Höfe und Experten: Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.] 9783666301230, 9783525301234

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Höfe und Experten: Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.]
 9783666301230, 9783525301234

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Marian Füssel / Antje Kuhle / Michael Stolz  (Hg.)

Höfe und Experten Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit

Höfe und Experten Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit

Herausgegeben von Marian Füssel, Antje Kuhle und Michael Stolz

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Georg-August-Universität Göttingen. Mit 29 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30123-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Umschlagabbildung: Hrabanus Maurus in einem Manuskript aus Fulda 380/40. ÖNB/Wien, Cod.652, fol.1v. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen  www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Marian Füssel Höfe und Experten. Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit . . . 7 Timo Reuvekamp-Felber Experten und Expertenwissen am Fürstenhof des 12. und 13. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Gerrit Deutschländer Gelehrte Prinzenerzieher um 1500. Anforderungen, Aufgaben und Werdegänge . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Benjamin Müsegades Experten für Lehren und Latein. Gelehrte Erzieher an reichsfürstlichen Höfen um 1500 . . . . . . . . . . . 53 Jörg Bölling Zeremoniare als Experten des Papsthofes der Renaissance. Kompetenzen – Karrieremuster – Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Sabine Herrmann Ärzte am Hof von Mantua. Karrierewege, Anforderungen und Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Annette C. Cremer Vom Funktionsuntertanen zum geschätzten Antiquarius. Höfische Kompetenzfelder zwischen Hilfstätigkeit und Spezialistentum

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Leonhard Horowski Der gefährliche Duft des Schnitzelmachers. Der Hofadel von Versailles im Spannungsfeld von Expertise und sprezzatura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Anna-Victoria Bognár Der Architekt Balthasar Neumann bei Hof. Zur Beziehung von Bauexperte und Dienstherr im 18. Jahrhundert . . . . 199 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

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Höfe und Experten Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit1

Der italienische Literat und Aufklärer Vittorio Alfieri (1749–1803) stellt zu Beginn seiner zwischen 1778 und 1786 verfassten Schrift »Der Fürst und die Wissenschaften« die Frage, was die wahren Wissenschaften seien. Die Antwort fällt für das Verhältnis von Gelehrsamkeit und Hofkultur ernüchternd aus: »[…] sie sind etwas, das der Denkungsart, dem Geist, der Fähigkeit, den Beschäftigungen und Wünschen des Fürsten schnurstracks entgegen läuft; und wirklich ist nie ein Fürst ein wahrer Gelehrter gewesen, oder hat es je seyn können. Wie kann er aber eine edle Sache mit Fug beschützen und begünstigen, deren Beurteiler er nie werden kann, weil er ihrer nicht fähig ist? Und wenn er nie competenter Richter in derselben seyn kann, wie will er je ein einsichtsvoller Belohner derselben werden? – Durch das Urtheil Anderer, wird man sagen.«2

Die skeptische Sicht des italienischen Dramatikers ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich für die Beziehungen zwischen Hof- und Expertenkulturen. Im selben Atemzug, mit dem er den Fürsten jede eigene Expertise abspricht und auch ihre Förderpotentiale kritisch beurteilt, führt er durch das »Urtheil der Anderen« die Figur des beratenden Experten ein. Je stärker der Gegensatz zwischen Höfling und Gelehrtem, so scheint es, desto höher die Nachfrage nach Experten. Alfieri konstruiert einen Gegensatz von Geist und Macht, der die Rolle des Experten jedoch ablehnt. Jede Art von höfischer Patronage zwinge den Schriftsteller in eine Abhängigkeit, die hier im Geist der Aufklärung strikt verworfen wird. Mit Blick auf die Zeit vor der späten Aufklärung stellt sich jenseits dieser normativen Bewertung das Verhältnis von Hof und Wissensakteuren als ebenso produktive wie riskante Beziehung dar.

1 Der vorliegende Band basiert auf Vorträgen im Rahmen des Symposions »Experten des Hofes – Hofkultur als Expertenkultur?«, vom 11.–13. Februar 2014 veranstaltet vom DFG Graduiertenkolleg »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts« an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Für Bearbeitung und Korrekturen des Manuskripts danken die Herausgeber Anne-Lara Wulff, Miriam Ristau und Christoph Hornig. Für die kritische Lektüre der Einleitung danke ich Antje Kuhle. 2 Vittorio Alfieri, Der Fürst und die Wissenschaften. Aus dem Italienischen übersetzt von Friedrich Buchholz. Göttingen 2011, 9 f.

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Der Hof bildete in vormodernen Gesellschaften einen komplexen Machtund Wissensraum3  – ein Befund, der in der historischen Forschung erst allmählich dazu geführt hat, sich der höfischen Wissenskultur als eigenem Feld zu widmen. Noch 1979 musste Ferdinand von Ingen für die Frühe Neuzeit konstatieren, dass das Verhältnis von Hof und Gelehrsamkeit eine wissenschaftliche »terra incognita« darstelle.4 Die gegenwärtige Situation präsentiert sich gänzlich anders.5 Längst sind höfische Wunderkammern6 und barocke Schlossarchitektur7 ebenso wie Alchemisten8, Astrologen9, Astrono3 Vgl. Berthold Heinecke/Hole Rößler/Flemming Schock (Hrsg.), Residenz der Musen: das barocke Schloss als Wissensraum. Berlin 2013; Clelia Arcelli (Hrsg.), I saperi nelle corti. Knowledge at the Courts. (Micrologus, Bd. 16.) Florenz 2008; Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hrsg.), Erziehung und Bildung bei Hofe. (Residenzenforschung, Bd. 13.) Stuttgart 2002; Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Wissen für den Hof: der spätmittelalterliche Verschriftungsprozess am Beispiel Heidelberg im 15. Jahrhundert. München 1994. Zur Verräumlichung und Verortung des Wissens vgl. Christian Jacob (Hrsg.), Lieux de savoir. Bd. 1, Espaces et communautés. Paris 2007, Bd. 2, Les mains de l’intellect. Paris 2011. 4 Ferdinand von Ingen, Einleitung [zur Sektion Der Hof und die Gelehrsamkeit], in: August Buck u. a. (Hrsg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Bd. 3. Hamburg 1979, 633–635, hier 635. Ganz ähnlich schildert jedoch auch Werner Paravicini noch 2002 die Situation in der Mediävistik, vgl. Werner Paravicini, Zur Einführung: Formen, Funktionen, Inhalte von Erziehung und Wissen bei Hofe, in: Ders./Wettlaufer, Erziehung (wie Anm. 3), 11–18. 5 Vgl. etwa den Überblick über einige einflussreiche Positionen zum frühneuzeitlichen Hof bei: Rainer A. Müller, Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit. München 1995, 43–61; Michael Wintroub, Art. Court Society, in: Arne Hessenbruch (Hrsg.), Reader’s Guide to The History of Science. Chicago/London 2000, 154–157; Gerrit Walther, Fürsten, Höfe und Naturwissenschaften in der Frühen Neuzeit. Versuch einer Systematik, in: Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.), Scientia et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik. Bd. 1. Wiesbaden 2004, 143–159; Bruce T. Moran, Courts and Academies, in: Lorraine Daston/Katharine Park (Hrsg.), The Cambridge History of Science. Bd. 3, Early Modern Science. Cambridge 2006, 251–271; Marian Füssel, Gelehrte bei Hof. Akteure, Praktiken und Karrieren im Europa des 17. Jahrhunderts, in: Kirsten Baumann/Constanze Köster/Uta Kuhl (Hrsg.), Adam Olearius (1599–1671). Neugier als Methode. Petersberg 2017, 50–55. 6 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur exemplarisch: Dominik Collet, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit. Göttingen 2007; Géza von Habsburg-Lothringen, Fürstliche Kunstkammern in Europa. Stuttgart 1997; Andreas Grote (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Opladen 1994; Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben: die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993. 7 Matthias Müller, Das Schloß als Bild des Fürsten. Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reichs (1470–1618). Göttingen 2004. 8 Pamela Smith, The Business of Alchemy. Science and Culture in the Holy Roman Empire. Princeton 1994; Bruce T. Moran, The alchemical world of the German court: occult philo­ sophy and chemical medicine in the circle of Moritz of Hessen (1572–1632). Stuttgart 1991. 9 Darin Hayton, The crown and the cosmos: astrology and the politics of Maximilian I. Pittsburgh, PA 2015; Claudia Brosseder, Im Bann der Sterne: Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen. Berlin 2004.

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men10, Leibärzte11, Hofgeistliche12 und Prinzenerzieher13 fester Bestandteil moderner Hofforschung. Institutionell ist das Thema in Deutschland unter anderem von der Residenzen-Kommission, dem Wolfenbütteler Arbeitskreis für Barockforschung und einzelnen Forschungsprojekten zu »Wissenskulturen« behandelt worden.14 Bereits eine kursorische historiographische Spurensuche nach dem Zusammenhang von Hof- und Expertenkultur führt rasch zu Ergebnissen. Walter Salmen kennzeichnete 1993 den »Maitre de la danse« im Zeitalter Ludwig XIV. als »Experten« für den höfischen Tanz; Volker Bauer hat die Kameralisten 2002 als »Experten fürstlicher Betriebswirtschaft« bezeichnet; Virginie Spenlé diskutierte 2005 in einem Aufsatz den »Monarchen, seine Agenten und Experten« im Rahmen des kurfürstlich sächsischen Kunstankaufs.15 Anna Maerker hat am Beispiel eines hermaphroditischen Affen exemplarisch herausgearbeitet, wie sich im ausgehenden 18. Jahrhundert die Rolle von Experten in Museen und staatlichen Sammlungen durch die Anfrage eines fürst10 Museumslandschaft Hessen Kassel/Michael Eissenhauer (Hrsg.), Der Ptolemäus von Kassel. Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel und die Astronomie, bearb. v. Karsten Gaulke. Kassel 2007. 11 Andreas Lesser, Die albertinischen Leibärzte vor 1700 und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu Ärzten und Apothekern. Petersberg 2015; Marilyn Nicoud, Le prince et les médecins. Pensée et pratiques médicales à Milan (1402–1476). Rom 2014; Gabriele­ Wacker, Arznei und »Confect«. Medikale Kultur am Wolfenbütteler Hof im 16.  und 17.  Jahrhundert. Wiesbaden 2013; Elizabeth L. Furdell, The royal doctors 1485–1714: medical personnel at the Tudor and Stuart courts. Rochester, N. Y. 2001; Vivian Nutton (Hrsg.), Medicine at the courts of Europe, 1500–1837. London 1990; Hans-Peter Schramm (Hrsg.), Johann Georg Zimmermann – königlich großbritannischer Leibarzt (1728–1795). Wiesbaden 1998. 12 Zu den Geistlichen vgl. Matthias Meinhardt u. a. (Hrsg.), Religion, Macht, Politik: Hofgeistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit (1500–1800). Wiesbaden 2014. 13 Zum Aufstieg eines ›Erziehers‹ vgl. exemplarisch: Gotthardt Frühsorge, J. F. W. Jerusalem: Der Gelehrte als Hof-Mann, in: Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789): Beiträge zu einem Colloquium anläßlich seines 200.  Todestages. Braunschweig 1991, ­43–51. 14 Vgl. etwa aus dem Frankfurter DFG Sonderforschungsbereich 435 »Wissenskulturen und gesellschaftlicher Wandel«: Johannes Fried, In den Netzen der Wissensgesellschaft. Das Beispiel des mittelalterlichen Königs- und Fürstenhofes, in: Ders./Thomas Kailer (Hrsg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept. Berlin 2003, 141– 193; Gundula Grebner (Hrsg.), Kulturtransfer und Hofgesellschaft im Mittelalter: Wissenskultur am sizilianischen und kastilischen Hof im 13. Jahrhundert. Berlin 2008; Barbara Schlieben, Verspielte Macht: Politik und Wissen am Hof Alfons’  X. (1252–1284). Berlin 2009. 15 Walter Salmen, Kommentar, in: Wolf Frobenius u. a. (Hrsg.), Akademie und Musik Erscheinungsweisen und Wirkungen des Akademiegedankens in Kultur- und Musik­ geschichte: Institutionen, Veranstaltungen, Schriften. Festschrift für Werner Braun zum 65.  Geburtstag. Saarbrücken 1993, 85; Volker Bauer, Hofökonomie und Landesökonomie. Das Problem des Hofes im Kameralismus des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Marcus Ventzke (Hrsg.), Hofkultur und aufklärerische Reformen in Thüringen: die Bedeutung des Hofes im späten 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2002, 170–196, hier 172.

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lichen Sammlers konstituieren konnte.16 Gerhard Fouquet erkannte 2009 »Experten« für die »curiositas« bei Hof, die sich leichter als andere Akteure bei den Herrschern Gehör verschaffen konnten; ein Sammelband von Jörg Gengnagel und Gerald Schwedler aus dem Jahr 2013 über »Ritualmacher hinter den Kulissen« befasst sich mit der »Rolle von Experten in historischer Ritualpraxis« mit deutlichem Fokus auf die Höfe.17 Der Expertenbegriff scheint fest in der Erforschung höfischer Gesellschaften verankert, doch fällt dessen Verwendung mitunter unscharf aus.18 Wenn im Folgenden von höfischen Experten und Expertenkulturen bei Hof die Rede ist, so bedeutet dies nicht, die gängigeren Begriffe wie jenen des Gelehrten oder der Gelehrtenkulturen einfach durch einen neueren, zum Teil  sogar anachronistischen Terminus zu ersetzen oder gar vormoderne Gesellschaften durch wissenssoziologische Begriffskosmetik im Nachhinein zu modernisieren.19 Ziel ist vielmehr, den Blick auf bestimmte Situationen, Relationen und Dynamiken von Wissen bei Hof zu lenken und damit die spezifische soziale Rolle des Experten zu historisieren.20 Nicht alle Hofgelehrten bzw. Gelehrten bei Hof sind per se Experten.21 Als solche verstehen die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes im Folgenden »einen sozialen Rollentypus, der sich durch die Verheißung passgenauen Wissens in einer bestimmten Kommunikationssituation auszeichnet. Diese Kommunikationssituation wird erstens konstituiert durch die Erfahrung, dass Nichtwissen – ebenso wie Nichtkönnen – die Meisterung konkreter Lebensaufgaben behindert, dass es aber durch die gezielte Hinzuziehung von Trägern spezifischen Sonderwissens bzw. spe16 Anna Maerker, The tale of the hermaphrodite monkey: classification, state interests and natural historical expertise between museum and court, 1791–4, in: British Journal History of Science 39/1, 2006, 29–47. Zur materiellen Expertise vgl. Ursula Klein/Emma C. Spary (Hrsg.), Materials and expertise in early modern Europe: between market and laboratory. Chicago, 2010. 17 Gerhard Fouquet, Herr und Hof zwischen Informalität und Formalität. Zusammenfassung der Tagung, in: Reinhardt Butz/Jan Hirschbiegel (Hrsg.), Informelle Strukturen. Dresdener Gespräche  III zur Theorie des Hofes. (Vita Curialis, Bd. 2.) Berlin 2009, ­227–235, hier 232; Jörg Gengnagel/Gerald Schwedler (Hrsg.), Ritualmacher hinter den Kulissen: zur Rolle von Experten in historischer Ritualpraxis. Berlin/Münster 2013. 18 Der Band von Gengnagel/Schwedler (wie Anm. 17) beispielsweise kommt zwar bei 155 Seiten auf 89 Nennungen des Begriffs »Experte«, enthält jedoch nicht eine Fußnote zu entsprechenden Forschungen und Begrifflichkeiten. 19 Vgl. zu entsprechenden Bedenken die Überlegungen von: Herbert Jaumann/Gideon Stiening, Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2016, V–XX . 20 Zum Verständnis von vormodernen Expertenkulturen vgl. Björn Reich/Frank Rexroth/ Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (HZ , Beih. N. F. Bd. 57.) München 2012. 21 Zum Typus des Hofgelehrten vgl. Uta Lindgren, Art. Hofgelehrte, in: Werner Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bd. 2: Bilder und Begriffe, Teilb. 1: Begriffe, bearb. v. Jan Hirschbiegel/Jörg Wettlaufer. (Residenzforschung, Bd. 15/II.) Ostfildern 2005, 458–460.

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zifischer Fertigkeiten kompensiert werden kann. Sie wird zweitens getragen von der Überzeugung, dass dieses Sonderwissen auch über den aktuellen Einzelfall hinaus relevant ist, mithin etwas zur Bewältigung allgemeiner Herausforderungen, Krisen und Gefahren beiträgt. Drittens sollte man nur in dem Fall von Experten sprechen, wo deren Sonderwissen im Rahmen von sozialen Institutionen weitergegeben, mithin institutionell verstetigt wird.«22

Mit anderen Worten: Der Experte ist kein essentialistisch verstandener Wissender, sondern entsteht als soziale Rolle immer erst in actu. Nur durch seine »Anrufung« als Experte wird er als solcher subjektiviert, wie man im Anschluss an Louis Althusser formulieren könnte.23 Die institutionelle Verstetigung von Expertenkulturen ist insofern ein Wechselspiel zwischen der Appellation durch eine Institution und der gleichzeitigen Herausbildung einer spezifischen institutionellen Wissenskultur, in unserem Fall der des Hofes. Vor diesem Hintergrund tritt der Hof als dynamischer Raum der Produktion, Konsumtion und Ökonomisierung von Wissen sowohl in einer Perspektive langer Dauer als auch räumlicher Ausdehnung in den Blick. Wie wandelten sich höfische Expertenkulturen vom 12. bis zum 18. Jahrhundert? Welche Expertise war besonders begehrt? Wie und wo entstanden neue Varianten der Expertenrolle? Mit der Beantwortung entsprechender Fragen will der Band ebenso einen Beitrag zum höfischen Kontext von vormodernen Expertenkulturen leisten wie zur Präzisierung der Relation von Hof und Wissen. Wenn der Fürst sich als Feldherr, Sammler, Bibelübersetzer, Dichter, Literat oder Komponist inszenierte, konnte er selbst in der Rolle des Experten auftreten.24 Prominente Beispiele waren Kaiser Friedrich  II. mit seinem Hof als »Drehscheibe des Kulturtransfers«25, Herzog August II. (der Jüngere) von Braunschweig-Lüneburg und seine Bibliothek, die Inszenierung James I. von Schottland als Übersetzer seiner »King James Bible« oder Friedrichs  II. von Preußen

22 Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich/Frank Rexroth/ Matthias Roick, Wissen (wie Anm. 20), 12–44, hier 22. 23 Vgl. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin 1977, 144 ff. 24 Wie die Beiträge von Hermann und Cremer in diesem Band zeigen, konnte das auch für die Fürstinnen gelten. Zu den Fürsten vgl. allg. Martin Bircher, Der Gelehrte als Herrscher: der Hof in Wolfenbüttel, in: August Buck (Hrsg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Bd. 1, Vorträge. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 8.) Hamburg 1981, 105–127; Bruce T. Moran, German Prince-Practioners: Aspects in The Development of Courtly Science, Technology, and Procedures in the Renaissance, in: Technology and Culture 22, 1981, 253–274. 25 Gundula Grebner, Der ›Liber Introductorius‹ des Michael Scotus und die Aristotelesrezeption: der Hof Friedrichs  II . als Drehscheibe des Kulturtransfers, in: Mamoun Fansa/ Karen Ermete (Hrsg.), Kaiser Friedrich II . (1194–1250). Welt und Kultur des Mittelmeerraums. Oldenburg 2008, 250–257, hier 250.

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als Feldherr, Philosoph, Dichter und Flötist.26 Konfliktpotential zwischen gelehrtem Potentaten und Experten konnte bei Hof entstehen, wenn der Fürst die Wissenschaften und Künste nicht mehr nur förderte, sondern sich selbst in der Rolle des Gelehrten oder des Künstlers sah. Friedrich  II. von Preußen bildet für das 18. Jahrhundert den Höhepunkt der gelehrten Selbstinszenierung. Der Preußenkönig war nicht nur Flötenspieler und Sammler, sondern auch Dichter, Philosoph und Historiker und stellte sich mit Voltaire einen der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit zur Seite.27 Ernsthafte Kritik am ästhetischen wie gelehrten Schaffen des Souveräns zu artikulieren, war schwierig. Mindestens ebenso heikel war es, Lob zu äußern, welches im Jahrhundert der Aufklärung als ehrlich und sachorientiert gelten sollte. Manche Gelehrte bei Hof wurden als regelrechte »Hofnarren« behandelt, was tendenziell eine Artikulation von Kritik erleichtern konnte, aber auch neue Risiken barg.28 Besonders übel erging es in dieser Hinsicht dem Staatsrechtler Jacob Paul von Gundling (1673–1731), der unter Friedrichs Vater Friedrich Wilhelm I. am Berliner Hof zum Gegenstand endlosen Spotts und fortwährender Erniedrigung wurde.29 Als Zentrum kultureller Hegemonie und höfischer Patronage war der Hof ferner Anziehungspunkt für eine ganze Reihe potentieller Experten von den Ärzten und gelehrten Räten über die Hofkünstler, Musiker, Baumeister und Alchemisten bis hin zu den Hofhandwerkern.30 So hat etwa Martin Warnke 1985 den Hofkünstler als Teil  der »Vorgeschichte des modernen Künstlers« präsentiert, während Bruce  T. Moran oder Pamela Smith die Alchemie als höfische Wissenschaft erschlossen haben.31 Insbesondere der 26 Vgl. Fansa/Ermete, Friedrich II . (wie Anm. 25); Andreas Pečar, Macht der Schrift: politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reformation und Bürgerkrieg (1534–1642). München 2011; zu den fürstlichen Bibliotheken vgl. auch: Vanina Kopp, Der König und die Bücher: Sammlung, Nutzung und Funktion der königlichen Bibliothek am spätmittelalterlichen Hof in Frankreich. Ostfildern 2016; Elisabeth Tiller (Hrsg.), Bücherwelten – Raumwelten: Zirkulation von Wissen und Macht im Zeitalter des Barock. Köln/ Weimar/Wien 2014. 27 Vgl. zu den diversen Autorenrollen Friedrichs: Andreas Pečar, Die Masken des Königs. Friedrich II . von Preußen als Schriftsteller. Frankfurt a. M./New York 2016; als Überblick über Friedrich als Sammler, Architekt, Justizreformer und philosophischer Gesprächspartner vgl. Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. München 2004, 251–328. Zu Friedrich und Voltaire vgl. Jürgen von Stackelberg, Voltaire und Friedrich der Große. Hannover 2013. 28 Gerhardt Petrat, Die letzten Narren und Zwerge bei Hofe: Reflexionen zu Herrschaft und Moral in der frühen Neuzeit. Bochum 1998. 29 Martin Sabrow, Herr und Hanswurst. Das tragische Schicksal des Hofgelehrten Jacob Paul von Gundling. Stuttgart u. a. 2001. 30 Katrin Pöhnert, Hofhandwerker in Weimar und Jena (1770–1830). Ein privilegierter Stand zwischen Hof und Stadt. Jena 2014. 31 Martin Warnke, Hofkünstler: Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985; Alois Schmid, Der Hof als Mäzen. Aspekte der Kunst- und Wissenschaftspflege der Münchner Kurfürsten, in: Venanz Schubert (Hrsg.), Rationalität und Sentiment. Das Zeitalter Johann Sebastian Bachs und Georg Friedrich Händels. (Wissenschaft und Phi-

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Hof Rudolfs II. (1552–1612) in Prag bildete ein zeitgenössisches Zentrum der Alchemie.32 Die Präsenz bürgerlicher Akteure an den Höfen hat die sozialgeschichtliche Forschung seit den 1970er Jahren beschäftigt. Während ab dem Ende des 15. Jahrhunderts Formen sozialen Aufstiegs innerhalb der Prozesse von Territorialisierung und Staatsbildung zu beobachten seien, konstatierte man für das spätere 17. Jahrhundert eine Refeudalisierung der Verwaltungseliten.33 Für die Experten bei Hof eröffneten sich damit ebenso Chancen wie Risiken: Sie konnten im Extremfall den »Fall des Günstlings« erfahren oder sich zu erfolgreichen Wissensunternehmern entwickeln.34 Als eines der berühmtesten Beispiele für die Risiken der ›Fallhöhe‹ in einer höfischen Gesellschaft kann seit der Studie von Mario Biagioli wohl Galileo Galilei gelten, während für eine erfolgreiche Hofkarriere Gelehrte wie Gottfried Wilhelm Leibniz zu nennen wären.35 Die für das DFG -Graduiertenkolleg »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts« zentrale Frage der Ambivalenz von Expertenkulturen sowie ihres immer inhärenten Potentials für Scheitern und Kritik kommt in der höfischen Gesellschaft überdeutlich zum Ausdruck. Der vormoderne Hof war weder die einzige verfügbare Karriereleiter für Experten, noch stand dieser trotz seiner ausgeprägten Eigenrationalität losgelöst von der ihn umgebenden Gesellschaft und deren wissenskulturellen Distributionsmechanismen. Eine der noch weitgehend offenen Fragen ist etwa die nach dem Spannungsverhältnis von Expertise, Institutionen und Wissensmärk-

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losophie) St. Ottilien 1987, 185–268; Moran, Alchemical world (wie Anm. 8); Smith, Business of Alchemy (wie Anm. 8); Carsten Neumann, Herzog Ulrich als Förderer der Künste und Wissenschaften: Gelehrte und Künstler am Güstrower Hof, in: Schloss Güstrow: Prestige und Kunst 1556–1636. Güstrow 2006, 31–38. Peter Marshall, The magic circle of Rudolf  II . Alchemy and astrology in Renaissance­ Prague. New York 2006. Zum Expertenstatus der Räte vgl. Marian Füssel, Vormoderne Politikberatung? Gelehrte Räte zwischen Standes- und Expertenkultur, in: Eva Schlotheuber u. a. (Hrsg.), Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1510–1558). Herrschaft – Konfession – Kultur. (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 132) Hannover 2011, 222 f. Zum Wandel der Sozialstruktur vgl. Bernd Wunder, Die Sozialstruktur der Geheimratskollegien in den süddeutschen protestantischen Fürstentümern (1660–1720). Zum Verhältnis von sozialer Mobilität und Briefadel im Absolutismus, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 58, 1971, 145–219; Maximilian Lanzinner, Zur Sozialstruktur der Geheimen Ratskollegien im 17. Jahrhundert, in: Winfried Becker/Werner Chrobak (Hrsg.), Staat, Kultur, Politik. Beiträge zur Geschichte Bayerns und des Katholizismus. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dieter Albrecht. Kallmünz 1992, 71–88. Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (Hrsg.), Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. (Residenzenforschung, Bd. 17.) Ostfildern 2004. Mario Biagioli, Galilei, der Höfling: Entdeckungen und Etikette: vom Aufstieg der neuen Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1999; Eike C. Hirsch, Der berühmte Herr Leibniz: eine Biographie. München 2000.

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ten.36 In welcher Relation stand der Hof als Einkäufer auf Wissensmärkten zur gleichzeitigen höfischen Patronagelogik? Kam es in der Frühen Neuzeit zu einer strukturellen Differenzierung von Höfen und Wissensmärkten? Wenn ja, bestand ein Zusammenhang mit dem allmählichen Verlust der Position des Hofes als kulturelles Geltungszentrum und als wissenschaftliches Förderinstrument? In jedem Fall trugen die genannten Prozesse zu einer Bedeutungssteigerung von Wissen und Expertise bei und verweisen dabei gleichzeitig auf den sozialen Wandel in der Trägerschaft von Expertenkulturen. Anwesenheit, Anzahl und Qualität der Experten bei Hof wurden zu Ressourcen einer höfischen Prestigeökonomie, die im Wettstreit der Höfe untereinander eine wichtige Rolle spielte.37 Volker Bauer hat 1993 in seiner »Idealtypologie« der deutschen Höfe im 17. und 18. Jahrhundert neben dem »zeremoniellen« Hof, dem »Kaiserhof«, dem »hausväterlichen« Hof und dem »geselligen« Hof den »Musenhof« als fünften Typus herausgearbeitet und diesem im Wesentlichen eine kompensatorische Funktion zugeschrieben.38 Die Förderung »wissenschaftlich-literarischer Ziele« wurde zu einer »Ersatzhandlung« für die Ausübung tatsächlicher politischer Macht.39 Nach mehreren Jahrzehnten kulturwissenschaftlicher Wende setzte sich jedoch eine Herangehensweise durch, die entsprechende Gegenüberstellungen von ›harten‹ und ›weichen‹ Faktoren weitgehend dekonstruiert hat. Exemplarisch kommt dieser Wandel etwa im Untertitel von Tim Blannings Bestseller zur Geschichte des »Alten Europa« zwischen 1660–1789 zum Ausdruck: »Kultur der Macht und Macht der Kultur«.40 Aber gerade wenn Kultur und Wissen als Machtressourcen eigener Qualität begriffen werden, liegt es nahe, erneut über die soziale Logik des Musenhofs sowie der Musen bei Hof nachzudenken.41 Moderne Hofforschung war von Beginn an ein interdisziplinäres Projekt, das die Rolle der höfischen Ästhetik in vielfältiger Weise erforscht hat.42 Aus germanistischer Perspektive eröffnet Timo Reuvekamp-Felber den Blick auf den Fürstenhof des hohen Mittelalters als einen sich erst langsam herausbildenden 36 Zur Relation von Expertenkulturen und marktförmigen Austauschprozessen vgl. Marian Füssel/Philip Knäble/Nina Elsemann (Hrsg.), Wissen und Wirtschaft. Expertenkulturen und Wissensmärkte vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Göttingen 2017; sowie auf ›Materialien‹ bezogen: Klein/Spary, Materials (wie Anm. 16). 37 Zur Konkurrenz der Höfe vgl. Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hrsg.), Vorbild – Austausch – Konkurrenz. Höfe und Residenzen in der gegenseitigen Wahrnehmung. (Residenzforschung, Bd. 23.) Ostfildern 2010. 38 Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17.  bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993, 73–77, hier 75. 39 Ebd., 76. 40 Timothy C. W. Blanning, Das Alte Europa 1660–1789: Kultur der Macht und Macht der Kultur. Darmstadt 2006. 41 Vgl. dazu den Beitrag von Annette C. Cremer zum »hausväterlichen Musenhof« in diesem Band. 42 Im vorliegenden Band spiegelt sich das allerdings nur begrenzt wider, da einige der Vorträge aus Kunst- und Literaturwissenschaften nicht zu Beiträgen ausgearbeitet werden konnten.

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Ort der Expertenkultur. Reuvekamp-Felber zeigt, dass sich die räumliche Einbindung von Experten in den Hof im 12. und 13. Jahrhundert sehr flexibel gestaltete und die Experten noch keine feste Personengruppe mit dauerhafter Präsenz vor Ort bildeten. Damit relativiert er für das Gebiet des Reiches einige Thesen Johannes Frieds, der die mittelalterlichen Fürstenhöfe als »Knotenpunkte« sich »verdichtender Wissensnetze« und »Mittelpunkt der mittelalterlichen Wissensgesellschaft« begreifen will.43 Ähnlich relativierend fällt auch die Diagnose hinsichtlich der Präsenz einzelner Expertentypen wie des Mediziners, des Astronomen oder des Astrologen bei Hof aus. Drei »Formen von Expertenwissen« macht Reuvekamp-Felber hingegen aus, die sich steigender Nachfrage erfreuten: das Verwaltungs- und Herrschaftswissen, das mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen und das praktisch-handwerkliche Wissen, welches die Praktiken der Jagd einschloss. Ganz im Sinne der hier angestrebten Historisierung von Expertenkulturen warnt Reuvekamp-Felber zu Recht davor, aus den höfischen Verhältnissen späterer Jahrhunderte auf »Kontinuitätslinien« ins 12. und 13. Jahrhundert zu schließen. Expertise, verstanden als spezifische, praktizierte soziale Rolle von Wissensträgern, war in der höfischen Gesellschaft auf mehreren Ebenen von Bedeutung. Der Hof, seine Spielregeln, Interaktionsformen und die europaweite Vernetzung der höfischen Gesellschaft rückten auch die Angehörigen des Adels selbst zunehmend in die Rolle von Experten für die Praktiken ihrer eigenen Lebenswelt, was u. a. in der Prinzenerziehung, der Kavalierstour oder Bildungsinstitutionen wie den Ritterakademien seinen Ausdruck fand.44 Dieser Tatsache tragen vor allem die Beiträge von Benjamin Müsegades, Gerrit Deutschländer und Jörg Bölling Rechnung.45 Benjamin Müsegades schildert den Weg der Präzeptoren an die reichsfürstlichen Höfe um 1500 und betont deren Abhängigkeit von Empfehlungen und Patronage. In der Inszenierung ihres Sonderwissens am Hof betonten die Erzieher vor allem die praktische Relevanz der von ihnen vermittelten Fertigkeiten. Ihre Stellung in der höfischen Gesellschaft blieb jedoch meist hinter ihren eigenen Erwartungen zurück und erwies sich vielfach als prekär. Die Beziehung zu ihren Schülern baute auf einer asymmetrischen Verteilung von Wissen und 43 Fried, Wissensgesellschaft (wie Anm. 14), 192–193. 44 Vgl. Paravicini/Wettlaufer, Erziehung (wie Anm.  3); zu den Ritterakademien vgl. immer noch: Norbert Conrads, Ritterakademien der frühen Neuzeit: Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1982; zur Grand Tour vgl. Rainer Babel (Hrsg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Ostfildern 2005; Mathis Leibetseder, Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2004; Antje Stannek, Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2001. 45 Gerrit Deutschländer, Dienen lernen, um zu herrschen. Höfische Erziehung im aus­ gehenden Mittelalter (1450–1550). Berlin 2012; Benjamin Müsegades, Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichen Reich. (Mittelalter-Forschung, Bd.  47.) Ostfildern 2014.

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Macht auf: Während die Fürsten der Vermittlung von Wissen bedurften, waren sie trotz ihres jungen Alters in der sozialen Hierarchie stets überlegen, was eine fortwährende Quelle von Konflikten darstellen konnte. Dass sich diese Beziehungen jedoch auch nachhaltig positiv gestalten konnten, arbeitet Gerrit Deutschländer heraus. Deutschländer argumentiert, dass die Prinzenerzieher an deutschen Höfen um 1500 zwar »Experten am Hof«, aber keine Experten für die spezifischen, höfischen Interaktionsregeln und kulturellen Gepflogenheiten gewesen seien. Die Anstellung als Prinzenerzieher bot sich vor allem für junge, graduierte Akademiker an, die diese Position als Berufseinstieg für eine Karriere in der Kirche oder der Universität nutzten. Ihr Kompetenzprofil war wesentlich auf gute lateinische Sprachkenntnisse zugeschnitten, wobei die tatsächlichen Tätigkeiten auch umfangreiche »Schreib- und Übersetzungsarbeiten« umfassen konnten. Die Erzieher stehen dabei exemplarisch für die in mehreren Beiträgen dieses Bandes herausgearbeitete Tendenz zu einer flexiblen Verteilung der Aufgaben höfischer Experten, wodurch noch einmal der situative Zuschreibungscharakter von Expertise unterstrichen wird. Jörg Bölling zeigt am Beispiel des Papsthofes der Renaissance, wie die päpstlichen Zeremonienmeister die Rolle von Experten ausfüllten. Ihr Rang differierte je nach geistlicher oder weltlicher Sphäre, Kurie oder Hof, beträchtlich. Während der Zeremoniar in der päpstlichen Kapelle eine dienende Funktion auf der untersten Rangstufe ausübte, konnte er auf der weltlich-höfischen Seite des Papsthofes seinen ihm beispielsweise als Bischof zustehenden Rang beanspruchen. Diese funktionale Differenzierung erlaubt der Kirche, ihren »Primat über den Hof« performativ herzustellen und institutionell zu verfestigen. Aber auch das Wissen um die eigene Geschichte und deren Inszenierung wurde zu einer wichtigen adeligen Prestigeressource.46 So zeigt Bölling, wie die Experten für das Zeremoniell dieses in Handschriften und Drucken nicht nur repräsentierten, sondern zuallererst erschufen. Expertenkritik kam dabei selten von außen, sondern meist von den nachfolgenden Zeremoniaren, welche die Arbeit ihrer Kollegen monierten. Einen weiteren italienischen Hof und eine klassische Gruppe von Experten nimmt Sabine Herrmann mit den Ärzten am Hof von Mantua im 15. und 16. Jahrhundert in den Blick. Herrmann zeigt einerseits, dass die Anforderungen – etwa mit der Rolle als Hofastrologe – weit über medizinische Expertise im modernen Sinne hinausgingen, und andererseits, wie die Karrierewege der Ärzte sich zunehmend auf solche Akteure verengten, die im eigenen Territorium sozialisiert und vernetzt waren. Die in Mantua residierenden Gonzaga engagierten sich neben ihrer architektonischen Gestaltungstätigkeit auch als eifrige Sammler, die eine bedeutende Wunderkammer unterhielten. 46 Markus Völkel/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Historiographie an europäischen Höfen (16.–18. Jahrhundert): Studien zum Hof als Produktionsort von Geschichtsschreibung und historischer Repräsentation. (ZHF, Beih. 43.) Berlin 2009; vgl. auch den Beitrag von Leonhard Horowski in diesem Band.

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Wie der Beitrag von Annette C. Cremer zeigt, konnten wiederum den Fürsten und Fürstinnen in der Rolle der Hausväter und Hausmütter ganz grundsätzliche Kompetenzen für eine erfolgreiche Bewirtschaftung der Hofökonomie zugeschrieben werden. Diese Metaexpertise wurde nicht nur konzeptionell zu einer paradoxen kognitiven Überforderung, sondern auch ganz praktisch, da das nötige Erfahrungswissen fehlte oder, falls vorhanden, zumindest nicht alle Bereiche von der Architektur bis zur Ziegenhaltung abdecken konnte. Anhand des Arnstädter Hofes legt Cremer dar, wie die normativen Ideale der Hausväterliteratur in der Praxis umgesetzt beziehungsweise angeeignet wurden. Als eine Art fürstliches »Arbeitspaar«, wie Cremer in Anlehnung an Heide Wunder formuliert, spezialisierte sich Graf Anton Günther II. auf die Numismatik und das Münzsammeln, während seine Gemahlin Auguste Dorothea das Konstruieren von Puppen und Puppenstuben zu ihrem Metier erklärte.47 Dass die Präsenz von Experten bei Hof und die Herausbildung von Expertise unter den Adeligen nie frei von Gegensätzen waren, machen schon die Untertitel einiger Beiträge in diesem Band deutlich. So diskutiert Cremer höfische Kompetenzfelder zwischen »Hilfstätigkeit und Spezialistentum«, während Leonhard Horowski den Adel zwischen »Expertise und sprezzatura« verortet.­ Horowoski untersucht die fortwährenden Statuskonflikte zwischen noblesse de d'épée und noblesse de robe im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts und differenziert gleichzeitig unterschiedliche Qualitäten von Expertise bei Hof. Genauer in den Blick genommen werden der Habitus und die Repräsentationsstrategien der Amtsträger des »ranghöchsten Expertenamts«, der surintendance des bâtiments, einerseits, und die Inhaber zweier niederer Funktionen, der introducteurs des ambassadeurs und der Hofgenealogen, andererseits. Anhand der Porträts der Leiter der Bauverwaltung kann Horowski zeigen, wie das Selbstverständnis der Amtsinhaber symbolisch zum Ausdruck gebracht wurde. Von einem einheitlichen Amtshabitus konnte jedoch keine Rede sein. Das Amt ließ sich offenbar mit beliebigen Standespositionen besetzen und stellt insoweit eine gewisse Anomalie dar. Doch auch um die Expertise im Amt der Genealogen und der Verantwortlichen für das Zeremoniell war es zeitweise wenig besser bestellt. So ergibt sich der ernüchternde Befund, dass wirkliche Kompetenz für das jeweilige Hofamt eher einen Karrierestillstand bedeutete und die Zirkulation der Ämter innerhalb wie zwischen den Familien vorrangig Status- und nicht Wissenskriterien folgte. Am Beispiel Balthasar Neumanns als Bauexperte im Dienste der Fürstbischöfe der Familie Schönborn veranschaulicht Anna-Victoria Bognár, wie schwierig sich die Zurechnung von Expertise gestalten konnte. Im Bereich der Architektur schrieben sich Fürsten und Äbte gern selbst die intellektuelle Expertise zu und betrachteten die Architekten eher als die Ausführenden ihrer Entwürfe, ungeachtet deren wesentlich höherer Anteile an der Arbeit. Auch hier 47 Heide Wunder, »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der frühen Neuzeit. München 1992.

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erweisen sich Porträts als wertvolle Quelle zur Rekonstruktion von epistemischen wie sozialen Geltungsansprüchen. Anders als in der französischen surintendance des bâtiments kann Bognár für das Alte Reich trotz aller Spannungen zwischen den Architekten und ihren fürstlichen Dienstherren eine allmähliche Professionalisierung des Architektenberufes bei Hof ausmachen. Fachliche Inkompetenz konnte in der höfischen Gesellschaft ebenso zu einem Problem werden wie ein Zuviel an Wissen oder dessen ostentative Zurschaustellung; Fragen der kommunikativen Etikette konnten genauso ein Hindernis darstellen wie eine vermeintlich falsche Herkunft oder Verwandtschaftsverhältnisse. Die adeligen Träger höfischer Wissenskulturen verachteten den Pedanten, intellektuelle Kompetenz sollte natürlich wirken und durfte vor allem eines nicht: langweilen. Die höfische Kultur hatte damit auch Auswirkungen auf die zeitgenössische Gelehrtenkultur insgesamt, deren Akteure zum Teil  auch jenseits des Hofes mit höfischen Verhaltensidealen ihre soziale wie epistemische Geltung zu stabilisieren suchten.48 Mit einem Begriff der Wissenssoziologin Michaela Pfadenhauer kann man formulieren: Was der höfische Experte vor allem brauchte, war nicht nur Kompetenz, sondern die angemessene »Kompetenzdarstellungskompetenz«.49

48 Vgl. Manfred Beetz, Der anständige Gelehrte, in: Sebastian Neumeister/Conrad Wiedemann (Hrsg.), Res publica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Bd. 1. Wiesbaden 1987, 153–173; Daniel Fulda, Von der Polyhistorie zur modernen Wissenschaft. Zum politisch-galanten Gelehrtenideal der Frühaufklärung, in: Ulrich J. Schneider (Hrsg.), Kulturen des Wissens im 18.  Jahrhundert. Berlin/New York 2008, 281–288. 49 Vgl. Michaela Pfadenhauer, Professionalität. Eine wissenssoziologische Rekonstruktion institutionalisierter Kompetenzdarstellungskompetenz. Opladen 2005.

Timo Reuvekamp-Felber

Experten und Expertenwissen am Fürstenhof des 12. und 13. Jahrhunderts

Johannes Fried stellte 2003 in einem weit ausgreifenden und viele Einzelbeobachtungen synthetisierenden Beitrag fest, dass der mittelalterliche Königs- und Fürstenhof ab dem 12. Jahrhundert der Knotenpunkt einer sich vernetzenden Wissensgesellschaft gewesen sei: »Der Hof stand im Brennpunkt einer Gesellschaft, die auf Wissen in jeglicher Gestalt ausgerichtet war. Er vereinte Repräsentanten verschiedener sozialer Gruppen, deren Status und Prestige durch ihr Wissen bedingt waren, nicht allein durch die soziale Herkunft: Repräsentanten des fürstlichen Gefolges, des Klerus, der Kapellane und gelehrten Theologen, Beichtväter und Almoseniers. Dazu traten seit dem 12.  Jahrhundert Juristen, Ärzte, Astrologen und andere Spezialisten, Protagonisten der Verwissenschaftlichung, weiterhin Übersetzer, fremde Gesandte, Spezialisten der ›Artes mechanicae‹, Falkner, Jäger, Pferdezüchter, Händler. Sie waren mitunter weit gereist und trugen ihr fremdes Wissen mit sich.«1

Und weiter stellt Fried einige rhetorische Fragen, welche die Kernthese seines Beitrags profilieren: »Haben wir diese Höfe […] als eine Ursache, vielleicht gar als entscheidende Grundbedingung abendländischer Wissenschaftskultur und weltverändernder Gelehrsamkeit zu würdigen? Als Schubkraft intellektueller Modernisierung, der sich die Höfe durch Rückkopplung selbst so ausgesetzt sahen wie die Reiche, deren Mitte sie bildeten? Haben wir sie als Verteilungszentren einer hochgradig vernetzten und sich immer stärker vernetzenden Wissensgesellschaft zu sehen?«2

Fried greift auf heterogenes Quellenmaterial und etablierte Forschungsergebnisse zurück, um die Ausnahmestellung der früh- und hochmittelalterlichen Höfe bei der Konstituierung einer mittelalterlichen Expertenkultur zu plausi­ bilisieren. Während die Geschichtswissenschaft und die anderen mediävistischen Fächer mit ihr den wissensgeschichtlichen Fortschritt vornehmlich an den Hohen Schulen, auch in Klöstern und Bischofskirchen, vor allem aber an den Universitäten verankern, will Fried das Leitungszentrum einer mittelalter1 Johannes Fried, In den Netzen der Wissensgesellschaft. Das Beispiel des mittelalterlichen Königs- und Fürstenhofes, in: Ders./Thomas Kailer (Hrsg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept. Berlin 2003, 141–193, hier 165. 2 Ebd., 145 f.

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Timo Reuvekamp-Felber

lichen Wissensgesellschaft im Fürstenhof erkennen, der entscheidender Bezugspunkt für die Absolventen der Bildungsinstitutionen gewesen sei und als Motor einer Entwicklung zur modernen Wissens- und Informationsgesellschaft gedient habe. Dieses Bild vom Hof als Wissenszentrum entwirft er in einer räumlichen Dimension anhand vieler historiographischer Einzelinformationen über Fürsten-, aber vor allem Königshöfe in Spanien, Italien, Sizilien, Frankreich und England sowie anhand von Selbstbeschreibungen und Dedikationen in hoforientiertem Schrifttum. In zeitlicher Dimension markieren die Höfe Karls des Großen und des Stauferkaisers Friedrich  II. im Entwurf Frieds dabei Anfangs- und Höhepunkt dieses Weges in die Moderne. Und in der Tat überzeugt ja diese neue Meistererzählung durch ihre scheinbare Schlüssigkeit. Schließlich legen die spärlichen Quellen dem Historiker doch nahe, den Karlshof als eine Institution wahrzunehmen, an der sich die Träger literater Bildung sowie praktischen Könnens einander begegnen und austauschen konnten, und sich theoretisches Wissen, das durch die vermehrte Aneignung antiken Schrifttums zur Verfügung stand, mit praktischem Wissen vereinen konnte.3 Und es ist wohl richtig, dass der staufische Hof Friedrichs II. eine wissensattraktive und -distributive Funktion hatte, dass er auswärtige Experten und lateinisches, griechisches, arabisches und jüdisches Wissen anzog.4 Und weiter mag es auch zutreffen, dass sich im Umkreis des sizilisch-normannischen Hofes eine auf aristotelischen Grundlagen fußende methodische Neuausrichtung der Wissensproduktion ihren Weg bahnte, in der das Buchwissen von Autoritäten an Erfahrung, Empirie und in Grenzen auch am analytischen Experiment gemessen wurde, ganz im Sinne der programmatischen Forderung im Prooemium von Friedrichs Falkenbuch, »die Dinge, die sind, so wie sie sind« (»ea quae sunt sicut sunt«) in den Blick zu nehmen.5 Vielleicht lässt sich auch noch behaupten, dass es sich am angelsächsischen bzw. englischen oder auch französischen Hof nicht grundsätzlich anders verhielt, da auch dort heraus­ragende, weitgereiste und polyglotte Gelehrte zusammenkamen und bedeutende Texte der Wissenschaft ebenso wie am kaiserlichen Hof entstanden. Allerdings kann nun aber keine Rede davon sein, dass der Hof F ­ riedrichs  II. – wie Fried meint  – den allgemeinen Typus Fürstenhof repräsentiert. Für die deutschen weltlichen Fürstenhöfe des 12. und 13. Jahrhunderts liegen die Verhältnisse nämlich sehr anders. Über die Einbindung von Experten und Ex3 Zuletzt im Essayband zur Aachener Karls-Ausstellung: Frank Pohle (Hrsg.), Karl der Große. Orte der Macht. Essays. Dresden 2014. Die Beiträge von: Johannes Fried, Ars in aula. Kultur und Wissenschaft unter Karl dem Großen, 276–285; Rosamond McKitterick, Bildung und Bücher am Hof Karls des Großen, 286–295; Dietrich Lohrmann, Textwissenschaft am Karlshof, 296–305; Walter Oberschelp, Der Karlshof als Zentrum der Naturwissenschaften, 306–315. 4 Wolfgang Stürner, Friedrich II . Teil 2, Der Kaiser 1220–1250. Darmstadt 2000, 342–457. 5 Friderici Romanorum Imperatoris Secundi De arte venandi cum avibus, hrsg. v. Carolus A. Willemsen. 2 Bde. Leipzig 1942, 1, 2, 19–21. Vgl. auch: Stürner, Friedrich II . (wie Anm. 4), 447.

