strafrechts ist in gewissem Sinne eine Ge­ schichte dieser Affekte in ihrer Bethätigung im Gemeinleben. Der Fortschritt im Bereiche des Strafrechts aber ist gekenn­ zeichnet durch die allmähliche Paralysimng ihres Einflusses. Die unterste Stufe ist charakterisirt durch die ganz unmittelbare Be­ thätigung derselben bei der Verfolgung und Züchttgung des Verbrechers. Einen Fottschritt begründet dann das Dazwischentreten neutraler Vermittler, zuerst unbeteiligter Genossen, dann organischer Einrichtungen, durch welche eine Ausgleichung zwischen den durch das Verbrechen ver­ letzten Interessen und dem Verbrecher vollzogen wird. Heute ist als dieser Vermittler zu betrachten das ständige unabhängige Ge­ richt im Zusammenhange mit der für ihn maßgebenden, vor Begehung des abzuurteilenden Deliktes erlassenen Gesetzgebung. Der wachsende Einfluß dieser neutralen Elemente mußte, wie von selbst einleuchtet, die Einführung einer gewissen Maßhaltigkeit und Ökonomie in der Verwaltung der Strafjustiz begünstigen. Wollen wir uns davon eine Anschauung verschaffen, so brauchen wir nur an die Ablösung der Privatrache durch das Kompositionen­ system zu denken, oder, was uns näher liegt, an die Umwandlung, welche in dem die politischen Verbrechen betreffenden Teile des Straf­ rechts infolge des Übergangs vom absoluten Staate zum konstitutionellen Rechtsstaate sich vollzog. In jenem finden die durch das Verbrechen hervorgerufenen Affette der Herrschenden keine Schranke, ihr Einfluß auf die Gestaltung der Sttafe ist ein direkter. Weder bricht sich derselbe an unabhängigen gesetzgebenden Faktoren, noch an der Macht unabhängiger Gerichte. Daher die Verschwendung der vom Staate zu verwaltenden Repressiv- und Präventivmittel, welche überhaupt für das Strafrecht des absoluten Staates charatteristisch ist und speziell in Beziehung auf die Behandlung der polittschen Verbrechen sich in der maßlosesten Weise geltend macht. Sobald in den konstitutionellen Ein­ richtungen neutrale Faktoren auch den Herrschenden gegenüber eine maß­ gebende Stellung erlangt haben, erfolgt allmählich eine Ausgleichung zwischen der Behandlung der politischen und derjenigen der gemeinen Verbrecher.

Über Akkreszenz unk Dekreszenz des Strafrechtes unk kettn Bedingungen. 281

Der neutrale Vermittler bedarf für feine Wirksamkeit der rationellen Gesichtspunkte. der Gedanke.

An die Stille des Affetts tritt bei ihm naturgemäß Der

fortschreitenden

Paralysirung der Leidenschaften

in unserem Gebiete entspricht daher das fortschreitende Wachstum der Macht des Gedankens. Es hat lange gedauert, ehe die Sttafjustiz sich über Grund und Zweck und das Verhältnis der angewendeten Mittel zu letzterem eine ernstliche, zusammenhängende Rechenschaft zu geben versucht hat.

Man

machte sich wohl über das, was man that, gelegentlich seine Reflexionen. Aber diese blieben ohne Einfluß auf das praktische Verhalten, oder nenn sie einen Einfluß übten, so geschah es im Dienste der alten Be­ herrscher dieses Gebietes, der Leidenschaften. schaft selbst zeigt sich

Die aufblühende Wissen­

lange Zeit hindurch mächtig beeinflußt durch

Anschauungen, in welchen sich der alte Zustand fixirt hatte. Ich habe an anderer Stelle den Zusammenhang der Entwickelung der sogenannten Straftechtstheorien mit der fortschreitenden Emanzipation des wissenschaftlichen Bewußtseins von diesen Anschauungen ausführ­ licher dargelegt. Unter dem wechselnden Einflüsse und der endlich auf diesem Wege zu innerer Freiheit gelangten Wissenschaft vollzog sich eine bedeut­ same Umwandlung im Bereiche der Straftechtspflege, in

welcher die

Reduttion der Strafmaße und die Ausstoßung von Deliktsformen und Sttafarten

als wichtige Elemente erscheinen.

Die tiefere Erfassung

der hier gestellten Aufgabe und die Prüfung

der zu ihrer Lösung

seitens der Sttafjustiz angewendeten Mittel mußte zu der Überzeugung führen, daß bisher in diesem Gebiete eine ungeheuere und wesent­ lich schädliche Verschwendung geherrscht habe; daß dieser Zweig der Rechtspflege sich der ehemaligen ärztlichen Praxis vergleichen lasse, welche mit dem kretierten

Übermaß

ihrer nach

Latwergen und Mixturen

äußerlichen

Verwüstung

Symptomen

anrichtete,

wo

de­ sie

Heilung bringen sollte. Übrigens zxigt sich die Gewinnung eines beherrschenden Einflusses für eine rationelle Auffassung von Verbrechen und ). Da ich mich vielfach im Widerspruch mit den Ansichten Thons finde, so freut es mich, hier eine wesentliche Übereinstimmung konstatiren zu können.

Thon befindet sich hier gleich dem Referenten in einem

Gegensatze zu den Ansichten Bindings, welcher in

anderem

sammenhange auszutragen sein wird.

rr»

Zu­

388 Rechtsnorm u. fubjett. Recht m. Beziehung auf das gleichnamige Werk o. Thon. Der

Verfasser

Rechten zu. Unterschied

wendet

Zunächst im

zwischen

sich

öffentlichen

wäre es richtiger gewesen,

im

Weiteren

3. Kapitel in und

den

subjektiven

eindringender Weise dem

privaten

Rechten.

Vielleicht

dieser Untersuchung eine Erörterung über

den allgemeinen Begriff des subjektiven Rechts voranzuschicken, anstatt, wie es von Thon geschieht, die allgemeinen Bestimmungen den nach­ folgenden Abschnitten einzuflechten. Durch dies Verfahren wird wenigstens dem Leser, wenn der Referent nach sich urteilen bars, die Lösung der ihm zufallenden Aufgabe erschwett. Bei

jener

Unterscheidung

zwischen

öffentlichen

privaten Rechten legt Thon den Accent auf Rechtsschutz gewähtt wird, oder, was dasselbe,

die Art,

und

wie

der

auf die Rechtsfolgen,

welche die Übertretung der in Bettacht kommenden primären Rechts­ norm nach sich zieht.

Beim Privattechte nämlich

sei dem in seinen

Interessen Geschützten ein Mittel zur Beseittgung der Verletzung, ein „Anspruch", von der Rechtsordnung gegeben und zu beliebigem Ge­ brauche überlassen. noch nicht bezeichnet. Schutzmittel, z. B.

Ein ausreichendes

Merkmal

ist

damit

indessen

Auch dem Inhaber öffentlicher Rechte können die Beschwerde, zu beliebigem Gebrauche

über­

lassen werden (vgl. Thon S. 129 f.). Zur Ergänzung jenes Merkmals könnte vielleicht die speziellere Gestaltung des privatrechtlichen Schutzes angezogen werden. nicht.

Im

Es geschieht dies

allgemeinen

jedoch

bei unserem Verfasser

lassen sich auf drei

verschiedenen Gebieten

charatteristische Merkmale des Privatrechts finden. hier vorangestellten Gebiete des Rechtsschutzes.

Zunächst auf dem

Dann aus dem Ge­

biete des materiellen Rechts, wobei insbesondere Grundsätze über Ver­ erbung und über die Übertragung unter Lebenden in Bettacht kommen. Endlich auf dem Gebiete der beteiligten Interessen,

wo die entschei­

denden Gründe für die Besonderheiten des materiellen Rechts

liegen.

und formellen

Es kommen hier in Betracht die Interessen, welche

Anerkennung und Schutz seitens der Rechtsordnung suchen, diejenigen, denen gegenüber die Ersteren geschützt sein wollen, und endlich diejenigen, welche durch die Verletzung der einschlagenden Gesetze getroffen werden, und für welche die ordnungsmäßige Ausgleichung des Geschehenen be­ deutsam ist.

Dies Letztere nach Maßgabe der gegebenen Verhältnisse

und der jeweils herrschenden Anschauungen.

Thon sucht die Er­

gänzung des oben erwähnten, zumeist von ihm betonten Merkmals auf dem zuletzt erwähnten Gebiete und setzt beim Privattechte in diesem

Rechtsnorm u. subjekt. Recht m. Beziehung auf das gleichnamige Werk v. Thon.

389

Sinne einen den Interessen eines Einzelnen wider Einzelne gewährten Schutz voraus. Das hier zu freiem Gebrauch überlassene Schutzmittel heißt „Privatanspruch", dessen Vorhandensein sonach für die Annahme eines Privatrechts entscheidend sein soll. Das kausale Verhältnis, in welchem hier das materielle Merkmal zu dem formellen steht, wird nicht näher erörtert, letzteres aber in einer Weise begrenzt, welche mir als will­ kürlich erscheint. Nur ein Privatanspruch nämlich auf Beseitigung der Verletzung soll für die Existenz eines Privatrechts beweisend sein, nicht ein Privatanspmch auf Ausgleichung derselben, bezw. auf Erlangung eines Äquivalents. Daher sollen z. B. die actio injur. aestimatoria und der Anspruch des schuldhast Verletzten auf Schmerzens­ geld nicht für die Existenz eines Privatrechts beweisend sein (S. 152). Weshalb nicht? Sind dies doch Schutzmittel für Einzelinteressen wider Einzelinteressen, welche dem Interessenten zu beliebigem Gebrauche überlassen werden. Bei Thon macht sich hier die oben besprochene und bekämpfte Auffassung von dem Verhältnis der Rechtsfolgen unter einander und zu den der primären Norm zu Grunde liegenden Interessen geltend. Ich lasse im übrigen die Richtigkeit der gegebenen Definition zunächst dahingestellt, um mich dem von Thon vertretenen allgemeinen Begriffe des subjektiven Rechts zuzuwenden. Das allgemeine Merkmal des Rechts in seinem Sinne findet Thon in der Möglichkeit eigener Rechtsverfolgung, der von den Gesetzen gewährte Schutz wird zum Rechte nach ihm dadurch, daß dem Geschützten für den Fall der Verletzung des schützenden Gesetzes ein Mittel zur Beseitigung der Verletzung (ein Anspruch) gegeben wird. Recht ist Anwartschaft auf Ansprüche. Nachdem das Unter­ scheidungsmerkmal zwischen öffentlichen und privaten Rechten in den Formen des Rechtsschutzes gefunden wurde, konnte man erwarten, daß der allgemeine Begriff des Rechts als von diesen Formen unab­ hängig gedacht und nur die allgemeine Thatsache des Rechtsschutzes als für dessen Begriff wesentlich betrachtet werde. Wenn die Möglich­ keit eigener Rechtsverfolgung, der „Selbstschutz des Interesses" das allgemeine Charakteristikon des Rechts ist, so hat der Unterschied zwischen öffentlichem und Privatrecht nichts damit zu schaffen, und es bliebe sonach von der Thonschen Definition des Letzteren nur das materielle Merkmal, die Natur des geschützten Interesses, übrig.

390

Rechtsnorm u. subjekt. Recht tu. Beziehung aus daS gleichnamige Werk v. Thon.

Aber die Stellung, welche dem Letzteren im übrigen gegeben wird, läßt es nicht als geeignet erscheinen, die Rolle des entscheidenden Charakteristikons zu übernehmen. Das Interesse nämlich und dessen Befriedigung werden von Thon von dem Inhalte und Begriff des subjektiven Rechts aus­ geschlossen. Diese Befriedigung und der Genuß der rechtlich geschützten Güter bilden nach ihm zwar den Zweck des Rechts (was er hier S. 219 flg. gegen Windscheid zugunsten der Jheringschen Auffassung vorbringt, ist durchaus treffend), sind aber selbst weder als Recht noch als Ausübung eines Rechts aufzufassen. Der Genuß soll so wenig zum Begriff des Rechts gehören, wie zum Gartenzaun der Garten, den jener schützen soll. Es bietet sich diese Ansicht als eine Konsequenz der Auffassung des objektiven Rechts. Zugleich aber wird eine selbständige Begründung derselben durch den Beweis, daß die gegnerische Ansicht absurde Konsequenzen habe, versucht. In der That wird diese in der Gestalt, in welcher sie bekämpft wird, tödlich getroffen, wenn anders getötet werden kann, was kein Leben in sich hat. Das Genießen an sich ist ebenso wenig Rechts aus Übung wie Rechtsverletzung. Eine gegenteilige Ansicht würde im Ernste gar nicht als eine Ansicht, sondern bloß als eine Gedankenlosigkeit zu betrachten sein. So sind auch beliebige Herrschaftsverhältnisse zur Sachenwelt an sich nicht Rechtsverhältnisse. Wir stehen überhaupt nicht in Rechtsverhältnissen zu Sachen, so gewiß Sachen keine Pflichten gegen uns haben. — Das Genießen wird ferner nicht dadurch zur Rechts ausübung, daß es kein Unrecht enthält. Der Selbstmord ist im deutschen Rechte nicht verboten, ohne darum Ausübung eines Rechts zu sein. Zum Rechte gehört die Anerkennung seitens der Rechtsordnung und die Existenz von Garantien für die praktische Anerkennung seitens der Einzelnen. Was in dieser Richtung von Thon vorgebracht wird, ist nicht zu bestreiten. Aber es führt nicht »weiter, als daß wir mit Jhering Rechte als „rechtlich geschützte Interessen" bezeichnen. Dafür, daß die Interessen gänzlich aus dem Begriff zu scheiden seien, enthält das Werk kein Argument, abgesehen von dem in ihm vertretenen Begriff des objektiven Rechts, welchen ich als unzulänglich zu erweisen versucht habe. Es ist ohne Zweifel richtig, wenn Thon sagt, daß die Rechtsordnung sich regelmäßig um den Genuß der Güter nicht kümmere, daß es ihre Aufgabe nur sei, die Hindernisse hinwegzuräumen, die andere Personen unbefugt

391

Rechtsnorm u. subjekt. Recht m. Beziehung auf das gleichnamige Werk v. Thon.

demselben stellen.

Aber damit steht es durchaus im Einklang»

wenn

wir auch bei dem subjektiven Rechte an den Genuß nur denken als an einen

Gegenstand möglicher

gegen dieselben.

Störungen und rechtlichen Schutzes

Recht ist die Befriedigung eines Interesses

mit Beziehung

auf die

Bürgschaften,

welche

die Rechts­

ordnung für ein entsprechendes Verhalten Dritter bietet. Diese Beziehung auf Dritte ist ein wesentliches Merkmal des Rechts. Aber wir können dieselbe nicht loslösen von Beziehung steht. des

Rechts

Genusses,

dem,

was

in

dieser

So wenig wie der Genuß als solcher den Begriff

erfüllt,

losgelöst

ebenso wenig die hervorgehobene Beziehung von

ihm

selber.