Experten am Fürstenhof des 12. und 13. Jahrhunderts

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pertenwissen an diesen Höfen möchte ich im Folgenden handeln, wobei die vornehmlich auf Analogiesetzung mit dem friderizianischen Kaiserhof gründenden Spekulationen Frieds zur überragenden Bedeutung der Fürstenhöfe für die Ausbildung von modernen wissenschaftlichen Standards und neuzeitlicher Staatlichkeit an den zur Verfügung stehenden Quellen gemessen werden sollen. Die Quellenlage zur Erforschung des deutschsprachigen Fürstenhofes im 12. Jahrhundert ist bekanntermaßen ausgesprochen schlecht. Viele für die Dokumentation der Einbindung von Experten am spätmittelalterlichen Hof wesentliche Quellentypen kennt das Hochmittelalter noch nicht oder diese liegen in unzureichender Überlieferungsdichte vor. Wir besitzen keine Dienerbriefe oder Dienerbücher, außerhalb von redigierten und kompilierten Briefsammlungen nur ausgesprochen wenige Originalbriefe, kaum Reise- und Gesandtschaftsberichte, keine umfassenden Hofordnungen, keine Verzeichnisse des Hofpersonals und nur sehr vereinzelt Rechnungen.6 Historiographische Texte aus dem 12. und 13. Jahrhundert geben uns nur äußerst punktuelle Einblicke in das Zusammenleben bei Hof. Fachtexten und literarischen Texten, die einen Fürsten als Mäzen benennen oder diesem dediziert sind, lässt sich nicht zweifelsfrei entnehmen, ob sie am Hof oder auch nur im Umkreis des Hofes entstanden sind. Es ist ein ausgesprochen schwieriges, meist unmögliches Unterfangen, bestimmte Handschriften, zumal Gebrauchshandschriften, mit einem Fürstenhof in Verbindung zu bringen, um das dort verfügbare Wissen rekonstruieren zu können.7 Angesichts dieser unsicheren Quellensituation ist man neben den weit gestreuten und auf Einzelnachrichten in Chroniken basierenden Belegen auf prosopographische Untersuchungen angewiesen, um sich ein Bild von der personellen Einbindung von Experten an den Fürstenhof machen zu können. Diese prosopographischen Untersuchungen sind aber ausgesprochen prekär, weil man sehr schnell auf unüberwindbar scheinende Grenzen stößt, da die Quellen, in aller Regel Zeugenlisten von Urkunden, nur ein unzureichendes Bild von der Entourage des Herrschers vermitteln. Und zwar wegen sowohl quantitativer als auch qualitativer Mängel dieses Quellentyps. Aufgrund der geringen Zahl an Anlässen für eine Urkundenausstellung besitzen wir nämlich oft für einen mehrmonatigen Zeitraum keine urkundliche Nachricht von der Zusammensetzung des Fürstenhofes und der Tätigkeiten seiner Mitglieder.8 Selbst einem 6 Vgl. die Artikel zu den unterschiedlichen Quellentypen bei: Werner Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bd. 3: Hof und Schrift, bearb. v. Jan Hirschbiegel/Jörg Wettlaufer. (Residenzenforschung, Bd. 15/III .) Ostfildern 2007. 7 Timo Reuvekamp-Felber, Art. Höfische Dichtung, in: Paravicini, Höfe und Residenzen (wie Anm. 6), 106–118, hier 112–115. 8 Karl-Heinz Spieß, Königshof und Fürstenhof. Der Adel und die Mainzer Erzbischöfe im 12. Jahrhundert, in: Ernst D. Hehl/Hubertus Seibert/Franz Staab (Hrsg.), Deus qui mutat tempora. Menschen und Institutionen im Wandel des Mittelalters. Festschrift für Alfons Becker zum 65. Geburtstag. Sigmaringen 1987, 203–234, hier 207–210.

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Timo Reuvekamp-Felber

prominenten geistlichen Fürsten um 1200 wie Wolfger von Erla können wir nur 44 ausgestellte Urkunden in 13  Jahren bischöflicher Herrschaft nachweisen, was bedeuten würde, dass im Durchschnitt alle vier Monate eine Urkunde ausgestellt worden ist.9 Von Heinrich dem Löwen sind in etwas mehr als 50 Jahren 103 Urkunden, Briefe und Mandate überliefert, was einem Jahresmittel von nicht einmal zwei Schriftstücken entspricht.10 Ab Mitte des 13.  Jahrhunderts haben wir zwar eine deutliche Zunahme des Urkundenausstoßes an den Höfen weltlicher Fürsten zu konstatieren (bei den Babenbergern sind es ca. 25 Urkunden pro Jahr),11 doch bleibt auch jetzt die Quelle Zeugenliste prekär. Zum einen taucht nicht jeder Hofangehörige in den Listen als Zeuge auf, worauf die häufig begegnende Wendung »et alii quamplures« am Ende der Zeugenliste hinweist. Karl-Heinz Spieß hat dies etwa am Beispiel des Mainzer Hoffestes Friedrich Barbarossas zeigen können, wo nur sehr wenige der prominenten Teilnehmer als Zeugen in den dort ausgestellten Urkunden firmieren.12 Zum anderen wird oftmals nicht deutlich, ob die aufgelisteten Rechtszeugen sich überhaupt am Hof aufgehalten haben, denn nicht immer wird das Rechtsgeschäft, sondern häufig die Urkundenausstellung bezeugt. Wir können also nicht mit Sicherheit zwischen Handlungs- und Beurkundungszeugen unterscheiden. Da zwischen der performativen Rechtshandlung am Hof und der schriftlichen Beurkundung der Notare sogar Jahre liegen und beide Rechtsakte an ganz verschiedenen Orten stattfinden können, ergeben sich im Einzelfall erhebliche Probleme bei der Zuordnung von Zeugennachweisen, sodass man sich stets vor Augen halten muss, dass die Untersuchungen zur Hofklientel aufgrund der Zeugennachweise leicht ein völlig falsches Bild von der Wirklichkeit zeichnen können.13 Dennoch gibt es kaum eine Alternative zu den Zeugenlisten, wenn man das Gefolge des 9 Thomas Frenz, Urkunden und Kanzlei Bischof Wolfgers in seiner Passauer Zeit, in: Egon Boshof/Fritz Peter Knapp (Hrsg.), Wolfger von Erla. Bischof von Passau (1191–1204) und Patriarch von Aquileja (1204–1218) als Kirchenfürst und Literaturmäzen. (Germanische Bibliothek: Reihe 3, Untersuchungen, N. F. Bd. 20.) Heidelberg 1994, 107–137, hier 130. 10 Joachim Ehlers, Der Hof Heinrichs des Löwen, in: Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. (Wolfenbütteler Mittelalter-­ Studien, Bd. 7.) Wiesbaden 1995, 43–59, hier 45. 11 Heide Dienst, Bemerkungen zur spätbabenbergischen und ottokarischen Kanzlei in Österreich und Steier (1198–1278), in: Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter. Referate zum VI .  Internationalen Kongreß für Diplomatik, München 1983. 2  Bde. (Münchener Beiträge zu Mediävistik und Renaissance-Forschung, Bd. 35.) München 1984, 273–295, hier 277. 12 Karl-Heinz Spieß, Der Hof Kaiser Barbarossas und die politische Landschaft am Mittelrhein. Methodische Überlegungen zur Untersuchung der Hofpräsenz im Hochmittelalter, in: Peter Moraw (Hrsg.), Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, Bd. 48.) Stuttgart 2002, 49–76, hier 52. 13 Zudem zeigen die Zeugenlisten die aufgeführten Personen auch nur in juristischen Zusammenhängen. Zu welchem Zweck sie sich am Hof aufhielten, lässt sich diesem­ Quellentyp nicht entnehmen. Ob ein Experte sein Wissen dem Hof zur Verfügung stellte,

Experten am Fürstenhof des 12. und 13. Jahrhunderts

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Fürsten rekonstruieren möchte. So hat die auf das 12. und 13. Jahrhundert gerichtete Hofforschung die aus den Zeugenlisten von Urkunden ermittelten Präsenzzahlen zum maßgeblichen Beurteilungskriterium für die Beziehung einer Person zum Hof erhoben.14 Am Hof Barbarossas sowie an den großen Höfen der Mainzer und Kölner Erzbischöfe tritt der Großteil der Zeugen nur ein- oder zweimal in Erscheinung, »ein geringerer Kreis erreicht Werte von bis zu fünf Aufenthalten, während nur eine kleine Spitzengruppe intensivere Hof­kontakte aufweist«.15 Im quellengestützten Ergebnis heißt das, dass der Königshof im 12.  Jahrhundert aus einem engen personellen Kern bestand, der sich zusammensetzte aus den Mitgliedern von Hofkanzlei und Hofkapelle sowie einem kleinen Kreis von Geistlichen, Adeligen und Ministerialen. Auf den Zügen des Königs durch das Reich traten zu diesem Kern Personen der jeweiligen Region hinzu, die den König aber wieder verließen, wenn er weiterzog.16 Nun vermutet ein Großteil der historischen Forschung zwar, dass dies an den übrigen geistlichen und auch weltlichen Fürstenhöfen des 12. Jahrhunderts etwas anders gewesen sein könnte: Aufgrund des geringeren Aktionsradius gäbe es eventuell eine weitaus größere personelle Stabilität und damit zusammenhängend die Ausbildung von festen Hofstrukturen, Behörden und Residenzen.17 Allerdings ist die Vorstellung, es habe eine feste Personengruppe geistlicher Verwaltungsbeamter und wissenschaftlicher, juristischer, medizinischer oder literarischer Experten am Fürstenhof gegeben, von den Quellen nicht wirklich gedeckt. Fachleute jedweder Art sind bis zum Ende des 13. Jahrhunderts anscheinend keineswegs örtlich an den Hof gebunden. Schriftliterarisch Gebildete leben zum Beispiel nicht permanent am Hof, sondern sind zusätzlich in kirchliche Institutionen eingebunden (Kloster, Dom-, Regular- oder Kollegiatstifte).18 Die Einbindung dieser Experten an den Fürstenhof gestaltet sich außerordentlich flexibel. Sie können ihren weltlichen Herrn einige Wochen oder Monate begleiten, eine diplomatische Reise für ihn unternehmen oder nur einmal im Jahr erscheinen: Nach diesen kürzeren oder längeren Abschnitten kommt in seinem Zeugenstatus nicht zum Ausdruck. Als Zeuge könnte er auch aufgrund seiner herausragenden ständischen Position oder seiner Prominenz im gelehrten Umfeld des Fürsten fungieren, ohne dass er seine Kompetenzen am Hof selbst eingebracht hätte. 14 Spieß, Hof Kaiser Barbarossas (wie Anm. 12), 50–52. 15 Ebd., 53. 16 Ebd. 17 Ebd., 69. 18 Timo Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts. (Kölner Germanistische Studien, N. F. Bd. 4.) Köln/Weimar/Wien 2003, 42–62. Für Frankreich gilt Ähnliches. So haben weltliche Herren im 12. Jahrhundert zahlreiche Kanonikerstifte gegründet, um ein Reservoir an gebildeten Geistlichen für den Dienst in Verwaltung, Seelsorge, Gerichtswesen usw. zur Verfügung zu haben. Vgl. Georges Duby, The Culture of the Knightly Class. Audience and Patronage, in: Robert L. Benson/Giles Constable (Hrsg.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, Cambridge, MASS 1982, 248–262, hier 255 f.

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am Hof kehren die Experten aber in die Lebensgemeinschaft ihrer geistlichen Institution zurück.19 Dass wir gar bei den Experten, die schriftliche Auftragsarbeiten für einen Hof verrichteten, nicht immer persönliche Anwesenheit oder auch nur persönliche Beziehungen zum Fürsten voraussetzen können, mögen zwei kurze Beispiele belegen:20 Dem Passauer Bischof Wolfger von Erla ist ein »Ordo iudicarius« gewidmet, der an ausgesuchten Einzelfällen detailliert das Prozessverfahren in Hexametern erläutert. Autor der kunstvollen Darstellung des Gerichtswesens ist Eilbert von Bremen, der nur in einer einzigen Quelle Erwähnung findet: in einer Urkunde, die auf den 1. April 1189 datiert und von Erzbischof Hartwig II. von Bremen ausgestellt ist. Am Hof oder im Umkreis Wolfgers von Erla ist Eilbert nicht nachzuweisen, weder als Zeuge in den Urkunden noch in den bischöflichen Reiserechnungen.21 In welchem Verhältnis der Autor Eilbert zum Fürsten stand, ob es überhaupt eine persönliche Beziehung gegeben hat oder die Dedikation nicht eher aus der Bekanntschaft der beiden Erzbischöfe herrührt, ist nicht zu rekonstruieren. Der »Ordo iudicarius« dürfte aber, nach den verfügbaren Quellen zu urteilen, kaum am Hof Wolfgers von Erla entstanden sein. Expertenwissen für den Hof oder auch sein Umfeld kann folglich einem Beziehungsnetzwerk des Fürsten entspringen. Ein zweites Beispiel aus der volkssprachigen Literatur: In seinem Alexanderroman, der im Wesentlichen auf der lateinischen »Alexandreis« des Walther von Châtillon beruht, entwirft Ulrich von Etzenbach gegen Ende des 13. Jahrhunderts ein Gönner-Autor-Verhältnis, das durch räumliche Dissoziation charakterisiert ist. Laut Selbstaussage kam der Kontakt zwischen dem Auftraggeber des Werkes, Erzbischof Friedrich II. von Salzburg, und dem wohl in Böhmen im Umkreis König Wenzels II. lebenden literarischen Experten durch eine briefliche Bitte des Erzbischofs zustande: »er gesach mich nie noch ich in, der mir daz êrste urhap dis buoches und dirre rede gap […]. von Walben der edel vrîe, der fürstlich hielt sînen hof, von Salzeburc der erzbischof schreip mir dise rede her.«22 19 Vgl. für den Bereich welfischer Fürstenherrschaft: Arno Weinmann, Braunschweig als landesherrliche Residenz im Mittelalter. (Braunschweigisches Jahrbuch, Beih. Bd. 7.) Braunschweig 1991. 20 Die Beispiele sind entnommen aus: Reuvekamp-Felber, Volkssprache (wie Anm. 18), 7–9. 21 Winfried Stelzer, Eilbert von Bremen. Ein sächsischer Kanonist im Umkreis Bischof Wolfgers von Passau, in: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 27, 1976, 60–69. 22 Ulrich von Etzenbach, Alexander, hrsg. v. Wendelin Toischer. (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 183.) Tübingen 1888, V. 27602 ff. Übersetzung: »Er hat mich noch nie gesehen und ich ihn, der mir die erste Grundlage dieses Buches und dieser Erzählung vermittelt hat […]. Der Edelfreie von Walben, der über eine fürstliche Hofhaltung verfügte, schickte mir die Erzählung [also wahrscheinlich die lateinische Vorlage] her.«

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An diesen beiden Beispielen zeigt sich, dass wir beim Verhältnis zwischen Fürst und schriftgebildeten Experten mit Beziehungen zu tun haben können, die nicht auf den Hof als Ort der Produktion von Wissen fixiert sind. Die fürstlichen Reisehöfe scheinen als Produktionsort von schriftliterarischem Wissen sogar weniger geeignet zu sein als geistliche Institutionen im Umkreis der Herrschaft. Hausklöster, Domkollegiate und Stifte verfügen nämlich sowohl über die nötige Ortsfestigkeit als auch über die nötigen Ressourcen in Form von Skriptorien, Schreib- und Beschreibstoffen. Allerdings verfügen wir über keine Quellen, die mit Sicherheit aufschließen könnten, wo das hofbezogene Schrifttum eigentlich entsteht. Eine Ausnahme scheint Gottfried von­ Viterbo darzustellen, der im Epilog seiner 1185 vollendeten »Memoria Saeculorum« ein Selbstbild von sich als am Hof schreibender Autor entwirft, der in dessen Rast- und Ruhelosigkeit seine literarischen Ambitionen hätte entfalten müssen: »Mein geduldiges Bemühen und die Großartigkeit der behandelten Gegenstände und der Umfang des Werks mögen umso mehr Beachtung finden, als ich dies geschrieben habe in den Winkeln des kaiserlichen Palastes oder unterwegs zu Pferd, unter einem Baum oder tief im Wald, wie die Zeit es erlaubte, bei der Belagerung von Burgen, in den Gefahren von mancherlei Kämpfen. Nicht in der Einsamkeit oder im Kloster oder sonst an einem Ort der Stille habe ich dies verfasst, sondern ständig in großer Unruhe und im Wirrwarr der Geschehnisse, im Krieg und unter kriegerischen Verhältnissen, im Lärm eines so großen Hofes, wo ich täglich zur Stelle sein musste, als Kaplan, bei Tag und Nacht, zur Messe und zu allen Tagesstunden, bei der Tafel, bei Verhandlungen, beim Anfertigen von Briefen, bei der täglichen Bestellung neuer Unterkünfte, bei der Sorge um den Lebensunterhalt für mich und die Meinen, bei der Durchführung sehr bedeutender Gesandtschaften, zweimal nach Sizilien, dreimal in die Provence, einmal nach Spanien, mehrfach nach Frankreich, vierzig Mal aus Deutschland nach Rom und zurück, in jeglicher Anstrengung und Unruhe ständig mehr gefordert, als einer meiner Altersgenossen am Kaiserhof es ertragen hätte. Je umfangreicher und schwerwiegender dies alles ist, umso wundersamer ist es, dass ich in solchem Trubel, in solchem Rausch, in so großem Lärm und solcher Unruhe dies Werk habe schaffen können.« »Attendant magis humanos labores meos et rerum magnitudinem operisque prolixitatem, cum ego in angulis palatii imperialis, aut in via equitando sub aliqua arborum aut in silva aliqua absconsus ad horam ista scripserim, in obsidionibus castrorum, in periculo preliorum multorum, non in heremo vel in claustro aut aliquo quietis loco positus hec dictaverim, set in omni motu et rerum turbatione assidue, et in guerra et in rebus bellicis, in strepitu tante curie, ubi me oportebat cotidie esse assiduum, utpote capellanum, die ac nocte, in missa, in omnibus horis diei, in mensa, in causis agitandis, in epistolis conficiendis, in cotidiana cura novorum hospitiorum, in stipendiis conquirendis mihi meisque, in maximis legationibus peragendis, bis in ­Siciliam, ter in Provintiam, semel in Yspaniam, sepe in Franciam, 40 vicibus Romam de Alemania, et in omni labore et sollicitudine assidue magis, quam aliquis meus ­coetaneus in imperiali curia pertulisset. Que omnia quanto plura et graviora sunt,

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tanto mirabilius est, quod ego in tanto motu, in tanta crapula, tanto strepitu et sollicitudine ista potui operari.«23

Joachim Bumke hat in dieser Selbstaussage Gottfrieds »ein gutes Bild von den spezifischen Bedingungen der literarischen Produktion an den großen Höfen« erkennen wollen.24 Doch können solche scheinbar autobiographischen Aussagen hochmittelalterlicher Autoren nicht einfach als Wiedergabe historischer Fakten verstanden werden, sondern müssen zuerst einmal vor einem möglichen Wirklichkeitsbezug auf ihre Idealisierungen und Interessen, rhetorischen Schemata und Diskursabhängigkeiten hin befragt werden. Und so haben wir es in diesem Ausschnitt mit einer originellen captatio benevolentiae zu tun, die sich an Beschreibungsmustern solcher hofkritischer Schriften orientiert, die den Hof als Ort der Ruhe- und Rastlosigkeit charakterisieren, was die Tätigkeit eines Literaten eigentlich verunmögliche.25 Folgerichtig schließt die Selbstaussage Gottfrieds mit einer Devotionsformel: Die »Memoria Saeculorum« sei unter Umständen entstanden, die der Abfassung eines weltgeschichtlichen Werkes gänzlich abträglich seien. Doch gerade mit dieser eigentlich dem Schreiben abträglichen Situation legitimiert der Historiograph sich als Experte. Die »Memoria« wird als lebendige Erinnerung der weltgeschichtlichen Taten der Staufer Konrad und Friedrich konzeptualisiert: Gottfried stellt sich als politischer Experte dar, der weiß, wovon er schreibt, weil er nicht nur über Buchgelehrsamkeit verfügt, sondern auch die Welt und ihre Ereignisse gesehen hat, ja weil er die Weltgeschichte im Auftrag der Herrscher realiter mitgeschrieben hat. In dieser Stilisierung als welt- und politikerfahrener Gelehrter sowie Augenzeuge liegt die Legitimität Gottfrieds, über die Geschichte des 12. Jahrhunderts zu schreiben. Und dennoch erfahren wir vielleicht aus dieser Stilisierung zwecks Schreiblegitimation etwas über die tatsächlichen Produktionsorte schriftliterarischen Wissens. Aber dann nur ex negativo: Gottfried habe »non in heremo vel in claustro aut aliquo quietis loco positus hec dictaverim«.26 Hier könnte die übliche Schreibsituation des literarischen Experten aufscheinen: in der klöster-

23 Gottfried von Viterbo, Memoria saecolorum, in: MGH SS 22, 105. Die Übersetzung folgt: Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde. (dtv, Bd. 4442.) München 1986, 641. 24 Ebd. 25 So schreibt Walter Map, dass der Hof sich nicht als Schreibort für den Dichter eigne: »Quiete mentis est et ad unum simul collecte poetari. Totam uolunt et tutam cum assiduitate residenciam poete.« (Übersetzung: »Dichten muss man mit ruhigem und gesammelten Geist. Was die Poeten brauchen, ist eine permanente und sichere Bleibe.«), Walter Map, De nugis curialium, hrsg. u. ü. v. M. R. James. (Oxford Medieval Texts.) Oxford 1994, 24. Übersetzung nach: Peter Johanek, Kultur und Bildung im Umkreis Friedrich Barbarossas, in: Alfred Haverkamp (Hrsg.), Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers. (Vorträge und Forschungen, Bd. 40.) Sigmaringen 1992, 651–677, hier 664. 26 Von Viterbo, Memoria saecolorum (wie Anm. 23), 105.

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lichen Abgeschiedenheit bzw. in Orten abseits der Reisehöfe fänden sie beste Voraussetzungen für ihre Tätigkeit. Nicht als Distributionszentren und Knotenpunkte einer vernetzten Wissensgesellschaft lassen sich die deutschsprachigen weltlichen Fürstenhöfe des 12. und 13. Jahrhunderts verstehen, wie Fried es tut, sondern als deren partizipierende Endverbraucher. Die Höfe entfalten Dynamiken weniger in der Produk­ tion als vielmehr in der Assimilation von schriftbasiertem Wissen. Dies zeigt sich einerseits in der Verrechtlichung sowie zunehmend schriftlichen Verwaltung der Herrschaftspraxis, andererseits in literarischen oder auch in theologisches, naturkundliches, juristisches, medizinisches und historisches Wissen explizierenden Texten, die von Mitgliedern der höfischen Gesellschaft rezipiert werden. Die mediale Funktion im Gebrauch der Schrift lag dabei in der Infor­mation, Kommunikation und Gedächtnissicherung.27 Vorbild für den zunehmenden Rückgriff auf Expertenwissen in der Herrschaftspraxis mag die päpstliche Kurie gewesen sein, die sich seit der Mitte des 11.  Jahrhunderts durch Heerscharen geschulter Fachkräfte und spezifische Verhaltensregeln, Geschäftsgänge, Gerichts- und Taxordnungen, als ein Hort für juristisches, politisches und notarielles Spezialistenwissen etabliert hatte. »Mit dem Kardinalskollegium und der päpstlichen Kurie entstanden Funktionseliten und Verwaltungsinstanzen, die künftig normsetzend für Zentralisierungs- und Verrechtlichungsprozesse in ganz Europa sein sollten.«28 Jedoch sind Vorstellungen fester behördlicher Instanzen an den weltlichen deutschen Fürstenhöfen von den Quellen nicht gedeckt. Die gelegentliche Erwähnung von Schreibern und Notaren in der Umgebung von Fürsten und Grafen weist bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts nicht unbedingt auf die Existenz von Kanzleien im Sinne einer geregelten Behörde hin. Ab der zweiten Hälfte des 13.  Jahrhunderts ist dann zwar ein signifikanter Anstieg der Urkundenproduktion an den Fürsten­höfen festzustellen, d. h., das Verhältnis von Ausstellerausfertigungen am Hof und Empfängerausfertigungen in Kirchen und Klöstern verschiebt sich zugunsten der Höfe. Dennoch spricht ein durchschnittlicher Ausstoß von zwei bis drei Urkunden pro Monat, wie er sich uns durch die Überlieferung darstellt, nicht für einen bedeutenden Professionalisierungsschub oder gar einen Vorgriff auf Arbeitsteilung im Sinne moderner Staatlichkeit.29 Während die Urkundenausstellung und der Briefverkehr uns in den Quellen nur in einem geringen Umfang entgegentreten, lassen sich tastende Vorformen komplexerer Verwaltungsabläufe am weltlichen Fürstenhof im 13. Jahrhundert in der Genese und Ausbreitung von Amtsbüchern fassen, die für die Herausbil27 Kurt Andermann, Art. Pragmatische Schriftlichkeit, in: Paravicini, Höfe und Residenzen (wie Anm. 6), 37–60, hier 37. 28 Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich/Ders./Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (HZ , Beih. N. F. Bd. 57.) München 2012, 12–44, hier 27. 29 Reuvekamp-Felber, Volkssprache (wie Anm. 18), 50.

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dung neuer, schriftgestützter Herrschaftsstrukturen signifikant sind. Die Vorreiterrolle kam dabei nicht von ungefähr den geistlichen Herrschaften zu, denen der Umgang mit Büchern seit Langem vertraut war und für die es nur einen kleinen Schritt bedeutete, sich der Vorzüge der Buchform auch bei der Besitzsicherung und der Güterverwaltung zu bedienen. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erlebte das Amtsbuchwesen aber auch einen bedeutenden Aufschwung im Umkreis weltlicher Territorialfürsten.30 Als Verwaltungsschriftgut begegnen zunehmend Urbare, Register und Rechnungen. Die älteste Erscheinungsform des Amtsbuchs ist das Urbar, das herrschaftliche Besitz-, Zins- und auch Rechtsansprüche verzeichnet. Seit dem 9. Jahrhundert ist es vereinzelt für geistliche Grundherrschaften nachzuweisen, seit dem ausgehenden 12.  Jahrhundert auch für weltliche (»Codex Falkensteinensis«, um 1180). Die frühesten bekannten Exemplare weltlicher Provenienz stammen aus dem süd- und südostdeutschen Raum. Ein babenbergisches Urbar lässt sich bereits für das späte 12.  Jahrhundert erschließen, das älteste bayerische Herzogsurbar datiert von 1231/34.31 Allerdings ist nicht zu rekonstruieren, wer für die Entstehung dieser frühen Urbare verantwortlich ist. Ein Nachweis, dass Kanzleibeamte an der Ausführung beteiligt waren, lässt sich nicht erbringen. Register hingegen erwachsen aus der Kanzleitätigkeit. Dort werden vornehmlich auslaufende Urkunden eingetragen. In der Grafschaft Tirol gibt es sie nachweislich bereits seit der Mitte des 13. Jahrhunderts als persönliches Hilfsmittel einzelner Notare.32 Zuweilen finden sich auch nur regestenartige Auszüge wie bei Rheingraf Wolfram (1210/20). Schließlich gibt es noch einige wenige Rechnungen in der Herrschaft Bolanden (1258/62), in Tirol (Raitbücher seit 1280), in Geldern 1294/95 und Bayern 1291 (die ältesten sind die Hof- und Reiserechnungen Bischofs Wolfger von Passau, 1203/04). Aber in nahezu all diesen Fällen lässt sich noch keine Verwaltungsroutine konstatieren: Man kann vermuten, dass die ältesten landesherrlichen Rechnungen wie andere Formen des frühen Verwaltungsschriftgutes okkasionell entstanden und sich erst allmählich das Bewusstsein durchsetzte, dass man sich mit schriftlich fixierten Abrechnungen die Verwaltung erleichterte.33 Das wäre dann aber erst im 14. Jahrhundert der Fall. Die gelehrten Mediziner, seit dem 12. Jahrhundert physicus, im späten Mittelalter auch pucharzt genannt, fanden ein wichtiges Betätigungsfeld an den Höfen. Zwar haben wir Nachrichten von physici bei den Welfen, den Habsburgern, an erzbischöflichen und bischöflichen Höfen, doch bleibt zu konstatieren, dass wir nichts Genaues über deren Aufenthaltsdauer an den Höfen und ihre Verweildauer in ihren geistlichen Institutionen wissen. Bis weit in das 14. Jahrhundert sind nämlich die Ärzte im Fürstendienst vielfach Geistliche gewe30 31 32 33

Andermann, Art. Pragmatische Schriftlichkeit (wie Anm. 27), 40. Ebd., 40 f. Ebd., 41. Mark Mersiowsky, Art. Rechnungen, in: Paravicini, Höfe und Residenzen (wie Anm. 6), 531–552, hier 532.

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sen, die mit Pfründen wie Pfarreien oder Stiftskanonikaten versorgt wurden, wahrscheinlich dort auch entsprechende Residenzpflicht hatten.34 Zudem sind den für uns in den Quellen greifbaren Ärzten sehr häufig auch andere Funktionen übertragen worden, so beispielsweise dem am Babenberger Hof des frühen 13. Jahrhunderts tätigen Magister Heinrich, der zugleich als Protonotar in den Zeugenlisten bezeichnet wird.35 Immerhin weist die niederbayrische Hofordnung von 1294 einen Arzt als festes Mitglied des herzoglichen Hofes aus, der mit drei Pfründen versorgt werden sollte. Ob sich in dieser idealtypischen Hofordnung Realität abbildet, ist ungewiss, doch scheint es aus fürstlicher Sicht zumindest wünschenswert, einen medizinischen Experten permanent um sich zu haben.36 Ebenfalls ausgesprochen wenige Zeugnisse weisen auf Astrologen oder Astro­ nomen am Fürstenhof des 12. und 13. Jahrhunderts hin. Erst seit dem späten 11.  Jahrhundert entwickelt sich mit dem erneuten Aufschwung des Bildungswesens eine profundere Kenntnis der Astrologie in Westeuropa: Vor allem durch die Vermittlung der arabischen Welt, die seit dem 10. Jahrhundert in Spanien ein geistiges Zentrum findet, gelangen neben zahlreichen anderen Werken der griechischen Antike auch die »Tetrabiblos« und der »Almagest« des Ptolemaios nach Europa. Dies markiert den Beginn der mittelalterlichen Astro­ nomie.37 Neben der Schule von Toledo ist Sizilien mit Friedrich  II. und dessen astrologiekundigem Berater Michael Scotus (ca.  1175 bis ca.  1235) eine wichtige Drehscheibe bei der Verbreitung griechischen und arabischen Wissens. Wohl als kaiserliche Auftragsarbeit entsteht Scotus’ »Liber introductorius« (ca. 1230/35), ein enzyklopädisches Kompendium mittelalterlicher Astrologie.38 Auf dieses wird am Hof von Palermo nachweislich auch in der Praxis zurückgegriffen, etwa bei der Wahl von geeigneten Terminen für politische Verhandlungen oder Auseinandersetzungen.39 Aber wie schon bei den geistlichen Verwaltungs­ experten am Fürstenhof sind auch die Aufenthaltsphasen der mathematisch-natur­w issenschaftlichen Experten am Kaiserhof nicht wirklich zu eruieren. Wie lange sich der Mathematiker, Astronom und Astrologe M ­ ichael Scotus in den Jahren zwischen 1227 und 1235 am Stauferhof aufhielt, ist unbe34 Reuvekamp-Felber, Volkssprache (wie Anm. 18), 73 f. 35 Michael Mitterauer, Magister Heinricus phisicus. Protonotar Herzog Leopolds  VI ., in: Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg, N. F. 3, 1963, 49–61. 36 Ludwig Schnurrer, Urkundenwesen, Kanzlei und Regierungssystem der Herzöge von Niederbayern 1255–1340. (Münchener Historische Studien. Abteilung geschichtliche Hilfswissenschaften, Bd. 8.) Kallmünz 1972, 236. Die niederbayerische Hofordnung von 1293 ist abgedruckt im Landshuter Urkundenbuch, bearb. v. Theo Herzog. (Bibliothek Familiengeschichtlicher Quellen, Bd. 13.) Neustadt a. d. Aisch 1963, Nr. 157. 37 Uta Lindgren, Art. Astronomie, in: Werner Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bd.  2: Bilder und Begriffe, Teilb. 1: Begriffe, bearb. v. Jan Hirschbiegel/Jörg Wettlaufer. Bd. 1. (Residenzenforschung, Bd. 15/II .) Ostfildern 2005, 230–233, hier 230. 38 Stürner, Friedrich II . (wie Anm. 4), 411–416. 39 Ebd., 409–411.

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kannt; neuere Biographen sprechen nur noch davon, dass er im Umkreis Friedrichs II. tätig gewesen sei, aber möglicherweise gar nicht über einen längeren Zeitraum am Hof verweilte.40 Der Mathematiker Leonardo Fibonacci (1170/80 bis nach 1240) aus Pisa, der die Methoden des schriftlichen Rechnens in Europa einführte, war dem Kaiser zwar bei dessen Besuch in Pisa vorgestellt worden, ansonsten pflegte er aber wohl eher mit anderen Hofgelehrten Kontakt als mit Friedrich selbst.41 Wie weit verbreitet war nun aber astronomisches oder astrologisches Wissen an den deutschen Fürstenhöfen? Lässt sich die Behauptung Frieds verifizieren, dass deutsche Könige und Fürsten »zu den ersten Bestellern der eben aus der arabischen Welt zu ihnen vordringenden Horoskope gehörten? Nach astrologischen Empfehlungen richteten sie nun ihre Hofhaltungen, ihr Planen und Handeln, das eheliche Beilager so gut wie die Kriege ein.«42 Kein Hof sei mehr ab dem 13. Jahrhundert ohne Hofastrologen, Sternengucker und Mathematiker, professionelle Wissensträger allesamt, ausgekommen. Doch die historischen Quellen schweigen einmal mehr, wenn es darum geht, für deutsche Fürstenhöfe einen positiven Nachweis führen zu wollen, dass dort astronomische Studien gefördert oder in Erwartung eines praktischen Nutzens auf astrologische Zukunftsvorhersagen (etwa durch die Heranziehung von Horoskopen) zurückgegriffen worden sei. Das einzige mir bekannte Zeugnis findet sich in den »Annales Stadenses« und einer Kopenhagener Handschrift aus dem 13. Jahrhundert. Beide berichten übereinstimmend, dass 1164 nach der Niederkunft der Kaiserin Beatrix, der Ehefrau Friedrich Barbarossas, in Pavia ein Philipp von Genua die Gestirnskonstellation in der Geburtsstunde des kleinen Friedrich berechnet habe.43 Gegen Ende des 13. Jahrhunderts finden wir dann auch den ersten Astrologen in Begleitung eines deutschen Fürsten. Ein in der Quelle (»Cronica S. Petri Erfordensis«) nicht beim Namen genannter Markgraf von Brandenburg suchte König Rudolf von Habsburg 1290 in Erfurt in Begleitung eines Astrologen (»quidam astrologus«) auf.44 Ansonsten besitzen wir noch einige indirekte Zeugnisse für die Prominenz astrologischen Wissens im deutschen Adel, in denen Gelehrte, zum Beispiel Berthold von Regensburg, ihre massiven Vorbehalte gegenüber der Verlässlichkeit von Voraussagen über zukünftige Ereignisse

40 Silke Ackermann, Sternstunden am Kaiserhof. Michael Scotus und sein ›Buch von den Bildern und Zeichen des Himmels‹. Frankfurt a. M. u. a. 2009, 13–53; Folker Reichert, Geographisches Wissen in der Umgebung Friedrich  II ., in: Gundula Grebner/Johannes Fried (Hrsg.), Kulturtransfer und Hofgesellschaft im Mittelalter. Wissenskultur am sizilianischen und kastilischen Hof im 13. Jahrhundert. Berlin 2008, 131–143, hier 131. 41 Stürner, Friedrich II . (wie Anm. 4), 385–388. 42 Fried, In den Netzen der Wissensgesellschaft (wie Anm. 1), 155. 43 Annales Stadensis, in: Georg H. Pertz (Hrsg.), MGH Scriptores 16. Hannover 1859 (Nachdruck: Stuttgart/New York 1963), 271–379, hier 329. 44 Cronica S. Petri Erfordensis moderna, hrsg. v. Oswald Holder-Egger. (MGH SS rer. Germ. 42) Hannover/Leipzig 1899, 298, 16.

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zum Ausdruck bringen, da diese im Gegensatz zur menschlichen Willensfreiheit und zur christlichen Vorstellung stünden, dass es allein Gott vorbehalten sei, in die Zukunft zu schauen. Mit ihrer Kritik standen die deutschen Gelehrten nicht allein: Die divinatorische Astrologie wurde überall im westlichen Europa problematisiert. In seinem »Policraticus« kritisiert zum Beispiel Johannes von­ Salisbury, dass bei den Höflingen seiner Zeit Traumdeutungen und astrologische Vorhersagen äußerst beliebt seien.45 Nicht nur die kritischen Bemerkungen in Predigtliteratur und Fürstenspiegel zeigen eine gewisse Verbreitung divinatorischer Methoden in der adeligen Gesellschaft an, sondern auch die Literatur entwirft fiktionale Textwelten, in denen Traumdeutungen und Zukunftsvorhersagen am Hof ihren Stellenwert haben.46 Dabei können die Experten und Sinnvermittler auf diesem Gebiet wie auch bei medizinischem, juristischem, theologischem, naturkundlichem oder historischem Wissen sowohl Laien, insbesondere Frauen, als auch gelehrte Geistliche sein. Während zum Beispiel im »Nibelungenlied« Kriemhilds Mutter ihrer Tochter den unheilvollen Traum, in dem zwei Adler einen Falken zerreißen, verlässlich und zutreffend für die weitere Handlung ausdeutet,47 ist die divinatorische Traumdeutung im zwischen 1220 und 1230 entstandenen »ProsaLancelot« zu einem Spezialwissen geschulter Experten transformiert: König Artus träumt in diesem Roman, dass ihm erst die Haare aus-, dann die Finger und Zehen abfallen. Beunruhigt wegen des Albtraums geht er zu seinem Kaplan, um sich den Traum auslegen zu lassen, erhält aber eine Absage: »man sol sich an treum nit keren« (I, 604, 17 f.).48 Der König will sich mit dieser Antwort nicht abfinden und befiehlt seinen Bischöfen, mit den »wißsten pfaffen die sie funden« (I, S. 604, 30) nach Camelot zu kommen. Diese sind schließlich – anders als der Kaplan – in der Lage und willens, den Traum zu deuten. Auch hier fungiert der Hof nicht als Knotenpunkt einer vernetzten mittelalterlichen Wissensgesellschaft, sondern als deren Nutzanwender, indem er auf das Wissen zurückgreift, das abseits des Hofes in gelehrten Zirkeln erworben wurde. Diese Einbestellung auswärtiger Experten an den Königshof wiederholt sich im Ro-

45 Barbara Helbling-Gloor, Natur und Aberglaube im ›Policraticus‹ des Johannes von Salisbury. (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 1.) Zürich 1956, 94–106. 46 Zu anderen Formen der Gelehrtheit in literarischen Texten vgl. Klaus Ridder, Weisheit, Wissen und Gelehrtheit im höfischen Roman, in: Frank Rexroth (Hrsg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, Bd. 73.) Ostfildern 2010, 15–46. 47 Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B, hrsg. v. Ursula Schulze. (Reclams-Universalbibliothek, Bd. 18914.) Stuttgart 2011, Str. 11 f. 48 Zitiert wird nach der Ausgabe: Lancelot und Ginover I. Prosalancelot I. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hrsg. v. Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übers., komm. u. hrsg. v. Hans-Hugo Steinhoff. (Bibliothek des Mittelalters, Bd. 14.) (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 123.) Frankfurt a. M. 1995.

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man, als auch der Tafelritter Galahot von grässlichen Albträumen gequält wird. Nicht der König, sondern die Bischöfe des Reiches sind es, die mit den Trägern des divinatorischen Wissens vertraut sind und Vermittlungsdienste leisten können: »Uns saget die hystori das der konig Artus nach den wißesten pfaffen sant die er in sim lande wüst, nach der bischoff worte und der erczbischoff, die im sagten das meist das sie von astronomie kunden. Der meister waren zehen, und der konig sant sie alle zehen Galahot und enbote im das er alles des wol gleubte das sie im seiten, und vor yn allen so solt er meister Helien glauben von Tolete, der was alte und kund vil von nigromancie.«49

Besagter Helies von Toledo verweist gegenüber Galahot auf den Expertenstatus der ausgewählten zehn Astronomen, die die einzigen Menschen seien, denen ein begrenzter Blick in die Zukunft möglich sei: »Ich hoffen des, on got mag uch des ymant beriechten der in ertrich lebt, so sol es uch ein meister astronomice beriechten den wir alhie mit uns hant«.50 Die aus verschiedensten Gegenden Europas stammenden astrologischen Experten (Italien, Spanien und Bulgarien werden explizit genannt) studieren neun Tage jeder für sich in seinem Zimmer die Bücher und sehen – so heißt es im Text – die Zukunft in undeut49 Lancelot und Ginover II . Prosalancelot II . Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hrsg. v. Kluge, Handschrift (wie Anm. 48), II, 54, 11–18. Bemerkenswert ist, dass sowohl in den lateinischen historischen Zeugnissen als auch in der volkssprachigen Literatur immer wieder übereinstimmend Toledo als europäisches Zentrum der Astrologie und Schwarzen Magie benannt wird. Die Eroberung Toledos durch die kastilische Reconquista im Jahr 1085, wo anschließend ein Erzbischof zu amtieren begann, ließ im 12. Jahrhundert arabisches, jüdisches und mozarabisches Wissen ins lateinische Abendland strömen. Die Stadt mit ihren schulischen Institutionen entwickelte sich rasch zu einem von weither aufgesuchten Übersetzungs- und Forschungszentrum. Dort ausgebildete Astrologen (z. B. der im Umkreis Friedrich  II . wirkende Michael Scotus) werden in lateinischen Schriften gelehrter Zeitgenossen, die dem astrologischen Expertenwissen kritisch gegenüberstanden, als Schwarzmagier diskreditiert. Dasselbe widerfährt Figuren dieses Wissensprofils in literarischen Texten, wobei diese in den fiktionalen Textwelten ihre Ausbildung auch an anderen Orten der arabisch-byzantinischen Welt wie Babylon oder Konstantinopel erhalten können. Dies gilt z. B. im Roman ›Partonopier und Meliur‹ Konrads von Würzburg aus der Mitte des 13. Jahrhunderts für die byzantinische Prinzessin Meliur, die schriftgelehrte Schwarzmagierin ist und ihre Ausbildung in Konstantinopel erhalten hat. Meliur selbst sagt von sich, eine zusammengehörige Ausbildung in Negromancie und Astronomie erhalten zu haben: »[D]en zirkel der planêten / erkande ich unde ir umbesweif. / nigrômancîen ich begreif« (Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hrsg. v. Karl Bartsch. (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters) Berlin 1970 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1871), V. 8094–96. Übersetzung: »Ich studierte die Umlaufbahn der Planeten und ihre Abweichung. Den Weg der Schwarzen Magie schlug ich ein.«). 50 Lancelot und Ginover  II . (wie Anm. 49), 56, 4–6. Übersetzung: »Ich glaube, falls euch überhaupt ein Sterblicher und nicht nur Gott selbst über eure Zukunft Auskunft geben kann, dass es nur ein Meister der Astrologie können wird, der hier unter uns ist.«

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lichen Konturen. Nur der Schwarzmagier Helies kann Galahot exakt den Zeitpunkt seines Todes voraussagen mithilfe eines Buches, dessen Zaubersprüche die Ordnung der Natur aufzuheben vermögen und für alle Menschen außer Helies außer­ordentlich gefährlich sind. Die Argumente für und wider die Traumdeutung, die im »Prosa-Lancelot« anschließend zwischen Galahot und Lancelot ausgetauscht werden, entsprechen wohl den Diskussionen in der sozialen Praxis zwischen Skeptikern und Befürworten der Traumdeutung: »›Herre‹, sprach Lancelot, ›treum sint dick vil (sehr oft) falsch, und ein man mit hohem herczen […] der sol treum nit achten. Frauwen sollen daran glauben und lüt (Leute) von kranckem herczen […]‹. ›Nein‹, sprach Galahot, ›also freischlich treum (schreckliche Träume) dütend (bedeuten) ettwas […]«. ›So mir got helff, herre‹, sprach Lancelot, ›ich wen nit das uwer hercz so wise icht si oder keins mannes, das im sage was im gescheen sol.‹«51

Die Invektiven gegen die divinatorische Astrologie und die ambivalente Haltung gegenüber den Trägern von astronomischem, astrologischem, magischem und naturkundlich-technischem Wissen in der Literatur legen nahe, dass zukunftsvorhersagende Fähigkeiten auch an den deutschen Fürstenhöfen nachgefragt worden sein könnten. Hofastrologen lassen sich allerdings nicht in den Quellen nachweisen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass Astrologen – wie im »Prosa-Lancelot« dargestellt – punktuell an den Hof geholt werden, wenn ihr divinatorisches Wissen nutzbar gemacht werden soll. Drei Formen von Expertenwissen wurden im Laufe des Mittelalters also immer deutlicher am Fürstenhof nachgefragt: 1. Verwaltungs- und Herrschaftswissen, für das nach dem Vorbild der päpstlichen Kanzlei Juristen und Notare aus den eigenen herrscherlichen Institutionen verantwortlich zeichneten. Diese Experten führten im 12.  und 13.  Jahrhundert in den Territorien ein bipolares Leben zwischen Hof sowie geistlicher Institution und stellten ihr Spezialwissen dem Herrscher punktuell zur Verfügung. 2.  Auf die Aristotelesrezeption in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts fußendes mathematischnaturwissenschaftliches Wissen. Der für diese Rezeption verantwortliche Wissenstransfer aus dem arabisch-byzantinischen Raum ist ein für das lateinisch geprägte Europa einschneidender Vorgang, der die »Eigengesetzlichkeit, Konstitution und Struktur der Natur im Sinne einer physisch-physikalischen Realität durch die von theologischen Prämissen unabhängige Vernunft« betont, »die sich ihrer Erkenntnis nunmehr allein durch wissenschaftliche, der logischen Form des Arguments verpflichtete Begründungsverfahren zu versichern sucht.«52 Allerdings gibt es in den deutschen Territorien im 13.  Jahrhundert 51 Ebd., 26, 14–23. Übersetzung: »Ich glaube nicht, dass euer oder überhaupt eines Menschen Herz so klug ist, dass es sagen kann, was geschehen wird.« 52 Andreas Speer, Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer ›scientia naturalis‹ im 12. Jahrhundert. (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Bd. 45.) Leiden u. a. 1995, 289.

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keinen einzigen Hof, an dem diese neue Methodisierung und Verwissenschaftlichung des Wissens, deren Kontinuitätslinien bis in die Moderne führen, nachweislich adaptiert wurden. Das Umfeld des sizilianischen Hofs Friedrichs  II. bildet allein schon aufgrund seiner geographischen Lage und den daraus resultierenden Verbindungslinien in den arabischen Raum eine Ausnahme. Folge seines geographischen und kulturellen Alleinstellungsmerkmals ist die forcierte Ausrichtung der intellektuellen Umgebung des Herrschers an den neuen methodischen Standards bei der Generierung von Wissen. Dabei soll in den Vorstellungen der Experten im Umkreis des Hofes Friedrich selbst den Mittelpunkt der gelehrten Disputationen bilden. So empfahl schon Michael Scotus dem Kaiser in der Widmung seines physiognomischen Lehrbuches: »Es ist dir von Nutzen, verschiedene Autoren und Magistri zu verschiedenen Wissenschaften anzuhören; denn andere lehren anderes und gutachten aufgrund von Wissenschaft oder natürlicher Vernunft. […] Deshalb – so mein Rat – ladet Professoren, Magistri und von Natur begabte Leute an euren Hof. So wird es höfisch bei dir zugehen und du wirst oft mit vielen der Gespräche pflegen. Redet klug und persönlich vor ihnen. Setzt euer Vertrauen in verschiedene Gutachter wegen der Verschiedenheit des Stoffes. Stellt ihnen Fragen, wenn sie bei euch sind; bewahrt ihre Gutachten [dicta], damit sie euch oder einem anderen später von Nutzen sein können. Fördert das Studium der Wissenschaften in deinem Reich, lasst häufig Disputationen vor euch stattfinden, auf daß dein Geist sich erhebt und dein Verstand sich bessert.«53

Eine solche Diskussionskultur, verbunden mit einer neuartigen methodischen Ausrichtung der Wissensgenerierung, findet erst im 14. und verstärkt im 15. Jahrhundert über die Universitäten und Gelehrtenzirkel ihren Weg auch an ausgesuchte fürstliche Territorialhöfe in Deutschland. Die dritte Form von Expertenwissen, die auf den Hof bezogen ist, ist das praktisch-handwerkliche Wissen, das sich bereits im Frühmittelalter an den Adelshöfen etablierte. Experten der Handwerkskunst und ars mechanicae werden wie auch Experten der Verwaltung und Wissenschaft für Auftragsarbeiten entweder für kurze Zeit an den Hof geholt oder verbleiben an ihren Lebensorten sowie Produktionsstätten. Dies gilt für Goldschmiede, Siegelhersteller, Stempelschneider, Illustratoren, Kürschner, Glasmaler, Bronzegießer, Architekten usw. Ausgesprochen selten kommt dieser Personenkreis in seiner Beziehung zum Fürstenhof in den Quellen zur Darstellung. Eine Ausnahme stellt die Zeugenliste einer Urkunde Heinrichs des Löwen für die Stadt Riechenburg von 1154 dar, die in Goslar ausgestellt wurde. Dort treten nach den Adeligen im herzoglichen Gefolge Goslarer Bürger als Zeugen auf, die eventuell etwas mit der Versorgung des reisenden Hofes zu tun hatten: die Goldschmiede Werner und Thankmar, die Schildmacher Rocelinus und Achilles, ein Hizelo, der Leder­

53 Zit. nach: Fried, In den Netzen der Wissensgesellschaft (wie Anm. 1), 178.

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säcke und Weinschläuche herstellt.54 Ob allerdings diese Personen nicht nur als Zeugen, sondern darüber hinaus auch als Experten für den Welfenhof tätig waren, lässt sich nicht nachweisen. Dies ist anders bei Inschriften und Signaturen, die Künstler auf ihren Objekten hinterlassen haben. Im Umkreis der wel­f ischen Herrschaft begegnen zum Beispiel der Bildschnitzer Imervard, der seinen Namen am Rand einer Kreuzigungsdarstellung in St. Blasius hinterlassen hat, der Helmarshausener Mönch und Buchmaler Herimannus, der im Widmungsgesicht des Evangeliars erwähnt wird, oder der Wandmaler Johannes Wale (Gallicus), der sich auf einem Langhauspfeiler von St.  Blasius verewigt hat.55 Eine (auch nur kurzfristige) Zugehörigkeit zur Entourage des Herzogs ist jedoch für keine dieser Personen glaubhaft zu machen, deren Tätigkeiten oder Herkunft indes auf geistliche Orte im Umkreis des Welfenhofes verweisen. Schließlich gehört auch das Wissen über die Jagd zu den für die Lebenspraxis am Hof relevanten Wissensformen. Die mittelalterliche Jagd wurde seit der grundlegenden Einteilung der mittelalterlichen Wissensgebiete durch Hugo von St. Viktor (gest. 1141) zwar dem Kanon der sieben artes mechanicae zugerechnet, konnte sich jedoch nie einen institutionell verankerten Platz im mittelalterlichen Bildungswesen erobern.56 Das Alltagsgeschäft lag in Händen von Personen, die sich alle durch eine zumeist in langjähriger, täglicher Erfahrung und durch mündlichen Anschauungsunterricht erworbene Sachkompetenz ausgezeichnet haben.57 Als ein vornehmlich durch Erfahrungswissen und mündliche Tradition gekennzeichnetes Expertentum konzentrierte es sich nachweislich an den höfischen Zentren. Dort diente es nicht nur der Versorgung mit Nahrung, sondern in Form der Falknerei oder Vogelbeize sowie der Hirsch- und Bärenjagd auch dem Zeitvertreib. Das zu diesem Zweck mündlich überlieferte und praktisch erprobte Erfahrungswissen fand durchaus auch seinen Weg in die Schrift. So berief sich der gelehrte Dominikaner Albertus Magnus, der südlich der Alpen die Vorlagen für den Abschnitt »De falconibus« seiner Zoologie erhalten hatte, wiederholt auf die Falkner Kaiser Friedrichs II. als Informanten.58 Mitunter mussten die Jagdexperten also erst herbeigeholt oder vom Schrift­ kundigen aufgesucht werden, damit ein Wissenstransfer aus der Sphäre der Oralität gelingen konnte.59 In den Schriften über die Jagd tritt uns die Figur des 54 Ernst Schubert, Der Hof Heinrichs des Löwen, in: Jochen Luckhardt/Franz Niehoff (Hrsg.), Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235. Katalog der Ausstellung. Braunschweig 1995. Bd. 2, Essays. München 1995, 190–198, hier 196. 55 Franz Niehoff, Heinrich der Löwe  – Herrschaft und Repräsentation. Vom individuellen Kunstkreis zum interdisziplinären Braunschweiger Hof der Welfen, in: Jochen Luckhardt/Franz Niehoff (Hrsg.), Heinrich der Löwe, 213–236, hier 232. 56 Martina Giese, Graue Theorie und grünes Weidwerk? Die mittelalterliche Jagd zwischen Buchwissen und Praxis, in: Archiv für Kulturgeschichte 89, 2007, 19–59, hier 24. 57 Ebd., 27. 58 Ebd., 39. 59 Ebd.

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Meisters als hochqualifizierter und an der Jagdausübung in exponierter Weise beteiligter Sachkenner entgegen. Auf ihn als Autorität und als Quelle des erprobten Wissens berufen sich etliche Autoren von Jagdbüchern.60 Als ein Experte auf dem Gebiet der Falknerei tritt uns auch Friedrich II. entgegen. Sein sog. Falkenbuch (»De arte venandi«) mit seinen weit über die Falken hinausgehenden zoologischen Beobachtungen orientiert sich fast zwangsläufig am systematischen und theoretischen Ordnungsprinzip des gerade aufkommenden Aristotelismus, da es auf diesem Gebiet an geeigneten, schriftliterarisch gebildeten Autoritäten mangelt und die Ausführungen des Stauferkaisers daher der Empirie im Umgang mit den Raubvögeln sowie den Erfahrungswerten anderer Experten auf diesem Gebiet folgen müssen. Entsprechend heißt es im Prooemium des Buches: »Deshalb haben wir lange mit Sorgfalt und Fleiß das Wesen dieser Kunst erforscht, indem wir sie zugleich verstandesmäßig als auch ausübend zu ergründen suchten, um endlich in der Lage zu sein, niederzuschreiben, was uns die eigene als auch die Erfahrung anderer gelehrt hat, die wir als Kenner der Praxis dieser Kunst [›experti circa practicam huius artis‹] von weither und mit großem Kostenaufwand zu uns beriefen. Allenthalben hatten wir sie in unserer Nähe, um festzustellen, was sie besser wussten, und unserem Gedächtnis einzuprägen, was sie sagten und taten.«61

Hier erscheint im Falkenbuch also eine Art internationales Graduiertenzentrum von Beizjagdexperten am Hof Friedrichs  II. Allerdings war diesem höfischen Wissen in universitärem Gewand kein großer Erfolg beschieden: Ganze acht lateinische Abschriften der »Ars venandi« haben sich erhalten.62 Das Werk hat am deutschen Fürstenhof anscheinend keine praktische Verwendung gefunden und die gelehrten Zirkel außerhalb des Hofes schlicht thematisch nicht interessiert. Neben dem wenig erfolgreichen Falkenbuch Friedrichs  II. begegnen ansonsten Jagdtraktate im 13.  Jahrhundert, die auf konkreten Abfassungs- und Über­setzungsaufträgen fürstlicher Herrscher gründen und zu einer Verschrift­ lichung der Spezialkenntnisse aus mündlicher Tradition geführt haben. Als Primärpublikum dieser Texte kommt allein die adelige Elite in Frage, aus deren Mitte auch etliche Autoren stammen.63 Der Hof kristallisiert sich damit als Ort heraus, wo ein inhaltliches Interesse an jagdkundlichen Texten und Wissen herrschte, das in der Praxis verwertbar war. Vor allem hier wurden die Abfassung von Werken, ihre Redaktion, Kompilation und Übersetzung energisch gefördert. Dabei nutzte man vorhandene intellektuelle Kapazitäten, indem man 60 Ebd., 51. 61 Carl A. Willemsen, Kaiser Friedrich II . Über die Kunst mit Vögeln zu jagen. Kommentar zur lateinischen und deutschen Ausgabe. Frankfurt a. M. 1970. 62 Zur Überlieferungsgeschichte vgl. ebd., 67–94; Anne Möller, Die Geschichte des Falkenbuches, in: Mamoun Fansa/Carsten Ritzau (Hrsg.), Von der Kunst mit Vögeln zu jagen. Das Falkenbuch Friedrichs II . Kulturgeschichte und Ornithologie. Mainz 2007, 29–33. 63 Giese, Graue Theorie (wie Anm. 56), 55.

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einerseits auf die Sachkenntnis der Hofjäger/-falkner, andererseits – hauptsächlich auf dem Sektor der Übersetzungen – auf die philologischen Kompetenzen der Verfasser zurückgriff. Ich ziehe ein kurzes Fazit: Was die Rezeption der Schriftkultur und ihre Nutzung betrifft, was die Einbindung von verwaltungstechnischen, wissenschaftlichen und handwerklichen Experten und Expertenwissen angeht, kommt den weltlichen Fürstenhöfen gegenüber den großen Städten im Spätmittelalter und schon gar gegenüber der Kirche und ihren Institutionen im gesamten Mittel­ alter ganz sicher keine Vorreiterrolle zu.64 Allerdings geht vom Fürstenhof vor allem in Bezug auf die Verwaltungspraxis, Sachkultur und Repräsentation eine Vielfalt pragmatischer Bedürfnisse aus, die ab dem 12.  Jahrhundert und verstärkt im 13. Jahrhundert dazu führen, sehr flexibel benötigtes Expertenwissen und seine Träger einzubinden. Geht es um Wissen, das nicht ausschließlich oder vornehmlich aus der Praxis handwerklicher Meisterschaft hervorgeht, greifen die Fürsten noch bis weit ins 13. Jahrhundert hinein auf Geistliche zurück, die in Dom- und Klosterschulen nach dem Muster der septem artes ­liberales ausgebildet wurden.65 Erst weit im 13. Jahrhundert wird die geistliche Funktionselite an den Fürstenhöfen nicht mehr überwiegend aus Stifts- oder Domkapiteln rekrutiert, sondern diese werden zusehends zur Versorgung amtierender Kapelläne unterschiedlicher Herkunft genutzt. Mit dieser Umorientierung verlieren auch die Dom- und Klosterschulen ihre herausragende Stellung als Bildungs- und Ausbildungszentren. Weniger allgemeine Gelehrsamkeit war jetzt in der herzoglichen Verwaltung gefragt, sondern zunehmend spezifisches Fachwissen, das vor allem an den Hohen Schulen und zunehmend auch an den Universitäten erworben werden konnte. Die ersten Hohen Schulen im 12.  und 13.  Jahrhundert entstanden in Italien und Frankreich und fungierten gleichsam als Kaderschmieden für gelehrtes Personal in der königlichen und herzoglichen Verwaltung. Dieses gelehrte Personal entspricht genau dem Rollentypus des Experten, »der sich durch passgenaues Wissen in einer bestimmten Kommunikationssituation auszeichnet.«66 Wir haben es bei dieser bildungsgeschichtlichen Transformation von den Dom- und Klosterschulen zu den Hohen Schulen und Universitäten mit dem langsamen Übergang von erkenntnisorientierter, gelehrter Wissensvermittlung zur zweckorientierten, praktischen Nutzanwendung des Wissens zu tun: »Aus einer vormals einheitlichen Erkenntnisart ›Wissen‹ entwickelt sich eine Vielzahl verschiedener Wissenschaften, die jeweils ihren besonderen Gegenstandsbereich haben.«67 Allerdings werden die in dieser 64 Andermann, Art. Pragmatische Schriftlichkeit (wie Anm. 27), 57. 65 Vgl. auch: Martin Kintzinger, Herrschaft und Bildung. Gelehrte Kleriker am Hof Heinrichs des Löwen, in: Jochen Luckhardt/Franz Niehoff (Hrsg.), Heinrich der Löwe und seine Zeit, 199–203, hier 200. 66 Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm. 28), 22. 67 Ingrid Craemer-Ruegenberg/Andreas Speer, Vorwort, in: I. C.-R./A. S. (Hrsg.), Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter. (Miscellanea mediaevalis, Bd.  22.) Berlin/New York 1993, X f.

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Übergangssituation handelnden Akteure von ihrer Umgebung eher noch als Gelehrte denn als Experten für Sonderwissen wahrgenommen. Im 13. Jahrhundert begegnen noch laufend in den Quellen Personen am Fürstenhof, die zugleich als capellanus, notarius und physicus tituliert werden.68 Selbst am kaiserlichen Hof Friedrichs  II. war ein und dieselbe Person wie zum Beispiel Theodor von Antiochia als Astrologe, Kanzleibeamter, Gesandter, Übersetzer aus dem Arabischen und als Arzt tätig. Der geniale Mathematiker Fibonacci titulierte ihn in einem Schreiben entsprechend als »imperialis aule summus phylosophus«.69 Umfassende Bildung und eine heterogene funktionale Verwendbarkeit zeichnen im 13.  Jahrhundert den erfolgreichen Gelehrten im Umkreis der großen Höfe aus. »Summus phylosophus« ist aus dem Kreis der eigenen Ingroup die höchste Auszeichnung für einen Prototypen der Verwaltungs- und Bildungselite, der sein Wissen und seine Fähigkeiten dem Fürsten abrufbereit zur Verfügung stellt. Niemand wird in Abrede stellen, dass der Königs- oder der weltliche Fürstenhof die Keimzelle von Institutionen war, die für die Herausbildung von Staatlichkeit konstituierend waren: Hofgericht, Kanzlei und Archiv, Hofrat, Rechenkammer und Münzstätte. Diese Institutionen haben ihre Vorläufer im 13. Jahrhundert, sind dort aber noch weitestgehend personalisiert und nicht behördenmäßig strukturiert. Man sollte sich daher davor hüten, aus den speziellen Verhältnissen am sizilianischen Hof Friedrichs  II. jene an den deutschen Fürstenhöfen abzuleiten und diese als Knotenpunkte einer vernetzten Wissensgesellschaft zu einem Motor der wissenschaftlichen Entwicklung in die Moderne zu machen, wie Johannes Fried dies tut. Genauso wenig sollte man aus den wissensgeschichtlichen und verwaltungsstrukturellen Verhältnissen des Fürstenhofes im Spätmittelalter oder gar der Frühen Neuzeit auf jene des 12. und 13.  Jahrhunderts zurückschließen, wozu man vielleicht aufgrund der prekären Quellensituation sowie der durchaus vorhandenen Kontinuitätslinien neigen könnte. Möglicherweise lässt sich der Hof im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit als eine Keimzelle des modernen Staates sowie der Fürst als ein Motor neuzeitlicher Wissenschaft konzeptualisieren. Der Fürst im 12. und 13. Jahrhundert lässt eine solche Konzeptualisierung ganz sicher nicht zu.

68 Beispiele bei: Reuvekamp-Felber, Volkssprache (wie Anm. 18), 72–74. 69 Baldassare Boncompagni (Hrsg.), Scritti di Leonardo Pisano. Bd. 2. Rom 1857–1862, 247. Vgl. zu der Stelle auch: Stürner, Friedrich II . (wie Anm. 4), 388 f.

Gerrit Deutschländer

Gelehrte Prinzenerzieher um 1500  Anforderungen, Aufgaben und Werdegänge

Wer sich mit der höfischen Erziehung und Bildung im ausgehenden Mittelalter beschäftigen will, dessen Blick wird schnell auf die großen Fürstenhöfe Europas gelenkt.1 Dies geschieht nicht allein deshalb, weil hier die Quellenlage etwas besser als gewöhnlich ist, sondern auch, weil sich geistliche Verfasser seit dem 13. Jahrhundert verstärkt darum bemüht haben, gezielt auf die Fürsten und ihre Umgebung einzuwirken, um die Gesellschaft gewissermaßen von der Spitze her zu verändern.2 Herrscher wurden unablässig ermahnt, Bildung und Gelehrsamkeit an ihren Höfen zu fördern, und zwar auch dann, wenn sie selbst keine gelehrte Bildung erworben hatten. Lange hielten es weltliche Herrscher nämlich für unnötig, lesen und schreiben zu lernen.3 Bei den wenigen Ausnahmen, die geradezu ins Auge stechen, besteht daher immer ein Verdacht, dass die Betreffenden lediglich an das Ideal des gebildeten Herrschers herangerückt wer1 In den letzten Jahren sind mehrere Dissertationen erschienen, die sich mit der Erziehung an fürstlichen Höfen um 1500 beschäftigen: Anthea Bischof, Erziehung zur Männlichkeit. Hofkarriere im Burgund des 15. Jahrhunderts. Ostfildern 2008; Christian Kahl, Lehrjahre eines Kaisers – Stationen der Persönlichkeitsentwicklung Karls V. (1500–1558). Eine Betrachtung habsburgischer Fürstenerziehung/-bildung zum Ende des Mittelalters. Diss. phil. Trier 2008; Anna M. Schlegelmilch, Die Jugendjahre Karls V. Lebenswelt und Erziehung des burgundischen Prinzen. (Archiv für Kulturgeschichte, Beih. 67.) Köln u. a. 2011; Gerrit Deutschländer, Dienen lernen, um zu herrschen. Höfische Erziehung im ausgehenden Mittelalter (1450–1550). (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bd. 6.) Berlin 2012; Benjamin Müsegades, Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichen Reich. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 47.) Ostfildern 2014. 2 Lester Kruger Born, The Perfect Prince. A Study in Thirteenth- and Fourteenth Century Ideals, in: Speculum 3, 1928, 470–504. Siehe zur Gattung der Fürstenspiegel: Hans H.  Anton, Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd.  45.) Darmstadt 2006; Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. (Monumenta Germaniae Historica, Schriften, Bd. 2.) Leipzig 1938 (Nachdruck: Stuttgart 1952); Bruno Singer, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Bibliographische Grundlagen und ausgewählte Interpretationen: Jakob Wimpfeling, Wolfgang Seidel, Johann Sturm, Urban Rieger. (Humanistische Bibliothek, Reihe 1: Abhandlungen, Bd. 34.) München 1981; Rainer A. Müller, Regierungslehren und politische Pädagogik, in: HZ 240, 1985, 571–597. 3 Herbert Grundmann, Litteratus – illitteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 40, 1958, 1–65; wieder in: Ders., Ausgewählte Aufsätze. Bd. 3, Bildung und Sprache. Stuttgart 1978, 1–66.

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den sollten, um lebendige Vorbilder zu schaffen. Solange aber der Adel einem Herrscher mit Misstrauen begegnete, wenn dieser zu gelehrt und deshalb nicht kriegstüchtig erschien, sahen sich die Fürsten in ihrer Abneigung dagegen, sich gelehrte Bildung aneignen zu müssen, nur bestätigt. Reste dieser tiefen Abneigung finden sich um 1500 selbst bei Kurfürst Friedrich von Sachsen noch, der in seiner Residenzstadt Wittenberg immerhin eine Universität gegründet hatte und später ›der Weise‹ genannt werden sollte. Sein vertrauter Diener Georg­ Spalatin beschrieb Friedrich und sein Leben zwar äußerst wohlwollend, mochte jedoch nicht verhehlen, wie ungern der Kurfürst Latein gesprochen habe, obgleich er die Sprache in der Jugend gelernt hatte und gut verstehen konnte.4 Anfang des 16. Jahrhunderts konnte sogar ein Erzbischof von Köln noch unumwunden zugeben, wie schlecht seine Lateinkenntnisse waren.5 Um 1500 wurde jedenfalls bei Hof noch immer darüber gestritten, wie weit die gelehrte Bildung eines Fürsten reichen sollte.6 Allmählich zeichnete sich jedoch ein Bewusstseinswandel ab. Dieser dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass Diplomatie, Verwaltung und Rechtsprechung kaum noch ohne Schriftlichkeit auskamen. Zur Verwaltung ihrer Einkünfte und Rechtsansprüche griffen die Fürsten seit Längerem bereits auf akademisch gebildete Männer zurück, die es im Hofdienst durchaus zu Anerkennung und Wohlstand bringen konnten.7 Die Feinheiten der Amtsführung konnte ein Fürst zwar getrost diesen geschulten Experten überlassen, doch war es für seine Herrschaft von Vorteil, wenn ihm nicht völlig verborgen blieb, was sie da zu Papier brachten. Martin Luther unterstellte daher all jenen, die einem Fürsten einreden wollten, er brauche nicht schriftkundig zu sein, sie täten dies in der bösen Absicht, ihn weiter an der Nase herumführen zu können.8 Viele Fürsten trugen um 1500 immerhin Sorge dafür, dass ihre Söhne im Kindesalter lesen, schreiben und rechnen lernten  – und sei es, indem diese 4 Johann C. G. Neudecker/Ludwig Preller (Hrsg.), Friedrichs des Weisen Leben und Zeitgeschichte. (Georg Spalatin’s historischer Nachlaß und Briefe, Bd. 1.) Jena 1851, 22; Bernd Stephan, Beiträge zu einer Biographie Kurfürst Friedrichs  III . von Sachsen, des Weisen (1463–1525). Diss. phil. (masch.) Leipzig 1979, 40; Ingetraut Ludolphy, Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen 1463–1525. Göttingen 1984, 46. 5 August Kluckhohn (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl  V. (Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Bd. 1.) Göttingen 1893, 748, Nr. 323 (1519 Juni 3). 6 Ludwig F. Heyd, Ulrich, Herzog zu Württemberg. Ein Beitrag zur Geschichte Württembergs und des deutschen Reichs im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Tübingen 1841, 91. 7 Hartmut Boockmann, Zur Mentalität spätmittelalterlicher gelehrter Räte, in: HZ 233, 1981, 295–316; Heinz Noflatscher, Räte und Herrscher. Politische Eliten an den Habsburgerhöfen der österreichischen Länder 1480–1530. (Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, Bd. 14.) Mainz 1999; Suse Andresen, Gelehrte Räte im Dienst des Markgrafen und Kurfürsten Albrecht. Qualifikation und Tätigkeiten in fürstlichem Auftrag, in: Mario Müller (Hrsg.), Kurfürst Albrecht Achilles (1414–1486), Kurfürst von Brandenburg, Burggraf von Nürnberg. (Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken, Bd. 102.) Ansbach 2014, 151–172. 8 WA TR 6, 325, Nr. 7009.

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einige Zeit gemeinsam mit denjenigen Söhnen unterrichtet wurden, die in den geistlichen Stand treten sollten und eine geistige Ausbildung nachweisen mussten. Von Graf Eberhard von Württemberg heißt es sogar, er habe den Unterricht bei Hof selbst beaufsichtigt und seinen Neffen angehalten, wissenschaftliche Studien zu betreiben.9 Dieses Verhalten entsprach genau dem, was all die Fürstenspiegelautoren vor Augen gehabt hatten. Erasmus von Rotterdam betrachtete die gründliche Erziehung der Fürstenkinder als Schlüssel zur Umgestaltung der politischen Zustände.10 In seiner »Erziehung des christlichen Fürsten«, die 1516 im Druck erschien, prägte Erasmus einen Satz, der die weltlichen Herrscher aufhorchen lassen musste: Wer kein Philosoph sei, könne kein Fürst sein, sondern nur ein Tyrann.11 Deshalb genüge es nicht, sich als Herrscher lediglich den Anschein gelehrter Bildung zu geben und gelehrte Männer bloß deshalb um sich zu scharen oder von anderen Höfen abzuwerben, weil sie den Glanz des eigenen Hofes erhöhten.12 Erasmus forderte damit nicht weniger als die umfassende Bildung des künftigen Herrschers, weil dieser nun einmal durch Erbfolge und nicht wegen seiner besonderen Geistesgaben an die Macht kommen würde. Trotz der Kritik an der dynastischen Thronfolge, die Erasmus an mehreren Stellen übte, fand sein Fürstenspiegel auch an den weltlichen Höfen weite Verbreitung. Kurz nach seinem Erscheinen ist er bereits am kurpfälzischen, sächsischen, anhaltischen und habsburgischen Hof im Umfeld der Prinzenerziehung nachzuweisen.13 In dem Maße, in dem die Forderung nach umfassender Bildung für die weltlichen Herrscher zu einer Herausforderung wurde, der sie sich stellen mussten, fließen schriftliche Quellen reicher, die Auskunft über die Erziehung und Bildung bei Hof geben können, auch wenn Bestallungsurkunden für Erzieher, Unterrichtspläne oder ausführliche Berichte über den Lernfortschritt erst aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in größerer Dichte überliefert sind.14 Für die Zeit davor finden sich zumindest Hinweise darauf im Verwaltungsschrift-

9 Heyd, Ulrich (wie Anm. 6), 89. 10 Anton J. Gail (Bearb.), Erasmus von Rotterdam: Fürstenerziehung. Die Erziehung eines christlichen Fürsten/Institutio principis Christiani. Paderborn 1968, 18. 11 Erasmus, Institutio (wie Anm. 10), 58/59: »Ni Philosophus fueris, Princeps esse non ­potes, Tyrannus potes.« 12 Ebd., Kap. 1 f. 13 Otto Herding, Die deutsche Gestalt der Institutio Principis Christiani des Erasmus: Leo Jud und Spalatin, in: Josef Fleckenstein/Karl Schmid (Hrsg.), Aus Adel und Kirche. Freiburg/Basel/Wien 1968, 534–441, hier 535, Anm. 2a; Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm.  1), Anhang Nr.  23; Percy Stafford Allen (Bearb.), Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, Teil 10. Oxford 1941, Nr. 2664, 39 f.; Gustav Bauch, Caspar Ursinus Velius, der Hofhistoriograph Ferdinands I. und Erzieher Maximilians II . Budapest 1886, 68. 14 Georg Müller, Zwei Unterrichtspläne für die Herzöge Johann Friedrich IV. und Johann zu Sachsen-Weimar, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 11, 1890, 245–262, hier 256; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 170.

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gut und vor allem in persönlichen Briefen, so dass die Fragen der höfischen Erziehung nicht mehr allein auf der Grundlage literarischer Quellen und programmatischer Schriften beantwortet werden müssen. Für die Zeit nach 1500 wird es zunehmend möglich, den Werdegang und die Tätigkeit einzelner Prinzenerzieher zu beleuchten,15 obgleich nicht immer zweifelsfrei zu klären ist, welche Anforderungen sie im Einzelnen zu erfüllen hatten, wie sie an den Hof vermittelt wurden und welche Dienststellung sie dort zugewiesen bekamen. Hoch bleibt außerdem die Zahl an Prinzenerziehern, deren Identität und Aufenthaltsdauer an einem Hof nicht genau zu ermitteln sind, weil die betreffenden Personen in den erhaltenen Aufzeichnungen bloß mit ihrem akademischen Grad, etwa als ›der Magister‹, oder mit dem jeweiligen akademischen Grad und ihrem Vornamen erfasst sind. Erschwerend kommt hinzu, dass die Fluktuation bei Hof sehr hoch war, denn nicht alle Nachkommen eines Fürsten wurden von ein und demselben Lehrer unterrichtet. Größere Bekanntheit haben Prinzenerzieher meist nur dann erlangt, wenn sie eigene Schriften hinterlassen haben und wenn sie Anerkennung und weitere Verdienste in der Welt der Gelehrten oder im Fürstendienst erwerben konnten. Pädagogische Schriften, Lehrbücher oder Regelwerke, die größere Verbreitung fanden, haben aber nur die wenigsten von ihnen verfasst, und die Gebrauchshandschriften, die für den unmittelbaren Einsatz im Unterricht gedacht waren, hatten nur geringe Chancen, überliefert zu werden. Die Masse der Prinzenerzieher hat jedenfalls keine eigenen Schriften hinterlassen und ist deshalb nicht mehr oder nur noch dem Namen nach bekannt. Genauer zu fassen sind vor allem die Vielschreiber, die in Gelehrtennetzwerke eingebunden waren, wie etwa Johannes Nauclerus und Johannes Reuchlin in Württemberg, Johannes Aventinus in Bayern, Erasmus von Rotterdam und später Konrad Heresbach. So begegnet an fast allen größeren Höfen der Typus des humanistischen Prinzenerziehers, der dazu neigte, entweder seinen Einfluss bei Hof zu überschätzen oder über das Hofleben und den Mangel an Gelehrsamkeit zu klagen, weil er sich zu 15 David  R. Carlson, Royal Tutors in the Reign of Henry  VII ., in: The Sixteenth Century Journal 22, 1991, 253–279. Für den deutschsprachigen Raum gibt es mittlerweile eine ganze Reihe neuerer Einzeluntersuchungen: Alois Schmid, Johannes Aventinus als Prinzenerzieher, in: Festschrift des Aventinus-Gymnasiums Burghausen 1940 – 1955 – 1960 – 1980. Burghausen 1980, 10–27; Matthias Meinhardt, Magister Sebastian Leonhart (1544–1610). Bildungs- und Karriereweg eines wettinischen Fürstenlehrers und Hofbibliothekars, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 90, 2003, 44–75; Benjamin Müsegades, Karriere zwischen Universität, Hof und Bibliothek. Der kursächsische Erzieher Lukas Edenberger, in: Concilium medii aevi 16, 2013,  233–245; Gerrit Deutschländer, Spalatin als Prinzenerzieher, in: Armin Kohnle/Christina Meckelnborg/ Uwe Schirmer (Hrsg.), Georg Spalatin. Steuermann der Reformation. Halle 2014, 25–31; Ders., Hofgeistlichkeit, Fürstenerziehung und Briefkultur. Georg Helt und die Fürsten von Anhalt im 16.  Jahrhundert, in: Matthias Meinhardt u. a. (Hrsg.), Religion, Macht, Politik. Hofgeistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit (1500–1800). (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 137.) Wiesbaden 2014, 195–209.

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Höherem berufen sah. Bisweilen wurde jedoch auch von außen bemerkt, dass jemand in der Stellung eines Hoflehrers nur selten die Zeit fand, stilvolle Briefe an seine gelehrten Freunde zu schreiben.16 Die Anforderungen, die um 1500 an einen Prinzenerzieher gestellt wurden, sind nirgends ausführlich dargelegt worden, selbst in den zahlreichen Fürstenspiegeln nicht.17 Erasmus von Rotterdam meinte zwar, der Erzieher eines künftigen Herrschers sei mit größter Sorgfalt zu wählen, da es keine Möglichkeit gebe, den Fürsten selbst zu wählen,18 doch führte er dann lediglich einige Tugenden an, die einen guten Prinzenerzieher auszeichneten.19 Ein solcher sollte demzufolge nicht nach Pfründen oder einträglichen Posten streben, sondern seine Aufgaben uneigennützig erfüllen. Er sollte über große Menschenkenntnis verfügen, um bei seinen Schülern stets diejenige Erziehungsmethode anwenden zu können, die erforderlich war; sollte maßvoll sein, wenn er versuchte, jugendliche Leidenschaften zu bändigen, und bei Misserfolgen nicht mürrisch oder zornig werden. Sympathie durfte er für seine adeligen Zöglinge zwar empfinden, doch durfte er ihnen nicht willfährig sein und auch seinem Fürsten nicht nach dem Munde reden. Die wichtigste Anforderung an einen guten Prinzenerzieher bestand also darin, unabhängig und unbestechlich zu bleiben. Das war viel verlangt in Anbetracht der Tatsache, dass zwischen Lehrer und Schüler bei Hof ein Standes­ unterschied herrschte und jeder Erzieher von der Gunst seines Fürsten abhängig war. Im Alltag war eine solche Anforderung wohl kaum uneingeschränkt zu erfüllen. Ein Prinzenerzieher der fränkischen Markgrafen von Brandenburg hatte 1498 sogar schwören müssen, sich in seinem Unterricht nach der jungen Herrschaft zu richten und nicht umgekehrt.20 Hinzu kam, dass ein gelehrter Prinzenerzieher in der Regel einem adeligen Prinzenhofmeister unterstellt war, was immer wieder zu Konflikten führte.21 Denn selbst wenn es eine klare Aufgabenteilung gab, waren sowohl der gelehrte Erzieher also auch der Hofmeister für die ganze Persönlichkeit der ihnen anvertrauten Zöglinge verantwortlich. Aus einem Erziehungsplan für den jungen Fürsten von Sachsen-Weimar aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geht hervor, dass der Prinz das Morgen­ 16 Philipp Melanchthon an Erhard Junius in Stolberg am Harz [1530, Ende Februar], in: Heinz Scheible (Hrsg.), Melanchthons Briefwechsel. Stuttgart 1977–2009 (im Folgenden: MBW), Nr. 867. Der Brief ist nur abschriftlich überliefert, wurde offenbar jedoch als Mahnung verstanden, denn er trägt den Vermerk »Notate bene omnes praeceptores«. 17 Zum Folgenden: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 158–191. 18 Erasmus, Institutio (wie Anm. 10), 114  f. 19 Ebd., 46 f. 20 Joseph Baader, Eines fürstlichen Präceptors Eid und Bestallung vom Jahre 1498, in: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N. F. 16, 1869, 268; Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm. 1), 349, Anhang Nr. 9; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 170 f. 21 Vgl. die Instruktion für den Grafen von Barby (1572 Dezember 12); Müller, Unterrichtspläne (wie Anm. 14), 248. Siehe zu den Hofmeistern an reichsfürstlichen Höfen ausführlich: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 134–147.

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gebet gemeinsam mit dem Kammerjunker, den Edelknaben und dem Narren unter Leitung des Prinzenerziehers verrichten sollte, das Abendgebet aber in Gemeinschaft mit allen Hofbediensteten unter Leitung des Hofmeisters.22 Die Anforderungen an den Charakter eines Erziehers hat Erasmus vor allem deshalb umrissen, damit sich regierende Fürsten daran hielten, denn sie hatten das letzte Wort bei der Auswahl derjenigen, die ihre Kinder unterrichten sollten. Der eigentliche Erzieher bei Hof war deshalb nicht irgendein Hofmeister oder Gelehrter, sondern der Fürst selbst, der lediglich geeignete Männer an den Hof rief, um ihnen bestimmte Erziehungsaufgaben zu übertragen. Beim Fürsten lag auch die Strafgewalt über die Prinzen, deren Gefährten und sämtliche Hof­ angehörige, auch wenn die Ausübung einem adeligen Hofmarschall oder Haushofmeister überantwortet werden konnte.23 Der Fürst benannte oder entließ die Prinzenerzieher, wenn er dies für richtig hielt. Daran führte kein Weg vorbei; doch immerhin gab es Möglichkeiten, ihm geeignete Personen zu empfehlen und vorzustellen. Im Sommer des Jahres 1508 soll der kursächsische Hof den Humanisten Mutianus Rufus in Gotha aufgefordert haben, einen geeigneten Lehrer für den Prinzen Johann Friedrich zu empfehlen, der damals nicht einmal sechs Jahre alt war. Dieser Hergang wurde aus einem späteren Brief geschlossen, in dem Mutian sich darüber erfreut zeigte, dass tatsächlich einer seiner Schützlinge, Georg Spalatin nämlich, als Prinzenerzieher angestellt worden war. Aus einer ganzen Reihe von Bewerbern sei er ausgewählt worden, weil dem Hof seine Lehrmethoden am besten gefallen hätten. Dies behauptete jedenfalls sein Fürsprecher.24 Viel Erfahrung mit der Unterrichtung von Kindern hatte Spalatin freilich nicht. Er hatte in seiner fränkischen Heimat eine humanistische Schulbildung durchlaufen und war dann zum Studium nach Erfurt gegangen. Gemeinsam mit einer Gruppe von Studenten war er an die neu eröffnete Universität in Wittenberg gewechselt und als Magister nach Erfurt zurückgekehrt, bevor er Anschluss an den Gelehrtenkreis um Mutian fand. Nachdem er kurzzeitig als Hauslehrer bei einer adeligen Familie tätig gewesen war, hatte er eine geistliche Laufbahn eingeschlagen. In jenem Jahr, in dem er sich auf Betreiben seines Freundes und Förderers am kursächsischen Hof vorstellte, hatte er bereits eine Pfarrstelle angetreten und war zum Priester geweiht worden. Deshalb hatte er mit sich ringen müssen, ob er tatsächlich an den Hof gehen sollte.

22 Friedrich Jacobs/Friedrich A. Ukert (Hrsg.), Beiträge zur ältern Litteratur oder Merkwürdigkeiten der Herzogl. Öffentlichen Bibliothek zu Gotha, H. 5. Leipzig 1838, Nr. 6, 91. 23 Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm. 1), 88 und 92–94; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 172–176. 24 Mutianus Rufus an Herebord von der Marthen (1508 [kurz vor September 29]), in: Karl Gillert (Hrsg.), Der Briefwechsel des Conradus Mutianus. (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Bd. 18.) Halle u. a. 1890, 147 f., Nr. 105; Irmgard Höß, Georg Spalatin 1484–1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation. 2. Aufl. Weimar 1989, 40 f.

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Nach allem, was zu erkennen ist, hatte Spalatin keinen inneren Antrieb, Prinzenerzieher zu werden. Offenbar war es Mutian, der unbedingt seinen Kandidaten bei Hof unterbringen wollte; einen Kandidaten, der zwar humanistisch gebildet, mit der Prinzenerziehung und der höfischen Lebenswelt jedoch wenig vertraut war. Spalatins größter Vorteil scheint also gewesen zu sein, dass er in ein Netzwerk humanistischer Gelehrter eingebunden war, das über ausgezeichnete Verbindungen zum kursächsischen Hof verfügte, denn Mutian war mit dem dortigen Kanzler befreundet, seit beide in Erfurt studiert hatten. Zwanzig Jahre später lief die Suche nach einem Erzieher für den jüngeren Sohn des Kurfürsten Johann ebenfalls über die sächsische Hofkanzlei. Philipp ­Melanchthon kündigte dem damals im Amt befindlichen Kanzler die Ankunft des Lukas Edenberger an, der nach dem Willen des Kurfürsten den Prinzen Johann Ernst unterrichten sollte.25 In dem entsprechenden Brief versuchte Melanchthon dem Kanzler zu schmeicheln, indem er ihn als den einzigen Förderer der Wissenschaft bei Hof bezeichnete. Über die Anstellung eines geeigneten Prinzenerziehers entschied letztlich zwar ein Fürst allein, doch war er auf Vermittler angewiesen, denen er vertraute. Der bekannte Konrad Heresbach, Freund und Schüler des Erasmus und Verfasser eines Fürstenspiegels, wurde ebenfalls durch einen Freund bei Hof als Erzieher der Herzöge von Jülich, Kleve und Berg vermittelt.26 Männer, die als gelehrte Prinzenerzieher in Frage kamen, waren an den Landesuniversitäten, in Gelehrtenzirkeln und an den höheren Schulen des Landes sicher leicht zu finden. Es gab unter ihnen allerdings auch solche, die nicht nur zögerten, an den Hof zu gehen, sondern dieses Angebot gänzlich ablehnten. Hermann Fuchs aus Bayreuth wollte zum Beispiel lieber Schulrektor in Meißen bleiben, als Erzieher der Söhne des sächsischen Kurfürsten zu werden.27 Statt seiner kam Wolfgang Schiefer an den Hof,28 ein Mann, der bereits von 1536 bis 1539 Prinzenerzieher in Innsbruck gewesen war.29 Er hatte in Wittenberg studiert und wollte gern nach Sachsen zurückkehren. Während er mit einschlägigen Erfahrungen an den wettinischen Hof kam, dürften die meisten anderen Gelehrten, die für einige Zeit die Aufgaben eines Prinzenerziehers übernahmen, ebensolche Neulinge gewesen sein wie Georg Spalatin. Auf der Suche nach den Mindestanforderungen, die an einen Prinzenerzieher gestellt wurden, stößt man meist nur auf allgemeine Aussagen. Die Vormünder des Grafen Ludwig von Nassau suchten im Jahre 1490 schlicht und ergrei25 Melanchthon an Gregor Brück, MBW, Nr.  685 [1528, nach Mai 18]; Müsegades, Lukas Edenberger (wie Anm. 15), 234. 26 Anton Gail, Johann von Vlatten und der Einfluß des Erasmus von Rotterdam auf die Kirchenpolitik der vereinigten Herzogtümer, in: Düsseldorfer Jahrbuch 45, 1951, 1–109, hier 16. 27 Melanchthon an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, MBW, Nr. 2299 (1539 November 7). Fuchs war auch Erzieher der jungen Welser. MBW, Nr. 5452 (1549 Februar 18). 28 Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Melanchthon, MBW, Nr. 2306 ([1539] November 12). 29 Wolfgang Schiefer an Melanchthon, MBW, Nr. 1775 (1536 August 24).

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fend einen redlichen und ehrbaren Mann, der gute Sitten, Lesen und Schreiben und passive Kenntnisse der lateinischen Sprache vermitteln könne.30 In anderen Fällen wurde nach gottesfürchtigen Männern gesucht, die einen Prinzen durch ihr sittliches Vorbild erziehen würden.31 Um eine Stelle bei Hof zu bekommen, mussten der Lebenswandel sicher tadellos und der Ruf unbescholten sein, der Nachweis der ehelichen Geburt war anscheinend aber nicht nötig, denn sowohl Erasmus als auch Spalatin waren unehelich geboren.32 Die Zugehörigkeit zum richtigen Bekenntnis gewann im 16. Jahrhundert zwar zunehmend an Bedeutung, doch wenigstens bis zur Mitte des Jahrhunderts war es noch möglich, zwischen evangelischen und katholischen Höfen zu wechseln. Alexius Krosner, der Georg Spalatin als Erzieher des jungen Herzogs Johann Friedrich von Sachsen abgelöst hatte, war zeitweilig Hofprediger des altgläubigen Herzogs Georg von Sachsen.33 Was von einem Prinzenerzieher allerdings in jedem Fall erwartet wurde, war die sichere Beherrschung der alten Sprachen. Der Hinweis auf hervorragende Sprachkenntnisse und besondere stilistische Fähigkeiten macht den Kern der meisten Empfehlungsschreiben aus. Die lateinische Sprache galt nicht nur als Schlüssel zum Buchwissen und zu den gelehrten Studien, auf der Grundlage des Lateinunterrichts konnte überhaupt erst das Lesen und Schreiben der Volkssprache eingeübt werden. Mit dem Sprachunterricht ließen sich darüber hinaus viele andere Wissensgebiete verknüpfen, indem Merksprüche verschiedenster Inhalte gelernt und übersetzt wurden. Lateinische und griechische Texte wurden daher sowohl wegen ihres vorbildhaften Stils als auch wegen ihres lehrhaften Inhalts für den Unterricht ausgewählt.34 Zur Einführung der jungen Fürsten in die Wissenschaften wurden freilich keine großen Gelehrten herangezogen. Männern mit wissenschaftlichen Ambitionen dürfte der Elementarunterricht bei Hof sogar eine Qual gewesen sein, selbst wenn sie das Unterrichten und Repetieren von ihrer Hochschule her gewohnt waren. Dies war sicher ein Grund dafür, dass viele Prinzenerzieher sehr 30 Landgrafen-Regesten online, Nr. 8351 (1490 Juni 24). Siehe zu Ludwig I. die knappen Angaben bei: Christian D. Vogel, Beschreibung des Herzogtums Nassau. Wiesbaden 1843, 340 f. 31 Karl A. Barack (Hrsg.), Zimmerische Chronik, Bd. 2. (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 92.) Tübingen 1869, 378; Friedrich Roth (Hrsg.), Hans Ebran von Wildenberg. Chronik der Fürsten von Bayern. München 1905, 13. 32 Rolf Becker, Erasmus von Rotterdam – der Makel seiner Geburt, in: Reinhold Mokrosch/ Helmut Merkel (Hrsg.), Humanismus und Reformation. Historische, theologische und pädagogische Beiträge zu deren Wechselwirkung. (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie, Bd. 3.) Münster u. a. 2001, 47–54; Höß, Spalatin (wie Anm. 24), 1. 33 Otto Clemen, Alexius Chrosner, Herzog Georgs von Sachsen evangelischer Hofprediger. Leipzig 1907. 34 Richard F. Hardin, The Literary Conventions of Erasmus’ Education of  a Christian Prince: Advice and Aphorism, in: Renaissance Quarterly 35, 1982, 151–163; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 228–247.

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jung an den Hof kamen, meist kurz nachdem sie den Magistergrad erworben hatten, wie der genannte Lukas Edenberger. Gelegentliche Bedenken, ein empfohlener Kandidat könnte noch zu jung sein,35 bestätigen den Eindruck, dass vor allem Männer gesucht waren, die am Anfang ihrer Laufbahn standen. Der gelehrte Unterricht nahm bei Hof nur einige Stunden am Tag ein. Vier sollten es um 1500 am württembergischen Hof sein.36 Zur Entspannung sollten die Prinzen anschließend »unschädliche Kurzweil« treiben. Ein italienischer Fürstenspiegelautor empfahl ungefähr zur gleichen Zeit, lediglich zwei Stunden am Tag auf den gelehrten Unterricht zu verwenden.37 Hinzu kommen sollten eine Übungsstunde sowie zwei Stunden, die der Unterhaltung mit gebildeten Leuten vorbehalten waren. Drei Stunden waren für öffentliche Angelegenheiten vorgesehen, eine zum Reiten und zu militärischen Übungen und eine zum Umritt in der Stadt. Damit blieben sieben Stunden für den Schlaf, zwei zur Nahrungsaufnahme, eine zum Ankleiden, drei für Gebet und Gottesdienst und eine zur Erholung bei schöner Musik. Es gibt weitere solcher Tageseinteilungen, die immer an die jeweiligen Erfordernisse angepasst waren und sicherlich keine dauerhafte Gültigkeit besaßen. Zu festlichen Anlässen oder bei wichtigen Besuchen waren sie vermutlich außer Kraft gesetzt. Klar ist jedenfalls, dass der Unterricht in den höfischen Alltag eingepasst war. Er hatte sich eben nach der Herrschaft zu richten und nicht umgekehrt. Außerhalb der Unterrichtsstunden wurden Prinzenerzieher bei Hof gern in Anspruch genommen, um Schreib- und Übersetzungsarbeiten zu erledigen. Georg Spalatin dürfte von Anfang an solche Nebentätigkeiten übernommen haben. Ein Jahr nach seiner Anstellung wurde er beauftragt, eine Chronik des Hauses Sachsen zu schreiben, an der er bis ans Ende seines Lebens arbeitete, ohne sie je fertig stellen zu können.38 Den Großteil des Materials sammelte er jedoch in den ersten sechs Jahren nach der Übernahme des Auftrags,39 also bereits neben seinen Aufgaben als Prinzenerzieher. Es ist anzunehmen, dass er das gesammelte historische Wissen unmittelbar an seinen fürstlichen Zögling und dessen adelige Gefährten zu vermitteln suchte, auch wenn es darüber keinerlei Nachrichten gibt. 1512 wurde er zwar als Lehrer des Kurprinzen abgelöst, übernahm aber immer wieder erzieherische Aufgaben. Für die Söhne des Kurfürsten

35 Melanchthon an Johannes Agricola, MBW, Nr. 443 (1526 Mai 15). 36 Heyd, Ulrich (wie Anm. 6), 90. 37 Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 218, Bl.  11; Jacobs/Ukert, Beiträge, H.  5 (wie Anm. 22), 88. 38 Christina Meckelnborg/Anne-Beate Riecke, Georg Spalatins Chronik der Sachsen und Thüringer. Ein historiographisches Großprojekt der Frühen Neuzeit. (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, Bd. 4.) Köln u. a., 17–22; Dies., »Ein ander Buch in groen bergament eingebunden« – der vierte Band von Georg Spalatins Chronik der Sachsen und Thüringer, in: Hans-Joachim Kessler/Jutta Penndorf (Hrsg.), Spalatin in Altenburg. Eine Stadt plant ihre Ausstellung. Halle 2012, 103–132, hier 103. 39 Meckelnborg/Riecke, Spalatins Chronik (wie Anm. 38), 113–116, 275–287 und 407–494.