Dem

Rechte

steht

nach

des der

Natur der Rechtsverhältnisse eine auf den gleichen Gegenstand bezüg­ liche Pflicht gegenüber, der Freiheit die Gebundenheit

auf der einen Seite entspricht

auf der anderen, der legitime Genuß ist bei dem

Einen Objekt eines Dürfens, bei dem Anderen Objekt eines Sollens. Bei Thon wird dies Verhältnis, in welches das juristische Denken die beiden Begriffe seit je gestellt hat, das elementarste logische Ver­ hältnis unseres Gebietes, aufgehoben. ein gewisser Sachgenuß

So ist beim dinglichen Rechte

als ein Dritten gegenüber

gewährleisteter:

Inhalt des Rechts, als ein von diesen Dritten zu respektirender: Inhalt der Pflicht. Stellung,

Bei Thon behält die Pflicht ihre natürliche

aber das Recht verläßt ihr gegenüber seinen Platz.

Es

verliert überdies seine natürliche Konsistenz und führt nur noch eine abgeleitete

schattenhafte Existenz

als Aussicht auf künftige Abwehr

einer möglichen Verletzung der Pflicht, der Negation seiner selbst geworden.

es ist zur bloßen Negation

Denn nur der Anspruch begründet

das Recht, der Anspruch aber hat eine Rechtsverletzung zur Voraus­ setzung und ist nichts Anderes selben.

als ein Mittel zur Beseitigung der­

Auch das Verhältnis des Rechts zu anderen Begriffen würde

sich, wenn wir diese Aufhebung verschieben.

seiner Körperlichkeit

Man würde füglich nicht mehr davon reden seinem

Rechte verletzt

unseres

gelten

ließen,

So das Verhältnis zu dem Begriff der Rechtsverletzung.

sei,

Rechts nennen, das

denn

was

wir

können,

daß man in

gegenwärtig

würde dann nur

Kränkung

die Bedingung sein,

welche unser Recht, d. h. die Aussicht auf Ansprüche, lebendig werden läßt.

Wer ferner noch in dem bisherigen Sinne davon reden wollte,

daß er seine Rechte verteidigen oder zur Geltung bringen wolle, daß er sich in der Ausübung seiner Rechte nicht stören lassen werde u. s. w.,

392

Rechtsnorm u. fubjett. Recht nt. Beziehung auf das gleichnamige Werk v. Thon.

dem müßte man vorhalten, daß er den Begriff des Rechts auf den Kops stelle. Da nun keinerlei Gründe dafür vorzuliegen scheinen, daß wir uns mit dem bisherigen juristischen und populären Reden und Denken in einen derartigen Gegensatz stellen, so dürfte es sich empfehlen, bei den oben entwickelten Begriffen stehen zu bleiben. Eine besondere Frage verdient hier indessen noch speziellere Erwähnung; die Frage nämlich, ob, wie hier zunächst vorausgesetzt worden ist, die Thatsache des rechtlichen Schutzes genügt, um den Genuß zum Rechte zu erheben, oder ob nur einer besonderen Form des Schutzes, speziell der Einräumung eines Rechtsmittels an dm Interessenten selbst, also dem „Selbstschutze", diese Bedeutung bei­ zumessen sei. Wenn man mit Thon den Genuß aus dem Begriffe des Rechts ausschließt und also nur die Beziehung auf den Rechts­ schutz übrig läßt, so erscheint es als naheliegend, hier eine Beschränkung aufzustellen und wenigstens ein näheres Verhältnis des Geschützten zu dem Rechtsschutze vorauszusetzen. Es besteht hier in der That keine Veranlassung, den schützenden Staatswillen, insoweit er ohne und bezw. gegen den Willen des Geschützten thätig wird, als das Recht des Letzteren zu bezeichnen (Thon 217), da ja der Zweck des Schutzes, der allein ein Verhältnis zwischen ihm und der betreffenden Person herstellt, mit dem Begriffe des Rechts nichts zu schaffen haben soll. Thon ist daher konsequent, wenn er von einem Rechte des Interessenten nur dort gesprochen haben will, wo dieser zur Realisirung des Schutzes mit berufen >vird, d. h. nach der technischen Ausdrucks­ weise Thons, wo ihm eine Aussicht auf Ansprüche gewährt ist. Findet man dagegen die Substanz des Rechts in dem Interesse, so existirt kein Grund für diese Beschränkung. Vielmehr ist dann als mtscheidend für die Annahme eines Rechts nicht die Frage zu betrachten, welches die Faktoren und Vehikel des Rechtsschutzes, sondern nur die andere, wer der Träger des geschützten Interesses und für Art und Maß der Verwirklichung desselben maßgebend sei. Ich bin mir wohl bewußt, daß nicht Alle, welche das Interesse als ein Element des Rechts betrachten, diese Konsequmz ziehen. Aber ich glaube, man wird dieselbe, wenn erst diese Fragen vollständiger durch­ gearbeitet sein werden, gelten lassen müssm. Oder will man im Emste die Rechte, welche dem Kaiser durch die Reichsverfassung zuerkannt sind, nicht als Rechte des Kaisers gelten lassen, weil dieser

Rechtsnorm u. fubjett. Recht m. Beziehung auf das gleichnamige Werk v. Thon. 393

bei der Verwirklichung des Schutzes dieser Rechte sich nicht beteiligt? Oder die Rechte des Bundesrats, der Monarchen in den einzelnen Staaten, der Parlamente u. s. w. nur insofern und insoweit anerkennen, als „der Interessent selbst zur Realisirung des Schutzes mit berufen wird"? Man würde sich damit ebenso im Widerspruch mit dem Reden und Denken des Volkes und in einem gleich unnützen Wider­ spruch, wie in dem oben besprochenen Falle, befinden. In Wahrheit ist nicht bloß die Existenz, sondern auch der Umfang der Rechte von dem Selbstschutz unabhängig. Daher denn auch im Gegensatz zu Thon gewissen Rechten eine Richtung gegen jedermann zuzuerkennen ist. In einem gewissen Sinne haben sämt­ liche Rechte diesen universellen Charakter, insofern nämlich, als sie von jedermann verletzt werden können, oder was auf das Gleiche hinausführt, als die Pflicht, sich einer Verletzung derselben zu enthalten (unter gewissen Voraussetzungen) für jedermann besteht. Das Recht reicht so weit als die korrespondirende Pflicht, und es kann kein Bedenken geben gegen die Annahme des Ersteren, wo die Letztere außer Zweifel steht. Noch sei bemerkt, daß, wo Rechte in dem hier vertretenen Sinne des Worts existiren, den Trägern derselben auch die Möglichkeit geboten zu sein pflegt, sich in irgend welcher erlaubten Weise an dem Schutze derselben zu beteiligen, wenn auch etwa nur in der Form erlaubter Selbsthilfe oder der Beschwerde oder eines Antrags auf Bestrafung u. s. w. Die Verwerfung des Merkmals int Obigen bezieht sich daher auf den Selbstschutz nur insofern, als er nicht all­ gemein mit dem Schutze und der Anerkennung seitens der Rechts­ ordnung verbunden ist und den von mir bezeichneten Merkmalen des Rechts gegenüber irgend eine selbständige Bedeutung in Anspruch nimmt. Auf dem hier vertretenen Standpunkte existirt kein Bedürfnis, von dem Begriffe des subjektiven Rechts den Begriff der „Befugnis" abzusondern, wie dies von Thon (Kap. 7) geschieht. Der Letztere denkt hierbei zunächst an die Befugnis der Träger von Rechten, über diese zu disponiren. Dann an eine Summe anderweitiger Befugniffe von verschiedenem Inhalte, z. B. die Befugnis, betreffende Rechte zu erwerben. Es liegt m. E. hier überall insoweit ein Recht vor, als ein in seiner Bethätigung geschütztes Interesse vorhanden ist. Dies ist aber überall, wo wir nach dem bestehenden Sprachgebrauche von

394

Rechtsnorm u. subjekt. Recht m. Beziehung aus das gleichnamige Werk v. Thon.

rechtlichen Befugnissen reden, der Fall. Wenn wir jemanden als „befugt" zu solcher Bethätigung bezeichnen, so sagen wir damit nichts Anderes, als daß sie unter dem Schutz der Rechtsordnung stehe und daß Dritten demgemäß eine willkürliche Vereitelung derselben untersagt sei. Es existirt jedoch kein Grund, das allgemeine Recht der Per­ sönlichkeit zu freiem Handeln in eine Summe von Rechten mit Rück­ sicht auf alle denkbaren Richtungen dieses Handelns zu zerpflücken. Eine Ausscheidung besonderer Arten von subjektiven Rechten ist überall nur motivirt mit Rücksicht auf eine besondere Gestaltung des recht­ lichen Schutzes, und bezw. besondere Bedingungen ihrer Entstehung und Aufhebung. Eine andere Frage ist, ob die Befugnis, über bestimmte Rechte zu disponiren, zu dem Inhalte dieser Rechte gehöre. Man kann dieselbe mit Thon verneinen, ohne genötigt zu sein, mit ihm auf eine selbständige Existenz dieser Befugnis den betreffenden Rechten gegenüber zu schließen. Die Schwierigkeiten, welche hier bestehen, begründen sich in unserer juristischen Ausdrucksweise. Die Übertragbarkeit einer Forderung ist selbstverständlich kein Teil der Forderung selbst oder ihres Inhalts, wohl aber eine Eigenschaft derselben, welche mitumfaßt wird von dem legitimen Interesse der Forderungsberechtigten und der dasselbe begrenzenden und schützenden Normen, also von dem subjektiven Rechte, welches jenen hinsichtlich der Forderung zusteht. Es ist ein zufälliger und ziemlich gleichgiltiger Umstand, daß der gewöhnliche Ausdruck diesen Begriff nicht vollständig deckt, insofern wir nämlich bei dem Worte „Forderungsrecht" nicht an das ganze Recht hinsichtlich einer Forderung, sondern bloß an das Recht, zu fordern, zu denken pflegen. Recht hat dagegen Thon ohne Zweifel mit der Behauptung, daß der Begriff des subjektiven Rechts den des „Könnens rechtlicher Art" oder der „rechtlichen Macht" nicht vollständig umfaßt. In zahlreichen Fällen besteht eine Macht, durch willkürliche Handlungen die Voraussetzungen für das Lebendigwerden von Normen oder den Eintritt von Rechtsfolgen herzustellen, ganz unabhängig von dem Vor­ handensein eines Rechts zur Vornahme dieser Handlungen. Eine solche rechtliche Macht liegt in jedem Delikte, insofern es Veränderungen innerhalb der Rechtswelt hervorbringt. Auch das Rechtsgeschäft ist, wie von Thon näher ausgeführt wird, begrifflich unabhängig von dem Vorhandensein eines Rechts zur Vornahme der betreffenden Handlung

Rechtsnorm u. fubjctt. Recht in. Beziehung auf das gleichnamige Werk v. Thon. 395

und von deren Erlaubtheit oder Unerlaubtheit, obgleich die Fälle, wo der Abschluß eines rechtswirksamen Geschäfts sich in Wirklichkeit nicht als Ausübung eines Rechts darstellt, nach der hier vertretenen Ansicht sich als bloße Ausnahmsfälle darstellen. Wenn nun für diese recht­ liche Macht in ihrer Unabhängigkeit von dem Vorhandensein eines Rechtes und von der Erlaubtheit ihrer Bethätigung das Wort „Befugnis" als technische Bezeichnung von Thon in Anspruch ge­ nommen wird, so kann dies kaum auf Beifall rechnen, weil, wie bereits erwähnt wurde und von Brinz richtig bemerkt wird, in dem „befugt" das „erlaubt" enthalten ist, so gewiß wie in dem „unbefugt" das „unerlaubt". — Auf die bei Thon sich anschließenden Erörterungen über das Rechtsgeschäft verweise ich nur, vornehmlich, weil ich nichts gegen dieselben vorzubringen habe. Fassen wir den allgemeinen Begriff des Rechts, so wie es hier geschieht, und scheiden demgemäß den Selbstschutz oder die Aussicht auf Ansprüche aus demselben aus, so daß dies Merkmal zu ander­ weitiger Verwendung frei wird, so könnte es scheinen, daß dies der Thonschen Definition des Privatrechts, deren Richtigkeit oben dahingestellt blieb, zugute komme, da dieselbe dies Merkmal als für das Privatrecht charakteristisch in Anspmch nimmt. Gleichwohl ist von dem hier vertretenen Standpunkte aus die Annahme dieser Definition unthunlich. Die Stellung, welche hier dem Interesse gegeben wurde, ließ es als inkonsequent erscheinen, in den allgemeinen Begriff des Rechts eine besondere Form des Rechtsschutzes als entscheidendes Merkmal aufzunehmen. Das Gleiche aber gilt in Bezug auf den Begriff der Privatrechte, sowie denjenigen der Rechte öffentlich-recht­ licher Natur. Dem fraglichen Standpunkte ist es allein entsprechend, das diese zwei Kategorien unterscheidende Merkmal in der besonderen Natur, und bezw. der besonderen Richtung der im einen und im anderen Rechtsgebiete bei dem Schutze beteiligten Jnteresien zu suchen und die Bedeutung des hier gefundenen Merkmals nicht durch eine Verquickung desselben mit einem einer anderen Sphäre entnommenen Merkmale wieder in Frage zu stellen. Wenn dies zweite Merkmal überall mit dem ersten zugleich vorkäme, so bedürfte es nicht einer besonderen Erwähnung; wäre dies nicht der Fall, so würde die Kumu­ lirung verwirrend wirken. Wir würden dann gegebenenfalls im Zweifel sein, ob wir ein Recht den Privatrechten zuzählen sollen, weil das eine Merkmal auf diese hinweist, oder den publizistischen Rechten, weil

396 Rechtsnorm u. fubjcft. Recht m. Beziehung aus das gleichnamige Werk v. Thon. das andere Merkmal auf die Letzteren zeigt. Was nun die Thonsche Unterscheidung von öffentlich-rechtlichen und privaten Rechten betrifft, so stehen die beiden von ihm verwendeten Merkmale, nämlich die besondere Natur des Interesses und die besondere Form des Rechts­ schutzes, keineswegs allgemein und notwendig in einer der obigen Vor­ aussetzung entsprechenden Harmonie, daher wir nicht umhin können, zwischen ihnen unsere Wahl zu treffen. Und untersuchen wir, welches von beiden im Falle einer Divergenz als das ausschlaggebende zu betrachten sei, so werden wir durch die herrschenden Anschauungen und einen eingewurzelten Sprachgebrauch auf die Natur der geschützten Interessen hingeführt. So betrachten wir das Eigentum einer Person als ihr Privatrecht, weil in ihm sein Einzelinteresse Einzelinteressen gegenüber geschützt ist, und betrachten es so auch dort, wo dieselbe als Kind noch nicht oder als ein dem Irrsinn Verfallener nicht mehr berufen ist an der Realisirung des Rechtsschutzes sich in maßgebender Weise zu beteiligen. Umgekehrt bezeichnen wir die Rechte, welche den Einzelnen den staatlichen Behörden gegenüber verliehen sind, als Rechte öffentlich-rechtlicher Natur auch dort, wo den Interessenten eine förmliche Mitwirkung bei dem Schutze dieser Rechte eingeräumt ist (Thon S. 129 s.). Ebenso fällt es Niemandem ein, die Rechte von Behörden, politischen Körperschaften u. s. w. dann als Privatrechte zu bezeichnen, wenn diesen Behörden oder Körperschaften ein entscheidender Einfluß auf die Verwirklichung des verheißenen Rechtsschutzes ein­ geräumt ist. Damit soll nun aber die gewöhnliche Unterscheidungs­ weise und die bekannte römische Definition (Privatrecht — quod ad utilitatem singulorum spectat, öffentliches Recht — quod ad statum rei publicae), welcher jene sich anschließt, keineswegs als „völlig zu­ reichend" (Bruns) anerkannt werden. Unzureichend ist diese Definition vielmehr insofern, als sie das Privatrecht nicht auf den Schutz der Einzelintereffen Einzelinteressen gegenüber beschränkt, insofern, als sie ferner das für das Privatrecht charakteristische Verhältnis zu den Einzelintereffen (als dem entscheidenden Maße) nicht genügend bestimmt. Auch Normen des öffentlichen Rechts können bezwecken, Privatintereffen zu schützen, ohne daß daraus den Trägern dieser Interessen Privat­ rechte erwachsen (Thon 113). Ferner hat diese Definition zur Ver­ kennung der elementaren Wahrheit beigetragen, daß die Normen des Privatrechts, obgleich sie in den Verhältnissen der Einzelintereffen zu einander ihren unmittelbaren Gegenstand haben, doch wie alle Rechts-

Rechtsnorm u. fubjett. Recht m. Beziehung auf das gleichnamige Werk v. Thon. 397

normen Grund und Maß und letzten Zweck in allgemeinen Interessen suchen und ein Ausdruck von solchen sind (vgl. Thon S. 110 u. s. w.). Auch das hier Vorgebrachte kann nicht

den Anspruch

erheben, eine

erschöpfende Bestimmung der streitigen Begriffe zu enthalten. daß ihre Elemente bezeichnet sind.

Es bleibt übrig,

Genug,

das Verhältnis

zwischen diesen näher zu charakterisiren. Noch Die

ist dem Standpunkt Thons eine Konzession zu machen. Möglichkeit

eigener

Rechtsverfolgung

konnte

als

ein unterscheidendes Merkmal des Privatrechts nicht anerkannt werden. Überhaupt erschien es unthunlich, bei der Definition desselben auf die Formen des Rechtsschutzes Bezug zu nehmen.

Damit ist nun aber

nicht gesagt, daß die Natur des Privatrechts und bezw. der in geschützten Interessen diese

Formen.

höherem

sich völlig

Vielmehr

Maße als

indifferent

entsprechen

andere.

verhalte

derselben

Zunächst

in

gewisse

entspricht es

Bezug Formen

ihm auf in

ihr, daß dem

Berechtigten, insoweit er dazu als befähigt erscheint, eine entscheidende Einflußnahme auf die Verwirklichung des Rechtsschutzes gewährt wird. Unter den möglichen Formen solcher Beteiligung entspricht ihr dann ohne Zweifel am vollständigsten diejenige des privatrechtlichen Klage­ rechts; wie es sich denn von selbst versteht, daß die Vorherrschaft dieser Form, sowie diejenige anderer Formen im Bereiche der privat­ rechtlichen und bezw. zivilprozessualischen Normen ihren Grund in der Natur der Interessen habe,

welche diese Normen im Verhältnis zu

einander zu schützen bestimmt sind. Wenn sonach dem „Anspruch", d. h. der eigenen Beteiligung an der Rechtsverfolgung,

und seinen Arten

auch nicht die unmittelbar

maßgebende Bedeutung für das System der juristischen Begriffe zu­ kommt, welche ihnen bei Thon beigemessen wird, so hängen sie doch mit den zuhöchst maßgebenden Verhältnissen in einer Weise zusammen, welche innerhalb der allgemeinen Rechtslehre eine nicht bloß beiläufige Berücksichtigung fordert. Aus

den

speziellen

Erörterungen Thons über diesen Gegen­

stand (5. Kap.) hebe ich Weniges hervor.

Der Anspruch besteht

nach ihm, seiner im Eingänge dargelegten Grundansicht gemäß, einzig und allein in dem Lebendigwerden neuer oder in dem Wegfall bis­ heriger

Normen.

Letzteres

z.

ersteres u. a. bei dem Klagerechte.

B.

bei

der

erlaubten

Selbsthilfe,

Jeder Anspruch erweitert entweder

die Handlungsfähigkeit oder die rechtliche Macht seines Trägers und

398 Rechtsnorm u. fubjett. Recht m. Beziehung auf das gleichnamige Werl v. Thon. verfolgt den gleichen Zweck wie die Norm, deren Übertretung die Voraussetzung seiner Existenz bildet. Was speziell das Klagerecht betrifft, so hat dasselbe zum Inhalte die Macht, für den Eintritt der Imperative, welche bestimmten staatlichen Organen die Gewähr von Rechtshilfe befehlen, die Vorbedingung zu setzen. Richtiger würde es hier heißen: eine Vorbedingung zu setzen, da die richterliche Pflicht zur Hilfeleistung an Bedingungen geknüpft ist, welche mittelst des Klagerechts nicht ohne weiteres in die Macht des Berechtigten gestellt sind. Diese korrektere Fassung findet sich auch als eine eventuell geltend zu machende Seite 233, Anmerkung 15 (vgl. S. 234) auf­ geführt. Diese Definition des Klagerechts und der damit behauptete kausale Zusammenhang zwischen dem Privatrechte und der von dem Richter gewährten Rechtshilfe werden in eingehenderer Weise gegen So hm, welcher diesen Zusammenhang leugnet, verteidigt. Wenn der Letztere unter den Bedingungen, von welchen die Pflicht des Richters zur Verurteilung abhängig ist, die materielle Berechtigung des Klägers nicht finden und als entscheidend allein die prozessualischen Bedingungen gelten lassen will, so ist dies m. E. ebenso einseitig, als wenn diese letzteren Bedingungen ignorirt werden. Mit Recht nimmt Thon hier Bezug auf die Strafrechtspflege. Der Sohmschen An­ sicht würde es entsprechend sein, auch hier unter den Bedingungen, von welchen Verurteilung und Bestrafung abhängig sind, die materiellen Bedingungen und damit auch das Verbrechen zu streichen. Damit aber würde jede Möglichkeit, die Bestrafung von Verbrechern zu begründen, beseitigt sein. Was aber die besonderen prozessualischen Bedingungen betrifft, von welchen die zivilgerichtliche Hilfe abhängig ist, so weisen auch sie auf die Natur der im Privatrechte geschützten Interessen (und bezw. die Stellung des Staates zu denselben) zurück, so daß der Zusammenhang zwischen materiellem und formellem Rechte auch hier als ein ungebrochener sich darstellt. Für die Gewährung von Rechtshilfe ist allerdings überall das öffentliche Interesse entscheidend. Hier ist ein Punkt, wo wir mit Sohm zusammentreffen. Dasselbe bestimmt in thesi ausschließlich die Bedingungen rechtlicher und thatsächlicher, materiell-rechtlicher und prozeffualischer Art, unter welchen zugunsten Jemandes der gericht­ liche Zwang eintreten soll. Aber es fehlt hier am Gegensatze. Das Gleiche gilt in Beziehung auf alles, was Privatrechte zu Rechten macht, insofern die Bedingungen, unter welchen individuelle Interessen

Rechtsnorm u. fubjett. Recht m. Beziehung auf daS gleichnamige Wert v. Thon. 399

als Rechte anerkannt und Dritten deren Achtung auferlegt wird, in der gleichen Weife von dem öffentlichen Interesse an die Hand gegeben werden. Dies schließt nicht aus, daß in hypothesi die That des Einzelnen, indem sie eine jener Bedingungen verwirklicht, mtscheidend wirke und diesen im Besitze einer Macht, die Organe des Staates zu seinem Schutze in Bewegung zu setzen, erscheinen lasse. Eine derarttge Macht aber bildet den Inhalt des Klagerechts. Dieser Auffassung entspricht, was Thon über den Letzteren vorbringt, und so treffe ich nach längerem Hadern hier auf einem Boden gemeinsamer Anschauungen mit ihm zusammen.

Recht und Macht. (Schmollerö „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Bolkswirthschast" Jahrg. v. 1881.)

I. Das Recht zeigt sich in seiner Entstehung, seinem Bestände und seinen Wandlungen, wie die Geschichte bezeugt, vielfach abhängig von der Macht, und Rechtsfragen finden ihre Erledigung nicht selten in der Form von Machtentscheidungen, welche mit dem Beweise der größeren Stärke die Wirkungen des Erweises besseren Rechts verbinden.

Mit

den herrschenden Vorstellungen über das Recht sind derartige Vorgänge schwer in Einklang zu bringen. Das Recht wird dabei bestimmt durch Faktoren, welche seinem Wesen fremd, ja widersprechend zu sein scheinen, da Rechtsfragen jenen Vorstellungen gemäß ja nicht Fragen sind nach den Machtverhältnissen streitender Parteien, sondern Fragen nach dem Wahrheitsgehalte ihrer Behauptungen

und

Ansprüche einem höheren Forum gegenüber.

nach dem Werte

unserem Urteile zu diesen Thatsachen verhalten? Vorstellungen über das Recht korrigiren,

ihrer

Wie sollen wir uns mit Sollen

wir unsere

um sie mit den Thatsachen

in bessere Harmonie zu bringen, und demgemäß Rechtsfragen und Macht­ fragen identifiziren, oder sollen wir jenen Machtentscheidungen die An­ erkennung einer rechtlichen Bedeutsamkeit, was uns betrifft, versagen? Die Frage ist alt und hat die Gelehrten und Staatsmänner aller Kulturvölker in mannigfacher Weise beschäftigt.

Jener

neue hervortretende Widerspruch zwischen dem Verlauf

immer des

aufs

geschicht­

lichen Rechtslebens und dem idealen Maßstabe, den wir bei der Be­ urteilung von Rechtsfragen anzulegen nicht umhin können, enthält den Anreiz zu

immer erneuter Stellung

derselben.

Ihre

Beantwortung

erfolgte im Ganzen und Großen seitens der soeben bezeichneten Gruppen in einem entgegengesetzten Sinne.

Die Staatsmänner haben zu allen

Recht und Macht.

401

Zeiten und bei allen Völkern die Neigung gezeigt, wenn auch selten unumwunden eingestanden, Rechtsfragen als Machtfragen zu behan­ deln; sie stehen im allgemeinen auf dem Standpunkte der Athener des Altertums, welche Thucydides in einem Disput mit den Meliern sagen läßt: „was die Götter betrifft, so glauben, und was die Menschen betrifft, so wissen wir, daß durch Naturnotwendigkeit Jeder über den herrscht, über den er Gewalt hat. Wir geben dieses Gesetz nicht, noch bedienen wir uns des schon vorhandenen zuerst, sondern handhaben es, wie wir es empfangen haben und es auf ewige Zeiten unseren Nachkommen hinterlassen werden." Die Doktrin dagegen hat in der Mehrzahl ihrer Vertreter die Selbständigkeit des Rechts und seine Wesensverschickenheit von der Macht behauptet. Der Satz Spinozas, daß jedes Ding so viel Recht habe, als Naturkrast in ihm sei, hat in ihrem Bereiche nur vereinzelte Bekenner gefunden. Es ist hier nicht meine Absicht, eine Geschichte der in Betracht kommenden Theorien zu geben. Aber es verdient bemerkt zu werden, daß die Gelehrten der modernen Welt sich während des Zeitalters der Aufklärung in der Hauptsache dabei auf einer gemeinsamen Grundlage von wesentlich idealistischem Charakter bewegten, nämlich auf dem Grunde der sogenannten Natur- bezw. vernunftrechtlichen Anschauungen, daß ihre Übereinstimmung aber seit dem Abschluß jenes Zeitalters mehr und mehr geschwunden ist, und daß ihre Ansichten über das Wesen des Rechts überhaupt und sein Verhältnis zur Macht insbesondere sich im Zusammenhange mit der Gesamtbewegung des wissenschaftlichen Lebens in den verschiedenen Ländern und unter dem Einfluß der verschiedenen nationalen Schicksale und Zustände in verschiedenen Richtungen fort­ gebildet haben, wenn anders von einer Fortbildung überall gesprochen werden kann. In einem geistreich geschriebenen Merkchen von Fouillse, in welchem ftanzösische, englische und deutsche Rechtsphilosophie mit einander ver­ glichen werden, kommt diese Verschiedenheit der Entwickelung zu einem scharfen und freilich einseitigen Ausdruck. Fouillee findet, daß die ideale Seite des Rechts nur bei den Franzosen rein zur Geltung komme, daß nur sie das Recht beharrlich unter dem Gesichtspunkte der Gerechtigkeit betrachten, während die Deutschen das Recht mit der Macht indentifizirten, die Engländer den Begriff desselben in dem Begriff der Zweckmäßigkeit untergehen ließen. Ich laffe hier, was von den

402

Recht und Macht.