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Johann Friedrich übersetzte er 1538 den deutschen Fürstenspiegel seines Freundes Urban Rieger ins Lateinische.40 Luther schätzte Spalatin als fleißigen Übersetzer, obwohl er meinte, dass dieser den Worten seiner jeweiligen Vorlage sehr verhaftet geblieben sei.41 Dies wird auch an der deutschen Übersetzung der »Institutio principis Christiani« des Erasmus bemängelt, die Spalatin 1520 angefertigt haben muss und die im Jahr darauf in Augsburg gedruckt wurde.42 Genau wie die lateinische Vorlage ist diese Übersetzung mit einer Widmung an Karl V. versehen, denn sie war als Geschenk des sächsischen Kurfürsten im Vorfeld des Reichstags zu Worms gedacht: als Gefälligkeit und als Zeichen der Treue gegenüber dem christlichen Glauben und dem Heiligen Römischen Reich,43 gleichzeitig aber auch als Mahnung an den jugendlichen Kaiser. Damit steht die Übersetzung ganz in der Tradition der älteren Fürstenspiegel, die weniger als Lehrbücher für künftige Fürsten denn als Mahnung für Regenten gedacht waren. Spalatin verweist im Vorwort übrigens mit keinem Wort auf seine frühere Tätigkeit als Prinzen­ erzieher, sondern bezeichnet sich demütig als Kaplan und Diener des sächsischen Kurfürsten, dessen rechte Hand er geworden war. In seiner Lebensbeschreibung Friedrichs des Weisen erinnerte Spalatin daran, wie dieser seinen alten Lehrmeister, den Magister Ulrich Kemmerlin, stets in Ehren gehalten habe: Er habe diesen Mann in Spalatins Gegenwart mit höchsten Worten gelobt, an ihn Briefe schreiben und ihm Geschenke überbringen lassen.44 Der Neffe des Kurfürsten soll wiederum Spalatin hoch verehrt haben, obwohl er von diesem nur kurze Zeit unterrichtet worden war. Solches Lob entsprach sicher der allgemeinen Erwartung, dass sich Fürsten gegenüber ihren einstigen Lehrern dankbar zeigten. Wenn Kaiser Maximilian dieser Erwartung gerade nicht entgegenkam und in seiner lateinischen Autobiographie über seinen ehemaligen Lehrer Peter Engelbrecht klagte,45 musste es dafür einen triftigen Grund geben. Dieser kann darin gelegen haben, dass Maximilian tatsächlich einigen Groll gegen diesen Mann hegte. Die Darstellung war aber ebenso gut geeignet, den Lehrer als Vertreter eines überholten Bildungsideals hinzustellen.46 Verbreitet wurde diese Sicht allerdings erst in der späteren Geschichts40 Christiani principis et magistratus enchiridion. Magdeburg 1538; Höß, Spalatin (wie Anm. 24), 448; Singer, Fürstenspiegel (wie Anm. 2), Nr. 20a/b, 82–84. 41 WA BR 2, Nr. 355 (1520 November 29); Herding, Deutsche Gestalt (wie Anm. 13), 541. 42 Die unterweysung aines frummen und christlichen fürsten. Augsburg 1521; Herding, Deutsche Gestalt (wie Anm. 13), 538. 43 Ebd. 44 Neudecker/Preller, Nachlaß (wie Anm. 4), Bd. 1, 22 f. und 46. 45 Alwin Schultz (Hrsg.), Fragmente einer lateinischen Autobiographie Kaiser Maximilians  I., in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 6, 1888, 421–446, hier 425; bzw. Inge Wiesflecker-Friedhuber (Hrsg.), Quellen zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit/Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 14.) Darmstadt 1996, 34 f. 46 Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm. 1), 22.

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schreibung, denn die lateinische Autobiographie des Kaisers war in den Anfängen stecken geblieben und dann beiseitegelegt worden. Dass Fürsten gelegentlich an die Lehrer zurückdachten, denen sie in Jugend­ jahren anvertraut waren, mag kaum verwundern, besonders dann nicht, wenn sich mit dieser Zeit einprägsame Erlebnisse verbanden. Der genannte Ulrich Kemmerlin, gegenüber dem Friedrich der Weise sich so dankbar zeigte, war eigentlich der Lehrer von dessen jüngerem Bruder Albrecht gewesen. Dieser war 1480 noch im Knabenalter zum Koadjutor des Erzbistums Mainz bestimmt worden und hatte deshalb seinen Unterricht am Hof des Mainzer Erzbischofs fortsetzen müssen. Aus einem undatierten Briefentwurf, der in jene Zeit gehören muss, ist zu erfahren, dass seine Brüder gelegentlich bei ihm weilten und gemeinsam mit ihm unterrichtet wurden.47 Der Lehrer Ulrich Kemmerlin, der aus Österreich stammte, war einst über seinen Studienaufenthalt an der Universität Leipzig in den kursächsischen Hofdienst gelangt und mit Albrecht von Sachsen nach Mainz übergesiedelt.48 1482 wurde er mit einer Pfründe am Kollegiat­ stift in Aschaffenburg versorgt, nur wenige Wochen nachdem Albrecht zum Administrator des Erzbistums Mainz aufgerückt war. Dies kann als Geste großer Dankbarkeit verstanden werden, denn im Jahr zuvor hatte Kemmerlin seinen Schützling aus dem Schlaf gerettet, als nachts ein Feuer auf dem Mainzer Schloss ausgebrochen war.49 Zwischen einem Fürsten und seinem gelehrten Erzieher konnte durchaus eine dauerhafte Verbindung bestehen bleiben. Eine große Vertrautheit, vielleicht sogar eine wirkliche Freundschaft, entwickelte sich etwa zwischen dem Fürsten Georg von Anhalt und seinem Lehrer Georg Helt.50 Beide vollzogen gemeinsam und mit großer Vorsicht den schrittweisen Übergang vom alten Glauben zur lutherischen Lehre. Nachdem Helt gestorben war, setzten ihm die Fürsten von Anhalt ein steinernes Grabdenkmal, auf dem er dafür gepriesen wurde, seinen fürstlichen Herrn in die Welt der Wissenschaften eingeführt zu haben. Zudem sei er ein leuchtendes Vorbild im Glauben und bei Hof allseits beliebt gewesen.51 Mit diesem Grabdenkmal erfüllten die anhaltischen Fürsten gewissermaßen eine Forderung des Erasmus, der geschrieben hatte, dass niemandem

47 Stephan, Beiträge (wie Anm. 4), 30 und 34; Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm. 1), 347 f., Anhang Nr. 7. 48 Enno Bünz, Die Mainzer Residenz im ausgehenden Mittelalter. Ein unbekannter Augenzeugenbericht über den Brand der Martinsburg 1481, in: Mainzer Zeitschrift 105, 2010, 3–19, hier 13 f. 49 Mag. Ulrich [Kemmerlin] an Kurfürst Ernst von Sachsen (1481 März 3), abgedruckt bei: Bünz, Augenzeugenbericht (wie Anm. 48), 19. 50 Deutschländer, Georg Helt (wie Anm. 15). 51 Johann C. Beckmann, Historie des Fürstenthums Anhalt. Teil 3. Zerbst 1710, 360; Johann C. Hönicke, Urkundliche Merkwürdigkeiten aus der Herzoglichen Schloß- und Stadtkirche zu St. Maria in Deßau. Dessau 1833, 58 f.; Marie L. Harksen, Die Stadt Dessau. (Die Kunstdenkmale des Landes Anhalt, Bd. 1.) Burg bei Magdeburg 1937, 36, Nr. 43.

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ein größerer Anspruch auf solche Ehrungen zukäme als einem Fürstenerzieher, dem es nicht um den eigenen Nutzen, sondern um das Vaterland gegangen sei.52 Solch hohe Anerkennung für einen einzelnen Prinzenerzieher kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Gelehrte bei Hof in einer dienenden Stellung befanden, nachdem sie an der Universität große Freiheiten genossen hatten. Viele von ihnen klagten über das Hofleben, trotz all der Annehmlichkeiten, die es ihnen bringen mochte. Innerhalb kürzerer Zeit wechselten sie zwischen verschiedenen Höfen oder zwischen Hof und Stadt. Erhard Junius, Erzieher des Grafen Volrad von Mansfeld, wechselte zum Beispiel vom Mansfelder Schloss in den Haushalt des Rentmeisters in Stolberg53, nachdem er zwischenzeitlich in seine holsteinische Heimat zurückgekehrt war.54 Zuvor war er Schulmeister in Goslar gewesen.55 Sein Nachfolger in Mansfeld verließ den Grafenhof ebenfalls nach kurzer Zeit, so dass es hieß, der Graf könne Gebildete nicht lange in seiner Umgebung halten und müsse deshalb ermahnt werden.56 In der lateinisch-deutschen Spruchsammlung, die Alexius Krosner für Johann Friedrich von Sachsen zusammenstellte, finden sich zwei Sinnsprüche, die das Verhältnis zwischen Fürst und Diener auf ganz unterschiedliche Weise bestimmen. In dem einen werden die Fürstendiener mit Rechenpfennigen verglichen, weil diese mal für eine große, mal für eine kleine Geldsumme stehen können. Genauso würden die Fürsten ihre Diener nach Belieben mit mehr oder weniger Macht ausstatten.57 Der andere Spruch, der von einem italienischen Humanisten stammt, drückt dagegen die von vielen Gelehrten vertretene Auffassung aus, dass der Wert eines Menschen allein in seiner Tugendhaftigkeit liegt: »Wären der König und die Königin von Frankreich deine Eltern und hättest du keine Tugend in deinem Herzen, so wollte ich dich nicht höher achten, als wäre deine Mutter eine Bäuerin und dein Vater ein grober, unwissender Bauer.«58

Wenn ein Prinzenerzieher es also geschickt anstellte, konnte er jungen Fürsten über solche Merksprüche sogar Botschaften und Inhalte vermitteln, die höfische Normen in Frage stellten. Lassen wir uns abschließend auf ein Gedankenexperiment ein: Wenn ein Fürst um 1500 eine Stelle als Prinzenerzieher öffentlich ausgeschrieben hätte, um einen geeigneten Kandidaten zu finden, was hätte in einer solchen Ausschreibung gestanden? Gesucht worden wäre ein Mann mit Hochschulabschluss 52 Erasmus, Institutio (wie Anm. 10), 44 f. 53 Melanchthon an Wilhem Reiffenstein, MBW, Nr. 785 [1528 Mai]; Nr. 799 ([1529] Juni). 1536 findet sich ein Johannes Marcellus in dieser Stellung. MBW, Nr. 1685 [1536, Anfang Januar]. 54 Johannes Agricola an Luther und Melanchthon, MBW, Nr. 718 (1528 Oktober 23). 55 Melanchthon an Johannes Agricola, MBW, Nr. 443 (1526 Januar 15). 56 Melanchthon an Pancratius Sussenbach, MBW, Nr. 857 [1529/1530]. 57 HAAB Weimar, Sign. Q 13 [d], Bl. 22v f. Das Gleichnis ist dem altgriechischen Staatsmann Solon zugeschrieben. 58 HAAB Weimar, Sign. Q 13 [d], Bl. 48v f.; Antonio Urceo, genannt Codro, zugeschrieben.

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und guten Sprachkenntnissen, der idealerweise mit einer geistlichen Pfründe versorgt ist und einen tadellosen Lebenswandel pflegt. Dass die Bewerbung von Frauen völlig ausgeschlossen war, hätte sich von selbst verstanden, nicht zuletzt, weil junge Fürsten gerade zu dem Zeitpunkt in die Hände gelehrter Erzieher gegeben werden sollten, an dem sie der Obhut der Frauen entwachsen waren. Erfahrungen im Bereich der Erziehung und des Unterrichts, etwa als Präzeptor eines Studenten, als Hauslehrer oder Schulmeister, wären wünschenswert, aber keine notwendige Bedingung für die Anstellung gewesen, doch wäre es begrüßt worden, wenn der Bewerber dem Kreis der Freunde und Schüler eines namhaften Gelehrten angehört oder über verlässliche Fürsprecher bei Hof verfügt hätte. Erwartet worden wäre die ständige Bereitschaft, auch Aufgaben zu übernehmen, die nicht unmittelbar zur Tätigkeit als Erzieher gehörten, etwa als Schreiber, Übersetzer, Berater oder Unterhändler. Der erfolgreiche Kandidat hätte sich verpflichten müssen, der Herrschaft treu zu dienen, Schaden von seinen Zöglingen abzuwenden und Verschwiegenheit zu wahren. Sein Dienstvertrag wäre üblicherweise für die Dauer eines Jahres aufgesetzt worden, eine Verlängerung bzw. eine weitere Verwendung im Fürstendienst nicht ausgeschlossen. Zusätzlich zu seiner geistlichen Pfründe wären ihm ein bescheidener Jahressold sowie Unterkunft, Kleidung und Mahlzeiten am Hof zugesichert worden. Resümierend lässt sich sagen, dass eine Stelle als Erzieher vor allem solchen Männern einen Berufseinstieg bot, die gerade ihre Universitätsausbildung mit einem akademischen Grad abgeschlossen hatten und auf eine kirchliche oder akademische Laufbahn hofften. Gelehrte, die ein solches Profil aufwiesen, waren bei Hof mit Sicherheit keine Experten für die Ausübung von Herrschaft, sondern für die Frage, wie ein Fürst die Herrschaft führen konnte, ohne sein Seelenheil aufs Spiel zu setzen – dafür, wie er die Macht zu gebrauchen hatte, die ihm von Gott verliehen war, ohne zum Tyrannen zu werden. Gelehrte Prinzenerzieher waren zwar Experten am Hof, doch Experten des Hofes, das heißt Experten für die ganz eigenen Fragen der höfischen Lebenswelt, waren sie in der Regel nicht.

Benjamin Müsegades

Experten für Lehren und Latein Gelehrte Erzieher an reichsfürstlichen Höfen um 1500

Am 16. August 1532 starb der sächsische Kurfürst Johann. Nachfolger wurde sein Sohn Johann Friedrich. Dieser übernahm zusammen mit der Herrschaft über das Kurfürstentum auch die Verantwortung für die fürstliche Versorgungsfamilie.1 Eine der damit zusammenhängenden Aufgaben war die Vormundschaft über seinen elfjährigen Halbbruder Johann Ernst aus der zweiten Ehe Kurfürst Johanns.2 Herrscherwechsel sind im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit stets eine Möglichkeit, alte Rechte und Privilegien bestätigen oder erneuern zu lassen bzw. neue zu erlangen. An Johann Friedrich wandte sich brieflich der Erzieher von Johann Ernst, Lukas Edenberger, der angab, zu Lebzeiten Kurfürst Johanns das Versprechen über eine Erhöhung seines Solds erhalten zu haben. Edenberger führte aus, er habe sein Begehren am Torgauer Hof bereits mündlich vorgebracht und sei gebeten worden, das Anliegen schriftlich zu formulieren. Bevor er dies jedoch habe realisieren können, sei der alte Kurfürst gestorben.3 Ob 1 Zum Begriff der adeligen Versorgungsfamilie: Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel im Spätmittelalter 13.  bis Anfang des 16.  Jahrhunderts. 2.  Aufl. Stuttgart 2015, 390–393. Der Verfasser hat den von Spieß geprägten Begriff für seine eigene Studie zur reichsfürstlichen Erziehung und Ausbildung nutzbar gemacht, siehe: Benjamin Müsegades, Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichen Reich. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 47.) Ostfildern 2014, passim. 2 Zu Vormundschaften über minderjährige Reichsfürsten siehe für das Spätmittelalter: ebd., 39–47. Einen Fokus auf die Frühe Neuzeit legt vor allem am Beispiel der Landgrafschaft Hessen: Pauline Puppel, Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen ­1500–1700. (Geschichte und Geschlechter, Bd. 43.) Frankfurt a. M./New York 2004. 3 »Fur das alles ist mir ein geringer jarsolde bezalet, nemlich xl gulden, fur war meiner gehabten muh und arbeit unehrlich, auch meinen ehren nicht gleichformig, dann solcher solde mir jarlich den ehrn und teglicher notdurfft auß den henden gangen, so ich mer dann vormals zun hochzeiten und gevaterschafften gepeten […]. Sollichs mein anligende not hab ich vor iiii wuchen zu Torgau geklaget und lassen Meinem Gnedigen Hern seliger gedechtnis antragen, wurde ich geheissen mein begern inn schrifft stellen, solte mir ein gnedig antwurt widerfarn. Innerhalb der zeit hat Got der here Meinen Gnedigsten Hern zu sich gefordert, bin ich meiner zusagung beraubet, mir ward auch inn der vorgangen fasten Meines Gnedigsten Hern seiner gnaden gnedigen gunst und gnade durch den Rütesel angesaget, ich solte wider das beste thun wie vormals, wollten mich Seine Churfurstlichen Gnaden zu eim großen hern machen, mich mein lebenlang herlich und ehrlich versehen.«; Thüringisches Hauptstaatsarchiv (ThHStA) Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv (EGA), Reg. Rr 308, fol. 20v. Das nicht datierte Schreiben muss zwischen Mitte August und Mitte September

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die Geschichte mit der versprochenen Solderhöhung stimmt oder nicht, sei dahingestellt. Edenberger fühlte sich auf jeden Fall angehalten, seine Tätigkeit und seine Bedeutung für die Erziehung des kurfürstlichen Halbbruders Johann Ernst ausführlich darzustellen. Er inszenierte sich im Brief als Experte, genauer: als Kenner des Lateinischen und als guter Lehrer. Die Forderung nach höherem Sold untermauerte er mit dem Verweis auf die angeblichen Entbehrungen, die er im Rahmen seiner Tätigkeit habe erleiden müssen: »Wie wol ich ungern sollichs ampt anname […] dann weil ich dem fursten gedientt, hab ich mich selbs verderbet, dann mir mein leibskrafft nicht wenig geschwechet, von wegen gehabter muhe, […] sorgen, forcht, schrecken, vordencken, zorn, unlust zu horen und sehen, emsigem dinstwarten, stetem innligen, beraubung der gesellschaft. […] das ich einen christenlichen fursten inn gotsforcht und des nechsten liebe auffzuge, lateinischer sprach, art und weise wol underwise, sovil durch mein stet anhalten außgericht, das Mein Gnediger Her ein gut fundament kriegt, darauff man wol waß nutzlichs bauen möchte, wo Seine Gnaden nicht versaumpt oder darvon par les flateurs gezogen wurde. […] Ein furstlicher sohne ererbet land und leute von seinem hern vater, weisheit und geschicklicheit kan er nicht erben, er muß die durch lehrweisung entpfahen.«4

Der Brief Edenbergers stellt im Kontext der Fürstenerziehung um 1500 eine Besonderheit dar, sind Ego-Dokumente, die Aussagen zur höfischen Tätigkeit von gelehrten Erziehern enthalten, doch rar.5 Im Zusammenspiel von körperlichen und seelischen Entbehrungen, Lateinunterricht und dem Vermitteln von »weisheit und geschicklicheit« betonte der Erzieher die eigene Bedeutung für die Ernestiner. 1532 verfasst worden sein; siehe hierzu: Benjamin Müsegades, Karriere zwischen Universität, Hof und Bibliothek – Der kursächsische Erzieher Lukas Edenberger, in: Concilium medii aevi 16, 2013, 233–245, hier 238. Zur Biographie Edenbergers siehe: ebd.; sowie Ders., Edenberger, Lukas, in: Sächsische Biographie (saebi.isgv.de, abgerufen am 01.02.2017); zu seiner Tätigkeit als Bibliothekar in der Wittenberger Universitäts- und Schlossbibliothek: Heinrich Kühne, Lucas Edenberger und sein Bücherankauf für die Wittenberger Schlossbücherei, in: Marginalien 33, 1969, 15–28. 4 ThHStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv (EGA), Reg. Rr 308, fol. 20r–21r. 5 Als Ego-Dokumente werden im Folgenden Quellen bezeichnet, »in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig […] oder durch andere Umstände bedingt geschieht«; Winfried Schulze, Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«, in: Ders. (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 2.) Berlin 1996, 11–30, hier 21. Zu Ego-Dokumenten von gelehrten Fürstenerziehern und zur Begrifflichkeit siehe: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 136 f., insbes. Anm. 775. Zur Terminologie und zu der Unterscheidung der Begriffe Ego-Dokument und Selbstzeugnis für die Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte: Sabine Schmolinsky, Sich schreiben in der Welt des Mittelalters. Begriffe und Konturen einer mediävistischen Selbstzeugnisforschung. (Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, Bd. 4.) Bochum 2012, 15–71.

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Anders als bei Edenberger ist in vielen Fällen wenig mehr als der Name des Erziehers bekannt, der einen Fürsten unterwies. Die in den letzten Jahren vorangetriebene Forschung zur Adelserziehung und -ausbildung in der Übergangszeit vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit macht es jedoch mittlerweile möglich, die Rolle gelehrter Erzieher, der sogenannten Präzeptoren oder Zuchtmeister, in der höfischen Gesellschaft auf einer soliden Quellenbasis in den Blick zu nehmen.6 Zugrunde gelegt werden den folgenden Überlegungen die im Göttinger Graduiertenkolleg »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts« entwickelten Instrumentarien. Anhand der Parameter, die Frank Rexroth aufgestellt hat, wird untersucht, inwiefern die gelehrten Fürstenerzieher als Experten zu begreifen sind. Als Experte wird ein »soziale[r] Rollentypus, der sich durch die Verheißung passgenauen Wissens in einer bestimmten Kommunikationssituation auszeichnet«, verstanden.7 Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Frage nach der Stellung der Präzeptoren und der Rolle, die sie mit ihrem Sonderwissen einnahmen. Zuerst wird untersucht, wie die gelehrten Erzieher an den Hof gelangten. Anschließend wird zu analysieren sein, auf welche Art und Weise sie ihr Wissen vermittelten. Zum Abschluss wird in den Blick genommen, wie die höfische Gesellschaft auf die Erzieher und ihr Sonderwissen reagierte.8 Für die Untersuchung der genannten Bereiche ist es notwendig, vorab einen Blick auf die Fürstenerziehung und -ausbildung um 1500 und die untersuchten Personen zu werfen. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts etwa lässt sich bei Fürsten im Reich flächendeckend die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben in der Volkssprache nachweisen. Nachdem über Jahrhunderte hinweg die gelehrten Beschwerden über nicht literate Fürsten weitestgehend folgenlos verhallt waren, fand um 1450 ein Umdenken statt. Fürsten erwarben nicht nur die Fähigkeit, in der Volkssprache zu lesen und zu schreiben, sondern erlernten auch Latein. Unterrichtet wurden sie in dieser Sprache von den bereits erwähnten Präzeptoren. Neben diesen gab es noch eine je nach Fürst und Hof variierende Zahl weiterer Lehrpersonen, etwa Fechtmeister. Von besonderer Bedeutung waren die adeligen Erzieher, die sogenannten Hofmeister, denen auch die Aufsicht über 6 Die Ausführungen in diesem Beitrag greifen einige Ergebnisse der Dissertation des Autors zu gelehrten Erziehern auf (Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), insbes. 158– 191). Für die Thematik ebenfalls von besonderer Relevanz ist: Gerrit Deutschländer, Dienen lernen, um zu herrschen. Höfische Erziehung im ausgehenden Mittelalter (1450–1550). (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bd. 6.) Berlin 2012. Als Fallstudie zur Rolle gelehrter Erzieher am kurpfälzischen Hof in Heidelberg siehe auch: Benjamin Müsegades, Gelehrte Erzieher am spätmittelalterlichen Heidelberger Hof, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 19, 2015, 11–24. 7 Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich/Ders./Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (HZ , Beih. N. F. 57) München 2012, 12–40, hier 22. 8 Zum Sonderwissen der vormodernen Experten: Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm. 7), 22 f., 28–30, 34.

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den Hofstaat des jeweiligen jungen Fürsten oblag. Zusätzlich zu Latein erwarb ein Fürst neben religiösem auch adeliges Wissen. Dieses umfasste das Wissen um das richtige Verhalten am Hof, Herrschaftswissen sowie die Ausbildung körperlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die einzelnen Wissensbereiche lassen sich nicht in allen Fällen klar voneinander abgrenzen; sie überschneiden sich vielfach.9 Einer der Höfe, an denen sich die Tätigkeit gelehrter Erzieher um 1500 besonders gut nachverfolgen lässt, ist der kurfürstliche Hof der ernestinischen Herzöge von Sachsen. Am ehesten fassbar sind die drei Präzeptoren der beiden Söhne Herzog Johanns, Johann Friedrich und Johann Ernst. Johann Friedrich, der spätere Kurfürst, wurde von 1509 bis 1510 von Georg Spalatin unterwiesen. Wesentlich länger, von 1512 bis 1519, war Alexius Krosner als Lehrer des Fürsten tätig. Für Johann Ernst ist im Zeitraum von 1528 bis 1539 der eingangs erwähnte Lukas Edenberger als Erzieher nachweisbar.10 Diese drei Präzeptoren sind die Protagonisten dieses Beitrags, an deren Beispiel sich die Rolle von gelehrten Erziehern um 1500 exemplifizieren lässt.

I. Der Weg an den Hof Geht man Frank Rexroths Frage, »wie sich die Studierten abseits der Universitäten, denen sie ihre Expertise verdankten, der Außenwelt präsentierten und welche Botschaft sie dabei kommunizierten«,11 nach, muss für die gelehrten Erzieher zuerst untersucht werden, wie sie an den jeweiligen Hof kamen. Alle drei in diesem Beitrag untersuchten Präzeptoren hatten einen seit dem 15. Jahrhundert schon klassischen Karriereweg zum Fürstenerzieher hinter sich.12 Sie hatten an nahegelegenen Universitäten den Grad eines Artistenmagisters erworben; Spalatin und Edenberger an der ernestinischen Landesuniversität in Wittenberg und Alexius Krosner in Leipzig.13 Vor der Promotion bzw. an die Promotion anschließend hatten sie – modern gesprochen – erste Berufserfahrungen gesam9 Siehe hierzu ausführlich: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), insbes. 1–5 (illi­ terate Fürsten), 133–208 (personelles Umfeld), 209–255 (Wissensbereiche). 10 Zu den einzelnen Tätigkeitszeiträumen mit weiterführender Literatur siehe: Georg Mentz, Johann Friedrich der Großmütige 1503–1554. 3 Bde. Jena 1903–1908, hier Bd. 1. Johann Friedrich bis zu seinem Regierungsantritt 1503–1532. (Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens, Bd.  1/1.) Jena 1903, 3–9 (Georg Spalatin und Alexius Krosner); Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 184, Anm. 1047 (Lukas Edenberger). Siehe zum Thema auch den Beitrag von Gerrit Deutschländer in diesem Band. 11 Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. (Freiburger Mediävistische Vorträge, Bd. 1.) Basel 2008, 38; hierzu auch: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 8. 12 Zu Karrierewegen von Präzeptoren junger Fürsten: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 158–170. 13 Siehe die Übersicht bei: ebd., 164.

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melt. Georg Spalatin war als Lehrer im Kloster Georgenthal tätig gewesen, während Alexius Krosner als Präzeptor einen jungen Niederadeligen unterwiesen hatte.14 Lukas Edenberger hatte während der Frühphase der Reformation dem Eislebener Superintendenten Johannes Agricola bei Schreib- und Übersetzungsarbeiten geholfen.15 Alle drei hatten also ihr universitär und möglicherweise schulisch erworbenes Wissen bereits in einem außeruniversitären Kontext anwenden und unter Beweis stellen können, bevor sie als Fürstenerzieher bestallt wurden. Während all dieser Tätigkeiten spielte die Anwendung bzw. Vermittlung des Lateinischen eine besondere Rolle. Wie die drei späteren Erzieher nach dem Studium eine Stellung zu finden, war nicht selbstverständlich. Der »Arbeitsmarkt« für die Absolventen der Artisten­fakultäten im Reich wurde Ende des 15.  Jahrhunderts immer enger. Auch wenn nach wie vor ein Großteil der eingeschriebenen Studenten keinen Abschluss erwarb, waren doch junge Männer mit dem Grad eines »magister artium« keinesfalls eine Seltenheit.16 Die hohen Stellungen innerhalb der territorialen Funktionseliten waren ihnen versperrt. Diese Positionen als Rat oder Amtmann wurden um die Wende zum 16. Jahrhundert immer noch von den Adeligen oder auch von den Absolventen der drei höheren universitären Fakultäten besetzt.17 Um an eine Stelle als Lehrer oder Stadtschreiber zu gelangen, 14 Otto Clemen, Alexius Crosner. Herzog Georgs von Sachsen evangelischer Hofprediger. Leipzig 1908, 2; Irmgard Höss, Georg Spalatin 1484–1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation. 2. Aufl. Weimar 1989, 27–41; Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm. 6), 300 f., 304 f. 15 Gustav Kawerau, Johann Agricola von Eisleben. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte. Berlin 1881. (Nachdruck: Hildesheim 1977), 36; Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 234. Lukas Edenberger behauptete zudem, an Martin Luthers Übersetzung des Alten Testaments ins Deutsche beteiligt gewesen zu sein; hierzu: Walther Friedensburg, Die Anstellung des Flacius Illyricus an der der Universität Wittenberg, in: ARG 11, 1914, 302–309, hier 303; Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 241. 16 Hierauf verweist: Rainer C. Schwinges, Zur Professionalisierung gelehrter Tätigkeit im deutschen Spätmittelalter, in: Hartmut Boockmann u. a. (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bd. 2, Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1996 bis 1997. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Bd. 3/239.) Göttingen 2001, 473–493, hier 476–477; siehe auch: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 159. 17 Zu den Funktionseliten der spätmittelalterlichen Reichsfürstentümer siehe: Christian Hesse, Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 70.) Göttingen 2005; Rainer A. Müller, Zur Akademisierung des Hofrats. Beamtenkarrieren im Herzogtum Bayern 1450–1650, in: Rainer C. Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. (ZHF, Beih. 18.) Berlin 1996, 291–307. Adelige Fürstenerzieher, die sogenannten Hofmeister, und ihre Karrierewege innerhalb der jeweiligen regionalen Funktions­ eliten sind untersucht bei: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 134–157.

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musste ein Artistenmagister im Normalfall in das personelle Netzwerk um die jeweilige Institution herum eingebunden sein.18 Dies war zumindest bei zwei der untersuchten Erzieher nicht anders. Georg Spalatin und Lukas Edenberger hatten bereits in der ernestinischen Residenzstadt Wittenberg studiert. Sie profitierten zudem von der Nähe ihrer jeweiligen Förderer zum Hof. Spalatins Unterstützer Konrad Mutian war mit dem sächsischen Kanzler bekannt.19 Als­ Lukas Edenberger im Jahr 1532 den bereits eingangs erwähnten Brief an Kurfürst Johann Friedrich schrieb, nahm er auch auf seine fast vier Jahre zuvor erfolgte Bestallung als Präzeptor Bezug: »auff Michaelis kunfftig werdents iiii jare, das ich, Lucas Edenberger, von meinen lieben herren und brüderen, Doctor Martino und Magister Philippo allhie zu eim lehrmeister meines gnedigen hern Herzog Hans Ernstenn etc. berufft und presentiert, zu Weimar von meinem gnedigsten Hern seliger gedechtnuß angenommen und angetreten.«20

Mit »Doctor Martino« und »Magister Philippo« sind Martin Luther und Philipp Melanchthon gemeint. Der Präzeptor verortete sich in seinem Schreiben also im innersten Zirkel der Wittenberger Reformation. Edenberger war tatsächlich von den beiden Reformatoren protegiert worden. So hatte Philipp Melanchthon dem sächsischen Kanzler Gregor Brück Edenberger in einem Brief als Fürstenerzieher vorgeschlagen. Eine ähnliche schriftliche Empfehlung Luthers ist nicht belegt, jedoch lässt sich Edenberger zumindest in seinem Umfeld nachweisen.21 Durch die Nennung der beiden Reformatoren dürfte der Erzieher wohl vor allem versucht haben, seine eigene Bedeutung zu betonen. 18 Martin Kintzinger, Scholaster und Schulmeister. Funktionsfelder der Wissensvermittlung im späten Mittelalter, in: Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich (wie Anm.  17), ­349–374, hier 350. Kintzinger geht davon aus, dass neben der Graduierung und der Herkunft vor allem die Einbindung in die jeweiligen Klientelverhältnisse von entscheidender Bedeutung war. Zu Stadtschreibern und ihren Karrieremustern siehe etwa die Fallstudie von: Peter Hoheisel, Die Göttinger Stadtschreiber bis zur Reformation. Einfluß, Sozialprofil, Amtsaufgaben. (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen, Bd. 21.) Göttingen 1998, 105–185. 19 Höss, Georg Spalatin (wie Anm. 14), 38–39. Zu Mutian siehe mit weiterführender Literatur: Fidel Rädle, Mutianus Rufus, Conradus, in: Deutscher Humanimus. 1480–1520. Verfasserlexikon. Bd. 2, 377–400. 20 ThHStA Weimar, EGA , Reg. Rr 308, fol.  20r; siehe auch: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 238, Anm. 31. 21 »De instituendo filio illustrissimi Principis scripsi, quid mihi videatur, et locutus sum cum magistro Luca, ut se ad eam rem paret. Is pollicetur se voluntati Principis libenter obtemperaturum esse. Vir est singulari humanitate et ›suavitate ingenii‹ praeditus«; Philipp Melanchthon an Gregor Brück, 18.  Mai  1528, in: Heinz Scheible (Hrsg.),­ Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Bd. 3, Texte 521–858 (1527–1529). Stuttgart/Bad Canstatt 2000, Nr. 680, 315; zur Beziehung Edenbergers zu Melanchthon und Luther mit weiteren Belegen: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 234, 241.

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Nur selten sind zur Berufung gelehrter Erzieher so ausführliche Belege überliefert, wie dies für Lukas Edenberger der Fall ist. Die Auswahl einzelner Personen und die Kriterien hierfür haben meist weder in der höfischen noch in der gelehrten Überlieferung Spuren hinterlassen.22 Im Fall Georg Spalatins findet sich nur ein Hinweis darauf, dass es mehrere Kandidaten für die Stelle des Erziehers gegeben haben könnte. Spalatins Förderer Konrad Mutian schrieb 1508 freudig: »Multi erant candidati; repulsi sunt.«23 Wer diese anderen Bewerber waren und nach welchen Kriterien sie abgelehnt wurden, bleibt unklar. Deutlich wird am Beispiel Spalatins und Edenbergers, dass vor allem persönliche Verbindungen den Weg in das Amt des Fürstenerziehers ebneten.24 Sonderwissen, vor allem Kenntnisse der lateinischen Sprache, besaßen die Präzeptoren, aber dieses allein qualifizierte sie noch nicht für die Bestallung als gelehrte Erzieher. Ihre Fähigkeiten mussten noch durch andere Personen bezeugt werden, die ihnen die Fähigkeit zuschrieben, für die Tätigkeit geeignet zu sein.

II. Sonderwissen Alle drei Erzieher vermittelten den jungen Fürsten, die sie unterwiesen, vor allem die lateinische Sprache. Obwohl diese zu Beginn des 16. Jahrhunderts etablierter Bestandteil des fürstlichen Erziehungs- und Ausbildungskanons war, gab es auch am kursächsischen Hof nach wie vor kritische Stimmen, die die Relevanz der alten Sprache für einen Fürsten in Frage stellten. Martin Luther behauptete noch in den 1530er Jahren, Adelige und Juristen sähen es kritisch, dass ein Fürst Latein lernte, da dieser dann nicht mehr ihrer Expertise bedürfe.25 Möglicherweise wegen dieser höfischen Kritik an gelehrter Bildung erklärte Lukas Edenberger in einer wohl vor Antritt seiner Tätigkeit 1528 entworfenen Erziehungsordnung für Herzog Johann Ernst ausführlich die Inhalte und Ziele

22 Siehe: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 158–170. 23 Konrad Mutian an Herebord von der Marthen, [kurz vor Michaelis 1508], in: Karl Gillert (Hrsg.), Der Briefwechsel des Conradus Mutianus. Bd. 1. (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Bd. 18/1.) Halle 1890, Nr. 105, 147; hierzu auch: Höss, Georg Spalatin (wie Anm. 14), 40. 24 Siehe hierzu auch Beispiele von anderen reichsfürstlichen Höfen bei: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 158–170. 25 »Wenn ein Fürst die lateinische Sprache lernet und studiret, so fürchten die vom Adel und Rechte, er werde ihnen zu gelehrt und zu klug, und sagen: ›Potz marter etc. Was? will E. F. Gn. ein Schreiber werden? E. Gn. müssen ein regierender Fürst werden, müssen weltliche Händel lernen, und was zur Reuterey und zum Kriege gehört, damit Land und Leute geschützt und erhalten werden etc.‹ das ist, ein Narr bleiben, den wir mögen mit der Nasen umherführen, wie einen Bär«; Tischreden Doct. Mart. Luthers von Edelleuten, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 6, Tischreden. (wie Anm. 45) Weimar 1921, Nr. 7009, 324; siehe zum Kontext der Tischrede zusammenfassend: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 1.

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seines Unterrichts.26 Adressat der Ordnung dürfte Kurfürst Johann Friedrich selbst bzw. dessen Kanzler gewesen sein. Wie auch bereits in dem mehrfach erwähnten Brief Edenbergers gesehen, verortete sich der Erzieher in dieser Ordnung im inneren Kreis der Wittenberger Reformation und bezog sich explizit auf seinen Förderer Melanchthon, indem er erwähnte, dass dieser Musik als Erziehungsinhalt befürwortete.27 Sonderwissen alleine reichte nicht aus; es musste durch eine Autorität abgesichert werden. Außer auf Melanchthon verwies er zudem auf Platon und Aristoteles.28 Den Unterricht selbst wollte Edenberger inhaltlich in drei große Bereiche unterteilen: »Gimnastica«, »Musica« und »Grammatica«.29 Unter »Grammatica« verstand Edenberger die Vermittlung von Schreibe- und Lesekenntnissen sowie die Beschäftigung mit Poeten und Historien. Ungewöhnlich ist, dass er unter dem Aspekt der »Gimnastica« auch einen Bereich in die Erziehung und Ausbildung integrieren wollte, der im Mittelalter noch Fechtmeistern oder den adeligen Hofmeistern vorbehalten gewesen war.30 Nach Edenberger sollte dieser Bereich unter anderem Schießen und Ringen umfassen.31 Möglicherweise war der Erzieher darum bemüht, Kritik an einem zu sehr auf gelehrte Aspekte fokussierten Unterricht vorzubeugen. Edenberger unterteilte den Tag genau und räumte den einzelnen Unterrichtsbereichen jeweils ausreichend Platz ein.32 Er war darum bemüht, sich als die geeignete Person für das Amt des Fürstenerziehers darzustellen, indem er »passgenaues Wissen« verhieß und sich als Experte inszenierte. 26 ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 351, fol. 2r–3r. Zur Datierung und zu dem Entstehungskontext der Erziehungsordnung: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 236–238. Eine ähnliche Ordnung hat sich für den Aufenthalt Herzog Philipps I. von Pommern am kurpfälzischen Hof in Heidelberg erhalten; siehe den Abdruck bei: Martin Wehrmann, Von der Erziehung und Ausbildung pommerscher Fürsten im Reformations-Zeitalter, in: AKG 1, 1903, 265–283, hier 268–270; erneut abgedruckt bei: Ders., Der junge Herzog Philipp von Pommern am Hofe des Kurfürsten Ludwig V. (1526–1531), in: Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der rheinischen Pfalz 8, 1910, 72–84, hier 73–75. Zu dieser Erziehungsordnung siehe die Ausführungen bei: Dörthe Buchhester, Gelehrtes Frauenzimmer. Die Erziehung pommerscher Fürstensöhne um 1500, in: Das Mittelalter 17/1, 2012, 139–149; sowie bei: Benjamin Müsegades, auch zum pesten underweissen – Herzog Philipp I. von Pommern und sein Erzieher Sigismund Stier am Heidelberger Hof (1526–1531), in: Baltische Studien N. F. 101, 2015, 67–91. 27 »Ich achte auch mit Magister Philipp Melanchthon, das musica nit die geringste gabe sey, vonn got den menschenn zur freude unnd trost gegebenn«; ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 351, fol. 2v; hierzu auch: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 237, Anm. 25. 28 ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 351, fol.  2r; hierzu auch: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 236. 29 ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 351, fol. 2r. 30 Zur Unterweisung junger Fürsten durch Hof- und Fechtmeister: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 216–220. 31 »allerley ubung des leibs, nemlich schiessenn, werffenn, ballenn, ringenn, springenn, rennen, lauffenn, fechtenn«; ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 351, fol. 2v; Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 236. 32 Siehe für den geplanten Tagesablauf Johann Ernsts ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 351, fol. 3r; Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 237.

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Abb. 1: HAAB Weimar, Q 13d, fol. 2v, Handschrift für den Unterricht Herzog Johann Friedrichs von Sachsen (Hand Alexius Krosners).

Wie genau vermittelten die gelehrten Experten ihr Sonderwissen? Der seit 1513 als Erzieher des späteren Kurfürsten Johann Friedrich tätige Alexius ­Krosner unterwies seinen Zögling nicht nur im Lateinischen, sondern auch in den Grundlagen der griechischen Sprache. In einer heute in der Herzogin-AnnaAmalia-Bibliothek in Weimar liegenden Schulhandschrift Johann Friedrichs begründete er dies im Vorwort: »Cum maxime latinae literae […] a graeco fluant fonte: et nemo latinus fiat optimus […] qui graeca prorsus erudicione careat.«33 33 Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek (HAAB) Weimar, Q 13d, fol. 2v–3r; Abdruck bei: Johann G. Müller, Die iugendliche Geschichte des verewigten Churfuersten und Herzogs zu Sachsen Herrn Johann Friedrichs des großmuethigen. Jena 1765, 36; siehe auch: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 245.

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Die Schulhandschrift enthält sowohl Eintragungen Krosners als auch Johann Friedrichs. Wie groß der Leserkreis der Schrift war, ist unklar.34 Johann Friedrich zumindest dürfte sie gelesen haben. Ob dessen Lateinkenntnisse gut genug waren, die Ausführungen Krosners zu verstehen, ist schwer nachweisbar.35 Ablesen lässt sich an den einführenden Worten, dass der Erzieher darum bemüht war, die intendierten Unterrichtsinhalte zumindest gegenüber seinem Schüler zu begründen. Begonnen wurde die Handschrift spätestens 1513. Da sich keinerlei Streichungen oder Einschübe finden, ist es wahrscheinlich, dass Texte, die zuvor in Konzeptform vorlagen, in die Handschrift eingetragen wurden. Nachweisen lassen sich zwei Hände: Eine der beiden ist Alexius Krosner zuzuordnen, die andere dürfte diejenige Johann Friedrichs sein.36 Es ist unwahrscheinlich, dass sich in der Schulhandschrift Johann Friedrichs dessen gesamter Unterricht widerspiegelt. Nichtdestotrotz handelt es sich um eine Quelle, die sowohl Aufschluss über die Norm als auch über die Praxis des fürstlichen Latein- und auch des Griechischunterrichts zu geben vermag. Zentral für die Unterweisung des späteren Kurfürsten war die Vermittlung sogenannter Merkverse. Auf den ersten Seiten wurden nach einem kurzen Überblick über die Vokale und Diphthonge des Griechischen einige griechische Zitate mit darunter stehender lateinischer und deutscher Übersetzung eingetragen.37 Wesentlich umfangreicher ist der darauffolgende Abschnitt. Auf der linken Seite der aufgeschlagenen Handschrift (Versoseite) wurde jeweils der lateinische Merkvers und auf der rechten Seite (Rectoseite) die volkssprachliche Übersetzung eingetragen.38 34 Zur Schulliteratur des Spätmittelalters siehe: Klaus Grubmüller (Hrsg.), Schulliteratur im späten Mittelalter. (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 69.) München 2000; Ulrike Bodemann, Lateinunterricht im Mittelalter: Beobachtungen an Handschriften, in: Das Mittelalter 2/1, 1997, 29–46. 35 Zu fürstlichen Lateinkenntnissen um 1400 siehe: Wolfgang E. Wagner, Princeps litteratus aut illiteratus? Sprachfertigkeiten regierender Fürsten um 1400 zwischen realen Anforderungssituationen und pädagogischem Humanismus, in: Fritz P. Knapp/Jürgen Miethke/ Manuela Niesner (Hrsg.), Schriften im Umkreis mitteleuropäischer Universitäten um 1400. Lateinische und volkssprachliche Texte aus Prag, Wien und Heidelberg: Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Wechselbeziehungen. (Education and Society in the Middle Ages and the Renaissance, Bd. 20.) Leiden/Boston 2004, 141–177; zum 15. und frühen 16. Jahrhundert siehe: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 228–245. 36 Abbildung  1 (HAAB Weimar, Q 13d, fol.  2v) zeigt die Handschrift Alexius Krosners. Zum Abgleich wurde die von ihm besorgte volkssprachliche Übersetzung der Mildenfurther Annalen (ThHStA Weimar, F 865) herangezogen; zu diesem Text: Paul Vetter, Zu Alexius Krosners Lebensgeschichte, in: NASG 33, 1912, 332–340, hier 333 f. Abbildung 2 (HAAB Weimar, Q 13d, fol. 18r) zeigt wahrscheinlich die Handschrift Johann Friedrichs. Zur Zuordnung der Hände in der Schulhandschrift auch: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 215, Anm. 1239. 37 HAAB Weimar, Q 13d, fol. 8v–17r, 19r–20v. Vgl. zu Merkversen auch den Beitrag von Gerrit Deutschländer in diesem Band. 38 HAAB Weimar, Q 13d, fol. 17v–18r, 21v–88r. Ausführlich zum Inhalt der Handschrift: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 215, 231 f., 235, 246.

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Abb. 2: HAAB Weimar, Q 13d, fol. 18r, Handschrift für den Unterricht Herzog Johann Friedrichs von Sachsen (wahrscheinlich Hand Herzog Johann Friedrichs).

Inhaltlich berühren die kurzen Sprüche meist moralisch-ethische Fragen des fürstlichen Daseins. So notierte Johann Friedrich einen dem römischen Autor Juvenal zugeschriebenen Satz, übersetzt als: »Adel ist allayn und aynige tugent«.39 Merkverse waren ein zentraler Bestandteil des vorreformatorischen Lateinunterrichts.40 Insofern verwundert es nicht, dass Alexius Krosner diese auch in den Unterricht Johann Friedrichs integrierte. In Krosners Ansatz manifes39 »Nobilitas sola est atque unica virtus«; HAAB Weimar, Q 13d, fol. 46v–47r; Juvenal, Satiren 8, 20 (Wendel Vernon Clausen (Hrsg.), A. Persi Flacci et D. Ivni Ivvenalis Saturae. Oxford 1992, 106). 40 Siehe hierzu mit weiterführender Literatur: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 234.

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tiert sich der von humanistischer Seite propagierte Anspruch, Fürsten durch die Unterweisung in der lateinischen Sprache und durch die Beschäftigung mit den Werken der Antike zu besseren Herrschern und Menschen zu formen.41 Auch andere Abschnitte in der Schulhandschrift Johann Friedrichs weisen in diese Richtung. Vermittelt werden sollte dem Fürsten ein didaktisch reduziertes Wissen. Das Versprechen »passgenauen Wissens« wurde eingelöst. Nicht allen Erziehern sollte dies jedoch gelingen. Der Wittenberger Professor Christoph Scheurl etwa behauptete in einem Brief an Spalatin, dieser habe seinen Unterricht nicht altersgerecht durchgeführt.42 Die Methodik des fürstlichen Lateinunterrichts lässt sich für den kursächsischen Hof nicht nur an der Schulhandschrift Johann Friedrichs, sondern auch am Beispiel Lukas Edenbergers und Herzog Johann Ernsts zumindest partiell rekonstruieren. In dem eingangs erwähnten Brief Edenbergers legte dieser dar, dass ein junger Fürst in der Lage sein müsse, auf Latein und Deutsch zu schreiben und in die jeweils andere Sprache zu übersetzen sowie einen Text zusammenzufassen.43 Lateinische Übungsbriefe junger Fürsten sind im Reich vor allem für das 16.  Jahrhundert überliefert. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Schreiben im Normalfall vom jeweiligen Lehrer entsprechend bearbeitet wurden, waren sie doch ein Ausweis des fürstlichen Lernerfolgs bzw. -misserfolgs.44 Ein lateinischer Brief aus der Hand Herzog Johann Ernsts ist nicht überliefert, auch wenn ein solcher in einer Tischrede Martin Luthers erwähnt wird.45 Erhalten hat sich jedoch ein volkssprachlicher Übungsbrief Johann Ernsts aus dem Jahr 1538 (heute im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar).46 Der junge Wettiner fasst darin die Vita des persischen Königs Artaxerxes aus der 41 Zum humanistischen Anspruch an die fürstliche Erziehung und Ausbildung: ebd., 1–5. 42 Siehe den Brief vom 21. Oktober 1511 in: Franz Freiherr von Sooden/Karl Knaake (Hrsg.), Christoph Scheurl’s Briefbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und ihrer Zeit. Bd. 1, Briefe von 1505–1516. Potsdam 1867, Nr. 55, 80; hierzu auch: Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm. 6), 302; Höss, Georg Spalatin (wie Anm. 14), 43; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 242. Der kursächsische Hof wird in dem Schreiben nicht explizit genannt, jedoch ist davon auszugehen, dass Scheurl auf Spalatins Zeit als kursächsischer Fürstenerzieher rekurriert, da der Brief auf Spalatins Bestallung als Erzieher der Herzöge Otto und Ernst von Braunschweig-Lüneburg Bezug nimmt. 43 »[D]as man Seine Gnaden lerne beyde lateinisch und teutsch dichten und transferieren, ein sache und meinung kurtzlich verfasse«; ThHStA Weimar, EGA , Reg. Rr 308, fol. 21r. 44 Eine ausführliche Studie zu dieser Thematik fehlt bisher. Siehe allerdings programmatisch am Beispiel von zwei Briefen der Herzöge von Pommern: Boris Dunsch, Zur Fürstenerziehung in der Reformationszeit. Zwei lateinische Kinderbriefe Bogislaws und Ernst Ludwigs an ihren Vater Philipp I. (1557), in: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 36, 1996, 49–61; zur Thematik auch: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 238 f. 45 »Es hatt mir mein szon ein lateinische Epistel geschrieben«; Karl Wrampelmeyer (Hrsg.), Tagebuch über Dr. Martin Luther. Geführt von Dr. Conrad Cordatus 1537. Halle 1885, Nr. 1609, 435; D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3, Tischreden. (vgl. Anm. 25) Weimar 1914, Nr. 3266a, 241; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 238. 46 ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 379, fol. 3r–3v.