Engländern behauptet wird, sowie den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit beiseite und bemerke bezüglich der Stellung, welche uns und unseren Nachbarn gegeben ist, nur, daß es sich dabei keineswegs um eine völlig leere Behauptung handelt, daß in der That die Machtseite des Rechts bei einer Anzahl deutscher Gelehrten — ich nenne Hegel, Lassalle, Jhering, Bluntschli — zu weit höherer Geltung gelangt als bei den Zeitgenossen unter den Franzosen, daß aber die von mir angedeuteten Gründe dieser Erscheinung und ihr Zusammenhang mit dem Festhalten an ehemals gemeinsamen Auffassungen jenseits, mit dem Fortschreiten über die als unzulänglich erkannten diesseits der Grenze, von Fouillee nicht erkannt sind. Zwischen den Zeilen seines Merkchens, welche den erwähnten theo­ retischen Gegensatz in einer übertreibenden Weise erörtern, sieht sich der aufmerksame Leser unwillkürlich auf den nicht genannten aber durch­ schimmernden Gegensatz hingewiesen, in welchen sich die beiden Nationen auf praktischem Gebiete zu einander gestellt finden. In den Aus­ führungen Fouillees liegt, der gegen Frankreich gefallenen Macht­ entscheidung und den Rechtsänderungen gegenüber, welche sich im An­ schluffe an jene vollzogen haben, eine stillschweigende Berufung an die Gerechtigkeit, von welcher der aufrichtige Idealist keine Brücke zu finden weiß zu dem Ringen geschichtlicher Mächte und den Gestaltungen, die daraus hervorgehen. Der Mann der That weiß sich auch bei unseren Nachbarn anders zur Frage zu stellen. Jener Machtentscheidung gegen­ über, die er nur als eine provisorische gelten läßt, provozirt er an die definitiven Entscheidungen der Zukunst im Vertrauen auf eine den geschichtlichen Machtentscheidungen innewohnende Gerechtigkeit, als deren vornehmstes Werkzeug er eine auf die höchste Stufe der Kriegstüchtig­ keit gebrachte Armee verehrt. So ist das ernste Problem des Verhältnisses von Macht und Recht von französischer Seite, und zwar von doktrinärer und von staatsmännischer Seite sozusagen zu einer Frage zwischen Frank­ reich und Deuffchland, ich weiß nicht, ob erhoben oder herabgesetzt worden. Uns soll dies nicht hindern, uns in dasselbe unbefangen zu ver­ senken. Wir lassen die Anregungen gelten, welche von den geschicht­ lichen Ereignissen zu einer erneuten Prüfung alter Fragen ausgehen, ohne uns jedoch durch sie die Freiheit einer auf wissenschaftliche Ergeb­ nisse gerichteten Untersuchung verkümmern zu lassen.

Recht und Macht.

403

II. Einige allgemeinere Bemerkungen über die Natur des Rechts und dessen begriffliches Berhältnis zur Macht sollen den Standpunkt fixiren, von dem aus wir uns über jene Abhängigkeit des Rechts von bloßen Kraftproben zu orientiren und zu einer Würdigung der befremdenden Erscheinung zu gelangen suchen. Allem Rechte ist ein Element der Macht wesentlich, es ist selbst eine Art von Macht, welcher gewisse höhere Eigenschaften beigelegt werden. Dies gilt gleichmäßig von dem Recht im objektiven Sinne, d. h. dem Inbegriff der geltendm Rechtsvorschriften, wie von den Rechten im subjektiven Sinne oder den rechtlichen Befugnissen. Es sei gestattet, diese beiden wesentliche Machtqualität näher zu charakterisiren. Die subjektiven Rechte sollen in der Betrachtung vorangehen. Der Begriff des subjektiven Rechts schließt ein praktisches Können, eine Macht in Bezug auf die Bethätigung des Willens und bezw. die Verwirklichung der Jntereffen einer Person oder Personen­ mehrheit in sich, und zwar ein nicht von bloßen Zufälligkeiten ab­ hängiges, in einem gegebenen Momente faktisch bestehendes, sondern ein über den Augenblick hinaus in gewisser Weise verbürgtes Können, dem ein eben solches Müssen, eine irgendwie gewährleistete Gebundenheit bei Anderen gegenübersteht. In dreifacher Weise äußert sich im all­ gemeinen diese Macht. Erstlich in der Weise, daß sich der etwaigen Neigung bei Anderen, jenen Willen oder jene Interessen zu verletzen, Beweggründe von durchschnittlich höherer Kraft entgegensetzm, seien es Beweggründe moralischer oder nichtmoralischer Art, seien es Motive der Achtung oder der Furcht, in der Regel Motive von beiderlei Natur. Ferner darin, daß hinsichtlich etwaiger Angriffe, welche trotz jener Beweggründe möglich bleiben, eine thätige Abwehr in Aussicht gestellt ist; endlich in der Weise, daß etwa vollbrachte Verletzungen regelmäßig Gegenwirkungen hervorrufen, welche mehr oder weniger geeignet sind, diese Verletzungen, soweit die Natur der Dinge es zuläßt, unschädlich zu machen oder auszugleichen und die Kraft jener Beweggründe zu be­ stärken. Die Formen, in welchen diese Machtäußerungen sich in den bezeichneten Richtungen vollziehen, bestimmen sich auf verschiedenen Stufen der geschichtlichen Entwicklung verschieden. Es stellen sich den Formen der Selbsthilfe die Formen der obrigkeitlichen Hilfe gegenüber und hinsichtltch beider lasien sich wieder wichtige Verschiedenheiten er-

404

Recht und Macht.

tarnen. Daß dieselben für unser Problem bedeutsam seien, ist leicht zu erkennen, mag aber einstweilen auf sich beruhen. Diese Verschiedenheit der Formen, in welchen die Rechte sich als eine Macht bewähren, hängt mit der Verschiedenheit der Quellen dieser Macht zusammen. Vor allem kommt hierbei das Verhältnis in Be­ tracht, in welchem zwei von diesen Quellen sich neben einander geltend machen. Die eine liegt in den Machtmitteln, die der Einzelne von sich aus in dem Kampfe um das subjektive Recht einzusetzen vermag und entschlossen ist. Die andere liegt in einem sozialen Elemente (das Wort sozial im weitesten Sinne genommen): in Interessen, Ge­ wohnheiten, Überzeugungen, welche innerhalb der Gesellschaft oder bestimmter Verbände oder gesellschaftlicher Gruppen mächtig und ver­ breitet sind, in Einrichtungen, welche jenen zur Stütze dienen und ihren Einfluß auf das Verhalten der Einzelnen verbürgen rc. In Bezug auf das Verhältnis dieser beiden Machtquellen zu einander macht sich in der Entwicklungsgeschichte des Rechtslebens eine für unsere Frage be­ deutsame Tendenz in beharrlicher Weise geltend. Dieselbe geht auf die Mindemng der Abhängigkeit des subjektiven Rechts von der erstgenannten, individuellen, der Steigerung dieser Abhängigkeit von der anderen, so­ zialen Machtquelle. Der Fortschritt in dieser Richtung wird uns in der Folge beschäftigen. Hier haben wir uns zunächst dem objektiven Rechte zuzuwenden. Dies objektive Recht fällt innerhalb gewisser Grenzen mit dem sozialen Faktor zusammen, dessen Einfluß auf die Existenz der subjek­ tiven Rechte soeben hervorgehoben worden ist. Dieser Faktor heißt, insofern er in gewissen, hier nicht näher interessirenden Formen zur Erscheinung kommt und sich bethätigt (ich erinnere ex. c. an das ge­ richtliche Verfahren), „Recht" im objektiven Sinne dieses Worts. Auch dieses nun stellt sich in dem hervorgehobenen Zusammenhange als eine Macht von eigentümlicher Beschaffenheit und Wirkungsweise dar. Es ist motivirt, darauf Nachdruck zu legen, da diese Natur des Rechts in der Wissenschaft nicht immer zu voller Geltung kommt. Nicht selten wird vom Rechte in einer Weise gehandelt, als gehöre dasselbe seinem Wesen nach überhaupt nicht dem realen Leben, sondern als ein logisches Prinzip der Welt des Denkens und der bloßen Vorstellungen an, oder als hätten wir es in ihm mit Regeln und Anwendungen von solchen zu thun, von welchen es bloß zufällig sei, wenn sie in der Praxis des Lebens hervorträten und dessen Verlauf und Gestaltung einen

Recht und Macht.

405

bestimmenden Einfluß äußerten. Ich laste dies hier beiseite, um mich einer wichtigen Eigenschaft zuzuwenden, welche wir dieser Macht des objektiven Rechts und ihrer Wirksamkeit zuschreiben. Wo diese Macht nämlich in dem Streite um subjektive Rechte angemfen wird, da besteht die Voraussetzung, daß die Wirksamkeit derselben von einem Standpunkte ausgehe, welcher außerhalb der kollidirenden Ansprüche und Jnteresten liegt, diesen gegenüber also an sich alsein neutraler erscheint, und daß dabei ein Maßstab angelegt werde, zu welchem die streitenden Parteien sich, von der einzelnen Streitsache abgesehen, gleich­ mäßig bekennen können, ohne sich selber damit aufzugeben. Diese Eigen­ schaft würde als eine uneingeschränkt bestehende und allseitig unter allen Umständen sich bewährende voraussetzen, daß das objektive Recht selbst unabhängig von allen konkurrirenden Mächten und deren Krastverhältnisten sich bilde, fortbilde und seine Herrschaft behaupte — eine Voraussetzung, welche, wie späterhin näher auszuführen sein wird, nicht zutrifft und sich nicht verwirklichen kann. Aber eine auf die Verwirk­ lichung jener Eigenschaft gerichtete Tendenz macht sich gleichwohl in der Geschichte des Rechtslebens beständig geltend. Ja es würde ohne sie das Recht überhaupt nicht existiren. Wir haben es hier mit einem schöpferischen Prinzip von universeller Wirksamkeit, deren Geschichte die­ jenige der Entstehung des Rechts und der extensiven und intensiven Entwicklung seiner Herrschaft gänzlich in sich begreift, zu thun. Wo immer aus der Kondlrrenz, in welche sich die Glieder der menschlichen Gesellschaft mit ihren Interessen auf allen Lebensgebieten zu einander gestellt finden, Konflikte hervorgehen und in Machtkämpfen eine Ent­ scheidung suchen, da regen sich auch die Kräfte, in welchen jene Tendmz ihre Träger hat. Das Bedürfnis, jene Kämpfe und die daraus für die Streitenden selbst und für Dritte hervorgehenden Gefahren und Übel in irgend welche Grenzen einzuschließen, drängt zur Ausbildung neutraler Instanzen, welche, den Konflikten selbst fremd, den Streitenden aber befreundet, von ihnen angerufen werden könnten, und welche ein Bereich des Friedens unter ihnen herzustellen und für die Beftiedigung gemeinsamer Interessen Spielraum zu schaffen vermöchten. Sind die Verhältnisse, in welchen sich jene Konflikte er­ geben, dauernder Art — Verhältnisse der Nachbarschaft, gemeinsamen Besitzes oder der Verbindung gemeinsamen Aufgaben gegenüber —, so scheint die einzige Voraussetzung, an welche das Hervortreten einer solchen (sei es nun wirklich oder scheinbar) neutralen Instanz gebunden

406

Recht und Macht.

ist, in einer solchen Verteilung der Machtmittel zwischen den einander gegenüberstehenden Parteien zu liegen, welche die dauernde Unterjochung der einen durch die andere ausschließt. In mancherlei Formen aber führt diese Macht sich ein: in Gestalt gemeinsam anerkannter Autori­ täten und deren Ansprüchen, etwa gemeinsam angerufener, gleichviel durch welche Organe sich äußernder Götter und deren Offenbarungen, in Gestalt gemeinsamer Überzeugungen und Gewohnheiten, in Gestalt von Bündnissen und Verträgen und in anderen Formen. Es ist jenes soziale Element, welches uns bereits beschäftigt hat, und auf welches wir. insofern es sich in gewissen Formen kund gibt, Begriff und Namen des objektivm Rechts angewendet haben. Das System der subjektiven Rechte aber ist ein Ausdruck für die Machtverhältnisse unter den konkurrirenden Subjekten, insofern die Gestaltung und der Bestand der­ selben unter dem Einfluffe jener neutralen Macht des objektiven Rechtes stehen. Hinsichtlich dieses Letzteren schwebt uns ein Ideal vor, dessen Elemente bereits bei Gelegenheit der Erwähnung zweier geschichtlicher Tendenzen bezeichnet worden sind. Dieselben betreffen die Aus­ dehnung seines Herrschaftsgebietes und die reine Ver­ wirklichung des ihm eigentümlichen Prinzips. Wir würden dieses Ideal verwirklicht finden in einem Rechte von allum­ fassender Wirksamkeit, welchem Jeder huldigen könnte, weil es dem Widerstreit der Sonderinteressen gegenüber das den Streitenden Ge­ meinsame unter Anwendung des gleichen Maßes für Alle zum Aus­ druck und so das »suum cuique« zu gleichmäßiger Verwirklichung, und weil es dem Widerstreite der Meinungen und Urteile gegen« über die Wahrheit in menschlichen Dingen rein und widerspruchslos zur Geltung brächte. Hierbei haben wir es nicht mit einem willkür­ lichen Gebilde der Phantasie zu thun, vielmehr mit einem Reflexe der lebendigen Wirksamkeit jener schöpferischen Kräfte in ihrem Spiegel. Es ist der Geist des Rechts selbst, dessen Bild uns in diesem Spiegel, isolirt und harmonisch ausgestaltet, entgegentritt. Die Geschichte des Rechts, insofern sie sich in aufsteigender Linie bewegt, hat zum Inhalte das Mächtigwerden dieses Geistes. Das soll nun meine Aufgabe sein, diese Geschichte unter dem be­ zeichneten Gesichtspuntte näher zu beleuchten. Sie stellt uns eine fortschreitende Verfeinerung und Veredlung der Be­ ziehungen zwischen Recht und Macht dar. Der hier ver-

Recht und Macht.

407

bleibende, durch keinen Fortschritt zu bewältigende Rest, dessen bereits gedacht worden ist, wird uns zum Schlüsse spezieller beschäfttgm. III. Ich bezeichne zunächst gewisse Ausgangspunkte der Entwicklung des Rechts, welche bezüglich mehrerer Teile desselben und für eine größere Zahl von Vollem beglaubigt sind. Ein solcher liegt, worauf schon hingewiesen wurde, in der aus­ gedehnten Herrschaft der Selbsthilfe und also der Abhängigkeit der Rechte hinsichtlich ihrer Geltendmachung von den Machtmitteln, welche der Berechttgte von sich aus dafür einzusetzen vermag. Der Streit um dieselben zeigt im allgemeinen die Tendenz, seine Ent­ scheidung im physischen Kampfe zwischen den Stteitenden, also auf Gmnd der Anwendung jener individuellen Machtmittel zu suchen. Manche Einrichtungen eines schon entwickelteren Gemeinlebens wie das Gottes­ urteil des gerichtlichen Zweikampfsund das Institut der Eideshelfer bei dm Deutschen sowie gewisse älteste Prozeßformen bei den Römern weisen auf diesen Stand der Dinge zurück. Der Einfluß des neuttalen Faktors, der hier vomehmlich in der Form der Sitte und gewisser religiöser Vorstellungen erscheint, schräntt zwar das Gebiet des Stteites unter den Gemeindeund Stammesgenossm ein, verpönt aber innerhalb desselben die Selbst­ hilfe nicht, sondern sankttonirt sie. Speziell gilt dies von derjenigen Form der Selbsthilfe, welche sich am zähesten behauptet, von der Rache. Bon ihr wird weiterhin in eingehenderer Weise zu handeln sein. In­ soweit nun das Prinzip der Selbsthilfe Geltung hat, ist der Triumph des subjektiven Rechts gegebenenfalls von einer Machtprobe zwischen dem Berechtigten und seinen Gegnern abhängig und demgemäß individuelles Recht und individuelle Macht durch ein enges Band verbunden. Die Abhängigkeit von der Letzteren besteht wie für die Geltend­ machung so auch für den Erwerb der Rechte. Die Bethätigung individueller Macht als solcher bildet wohl den ursprünglichsten aller Erwerbstitel. Unter den wohlerworbenen Gütern ist auf dieser Stufe das Beutestück, wie bei den Indianern der Skalp des erschlagenm Feindes, das besterworbene. Ursprünglicher Auffassung entspricht ohne Zweifel die Ansicht des Kindes, das bei Goethe über die Herkunft seiner Spielsachen Auskunft gibt. „Woher, mein Kind, hast Du die schönen

Sachen? Vom Papa. Und der? Vom Großpapa. Woher hat sie der Großpapa bekommen? Der hat sie genommen." Der Raub gelangt nur langsam zu der Stellung, welche er in der modernen ethischen und Rechtsanschauung einnimmt. In ursprüng­ licheren Zuständen begründet speziell das in ihm enthaltene Mommt der Gewalt an sich keinen Borwurf, außerhalb des Kreises der Genossen ausgeführt einen Anspruch auf Achtung. Noch für Perioden eines im Übrigen schon höher entwickelten Volkslebens gilt das Wort: Reiten und Rauben ist keine Schande. DaS thun die Besten im Lande.

Über sie hinaus behauptet der Strandraub die Bedeutung eines legi­ timen Erwerbstitels. Bedeutsamer ist, daß auf dieser Stufe das Recht der Eroberung und das Beuterecht, wie überhaupt das Recht des Siegers im Kriege weit über ihre heutigen Grenzen hinausgehen. Bon dem Rechte, die Besiegten zu Sklaven zu machen, abgesehen, umfassen sie u. a. das Privateigentum der Besiegten ganz und gar. Wilhelm der Eroberer verteilte diesem Rechte gemäß nach der Schlacht bei Hastings das gesamte Grundeigentum von England unter seine Ge­ nossen. Das ist die historische Grundlage des englichen Agrarrechts. Ähnliches ist anderswo, in älterer Zeit normaler Weise, geschehen. Im besonderen Bereiche des Seeverkehrs hat sich der Raub zur Zeit des Kriegs noch bis in unser Jahrhundert herein als eine legitime Erwerbsart von Privateigentum behauptet. In den vorausgehenden Jahrhunderten hat er eine der vornehmsten Quellen des Reichtums für die zur See mächtigste Nation gebildet. Weit größere Bedeutung noch hat das Analogon dieser Begrün­ dungsweise für die Geschichte des öffentlichen Rechts. Die Grundlagen des europäischen Staatensystems sind, wie nicht ausgeführt zu werden braucht, durch eine Summe von reinen Machtentscheidungen geschaffen worden. Innerhalb der einzelnen Staaten haben Machtverschiedenheiten, welches auch ihre Quellen gewesen sein mochten, insofern sie Bestand hatten, regelmäßig ihren Ausdruck in einer verschiedenen Rechtsstellung gefunden. So erscheint von Haus aus der Mann im Besitze höherer Rechte als die Frau, der Krieger dort, wo eine Scheidung von Ständen stattgefunden hat, im Besitze höherer Rechte als der Handwerker, der Priester, dem die Macht der Götter zur Verfügung steht, im Besitze höherer Rechte als der Laie. Trug die Entwicklung der wirtschaft-

Recht und Macht.

409

lichen Verhältnisse eine Gesellschaftsklasse empor, so pflegte sie überall erfolgreich bemüht zu sein, wie ihre Paläste mit Bildwerken, so ihr Recht mit Privilegien auszuschmücken. Der glänzende Besitz zeigte bei allen Völkern eine natürliche Anziehungskraft für das ehrmde Vorrecht, und die wirtschaftliche Schwäche und Abhängigkeit eine natürliche Neigung, sich in einer rechtlichen Abhängigkeit auszuprägen. So sank die stete deutsche Bauernschaft dereinst in breiten Massen auf die Stufe der Leibeigenschaft herab. Privilegien aller Art haben, vermöge der Macht, welche sie verleihen, eine der Letzteren entsprechende Anlage zum Wachstum, sowie dort, wo sie zuerst an bestimmte Leistungen gebunden waren, die Fähigkeit, sich nach dem Wegfall dieser Leistungen ungemindert zu behaupten, erwiesen. Eine Gleichheit der Rechtsstellung erschien, wenn wir von den höchsten Stufen der Entwicklung des Rechtsstaats, welche bisher erreicht worden sind, absehen, nur dort als gesichert, wo hinsichtlich der Bedingungen wirtschaftlicher Macht kein allzugroßer Gegensatz zwischen den verschiedenen Volksklassen bestand. Die ursprüng­ liche Voraussetzung für die Entstehung von Rechtsverhältnissm zwischen vorher selbständigen Gruppen, deren früher gedacht worden ist, nämlich eine solche Verteilung der Machtmittel, welche die definitive Unterjochung der Einen durch die Anderen ausschließt, hat sich im Großen als eine Voraussetzung auch für den dauernden Bestand der Rechts­ verhältnisse herausgestellt. Wo sie wegfiel, da ging zunächst die Rechts­ gleichheit, wenn sie etwa bestanden hatte, unter, weiterhin das Recht der Schwächeren überhaupt. Dem Rechtsverhältnis zwischen ihnen und der stärkeren Partei substituirte sich gegebenenfalls das einfache Macht­ verhältnis in der Gestalt des Verhältnisses zwischen Herren und recht­ losen Knechten. Im weitesten Umfang erhielt sich bis zur Gegmwart herauf der ursprüngliche Zusammenhang zwischen subjektiven Rechten und subjektiver Macht, sowohl in Bezug auf den Erwerb wie in Bezug auf die Geltend­ machung der Ersteren im Gebiete des internationalen öffentlichen Rechts. In diesem Bereiche behauptet die Konkurrenz um die günstigeren Be­ dingungen des Lebens infolge der Schwäche und geringen Entwicklung des neutralen Faktors zum Teil noch ihre primitiven Formen. Zwar kommt die Existenz desselben auch hier in mannigfacher Weise, worauf noch zurückzukommen sein wird, zum Ausdruck, unter anderem in der gegenseitigen Anerkennung von Rechten, wie sie unter den Kulturvölkern stattfindet. Aber diese Anerkennung knüpft vielfach an einfache, in jenen

ursprünglichsten Formen erfolgte Machtentscheidungen an und verhindert nicht, daß der Streit um diese Rechte seine Erledigung in den wichtigsten Fällen ebenfalls in der Form, bezw. auf Grund elementarer Macht­ entscheidungen finde. Gewalterwerb gestaltet sich hier zum Rechts­ erwerb, insofern er sich behauptet, ohne daß zwischen demjenigen, der „genommen" hat, und demjenigen, der den Besitz als rechtmäßigen geltend macht, eine Ahnenreihe zu liegen braucht. Demgemäß hat der Herrscher de facto in diesem Bereiche die nämliche Rechtsstellung wie der legitime Herrscher, der neugebildete Staat, der auf der Grundlage des bisherigen Rechts sich erhob, keine andere als derjenige, der durch die gewaltsame Zerstörung des Letzterm emporkam. Der Krieg erweist sich hier fortwährend als eine reichlich fließende Quelle neuen Rechts, wobei der Maßstab für defim Bildung nicht in irgmd einem höheren Prinzip zu suchen ist, sondem in dem Ergebnis der Machtprobe, welche der Krieg den kämpfenden Parteien auferlegt. Die Gegenwirkungen gegen Verletzungen dieser Rechte bleiben ferner für die Regel dem Berechtigten selbst überlassen und vollziehen sich normaler Weise in den Formm der Selbsthilfe. Die Bereitschaft zu letzterer erscheint als die wichtigste Bedingung für den gesicherten Bestand der Rechte selbst. Rechte, welche sich nicht neben jener neutralen Macht auf die Waffen des Berechtigten stiitzen können, lassen sich, um an ein Wort Friedrichs des Großen zu erinnern, einer Musik vergleichen, welche zwar auf Noten gesetzt ist, für deren Ausführung aber keine Instrumente existiren. Überall, wo die Verhältnisse den bezeichneten Charakter hatten oder haben, zeigt sich die Rechtsqualität eines Besitzes im wesentlichen unabhängig von der Ai^t, wie derselbe erlangt worden ist. Die Anerkennung dieser Qualität schließe daher nicht allgemein eine ethische Billigung der auf dm Erwerb gerichteten Hand­ lungen ein, auch ist ein näheres Verhältnis zwischen ihnen und den gemeinsamen Interessen, auf welche im übrigen das objektive Recht hinweist, nicht vorausgesetzt. Die Macht dieser Interessen erstreckt sich hier nur in einem geringen Maße auf die Regelung der dem Erwerb zu Grunde liegenden Vorgänge. Die Anerkennung der erworbenen Rechte wendet sich daher wesentlich der Zukunft zu. Sie ist in dieser Richtung Ausdruck einer Voraussetzung und eines Wunsches: der Vor­ aussetzung, daß die Macht, welcher die Rechtsqualität beigemessen wird, Bestand haben werde und bei den Berechnungen des friedlichen und feindlichm Verkehrs als eine gegebme Größe in Betracht gezogen werden

Recht und Macht.

411

könne; des Wunsches, daß die Voraussetzung sich bewähren und daß der gegebene Zustand die Grundlage einer Friedensordnung abgebm möge, daß demgemäß Gewalt und Willkür, welche Rolle sie auch bei der Begründung gespielt haben sollten, über das fernere Schicksal der Rechte nicht entscheidend sein möchten. Mit diesem Wunsche aber, der hier noch eine beschränkte Verwirklichung findet, weist sie auf eine Über­ schreitung dieser Entwicklungsstufe hin. IV. Der Fortschritt über den soeben bezeichneten Stand der Dinge hinaus ist bedingt durch eine höhere Konzentration von Machtmitteln an der Stelle, von wo die neutralen Entscheidungen und Anordnungen ausgehen sollen, und ist charakterisirt durch das Eintreten der neutralen Macht in eine aktivere, die Begründung und die Aufrechterhaltung der subjektiven Rechte gleichmäßig umfassende Rolle. Aus dem Grunde der gemeinsamen Überzeugungen, Gewohnheiten und Bedürfnisse erhebt sich jene Macht in immer bestimmteren und ausgebildeteren Formen, und es befestigen, gliedern und vervielfältigen sich die Einrichtungen, mittelst deren sie ihre Herrschaft behauptet und zugleich deren Grenzen auszudehnen und sie intensiver zu gestalten strebt. Die Folge ist, daß in dem Streit und der Entscheidung über das sujektive Recht die Macht der Streitenden in steigendem Maße ab­ gelöst wird durch jene übergeordnete Macht, womit eine doppelte Reihe von Änderungen verbunden ist. Die eine betrifft die Formen, in welchen die den Erwerb und die Geltendmachung der Rechte betreffenden Streitigkeiten ihre Erledigung finden, die andere den Maßstab, der dabei zur Anwendung gelangt. Jene Erledigung findet nun nicht mehr auf Grund einer Machtprobe zwischen den Streitenden, sondern auf Grund eines Beweisverfahrens vor den Organen jener übergeord­ neten Macht über bestimmte Thaffachen statt, und bei der Würdigung dieser Thatsachen macht sich mit wachsender Selbständigkeit und Energie der eigentümliche Standpunkt jener Macht geltend. Die Rechtsfrage gestaltet sich hier zu einer Frage nach der besseren Sache, der besseren Sache im Lichte der Interessen und Überzeugungen, welche die Macht des objektiven Rechts erhoben haben. Die Anerkennung eines Anspruchs hat nun eine gleich wesentliche Beziehung auf Vergangenheit und Zukunft. Sie schließt fortan ein ethisches Werturteil über die der Vergangen­ heit angehörigen, dem Anspruch zu Grunde liegenden Vorgänge in sich.

412

Recht und Macht.

Im Zusammenhange mit diesen Änderungen verringert sich die Bedeutung des Gegensatzes zwischen Starken und Schwachen im Be­ reiche des Rechtslebens. Ja, das objektive Recht tritt sogar in dem Gebiete seiner also erweiterten und befestigten Herrschaft in einem ge­ wissen Gegensatz zur Macht, indem es dort in seiner eigentümlichen Bedeutung als eine unparteiliche höhere Gewalt am entschiedensten hervortritt, wo es seinen Schild über den Schwachen hält. Auf diese Thatsache weist ein Wort Napoleons I. hin, das hier angezogen zu werden verdient. Danach sind Recht und Sitte zugunsten der Schwachen als eine Fessel für den Starken erfunden. Die relative Wahrheit dieser Behauptung liegt am Tage. Übersehen ist dabei aber, daß keiner schlechthin der Stärkere ist, daß jedenfalls keiner die Gewähr dafür hat, daß er stets als solcher erscheinen werde. In dem Bewußtsein hiervon hat das Recht, wie schon früher angedeutet worden ist, die allgemeinste Quelle seiner Kraft, womit es zusammenhängt, daß die­ jenigen, welchen dies Bewußtsein fehlt, entweder das Recht, wie Na­ poleon I., als für sich unverbindlich zu betrachten, oder sich der Ent­ wicklung desselben und der Ausbreitung seiner Herrschaft, etwa wie England in Bezug auf das internationale Seerecht, zu widersetzen pflegen. Die Organisation, welche den charakterisirten Fortschritt innerhalb der einzelnen Länder vermittelt, bildet den Kern der staatlichen Organi­ sation. Der Ausbildung dieser Letzteren geht die Ausbreitung der Herrschaft des Rechts zur Seite. Diese Ausbreitung fällt nicht in allen ihren Einzelheiten und verschiedenen Stadien gleichmäßig ins Licht der Geschichte. Am meisten ist dies der Fall bezüglich der Entwicklung des Strafrechts. Deshalb hier zunächst ein kurzer Hinweis auf diese. Er wird jenen Fortschritt in seinen bedeutsamsten Momenten vor Augen stellen. Gehen wir auf die Vorstufen der staatlichen Strafjustiz zu­ rück, so gelangen wir zur Herrschaft der Selbsthilfe in der Form der Rache. Dieselbe steht unter dem Einfluß der Sitte und der religiösen Vorstellungen, hinter welchen das gemeinsame Interesse an dem Be­ stände des öffentlichen Friedens sich geltend macht. Aber die Kräfte, welche diese neutrale Macht für sich in Bewegung setzt, nämlich die Interessen, Leidenschaften und Machtmittel der am Streite selbst Be­ teiligten, dienen ihr in unvollkommener Weise. Der Triumph des subjektiven Rechts bleibt im Einzelfalle abhängig von der Zufälligkeit eines Übergewichts der Macht auf der Seite des Berechtigten und

Recht und Macht.