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Vitensammlung des Plutarch zusammen. Die Streichungen im Text und die Einschübe an der Seite verdeutlichen, dass der Fürst wohl keinen vorgefertigten Brief abschrieb.47 Erneut wird zudem deutlich, dass die gelehrten Erzieher darum bemüht waren, den fürstlichen Schüler mit Beispielen antiker Herrscher zu konfrontieren, die als Vorbilder bzw. abschreckende Beispiele für eigenes Regierungshandeln dienen sollten. Nach diesem Blick auf die Vermittlung und Präsentation von Sonderwissen soll nunmehr gefragt werden, wie die Erzieher am Hof aufgenommen und behandelt wurden. Problematisch bei einer solchen Betrachtung ist, dass sich vor allem Quellen zur Perspektive der gelehrten Erzieher und ihres Umfelds erhalten haben, während sich Aussagen von höfischer Seite zu den einzelnen Präzeptoren im Reich kaum finden lassen.48 Der große Vorteil des kursächsischen Hofes ist diesbezüglich die seit dem 15. Jahrhundert vorliegende umfangreiche Rechnungsüberlieferung.49 Diese erlaubt es, die Stellung Spalatins, Krosners und Edenbergers innerhalb des höfischen Besoldungsgefüges einzuordnen. Georg Spalatin sollte jährlich 20 Gulden erhalten.50 Sein Nachfolger Alexius Krosner bekam im Jahr 1514 mit 52 Gulden schon mehr als das Doppelte.51 Lukas Edenberger bezog möglicherweise bereits 80 Gulden.52 Mit dieser Bezahlung standen jedoch zumindest Spalatin und Krosner innerhalb des höfischen Besoldungsgefüges noch weit hinter anderen Graduierten zurück.53 Allerdings muss berücksichtigt 47 Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 238. Artaxerxes II . regierte von 405/4 bis 359/8 v. Chr.; siehe zu ihm: Amélie Kuhnt/Heleen Sancisi-Weerdenburg, Artaxerxes, in: DNP 2, 1997, 47 f. Zu seiner Darstellung in der Vitensammlung des Plutarch: Carsten Binder, Plutarchs Vita des Artaxerxes. Ein historischer Kommentar. (Göttinger Forum für Altertumswissenschaft, Beih. N. F. 1.) Berlin u. a. 2008. 48 Hierauf verweist am Beispiel fürstlicher Sprachkenntnisse um 1400 bereits: Wagner, Princeps litteratus (wie Anm.  35), 147, 177; zur Quellenproblematik auch: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 158, 183. 49 Die Rechnungsüberlieferung des kursächsischen Hofes ist ausgewertet bei: Uwe Schirmer, Kursächsische Staatsfinanzen (1456–1656). Strukturen – Verfassung – Funktionseliten. (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, Bd. 28.) Stuttgart 2006. 50 »Acciepiet quotannis statam mercedem XX aureos«; Konrad Mutian an Herebord von der Marthen, [kurz vor Michaelis 1508]; Gillert, Briefwechsel des Conradus Mutianus. Bd. 1 (wie Anm. 23), Nr. 105, 147; siehe auch: Höss, Georg Spalatin (wie Anm. 14), 40; Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm. 6), 301; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 177. 51 Siehe dazu den Abdruck der Verschreibung Herzog Johanns von Sachsen für Alexius Krosner vom 15. Juli 1514 bei: Paul Vetter, Zur Geschichte Alexius Krosners, in: NASG 30, 1909, 140–144, hier Anhang Nr. 1, 142. Zur Entwicklung von Krosners Besoldung: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 177. 52 Edenberger nannte in seinem Brief an Johann Friedrich aus dem Jahr 1532 einen jährlichen Sold von 40 Gulden, siehe ThHStA Weimar, EGA , Reg. Rr 308, fol. 20v; hierzu auch: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 239. Die Frage, ob der Präzeptor ab spätestens 1534 80 Gulden jährlich erhielt, ist diskutiert: ebd., 240. 53 Edenberger hätte allerdings mit 80 Gulden jährlichem Sold etwa so viel erhalten wie ein promovierter Jurist; zur Besoldung der Graduierten am kursächsischen Hof siehe: Schirmer, Kursächsische Staatsfinanzen (wie Anm. 49), 457; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 179.

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werden, dass die Tätigkeit als Fürstenerzieher für die meisten Universitätsabsol­ venten nur eine Durchgangsstation war, ehe sie in den dauerhaften Genuss fürstlicher Protektion kamen, etwa durch die Vergabe von Pfründen oder lukrativeren Stellungen am Hof.54 Allen drei Präzeptoren gelang es, sich permanent der Unterstützung durch die jeweilige fürstliche Familie zu versichern. Georg Spalatin war im Anschluss an seine Erziehertätigkeit unter anderem als Übersetzer, Historiograph und Bibliothekar am kursächsischen Hof tätig.55 Alexius Krosner erlangte eine Pfründe im thüringischen Altenburg und Lukas Edenberger wurde Bibliothekar an der Wittenberger Schlossbibliothek.56 Die Stellung innerhalb der höfischen Sphäre lässt sich entsprechend nur teilweise über die Entlohnung der Präzeptoren fassen. Einer der seltenen über die Besoldung hinausgehenden Hinweise zu dieser Thematik findet sich in der Ordnung für den Aufenthalt Herzog Johanns Ernsts an der Universität Wittenberg aus dem Jahr 1532.57 Die Ordnung gibt Lukas Edenberger große Freiheiten bei der Gestaltung des Unterrichts: »Erstlich wollen wir, das sein lieb [Herzog Johann Ernst von Sachsen] zu der lahr getreulich gehaltenn werd unnd das der precptor [sic!] magister lucas in seiner zeit und ordnung die angesagten und furgenomen stunden nit vorhindert oder in demselben unordnung gemacht werd, es geschee dem mit rat und bedencken philip Melanchthon.«58

Die weitestgehend autonome Stellung des gelehrten Erziehers wird in diesen Ausführungen deutlich.59 Auffällig ist, dass sein Förderer Melanchthon, auf den sich Edenberger in seinem eingangs erwähnten Brief berief, auch von hö54 Hierzu für das Reich: ebd., 183–191. 55 Siehe zu seinen verschiedenen Tätigkeiten: Höss, Georg Spalatin (wie Anm. 14), passim; Müsegades: Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 190 f. 56 Hierzu mit weiterführender Literatur: ebd., 180, 190. Edenberger wurde zudem in Wittenberg durch Kurfürst Johann Friedrich ein Haus geschenkt. Nach seiner Erziehertätigkeit war er als Lektor für Hebräisch an der ernestinischen Landesuniversität tätig; zu seinem Karriereweg: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 243; Ders., Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 179 f. 57 Die Ordnung ist nur als Konzept überliefert: ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 351, fol. 8r–10r. Ob der Bruder Kurfürst Johann Friedrichs erst 1532 oder bereits früher an die Universität Wittenberg kam, lässt sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Er blieb bis 1539 dort. Zu seinen konkreten Studien finden sich keine Quellen. Er verließ Wittenberg gelegentlich, um sich in der ernestinischen Nebenresidenz Colditz aufzuhalten; zum Aufenthalt des Herzogs in Wittenberg: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 120 f., 124, 126–131; zu den Wohnräumen Johann Ernsts im kurfürstlichen Schloss: Anke Neugebauer, Wohnen im Wittenberger Schloss  – Zur Nutzung und Ausstattung der fürstlichen Gemächer, Stuben und Kammern, in: Heiner Lück u. a. (Hrsg), Das ernestinische Wittenberg: Stadt und Bewohner. (Wittenberg-Forschungen, Bd. 2/1.) Petersberg 2013, 315–333, hier 329 f. 58 ThHStA Weimar, EGA, Reg. A 351, fol. 8r; hierzu auch: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 240. 59 Allerdings war der Hofmeister Christoph Groß für das gesamte Gefolge Johann Ernsts in Wittenberg verantwortlich; siehe: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 146.

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fischer Seite als Faktor in der Erziehung Johann Ernsts gesehen wurde. Zwar kam L ­ ukas Edenberger aus dem Umfeld der Wittenberger Reformatoren, doch reichte seine Autorität alleine nicht aus; sie musste zusätzlich durch den Verweis auf Melanchthon abgesichert werden.60 Schließlich war Johann Ernst für den Fall, dass Johann Friedrich kinderlos verstarb, der potentielle Kurfürst. Als solcher musste er in der neuen Lehre entsprechend gefestigt sein.61

III. Hof und gelehrte Erzieher Sowohl bei Spalatin als auch bei Edenberger erwuchsen aus ihrer Erzieher­ tätigkeit Konflikten mit Mitgliedern des Hofes. Spalatin hatte Probleme mit dem Hofmeister Johann Friedrichs, Ernst von Isserstedt, der die Oberaufsicht über die Erziehung des jungen Fürsten und dessen Hofstaat innehatte. Äußerungen Georg Spalatins über die Vorfälle selbst sind nicht überliefert. Allerdings finden sich im Umfeld seines Förderers Konrad Mutian mehrere Schreiben, die auf den Konflikt Bezug nehmen. So sandte der Mutian-Schüler Heinrich Urban einen Brief an Spalatin, in dem er diesem Ratschläge zum Verhalten in der höfischen Sphäre gab: »Aula nunquam caruit simultatibus.«62 Jener sei dumm, der vor denen zurückweiche, die Hass auf die »humanitatis studia« hätten und diese verspotteten. Es sei ausreichend, dass der Erzieher die Zu­neigung der sächsischen Herzöge gewonnen habe.63 In diesem Schreiben Urbans werden die Probleme des gelehrten Experten Spalatin deutlich. Als Außenseiter aus dem universitärgelehrten Milieu war er noch nicht mit den spezifischen Gegebenheiten des Hofes vertraut. Letztlich war es jedoch, zumindest aus der Perspektive seines ebenfalls gelehrten Freundes Heinrich Urban, die fürstliche Gunst, die über Wohl und Wehe am Hof entschied. Urban führte aus, Spalatin müsse darum bemüht sein, in der Erziehung des jungen Fürsten und der anderen Knaben in seiner Umgebung die Balance von Körper und Geist zu halten.64 60 Grundlegend zu Philipp Melanchthons pädagogischem Wirken ist noch immer: Karl Hartfelder, Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae. (Monumenta Germaniae Paedagogica, Bd. 7.) Berlin 1889. 61 Zur Rolle der Konfession bei der Erziehung Johann Ernsts siehe: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 121. 62 Gillert, Briefwechsel des Conradus Mutianus (wie Anm. 23), Bd. 1, 171; zum Konflikt zwischen Georg Spalatin und dem Hofmeister Ernst von Isserstedt: Höss, Georg Spalatin (wie Anm. 14), 43–45. Zu Heinrich Urban siehe: Gustav Bauch, Urban, Heinrich, in: ADB 39, 1895, 345 f. 63 »Quis tam stolidus, ut eorum cedat insolentie, qui humanitatis studia et odio habent et ludibrio. Satis est gratiosum esse apud inclytos duces, quibus te tua pietas, integritas, innocentia, religio, continentia et literatura conciliant«; Gillert, Briefwechsel des Conradus Mutianus (wie Anm. 23), Bd. 1, 171. 64 »Item studendi industria elanguescat necesse est, nisi docilitati corpusculi vires suffiant, ›Animus‹ enim, ut inquit Plinius, ›fulturis corporis sustinetur‹. Ideo Solomon dixit: ›Non est census super censum sanitatis corporis‹«, ebd.; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 216 f.

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Sein Förderer Konrad Mutian hatte den Schwierigkeiten Spalatins nachgehen wollen und war selbst an den sächsischen Hof gereist. Dort holte er Erkundigun­ gen über den alten Hofmeister ein. Dieser sei insgesamt kein übler Geselle, ließ Mutian Heinrich Urban in einem Brief wissen. Allerdings sei der alte Mann ein »hostis literarum«.65 Auch wenn diese Stelle, wie generell der gesamte Briefwechsel Mutians, literarisch stilisiert sein mag, so ist hier doch der zumindest von gelehrter Seite noch wahrgenommene Widerstand gegen den gelehrten Unterricht junger Fürsten erkennbar.66 Lukas Edenberger hatte gleichfalls Probleme mit seinem langjährigen Zögling Johann Ernst. In einem Brief aus der Mitte der 1530er Jahre schilderte er Kurfürst Johann Friedrich seine Schwierigkeiten mit dem jungen Fürsten: »Seine Gnaden [Herzog Johann Ernst von Sachsen] sein mir auch bisher gehorsam und willferig gewesen, dismals aber, so seine furstlichen gnaden etwas erwachsen, sich ein fursten fület, weiß ich nicht durch was geschick böser menschen oder durch eigen mutwillen, mit gantzem unlust studieret, mir ungehorsam mit worten widerbelferet, mich veracht und verlacht.«67

Edenberger führt in diesem Schreiben nicht aus, woraus die Schwierigkeiten im Unterricht resultierten. Es ist möglich, dass der gelehrte Erzieher schlichtweg pädagogische Probleme mit dem lernunwilligen Johann Ernst bekam und die genannten »bösen menschen« nur vorgeschoben waren, um den jungen Fürsten nicht direkt kritisieren zu müssen. Die Probleme lagen Edenbergers Darstellung zufolge auch im Umfeld des Fürsten begründet. So gab es angeblich keinen nüchternen, züchtigen Türknecht, der sich um die Knaben im Umkreis Johann Ernsts kümmern und diese strafen konnte, wenn sie Probleme bereiteten.68 Aus diesem Brief jedoch zu schließen, dass Edenberger generell im höfischen Umfeld nicht zurechtkam, würde zu weit führen. Schwierigkeiten mit reichsfürstlichen Schülern tauchen in den Quellen immer wieder auf. Sie dürften auch durch die Unterschiede im 65 Mutianus Rufus an Heinrich Urban [zwischen 1509 und 1510], in: Gillert, Briefwechsel des Conradus Mutianus (wie Anm. 23), Bd. 1, Nr. 179, 253; zum Konflikt Spalatins mit Ernst von Isserstedt und der Reise Mutians an den sächsischen Hof: Höss, Georg Spalatin (wie Anm. 14), 44 f.; Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm. 6), 302 f.; Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm. 1), 142. 66 Zum möglichen Gebrauch von Topoi in diesem Schreiben: ebd. 67 ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 351, fol. 4r; siehe auch: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 242. 68 »Ich bitt auch unterthenigklich Euer churfurstlichen gnaden wollen zu gut dem jungen fürsten einen erbaren zuchtigen, nüchteren thürknecht bestetigen, der dem jungen fursten auch beyweilen einredet und innhielte, demselben thürknecht des fürsten geschmuck und kleinoter, auch das gelt und hembden etc. uberantwurt werde. Item, das dem thürknecht ein gut verschlossen gemach, es sey kamer oder stuben, eingethan werde, do er kunte verwaren und aufhencken, was zur reiterey gehört. Der auch die knaben ausser der schul in die zucht und straff neme, wo sie der dienstwartung ungeflissen«; ThHStA Weimar, EGA , Reg. A 351, fol. 4r–4v; siehe auch: Müsegades, Karriere (wie Anm. 3), 242 f.

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Stand zwischen Schüler und Lehrer bedingt gewesen sein. Schließlich unterwies der gelehrte Erzieher nicht irgendwen, sondern einen Fürsten, der, auch wenn er noch jung war, rangmäßig weit über ihm stand.69 Legt man die eingangs erwähnten Ausführungen von Rexroth zum sozialen Rollentypus des Experten zugrunde, dann sind die beschriebenen gelehrten Erzieher zweifelsohne Experten. Sie versprachen, das universitär-gelehrte Sonderwissen, vor allem die Kenntnisse in der lateinischen Sprache und das Wissen um die Literatur der Antike, passgenau an junge Fürsten zu vermitteln und diese dadurch zu besseren Herrschern zu machen. Um jedoch an den Hof zu gelangen, bedurften die gelehrten Erzieher der Fürsprache von Förderern, die bereits Kontakt in diese gesellschaftliche Sphäre hatten. Gerade am Beispiel Lukas Edenbergers wurde deutlich, dass der selbst behauptete oder jeweils zugeschriebene Expertenstatus alleine nicht ausreichte. Er musste durch Autoritäten, im Falle Edenbergers vor allem durch jene Philipp Melanchthons, abgesichert werden. Beim Unterrichten des Fürsten waren die gelehrten Experten bemüht, vor allem Wissen zu vermitteln, das ihrer Auffassung nach den Fürsten praxisnah auf seine zukünftige Stellung innerhalb der Ranggesellschaft vorbereiten sollte. Auch wenn den Präzeptoren von gelehrter Seite eine besondere Bedeutung in der fürstlichen Erziehung und Ausbildung zugeschrieben wurde, ist doch offen­ bar geworden, dass ihre tatsächliche Stellung am Hof weit weniger bedeutend war, als von ihnen erhofft. Nach wie vor gab es, so wurde es zumindest von gelehrter Seite wahrgenommen, Widerstände gegen das Eindringen gelehrten Wissens in die reichsfürstliche Erziehung und Ausbildung.

69 Zur Stellung der Präzeptoren am Hof: Müsegades, Fürstliche Erziehung (wie Anm.  1), insbes. 170–183. Die eingeschränkten Möglichkeiten eines Präzeptors, seinen fürstlichen Schüler zu strafen, sind auch aufgezeigt bei: Ders., Comment discipliner un duc. Punir les jeunes princes dans l’Allemagne médiévale, in: Bernard Andenmatten u. a. (Hrsg.), Passions et pulsions à la cour (Moyen Âge – Temps Modernes). (Micrologus’ Library, Bd. 68.), Florenz 2015, 191–209.

Jörg Bölling

Zeremoniare als Experten des Papsthofes der Renaissance Kompetenzen – Karrieremuster – Konzepte

»Der Zeremonienmeister, wer auch immer er ist, ein älterer oder jüngerer, möge (Folgendes) wissen: Solange er in seinem Meisteramt arbeitet, sei es in der päpstlichen Kapelle, sei es an jedem beliebigen anderen Ort, wo der Zeremonialritus anzuwenden ist, (solange) muss er von allen Dienern der kleinsten Dienste der Unterdiener sein – dahingehend, dass er sich für all jene, die aus Unwissenheit oder Unfähigkeit oder auch Unwillen nicht das machen, was ihnen ansteht, selbst einer derartigen Arbeit und Diensttätigkeit unterzieht, als Arbeiter und Diener, und zwar zur Linken eben dieser Arbeiter; und niemals schreite oder stehe er rechts.«

Diese Worte stehen am Beginn des Kapitels über das Amt des Zeremonienmeisters im bedeutendsten Zeremonialtraktat der Renaissance.1 Der Zeremoniar gilt hier als Diener aller: Jede andere Person erscheint höhergestellt. Und doch ist der Zeremoniar für das Gelingen des Gesamtablaufs, des Zusammenwirkens sämtlicher Akteure gefragt wie sonst niemand – als Experte. Gerade weil er zur Einhaltung der vorgeschriebenen Zeremonien gemahnt, ist er nicht Herr des Ablaufs, sondern unterster Diener, der stets einspringen muss, wenn etwas nicht in der vorgesehenen Weise zu gelingen scheint und dabei womöglich sogar religiös rituswidrige oder politisch konfliktträchtige Fehler zu geschehen drohen. Diesen Zusammenhang verdeutlicht bereits die schon in den ältesten erhaltenen Abschriften begegnende Überschrift des Traktatkapitels: »Dass die Zeremoniare zwar Meister genannt werden und sind, aber dennoch im Akt des Zeremonierens selbst allen Dienern weichend Unterdiener sind« (Fassung der späteren Zeremonienmeister; Bibliotheksfassung: »zu Unterdienern werden«).2 Die paradoxe Selbstzuschreibung des Zeremoniars, Meister und Diener zugleich zu sein, rührt von seinen unterschiedlichen Aufgaben her: Diener aller ist er als Akteur im Ablauf der Zeremonien selbst, Meister bei der Beschreibung, Fixierung, Anleitung und ausdeutenden Erklärung – kurz: Es ist streng zu unterscheiden zwischen persönlicher Formierung und amtlicher Funktion sowie zwischen Text und Performanz. Doch welche Zeremoniare und Zeremonialtexte sind hier einschlägig, inwiefern kann dabei von Experten gesprochen werden und inwieweit ist dabei die Kategorie des Hofes von Belang? Diesen Fragen sei einleitend nachgegangen, 1 Siehe unten Anhang. 2 Vgl. ebd.

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um anschließend die Kompetenzen, Karrieremuster und Konzepte der verschie­ denen Zeremoniare zu erörtern.

I. Einleitung I.1 Zeremoniare und ihre Texte

Der eingangs zitierte, bisher  – und dies leider nicht immer ganz fehlerfrei  – zusammenfassend paraphrasierte, bis auf einzelne Formulierungen noch unedierte Traktat enthält eine Fülle von Informationen aus der Perspektive des ex officio tätigen Experten päpstlicher Zeremonien während der Pontifikate Julius’  II. und Leos X.3 Sein Autor, Paris de Grassis (Paride de Grassi, 1504–1528 im Amt)4, verfolgte mit seinen Schriften hinsichtlich seines Amtes als Zeremonienmeister ein zweifaches Ziel: Zum einen suchte er sich in die Tradition seines geschätzten Vorvorgängers Agostino Patrizi Piccolomini (1466–1488 im Amt)5 zu setzen, der als Begründer einer umfassenden, durch das Trienter Konzil schließlich für die folgenden Jahrhunderte maßgeblich sanktionierten Zeremonialreform gelten kann.6 Zum anderen, und dies mit noch größerer Verve, 3 Marc Dykmans, Paris de Grassi, in: Ephemerides Liturgicae 100, 1986, 282–333, einschließlich »Appendice XIII« bis »Appendice XXIII« ab 318; Jörg Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance. Texte – Musik – Performanz. (Tradition – Reform – Innovation, Bd. 12.) Frankfurt a. M. 2006; Ders., Das Papstzeremoniell der Hochrenaissance. Normierungen – Modifikationen  – Revisionen, in: Bernward Schmidt/Hubert Wolf (Hrsg.), Ekklesiologische Alternativen? Monarchischer Papat und Formen kollegialer Kirchenleitung (15.– 20. Jahrhundert). Münster 2013, 273–307. 4 Zur Biographie des Paris de Grassis s. zuletzt: Massimo Ceresa, Artikel Grassi, Paride, in: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 58. Rom 2002, 681–684; sowie besonders ausführlich: Dykmans, Paris de Grassi, in: Ephemerides Liturgicae 96, 1982, 407–429; und (als Fortsetzung): Ders., Paris de Grassi (wie Anm. 3), 270–282. 5 Zur Biographie s. Marc Dykmans (Hrsg.), L’œuvre de Patrizi Piccolomini ou le Cérémonial papal de la première Renaissance. Bd. 1. (Studi e Testi, Bd. 293–294.) Vatikanstadt 1980– 1982 (durchpaginiert), 1*–15*; und zuletzt: Achim Thomas Hack, Patrizi de’ Piccolomini, Agostino, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd.  18. Bautz/Herzberg 2001, 1120–1130 (Lit.). 6 Nikolaus Staubach, Zwischen Basel und Trient. Das Papstzeremoniell als Reformprojekt, in: Jürgen Dendorfer/Claudia Märtl (Hrsg.), Nach dem Basler Konzil. Die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (ca. 1415–1475). (Pluralisierung & Autorität, Bd. 13) Münster 2008, 385–416; Günther Wassilowsky/Hubert Wolf (Hrsg.), Päpstliches Zeremoniell in der Frühen Neuzeit. Das Diarium des Zeremonienmeisters Paolo Alaleone de Branca während des Pontifikats Gregors  XV. (1621–1623). (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Bd. 20.) Münster 2007, 11–17; Julia Zunckel, »Erit ergo in hac re in congregatione discutiendum«. Die Bedeutung des Zeremonialwesens im Rahmen kurialer Reformprozesse, in: Schmidt/Wolf, Ekklesiologische Alternativen (wie Anm. 3), 337–363; Jörg Bölling, Renaissance als Reformprojekt? Selbstdarstellung und Amtsführung Papst Julius’ II ., in: zur debatte. Zeitschrift der Katholischen Akademie in Bayern. Sonderheft zur Ausgabe 1, 2014, 2–5.

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richtete sich Paris de Grassis gegen seinen unmittelbaren Vorgänger und zeitweiligen Kollegen Johannes Burckard aus Straßburg (1483–1506)7. Nicht Patri­ zis für die päpstliche Kurie geschriebenes Zeremoniale von 1488 selbst, sondern Burckards Anteile und Modifikationen nahm er zum Anlass, eine eigene Redaktion dieses so zentralen, alle nur denkbaren Bereiche des Papstzeremoniells umfassenden normativen Textes8 vorzulegen, der am Papsthof bis weit ins 20. Jahrhundert hinein maßgeblich bleiben sollte.9 Noch deutlicher als von Burckards Version des Kurienzeremoniales distanzierte sich Paris de Grassis von Burckards zeremoniellem Tagebuch. Er erwähnt es zu Beginn seines eigenen, sich zeitlich exakt anschließenden Diariums nicht einmal. Stattdessen spricht Paris de Grassis nur von der allgemeinen amtlichen Verpflichtung der Zeremoniare, ein solches Diarium zu führen, und sieht die Vorbilder – seinem Habitus humanistischer Antikenrezeption entsprechend – in den Annalen klassischer Autoren.10 Burckards Tagebuch diente ihm als Nachfolger letztlich nur dazu, sich inhaltlich von seinem verhassten Vorgänger abzugrenzen. In gebündelter und themenspezifisch zugespitzter Form widmete Paris de Grassis sich diesem Anliegen vor allem in seinen Traktaten, von denen der eingangs erwähnte in Umfang und Tiefenschärfe besonders hervorsticht.11 I.2 Die päpstlichen Zeremoniare als Experten

Die größte Leistung aller drei genannten Zeremoniare im Rom der Renaissance bestand jedoch nicht in der detaillierten, möglichst korrekten Durchdringung und Verschriftlichung bereits bestehender Zeremonien. Vielmehr hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, Zeremonien in Rücksprache mit dem Papst und mit Rücksicht auf bestehende Traditionen, vor allem auf die im Unterschied zu den Zeremonien unabänderlichen Riten, zu gestalten und in erneuerter Form 7 Zur Biographie s. Reinhard Elze, Art.  Burckard, Johannes, in: NDB 3.  Berlin 1957, 34; und: Bernhard Schimmelpfennig, Art.  Burckard, Johannes, in: Franz  J. Worstbrock (Hrsg.), Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Bd. 1. Berlin 2005, 299– 307. S. auch: Alessandro Mansi (Hrsg.), Il Palazzo del Burcardo. Testimonianze di un restauro. Rom [ca.] 1998; und: Tobias Daniels, Der päpstliche Zeremonienmeister Johannes Burckard, Jakob Wimpfeling und das Pasquill im deutschen Humanismus, in: DA 69, 1, 2013, 127–140. 8 Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), Edition und Kommentar. 9 Vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm.  3), 69 f. und 75–78; Ders., Papstzeremoniell der Hochrenaissance (wie Anm. 3), 276–291; Zunckel, Bedeutung des Zeremonialwesens (wie Anm. 6), 341–347; Jörg Bölling, Zur Erneuerung der Liturgie in Kurie und Kirche durch das Konzil von Trient (1545–1563). Konzeption – Diskussion – Realisation, in: Klaus Pietschmann (Hrsg.), Papsttum und Kirchenmusik vom Mittelalter bis zu Benedikt  XVI .: Positionen – Entwicklungen – Kontexte. (Analecta musico­logica, Bd. 47.) Kassel u. a. 2012, 124–145, hier 126–138. 10 Vgl. Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 4739, fol. 1r (Autograph). 11 Siehe hierzu ausführlich: Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 64–68.

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zur Ausführung zu bringen.12 Hatte die Leistung ihrer Vorgänger im Hochmittelalter, etwa eines Guilelmus Durandus (Durante, Durantis), darin bestanden, ältere und neuere Texte zu sammeln, zu ordnen und mit kanonistischem Feinsinn, also durchaus bereits als Experte, zu durchdringen,13 so agierten und redigierten die Zeremoniare der Renaissance im Sinne der Praxis ihrer eigenen Zeit. Dabei galt es insbesondere, neben der kirchlichen Liturgie auch die höfische Etikette zu berücksichtigen, wobei zugleich sämtliche Formen diplomatischen Protokolls, vor allem für auswärtige Herrscher und Gesandte, wie auch die wenigen verbliebenen und neueren stadtrömischen Formen von civic ­ritual zu integrieren waren. All diese Zeremonien konzentrierten sich seit dem Hochmittelalter in der Regel auf einen einzigen Ort, der den Herausforderungen eines zeitgenössischen Hofes ebenso gewachsen war wie den ererbten liturgischen Grundlagen der Kirche: die päpstliche Kapelle. I.3 Das Papstzeremoniell als Hofzeremoniell

Das päpstliche Hofzeremoniell geht letztlich auf das päpstliche Palastzeremoniell mit der Papstkapelle als maßgeblichem Gottesdienstraum zurück. Grundlegend hierfür war die Ausprägung von Kardinalskolleg und Kurie als »Funktionseliten und Verwaltungsinstanzen, die künftig normsetzend für die Zentralisierungs- und Verrechtlichungsprozesse in ganz Europa sein sollten«, und dies in »Kooperation, aber auch in Konkurrenz« mit »Synoden und Konzilien«.14 Die auf das 11. Jahrhundert zurückgehende päpstliche Palastkapelle war daher 12 Die Unterscheidung der unabänderlichen, einen (meist sakramentalen) Statuswechsel bewirkenden Riten von den veränderlichen, zeitbedingten Zeremonien nehmen bereits die Zeremoniare der Renaissance in ihren zeitgenössischen Reflexionen vor; vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm.  3), 86–89 (zu Agostino Patrizi) und 91 f. (zu Paris de Grassis). ›Riten‹ wurden im liturgischen Buch des ›Rituale‹, Zeremonien ergänzend im ›Zeremoniale‹ zusammengefasst. Die daraus resultierende Unterscheidung zwischen ›Ritual‹ und ›Zeremoniell‹ entspricht im Wesentlichen den Kategorien der modernen Forschungsbegriffe, etwa bei: Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: ZHF 31, 2004, 489–511, hier 503 f. 13 Durandus vertraute seinerseits Experten verschiedenster Gebiete: »[U]nicuique in arte sua experto credendum est«; vgl. Hedwig Röckelein, Einleitung. Experten zwischen »scientia« und »experientia«, in: Das Mittelalter 17/2, 2012, 3–7, hier 3 (vorangestelltes Motto). Zu Durandus s. auch unten Anm. 49 f. und unten Anm. 116 f. 14 Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich/Ders./Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. (HZ , Beih. N. F. Bd. 57.) München 2012, 12–44, hier 27, Anm. 50. S. hierzu auch: Jochen Johrendt, Papsttum und Landeskirchen im Spiegel der päpstlichen Urkunden (896–1046). (MGH Studien und Texte, Bd. 33.) Hannover 2004; Ders./Harald Müller (Hrsg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Inno-

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bereits im 12. Jahrhundert zum zentralen Ort zahlreicher liturgischer Zeremonien geworden. Vielfach erinnerten nur noch schriftliche Einträge bestimmter Kirchen in Büchern an die ehemals tatsächlich ausgeführten Prozessionen in der Stadt. Performanz war zur Schrift geworden – nicht anders als im karolingischen Reichskalender nördlich der Alpen.15 Die meisten für Papstgottesdienste, vor allem für die Stationsliturgie, so wichtigen Kirchen wurden bereits seit dem 11. Jahrhundert nicht mehr regelmäßig aufgesucht – eine Entwicklung, die während des Aufenthalts der Kurie in Avignon zur vollständigen Ersetzung der Stadt durch den Palast führte.16 Fungierten im französischen Exil aber immerhin noch Kapellen als Ersatz für bestimmte Kirchen, so verzichtete man nach Rom zurückgekehrt einerseits auf derartige Substitute, andererseits aber auch auf die Wiedereinführung der stadtrömischen Stationsliturgie. Es wurde nicht einmal der Versuch unternommen, eine der päpstlichen Patriarchalbasiliken ersatzweise zu einer »Kathedrale als heiliger Stadt« werden zu lassen, wie dies bei vielen mittelalterlichen Kirchen der Fall war.17 Alles konzentrierte sich allein auf die päpstliche Kapelle – mit Ausnahme einiger weniger Gottesdienste in St. Peter; doch selbst über dem für das Selbstverständnis des Papsttums so zentralen Grab des Apostelfürsten wurden im späten 15. Jahrhundert, wenn man einmal von Papstkrönungen und Heiligsprechungen absieht, nur noch dreimal

zenz  III . (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 2.) Berlin/New York 2008; Thomas Krüger, Leitungsgewalt und Kollegialität. Vom benediktinischen Beratungsrecht zum Konstitutionalismus deutscher Domkapitel und des Kardinalkollegs. (Studien zur Germania Sacra, Neue Folge, Bd. 2.) Berlin/Boston 2013. 15 Vgl. Arno Borst (Hrsg.), Der karolingische Reichskalender und seine Überlieferung bis ins 12. Jahrhundert. 3 Bde. (MGH. Antiquitates, Bd. 3; Libri memoriales, Bd. 2.) Hannover 2001. 16 Bernhard Schimmelpfennig, Der Palast als Stadtersatz. Funktionale und zeremonielle Bedeutung der Papstpaläste in Avignon und im Vatikan, in: Werner Paravicini (Hrsg.), Zeremoniell und Raum. Bd.  6, Residenzenforschung. (Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Bd.  4.) Sigmaringen 1997, 239–256; Gottfried Kerscher, Roma nova  – Virtuelles Rom. Die Palastkapellen in Avignon und das Zeremoniell der Päpste, in: Nicolas Bock (Hrsg.), cérémonial et liturgie au Moyen Âge. Actes du colloque de 3e Cycle Romand de Lettres, Lausanne-Fribourg, 24– 25 mars, 14–15 avril, 12–13 mai 2000. Rom 2002, 585–594. Zur Bedeutung bereits des 11. und 12. Jahrhunderts s. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 15– 20; und: Ders., Die zwei Körper des Apostelfürsten. Der heilige Petrus im Rom des Reformpapsttums, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 106, 2011, 155–192, hier 172–187. 17 Siehe zu Bamberg etwa: Peter Wünsche, Die Kathedrale als Heilige Stadt. Zur liturgischen Topographie des Bamberger Domes, in: Franz Kohlschein/Ders. (Hrsg.), Heiliger Raum. Architektur, Kunst und Liturgie in mittelalterlichen Kathedralen und Stiftskirchen. (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Bd.  82.) Münster 1998, 25–58. Eine Ausnahme bildet etwa der Prozessionszug des siegreichen Papstes Julius  II . in das von ihm unterworfene Bologna, s. dazu: Bölling, Renaissance als Reformprojekt (wie Anm. 6).

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im Jahr, Weihnachten, Ostern und am Patronatsfest Peter und Paul, Papstgottesdienste gefeiert.18 Diese liturgiegeschichtlich bereits recht gut erschlossene zunehmende Konzentration auf den Palast und dessen Kapelle hatte aber nicht nur einen liturgisch-pragmatischen, sondern auch einen dezidiert politisch-repräsentativen Grund. Der Papst war schließlich nicht nur Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, sondern auch Souverän des Kirchenstaates und Stadtherr Roms. Überwogen bis weit ins Hochmittelalter hinein zumeist Vorstellungen, in denen die Stellvertreterschaft des Papstes als irdischer Erbe des Patrimonium Petri im Vordergrund stand19, so konnte der Pontifex Maximus dauerhaft mit den verschiedenen Regenten, darunter auch Angehörige anderer Konfessionen (etwa Äthiopier) und sogar Religionen (wie Türken, Araber und Inder),20 nur interagieren, wenn er selbst über eine zeitgemäße Institution verfügte: den Hof. Bereits in Avignon wurden neue Ämter eingeführt, wie sie für den königlichen und fürstlichen Hof charakteristisch waren.21 Zentraler Ort der bedeutendsten Zeremonien blieb dabei weiterhin die Papstkapelle. Handelte es sich 18 Joaquin Nabuco, Introduction, in: Filippo Tamburini (Hrsg.), Le cérémonial apostolique avant Innocent VIII ., Texte du manuscrit Urbinate Latin 469 de la Bibliothèque Vaticane. (Ephemerides Liturgicae 30) Rom 1966, 9*; Adalbert Roth, Das Weihnachtsmissale der Päpste. Feierlicher Mittelpunkt der Christnacht im Petersdom. Stuttgart/Zürich 1998, 20; Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 230–270. 19 Johrendt, Papsttum (wie Anm. 14); Ders., Die Diener des Apostelfürsten. Das Kapitel von St. Peter im Vatikan (11.–13. Jahrhundert). (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 122.) Berlin/New York 2011; Bölling, Die zwei Körper (wie Anm. 16). 20 Vgl. dazu: Ders., »Causa differentiae«. Rang- und Präzedenzregelungen für Fürsten, Herzöge und Gesandte im vortridentinischen Papstzeremoniell, in: Nikolaus Staubach (Hrsg.), Rom und das Reich vor der Reformation. (Tradition  – Reform  – Innovation, Bd. 7.) Frankfurt a. M. u. a. 2004, 147–196, hier 186 f., Anm. 275. Zum Aufenthalt des türkischen Prinzen Cem sowie türkischer Botschafter am Papsthof s. bes. Kapitel  39 des Botschaftertraktats des Paris de Grassis (»De oratoribus non christianis nec a principe christiano venientibus ad papam«) ebd.; sowie ausführlich: Philipp Stenzig, Botschafterzeremoniell am Papsthof der Renaissance. Der »Tractatus de oratoribus« des Paris de Grasse. Edition und Kommentar. 2 Teile (durchgehend paginiert). Frankfurt a. M. 2013, 229–236 (Edition) und 468–515 (Kommentar); zu Botschaftern des legendären, zwischen Asien und Afrika verorteten Priesterkönigs Johannes, den Paris de Grassis mit dem äthiopischen Kaiser identifiziert, siehe ebd., Kapitel 40 (Edition 236–239 und Kommentar 515–538). 21 Vgl. Gottfried Kerscher, Das mallorquinische Zeremoniell am päpstlichen Hof: »Comederunt cum papa rex maioricarum«, in: Jörg  J. Berns/Thomas Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext, Bd. 25.) Tübingen 1995, 125–149; Ders., Architektur als Repräsentation. Spätmittelalterliche Palastbaukunst zwischen Pracht und zeremoniellen Voraussetzungen. Avignon – Mallorca – Kirchenstaat, Tübingen 2000; Gisela Drossbach/Ders. (Hrsg.), »Utilidad y decoro«. Zeremoniell und symbolische Kommunikation in den »Leges Palatinae« König Jacobs III . von Mallorca (1337). (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften, Bd. 6.) Wiesbaden 2013.

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doch letztlich um die Kapelle der Kurie. Die Kurie (curia)  wurde durch den neuartigen Hof (curtis) nicht ersetzt, sondern lediglich erweitert.22 Dies zeigte sich auch in der päpstlichen Kapelle, in der nun auch Hofbedienstete regelmäßig in Erscheinung traten – zusätzlich am Papstthron, nicht als Substitute der alten ererbten Ämter. Lediglich stadtrömische Ämter wurden mit kurialen vereint  – allerdings mit kurialen, nicht mit monarchisch-höfischen Rängen.23 Diese Funktion behielt die päpstliche Kapelle auch in Form ihres unter Sixtus  IV. neu errichteten römischen Baus, der Cappella Sixtina. Es waren die Zeremonien dieser größeren der beiden Palastkapellen des Papstes, nicht etwa diejenigen der Peterskirche, der Laterankathedrale oder einer anderen päpstlichen Basilika, die den eigentlichen Kern und Referenzrahmen sämtlicher Rang- und Präzedenzordnungen bildeten – von Kirche, Stadt, Kirchenstaat und Hof. Der Hof gewann mit seiner immer aufwändigeren, von den bildenden Künsten wie auch mehrstimmiger Musik geprägten Hofhaltung zunehmend Einfluss auf das äußere Erscheinungsbild sämtlicher Zeremonien.24 I.4 Kompetenzen – Karrieremuster – Konzepte

Wie aber vermochten die Zeremoniare die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen, und doch auf das Engste miteinander verschränkten Sphären von Kirche und Hof zu überbrücken, in denen gleichermaßen die Zeremonien von zeitlich älteren Stadt- und räumlich verbreiteteren Kirchenstaatstraditionen aufschienen? Hier waren die Zeremonienmeister als Experten gefragt – als kundige Gelehrte der Tradition, aber auch als ingeniöse Fachleute für Innovation. Dabei konnten sie von ihren ganz besonderen Kompetenzen Gebrauch machen: ihren amtlichen, vom Papst verliehenen, wie auch ihren persönlichen, gegenüber Konkurrenten durchgesetzten (II.). Erworben hatten sie diese durch vergleichbare Karrieremuster (III.). Schließlich entwickelten sie dabei jeweils eigene Konzepte, die sie anhand ihrer Kompetenzen auch umzusetzen bemüht waren – teils mit, teils gegen den Willen des jeweiligen Papstes (IV.). 22 Vgl. Jörg Bölling, Liturgia di cappella e cerimonie di corte, in: Thomas Ertl (Hrsg.), Pompa sacra. Lusso e cultura materiale alla corte papale nel basso medioevo (1420–1527). (Nuovi Studi Storici, Bd. 86.) Rom 2010. 37–53. 23 Vgl. etwa unten Anm. 95. 24 Siehe dazu etwa bereits einzelne Beispiele bei: Bölling, Papstzeremoniell der Hochrenaissance (wie Anm. 3), 291–297; Ders., Liturgia (wie Anm. 22); in musikalischer Hinsicht: Ders., Zeremoniell und Zeit. Messkult und Musikkultur am Papsthof der Renaissance, in: Andrea Ammendola/Daniel Glowotz/Jürgen Heidrich (Hrsg.), Polyphone Messen im 15. und 16. Jahrhundert. Funktion, Kontext, Symbol. Göttingen 2012, 145–186, hier ­176–184; sowie: Ders., Zwischen kirchlicher Liturgie und korporativer Frömmigkeitspraxis. Motetten am Papsthof der Renaissance, in: Klaus Pietschmann (Hrsg.), Musikalische Performanz und päpstliche Repräsentation in der Renaissance. (troja. Jahrbuch für Renaissancemusik, Bd. 11/2012.) Kassel u. a. 2014, 185–225.

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II. Kompetenzen der Zeremoniare Das Wort »Kompetenzen« ist doppeldeutig: Zum einen bezeichnet es die amtlichen, den Zeremoniaren vom Papst verliehenen dienstlichen Befugnisse (II.1), zum anderen die persönlichen Fähigkeiten, das heißt den persönlichen Bildungsstand, das Expertenwissen und die ausgestellten Expertisen (II.2). Dementsprechend sind vergleichend auch die Kompetenzen des Papstes, der Kardinäle und auswärtiger Experten kurz zu beleuchten (II.3). II.1 Amtliche Kompetenzen. Aufgaben, Rang und Präzedenz

Paris de Grassis schildert die amtlichen Kompetenzen des päpstlichen Zeremonienmeisters im Anschluss an die eingangs zitierten Worte wie folgt: »Dieses Amt ist keine Ehrenauszeichnung, sondern bedeutet Arbeit und Dienst (›opera et ministerium‹), bei denen der Zeremoniar weniger als oberster Meister (›magister‹) denn als unterster Diener (›minister‹), niedriger noch als die Ministranten, fungiert. Der Amtsträger mit der höchsten Kompetenz hat den niedrigsten Rang.«25

Diese Feststellung, höchste persönliche Kompetenz gehe mit niedrigstem amtlichem Rang einher, wirkt umso ernüchternder, als sie nicht nur in der Kapelle galt, sondern auch – wie Paris de Grassis ausdrücklich zu verstehen gibt – an jedem anderen beliebigen Ort. Seinen Mitarbeitern und Nachfolgern im Zeremonienamt sucht Paris de Grassis zu verdeutlichen: Während des Ablaufs der Zeremonien hat jeder einfache Messdiener, wie er in jeder noch so unscheinbaren Dorfkirche oder Kapelle anzutreffen gewesen wäre, größere Bedeutung als der persönliche Protokollchef des Papstes. Der Zeremoniar darf sich insbesondere im unveränderlichen Ritus der kirchlichen Liturgie nicht als Meister aufspielen. Paris de Grassis erläutert diesen Dienst anhand folgender konkreter Beispiele: »So ist es der Fall nicht nur wenn er den Subdiakon zum Ort der Epistel führt und zurückführt und ebenso den Diakon, sondern auch wenn er Kerzen- und Weihrauchträger geleitet, und schließlich, solange er den Wappenträgern (Schildknappen) bei den Waschgefäßen (Aquamanilia) assistiert; denn stets schreitet er links von ihnen.«

Der eigentliche höfische Rang des Zeremoniars entspricht dabei nicht der sichtbaren Präzedenz. Die Präzedenzordnung resultiert vielmehr aus der älteren und noch immer maßgeblichen liturgischen Funktion des Zeremoniars, ja der eigentlichen, ursprünglichen historischen Herkunft des Amtes selbst:

25 Siehe unten Anhang.

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»Und um noch etwas am Schluss hinzuzufügen: Auch wenn der Zeremonienmeister mit Blick auf seine Ehrenstellung (›quoad locum honoris‹) unmittelbar unter den geheimen Kammerherren des anwesenden Papstes oder auch bei dessen Abwesenheit steht, schreitet er unmittelbar nach den Akolythen. Denn auch sie selbst (die Zeremoniare) waren (ursprünglich) zwei der zehn Akolythe und erhielten denselben Lohn aus dem Apostolischen Fiskus bei verringerten Amtspflichten, wie sie ihn auch noch zu unserer Zeit einzeln empfangen.«

In der Rangliste des päpstlichen Hofes folgt Paris de Grassis als Zeremoniar also unmittelbar auf die geheimen Kammerherren, die Diener des Papstes in den unzugänglichen Gemächern des päpstlichen Palastes – ein höfisches Amt par excellence. Die sichtbare Präzedenz jedoch lässt ihn als untersten der Akolythen erscheinen, den kirchlichen »Ministranten«. Obwohl selbst Priester und später sogar Bischof, gehört Paris de Grassis äußerlich dem dritten der untersten Weihegrade an, höher als Ostiarius und Cantor (bzw. Exorzist), jedoch niedriger als Lektor – und erst recht niedriger als die zuvor genannten höheren Weihegrade von Subdiakon, Diakon und Priester. Und dennoch handelte es sich keineswegs um eine Degradierung – im Gegenteil: Der Dienst des Zeremoniars verdeutlichte im Grunde genommen nur den Primat der Liturgie gegenüber der Etikette, der Kirche gegenüber dem Hof. Betrachtet man die verschiedenen geistlichen Weihegrade der kirchlichen Hierarchie, so erschien letztlich nur der Papst selbst als Bischof. Der Zelebrant des Papstgottesdienstes, der stets selbst Bischof zu sein hatte, in der Regel sogar – bei Anwesenheit des Papstes verpflichtend  – Kardinal war,26 fungierte innerhalb der Kapellliturgie lediglich als Priester. Unter seinem priesterlichen Messgewand trug er – wie auch der Papst selbst – die Dalmatik des Diakons und darunter die Tunicella des Subdiakons, und dies aus gutem Grund: Immerhin hatte er auch diese Weihegrade erhalten. Seine für eine »missa sollemnis«, ein feierliches Hochamt, unentbehrlichen beiden »Leviten«, Diakon und Sub­diakon, ließen das jeweilige Gewand ihrer Funktion nach außen hin in Erscheinung treten, waren aber ihrem eigenen Weihegrad nach ebenfalls ranghöher einzustufen. Die geistlichen Thronassistenten des Papstes schließlich nahmen zur Linken seines Thrones Aufstellung, um dem Altar zugeordnet zu sein.27 Auch sie erscheinen nachgerade wie »Messdiener«, obwohl es sich um Bischöfe handelte. In ihrer eigenen Diözese besaßen sie die Stellung, die der Papst in Rom hatte. In Rom hingegen, vor allem in der päpstlichen Kapelle, dienten sie als »Thronassistenten«. Gleichwohl trugen die meisten unter ihnen diese Bezeich-

26 Vgl. Biblioteca Apostolica Vatiacana (im Folgenden BAV), Vat. lat. 5634 II A, fol. 15r–66v; Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 46, Anm. 67. 27 S. dazu Archivio Segreto Vaticano (im Folgenden ASV), Fondo Borghese, serie I, 568, fol. 134v–138v: »De assistentibus et de sacrista ac de praelatis palatinis deque oratoribus praelatis ad assistentiam vocatis aliisque necessariis Cap. cxxxviii«, s. hierzu ausführlich auch unten Anm. 92.