413

ist insofern von ihr unabhängig, und selbst in dem Falle, wo das subjektive Recht triumphirt, ist der allgemeinen Sache des öffentlichen Friedens nur ein beschränkter Gewinn geboten. Denn jener Triumph ist nicht geeignet, den schwebenden Streit zum Abschluß zu bringen, da er als Triumph einer Partei erscheint und als solcher gefeiert und ausgebeutet wird. Er enthält daher ein Motiv für die Gegenpartei zu erneuten Anstrengungen, um die eigene Niederlage durch eine Nieder­ lage des Gegners wett zu machen. Der Fortschritt über diese Stufe hinaus ist davon abhängig» daß jene neutrale Macht neutrale Werk­ zeuge finde und mittelst derselben einen maßgebenden Einstuß auf die Erledigung des Streites ausübe. Es geschieht dies unter dem Druck der Übel, welche aus dem endlosen Streite nicht bloß für die un­ mittelbar Beteiligten, sondern auch für die Anderen, für die Gemeinde, für den Stamm hervorgehen und in der Bekämpfung derselben eine Allen gemeinsame Aufgabe erkennen lassen. Und es geschieht in mannig­ facher Weise. Unter anderem durch die Begünstigung der Flucht des Verbrechers seitens der Gemeindegenossen und die Begünstigung eines nachfolgenden friedlichen Ausgleichs zwischen den Parteien. Gar trefflich, heißt es bei Euripides, Gar trefflich war dies von den Vätern eingesetzt, Daß au« der Leute Augen wich und nicht im Volk Sich zeigen durste, wer die Hand mit Blut befleckt, Nicht wieder sterben sollt' er, sondern durch die Flucht Entsühnung suchen; denn des BluieS wäre sonst Ein Ende nie gewesen und der letzte Mord Hätt' immer frische Rach' und neuen Mord gezeugt.

Man stellt ferner die Bußsätze fest, welche von der einen Seite genommen, von der andern gegeben werden können, unbeschadet der beiderseitigen Ehre, man zwingt den Verbrecher zur Zahlung der Buße, sofern sie von dem Berechtigten gefordert wird. Den vermittelnden Nachbarn und Freunden substituirt sich im Fortgang der Entwicklung die Gemeinde, der Fürst, der Staat, und die bloß vermittelnde Rolle des neutralen Faktors wird durch die eines allseitig bestimmenden, die Sache in immer weitergehendem Umfange in die eigene Hand nehmen­ den Herrn abgelöst. Die Selbsthilfe wird verpönt, die Klage des Ver­ letzten wird durch die öffentliche Klage, die Verfolgung im Namen jenes durch die Verfolgung im Namen der neutralen Macht selbst verdrängt. Das Sühngeld wird fortan der Letzteren, nicht mehr der Partei bezahlt. Da man, wie ein Rechtssprichwort lautet, „sein eigenes Blut nicht

trinken sonn", so empfängt jene höhere Gewalt die Buße an der Stelle der Sippe des Erschlagenen. Zugleich ändert sich der Charakter dieser Buße dem Standpunkt dieser übergeordneten Gewalt gemäß. So ent­ wickeln sich die Normen des öffentlichen Strafrechts. Das Bestreben, derm unparteiliche Anwmdung zu sichern und zu verhüten, daß nicht die Justiz selbst zum Schauplatze neuer Parteikämpfe werde — nun nicht mehr zwischen einzelnen Individuen oder Familien, sondern zwischen sozialen oder politischen Parteien — und zu verhüten, daß der Ange­ klagte unter dem Einstuß von Sonderinteressen und Affekten auf die Organe der Justiz selbst leide, ist bestimmend für eine andere Reihe von Einrichtungen und Maßregeln. Hierher gehört das Asylrecht, welches in der Geschichte zahlreicher Völker eine Rolle gespielt hat und im Bereiche der internationalen Gemeinschaft sich noch in gewissen Grmzen behauptet. Dasselbe eröffnet dem Angeklagten den von Par­ teien und beten Affekten abhängigen Organen der öffentlichen Gewalt gegenüber Zufluchtsstätten, ähnlich wie jene von Euripides gefeierte Sitte ehedem der Sippe des Verletzten gegenüber, damit den Freunden und der Zeit eine vermittelnde Einwirkung ermöglicht werde. Unter günstigeren Verhältnissen ist die Reform darauf gerichtet, die haupt­ sächlichsten Organe des Rechts, die Gerichte, über das Niveau aller Parteikämpfe emporzuheben und ihre Stellung in einer Höhe zu be­ festigen, an welche auch die Leidenschaft und Sonderinteressen der Mächtigsten mit ihrem Einfluß nicht hinanreichen können. Es gehört dahin die durchgreifende Scheidung der Rechts an Wendung von der Rechtssetzung, die Trennung der Justiz von der Verwaltung, das ausschließliche Binden der richterlichen Wirksamkeit an das Gesetz, die Bereinigung bureaukratischer und volkstümlicher Elemente in den ge­ mischten Gerichten u. s. w. Dieser formalen Entwicklung gehen, wie schon angedeutet wurde, Änderungen hinsichtlich des sachlichen Maßstabes, der bei der Behand­ lung der Verbrechen angelegt wird, zur Seite. Dieselben betreffen, insoweit in ihnen ein innerer Zusammenhang und ein Fortschritt er­ kennbar sind, die allseitigere und gleichmäßigere Abwägung und Berück­ sichtigung der direkt und indirekt — auch auf der Seite des Ver­ brechers — beteiligten Jntereffen im Sinne unseres neutralen Rechts­ prinzips. Jene zuerst berührte formale Entwicklung hat in ihren die Gerichte betreffenden Momenten keine ausschließliche Beziehung auf das Straf-

Recht und Macht.

415

recht. Ihre Bedeutung ist eine universelle. Speziell gilt das hierüber Beigebrachte in der Hauptsache auch für die Civilrechtspflege. Auch im Bereiche ihrer Geschichte lassen sich fern« jene beiden Arten von Reformen, welche unter den hier festgehaltenen Gesichtspunkt fallen, konftatiren. Den die Form der Erledigung von Rechtssachen betreffen­ den stellen sich auch hier solche zur Seite, welche auf den sachlichen Maßstab Bezug haben» der dabei zur Anwmdung kommt. Eine der bedeutsamsten Seiten der Gesamtgeschichte des Rechts liegt in der all­ mählich sich vollziehenden Neutralisirung politischer, nationaler, kon­ fessioneller und gesellschaftlicher Gegensätze und mit ihnen zusammen­ hängender Machtungleichheiten in Bezug auf die Fähigkeit zum Erwerbe von Privatrechten und die allgemeinen Bedingungen des Erwerbs, sowie in Bezug auf die erfolgreiche Geltendmachung von solchen. Der Fortschritt hat hier dahin geführt, daß jene Fähigkeit mit der mensch­ lichen Persönlichkeit als solcher verknüpft wird, daß in dem Werben um jene Rechte der individuelle Wille dem individuellen Willen gmndsätzlich gleich gesetzt und die rechtliche Wirksamkeit dieses Willens überall nach dem gleichen Maße beurteilt wird. Wenn der moderne Kulturstaat einem Jeden, der menschliches Antlitz trägt, jene Rechtsfähigkeit zuer­ kennt und einem Jeden, welcher Nation, Konfession und Gesellschastsschichte er auch angehören möge, den gleichen Schutz für seine wohler­ worbenen Rechte durch seine unparteilichen Gerichte in Aussicht stellt, so liegt darin ein Triumph der nämlichen Kräfte, auf welche die Ent­ stehung des Rechts selbst und die Entwicklung aller seiner Teile zurück­ zuführen sind. — Erwähnt sei noch, daß unter unseren Gesichtspunkt alle Änderungen des Sachenrechts, in welchen eine umfassendere Wür­ digung der begründenden Thatsachen zum Ausdruck kommt (man ver­ gleiche z. B. das altdeutsche Recht der Gewere mit dem römischen Eigentums- und Besitzrecht), ferner alle Vorgänge und Bestrebungen fallen, welche dem Faktor der Arbeit eine steigende Bedeutung ver­ leihen im Gegensatze zur bloßen Machtäußerung (Okkupation), sowie das Hervortreten der rationellen Gründe des Eigentums in den die Umbildung des Rechts beeinflussenden Anschauungen. Auch in den anderen Rechtsgebieten sehen wir jene Kräfte am Werke, obgleich die Bedingungen für die Begründung und Ausbreitung der Herrschaft des neutralen Faktors überall sonst minder günstig liegen. Letzteres ist z. B. im Staatsrechte, wie leicht zu etfemten ist, der Fall. Jener Faktor sieht sich hier in dem Ringen um die Herrschaft

416

Recht und Macht.

im Staate und um deren Ausbreitung oder Beschränkung gewaltigeren Kräften gegenüber, während die Quellen seiner eigenen Macht hier spärlicher fließen und der Ausbildung seiner Organe weitaus größere Hindernisse sich entgegensetzen als in den zuvor ins Auge gesüßten Ge­ bieten. Es handelt sich hier dämm, die Träger der herrschenden Ge­ walt, welche das Recht selbst mit überlegenen Waffen ausrüstet, mit Schranken zu umgeben und an dem Mißbrauch jener Waffen zu verhindem. Vielen schien dies eine widerspmchsvolle und deshalb einfach fallen zu lassende Aufgabe zu sein. Gelehrte früherer und jüngster Zeit haben gemeint, beweisen zu tonnen, daß die oberste Gewalt im Staate nicht mit wirksamen Kontrolen und Schranken umgeben werden könne, weil innerhalb der nämlichen Sphäre nur eine höchste Gewalt bestehen könne. Sie übersahen, daß denkbarer Weise die in gemeinsamen tiefwurzelnden Überzeugungm und Gewohnheiten wurzelnde Kraft des neutralen Faktors selbst, etwa in Gestalt eines überlieferten, von dem Rechtsgefühle und lebhaft empfundenen Bedürfnissen aller Klassen ge­ tragenen Verfassungsrechtes, die höchste Kraft innerhalb eines Gemein­ wesens sein könne. Sie übersahen ferner, daß die Macht eines Königs, welche in einem gegebenen Momente sich als die höchste darstellt, keine unabänderliche Größe ist, daß dieselbe vielmehr jederzeit einem Prozesse entweder des Wachstums oder des Absterbens unterliegt, daß sie an zahlreiche, den mannigfachsten Einflüssen unterliegende Bedingungen ge­ bunden ist, und daß zu diesen Einflüssen auch derjenige des neutralen Faktors gehört. Der Gang einer fortschreitenden Entwicklung aber führt zu einer Steigerung dieses letzteren Einflusses und zur Aus­ bildung dieses Faktors selbst auch in dieser Sphäre. Es ist das Kennzeichen des „Rechtsstaats", daß jener hier eine wirkliche Macht repräsentirt. Von dem in Deutschland, England u. s. w. gegenwärtig geltenden öffentlichen Rechte können wir dies unbedenllich behaupten, da dasselbe alle öffentlichen Gewalten mit Schranken umgiebt, welche nicht leicht übersprungen werden dürften, und den Rechten der Regierenden und Regierten grundsätzlich und nicht erfolglos die gleiche Unverletzlichkeit zusichert. Auch gehört die seit längerer Zeit bei uns hemortretende Bemühung um die vollständigere Ausbildung der Rechtspflege des öffentlichen Rechts und damit der wichtigsten Organe unseres Faktors für dieses Gebiet hierher. Der geschichtliche Fortschritt enthält demgemäß auch hier die schon öfter unterschiedenen Momente, eine Zurückdrängung von Eigenmacht

Recht und Macht.

417

und Selbsthilfe durch eine unparteiliche gerichtliche Wirksamkeit und die Minderung des Einflusses zufälliger Machtverhältnisse und bloßer Parteiinteressen auf die Begründung, Verteilung und Abgrenzung der subjeküven Rechte. Letzteres im Zusammenhange mit der Ausbildung theoretischer Systeme (die Geschichte der Rechtsphilosophie gehört in der Hauptsache hierher), in welchen der dem neutralen Rechtsstandpunkte entsprechende Maßstab für diese Begründung, Verteilung und Ab­ grenzung, im Sinne der Empfindungsweise bestimmter Zeitalter oder auch bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, immer aufs neue aufgestellt worden ist und aufgestellt wird. Ein Fortschritt der fraglichen Art liegt unter anderem in der Hervorkehrung der Pflichtseite bezüglich der Aus­ übung öffentlicher Rechte. Im allgemeinen wird heute, was nicht immer der Fall gewesm ist, hinsichtlich der Verwaltung der gemein­ samen Angelegenheiten durch die öffentlichen Funktionäre die Pflicht als das primäre, das Recht als das Sekundäre, welches sich nach jener bemißt und von der Fähigkeit und dem Willen zur Erfüllung derselben abhängig bleibt, betrachtet. Wo int Gegensatze hierzu eine Herrschaft über Andere oder irgend ein Entscheidungsrecht in öffentlichen Dingen „kraft eigenen Rechts" ausgeübt wird, da haben wir es in Wahrheit mit dem Prinzip der Macht zu thun. Denn der wesentliche Sinn jener Formel ist nicht verleugnet, wenn wir ihr die andere substituiren: „kraft eigener Macht". Und freilich, das Regieren kraft eigenen Rechts ist nirgends vollständig verdrängt. Vielmehr behauptet es sich überall, zum mindesten an der obersten Stelle im Staate, in Republiken ebenso wie in Monarchien. Das „souveräne Volk" herrscht ebenso kraft eigenen Rechts wie der Monarch, und der Wille des Ersteren ist wie der des Letzteren nur kraft einer Fiktion identisch mit dem alles Menschliche gleichmäßig umfassenden neutralen Prinzip des Rechts. Auch auf internationalem Gebiete zeigen sich jene Kräfte, wenn auch bisher, wie schon bemerkt wurde, mit dem geringsten Er­ folge, geschäftig. Auch hier geschieht es, daß gemeinsame Überzeugungen und Gewohnheiten und ein Bewußtsein gemeinsamer Interessen sich herausbilden, und daß in ihnen ein neutrales Maß, bedeutsam für die Vermeidung und die Schlichtung von Konflikten, gewonnen wird; daß unter ihrem Einflüsse das Gebiet der Selbsthilfe eine Einschränkung erfährt und das Verfahren in Rechtsstreitigkeiten eine gewisse, wenn auch beschränkte Unabhängigkeit gewinnt von den Machtmitteln, welche die Streitenden in einem gegebenen Momente für sich in Bewegung

418

Recht und Macht.

zu setzen vermögen. Für ein solches Verfahren fehlt es nicht völlig an äußeren Organen. Es gehören dahin die von Fall zu Fall durch streitende Parteien berufenen Schiedsgerichte, die Kongresse, insofern sie es unternehmen, an die Stelle kriegerischer Entscheidungen friedliche Kompromisse zu setzen u. a. Wir haben es hier freilich in der Haupt­ sache mit Improvisationen zu thun, deren Wert sich mit dem der organischen Einrichtungen des internen Rechtslebens nicht vergleichen läßt, welche aber letztlich doch in verwandten Verhältnissen und Bedürf­ nissen wurzeln und die gleiche Tendenz zum Ausdruck bringen. Nur ist, was im internen Rechtsleben primitiven Zuständen entspricht, dort, wie früher schon bemerkt wordm ist, zum Teil beharrender Natur. Ein Fortschritt über die dermalige Entwicklungsstufe hinaus ist freilich nicht schlechthin ausgeschlossen, vielmehr im Hinblick auf die fortschreitende Verflechtung der Interessen auf dem internationalen Gebiete in be­ stimmten Richtungen mit Sicherheit zu erwarten. Die Beweisgründe, welche man gegen die Möglichkeit eines solchen Fortschrittes zu verschiedener Zeit und neuerdings mit besonderem Nachdruck geltend gemacht hat, sind schon deshalb ohne Bedeutung, weil sie niemals den Thatsachen ent­ nommen wurden, welchen sie vielmehr widerstreiten, sondern stets aus willkürlich zurechtgemachten Begriffen von Recht und Staat herausge­ sponnen worden sind. Aber freilich, die Organisation des Völkerrechts wird eine fragmentarische und seine beherrschende Kraft eine beschränkte bleiben. Der Grund ist einfach. Würde diese Organisation sich voll­ enden, so würde damit das Gerüste eines neuen Staatswesens auf­ gerichtet sein, und das Völkerrecht würde sich in ein internes staatliches Recht verwandeln. Die Frage nach der Entwicklung des Völkerrechts gestaltet sich daher, sobald das Überschreiten gewisser Stufen dabei ins Auge gefaßt wird, zu der Frage, ob diese Entwicklung den Weg staat­ licher Neubildungen einschlagen werde, ob etwa anzunehmen sei, daß zunächst die Formen des Staatenbundes jenem Rechte zu einer greif­ bareren Existenz und zu gesicherterer Wirksamkeit verhelfen würden, und daß dann zu irgend einer Zeit ein Übergang zu den geschlosseneren Formen des Bundesstaates stattfinden würde. Diese Frage aber soll hier unerörtert bleiben. Gegenwärtig sind wir jedenfalls in jener Entwicklung noch weit von dem Punkte entfernt, wo sie praktisch werden könnte. Und so lange dies der Fall ist, werden wir die Konsequenzen davon gelten lassen müssen. Wo die Herrschaft des objektiven Rechts nicht entwickelt und durch ein System stabiler Einrichtungen verbürgt

Recht und Macht.

419

ist, da besteht die Herrschaft der Selbsthilfe, welche ihre eigenen Be­ dingungen hat und sich in ihren Formen und in ihrer Wirksamkeit nicht messen läßt nach einem Maßstabe, der dem entgegengesetzten System angehört. So würde es thöricht sein, angesichts jener Herrschaft der Selbsthilfe und, so lange keine Möglichkeit besteht, dieselbe durch eine von neutralen Instanzen gewährte zuverlässige Rechtshilfe zu ersetzen, den Krieg, die äußerste Form der Selbsthilfe, zu verwerfen, oder gegen das Recht des Siegers zu protestiren, seine Existenzbedingungen in den dem System der Selbsthilfe entsprechenden Formen sicherzustellen. So ist es ein bloßer Widerspmch, wenn im Ramm eines angeblich „neuen Rechts" zwar der Krieg als eine Notwendigkeit anerkannt, das Recht der Eroberung aber verworfen wird. In diesem Thatbestände im Bereiche des politischen Lebens findet das Verhalten der Staatsmänner seine Rechtfertigung. Gegensätzen gegenüber, welche keine neutrale Macht auszugleichen oder abzustumpfen imstande ist, in Kämpfe verwickelt, für deren Abschluß die gemein­ samen Interessen der Gegner keinen Maßstab darbieten oder zur Geltung zu bringen vermögen, bedienen sie sich der Waffen, von deren Führung hier die Entscheidungen abhängen, und derjenigen Werte, welche in diesem Bereiche Kurs haben. Sie setzen der Gewalt die Gewalt ent­ gegen und, um mit Friedrich dem Großen zu reden, „betrügen die Betrüger". Sie wissen das „Räuber raube, Wolf friß" ((Massimo d’Azeglio) der italienischen Patrioten, welche ein eigensüchtiges Klein­ fürstentum mit Hilfe des thatkräftigsten seiner Mitglieder zu ver­ nichten strebten, zu würdigen und machen sich keine Skrupel, wenn sie einem Rechte, das sich einer naturgemäßen Entwicklung entgegensetzt, die Macht voranstellen. Genug, von der Verwirklichung des früher bezeichneten Ideals sind wir überall hier weit entfernt, und weder Staatsmänner noch Philo­ sophen werden den Fortschritt in der Ausbildung der Herrschaft neu­ traler Mächte wesentlich zu beschleunigen vermögen. Auch in denjenigen Gebieten, in welchen diese Entwicklung am weitesten vorgeschritten ist, sind wir entfernt davon, letzte Ziele erreicht zu haben. Es besteht hier, um die Grenzen des Errungenen und Erreichbaren auf diesen Gebieten in allgemeinerer Weise zu bestimmen, ein Unterschied zwischen dem Rechte in hypothesi und dem Rechte in thcsi. Was nämlich das Erstere, also die Feststellung konkreter Rechte auf Grund der geltenden Rechtsregeln betrifft, so sind wir hier, im Zusammen-

hange mit der oben erwähnten formalen Entwicklung, unserem Ideale in der That nahe gerückt. Denn diese Feststellung erfolgt durch eine, nach menschlichem Maße beurteilt, wirklich neutrale Instanz, das un­ abhängige, nur an die Rechtsregel gebundene Gericht, ohne Rücksicht auf die Machtverhältnisse der Beteiligten, und die Regel selbst ist aufgestellt worden ohne Berücksichtigung und Kenntnis der konkreten Streitsache, erscheint daher ihr gegenüber insofern ebenfalls neutral. Die konkrete Rechtsfrage hat sich also von der konkreten Machtfrage faktisch gelöst. Aber hinsichtlich des Rechts in thesi und seiner Fest­ stellung gilt nicht das Gleiche. Wohl zeigen sich bei der Fortbildung desselben gewisse Prinzipien einflußreich, in welchen uns jener früher gekennzeichnete Geist des Rechts unmittelbar anspricht. Es ist aus solche Prinzipien bei Durchschreitung der verschiedenen Rechtsgebiete hingedeutet worden. So weit das Recht sich von ihnen beherrscht zeigt, hat es den Charakter wahrhafter Unparteilichkeit. Es scheint hier als eine Allen übergeordnete und, weil Repräsentantin des in menschlichen Dingen allgemein Gültigen und Wesentlichen, zugleich Allen nahestehende Macht sich von dem Boden gesellschaftlicher Gegen­ sätze und Konflikte völlig loszulösen, der Göttin vergleichbar, welche, unberührt von menschlicher Parteiung, die „gleichschwebende Wage" der Gerechtigkeit in festen Händen hält. Aber jene Loslösung kann für das Recht doch überall nur in einem eingeschränkten Sinne erfolgen. Dasselbe hat keine Stützpunkte, welche für jede Parteiung schlechthin unerreichbar, ganz außerhalb jener Sphäre lägen. So wenig der Wunsch des Archimedes, einen Stand­ punkt außerhalb der Welt zu erlangen, von welchem aus er diese nach seinem Willen in Bewegung zu setzen vermöchte, erfüllbar war, so wenig ist es für das Recht möglich, einen Standpunkt außerhalb der Welt einander widerstreitender Interessen und Kräfte, der es selbst an­ gehört und aus welcher es seine Kraft hat, zu gewinnen. Daher wird sich das Problem der Erlösung des Rechts aus seiner Abhängigkeit von der Macht auf dem Wege einer voranschreitenden Entwicklung stets von neuem als ein trotz aller Fortschritte endgiltig nicht gelöstes darstellen. Es weicht in höhere Regionen zurück, ohne zu ver­ schwinden. V. Wäre es möglich, ein Prinzip zu entdecken, in dessen unbedingter und aufrichtiger Anerkennung alle Parteistandpunkte der Welt zusammen-

träfen, und welches zugleich ein Maßstab für die Entscheidung aller denkbaren Streitfragen darböte, so wäre damit freilich jener gesuchte Standpunkt gefunden. Allein ein solches Prinzip existirt nicht. Die menschlichen Interessen sind nicht in der hierbei vorausgesetzten Weise harmonisch. Auch die legitimen Interessen nicht, von welchen man dies annehmen zu können gemeint hat. Die tieferen Gegensätze haben ihren Grund nicht in dem Verhältnis von gut und böse, sondern in der Komplizirtheit der menschlichen Natur und der Bedingungen menschlicher Existenz und Entwicklung und sind gleich ihr nicht zu bewältigen. Wohl giebt es Quellen des Streites, welche eine fortschreitende Entwicklung schließen kann. Hierher gehören Irrtum und Unwissen­ heit, welche Interessen als einander entgegengesetzt erscheinen lassen, die vielmehr miteinander Harmoniken. Die wachsende Aufklärung kann hier helfen. Hierher gehört ferner das Übergewicht niederer Kräfte im Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Der rohe Mensch empfindet das Fremde als feindlich und die Interessen der Anderen im allgemeinen als ihm fremd, während das höher organisirte Individuum die Inter­ essen der Anderen in gewissem Umfange als seine eigenen empfindet. Die steigende Kultur kann dahin führen, daß die edlere Empfindungs­ weise zur verbreiteteren wird. Endlich ist der natürliche Gang der Dinge, wie die Erfahrung zeigt, darauf gerichtet, die Interessen immer weiterer Kreise in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis von einander und in eine gemeinsame Abhängigkeit von identischen Bedingungen zu bringen. So durch Vermittlung der Arbeitsteilung und des Austauschs von Gütern und Ideen. Wenn etwa unter Nachbarn der Raub durch den Handelsverkehr abgelöst wird, so tritt die Prosperität auf der einen Seite in eine gewisse Abhängigkeit von derjenigen auf der Gegenseite, und der Friede wird die gemeinsame Bedingung für diese und jene. Alles dies läßt jedoch die Gegensätze überhaupt keineswegs verschwinden. Dieselben wechseln nur gleichsam den Ort, wo sie sich geltend machen, und die Formen, in welchen dies geschieht. So kann es der Fall sein, daß Gegensätze zwischen selbständigen Völkern abgelöst werdm durch Gegensätze zwischen verschiedenen Volksklassen innerhalb eines erweiterten Gemeinwesens, in welchem jene sich zu Einem Volke verbunden haben, und diese letzteren Gegensätze durch solche zwischen prinzipiellen Par­ teien. Und was diese Parteien angeht, so bringt zwar der Fortschritt der Kultur eine Verfeinerung der Formen mit sich, in welchen sie sich

422

Recht und Macht.

bekämpfen,

aber weder eine definitive Ausgleichung, noch selbst eine

Abschwächung findet

es

des prinzipiellen Gehalts

sich,

daß

Gegensätze in sich

die

ältere Kultur

schließt als

die

ihrer Gegensätze. tiefere

jüngere.

und

Vielmehr

mannigfaltigere

Vergleichen

wir

das

Stammesleben auf niederer Entwicklungsstufe mit dem Leben der mo­ dernen Kulturvölker, so tritt uns dort eine unvergleichlich viel höhere Einheit der Empfindungs- und Denkweise entgegen als hier.

Die Ent­

wicklung, welche zu höheren Formen des geistigen Lebens geführt hat, ließ zugleich Verschiedenheiten und Gegensätze zum Vorschein kommen, welche sich unter mancherlei Formwandlungen

und

allen tausendfach

erneuten Vermittlungsversuchen zum Trotz behauptet und in bestimmten Richtungen erweitert und vervielfältigt haben. Dieser Thatbestand schließt die Annahme aus, daß das Recht je­ mals gleichzeitig allen legitimen Interessen und in ihnen

wurzelnden

Empfindungs- und Denkweisen und Ansprüchen gerecht werden könne. Ebenso wenig würde es möglich sein, alle kollidirenden Interessen u. s. w. gleichmäßig zu verkürzen, da es hierfür an jedem Maßstabe fehlt. Das Recht wird daher stets Elemente einer innerlich nicht begründeten Be­ vorzugung oder Benachteiligung bestimmter Interessen, d. h. Elemente der Parteilichkeit oder Ungerechtigkeit, enthalten. Und diese Parteilich­ keit wird stets ein Ausdruck von Machtdifferenzen

sein:

jene Bevor­

zugung wird die zu einer gegebenen Zeit stärkere, diese Benachteiligung die schwächere Seite erkennen lassen. Das Recht zeigt den hervorgehobenen Thatsachen gemäß in allen seinen Teilen

einen Kompromißcharakter.

Wie jedes Kompro­

miß die Anerkennung der Legitimität des beiderseitigen Standpunktes zur Grundlage hat, so auch das Recht.

Und wie jedes Kompromiß in

dem Maße, in welchem die beiderseitigen Ansprüche darin eine Berück­ sichtigung oder Nichtberücksichtigung finden,

auf die Machtverhältnisse

zwischen den Parteien hinweist, so auch das Recht. Der Fortschritt im Bereiche der öffentlichen Zustände berührt diesen Charakter des Rechtes nicht.

Kein anderer Fortschritt könnte hier mit mehr Grund in Be­

tracht gezogen werden, als derjenige, der an die Stelle gewaltsamer Änderungen des bestehenden Rechts überall die friedliche Reform setzt. Aber jenen Zusammenhang mit den gegebenen Machtverhältnissen hebt derselbe nicht auf.

Denn er ist an die Voraussetzung gebunden, daß

es den gesellschaftlichen Mächten überall möglich sei, ihre Gewichte zu Gunsten oder Ungunsten bestimmter Reformen in die Wagschale zu

423

Recht und Macht.

werfen. An die Stelle des Krieges tritt hier der Kampf der Parteien, in welchem die Entscheidung nicht minder wie in jenem zu Gunsten der stärkeren Seite fällt. Hinter den Parteikämpfm aber lauert der Bürger­ krieg.

Ein Versuch,

mächtige Parteien dauernd jenes Einflusses zu

berauben, würde eine Provokation, ja den Beginn desselben enthalten. Im konstitutionellen Staate sind die politischen Wahlen und Abstim­ mungen gleichsam die entscheidenden Waffengänge, in welchen die Par­ teien ihre Kräfte messen.