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nung mit Stolz; handelte es sich doch um einen Titel, der sie innerhalb der eigenen Diözese und gegenüber Bischöfen anderer Bistümer auszeichnete. Vor diesem Hintergrund erscheint auch der äußerlich niedrige liturgische Rang des Zeremoniars in neuem Licht. Neben der Nähe zum Altar war für die »praelati assistentes« im Sinne von geistlichen »Thronassistenten« jedoch die Nähe zum Papstthron entscheidend – und zumindest für den im Deutschen üblichen Titel letztlich namensgebend. Insofern ragte der Hof mit dem Thron des Papstes als Ersatz seiner in der Kapelle fehlenden, letztlich nur in der Bischofskirche San Giovanni in Laterano vorhandenen Cathedra in die Liturgie hinein. Die bischöfliche Amts- und Lehrgewalt des Papstes, ja sogar sein besonderer, ihn über alle anderen bischöflichen Amtsbrüder erhebender Primat erschien in äußeren Formen des Hofes: Thron, Assistenten, Kammerherren.28 Der Zeremoniar hatte dementsprechend bei seinem liturgischen Dienst sogar noch den niedrigsten liturgischen und auch höfischen Diensten, Sängern und Schildknappen zu dienen, sofern nicht vorrangige funktional-ästhetische Komponenten dagegensprachen: »Fernerhin muss jeder von ihnen dennoch in dem, worin er Meister oder doch eher Diener und Unterdiener ist, in der päpstlichen Kapelle allen und jedem als gleichsam Geringerer (›tamquam minor‹) weichen, sogar den Sängern und den Schildknappen, stehend, wie gesagt, zur Linken von allen – mit Ausnahme des Subdiakons, der bei Anwesenheit des Papstes die Epistel singt: Dann wendet er sich, um die Sicht des Papstes nicht zu beeinträchtigen, unbedingt nicht zur Linken in Richtung des Papstes, sondern bleibt dauerhaft an der Rechten. Ist der Papst hingegen abwesend, kann er auf jeden Fall rechts sein oder links, wie es gefällt.«

Den Sängern dient er, sofern diese in die räumliche Rang- und Präzedenzordnung überhaupt eingebunden sind  – nämlich dann, so ist vor dem geistigen Auge zu ergänzen, wenn diese tatsächlich den Dienst des zweitniedrigsten unteren Weihegrades verrichten, den eines Cantor. Dies ist aber, wie aus anderen Quellen hervorgeht, nur ganz selten der Fall, nämlich beim Vortrag einer alt­ testamentlichen Lesung, der prophetia, im Rahmen der nächtlichen Gottesdienste. Am Papsthof der Renaissance war dies nur noch bei den drei entsprechenden »Düsteren Metten« der Karwoche sowie bei der Allerheiligenlitanei der – seinerzeit freilich bereits am Karsamstagmorgen gefeierten – Osternachtsliturgie der Fall. Nur zu diesen insgesamt vier Gelegenheiten in Gottesdiensten der Karwoche gingen einzelne Sänger quer durch den Raum der Sixtinischen Kapelle – ansonsten war der Sängerchor allen rang- und präzedenzrechtlichen Raumfragen, von seiner Sängerkanzel herabsingend, buchstäblich enthoben.29 Irritierend erscheint in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick jedoch die Tatsache, dass die Zeremoniare sogar den Schildknappen dienen, einem

28 Vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 119 und 124–126. 29 Vgl. ebd., 129–148.

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nicht nur höfischen, sondern nachgerade ritterlich-turnierartigem Amt. Hatten nicht das zweite und dritte sowie nochmals bestätigend auch das besonders einflussreiche vierte Laterankonzil der Jahre 1139, 1179 und 1215 Turniere ausdrücklich verboten?30 Bei näherer Betrachtung siegt in diesem System jedoch nicht die höfische Ordnung über die kirchliche. Vielmehr müssen hiernach sämtliche Höflinge, bis hin zur untersten Ebene, den Anweisungen des Zeremonienmeisters Folge leisten. Es scheint also, als bestehe gar kein Widerspruch zwischen dem höchsten, meisterhaften Expertenrang des leitenden Zeremoniars und seiner generell nachgeordneten Stellung bei Präzedenzregeln – ganz im Gegenteil: Gerade weil die Zeremonienmeister aus dem Amt der liturgischen Ministranten hervorgegangen zu sein scheinen und für ihre Expertisen sogar einen gewissen Ersatz ihres praktisch-anleitenden – wenn dieser verkürzte Vergleich erlaubt sei – »Lehrdeputats« erhielten, gerade deshalb konnten sie alle dienend anleiten. Nur auf diesem Wege war es möglich, die kirchliche Liturgie über das höfische Zeremoniell und damit den innersten Kern der Papstkirche selbst über jene Elemente zu stellen, die dem Bereich des Hofes entstammten, diesen sichtbar widerspiegelten und als »cortegiani« dienten. Die päpstliche Kapelle bildete dabei zwischen Kirche und Hof eine ganz besondere Sphäre. Sie kann als eigentlicher Nukleus des Renaissancepapsttums gelten. Fanden doch, wie bereits erwähnt, fast sämtliche Papstgottesdienste, die ihrerseits als »päpstliche Kapelle« bezeichnet wurden und werden, in diesem Raum statt, wobei alle Mitglieder dieses gleichnamigen Personenverbandes ihrerseits als wiederum so genannte »päpstliche Kapelle« zusammenkamen. Trat nun dieser Personenverband tatsächlich auch einmal geschlossen in Erscheinung, so durften folgerichtig auch die Zeremoniare den ihnen nach der Rangordnung des Hofes gebührenden Platz zwischen öffentlichen und geheimen Kammerherren auch in der Präzedenzordnung der Kapelle einnehmen: »Ich nehme jedoch den Fall heraus, wenn alle zum Kapellkollegium Gehörenden unterschieden werden; denn dann steht und schreitet selbst der Meister an seiner ihm gebührenden Ehrenstellung, zwischen den geheimen Kammerherren des Papstes auf der einen und den anderen, öffentlichen Kammerherren auf der anderen Seite. Dies kann am Tag von Mariä Reinigung (›Lichtmess‹) sowie am Aschermittwoch, Palmsonntag, Karfreitag und ähnlichen Akten und Tagen gesehen werden, wie ich an den entsprechenden Stellen jeweils erörtern werde.«

Als Paris de Grassis selbst die Bischofsweihe erhalten hatte, änderte sich auch dieser Rang: Nun durfte auch er sich als einer der Prälaten innerhalb der Kapelle

30 Vgl. Kanon 14 des zweiten, Kanon 20 des dritten und Kanon 18 des vierten Laterankonzils; Giuseppe Alberigo/Josef Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Bd. 2, Konzilien des Mittelalter. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517). 3. Aufl. Paderborn u. a. 2000, 200 f. und 244.

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sehen – sofern sein persönlicher Rang und nicht seine amtliche Stellung in der Präzedenz gefragt war.31 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die besonderen Fähigkeiten der Zeremonienmeister als Experten gereichten diesen gerade nicht zu einer Darstellung ihrer Künste, sondern bedingten ihren funktionalen Einsatz im – freilich anleitenden – Dienst aller. Die liturgische Herkunft ihres Amtes aus der Reihe der Akolythen, jener rangniedrigen gottesdienstlichen Ministranten, bedingte ihre präzedenzrechtlich niedrige Stellung. Selbst den Kantoren und den  – so können wir ergänzen  – Ostiariern, den allerniedrigsten Weihegraden, hatten sie im performativen Ablauf präzedenzmäßig zu weichen. Nur so konnte jedoch der Primat der Kirche über den Hof vor Augen geführt und damit regelmäßig wiederholend bestätigt, ja sogar immer wieder neu konstituiert werden. Was für vormoderne Rituale und Zeremonielle auch in anderen Zusammenhängen von der modernen Forschung festgestellt worden ist,32 gilt einmal mehr für den Papsthof: Nicht nur jedes der rituellen Sakramente bewirkt, was es darstellt­ (»efficit, quod figurat«), sondern auf einer anderen Ebene auch manche, von den Zeremoniaren entsprechend erläuterte, Zeremonie. Die Zeremoniare bildeten also eine entscheidende amtliche Scharnierfunktion zwischen Hof und Kirche  – zulasten ihrer persönlichen Präzedenz. Ihr eigentlicher Rang bei Hof wurde nur sichtbar, wenn ihr persönlich wahrgenommenes Amt in der Institution der päpstlichen Kapelle aufging. Die päpstliche Kapelle als Personenverband war weder eine rein liturgisch-sakramentale noch eine zeremonial-höfische Institution. In ihr erschien der innerste Kreis der päpstlichen Kurie, die ihrem hochmittelalterlichen Ursprung nach kaiserlich-bischöflichen Vorbildern entsprach, aber doch immer eine kirchliche c­ uria blieb, ohne zur spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen curtis zu werden. Erst wenn curtis und curia zeitlich, räumlich und institutionell zusammenkamen, durften die Zeremoniare nicht nur als liturgische Diener in Erscheinung treten, sondern als geschätzte Experten des Hofes. II.2 Persönliche Kompetenzen. Bildungsstand, Expertenwissen und Expertisen

Welche persönlichen Fähigkeiten aber hatten diese Experten vorzuweisen? An Agostino Patrizi Piccolomini (a), Johannes Burkard (b)  und Paris de Grassis (c) mag dies beispielhaft deutlich werden. 31 Auf diesen Umstand hat mich Nelson H. Minnich, Washington D. C., bereits 2001 hingewiesen. Dem in allen Details nachzugehen, würde eine eigene Studie erfordern. Zum neuen Verständnis seines Amtes s. Jennifer M. DeSilva, Official and Unofficial Diplomacy between Rome and Bologna. The de’ Grassi Family under Pope Julius  II, 1503–1513, in: Journal of Early Modern History 14, 2010, 535–556; sowie einen von derselben Autorin für die Zeitschrift Catholic Historical Review angekündigten Aufsatz. 32 Vgl. oben Anm. 12.

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a) Generalist zwischen Kurie, Konzil und Kaiserhof. Agostino Patrizi Piccolomini (1466–1488)

Um 1435 in Siena geboren, war Agostino Patrizi dort zunächst Kathedral­sänger, später Kanoniker, um schließlich 1466 als Zeremoniar an den päpstlichen Hof zu wechseln.33 Bereits im April 1464 ist er in den Registern des Vatikanischen Geheimarchivs als Priester nachweisbar,34 am 10.  Juli  1479 als Kapellkleriker (»Capelle nostre clericus cerimoniarum«).35 Am 19. August 1484 erhielt er das Bistum Pienza, wofür er 195 Gulden an die apostolische Kammer zahlte.36 Im Jahr zuvor war er kurzzeitig aus dem Amt des Zeremoniars geschieden,37 um schließlich zum obersten Zeremoniar des Papstes aufzusteigen.38 Seine zahlreichen Pfründe durfte er per Dispens entgegen dem geltenden Kirchenrecht auch nach seiner Bischofsweihe behalten.39 Bereits am 10. März 1478 hatte Sixtus IV. Patrizi einige Zeit freigestellt, damit dieser an seinem Kurienzeremoniale arbeiten konnte.40 Im Jahre 1488, während des Pontifikats Innozenz’  VIII., schloss Patrizi dieses Werk ab. Am 13. Mai dieses Jahres zog er sich dann endgültig aus dem Amt des Zeremonienmeisters zurück.41 33 Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 9*, Anm. 44 f. Zur Bedeutung des Status eines Kathedralsängers im Rahmen der Ausbildung von Klerikern s. Jörg Bölling, Kinder, Chöre, Curricula. Zur Institutions- und Bildungsgeschichte von pueri cantores, in: Nicole Schwindt (Hrsg.), Rekrutierung musikalischer Eliten. Knabengesang im 15. und 16. Jahrhundert. (troja. Jahrbuch für Renaissancemusik, Bd. 10/2011.) Kassel u. a. 2013, 93–109. 34 Vgl. Archivio Segreto Vaticano (im Folgenden ASV), Reg. Vat. 516, fol. 258r. Diese und die folgenden, Dykmans’ Angaben ergänzenden prosopographischen Quellenbelege zu Patrizi verdanke ich der Einsichtnahme in den von mir aufgefunden Nachlass von Franz Wasner; vgl. unten Anm. 40 f. 35 Vgl. ASV, Reg. Vat. 594, fol. 13r (Angabe von Franz Wasner). 36 Vgl. ASV, Reg. Lat. 833, fol. 263r/v (zum Erhalt des Bistums); sowie: ASV, Cam. Ap., Intr. et Ex. 509, fol. 116r/v bzw. 115r/v (Zahlungsbelege); Angaben Franz Wasners. 37 ASV, Reg. Vat. 659, fol. 136v–137r (29. November 1483, Angaben Franz Wasners). 38 ASV, Arm. XXXIX 20, fol. 50r/v bzw. 49r/v; vgl. Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 14*, Anm. 66 f. 39 Vgl. ASV, Reg. Vat. 510, fol.  345v; Reg. Vat. 483, fol.  285r; Reg. Vat. 496, fol.  52r; Reg. Vat. 510, fol. 345v; Reg. Suppl. 796, fol. 21r; Reg. Vat. 848, fol. 262v–263r (Angaben Franz Wasners). 40 Vgl. Vat. lat. 5633, fol.  24r–25r. Diese und die folgende Information verdanke ich der mir 2001 gewährten Einsichtnahme in ein von mir aufgefundenes, unabgeschlossen und unveröffentlicht gebliebenes Typoskript Franz Wasners mit dem Titel »AGOSTINO­ PATRIZI UND DER LIBER CAEREMONIARUM S. R. E.«. Wohl aufgrund der Publikation der beiden Bände durch Dykmans in den Jahren 1980 und 1982 sah Prälat Dr. Franz Wasner (1905–1992) von einer Veröffentlichung seiner noch nicht komplett abgeschlossenen Studie ab. 41 Vgl. ASV, Arm. XXXIX 20, fol. 50r/v [49r/v]; ebd. Offenbar erhielt er am 2. Januar 1485 von Innozenz VIII . eine Erhöhung seiner Rente von 20 Gulden auf lebenslang 70 Gulden (ASV, Reg. lat. 848, fol. 263r). Ausscheiden aus dem Amt und Tod scheinen ebenfalls dokumentiert (ASV, Arm. XXXIX , fol. 50r–50v). Bei den Archivnachweisen handelt es sich wiederum um Angaben aus dem besagten Nachlass Franz Wasners.

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Seinen Beinamen »Piccolomini« hatte er durch keinen geringeren als Enea Silvio Piccolomini, Papst Pius  II. (1458–1464 im Amt), erhalten. Pius  II. hat sich vor allem in kunsthistorischer und literarischer Hinsicht einen Namen gemacht. Seinen pagan-antiken Vornamen Aeneas legte er nach seiner Wahl im Konklave ab, um dessen bei Vergil regelmäßig begegnendes Epitheton »Pius«, das freilich auch christlich gedeutet werden konnte, als Papstnamen anzunehmen.42 Seine Geburtsstadt Corsignano ließ er nach antiken Vorgaben in humanistischer Gesinnung neu gestalten und seinem neuen Namen folgend in »Pienza« umbenennen,43 jene Stadt, deren Bischof Patrizi später werden sollte.44 Mit seinen »Commentarii« setzte er sich und seiner häufiger auch außerhalb Roms weilenden Kurie ein literarisches Denkmal.45 Weit weniger Beachtung hat jedoch bislang der Umstand gefunden, dass Pius  II. vor seiner Wahl zum Papst selbst päpstlicher Zeremoniar gewesen war, und zwar in bewegten Zeiten: Auf dem streng konziliaristischen, die Oberhoheit Papst Eugens  IV. ablehnenden Konzil von Basel hatte er die Wahl des letzten Gegenpapstes Amadeus’ VIII. von Savoyen, der sich Felix V. nannte, nicht nur miterlebt, sondern wurde sogar dessen Sekretär und schließlich Zeremoniar.46 Papst Pius II. war also nicht nur ein Exponent zeitgenössischer Antikenrezeption und Autobiographik, sondern auch ein ausgewiesener Experte für das äußere, zeremonielle Erscheinungsbild jenes Amtes, das des Papstes. Was lag da näher, als seinen eigenen Zeremoniar, Agostino Patrizi, ehrenhalber zu adoptieren? Patrizi eignete sich dafür aufgrund seiner berufsspezifischen Ausbildung wie auch seiner persönlichen Bildung wie kaum ein anderer. Hatte Papst Pius II. seinerzeit das neben der Chronik des Johannes de Segovia bedeutendste Dokument zum Ablauf des Basler Konzils hinterlassen, so fasste Patrizi diese und weitere Konzilsquellen in seinem »Summarium concilii Basiliensis« zusammen.47 In ähnlicher Weise ließ er auch die zweite Romfahrt Kaiser Friedrichs III. von 1468 und seine eigene Reise nach Deutschland, »De legatione Germanica«, als Sekretär des Kardinallegaten Kardinal Tedeschini 1471 zum Reichstag nach Regensburg Revue passieren. Seine für Päpste wie auch für deren Zeremoniare in Hochund Spätmittelalter übliche Ausbildung zum Kanonisten spiegelt die Biographie für seinen Lehrer, den Kanonisten Fabiano Benci di Montepulciano, wider.48 In 42 Volker Reinhardt, Pius II . Piccolomini. Der Papst, mit dem die Renaissance begann. Eine Biographie. München 2013 (Lit.). 43 Ebd. 44 Vgl. oben Anm. 36. 45 Arnold Esch, Pius  II . im Selbstbildnis seiner Commentarii, in: Martin Wallraff (Hrsg.), Gelehrte zwischen Humanismus und Reformation: Kontexte der Universitätsgründung in Basel 1460. (Litterae et Theologia, Bd. 2.) Berlin u. a. 2011, 1–20. 46 S. dazu: Ursula Gießmann, Der letzte Gegenpapst: Felix V. Studien zu Herrschaftspraxis und Legitimationsstrategien (1434–1451). (Papsttum im mittelalterlichen Europa, Bd. 3.) Köln 2014. 47 Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 17* f. 48 Ebd., 16* f.

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seinem Traktat »De legato a latere« konnte er somit seine persönliche Erfahrung im Gefolge Tedeschinis ebenso einfließen lassen wie seine kanonistische Ausbildung durch Benci di Montepulciano. Beide Stränge fließen auch in seinen beiden Hauptwerken zusammen: dem für die Liturgie des Bischofs bestimmten Pontifikale und dem sämtliche Bereiche des Zeremoniells am Papsthof regelnden Zeremoniale. Das Pontifikale stellt letztlich eine Neuauflage des gleichnamigen liturgischen Buches aus der Feder des Guilelmus Durandus dar.49 Sein Zeremoniale hingegen ist eine wirkliche Neuschöpfung – gerade auch gegenüber dem weiterhin benutzten, ab 1459 sogar mehrfach gedruckten »Rationale divinorum officiorum« des Durandus.50 Stellt dieses »Rationale« eine Zusammenstellung der einschlägigen allegorischen Auslegungen seit dem Frühmittelalter zu den Themen Kirchengebäude, Kirchenämter, Messe, Stundengebet und Kirchenjahr (nach Sonntagen und Heiligen) dar, so orientiert sich Patrizis Zeremoniale exakt am Pontifikale: Auf die okkasionellen Zeremonien wie Krönung, Adventus und Beerdigung des Papstes und seiner Kardinäle, bei Patrizi Buch 1, folgt ein Überblick über das Kirchenjahr, von Patrizi als Buch 2 konzipiert, um schließlich allgemeingültige Rang- und Präzedenzordnungen, etwa die Sitzordnung in der päpstlichen Kapelle, darzustellen, von Patrizi als drittes und letztes Buch zusammengestellt.51 Seine innovative, im Pontifikale nur der inhaltlichen Abfolge nach angelegte Untergliederung in drei Bücher erlaubte es Patrizi, die recht knappen Rubriken des Pontifikale durch historische Beispiele und kritische Bemerkungen ausführlich zu ergänzen und zu vertiefen. Dadurch schuf Patrizi eine inhaltlich und formal an der alten, weiterhin geltenden Tradition orientierte, jedoch funktional auf Praktikabilität ausgerichtete Systematik, in der historische Entwicklung, gegenwärtige Praxis und zukünftige Aufgaben gleichermaßen berücksichtigt sind. Stehen in Durandus’ »Rationale divinorum officiorum« die – freilich durchaus beindruckende – kanonistisch durchdrungene Vollzähligkeit von mitunter widersprechenden Traditionen im Vordergrund, so sind es in Patrizis Zeremoniale schlichtweg Angemessenheit und Brauchbarkeit.52 Beide Autoren, Durandus wie Patrizi, bedienen sich ihrer kanonistischen Kenntnisse. Doch nur Patrizi gelang es, um es mit Begriffen des kanonischen Rechts zu sagen, mehr als eine bloße päpstliche Dekretalensammlung zu hinterlassen: Was Gratian als Decretum für das Kirchenrecht hinterließ, konzipierte Patrizi mit

49 Vgl. Manlio Sodi (Hrsg.), Il »Pontificalis liber« di Agostino Patrizi Piccolomini  e Giovanni Burcardo (1485) Edizione anastatica, introduzione  e appendice. (Monumenta,­ studia instrumenta liturgica, Bd. 43.) Vatikanstadt 2006; Ders., Il contributo di Agostino Patrizi Piccolomini e Giovanni Burcardo alla compilazione del »Pontificale Romanum«, in: Rivista Liturgica 94, 2007, 459–472. 50 Zu den einzelnen Ausgaben s. unten Anm. 116 f. 51 Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm.  5); Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 25–29. 52 Vgl. ausführlich: Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 80–90; Inhaltsangaben bei: Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5).

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seinem Caeremoniale für Liturgie und Zeremoniell: Zum einen fasste er darin die bestehenden römischen Traditionen und päpstlichen Einzelentscheidungen zusammen, zum anderen schuf er mit diesem Werk ein brauchbares Handbuch für alle wesentlichen weiteren Fragen und Problemfälle. Kann ein solcher scholastisch geschulter Experte überhaupt mit einem gefeierten Humanisten wie seinem Namensgeber Enea Silvio Piccolomini mithalten? Das Format des Zeremonienbuchs bot dazu wenig Gelegenheit. Und doch zeigen sich Patrizis besondere persönliche Kompetenzen nicht nur gegenüber seinen mittelalterlichen Vorläufern wie Durandus. Vielmehr spiegeln seine Werke auch eine solide humanistische Bildung wider. Auch wenn der Text seines Zeremoniales aufgrund der technischen Funktion die Stilistik antiker Klassiker und gelehrter Humanisten vermissen lässt, so zeugen doch die zahlreichen Rekurse und Zitate von einem regen Interesse an der Antike. Anhand seiner gelehrten Zitationen und Anspielungen erweist Patrizi sich als Leser griechischer Autoren wie Aristoteles, Platon, Dionysios von Halikarnass und Polybios, vor allem aber lateinischer Schriftsteller: Cicero, Ovid, Horaz, Livius, Juvenal, Sueton, Plautus, Gellius, Varro, Valerius Maximus sowie Laktanz und Paulus Diaconus.53 Mehr als literarische Spolien bilden diese Reminiszenzen zwar nicht. Doch Patrizi konnte es letztlich ja nur darum gehen, einen allgemein brauchbaren Text zur Verwendung an der Kurie zur Verfügung zu stellen. Dadurch war ihm weit mehr gelungen als vielen seiner literarisch ambitionierteren Zeitgenossen. Kamen diese oft über epigonenhafte Versuche zweifelhafter Qualität nicht hinaus, setzte Patrizi ganz neue Maßstäbe: Erst durch dieses sein dreigliedriges Buch ist aus der Performanz der verschiedenen päpstlichen Zeremonien, dem Gesamtkomplex »Zeremoniell«, ein textuell einheitliches »Zeremoniale« entstanden, das es überhaupt erlaubt, in Schrift und Performanz ganz allgemein von »Papstzeremoniell« zu sprechen. b) Innovativer Liturgiker und Chronist der Kurie. Johannes Burckard (1483–1506)

Patrizi hatte sowohl beim Pontifikale als auch beim Zeremoniale einen ebenso kompetenten wie engagierten Mitarbeiter: Johannes Burckard aus Straßburg.54 Auch er war Kathedralsänger und später Kanoniker gewesen, freilich in Straßburg statt in Siena, bevor er dann Patrizi zur Hand ging und ihm schließlich nachfolgte. In seiner Heimat hatte er sich verschiedene Vergehen zuschulden kommen lassen, darunter Urkundenfälschung. In Rom unternahm er offenbar den nicht ganz erfolglosen Versuch eines Neuanfangs.55 In liturgiegeschichtlichen Studien wird vor allem auf Burckards »Ordo missae« verwiesen, dessen 53 Ebd., 23*. 54 Vgl. oben Anm. 7. 55 S. dazu bereits Jean  Lesellier, Les méfaits du cérémoniare Jean Burckard, in: Mélanges d’archéologie et d’histoire d’École française de Rome 44, 1927, 11–34.

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Rubriken später die Grundlage für das Messbuch Papst Pius’ V. von 1570 bildeten – jenes Messbuch, das erstmals weltweite Geltung beanspruchte und immerhin 400 Jahre fast vollständig unverändert bleiben sollte.56 Gemeinhin wird dabei auf einen Druck von 1502 verwiesen57, der allerdings die zweite Auflage darstellt. Das Original ist eine Inkunabel von 1496, von der auch in der Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek ein Exemplar verwahrt wird.58 Burckards Beitrag zur weltweit während der gesamten Neuzeit gültigen römisch-katholischen Messliturgie hat seine anderen beiden Werke lange Zeit in den Hintergrund treten oder nur aus sehr beschränkter Perspektive wahrnehmen lassen: sein vor allem wegen vermeintlicher Skandale aus dem Pontifikat des Borgia-Papstes Alexander  VI. ausgeschlachtetes Tagebuch und seine kaum bekannte Mitarbeit am Kurienzeremoniale Patrizis. Dabei ist textkritisch, in Teilen sogar bereits durch den bloßen paläographischen Befund, recht gut zu rekonstruieren, welchen Anteil Burckard an Patrizis Zeremonialwerk hatte und welche nachträglichen Modifikationen und Erweiterungen auf ihn zurückgehen.59 Sowohl Burckards älteste Eigenanteile als auch seine jüngeren Rezensionen lassen eine große praktische Erfahrung im täglichen Geschäft des Zeremoniars erkennen. Burckard ging so vor, dass er zunächst eine Reihe von Randnotizen hinterließ, die er später in seine eigene Abschrift unterschiedslos integrierte – ein Verfahren, das noch ein Jahrhundert später eine gewisse Relevanz behalten sollte.60 Doch Marginalien boten nur sehr begrenzten Raum für weiterführende Hinweise. Weit ausführlichere Darlegungen ermöglichte eine zeremonialliterarische Form, die schon in früheren Jahrzehnten zur Dokumentation bestimmter Ereignisse eine Rolle gespielt hatte, von Burckard nun aber  – anfänglich wohl aus eigenem Antrieb  – fast täglich geführt wurde: ein Tagebuch. Zu56 Vgl. Missale Romanum. Editio princeps (1570). Edizione anastatica, Introduzione e Appendice, hrsg. v. Manlio Sodi/Achille Maria Triacca. Presentazione di S. E. Card. Carlo M. Martini, Arcivescovo di Milano. (Monumenta Liturgica Concilii Tridentini, Bd. 2.) Vatikanstadt 1998. 57 Ordo missae Ioannis Burckardi, in: John  W. Legg (Hrsg.), Tracts on the Mass. (Henry Bradshaw Society, Bd. 27.) London 1904, 119–178. 58 Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 8 H E RIT I, 7860 INC . Die hier enthaltenen, bisher völlig unberücksichtigten handschriftlichen Randnotizen könnten auch näheren Aufschluss über die bisher kaum erforschte Geschichte dieses »Ordo« geben. Siehe dazu einstweilen: Jörg Bölling, Vorauseilende Reformen. Musik und Liturgie im Umfeld des Trienter und des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Stefan Heid (Hrsg.), Operation am lebenden Objekt. Roms Liturgiereformen von Trient bis Vaticanum  II . Berlin 2014, 141–164, hier 146 f. und 150–155. 59 Vgl. dazu: Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 70*–97*. 60 Siehe dazu die bis heute einer Edition harrenden Beispiele: ebd., 78*–94*; sowie bei: Bölling, »Vide apostillam«. Eine unbeachtete Quelle zur Geschichte des frühneuzeitlichen Papstzeremoniells, in: Miscellanea Bibliothecae Apostolicae Vaticanae 10. (Studi e Testi, Bd. 416.) Vatikanstadt 2003, 51–73; s. ferner die Teileditionen bei: Ders., Causa differentiae (wie Anm. 20); und die Edition von: Stenzig, Botschafterzeremoniell (wie Anm. 20).

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nächst scheint der Zeremoniar nur zur eigenen Erinnerung Ereignisse ab dem Jahr 1483 festgehalten zu haben. Die Tatsache aber, dass er später Passagen hinzufügte, die Alexander VI. desavouieren sollten und in der Tat das negative Bild dieses Borgia-Papstes bis heute maßgeblich prägen, zeugt davon, dass Burckard zumindest ab Anfang des 16. Jahrhunderts mit anderen Lesern rechnete, vor allem wohl mit Nachfolgern im Amt des Zeremonienmeisters.61 Zahlreich sind in diesem Tagebuch vor allem Hinweise auf liturgische Abläufe. Aus dabei entstehenden Auseinandersetzungen gezogene Schlussfolgerungen und Entscheidungen wurden dann später an dafür geeignet erscheinenden Stellen im Kurienzeremoniale ergänzt, und zwar bereits in der ersten Redaktion des Patrizi von 1488. Dies zeigt sich beispielsweise an der Angabe zum 1. November, zum Hochfest Allerheiligen. Zunächst deutet dabei alles auf rein liturgische Fragen hin. Und doch geht es um Probleme, die unmittelbar den päpstlichen Hof und dessen Binnenstruktur betreffen. Zum 1.  November des Jahres  1487, Allerheiligen, hat Burckard in seinem amtlich geführten Tagebuch zwei verschiedene Ereignisse von besonderer Bedeutung notiert: zum einen die am Morgen als »missa cantata« zelebrierte feierliche Papstmesse von Allerheiligen (die erste Vesper dieses Hochfestes am Vorabend erwähnt er nur kurz), zum anderen die am Abend desselben Tages unter persönlicher Anwesenheit des Papstes gesungene Vesper mit darauffolgender Matutin des nächsten Tages, Allerseelen.62 Die lakonischen Bemerkungen zum morgendlichen gesungenen Hochamt, der Papst habe der Messe mit Predigt in St. Peter beigewohnt, bestätigen die korrekte Durchführung der nach der zeitgenössischen Tradition vorgesehenen Zeremonien, ohne diese im Einzelnen zu benennen. Burckard wollte hier offenbar keinen Präzedenzfall für die Nachwelt festhalten, sondern lediglich die Geltung der üblichen Zeremonien bestätigen – so wie sie von ihm und seinem Vorgesetzten Patrizi im darauffolgenden Jahr  1488 durch das Kurienzeremoniale dauerhaft schriftlich fixiert worden sind. Zum Verlauf der anschließenden Vorabend-Vesper und Matutin von Allerseelen vermerkte Burckard hingegen, dass die Gewandung der »episcopi assistentes«, jener bereits erwähnten, auch »praelati assistentes« genannten päpstlichen Thronassistenten, nicht angemessen gewesen sei: Sie zogen ihre Kapuzen nach Art des Papstes bei feierlichen Ämtern über den Kopf und trugen ihre Chormäntelchen (»mantelli«) mit Schleppen (»cum caudis«), wobei einige diese sogar etliche Meter hinter sich herschleifen ließen – so, als handele es sich um 61 Zu Burckards fragwürdigen nachträglichen Interpolamenten s. Franz Wasner, Eine unbekannte Handschrift des Diarium Burckardi, in: Historisches Jahrbuch 83, 1964, ­300–331; Annibale Ilari, Il Liber notarum di Giovanni Burcardo, in: Maria Chiabò u. a. (Hrsg.), Roma di fronte all’Europa al tempo di Alessandro VI . Atti del convegno (Vatikanstadt – Roma, 1–4 dicembre 1999). Bd. 1. (Pubblicazioni degli Archivi di Stato, Saggi 68.) Rom 2001, 249–321. 62 Johannis Burckardi Liber Notarum, hrsg. v. Enrico Celani, Bd. 1. (Muratori, Rerum Italicarum Scriptores. Nuova Edizione, Bd. 32/1.) Città di Castello 1906–1942, 209, Z. 1–39.

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längere Chormäntel (»cappae«).63 In seiner abschließenden Zeremonialbearbeitung von 1488 hob Burckard wohl aufgrund dieser schlechten Erfahrung die zugrundeliegende Regel besonders hervor: Trägt der Papst anstelle der »cappa« das schlichtere »mantum«, sind dazu auch die Thronassistenten verpflichtet: »Et cum pontifex manto et huiusmodi caputio utitur, prelati assistentes non debent habere cappas sed mantellos.«64 Warum aber wichen die Thronassistenten von der angeblichen Tradition und Burckards Vorstellung ab – »preter consuetudinem et bonas cerimonias et contra voluntatem meam«?65 Wie Burckard ausdrücklich betont, hatte sie ein anderer Zeremonialexperte dazu aufgefordert: Sie handelten »ad persuasionem episcopi Aleriensis eorum decani«.66 Der insinuierende Bischof von Aléria auf der Insel Korsika war zum damaligen Zeitpunkt Ardicino della Porta, ein Neffe des amtierenden Papstes Innozenz  VIII. und Kardinal mit großem Einfluss.67 Als päpstlicher Nepot meinte er, sich offenbar auch in zeremonialer Hinsicht einiges herausnehmen zu können. Am folgenden Tag, Allerseelen, wiederholte er seine abweichende Expertise, angeblich sogar mit einem regelrechten »Geheiß« (»iussione«); dieses Mal begründete er seine Auffassung explizit damit, er habe den Papst noch niemals mit eingeknickter Kapuze und kleinerem Chormäntelchen einherschreiten sehen und stelle seit der Zeit Pius’ II. einen weit erfahreneren kurialen »Zeremonienmeister« als Burckard dar (»curialem ceremoniarum longe nobis peritiorem magistrum«).68 Das Expertentum des Burckard wird hier zugunsten der eigenen Erfahrung in Frage gestellt, die persönliche Stellung als ranghöchster Thronassistent – »Dekan«, wie Burckard schreibt – gezielt genutzt. Es wäre viel einfacher und übersichtlicher gewesen, wenn Patrizi und Burckard hier einfach die Regel formuliert hätten, die Thronassistenten hätten sich der zuvor vom Papst gewählten und ihnen vorab mitzuteilenden Gewandung anzupassen – ganz so, wie Burckard es in einer längeren nachträglichen Glosse zum Palmsonntag festgehalten hat.69 Bei allen sonst vorherrschenden Systema­ 63 Ebd., Z.  8–20 und 32–39. Zu den genannten liturgischen Kleidungsstücken s. Joseph Braun, Liturgisches Handlexikon. 2.  Aufl. Regensburg 1924 (Nachdruck: München 1993), 59 f. und 202. 64 Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 434, Z. 9 f.; hier mit stillschweigender Korrektur des Druckfehlers »hiusmodi« (ebd., Z. 9). Die Annahme, dass Burckard diese Passage des Kurienzeremoniales in seinem Diarium kommentiert habe (»Le texte est commenté par Burckard«, ebd., in Anm. 2), lässt sich aber nicht aufrechterhalten. Vielmehr bildet die nachträglich dokumentierende Darstellung Burckards im Diarium vom 2. November 1487 die Grundlage für die normative Formulierung im Zeremoniale. 65 Ebd., 209, Z. 10. 66 Ebd., Z. 10 f. 67 Vgl. Mauritius Joos, Papst Innozenz VIII . Familie – Karriere – Nepotismus, mschr. Lizentiatsarbeit, Freiburg/Schw. 2004, 59 f., ferner 50 f. und 73 f. 68 Vgl. Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 209, Z. 34–37. 69 Ebd., 361; kritischer Apparat – ebenfalls bezüglich der »prelati assistentes«, nicht hinsichtlich der Kardinäle, wie das sonst freilich hilfreiche Register bei: Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 588, suggeriert.

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tisierungsversuchen Patrizis wird an Stellen wie dieser deutlich, dass es sich bei dem Zeremoniale in weiten Teilen um eine kontrafaktische Schrift handelt, die Normen aufgrund abweichender Erfahrungen oder zumindest anhand möglicher Devianzen dauerhaft festschreiben sollte. An der besagten Stelle zum Palmsonntag weist Burckard dann umgekehrt nach der bereits erfolgten Schriftlegung des Zeremoniales noch auf einige Besonderheiten hin. So führt das gleichzeitige Tragen des »mantum« durch die Thronassistenten analog zu dem durch den Papst noch lange nicht zu identischen Formen dieser Kleidungs­ stücke: Das »mantum assistentie«, auch »crocia« genannt, gleicht eher dem »mantum« der – ja ebenfalls am Papstthron allozierten70 – Kammerherren (»cubicularii«), nicht dem weit aufwändigeren des Papstes.71 Die bischöflichen Assistenten des Papstes rückten somit, obwohl ursprünglich mit liturgischen Aufgaben bedacht, optisch in die Nähe der Höflinge – aber auch umgekehrt galt: Die eigentlich rein liturgische Form des Gewandes wurde für gottesdienstliche wie höfische Funktionen und Funktionsträger im Gottesdienst verwendet. Was aber zeichnete dann noch die Kardinäle gegenüber den Bischöfen und sonstigen Prälaten am Papstthron aus? Die Kardinäle durften ebenso wie der Papst sogar eigene »cappae magnae«,72 an den Chormänteln hängende Schleppen, verwenden, für die sie eigene Träger, so genannte »caudatorii«, mitnahmen. Noch auf einem Stich von Étienne Dupérac aus dem Jahr 1578 sind beide Gruppen deutlich zu erkennen und explizit bezeichnet: Die »caudatorii« sitzen unmittelbar vor den Kardinälen, und wo zwischen den Schleppenträgern eine Lücke klafft, haben anstelle der Kardinäle hochrangige auswärtige Könige, Herzöge oder Fürsten Platz genommen  – freilich ohne »caudatorii«.73 Die päpstlichen Thronassistenten hingegen waren jene Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe, die – wie bereits kurz erwähnt – nur ehrenhalber, und zwar auf besondere, ad personam erteilte und nicht qua Amt vererbbare Erlaubnis des Papstes hin links neben dessen Thron Aufstellung beziehen durften. In ihrer eigenen Diözese durften sie regelmäßig eine Schleppe tragen, in Rom blieb dies das Vorrecht des Papstes und seiner Kardinäle. Die Schleppe diente somit aus der Sicht der Zeremoniare weder als Ausdruck bischöflicher Würde noch als Zeichen der Zugehörigkeit zum päpstlichen Hof. Gerade dadurch wurde aber die Rangordnung des Papsthofes von der sakramentalen Hierarchie unterschieden. Äußer70 Vgl. oben Anm. 28. 71 Vgl. ebd. Zur äußeren Gestalt und historischen Bedeutung dieser Kleidungsstücke s. Braun, Liturgisches Handlexikon (wie Anm. 63), 59 f. und 72. 72 Ebd., 60. 73 Vgl. BAV, Riserva Sragr. 7, fol. 116; s. dazu: Niels K. Rasmussen, »Maiestas Pontificia«. A Liturgical Reading of Étienne Dupérac’s Engraving of the Capella Sixtina from 1578, in: Analecta Romana Instituti Danici 12, 1983, 109–148; Bölling, Papstzeremoniell der Hochrenaissance (wie Anm. 3), 275 f.; und: Ders., Römisches Zeremoniell in Bayern. Herzog Albrecht V., Kardinal Otto Truchseß von Waldburg und die Fugger«, in: Reinald Becker/ Dieter Weiß (Hrsg.), Bayerische Römer – Römische Bayern. Lebensgeschichten aus Vorund Frühmoderne. St. Ottilien 2016, 167–198.

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lich traten die Thronassistenten mit ihren »mantelli« wie die Kammerherren oder auch die Kanoniker von St.Peter in Erscheinung. Obwohl sie selbst in ihrer eigenen Diözese jeweils über eine eigene Hofhaltung verfügten, konnte keiner von ihnen am Papsthof mit eigenem höfischem Gepränge auftreten. Hier bildeten sie äußerlich gewissermaßen ein Zwischenglied zwischen den hochrangi­ gen Vertretern des päpstlichen Hofes (»curtis«) und den Kardinälen der Kurie (»curia«). Die kirchlich-hierarchische Primatialgewalt des Papstes wurde in Form des Baldachins auch in höfisch-herrschaftlicher Hinsicht inszeniert. Doch von einer Umgestaltung der Kurie selbst machte der Papst keinen sichtbaren Gebrauch. Der eigentliche Hof des Papstes blieb seine nach kaiserlich-spätantikem Vorbild gestaltete curia, wohingegen höfische Elemente der curtis lediglich dem zusätzlichen zeremonialen Ausbau der Repräsentationsformen dienten, wie sie bei Residenzen des Spätmittelalters allgemein üblich waren und erwartet wurden. Doch es wäre verfehlt, die »curia« nur als zwar durchsetzungsstarkes, jedoch vergleichsweise starres Relikt einer vergangenen Zeit zu betrachten. Gerade im 15. Jahrhundert suchten die Kardinäle ihre eigene Apostolizität gegenüber jenem älteren und schließlich auch erfolgreicheren Modell der bischöflichen Amtssukzession zu etablieren.74 Handelt es sich dabei auch um ein letztlich gescheitertes Ansinnen, das spätestens mit der Einrichtung der Kardinalskon­ gregationen im Jahre 1588 nicht wieder hätte aufgenommen werden können, so spielte es im 15. Jahrhundert doch eine bedeutende Rolle.75 Warum also sollte der Papst seine bischöflichen Thronassistenten auf eine Stufe mit seinen Kardinälen stellen und warum die neuesten höfischen Moden über Gebühr berücksichtigen? Für die Zeremoniare Patrizi und Burckard jedenfalls war diese Frage entschieden, mochten sie den Papst vorab gefragt haben oder nicht – es blieb im besagten Fall dabei: »prelati assistentes non debent habere cappas, sed mantellos«. Die zeitweilig diskutierte Frage, ob Johannes Burckard mit seinem Tagebuch das Kurienzeremoniale Patrizis abgelöst oder aber lediglich dokumentierend und kommentierend angewandt habe,76 wird man wohl in allen vom Zeremoniale aufgeworfenen Fragen zu dessen Gunsten entscheiden können: Formulierungen wie ut est in libro bezeugen dessen Anwendung, Probleme resultierten 74 Jürgen Dendorfer/Ralf Lützelschwab (Hrsg.), Die Kardinäle des Mittelalters und der frühen Renaissance. (Millennio medievale. Strumenti e studi, Bd. 95.) (N. S., Bd. 33.) Florenz 2013; und v. a. dies. (Hrsg.), Geschichte des Kardinalats im Mittelalter. (Päpste und Papsttum, Bd. 39.) Stuttgart 2011. 75 Vgl. ebd. 76 Die herausragende Bedeutung des Kurienzeremoniales betonen vor allem Franz Wasner und Adalbert Roth, wobei Wasner mit Blick auf die verwandten Quellen – einschließlich der Berücksichtigung des seit 1453 nicht mehr amtierenden byzantinischen Kaisers  – eher die retrospektiv zusammenfassende Form und Roth eher die prospektiv normative, bis ins 20. Jahrhundert andauernde Gebrauchsfunktion unterstreicht.

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meist nicht aus dessen Maßgaben, sondern aus dessen mangelhafter Berücksichtigung – etwa durch zu früh einsetzende Sänger – oder unangemessen erscheinende persönliche Inszenierungsversuche wie dem Tragen der besagten Kleidungsstücke.77 Gleichwohl widmete sich Burckard in seinem Diarium zahlreichen Problemen, die in Patrizis Zeremoniale nicht behandelt worden waren und sich auch nicht durch bloße Randbemerkungen ergänzen ließen. Dazu gehörten vor allem die vielen Rang- und Präzedenzstreitigkeiten alter wie aufsteigender Potentaten, die ihre ererbte oder neue Macht auch äußerlich sichtbar dargestellt wissen wollten. Das Kurienzeremoniale war gerade in diesem Punkt bewusst offen geblieben, wohingegen diesbezüglich einzelne Konzeptpapiere Burckards mit Abschriften älterer entsprechender Auseinandersetzungen ständig vom Zeremoniar selbst wie auch von seinen nachfolgenden Kollegen ergänzt und kommentiert wurden.78 Hier liegt ein ähnlicher Fall vor wie im Kirchenrecht bei den Extravaganten, die neben dem Decretum Gratiani existierten und in Spezialfragen konsultiert, aber auch immer wieder überarbeitet wurden. Das chronikalische Zeremonialdiarium ersetzte in Verbindung mit den laufend erneuerten Konzeptpapieren das Kurienzeremoniale nicht. Vielmehr bildete es wie die Extravaganten zum Decretum Gratiani eine notwenige Ergänzung für zuvor  – mitunter wohl auch ganz bewusst, aus guten Gründen  – ungeklärte Detailfragen. c) Kritischer Jurist, Kanonist und Humanist. Paris de Grassis (1504–1528)

Wie Patrizi und Burckard so war auch ihr um 1460 in Bologna geborener Nachfolger Paris de Grassis zunächst Kapellsänger und schließlich Kanoniker – wiederum in der Heimatstadt, in seinem Fall in Bologna. Auch er war Kanonist, hatte aber im Unterschied zu seinen Amtsvorgängern sogar einen Doktorgrad beiderlei Rechts erworben.79 In Sachen Selbstreferenzialität keineswegs zurückhaltend, weist er aber auf diesen Dr. utriusque iuris nicht weiter hin. Wichtiger erschien ihm offenbar, sich als gelehrter Humanist zu inszenieren.80 Wie bereits angedeutet, richtete sich die Neufassung des Kurienzeremoniales durch Paris de  Grassis nicht gegen Patrizi, sondern gegen Burckards Mitarbeit, vor allem beim zweiten Teil, der dem Kirchenjahr gewidmet ist.81 Paris de Grassis’ Tagebuch steht unweigerlich in der Tradition Burckards, auch wenn er wegen der erwähnten Abneigung gegen Burckard ausschließlich antike Vorbilder heraufbeschwor. Wirklich neu im Werk des Paris de Grassis sind hin77 Dies gilt in weiten Teilen noch für die Frühe Neuzeit; vgl. Zunckel, Bedeutung des Zere­ monialwesens (wie Anm. 6); und: Wassilowsky/Wolf, Päpstliches Zeremoniell (wie Anm. 6). 78 Es handelt sich hierbei um die Codices Vat. lat. 5633, Vat. lat. 12348 und Vat. lat. 14585 (olim ACP 127); s. dazu die Literatur oben Anm. 60. 79 S. dazu: Ceresa, Grassi (wie Anm. 4). 80 Vgl. dazu ausführlich unten bei Anm. 151 ff. 81 Vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 38–41.