Der Gesetzgeber aber, welcher die Ergebniffe

der Letzteren zur bindenden Norm erhebt und als solche verkündigt, ist in dieser Rolle mit dem Unparteiischen bei den militärischen Manövern zu vergleichen. Das Urteil

des Letzteren stellt fest, welche unter den Parteien

im Ernstfälle gesiegt habm würde,

und entscheidet damit über die

Richtung, in welcher sich die Streitenden zunächst zu bewegen haben, und in welcher sich die ferneren Kämpfe entwickeln müssen. Ähnliches gilt von jener Funktion des Gesetzgebers.

Derselbe erscheint hier so­

nach freilich in der Rolle des „Unparteiischen". Aber in dem Urteile desselben, so weit es den angegebenen Sinn hat, bilden Recht und Macht keinen Gegensatz, sondern fallen zusammen.

Allerdings läßt der Ver­

gleich nicht die ganze Wahrheit hervortreten.

Denn im wohlgeord­

neten Staate ist dafür gesorgt, daß der Gang der Dinge nicht aus­ schließlich und in absoluter Weise von den jeweils sich gegenüberstehen­ den Parteien und bezw. der jeweils stärkeren abhängig sei, daß vielmehr neutrale Faktoren (was im Kriege bloß zufällig ist) ihr Gewicht da­ neben, von einem außerhalb der jeweiligen Parteikämpfe liegenden Ge­ biete aus, auch geltend machen können.

Als ein solcher Faktor ist in

der konstitutionellen Monarchie u. a. das über den Parteien stehende Königtum gedacht. Aber von einer völligen Paralysirung der Partei­ gewichte kann hier nie die Rede sein, und auf die Dauer wird die Re­ form sich stets in der Richtung der mächtigeren Parteiströmungen be­ wegen. Wir sind damit zu unserem Ausgange zurückgekehrt, und es erneut sich die Frage, wie wir uns mit unserem Urteile zu diesem nun ge­ nauer bestimmten und begrenzten Thatbestände verhalten sollen.

Wenn

daS Recht jene Abhängigkeit nicht brechen kann, verdient es die Achtung, mit welcher wir seinen Anforderungen entsprechen? Wie kommt es zu dem Bunde mit der wöhnt sind?

Moral,

in

welchem

wir es zu erblicken ge­

424

Recht und Macht.

VI. Die Frage weift auf Probleme von großer Tiefe hin, an deren erschöpfende Lösung

hier

nicht

gedacht

werden

einige Gesichtspunkte bezeichnet werden, in Angriff zu nehmen sind. um

kann.

Doch

sollen

von welchen aus sie m. E.

Dabei handelt es sich zum Teile nur

die nochmalige Hervorhebung

im

Bisherigen schon enthaltener

Momente. Das Recht gehört einer Sphäre der Gegensätze und Konflikte an und entwickelt sich

aus diesen.

Seine nächste Bestimmung ist,

sich

als eine Macht über alle anderen Mächte zu erheben und das Gesetz Eines übergeordneten Willens an die Stelle eines Chaos sich gegen­ seitig

verneinender Willen

zu

setzen.

Das aber vermag es nur im

Bunde mit gegebenen Machtfaktoren, speziell mit dem Stärksten inner­ halb seines Kreises. Elementen,

Indem es hierbei in eine Abhängigkeit tritt von

die seinem Wesen

gleich in seinen Dienst. ungestraft

nicht

an sich fremd sind, zieht es diese zu­

Wo es

mehr zu

sich einmal erhoben hat, da ist es

ignoriren.

Wie mächtig Einer sein möge,

er kann seine Macht auf die Dauer nur behaupten,

wenn er sie in

jenen Dienst des Rechts stellt und sie in diesem Dienste für die Auf­ richtung

oder

Wahrung

arbeiten läßt.

einer

nicht mit Rücksicht

auf

den Ursprung

Rücksicht auf die Funktionen, an ihm

Friedensordnung in der Gemeinschaft

So huldigen ivir denn einem Herrscher in letzter Linie

bezüglich

seines

in

seiner Gewalt,

sondern mit

welchen sie sich bethätigt, tveil sich

Verhältnisses

zum

Recht

das

Wort des

Dichters erfüllt: „Wo Du herrschest, bist Du auch der Knecht." Wenn aber jene Friedensordnung sich zunächst als ein Ausdruck für gegebene Machtverhältnisse

darstellt,

welche von

ihr

nur einem

wüsten Kampfe entzogen und der Notwendigkeit, sich täglich erneuerten, zwecklosen Machtproben zu unterwerfen, Wert um

deswillen

absoluten Wert,

nicht

freilich

sie

als Friedensordnung,

hältnisse liegen mögen. stellung

verneint,

nicht

enthoben werden, so ist ihr hat ihn,

wenn

auch keinen

gleichviel wie jene Machtver­

Die Aufgabe des Rechts ist mit ihrer Her­ erschöpft.

Dieselbe erweitert sich

vielmehr in

der geschilderten Weise und in den von mir bezeichneten Richtungen, und zwar in dem Maße, als die Gmndlagm seiner Macht sich ver­ breitern

und wahrhaft allgemeine Interessen und zugleich Interessen

geistiger Art

darin

hervortreten.

In

diesem Maße

vermag

es die

Recht und Macht.

42»

Fortbildung der gegebenen Zustände im Sinne jenes neutralen Prinzips, unter Bevorzugung der Machtqualitäten gegenüber von bloßen Quantitäten zu beeinflussen, vermag es die schwächere, aber bessere Sache — besser im Sinne der genannten Jnteresien und jenes dem Rechte wesentlichen Geistes, den ich zu charakterisiren versucht habe — von sich aus zu stärken und ihr ein künstliches Übergewicht zu verleihen. In dieser Richtung sind indessen, wie gezeigt wordm ist, unüberschreitbare Schranken gezogen. Das Recht bleibt daher, an den ihm selbst innewohnenden Tendenzen gemessen, unvollkommen. Und dies sein Fernbleiben von einem nicht willkürlich aufgestellten Ziele, mit dessen Erreichen erst Recht und Gerechtigkeit zufammenfallm würden, bildet eine Quelle beständiger Unruhe, immer erneuter Anklagen und Agitationen in der Sphäre des Rechts, ein treibendes Element in seiner Geschichte, welches keinen Abschluß zuläßt, zu immer erneuten Reformen drängt, welche nur als künftige in dem Glanze vollkommener Lösungen alter Probleme strahlen, als vollzogene mehr und mehr dieses Glanzes verlustig gehen. Die Heiligkeit des Rechts ist und bleibt daher eine bloß relative und kommt überdies den verschiedenen Teilen desselben in einem ungleichen Maße zu. Aber die Gesamtbewegung der bisherigen Geschichte war einer Steigerung seines Wertes günstig, und wir dürfen das Gleiche von dem Fort­ gange derselben erwarten. Die Richtung, in welcher die Entwicklung bisher voranschritt, läßt sich derjenigen vergleichen, in welcher die alte Götterwelt, die ideale Vertretung des Rechts in der Phantasie der alten Völker, sich entwickelte. Die Götter der Vorzeit sind parteiisch, sie schützen nur ihre Lieblinge, nur diesen gegenüber ist ihr Gericht gerecht, auch hier aber wird die rohe Kraft vor allem gewogen. Sie kämpfen im Bunde mit ihren Völkern, und ihr Schicksal ist, gleich dem der Letzteren, an die Waffenentscheidung gebunden. Sie bekämpfen und verneinen sich gegenseitig und die übergeordnete Stellung des Ge­ bieters unter ihnen ist auf überlegene physische Kraft gegründet. Aber sie entwickeln sich zugleich mit ihren Völkern. Der Zeus des Aeschylus steht höher als der des Homer, der Zeus Platos höher als derjenige des Aeschylus. Aus dem Gewaltigen ist ein Heiliger Gott geworden. Und int Zusammenhange mit solcher Erhöhung versinkt die Welt der bloß nationalen Götter. Sie wird abgelöst durch ein Alle gleichmäßig umfassendes, alles Menschliche mit dem gleichen gerechten Maße messendes Regiment. Die Entwicklung des menschlichen Rechts kann

426

Recht und Macht.

hier nicht folgen, wohl bewegt sie sich in der gleichen Richtung, aber sie kann das gleiche Ziel nicht berühren. Das Alle und alles Mensch­ liche gleichmäßig umfassende Recht wird ein Ideal bleiben, das aus der Ferne glänzt, gleich einem unerreichbaren Gestirne. Wenn übrigens das Verhalten des Rechts an jenem kritischen Punkte für den ethischen Standpunkt unbefriedigend bleibt, so fehlt es doch nicht völlig an Brücken, die von dem Letzteren auch hier zu dem Standpunkte des Rechts hinüberführen. Jene Bevorzugung des Stärkeren erscheint auch für diesen ethischen Standpunkt nicht schlechthin unbegreiflich und nicht bloß durch den dargelegten Zu­ sammenhang entschuldigt. Mit Recht hat Herbart in seiner Ethik auf die Achtungsgesühle hingewiesen, welche die Bethätigung einer überlegenen Kraft unwill­ kürlich in uns hervorruft. Diese Gefühle sind nicht, wie Andere gemeint haben, der Freude am schönen Kunstwerk, sondern den moralischen Achtungsgefühlen zunächst verwandt. Es dürste nicht allzu gewagt sein, dieselben mit der Bedeutung der Kraft im Kampfe um unsere Existenz und deren beftiedigende Gestaltung, sowie für eine aufsteigende Entwicklung des individuellen und des sozialen Lebens in Beziehung zu bringen. Dem Starken kommt das Bedürfnis der Menge, in jenem Kampfe geführt und beherrscht zu werden, überall willig ent­ gegen, und höher als den Tugendhelden hebt sie den Mann von heroischer Kraft, der eine weithinreichende Wirksamkeit, sei es auch unter dem Einfluß selbstsüchtiger Absichten, geübt hat. Ihm fällt das Beiwort „der Große" zu; und diese „Großen" sind es, welche in dem Andenken der Völker sich zu Halbgöttern erheben, zu welchen sie mit einer nicht bloß ästhetischen Verehrung aufblicken. Was aber den Kampf der Völker und der Parteien betrifft, so erscheint es überdies nicht als ein bloßer Zufall, wenn die stärkere Seite sich zugleich im Sinne der Moral als die bessere ausweist. Vielmehr sind gewisse Umstände vorhanden, welche eine Bevorzugung dieser Seite zwar nicht schlechthin, aber im Zweifel auch von dem Standpunkte einer absoluten Gerechtigkeit aus als begründet erscheinen lassen. Einmal weist die größere Macht bald auf fundamentalere Interessen, für welche die größere Energie sich zu entwickeln pflegt, bald auf die Interessen einer größeren Zahl hin, Momente, welche unter dem Gesichtspunkt der verteilenden Gerechtigkeit nicht ohne Be­ deutung sind. Wo ferner eine Vielheit von Personen eine imponirende

Kraft in nachhaltiger und erfolgreicher Weise an den Tag legt, da ist im allgemeinen der Schluß auf eine lebendige Wirksamkeit auch ftezifisch moralischer Kräfte in ihrer Mitte zulässig. Nie hat ein Volk große Thaten vollbracht, ohne daß in seinen Bürgern der Geist der Hingebung, der fteiwilligen Selbstbeschränkung und Unterordnung lebte, ohne daß Begeisterung für die gemeinsame Sache, Treue und moralischer Mut unter ihnen verbreitet waren. Und was für ein Volk, das gilt in gewissen Grenzen auch für Teile eines solchen. Daher denn das, was in der Geschichte der Völker „Größe" genannt zu werden pflegt, obgleich es zunächst mit dem Umfange und der Nach­ haltigkeit der von einem Punkte ausgehenden Wirksamkeit zusammen­ hängt, doch, um mit Aristoteles zu reden, etwas von der Tugend in fich hat, d. h. also ein Moment enthält, das jene Wirksamkeit, das speziell den im Kampfe errungenen, im Kampfe behaupteten Erfolg auch einem ethischen Forum gegenüber adelt. Noch auf ein anderes, der allgemeinen Erfahrung gleich nahe liegendes Moment soll zum Schlüsse hingedeutet werden. Wie der Überschuß an moralischer Kraft in den hier in Frage stehenden Kämpfen eine Chance des Erfolges bildet, so sind diese Kämpfe selbst und die Abhängigkeit des Rechts von ihrem Ausgange von Bedeutung für die Entwicklung dieser Kraft. Eine Gerechtigkeit und ein Recht, welche dem früher bezeichneten Ideale gemäß sich in ihren Ent­ scheidungen schlechthin unabhängig machten von den Entscheidungen der Macht, würden auf die Entwicklung der moralischen Energien im Bereiche der menschlichen Gesellschaft im Großen einen verderb­ lichen Einfluß üben. Denn diese Entwicklung schreitet nur voran unter dem Einfluß einer solchen Gestaltung der Dinge, welche die Anspannung aller, also auch der moralischen Kräfte gebietet, und welche den Letzteren nicht bloß qualitativ vorzügliche, sondern auch umfassende, quantitativ ins Gewicht fallende Leistungen abfordert. So führt denn das hier der Betrachtung unterzogene, an sich unbe­ friedigende Verhalten des Rechts: seine Abhängigkeit von der erfolg­ reichen Macht an jenen höchstgelegenen Punkten dem allgemeinen Er­ gebnis nach nicht auf ein Preisgeben der besten Sache, d. h. der Sache der citieren Kräfte, ihrer Entwicklung und lebendigen Bethätigung, sondern auf eine Stärkung derselben hinaus. Nach Allem sind wir nicht in der Lage, die Berufung auf eine den geschichtlichen Machtentscheidungen innewohnende Gerechtigkeit,

428

Recht und Macht.

deren im Eingänge gedacht worden ist, als des Sinnes entbehrend im Namen der Wissenschaft zurückzuweisen. Wohl aber sehen wir uns beständig gemahnt, im Hinblick auf eine Zukunft, die uns bisher nicht das Antlitz des Friedensgottes zeigte, zu prüfen, wie es bei uns um die Bedingungen bestellt sei, von welchen vor jenem Forum das Recht abhängt. Wenig geziemend und der Lage der Dinge in unserem neuen Gemeinwesen nicht entsprechend wäre es, an die ernste Frage eine ruhmredige Wendung anzuknüpfen. Aber es ist einem Jeden gestattet, den Glauben an die Fülle und Unzerstörbarkeit der moralischen Kräfte des eigenen Volkes zu bekennen und den Kämpfen gegenüber, die desselben harren, es tröstlich zu sinden, daß dem Tapferen — das Wort in seinem antiken Sinn genommen — nicht bloß, wie das Sprichwort sagt, Fortuna gewogen ist, sondern auch die ernstere Göttin der Gerechtigkeit.