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gegen seine tiefschürfenden Traktate. Diese lassen sich grosso modo in zwei Gruppen unterteilen: zum einen die besonders ausführlichen, den Umfang regel­rechter Abhandlungen einnehmenden Ergänzungen zum Kurienzeremoniale Patrizis, zum anderen selbstständig konzeptualisierte und verfasste monographische Schriften. Zur ersten Gruppe gehören sein Traktat über den reitenden Papst, eine Erweiterung zum ersten Teil des Kurienzeremoniales, sowie sein viergliedriges sogenanntes »Supplementum«, eine Ergänzung zum zweiten, das Kirchenjahr betreffenden Teil des Kurienzeremoniales, die Paris de Grassis inhaltlich zwar als eine kleine, in sich abgeschlossene Monographie verfasste, bei deren Aufbau er sich jedoch an der bereits vorhandenen jahreszeitlichen Struktur des Kurienzeremoniales orientierte.82 Dieses Supplementum enthält als ersten Abschnitt allgemeine Hinweise zur Vorbereitung von Papstämtern durch den Zeremoniar einschließlich aller von diesem vorab zu instruierenden Akteure, an zweiter Stelle einen Traktat über den kirchlichen accentus (liturgische, rein vokale Einstimmigkeit gegenüber mehrstimmigem, auch instrumentalem concentus), die erste Abhandlung ihrer Art, drittens eine Art »Ordo« für den Gesamtablauf eines Papstgottesdienstes und viertens schließlich eine Zusammenstellung der wechselnden Farben der bereits mehrfach erwähnten Kardinalsschleppen im Kirchenjahr. Die zweite Gruppe, seine eigenständigen Expertisen, gehen teilweise auf äußere Anfragen, teilweise auf Eigeninitiative zurück. Seine Darlegungen zum accentus lässt er an vielen anderen Stellen anklingen und äußert sich darüber hinaus auch zur integralen Bedeutung von Mehrstimmigkeit, concentus, wobei ihm seine eigenen Fähigkeiten als Cembalo-Spieler zugutekamen.83 Neben der erwähnten Kleidung der Kardinäle äußert er sich im Rahmen des Supplementum auch zur Gewandung des Papstes bei Audienzen – Maßgaben, die auf seinen Dienstherren Julius II. zurückgehen, doch in der Folgezeit das äußere Erscheinungsbild und auch die amtlichen Portraits fast sämtlicher Päpste der Neuzeit bis ins 21. Jahrhundert prägen sollten.84 In eigenen Abhandlungen nimmt Paris de Grassis auch Stellung zur Kreation neuer Kardinäle, zur Bischofsweihe und, besonders ausführlich, im Umfang 82 Der von: Jörg Traeger, Der reitende Papst. Ein Beitrag zur Ikonographie des Papsttums. (Münchener kunsthistorische Abhandlungen, Bd. 1.) München/Zürich 1970; noch nicht berücksichtigte Traktat über den Papstritt knüpft an Patrizis Kurienzeremoniale an; vgl. die Edition bei: Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 184 f., Nr. 500–503 und 245 f. (»Appendice  II«). Paris de Grassis’ Supplementum ist eigenständig konzipiert, orientiert sich aber unmittelbar an der kirchenjahreszeitlichen Struktur des zweiten Buchs des Kurienzeremoniales. Vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 41–47. 83 Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 62 und 149–195; Ders., Zeremoniell und Zeit (wie Anm. 24). 84 Ders., Den Papst sehen. Eine Privataudienz im Medium des Bildes/Seeing the Pope, A Private Audience in the Medium of the Picture, in: Jochen Sander (Hrsg.), Katalog der Kabinettausstellung im Städel zum neuerworbenen Bildnis Papst Julius’ II . von Raffael und Werkstatt. Stuttgart 2013, 41–51 (mit Edition).

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mit dem Botschaftertraktat vergleichbar, zu den Bestattungsriten für Papst und Kardinäle.85 Äußere Anfragen betreffen vor allem seine nicht nur dem Inhalt nach, sondern auch in ihrer von Paris de Grassis geschaffenen Textgestalt weithin rezipierten normativen Schriften. Seine Ordo-Fassungen für einzelne Kardinäle fußen inhaltlich zu großen Teilen auf dem besagten »Ordo« des Supplementum, nunmehr allerdings minutiös auf die anfragenden Empfänger abgestimmt: im einen Fall etwa auf einen Kardinaldiakon wie Matthäus Lang von Wellenburg, im anderen auf einen Kardinalpriester wie Guillaume Briçonnet, Erzbischof von Narbonne.86 Die beiden originalen, heute in Salzburg bzw. Paris verwahrten Handschriften lassen sich durch eine weitere, heute in Cambridge verwahrte Übersicht über das Kirchenjahr sowie zahlreiche Manuskripte ergänzen, die für weitere Auftraggeber in Mailand, Venedig, Augsburg und München bestimmt waren.87 Von herausragender Bedeutung war jedoch das Kardinalszeremoniale für den Erzbischof von Bologna: Dieser wollte sich nicht nur als Teilnehmer des römischen Papstzeremoniells vorbereiten können und zurechtfinden, sondern die päpstlichen Zeremonien aus Rom für seine erzbischöfliche Liturgie in Bologna übernehmen. Aus der handschriftlichen, heute abschriftlich in Parma verwahrten ersten Fassung entstanden durch das editorische Engagement des Zeremoniars Franciscus Mucantius ab 1564 mehrere Drucke, aus denen im Jahre 1600 schließlich das Zeremoniale sämtlicher Bischöfe der römisch-katholischen Weltkirche hervorgehen sollte.88 All diese Texte waren von großer Relevanz nicht nur für ihre Zeit, sondern auch für die spätere Rezeption.89 Geht es aber um Paris de Grassis’ persönliche Anschauung, seine Regelungsversuche und räsonierenden Eruierungen, so sind innerhalb dieser zweiten Gruppe vor allem zwei Werke aufschlussreich: sein Traktat über das Botschafterzeremoniell 85 Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 41–64. Zu den Begräbnisriten s. Ingo Herklotz, Paris de Grassis »Tractatus de funeribus et exequiis« und die Bestattungsfeiern von Päpsten und Kardinälen in Spätmittelalter und Renaissance, in: Skulptur und Grabmal des Spätmittelalters in Rom und Italien. (Akten des Kongresses »Scultura e monumento sepolcrale del tardo Medioevo a Roma e in Italia«; Roma 4–6 Juli 1985) Wien 1990, 217–248; Nikolaus Staubach, »Quibus virtutum testimoniis in vita floruit, illis in morte ornetur.« Paris de Grassis und das kuriale Begräbniszeremoniell des frühen 16. Jahrhunderts, in: Joachim Poeschke/Britta Kusch-Arnhold/Thomas Weigel (Hrsg.), Praemium virtutis II, Grabmäler und Begräbniszeremoniell in der italienischen Renaissance des 16. Jahrhunderts. Münster 2005, 3–28. 86 Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 47–54. 87 Siehe dazu in Kürze: Ders., Römisches Zeremoniell (wie Anm. 73). 88 Caeremoniale Episcoporum. Editio princeps (1600). Edizione anastatica, Introduzione e Appendice, hrsg. v. Manlio Sodi u. a., Presentazione di S. Ecc. Mons. Piero Marini. (Monumenta Liturgica Concilii Tridentini, Bd. 4.) Vatikanstadt 1998. Hier findet sich auch ein kurzer Hinweis zum Kardinalszeremoniale des Paris de Grassis: XXXI, Anm. 79. 89 Vgl. Bölling, Vide apostillam (wie Anm. 60); Ders., Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 69–78.

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und sein bereits eingangs zitiertes »Caerimoniarum opusculum«, die sicherlich ausführlichste und differenzierteste Schrift über das Papstzeremoniell seiner Zeit, der Renaissance, schlechthin. Vor allem dieses »Caerimoniarum opsuculum«, in Mucantius’ Abschrift »De caerimoniis« betitelt und von diesem gern auch treffend  – wohl in Analogie zum gleichnamigen gesagten Werk des Durandus – als »Rationale« bezeichnet, hätte eine Art Liber extra werden können, zumal es eine entsprechende Nachfrage gab. Doch nicht Paris de Grassis selbst, sondern die Rezipienten seiner Schriften, per Ausleihe von Abschriften der Vatikanischen Bibliothek wie auch durch ungeprüfte Übernahme kursierender Gelehrtendiskurse, schufen das ominöse, bereits von vielen Forschern vergeblich gesuchte »Cerimoniale« des Paris de Grassis: Unter diesem Titel wurde eine Kombination aus Tagebuch, Kurienzeremonialergänzung und Traktatsammlung ausgeliehen: Codex Vat. lat. 5634 und Vat. lat. 5635.90 Die Einteilung in Gruppen und Untergruppen stellt freilich eine schematische Vereinfachung dar, die den umfänglichen, hier nur anzudeutenden intertextuellen Verflechtungen nicht im Geringsten gerecht zu werden vermag. Das gilt verschärft für das Supplementum und die räsonierenden Traktate,91 aber auch für das Verhältnis von Kurienzeremoniale und Tagebuch. Neben wörtlichen Übernahmen zeigt sich dies auch bei inhaltlichen Zusammenhängen. So liefert erst Paris de Grassis in seinem »Rationale« eine angemessene Erklärung für die Sonderrolle der geistlichen Thronassistenten. Ihm zufolge sind die »prelati assistentes« deshalb – wie oben bereits erwähnt – links vom Papstthron alloziert, weil sie dadurch dem Altar zugeordnet wurden, während rechts vom Papstthron, wo eigentlich die Geistlichen zu erwarten gewesen wären, die weltlichen niederrangigen Fürsten und Botschafter ihren Platz zum Kapelleneingang hin hatten.92 Was man bei Patrizi und Burckard nur erahnen oder mit Blick auf eigene historische Studien zu erläutern versuchen kann, verdeutlich Paris de Grassis explizit und ausführlich. In fast allen Schriften der Zeremoniare, zumal bei den Darlegungen für Kardinäle, schufen ursprünglich jedoch auswärtige Anfragen, nicht ein zentralistisch oktroyierender Gesamtentwurf, den Experten und seine Expertisen.

90 Vgl. Ders., Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 41 f. 91 Vgl. ausführlich: Ders., Vide apostillam (wie Anm. 60). 92 Siehe dazu: Ders., Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 125–127; Ders., Papstzeremoniell der Hochrenaissance (wie Anm. 3), 291–295. Die entscheidende Passage findet sich in ASV, Fondo Borghese, serie I, 568, fol. 127r–131r: »Quare status saecularis, idest principum ordo, a dextris, status autem ecclesiasticus, idest praelatorum assistentium ordo,  a sinistris solii pontificalis locatur. Et rursus quare principes semper stant nunquam sessuri, praelati vero stant pro commoditate quandoque sessuri, et de loco conservatorum baronumque urbis ibidem.« Vgl. hierzu bereits: Bölling, Causa differentiae (wie Anm. 20), 184–186, Anm. 259–267, und 186, Anm. 270.

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II.3 Grenzen der Kompetenzen. Papst, Kardinäle und auswärtige Experten

Abschließend stellen sich noch zwei Fragen: Wie handelten die Zeremoniare, wenn sie selbst keine Antwort auf die an sie gestellten Fragen als Experten wussten, und wie verhielten sie sich, wenn der Papst anders entschied, als sie es vorsahen? Waren die Zeremonienmeister offiziell zuständig, sahen sich aber nicht in der Lage, die zeremonielle Frage hinreichend zu klären, so wurden auswärtige Experten bemüht. Die amtlichen Kompetenzen gaben die päpstlichen Zeremonienmeister dabei nicht ab, holten dazu jedoch fremde persönliche Kompetenzen ein. Dies kam beispielsweise bei einem Rangstreit der lateinischen Titularpatriarchen von Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem93 mit dem römischen Stadtgouverneur (»gubernator urbis«) vor. Ihrem eigenen Verständnis nach hätten sie ihrem Rang nach zu den Kardinälen gerechnet werden müssen – wie es ihnen laut Paris ursprünglich tatsächlich auch einmal zugestanden worden war und auch späteren Quellen zufolge etwa im 16.  und noch im 18. Jahrhundert zugebilligt wurde.94 Papst Julius  II. hatte aber wenig Verständnis für diese Patriarchen, die er ihres persönlichen jugendlichen Alters wegen scherzhaft gern »Filiarchen« nannte. Sein Onkel, Sixtus  IV., hatte das Amt des Stadtgouverneurs bereits dauerhaft mit dem seines Vizekämmerers vereint.95 Die ehemals stadtrömische Aufgabe für die römische Kommune war somit einem hochrangigen Getreuen des eigenen Hofes übertragen worden. Julius II. stellte dieses rein höfisch gewordene Amt nun sogar noch über die altehrwürdigen Patriarchen, lateinische Titular-Patriarchen freilich, deren Vorgänger im Hochmittelalter kurzzeitig die altangestammten, sich auf Augenhöhe mit dem Papst als Patriarch des Abendlandes sehenden autokephal-orthodoxen Oberhirten politisch hatten verdrängen können. Ein solches Vorgehen des Papstes ließen sich zwei der Titular-Patriarchen angesichts der herausragenden historischen Bedeutung ihres Amtes nicht gefallen: Die Inhaber der lateinischen Patriarchenwürden von Konstantinopel und Antiochia verlangten vom Zeremonienmeister Paris de Grassis schriftliche Aufzeichnungen aus seinem amt93 Diese Titel gehen auf die Eroberung des Heiligen Landes und die Errichtung des lateinischen Kaisertums von Konstantinopel im Jahre 1204 zurück; vgl. Kanon 4 und 5, ferner Kanon 9 des vierten Laterankonzils: Alberigo/Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete (wie Anm. 30), 236 f. und 239. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird seitens des Papstes nur noch – und dies aus pastoralen Gründen zur Betreuung mit Rom unierter arabischer Christen – die Jerusalemer Patriarchenwürde verliehen. 94 Vgl. etwa: Andrea Adami, detto »il Bolsena«, Osservazioni per ben regolare il coro de i cantori della Cappella Pontificia, tanto nelle funzioni ordinarie, che straordinarie (Rom 1711), hrsg. v. Giancarlo Rostirolla. (Musurgiana, Bd. 1.) Lucca 1988, 25 und 96; Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 124 Anm. 70. 95 Bernhard Schimmelpfennig, Das Papsttum. Von der Antike bis zur Renaissance. 4. Aufl. Darmstadt 1996, 268.

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lichen Tagebuch. Bereitwillig legte dieser seine Aufzeichnungen vor, in die er die Expertise eines auswärtigen Experten eingeflochten hatte: die des allgemein anerkannten neapolitanischen Kardinals Oliviero Carafa, der zudem Onkel des damaligen Titularpatriarchen von Alexandria gewesen sei. Mit Kardinal Carafa, den Patrizi bereits als Dekan des Kardinalskollegs kennengelernt hatte,96 hatte Burckard einmal eine Auseinandersetzung, weil dieser einen Brauch mit der immerhin dreißigjährigen Praxis rechtfertigte, wohingegen Burckard darin keinen Sinn erkennen konnte.97 Die Parallele zu Burckards Auseinandersetzung mit Kardinal Ardicino della Porta98 ist offenkundig. Paris de Grassis beließ es aber nicht beim Zitieren dieser Expertise. Ebenso schriftlich fixiert war im Tagebuch die rechtsverbindliche Festlegung am Papsthof selbst: Untermauert wurde die Entscheidung des von Amts wegen nicht zuständigen, doch kundigen Experten demnach durch einen Konsistorialbeschluss, also durch den Papst und die Gesamtheit seiner Kardinäle.99 Papst Julius  II. konnte sich mit seiner Entscheidung aber nur kurzzeitig durchsetzen  – ungeachtet der auswärtigen Expertise und des folgenden Konsistorialbeschlusses. Zu bedeutsam war das Amt und zu zahlreich die anderslautenden Präzedenzregelungen, die auch Paris de Grassis selbst bei anderen Gelegenheiten getroffen hatte  – ein Umstand, der auch seinen Nachfolgern, Franciscus Mucantius etwa, nicht verborgen blieb.100 Wie stand es aber um das Verhältnis zwischen Papst und Zeremoniar? Konnte sich der Zeremonienmeister in wesentlichen Fragen, die seine Expertisen betrafen, durchsetzen – und wie glaubhaft ist hier die Darstellung der Hauptquelle, der Aufzeichnungen des Zeremoniars selbst? Eine Reihe von Regelungen betrifft hier bezeichnenderweise das Verhältnis zwischen Kirche und Hof, liturgischer Pracht und zeremoniellem Pomp. Der Prägnanz halber mag an dieser Stelle wiederum ein Beispiel genügen – zumal dieser und weitere Fälle bereits Gegenstand einer anderen Studie waren.101 Ein Problem, das mehrere Päpste und Zeremoniare immer wieder bewegte, war der Gebrauch des Baldachins. Dessen Verwendung galt gemeinhin als Vorrecht des antiken Kaisers. Aus diesem Grunde benutzte dessen christlicher kaiserlicher Nachfolger in der Tradition Karls des Großen zusammen mit dem Papst, der sich als römischer Pontifex Maximus spätestens seit den Reformpäpsten des 11.  Jahrhunderts ebenfalls in dieser Tradition sah, ein und denselben­

96 Vgl. Patrizi: Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 47, Anm. 1. 97 Ebd., 438, Apparat, und 439, Anm. 1. Es ging um die Frage, warum die Kardinäle an Allerseelen nicht wie sonst zu zweit, sondern allein das Confiteor sprachen, was Burckard für unsinnig, weil unbegründet hielt, während der Kardinal 30 Jahre regelmäßiger Praxis entgegenstellte. 98 Vgl. oben Anm. 67. 99 Vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 122–124. 100 Vgl. ebd., 69–78. 101 Vgl. Bölling, Liturgia (wie Anm. 22).

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Baldachin.102 Was aber, wenn zwei Baldachine unumgänglich schienen – etwa bei der Prozession mit dem Allerheiligsten Altarsakrament (wie noch heute an Fronleichnam) und dem Papst samt eigenem Baldachin; oder auch in der päpstlichen Kapelle, wo ein Baldachin über dem Altar gespannt war, ein weiterer über dem Papstthron? Paris de Grassis war diese Dopplung ein Dorn im Auge. Beim Konsistorium mochte er dem Papst seinen Baldachin zugestehen, nicht jedoch in der Kapelle oder anderen Gottesdiensträumen, wo dieser in Konkurrenz zum Altar und dem Sakrament der Eucharistie treten konnte. Im Zweifelsfall wog Paris zufolge die liturgisch-sakramentale Realpräsenz Christi mehr als seine kanonistisch-höfische Repräsentation durch dessen irdischen Stellvertreter.103 Deshalb unterschied er auch die Kniebeugen: eine einzige für den Papst, eine doppelte für das zu sehende, »ausgesetzte« Altarsakrament.104 Es scheint wenig glaubhaft, dass Paris de Grassis sich in diesem Punkt hat durchsetzen können. Und doch berichtet er davon – und nicht nur das: Seine Angaben finden eine spätere indirekte Bestätigung. So berichtet sein Nachfolger im Zeremonienamt unter Paul III., Johannes Franciscus Firmanus, offenbar in Unkenntnis der einstigen Regelung des Paris de Grassis, sein Papst habe den Baldachin über dem Papstthron wiedererrichten lassen, nachdem er zwischenzeitlich außer Gebrauch gekommen sei.105

III. Karrieremuster der Zeremoniare Die dargelegten Kompetenzen der verschiedenen Zeremoniare lassen einerseits Gemeinsamkeiten, andererseits Unterschiede erkennen. Gemeinsam war allen Zeremoniaren eine solide Ausbildung in Kirchengesang und liturgischer Praxis. Auch hatten alle umfangreiche Kenntnisse in kanonischem Recht vorzuweisen. Darin entsprachen sie ihren obersten Dienstherren, den Päpsten, und selbst dem Großteil der zeitgenössischen Bischöfe: Hier war die Kanonistik weit mehr gefragt als andere theologische Disziplinen.106 Doch näher noch als Karriere und Kanonistik lagen aus bereits rein praktischen Gründen Recht und Ritus

102 Ders., Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 104; Ders., Causa differentiae (wie Anm. 20), 187 f. 103 Vgl. ebd., 187–195; Ders., Liturgia (wie Anm. 22). 104 Ders., Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 103, Anm. 47. 105 Vgl. BAV, Vat. lat. 12278, fol. 22r und 24v.; s. dazu: Klaus Pietschmann, Kirchenmusik zwischen Tradition und Reform. Die päpstliche Kapelle und ihr Repertoire unter Papst Paul III . (1534–1549). (Cappella Apostolicae Sixtinaeque Collectanea Acta Monumenta, Bd. 11.) Vatikanstadt 2007, 46, Anm. 36; s. auch: Bölling, Liturgia (wie Anm. 22). 106 Vgl. Rainald Becker, Wege auf den Bischofsthron. Geistliche Karrieren in der Kirchenprovinz Salzburg in Spätmittelalter, Humanismus und Konfessionellem Zeitalter (1448–1648). (Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Supplementbd. 59.) Rom/Freiburg/Wien 2006, 125–176.

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bei­einander: Was war noch gültig, was nicht mehr, was rechtskräftig, was noch oder erneut verhandelbar? Solche und vergleichbare Fragen hatten die Zeremoniare zu klären. Da verwundert es nicht, dass einer ihrer profiliertesten spätmittelalterlichen Vorgänger, Wilhelm Durandus, selbst Kanonist war. Gleichwohl lassen sich Unterschiede feststellen: So war Paris de Grassis der einzige Zeremoniar, der auch von einer Universität zum Gelehrten promoviert worden war und sich Dr. utriusque iuris nennen durfte. In seinem amtlich-zeremoniellen Tagebuch weist er gleich zu Beginn darauf hin.107 Paris de Grassis nahm also aus seiner Heimatstadt Bologna mehr mit als seine beiden Vorgänger aus ihren Herkunftsorten: Nicht nur innerkirchliche Erfahrungen hatte er gemacht. Vielmehr vermochte er auch einen akademischen Titel zu führen, der den Ruhm der bedeutendsten und zugleich ältesten Universität für Legistik und Kanonistik widerspiegelte. Seine besondere Wertschätzung der universitären neben der kirchlichen Ausbildung zeigt sich auch darin, dass er kirchlich ausgezeichnete Doktoren, Theologen und Kanonisten ungeachtet aller sakramentalen Unterschiede in den kirchenrechtlich durchdrungenen Zeremonien auf eine Stufe mit geweihten Priestern stellt und alle unterschiedslos – ganz im Sinne seiner Antikenrezeption – als »togati« bezeichnet.108 Diese »togati«, Säkularpriester und Ordensleute, Adelige und Bürger, haben dem Zeremonialgesetz entsprechend zu handeln – dem »caeremoniale ius«, ein Ausdruck, den Paris de Grassis häufiger für das Zeremoniell insgesamt benutzt.109 Paris de Grassis, doch mit ihm auch alle vorausgehenden Zeremoniare legten offenbar größeren Wert auf die Einhaltung der amtlichen Gepflogenheiten. Noch deutlicher nämlich als bei den persönlichen Lebensstationen zeigen sich 107 Vgl. hierzu die Teiledition der Abschrift Clm 139 der Münchener Staatsbibliothek durch: Johann J. I. von Döllinger, Das Pontificat Julius’ II . Auszug aus dem Tagebuche des Grossceremoniars Paris de Grassis. – (Cod. lat. Monac. 139–141), in: Ders, Beiträge zur politischen, kirchlichen und Cultur-Geschichte der sechs letzten Jahrhunderte. Bd. 3. Wien 1882, 363–433, hier 363: »In nomine domini nostri Jesu Christi die sabbati 26. mensis maji anni 1504 ego Paris de Grassis, canonicus et doctor Bononiensis ac etiam canonicus in collegiata ecclesia s. Laurentii in Damasa [sic, sc. ›Damaso‹, JB] de urbe, cum per annos prope triginta versatus fuerim in Romana curia diversis pontificibus ac cardinalibus serviendo, tandem gratia Dei ingressus sum officium magistratus ceremoniarum capellae papalis«. 108 ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 81v: »Tertia [sc. genflexio, JB] demum est, quae tantum a personis non ecclesiasticis et per consquens non togatis adversus praedictos omnes, tam Pontificem, quam eo absente adversus senatum et celebrantem. Togatos­ autem hoc casu intelligo cappellanos gravesque viros, tam sacerdotio inititatos quam ecclesiastico decore insignes, ut doctores, theologos et canonistas seculares ac regulares.« 109 Ebd., fol. 98v: »Minores vero ecclesiastici ut cubicularii et togati, tam saeculares quam regulares, ac tam nobiles quam mediocres praesentes, ex consuetudine bini quidem faciunt; cum tamen ex cerimoniali iure id inter se binos nequaquam deberent, sed praecise singuli Pontifici nomine eorum omnium confessionem facienti respondere[.]« Zum Zeremoniell als »ius« in Paris de Grassis’ Botschaftertraktat siehe: Stenzig, Botschafterzeremoniell (wie Anm. 20), 70 f. (mit einschlägigen Quellenbelegen).

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Gemeinsamkeiten in der Ämterlaufbahn. Sämtliche Zeremoniare waren zunächst Sängerknabe (»puer cantor«), um später Kathedralkanoniker der Heimat­ kathedrale zu werden. Es folgte jeweils die Übersiedlung auf das Kanonikat einer römischen Kirche, woran sich die Mitgliedschaft in der päpstlichen Kapelle anschloss. Nunmehr stand der Berufung zum Zeremoniar kein offizielles Kriterium mehr im Wege, zunächst zum überzähligen, dann zum zweiten, schließlich zum ersten Zeremonienmeister. Als Krönung der eigenen Karriere erfolgte nach mehreren Amtsjahren – wie auch heute noch üblich – die Weihe zum Titularbischof.110 Die Ausbildung ihrer Priester war den Päpsten der Renaissance durchaus ein Anliegen. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Dispensen, die bei Weihehindernissen erteilt wurden, falls persönliche Kenntnisse im aktiven wie passiven – laut lesenden – Gebrauch der lateinischen Sprache sowie im Singen nachgewiesen wurden.111 Bereits Papst Eugen IV. hatte nicht nur bedeutende Gelehrte und gefeierte Sänger an den Papsthof berufen, sondern auch die Möglichkeit eröffnet, Dompfründen, wie die Zeremoniare sie innehatten, zugunsten von Lehrern und Sängern an Kathedralen umzuwidmen.112 Die Entstehung der ersten Universi­ täten aus bedeutenden Domschulen fand hier einen späten Nachklang im Sinne kircheninterner Schaffung von Stellen für die Lehre. Das förderte nicht nur die allgemeinen Latein- und Musikkenntnisse,113 sondern hob die Ausbildungsorte der Zeremoniare generell auf ein höheres Niveau. Doch warum wiesen die Zeremoniare so wenig auf diese ihre besonderen Kenntnisse hin? Zumindest einem Paris de Grassis, der mit seiner Meinung nie hinter dem Berg hielt, wenn es um die Desavouierung seines Vorgängers­ Burckard ging, hätte man deutlichere Hinweise auf seine kanonistische Bildung 110 Heute erfolgt mit dem Ausscheiden aus dem Amt oft auch noch die Ernennung zum Kardinal – meist ehrenhalber, wenn das 80. Lebensjahr vollendet ist, so dass – nach neuestem Papstwahlrecht des späten 20. Jahrhunderts – eine aktive Teilnahme am Konklave ausgeschlossen ist. 111 Vgl. Ludwig Schmugge, Kirche, Kinder, Karrieren. Päpstliche Dispense der unehelichen Geburt im Spätmittelalter. Zürich 1995, 330 f.; Andreas Rehberg, Deutsche Weihekandidaten in Rom am Vorabend der Reformation, in: Brigitte Flug/Michael Matheus/Ders. (Hrsg.), Kurie und Region. Festschrift für Brigide Schwarz zum 65.  Geburtstag. (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 59.) Stuttgart 2005, 297, Anm. 118; Bölling, Kinder (wie Anm. 33), 106 f. 112 Ebd., 105 f. 113 Ebd. Polyphonie, aufwendig komponierte Mehrstimmigkeit, war dabei ein Kennzeichen großer Gelehrsamkeit wie auch höfischer Prachtentfaltung; vgl. oben Anm. 24. Im städtischen und öffentlichen Raum dominierten hingegen Klänge bestimmter, symbolisch aufgeladener Instrumente und einfache, mitunter offenbar als »klingende Heral­dik« wahrgenommene Melodiefolgen; s. dazu: Ders., »Musicae utilitas«. Zur Bedeutung der Musik im Adventus-Zeremoniell der Vormoderne, in: Peter Johanek/Angelika Lampen (Hrsg.), Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt. (Städte­forschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen, Bd. 75.) Köln/Weimar/Wien 2009, 229–266.

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bis hin zur zweifachen universitären Promotion zugetraut. Dies verwundert einmal mehr, wenn man bedenkt, dass die mächtigsten Päpste des Mittelalters ausgewiesene, in Bologna ausgebildete Juristen und Kanonisten waren, etwa Alexander III. und Innozenz III.114 Alle Zeremoniare, da bildet Paris de Grassis nur die Spitze des Eisbergs, waren auf eine umfassende Zeremonialreform aus. Dabei ging es nicht darum, die kanonistischen Grundlagen des Mittelalters lediglich auszuweiten oder in besonders sublimen Details zu vertiefen. Vielmehr entwickelten die Zeremoniare eigene Konzepte, mit denen sie sich von allen Vorgängern emanzipierten.

IV. Konzepte der Zeremonienmeister Die normativen, dokumentarischen und räsonierenden Schriften der Zeremoniare gehen ursprünglich zumeist auf äußere Anfragen zurück. All ihre Schriften lassen jedoch auch die eigenen Konzepte erkennen. Bei Agostino Patrizi Piccolomini zeigt sich dies vor allem im Kurienzeremoniale. Johannes Burckards Auffassungen spiegeln sich in seinen diesbezüglichen Glossen wider, zeigen sich aber deutlicher noch in seinem ausführlichen Tagebuch. Sein »Ordo missae« darf als sein eigenständigstes Werk gelten. Die Konzepte des Paris de Grassis schließlich wird man weniger durch seine normativen Schriften erfahren können, mehr schon – wie bei Burckard – durch Äußerungen im Tagebuch, vor allem aber anhand seiner expliziten Reflexionen in den räsonierenden Traktaten. IV.1 Papstzeremoniell als Ordnungssystem. Die universale Kasuistik des Agostino Patrizi

Das von Agostino Patrizi unter Mitarbeit Johannes Burckards verfasste Kurien­ zeremoniale offenbart ein neues Konzept: Alle wesentlichen Widersprüche, die zwischen verschiedenen Traditionen bestehen oder sich in der Praxis gegenüber der bestehenden Norm eingeschlichen haben, werden explizit benannt. Wilhelm Durandus hatte noch kein Problem darin gesehen, unterschiedliche Zere­ monien und verschiedene Deutungstraditionen gleicher Zeremonien zu systematisieren und für die Zukunft festzuschreiben.115 Gleichwohl bildete sein »Rationale divinorum officiorum« den zentralen Referenztext für Fragen dieser Art schlechthin. Das zeigt sich nicht nur in einer Reihe von Handschriften, sondern auch in frühen Drucken. Die erste Ausgabe erschien bereits 1459, gefolgt von nicht weniger als weiteren sieben Inkunabeln: 1478, 1480, 1483, 1484,

114 Vgl. dazu auch oben Anm. 106. 115 Vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 80–82.

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1486, 1488 und 1499.116 Noch 1506 und 1509 erschienen frühe Drucke,117 dann sogar eine spätmittelhochdeutsche Übersetzung118  – eine einmalige mediale Verbreitung. Doch danach ebbte die Publikationswelle ab. Zu erfolgreich waren offenbar die Messen- und Zeremonialdrucke, die im Anschluss an die Renaissance-Reformer nach dem Konzil von Trient für die römisch-katholische Weltkirche als verbindlich erklärt wurden. Auch der von Cristoforo Marcello besorgte Druck von Patrizis Kurienzeremoniale aus dem Jahre 1516 hatte eine gewisse Relevanz, nicht zuletzt auf diesem die gesamte Neuzeit prägenden Konzil selbst.119 Maßgeblich blieb jedoch die innerkuriale Rezeption bis hin zur letzten Papstkrönung der Geschichte, die im Jahre 1963 mit der zentralen Text­ passage dieses Kurienzeremoniales des Patrizi erfolgte.120 Die von Durandus ausführlich dargelegten Themen Kirchengebäude und Kirchenämter sucht man bei Patrizi vergebens. Hier waren schließlich im Rom der Renaissance auch weniger die Zeremonienmeister zuständig als vielmehr der persönliche Theologe des Papstes, der »magister sacri palatii«.121 Darüber hinaus bildete die päpstliche Kapelle in ihrer besonderen, nicht umsonst vom mendikantischen Franziskanerorden so maßgeblich rezipierten122 Schlichtheit das neue Maß aller Dinge. Messe, Stundengebet und das Kirchenjahr spielten nur insofern eine Rolle, als Papstgottesdienste davon berührt waren.123 Gerade 116 Vgl. etwa: Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 2 HLL I, 750 INC ; 4 H E RIT I, 7126 INC ; 4 H E RIT I, 7127 INC ; 4 H E RIT I, 7128 INC ; 4 H E RIT I, 7125 INC ; 4 H E RIT I, 7129 INC ; 4 H E RIT I, 7131 INC ; 4 H E RIT I, 7130 INC ; 4 H E RIT I, 7132 INC und 4 H E RIT I, 7133 INC . 117 Ebd., G I 480 (in der Bibliothek des ehemaligen MPI) und 4 H E RIT I, 7134. 118 Gerard H. Buijssen, Durandus’ Rationale in spätmittelhochdeutscher Übersetzung. 4 Bde. (Studia theotisca, Bd. 13.) Assen 1974–1983. 119 Vgl. die Quellenbelege bei: Bölling, Erneuerung (wie Anm. 9), 130–132. 120 Es handelt sich dabei um den Band 265 des Archivs der Zeremonienmeister, gebunden in rotes Leinen, wobei die zentrale Passage interessanterweise aus einer späteren Variante der Druckfassung des Marcello übernommen worden ist – vielleicht in hyperkorrekter Änderung der eigenen Tradition, um so die vermeintlich amtliche, auf dem Tridentinum zwar kritisch beäugte, doch noch im 18. Jahrhundert maßgeblich durch Catalani kommentierte Version ins Recht zu setzen. Vgl. dazu: Ders., Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 69, Anm. 1. Die Abbildungen finden sich – mit etwas anderer Seitenzählung – auch in einem Exemplar der Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek (Venedig, Giunta, 1582): 8 H E RIT I, 2068 . 121 Vgl. Henry D. Fernández, The Patrimony of St Peter. The papal court at Rome, c. 1450– 1700, in: John Adamson, The princely courts of Europe: ritual, politics and culture under the Ancien Regime, 1500–1750. London 1999, hier 144. Zu weiteren Kurienämtern (allerdings nicht diesem) s. auch: Peter Partner, The Pope’s men. The papal civil service in the Renaissance. Oxford 1990. 122 Vgl. Stephen J. P. van Dijk/Joan H. Walker, The Origins of the Modern Roman Liturgy. The Liturgy of the Papal Court and the Franciscan Order in the 13. Century. London 1960. 123 Messen wurden regelmäßig an den höchsten Feiertagen abgehalten, am Vorabend zur Festeröffnung gefeierte Vespern an Allerheiligen, Allerseelen, Weihnachten und ge­ legentlich weiteren Hochfesten, und die im Anschluss an diese so genannten »ersten«

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dies ist aber eine eigenständige Leistung des Patrizi: Ging es Durandus noch um eine generelle Darlegung und allegorische Ausdeutung des Kirchenjahres nach Sonntagen und dann noch einmal nach Heiligen, so konzentriert sich Patrizi auf die Papstliturgie. Dabei fertigt er keine bloße Auflistung an, wie sie in vielen zeitgenössischen Handschriften zu finden ist.124 Vielmehr widmet er sich der Klärung zahlreicher strittiger Fragen, deren Diskussion auch weiter anhielt: Es ist besonders bemerkenswert, dass gerade der zweite Teil von Patrizis Kurienzeremoniale, der dem Kirchenjahr gewidmet ist, so viele Veränderungen und Diskussionen seitens seiner Mitarbeiter und Nachfolger hervorrief. Hier sah Johannes Burckard den größten Handlungsbedarf, hier Paris de Grassis die höchste Notwendigkeit zur Nachbesserung.125 Von seinen Kommentaren zur Arbeit von Patrizi und Burckard ist schließlich auch nur seine Kommentierung zu diesem zweiten Teil in die handschriftliche Überlieferung des Vatikans selbst gelangt – die anderen Anmerkungen finden sich noch heute in Bologna – und nur zu diesem Teil verfasste Paris de Grassis eine ausführliche Ergänzung, sein besagtes Supplementum. Angesichts dieser Vorarbeiten des Durandus und der maßgeblichen, mitunter kontroversen Rezeption der Bereiche Messe, Stundengebet und Kirchenjahr wiegt die Bedeutung des Agostino Patrizi Piccolomini für den ersten und dritten Teil seines Kurienzeremoniales umso mehr. Im ersten Teil geht es um okkasionelle Anlässe, Zeremonien also, die im Unterschied zum Kirchenjahr nicht in regelmäßigen zeitlichen Abständen wiederkehren, gleichwohl aber immer wieder neu auftreten: Papstwahl und Papstkrönung, Empfänge und Verabschiedungen eigener und auswärtiger Repräsentanten, Regenten und Botschafter, schließlich Kardinals- und Papstbegräbnisse.126 Zu den Begräbnissen hat sich später Paris de Grassis noch einmal monographisch geäußert, ebenso zu den auswärtigen Botschaftern.127 In der so zentralen Frage der Initiationsrituale des neuen Papstes schlechthin und zum Komplex »Adventus« blieb Agostino Patrizis Kurienzeremoniale der alleinige dauerhaft maßgebliche Referenztext. Patrizis dritter Teil umfasst eine Reihe räumlicher und zeitlicher Modelle, die Stratifikationen für Rang und Präzedenz offenlegen. Wiederum ist die päpstliche Kapelle der zentrale Ort.128 Vespern abgehaltenen, zeitlich somit vorgeholte nächtlichen Gottesdienste an Allerseelen, Weihnachten und jeweils an den drei österlichen Tagen (Triduum). Vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 230–232. 124 Vgl. ebd. und: Bernhard Schimmelpfennig, Die Funktion der Cappella Sistina im Zeremoniell der Renaissancepäpste, in: Bernhard Janz (Hrsg.), Collectanea  II . Studien zur Geschichte der päpstlichen Kapelle. Tagungsbericht Heidelberg 1989. (Capellae Apostolicae Sixtinaeque Collectanea Acta Monumenta, Bd. 4.) Vatikanstadt 1994, 123–174. 125 Vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 30–54. 126 Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 9–17 und 27–237. 127 Staubach, Begräbniszeremoniell (wie Anm.  85); Stenzig, Botschafterzeremoniell (wie Anm. 20). 128 Vgl. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 113–128.

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IV.2 Handschriften und Drucke als Problemlöser. Die Alltagspragmatik des Johannes Burckard

Johannes Burckard sah sich vor das Problem gestellt, nicht nur die konkreten Anweisungen seines Vorgesetzten Agostino Patrizi Piccolomini zu befolgen, sondern auch dessen grundlegendes Konzept umzusetzen, weiterzuführen und gegebenenfalls zu modifizieren. Seine Mitarbeit am Kurienzeremoniale und seine zahllosen Randnotizen zeugen von seinen tatkräftigen Bemühungen. Sucht man nach einem dahinterstehenden Konzept, fallen zwei Dinge auf: Zum einen äußert er sich wenig kritisch gegenüber Agostino Patrizi, zum anderen hält er sich mit persönlichen Kommentaren zu eigenen konzeptionellen Vorstellungen sehr zurück. Offenbar war er ein loyaler Mitarbeiter, der nach den selbst verschuldeten Eskapaden in seiner Straßburger Heimat froh sein konnte, in so herausgehobener Stellung im Rom der Renaissance überhaupt tätig sein zu dürfen. In seinen Entscheidungen, die vor allem bei Präzedenzstreitigkeiten gefragt waren, legte er zumeist einen Konflikte möglichst vermeidenden Pragmatismus an den Tag. Dabei spielen durchaus auch ästhetische Fragen eine Rolle. Diese beschränken sich jedoch auf ein durchweg durchschimmerndes Bemühen, das Gelingen einer Zeremonie nicht zu gefährden. Nimmt etwa das Inzensieren mit Weihrauch während des Kyrie der Messe allzu viel Zeit in Anspruch, sollen die Sänger ihren Gesang so oft wiederholen, bis die Zeremonie erfolgreich abgeschlossen ist – ein Grundsatz, den sogar sein ihn verachtender Nachfolger Paris de Grassis beibehält, freilich ohne Burckard zu erwähnen.129 Es geht ihm aber hier wie zumeist auch sonst darum, dass die beteiligten Akteure, allen voran der Papst, mit dem Endergebnis zufrieden sind und sich keine größeren weiterführenden Probleme einstellen. Die in der modernen Forschung zuweilen gestellte Frage, ob das Zeremoniell eher Probleme schaffe, als sie zu lösen, hätte Johannes Burckard wohl dahingehend beantwortet, dass er sich selbst als Löser von Problemen sah, für deren Entstehung er andere verantwortlich machte: Botschafter, die sich nicht an die Rangfolge halten wollten, Sänger, die zu früh oder überhaupt nicht einsetzten, bis hin zum Papst, der sein eigenes Zeremoniell nicht zu kennen schien – und in Gestalt Alexanders  VI. ohnehin anderen, wenig kirchlich erscheinenden Interessen nachzugehen pflegte.130 Spätestens an dieser Stelle ist Johannes Burckard jedoch auch mit deutlicher Kritik zu hinterfragen. Die den Borgia-Papst kompromittierenden Stellen finden sich noch nicht in der ältesten Fassung seines Tagebuchs, bilden vielmehr Nach-

129 Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm.  3), 181, Anm.  174 f. und 255, Anm.  396 f.; s. zu dieser Problematik ausführlich: Bölling, Zeremoniell und Zeit (wie Anm. 24). 130 Vgl. etwa: Volker Reinhardt, Der unheimliche Papst. Alexander  VI . Borgia. 1431–1503. München 2005; aber auch oben Anm. 61.

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träge, in denen der Klatsch und Tratsch Roms zur Sprache kam.131 Wiederum war es kein eigenes Konzept, auf das Burckard hier zurückgegriffen hätte. Ausschlaggebend war offenbar die Tatsache, dass Alexander  VI., wohl auch aufgrund seiner spanischen Herkunft, zunehmend an Rückhalt an der Kurie einbüßte und im Nachhinein, sieht man einmal vom kurzen Pontifikat­ Hadrians VI. ab, sogar der letzte Nichtitaliener auf dem Stuhl Petri bis zur Wahl­ Johannes Pauls II. im Jahre 1978 bleiben sollte. Burckard handelte folglich nach streng pragmatischen, angesichts der sich ändernden Machtverhältnisse für ihn persönlich vorteilhaften Maximen. Ganz anders Burckards Einlassungen zur Feier der Eucharistie, der Messe. Hier hinterließ er jenen besagten »Ordo missae«, der 1496 sogar erstmals im Druck erschien132 – eine für einen Auswärtigen, mit den Zeremonien des Papsthofes erst wenige Jahre vorher betrauten Zeremoniar beachtliche Leistung. Sämtliche Zeremonien dieses »Ordo« wurden 1570 ins neue, posttridentinische Messbuch übernommen, das, soweit nicht mindestens zwei Jahrhunderte alte Riten vor Ort gepflegt wurden, weltweite Geltung beanspruchte und erst 400  Jahre später durch ein neues, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erstelltes Missale ersetzt werden sollte. Dieser Zusammenhang ist in der Forschung bekannt, auch wenn aufgrund einer frühen Edition in der Regel die Auflage von 1502 und nicht die genannte, unter anderem in Göttingen verwahrte Inkunabel von 1496 zitiert wird.133 Wie aber steht es um die Grundlagen dieses »Ordo«? Oft wird auf das Weihnachtsmissale Alexanders  VI. verwiesen, in dem dieser »Ordo« bereits zur Anwendung gekommen sei.134 Demzufolge könnte es sich um ein letztlich auf Papst Alexander VI. zurückgehendes liturgisches Anliegen gehandelt haben. Das mag man diesem Renaissance-Papst nicht zutrauen, doch in liturgischer Hinsicht scheint er auch sonst sehr um kirchenamtliche Korrektheit der äußeren Formen und auch um die damit verbundenen theologischliturgischen Inhalte bemüht gewesen zu sein.135 Doch mit Burckards »Ordo missae« ist dieses Missale nur in Ansätzen in Verbindung zu bringen. Vergleicht man die im »Ordo« aufgelisteten Zeremonien mit den entsprechenden Rubriken des Messbuchs, so fällt auf, dass im Weihnachtsmissale zahlreiche Kniebeugen fehlen, die Burckard im »Ordo« ausdrücklich vorsieht. Dies gilt insbesondere für die Kniebeugen vor und nach der Elevation der konsekrierten Hostie und des Kelches, die buchstäblichen Höhepunkte des ­Canon missae und damit der gesamten Messe. Im Weihnachts131 132 133 134

Vgl. ebd. Vgl. oben Anm. 58. S. oben Anm. 57. Roth, Weihnachtsmissale (wie Anm. 18), 20. Zugrunde liegt dieser Ausgabe die Handschrift der Biblioteca Apostolica Vaticana, Borg. lat. 425. Wahrscheinlich existierte noch ein Ostermissale und eines für Peter und Paul, da der Papst an diesen drei Festtagen selbst zu zelebrieren verpflichtet war (vgl. ebd.). 135 Beispiele bei: Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 217 f. und 253 f.; Ders., Motetten (wie Anm. 24), 194–200.

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missale verneigt sich der Zelebrant, hier der Papst, lediglich (»incurvatus«), im »Ordo missae« kniet er nieder (»genuflexus«).136 Woher aber kommen diese Kniebeugen? Offenbar waren sie am Papsthof bis dahin nicht üblich. Auch Sixtus  IV. kannte sie – nach dem Zeugnis des Paris de Grassis – noch nicht.137 Andere ältere Zeremonienbücher lassen ebenfalls nur eine Verneigung, aber noch keine Kniebeuge erkennen.138 Gleichwohl war die Kniebeuge gerade am Papsthof alles andere als unbekannt. Vor dem Papst hatte man sogar dreimal hintereinander zu knien, wenn man ihn in privater Audienz zu sehen bekam. Darauf weist bereits Patrizi eindringlich hin.139 Am Karfreitag wurde auch das Kreuz in der Liturgie durch dreifache Kniebeuge verehrt – nach dem Vorbild der auf das frühe 11. Jahrhundert zurückgehenden so genannten »Missa Illyrica« aus Minden.140 Was lag da näher, als diese Zeremonie auch für die Ankunft des Erlösers unter der eucharistischen Gestalt des gewandelten Brotes und Weines zu verehren, zumal alle Gläubigen einschließlich des Papstes, wenn er selbst nicht zelebrierte, an dieser Stelle ohnehin nieder­ zuknien hatten?

136 Vgl. Roth, Weihnachtsmissale (wie Anm. 18) bzw. BAV, Borg. lat. 425, fol. 45r/v: »[P]rofunde se inclinans« (statt »genuflexus«). 137 Vgl. unten Anm. 158. 138 Vgl. etwa: »Indutus Planeta from Missale Romanum, F.  Fradin, 1507, 8o«, in: Legg (Hrsg.), Tracts (wie Anm. 57), 179–193, v. a. 186: »Et adorato corpore domini cum mediocri inclinatione eleuat illud reuerenter«. Die bereits ältere Anweisung, Zeigefinger und Daumen von der Elevation bis zur Ablution zusammenzuhalten, ist jedoch schon vorgesehen (vgl. ebd.): »Nota quod ab hoc loco vsque ad vltimam purificationem manuum sacerdotis iungendus est index cum pollice preterquam in signationibus: et cum tangitur corpus domini.« Weitere Quellen – mit Ausnahme des Paris de Grassis bieten – Miri Rubin, Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture. Cambridge 1991; Peter Browe, Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter. (Sinziger theolog. Texte u. Studien, Bd. 7.) München 1933 (Nachdruck: Sinzig 1990), 44–47; sowie: Ders., Die Elevation in der Messe, aus: Bonner Zeitschrift für Theologie und Seelsorge, 8, 1931, 20–66; Nachdruck bei: Hubertus Lutterbach/Thomas Flammer (Hrsg.), Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht. (Vergessene Theologen, Bd. 1.) Münster/Hamburg/London 2003, 475–507, hier 493, Anm. 170 und 496, Anm. 192 (Nennung Burckards); sowie: Josef A. Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Bd. 1. 5. Aufl. Freiburg i. Br. 1962 (Nachdruck: Bonn 2003), 252–271. 139 Vgl. etwa, hier sogar vom König eingefordert: Dykmans, L’œuvre de Patrizi (wie Anm. 5), 198, Z. 3. 140 Siehe dazu: Jörg Bölling, Distinktion durch Romrezeption? Inner- und gesamtstädtische Heiligenverehrung im hochmittelalterlichen Minden (Westfalen), in: Jörg Oberste/ Susanne Ehrich (Hrsg.), Städtische Kulte im Mittelalter. (Forum Mittelalter-Studien, Bd. 5.) Regensburg 2010, 53–77, hier 70 f.; und: Ders., Zwischen Regnum und Sacerdotium. Historiographie, Hagiographie und Liturgie der Petrus-Patrozinien im Sachsen der Salierzeit (1024–1125). Zwischen Regnum und Sacerdotium. Historiographie, Hagiographie und Liturgie der Petrus-Parozinien im Sachsen der Salierzeit (1024–1125). (Mittelalter-Forschungen, Bd. 52.) Ostfildern 2017, 165–180.

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Leider gibt Burckard keine Erklärung zu dieser neuerlichen Zeremonie ab. Hatte sie die angedeutete liturgische Bedeutung, im Sinne eines zumindest angedeuteten, zeitlich befristeten Niederkniens, dem sich auch der Zelebrant nicht entziehen sollte? Oder strahlte hier der Papsthof auf, dessen zeremonielles dreifaches Niederfallen auch dem vom Papst nur repräsentierten, in der Eucharistie hingegen real präsenten Heiland selbst nicht vorenthalten werden sollte? Möglich ist auch eine dritte Variante: In der Kniebeuge der Elevation finden Hof und Kirche zueinander: Hier hat selbst der Papst zu weichen, doch für alle anderen mochte diese Geste auch als eine Papst wie Sakrament gleichermaßen gewährte Ehrerbietung verstanden worden sein. Wir wissen es nicht, da Burckard jede nähere Begründung schuldig bleibt. Eines nur scheint sicher: Im Kolophon des Ordo-Missae-Drucks von 1496 erscheint neben Papst Alexander  VI. auch der noch ungekrönte römische Kaiser Maximilian.141 Burckards »Ordo missae« ist also das Werk eines Auswärtigen, der den Stil der Kurie nicht nur aus deren eigenen Traditionen, sondern auch aus den von außen an sie herangetragenen Bedürfnissen und Vorstellungen her prägt. So sehr er auswärtigen Gästen, vor allem Potentaten und deren Botschaftern, entgegenzukommen bemüht war, so sehr brachte er auch eigene Vorstellungen ein, die er sogar veröffentlichte. An dieser Stelle war der Zeremoniar mehr als ein Sachwalter ihm aufgetragener Zeremonialregeln. Er selbst machte Vorgaben, die allein schon aufgrund ihrer Veröffentlichung nicht mehr aus der Welt zu schaffen waren. IV.3 Text und Performanz als mediales Problem. Die Zeremonialästhetik des Paris de Grassis

Mit Veröffentlichungen war Paris de Grassis hingegen sehr zurückhaltend. Kein einziges seiner umfangreichen Werke hat er persönlich in den Druck gegeben. Lediglich sein Kardinalszeremoniale ist erschienen, und dies auch nur deshalb, weil sein Nachfolger Franciscus Mucantius es infolge des Trienter Konzils ein Jahr nach dessen Abschluss herausgab – mit der Begründung, es habe nunmehr eine Relevanz für alle Bischöfe, nicht nur für den Kardinal-Erzbischof von Bologna.142 Nun war die päpstliche Kapelle zum Vorbild für alle geworden, zu einer »cappella«, »ex qua omnes exemplum sumere debent«.143 Paris de­ Grassis hingegen übte nicht nur Zurückhaltung gegenüber dem neuen Medium des Drucks. Er richtete sich sogar vehement gegen die Veröffentlichung des Kurienzeremoniales des Agostino Patrizi Piccolomini durch Cristoforo Marcello 141 Vgl. Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 8 H E RIT I, 7860 INC . 142 Paridis Crassi Bononiensis olim apostolicarum cerimoniarum magistri et episcopi Pisaurensis De cerimoniis cardinalium et episcoporum in eorum dioecesibus, libri duo, singulis etiam ecclesiarum canonicis valde necessarij. Rom 1564 (weitere Ausgaben: Rom 1580, Venedig 1582 und Rom 1587). 143 Ebd., Vorwort (ohne Foliierung).

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und versuchte sogar, bei Papst Leo X. ein Verbot dieser Veröffentlichung zu erwirken  – letztlich aber ohne Erfolg. Es ist bereits vielfach und zu Recht darauf hingewiesen worden, dass Paris de Grassis Marcello vorwarf, das Zeremoniale unter seinem Namen herausgegeben und damit plagiiert sowie den Text in humanistischer Manier ohne Kennzeichnung dem humanistischen Zeitgeschmack angepasst zu haben.144 Person und Verhalten des Marcello, der sich kurz zuvor bereits auf dem fünften Laterankonzil (1512–1517) als Redner hervorzutun bemüht hatte,145 scheint hier Gegenstand der Kritik gewesen zu sein. Darüber hinaus wird die Haltung des Paris de Grassis jedoch auch mit jenem altkirchlichen Ideal der Arkandisziplin in Verbindung gebracht, die für die Geheimhaltung am Papsthof noch bis ins frühe 20. Jahrhundert maßgeblich gewesen sei.146 Diese Betrachtung und Handhabe der Zeremonien scheint jene sagenumwobene, angeblich unter Androhung der Exkommunikation geforderte Geheimhaltung der Aufführungspraxis und der Notenmaterialien der Sixtinischen Sängerkapelle zu bestätigen, wovon einigen Quellen zufolge noch der junge Mozart und Kopisten des 19. Jahrhunderts Zeugen gewesen seien.147 Doch die Frage der Geheimhaltung war für Paris de Grassis kein Selbstzweck. Im Gegenteil: Er war um die genaue Kenntnis der Zeremonien sehr bemüht. Anstoß nahm er am Medium der Vermittlung, dem Buchdruck, und dies nicht nur, weil es sich so sehr zur Verbreitung von Plagiat und Textverfälschung eignete. Paris de Grassis hatte  – auf der Grundlage seiner kanonistischen Kenntnisse  – vor allem folgendes Ideal: Die Texte, die in Veröffentlichungen verbreitet wurden, sollten auch mit dem nötigen Wissen und dem angemessenen Verständnis gelesen werden – so wie letztlich er als Experte es vermochte. Bei unverständiger oder auch nur oberflächlicher Lektüre drohten Missverständnisse und schlimmstenfalls eine völlige Entsakralisierung. 144 Nabuco, Introduction (wie Anm. 18), 35* f., Anm. 82. 145 Vgl. Nelson H. Minnich, Das Fünfte Laterankonzil als geistliches Spiel zur Demonstration päpstlicher Macht, in: Schmidt/Wolf (Hrsg.), Ekklesiologische Alternativen (wie Anm. 3), 101–120, hier 111, Anm. 68. 146 Ebd., 51*. Zur Tradition bis ins frühe 20. Jahrhundert s. ebd., 51*–53* (»Appendice  II: L’idée du secret«). 147 Vgl. Laurenz Lütteken, Perpetuierung des Einzigartigen: Gregorio Allegris ›Miserere‹ und das Ritual der päpstlichen Kapelle, in: Joseph Imorde/Fritz Neumeyer/Tristan Weddigen (Hrsg.), Barocke Inszenierung. Emsdetten 1999, 136–145. Fraglich ist, inwieweit Mozart bei der Niederschrift des von ihm gehörten Miserere tatsächlich die berühmten Verzierungen (»embellimenti«) oder nicht doch eher die vergleichsweise simple, zumal in jedem vertonten Psalmvers wiederholte Harmonik aus dem Gedächtnis zu Papier brachte, um so angeblich das vermeintliche Veröffentlichungsverbot zu umgehen. Siehe dazu und zur späteren Verweigerung von Abschriften aus dem Fondo Cappella Sistina auch: Jörg Bölling, Die Römische Schule in Münster. Santinis Sammlungsprinzipien in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, in: Andrea Ammendola/Peter Schmitz (Hrsg.), »Sacrae Musices Cultor et Propagator«. Beiträge zum 150. Todesjahr des Musiksammlers, Komponisten und Bearbeiters Fortunato Santini. Münster 2013, 257–269, hier 257 f.

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Dass diese Sorge des Zeremoniars alles andere als unberechtigt war, zeigen bereits die frühen protestantischen, dezidiert kontroverstheologisch motivierten Nachdrucke des Kurienzeremoniales durch Martin Luthers ehemaligen Ordensbruder und ihm dann in die Reformation folgenden langjährigen Weggefährten Wenzeslaus Linck.148 Linck suchte das Zeremonienbuch des Patrizi und mit ihm das gesamte Papstzeremoniell ad absurdum zu führen, indem er ihm zentral erscheinende Passagen daraus, besser gesagt aus dem unautorisierten Druck des Marcello, zitierte und kommentierte.149 Ein solches Vorgehen war bereits Paris de Grassis keineswegs unbekannt. Seine schärfsten Verurteilungen Burckards nahm er bereits in seinen vorbereitenden Arbeitsblättern und Konzeptpapieren vor, indem er Äußerungen seines Vorgängers wortwörtlich wiedergab, um sie anschließend minutiös, mitunter nachgerade genüsslich zu zerlegen.150 Paris de Grassis’ oft sehr kleinteiligen, vielfach nahezu pedantisch erscheinenden Ausführungen hätten hier und da wohl auch ihrerseits manchem Reformator als Vorlage für Invektiven gegen das Papstzeremoniell dienen können. Diesem Zeremoniar ging es aber bei all seinen Ausführungen letztlich um einen anderen, freilich nur sehr selten und dabei recht kryptisch ausgesprochenen Grund­ gedanken: Es gibt Bereiche des Zeremoniells, die sich der schriftlichen Fixierung entziehen; und selbst wenn treffende Beschreibungen vorliegen, muss man diese doch immer nach der von ihnen intendierten Ausführung selbst beurteilen. Auf eine kurze Formel gebracht, besteht sein Konzept darin, Zeremonien nicht nur nach ihrer schriftlichen Fixierung, womöglich noch kanonistischen Korrektheit zu bemessen, sondern zuallererst ihre performative Wirkung zu beachten, die nur im unmittelbaren Vollzug der Zeremonien selbst und deren Perzeption vermittelt und wahrgenommen werden kann – nicht durch eine Schrift oder gar deren Verbreitung in gedruckter Form. Kurz gesagt: Paris de Grassis ersetzt als entscheidende Kategorie den Text durch die Performanz. In seinen Worten klingt das – sich selbst in humanistischem Habitus zum antikisierenden Dichter verklärend – folgendermaßen: »Sunt quae non possunt aliquo monstrante doceri, sed tamen in minimis gratia rebus inest.« »Es gibt Dinge, die nicht gelehrt werden können, indem sie irgendjemand zeigt, aber dennoch wohnt den geringsten Dingen Anmut inne.«151 148 Nikolaus Staubach, ›Honor Dei‹ oder ›Bapsts Gepreng‹? Die Reorganisation des Papstzeremoniells in der Renaissance, in: Ders. (Hrsg.), Rom und das Reich vor der Reformation. (Tradition – Reform – Innovation, Bd. 7.) Frankfurt a. M. u. a. 2004, 91–136, hier 125–134; Marco Cavarzere, Rituale und Zeremonien zu Beginn der Reformation. Zwischen Kritik und Innovation, in: Schmidt/Wolf, Ekklesiologische Alternativen (wie Anm. 3), 309–335. 149 Staubach, ›Honor die‹ (wie Anm. 148), 125–134. 150 Vgl. etwa: Bölling, Causa differentiae (wie Anm. 20), 149–169. 151 BAV, Vat. lat. 5634 I, fol. 199r; ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 215v; vgl. dazu bereits: Jörg Bölling, »Cum gratia et decore«. Sull’ estetica cerimoniale di Paride de Grassi/

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Paris de Grassis bezeichnet diesen Vers als »Nasonis dogma«, als gleichsam dogmenähnlichen Grundsatz des wohl bedeutendsten antik-kaiserzeitlichen Dichters, Vergil. Gemeint war wohl Ovids Distichon in seinen »Remedia amoris«, Heilmitteln gegen Liebeskummer, wo es heißt: »Sunt quae non possunt aliquo cogente iuberi / Saepe tamen casu facta iuvare solent.«152 Die Verwendung eines solchen Liebesmotivs zur Erläuterung der Zeremonien des Zelebranten an Altar und Priestersitz (Faldistorium) mag zunächst verwundern, wird aber bei humanistisch gesinnten Zeitgenossen oft in ganz ähnlicher Weise bemüht. Sogar im Bereich der Devotio moderna begegnet ein Gedanke aus Ovids »Remedia amoris«: »consuetudo consuetudine vincitur«. Wie sich eine bestehende Gewohnheit durch eine neue, also ein Liebesleiden durch ein Gegenfeuer, heilen lässt, so ein zu reformierender Konvent durch eine neue Regel, durch neue »Consuetudines«.153 Bei Paris de Grassis ist es nun analog zu Ovids Unaussprechlichem der Liebe die textlich nicht fassbare Performanz von Zeremonien – angesichts der Nennung des Zelebranten am Altar passenderweise vor allem jene des eucharistischen Messopfers und Liebesmahles. Der Zeremoniar erklärt es folgendermaßen: »Diesen Grundsatz des Vergil (›Nasonis dogma‹) habe ich vorausgeschickt, weil es viele zeremonielle Einzelheiten (›caerimoniales minutiolae‹) gibt, die kaum ausgedrückt werden können, da sie völlig unbedeutend sind, und für gewöhnlich auch nicht aufgeschrieben werden, da sie nicht den Gesetzen (›legibus‹) unterstehen; aber dennoch ist es für uns vorteilhaft, diese zu verstehen (›intellegere‹), da sie dazugehören, und sie, von uns verstanden (›intellectasque‹), nicht zu vernachlässigen, da sie gebräuchlich sind.«154

Als Beleg für seine Aussage führt der promovierte Legist und Kanonist bezeichnenderweise nun gerade nicht das Kirchenrecht an, dessen Gesetze (»leges«), »Cum gratia et decore«. Zur Zeremonialästhetik des Paris de Grassis, in: Accademia Raffaello. Atti e studi 2, 2006, 45–63. 152 Ov. rem. 741sq.; vgl. P. Ovidii Nasonis Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Remedia amoris, hrsg. v. E. J. Kenney, Oxford 1995, 258. Diese wie auch die meisten anderen modernen Ausgaben bieten im zweiten Vers, dem Pentameter, anstelle des Wortes iuvare die Variante levare. Paris de Grassis hingegen scheint hier seinen Begriff der gratia vom Wort iuvare abzuleiten – im Sinne von ›gefallen‹, nicht – wie wohl von Ovid eigentlich intendiert – im Sinne von ›helfen‹, wie die m. E. zu Recht mehrheitlich bevorzugte Lesart levare (›erleichtern‹) nahelegt, die als Ausdruck der Linderung von Liebesleiden auf das Hauptthema des gesamten Lehrgedichts verweist. 153 Siehe dazu: Theo Klausmann, Consuetudo consuetudine vincitur. Die Hausordnungen der Brüder vom gemeinsamen Leben im Bildungs- und Sozialisationsprogramm der Devotio moderna. (Tradition – Reform – Innovation, Bd. 4.) Frankfurt a. M. 2003. 154 BAV, Vat. lat. 5634 I, fol. 199v; ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 215v–216r: »Hoc ideo Nasonis dogma praemisi, quia multae sunt caerimoniales minutiolae, quae vix exprimi possunt, ut levissimae, nec describi solent, ut legibus non obnoxiae, sed tamen illas intellegere nos expedit, ut pertinentes, intellectasque non neglegere, ut solitas, Plinio teste in xxviii, ubi sinistrum omen antiquos accepisse refert, si quando intra sacrificandum error aut defectus occurrisset.«

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wie er schreibt, hier ja ohnehin nicht greifen. Vielmehr ist es der bereits vorchristlich antike, pagane römische Ritus, wie ihn der antike Autor Plinius bezeugt, freilich nicht der jüngere, wegen seiner Christenbriefe bekannte, sondern der ältere Plinius.155 Nicht Kanonistik interessiert hier den universitär promovierten Kanonisten, sondern Antikenrezeption den selbst ernannten Humanisten. Wie aber wird der Zeremoniar dem gerecht, wo er doch einerseits der Schwierigkeit einer schriftlichen Fixierung von Rubriken, wie Burckard sie liebt, für unzureichend hält, andererseits aber Antikenrezeption nur über das Medium der Schrift möglich erscheint? Paris de Grassis argumentiert folgendermaßen: »Zur Genüge scheinen wir dies jedoch zu erfüllen, wenn wir eben diese zeremoniellen Kleinheiten mit Anmut und Zierde (›cum gratia et decore‹) ausführen, damit wir durch die Ausführung ihrer selbst sowohl die anwesenden Bevölkerungsgruppen in ihrer Kontemplation erfreuen, als auch die Abwesenden zur Devotion anlocken. So ist es bei Gang, Stimme, Geste und Körperbewegung sowie bei der Hin- als auch der Abwendung des Zelebranten vom Altar, vom Faldistorium (Priestersitz) zum Volk und von dort vom Volk zum Altar, und auch beim Schließen und Öffnen der Arme, bei deren Erhebung und Zurücknahme, während er (der Zelebrant) entweder auf dem Faldistorium sitzt oder vor dem Altar steht, und auch beim Küssen des Altars, der Opfergaben (Brot und Wein) und der Hände, mit oder ohne Kreuzzeichen.«156

Entscheidend ist also eine Zeremonialästhetik, die in der unmittelbaren formschönen Ausführung auch der unscheinbarsten Zeremonien (»cum gratia et decore«) erfolgt, und zwar ausschließlich durch deren Ausübung selbst (»per­ ipsarum operationem«), nicht durch die nur kanonistisch korrekte Wiedergabe schriftlicher Rubriken. Alle Zeremonien, auch die scheinbar unbedeutendsten, müssen dabei intellektuell erfasst werden können – und, einmal erfasst, auch in ihrem Gehalt zum Ausdruck gebracht werden –, sinnfällig vor allem für Gehör und Gesicht. An die Stelle des Textes tritt die Performanz. 155 Vgl. ebd., fol. 216r: »Plinio teste in xxviii, ubi sinistrum omen antiquos accepisse refert, si quando intra sacrificandum error aut defectus occurrisset.« Vgl. dazu: Plinius, nat. hist. 18. 2 (4): »L. Piso primo annalium auctor est Tullum Hostilium regem ex Numae libris eodem quo illum sacrificio Iovem caelo devocare conatum, quoniam parum rite fecisset, fulmine ictum, multitudo magnarum rerum facta et ostenta verbis permutari.« 156 BAV, Vat. lat. 5634 I, fol. 199v–200r; ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 216r: »Satis autem haec implere videmur, si cum gratia et decore minutias ipsas exequimur, quatenus per ipsarum operationem et praesentes populos in contemplatione delectemus, et absentes ad devotionem allectemus: sicut est in incessu, voce, gestu, motuque corporis et conversione ac reversione celebrantis ab altari, fandistorioque ad populum et inde a populo ad altare, atque etiam in iunctura, disiuncturaque manuum, elevatione quoque et retentione illarum, dum aut in fandistorio sedet, aut ante altare stat, ac etiam in altaris oblatorumque et manuum osculatione, an [an om. ASV, Fondo Borghese, serie I 568] cum signo vel sine signo crucis.« Zum Begriff des Faldistorium (von Paris de Grassis hier »fandistorium« genannt) s. Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 107, Anm. 61.

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Diese Grundauffassung legt Paris de Grassis nicht nur implizit zugrunde, sondern wendet sie verschiedentlich auch an konkreten Beispielen an – und das, obwohl er sich ja gerade, wie er ausdrücklich betont, der Unzulänglichkeit des Wortes in dieser Hinsicht bewusst ist. An den Rubriken in Burckards »Ordo Missae«, vor allem der besagten Kniebeuge jeweils vor und nach der Elevation, kritisiert Paris de Grassis hingegen, dass dieser Zeremoniar keine erläuternde Begründung für diese neue Zeremonie abgibt – weder inhaltlich, also theologisch-systematisch, noch mit Verweis auf Autoritäten, also historisch-liturgische Quellen oder kanonistisch verbindliche Approbationen durch das kirchliche Lehramt: »Dem stehen nicht die Spinnereien unseres Burckards in seinem Traktat über die Ordnung der Messe (›Ordo missae‹) entgegen, wo er ausdrücklich anordnet, der Priester müsse bis auf die Erde niederknien; für diese Anordnung führt er keine Autorität an und nennt auch kein historisches Beispiel.«157

Paris de Grassis selbst hingegen wusste solche Belege beizubringen – und das von höchster Stelle: Papst Sixtus  IV., immerhin Erbauer der neu errichteten und daher nach ihm benannten Papstkapelle, sowie sein amtierender Neffe­ Julius  II., erster Bauherr des Neubaus von St. Peter, kennen nur die ältere Verneigung, keineswegs die Burckardsche Kniebeuge.158 Daumen und Zeigefinger, wie Burckard es vorsieht, nach der Elevation bis zur Ablution zusammenzuhalten, hält Paris für letztlich unwichtig, »leve«; die meisten der Befürworter im Gefolge Burckards hingegen bezeichnet er als abergläubisch, »superstitiosi«.159 Schließlich inszeniert er sich selbst indirekt als Experten, »peritus«, indem er jene, die bei den konsekrierenden Einsetzungsworten wie beim Taufritus ein

157 BAV, Vat. lat. 5634 I, fol. 140v; ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 83r: »[N]on obstantibus nostri Brucardi deliramentis in suo tractatu de ordine missae, ubi expresse iubet sacerdotem ad terram genuflectere debere, pro qua iussione nullam auctoritatem adducit nec exemplum ponit.« Hier ist die erste Elevation beim Einsetzungsbericht (›Wandlung‹) gemeint, ebenso die zweite Elevation vor dem Abschluss des Canon missae. Zur dritten Elevation beim ›Ecce Agnus Dei‹, der griechisch-orthodoxen hýpsosis entsprechend, s. ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 239r. Hierzu und zum Folgenden s. auch: Bölling, Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 3), 94–108. 158 BAV, Vat. lat. 5634 I, fol.  143v; ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol.  239r: »Insuper sanctae memoriae Julius Pontifex mihi narrare solebat  a sanctae memoriae Sixto iiii. [ASV, Fondo Borghese I 568: 4o] patruo suo in theologicis caerimonialibusque huiusmodi apprime erudito audivisse atque etiam semper observasse, quod inter adorandum quisque sacrificans nunquam ad terram genua deponere, sed tantum cernuus et pronus esse debet, ut supra plenius dixi in capitulo ›Quae et quanta veneratio‹.« 159 ASV Fondo Borghese, serie I 568, fol. 218r: »Et quia ab elevatione hostiae usque ad perfectam communionem plerique, qui mihi in hoc uno superstitiosi videntur, pollicem cum indice manus utriusque iunctum tenent, quibus hostiam tetigerunt; sciant quod id indifferenter nostra cappella non servat, sed potius pro libito utitur; dum tamen digitos prius super os calicis excusserimus; quod, ut puto, arbitrarium est, utpote quod leve.«

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Geisthauchen inszenieren, als »imperiti« bezeichnet.160 Hier nennt er ­Burckard ausnahmsweise nicht. Doch bereits gleich in seinem ersten Werk, der Bearbeitung des Kurienzeremoniales, bezeichnet er seinen anfänglichen Vorgesetzten als »spöttisch naseweis« (»nasutissimus«) und doch unkundig, da seine Ausführungen ergänzungs- und korrekturbedürftig seien.161 Schon hier betont Paris de Grassis, dass nicht nur der über Expertenkenntnisse (»eruditio«) verfügende, womöglich sogar redegewandte Zeremoniar, sondern auch der Nutzer des von ihm, Paris de Grassis, nun neu redigierten Zeremonienbuches verstehen können müsse, was zuvor der Zeremoniar selbst verstanden habe.162 Am Beginn seiner Amtszeit legte Paris de Grassis folglich besonderen Wert auf die Verständlichkeit der zeremonialen Expertisen, am Ende schließlich auf die Verständlichkeit der Zeremonien selbst. Geht es dem jungen, an Schriften geschulten Zeremoniar zunächst um den Text, so dem im Amt erfahreneren Experten um die Performanz. Somit richtet sich die Hauptkritik des Paris de Grassis an seinem Vorgänger Johannes Burckard letztlich gegen drei Punkte: 1. Einzelne Regelungen Burckards sind  – ungeachtet seines Pragmatismus, möchte man ergänzen – offenbar nicht praktikabel. 2. Johannes Burckard erläutert seine Neuerungen nicht und bleibt damit die entscheidenden Erklärungen schuldig. 3. Burckard fehlt die nötige persönliche Kompetenz – er gehört in Schrift und Performanz nicht zu den wahren Experten. Doch auch Paris de Grassis ist nicht unwidersprochen geblieben. Da sich Burckards »Ordo« später durchsetzte und sogar im posttridentinischen Missale Papst Pius’ V. von 1570 kirchenamtlich übernommen wurde, hagelte es nur so Kritik von Seiten seines Nachfolgers Franciscus Mucantius.163 Im Nachhinein er160 BAV, Vat. lat. 5634 I, fol. 143r/v; ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 238r/v: »[P]rimo ipse quidem incurvatus absque aliqua prece adoret, tum surgens […] populo hostiam adorandam ostendat […]. Hinc hostiam deponat, sed priusquam calicem discooperiat illius vinum in sanguinem consecraturus, rursus hostiam repositam veneratur, dein [ASV, Fondo Borghese, serie I 568: [D]einde] et non prius pallam ab sacrificio calicis amoveat cum digito medio ac cum indice capiat absque ulla genuflexione, quem ad os suum admoveat et distincte verba proferendo consecret absque ulla insufflatione, quod imperiti faciunt; postquam calicem consecraverit, calicem manibus tenens adorat incurvatus paulisper, tum elevat, inde reponit ac rursus repositum veneretur.« Zum Begriff des »peritus« neben »expertus« zur Kennzeichnung des Experten s. Rexroth, System­ vertrauen (wie Anm. 14), 42 f. 161 BAV, Vat. lat. 5634 II A, fol. 2v und 3v. 162 Ebd., fol. 3v. 163 Vgl. ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 83r, in margine (Hand des Franciscus Mucantius): »Brucardi (SIC) liber de ordine missae notatur et male, nam et hodie talis usus genuflectendi per sacerdotes observatur.« Siehe auch: ebd., fol. 218r, in margine (Franciscus Mucantius): »In hoc male dicit, quia contrarium servatur, licet quod indices a pollice

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schienen die Reformideen Paris de Grassis’ nachgerade reformatorisch, zumal es zahlreiche zeremonielle Übereinstimmungen und Analogien zur »Formula missae« (1523) und zum deutschen Messbuch (1526) Martin Luthers gibt.164 Paris de Grassis behielt zwar Recht mit seinen Vorbehalten gegenüber der Veröffentlichung von Zeremonienbüchern, da die protestantische Kritik am von Marcello veröffentlichten Text ja tatsächlich nicht lange auf sich warten ließ.165 Doch diese Zurückhaltung hatte einen hohen Preis: In Kurie und Kirche wurden langfristig nicht seine, sondern Burckards Mess-Rubriken rezipiert. Nur durch eine Veröffentlichung seiner eigenen Ideen hätte er sich gegenüber seinem Vorgänger persönlich Gehör verschaffen können  – innerhalb der Kurie oder auch bei protestantischen Rezipienten, die ihn im Unterschied zu Marcello möglicherweise positiv, ihrerseits gegen Burckard gerichtet, aufgegriffen hätten. Kritik an Zeremoniaren, Kurie und sogar Päpsten findet sich allerdings nicht nur in der Zeremonialschriftlichkeit – in Burckards Diarium etwa durch desavouierende Informationen über Papst Alexander  VI., deren Wahrheitsgehalt freilich zu Recht hinterfragt worden ist.166 Auch das Zeremoniell selbst bot Gelegenheiten zur – hier sogar performativ geäußerten – Kritik, vor allem in Form von literarischen Texten, Reden etwa, Gedichten und vor allem gesungenen Motetten.167 Diese Texte wurden jedoch nicht in der Stadt, Kirche oder Kapelle zu Gehör gebracht, sondern dort, wo die Zeremonien letztlich am flexibelsten waren und dies den frühneuzeitlichen Dokumenten zum Papstzeremoniell zufolge auch am dauerhaftesten blieben: am Hof. Innerkuriale Kritik blieb aber weitgehend ein Phänomen schriftlicher, im Zeremonialarchiv streng sekretierter Äußerungen. Nur die Zeremoniare hatten hier Zugang, die Experten. Auf dem fünften Laterankonzil (1512–1517) non disiunguntur, usque quo illos celebrans post communionem abluat, et ita habent rubricae Missalis noviter reformati sub Pio. papa. V.« Die besagte Rubrik findet sich im: Missale Romanum von 1570 (wie Anm. 56), 283 – in der modernen Seitenzählung der Ausgabe von Sodi und Triacca 343), ebenso wie die Kniebeugen (ebd., 283 f. bzw. 343 f.). Zu den von Paris de Grassis inkriminierten Stellen bei Burckard s. dessen: Ordo missae (wie Anm. 57), 156. Zur Kritik des Franciscus Mucantius s. ferner dessen Glosse in: ASV, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 82v, in margine: »Haec nostris temporibus diversimode observantur, quia stante sacramento super altari, quando ei facienda est reverentia, fit genibus ad terram positis.« 164 Siehe dazu: Jörg Bölling, Reformation und Renaissance. Martin Luthers Romaufenthalt und die Reform des Papstzeremoniells, in: Michael Matheus/Arnold Nesselrath/Martin Wallraff (Hrsg.), Martin Luther in Rom: Kosmopolitisches Zentrum und seine Wahrnehmung/Martino Lutero a Roma. La città cosmopolita e la sua percezione, Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Rom vom 16. bis 20. Februar 2011 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts, im Druck). 165 Vgl. oben Anm. 148. 166 Vgl. oben Anm. 61. 167 Vgl. etwa die kritischen Motettentexte bei: Bölling, Motetten (wie Anm. 24), 210–213. Zum frühneuzeitlichen Papstzeremoniell siehe Zunckel, Bedeutung des Zeremonialwesens (wie Anm. 6); und: Wassilowsky/Wolf, Päpstliches Zeremoniell (wie Anm. 6).

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konnte Paris de Grassis seine Fähigkeiten noch gewinnbringend nutzen, indem er durch eine geschickte Choreographie dem Papst zur unmittelbaren Anerkennung durch sämtliche anwesenden Konzilsteilnehmer verhalf.168 Seine konkreten Reformanliegen, etwa zur Messliturgie, spielten hier jedoch keine Rolle. Auf dem Konzil von Trient (1545–1563) waren dann nur noch die normativen Texte der Renaissance-Zeremoniare von Belang, während die skizzierten Ideale des Paris de Grassis längst in Vergessenheit geraten waren.169 Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollten einige seiner Ideen wieder aufgegriffen werden, vor allem unmittelbar vor, während und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) – freilich in Unkenntnis seiner streng sekretierten und noch nicht erforschten Äußerungen.170 Geheimhaltung war am Papsthof der Renaissance somit weniger ein Phänomen des Verschweigens oder Verschleierns von Wahrnehmung und Erkenntnis171 als vielmehr Bemühen, die Zeremonien unmittelbar aus sich selbst heraus wirken zu lassen. Im Falle mangelnden Wissens oder Verständnisses gab es dann Personen, die man um eine mündliche oder sogar schriftliche Expertise bitten durfte. Die eingangs zitierte Feststellung des Paris de Grassis, der Zeremoniar sei zugleich Diener und Meister aller,172 hat vor diesem Hintergrund nicht nur eine Bedeutung für die Gestalt und den Ablauf der Zeremonien, sondern auch für deren konkrete Wahrnehmung und räsonierende Durchdringung: Performativ ist der Zeremoniar Diener aller und allen bekannt, räsonierend hingegen der von allen gefragte, gleichwohl – Ironie des Schicksals – aufgrund der selbstauferlegten Geheimhaltung außerhalb seiner eigenen Zunft weithin unbekannte, nur durch die heutige Forschung zu ermittelnde Experte.

V. Fazit Zum Verständnis des Papsthofes sind die Dokumente und Reflexionen der Zeremoniare eine wichtige Quelle. Sucht man ihre Bedeutung als Experten innerhalb des Hofes zu ergründen, stellt sich auch die Frage nach ihrer Herkunft. Dabei spielt der Hof keine Rolle, vielmehr die vom Göttinger Graduiertenkolleg »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts« bisher behandelten Felder Kirche, Universität und Stadt. Die Zeremoniare der Renaissance sahen sich jeweils am Papsthof plötzlich und unvermittelt für höfische Etikette und diplomatisches Protokoll zuständig, obgleich sie ihrer Ausbildung nach ursprünglich nur Experten der kirchlichen Liturgie und des kanonischen Rechts waren. Insofern 168 Vgl. Minnich, Das Fünfte Laterankonzil (wie Anm. 145), 109–118. 169 Vgl. Bölling, Erneuerung (wie Anm. 9). 170 S. hierzu: Ders., Vorauseilende Reformen (wie Anm. 58), 150–156. 171 So deutet die »idée du secret« (Nabuco, Introduction [wie Anm. 18], 53*): »On était loin de l’encyclicque Mediator Dei et de l’esprit du Concile Vatican II .« 172 Vgl. oben Anm. 1 f. und unten Anhang.

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scheint der Hof eine besondere Sphäre darzustellen: Stellt die Expertenkritik bei Kirche, Universität und Stadt jeweils auch die gesamte Institution in Frage, so gilt dies bei den Höfen nur zum Teil – nur dann, wenn die Experten unabdingbarer Teil des Systems waren. Ausschlaggebend für ihre Expertisen waren ihre Kompetenzen, Karrieremuster und Konzepte. Bei den Kompetenzen der Zeremonienmeister ist – wie bei ihren Dienstherren, den Päpsten  – zwischen Amt und Person zu unterscheiden. Ihrem Amt nach waren die Zeremoniare Diener des Papstes und sämtlicher Amtsträger am Papsthof. Die grundverschiedenen Persönlichkeiten Patrizis, ­Burckards und de Grassis’ wirkten sich aber auch entsprechend unterschiedlich auf das Verständnis vom Papstzeremoniell und auf die eigene Tätigkeit aus: Patrizi systematisierte die Zeremonien dauerhaft, so dass überhaupt von dem »Papstzeremoniell« gesprochen werden kann. Sein Text bildete zugleich ein Nachschlagewerk für mittelalterliche Traditionen wie auch eine Orientierungshilfe für die gegenwärtige wie zukünftige Performanz, fungierte also gleichsam als Scharnier zwischen Mittelalter und Neuzeit. Burckard verfasste regelmäßig nutzbare Überblickswerke und dokumentierte alle Einzelheiten in Randnotizen zum Kurienzeremoniale und vor allem in seinem Tagebuch, das seine Nachfolger fortführten und fortführen – bis heute. Sein »Ordo missae« wurde sogar gedruckt und somit die gesamte Neuzeit über in der römisch-katholischen Kirche weltweit rezipiert – keine schlechte Bilanz für einen von außen an die Kurie gekommenen Experten. Paris de Grassis schließlich suchte in besonderer Ausführlichkeit und Tiefenschärfe Einblick in den Papsthof der Hochrenaissance zu geben und reklamierte in beispiellosem Selbstbewusstsein eigene Regelungs- und Deutungskompetenzen. Erst spätere Zeremoniare verhalfen seinen normativen Werken, freilich in zeitgenössischer Anpassung, durch Abschriften und Drucke zu langfristiger Rezeption. Zugleich kritisierten sie aber einen Großteil seiner eigenständigen Neuerungen und Reflexionen, die somit eine zeittypische Episode der Hochrenaissance blieben. Neben den amtlich bestellten Zeremoniaren gab es auch andere Zeremonialexperten am Papsthof, die ihre eigene Auffassung gern mit Verweis auf ihre langjährige Erfahrung vorbrachten. Gab es dabei Differenzen zu den Zeremoniaren und konnten sich Letztere nicht durchsetzen, entschied im Zweifelsfall der Papst, mitunter im Verbund mit seinen Kardinälen in Form eines Konsistorialbeschlusses. Expertisen und Entscheidungen wurden durch die Zeremoniare in deren Diarium dokumentiert. Als einziger hatte Paris de Grassis einen Doktortitel beiderlei Rechts vorzuweisen. Ansonsten blieb die Ausbildung auf innerkirchliche Institutionen beschränkt. Doch die Kirche eröffnete auch interne Karrierewege  – bis zum Bischofsamt, das am Ende ihrer Karriere allen drei Zeremonienmeistern zuteilwurde. Die Konzepte der Zeremoniare waren den jeweiligen Zeitumständen geschuldet, lassen aber auch das persönliche Profil der Amtsinhaber erkennen. Die dabei regelmäßig an den Vorgängern geübte Kritik wurde später sowohl

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von den Reformatoren als auch von den katholischen Reformern fortgeführt, auf protestantischer Seite nun aber nicht mehr im Geheimen, sondern in der Öffentlichkeit. Hatte die Expertenkritik der Zeremoniare untereinander zu ausgiebigen Diskussionen geführt, die durchaus verschiedene Formen und Deutungsangebote zuließen, so lehnten deren Nachfolger nach der Reformation und dem Trienter Konzil innerhalb der eigenen Tradition alles ab, was nur in Ansätzen hätte reformatorisch erscheinen können. Spätestens seit den 70er Jahren des 16.  Jahrhunderts waren Kompetenzen, Karrieremuster und Konzepte der Zeremonienmeister in weiten Teilen festgelegt. Dies gilt insbesondere für den Bereich des Hofes, in dem sich die frühneuzeitlichen Päpste einrichteten – einerseits zu Duodezfürsten abgestiegen, andererseits zu unumstößlich souveränen Hofhaltern avanciert. Die Hochphase ihrer Darlegung, Diskussion und Weiterentwicklung in Schrift und Performanz erhielten sie aber durch ihre Zeremonialexperten am Papsthof der Renaissance.

VI. Textanhang Fassung des Mucantius: ASV, Fondo Borghese, serie 568 I, fol. 284v–285r. Bibliotheksfassung: BAV, Vat. lat. 5634 I, fol. 150r/v. Kapitel CVII

(Zählung nach Mucantius, in der Bibliotheksfassung nicht nummeriertes 50. Kapitel) »Quod caerimoniarii licet magistri dicantur et sint, tamen in ipso actu caerimonizandi omnibus ministrantibus cedentes subministri fiunt.173 Cerimoniarum magister quisquis est, senior et iunior, dum in suo est magistratu, hoc est quando in ipso actu cerimonizandi operat, tam in cappella papali quam quocunque loco alio, ubi ritu cerimoniali utendum est, sciat se omnium ministrorum minutulorum servitiorum subministrum esse oportere – sic, ut illis vel non scientibus vel non valentibus aut non volentibus facere, quae ad illos pertinent, ipse in eiusmodi opera et ministerio succedat operarius et minister ad eorumdemque operantium sinistram semper, nec unquam dexter incedat aut stet: sicut est quando non solum subdiaconum ad ad epistolae locum ducit ac reducit et item diaconum, sed etiam ipsos cappellanos ceroferarios thuriferariosque comitatur, et dum ipsis denique scutiferis aquamanilibus assistit; semper enim istis laevus incedit. Et ut breviter concludam, licet magister cerimoniarum quoad locum sui honoris immediate subsit secretis cubiculariis Papae praesentis aut eodem absente, accolitis immediate succedat. Nam et ipsi duo ex 173 sunt] fiunt BAV.

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decem accolitorum numero erant, paremque174 cum illis mercedem habebant ex apostolico fisco, de minutis servitiis, sicut etiam hoc tempore singuli percipiunt; tum quia quisque illorum tamen in eo, quod magistrat vel potius ministrat ac subministrat, in cappella papali cedere omnibus et universis tamquam minor debet, etiam cantoribus et scutiferis, stans, ut dixi, ad si- [fol. 285r] nistram quorumcunque, praeterquam subdiaconi epistolam praesente Pontifice cantantis, ubi ne ipsius prospectum impediat, non utique ad sinistram, quae ad Pontificem vergit, sed ad eiusdem dextram continuo manet. Absente vero Pontifice, utique dexter esse potest aut sinister, prout libet. Excipio autem, quando omnes de cappella collegiati distinguuntur, tunc enim ipse magsiter in loco honoris sibi debito, inter secretos Papae cubicularios hinc et inter alios publicos cubicularios inde stat et incedit; quod videri licet in die purificationis cinerumque ac palmarum ac parasceves et similibus actibus diebusque, ut suis locis passim dicemus.« »Dass die Zeremoniare freilich Meister genannt werden und sind, aber dennoch im Akt ihrer Amtsausübung allen Dienern (›ministri‹) weichen und Unterdiener (›subministri‹) sind (Bibliotheksfassung: zu Unterdienern werden). Der Zeremonienmeister, wer auch immer er ist, ein älterer oder jüngerer, möge (Folgendes) wissen: Solange er in seinem Meisteramt arbeitet, sei es in der päpstlichen Kapelle, sei es an jedem beliebigen anderen Ort, wo der Zeremonialritus anzuwenden ist, (solange) muss er von allen Dienern der kleinsten Dienste der Unterdiener sein – dahingehend, dass er sich für all jene, die aus Unwissenheit oder Unfähigkeit oder auch Unwillen nicht das machen, was ihnen ansteht, selbst einer derartigen Arbeit und Diensttätigkeit unterzieht, als Arbeiter und Diener, und zwar zur Linken eben dieser Arbeiter; und niemals schreite oder stehe er rechts. So ist es der Fall, nicht nur wenn den Subdiakon zu Ort der Epistel führt und zurückführt und ebenso den Diakon, sondern auch wenn er Kerzen- und Weihrauchträger geleitet, und schließlich, solange er den Wappenträgern (Schildknappen) bei den Waschgefäßen (›Aquamanilia‹) assistiert; denn stets schreitet er links von ihnen. Und um noch etwas am Schluss hinzuzufügen: Auch wenn der Zeremonienmeister mit Blick auf seine Ehrenstellung (›quoad locum honoris‹) unmittelbar unter den geheimen Kammerherren des anwesenden Papstes oder auch bei dessen Abwesenheit steht, schreitet er unmittelbar nach den Akolythen (›Ministranten‹). Denn auch sie selbst (die Zeremoniare) waren (ursprünglich) zwei der zehn Akolythe und erhielten denselben Lohn aus dem Apostolischen Fiskus bei verringerten Amtspflichten, wie sie ihn auch noch zu unserer Zeit einzeln empfangen. Fernerhin muss jeder von ihnen dennoch in dem, worin er Meister oder doch eher Diener und Unterdiener ist, in der päpstlichen Kapelle allen und jedem als gleichsam Geringerer (›tamquam minor‹) weichen, sogar den Sängern und den Schildknappen, stehend, wie gesagt, zur Linken von allen – mit Ausnahme des Subdiakons, der bei Anwesenheit des Papstes die Epistel singt: Dann 174 Franciscus Mucantius in mg.: Magistri cerimoniarum olim de numero accolitorum.

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wendet er sich, um die Sicht des Papstes nicht zu beeinträchtigen, unbedingt nicht zur Linken in Richtung des Papstes, sondern bleibt dauerhaft an der Rechten. Ist der Papst hingegen abwesend, kann er auf jeden Fall rechts sein oder links, wie es gefällt. Ich nehme jedoch den Fall heraus, wenn alle zum Kapellkollegium Gehörenden unterschieden werden; denn dann steht und schreitet selbst der Meister an seiner ihm gebührenden Ehrenstellung, zwischen den geheimen Kammerherren des Papstes auf der einen und den anderen, öffentlichen Kammerherren auf der anderen Seite. Dies kann am Tag von Mariä Reinigung (Lichtmess, 2.  Februar) sowie am Aschermittwoch, Palmsonntag, Karfreitag und ähnlichen Akten und Tagen gesehen werden, wie ich an den entsprechenden Stellen jeweils erörtern werde.«

Sabine Herrmann

Ärzte am Hof von Mantua Karrierewege, Anforderungen und Aufgaben

Zu den einflussreichsten Familien und Kunstförderern gehörte seit dem 14. Jahrhundert das in Mantua ansässige Geschlecht der Gonzaga,1 das durch umfassenden Landbesitz, geschickte Heiratspolitik, enge Handelsverbindungen mit der Lagunenstadt Venedig und erfolgreich durchgeführte condotte zu Macht und weitreichendem Einfluss gekommen war. Unter der Regentschaft von Isabella d’Este (1474–1539),2 die am 12. Februar 1490 Francesco Gonzaga (1466– 1519) geheiratet hatte, entwickelte sich Mantua auch zu einem kulturell bedeutenden Zentrum und Vorbild aristokratischer Lebensart. Nach dem Tod seines Vaters am 29.  März  1519 wuchs der Einfluss von Isabellas Sohn Federico  II. (1500–1540),3 der unter Papst Leo X. die vielversprechende Position eines Capitano della chiesa erhalten hatte und 1530 von Karl V. zum Herzog erhoben werden sollte. Die Emanzipationsbestrebungen Federicos  II. gegenüber seiner Mutter Isabella wurden dabei insbesondere in der herzoglichen Kulturpolitik deutlich: 1524 rief der junge Marchese den Bildhauer, Architekten und Schüler Raffaels, Giulio Pippi (1499–1546), genannt Giulio Romano, an seinen Hof, der in den folgenden Jahren – wie zur Zeit Isabellas einst Mantegna – das Stadtbild Mantuas weitgehend prägen sollte.

* Verwendete Abkürzungen: ASMn (Archivio di Stato di Mantova), ASMn, FG (Archivio di Stato di Mantova, Fondo Gonzaga), DBI (Dizionario biografico degli Italiani). 1 Zum Hof von Mantua: Giuseppe Coniglio (Hrsg.), Mantova: la storia. Mantova 1958–1963; Charles M. Rosenberg (Hrsg.), The Court Cities of Northern Italy, Milan, Parma, Piacenza, Mantua, Ferrara, Bologna, Urbino, Pesaro, and Rimini. Cambridge 2010, bes.  138–195; zu Kunst und Wissenschaft vgl. Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos. Kunst und wissenschaftliches Ambiente in italienischen Städten des Mittelalters und der Renaissance. München 2010, 231–237. 2 Zu Isabella d’Este und ihrer Kulturpolitik: DBI, s. v. a. »Isabella D’Este«; George Marek, The Bed and the Throne: the Life of Isabella d’Este. New York 1976; Sylvia Ferino-Pagden (Hrsg.), »La prima donna del mondo« Isabella d’Este. Fürstin und Mäzenatin der Renaissance. Wien 1994; Daniele Bini (Hrsg.), Isabella D’Este. La Primadonna del Rinascimento. Mantova 2001; Giovanni D’Onofrio, Isabella d’Este Gonzaga. Mantova 2002; Alessandro Luzio/Rodolfo Renier, Mantova e Urbino. Isabella d’Este ed Elisabetta Gonzaga nelle relazioni famigliari e nelle vicende politiche. Torino 1893; Dies., La cultura e le relazioni letterarie di Isabella d’Este Gonzaga. Turino 1903. 3 Giuseppe Coniglio, I Gonzaga. Milano 1967; Götze, Der öffentliche Kosmos (wie Anm. 1), 271 ff.

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Eine wichtige und überaus komplexe Rolle spielte an den italienischen Renaissance-Höfen der Hofarzt, der neben medizinischem Wissen auch Kenntnisse in Astrologie erworben hatte und oft sowohl als persönlicher Ratgeber (consiliarius) wie auch als Leibarzt des Herrschers fungierte.4 Dieser Experte bestimmte beispielsweise mithilfe von Individualprognosen, die das Geburtsjahr, die Geburtszeit oder auch den Geburtsort berücksichtigten, die gesundheitlichen Risiken, Heilungschancen sowie die therapeutische Praxis (Aderlasskalender). Zudem fertigte der Hofarzt/Hofastrologe Ephemeriden an und ermittelte mithilfe der Nativitäten anderer Potentaten politische Handlungsanweisungen. Viele dieser Hofärzte hatten an bekannten Universitäten ihrer Zeit, beispielsweise Bologna oder Padua, studiert, da ein universitär ausgebildeter Arzt ein außergewöhnliches Sozialprestige genoss und die zahlungskräftige Mittel- und Oberschicht zu seinen Kunden zählte. Weniger solvente Bevölkerungsschichten nahmen stattdessen meist die Dienste eines Handwerkschirurgen oder Empirikers in Anspruch, welcher jedoch, zumindest in praktischer Hinsicht, einem studierten Arzt durchaus überlegen sein konnte und mit diesem nicht selten konkurrierte.5 Wie andere Herrscherfamilien beschäftigten auch die Gonzaga zahlreiche Hofärzte, von denen einige zu Macht und Einfluss gelangen sollten. Aufgrund ihres außergewöhnlichen Interesses an medizinischen, pharmakologischen und botanischen Inhalten unterschied sich die Herrscherfamilie jedoch von den meisten Häusern ihrer Zeit. So erwarben einige Mitglieder profunde medizinische Kenntnisse und eigneten sich als medizinische Laien auf diese Weise »Experten«-Wissen an, was sie zu einer selbstbewussten Kommunikation mit Ärzten befähigte. Die Begeisterung der Gonzaga für die scientia naturalis reicht bis in die Herrschaft Isabellas zurück,6 deren Sammlung naturkundlicher Preziosen weitestgehend aus Objekten bestand, wie sie in deutschen Wunderkammern belegt sind (Muscheln, Korallen, Zähne, Fossilien und archäologische Objekte), wobei Isabella zudem auch ein ausgeprägtes Interesse für Monstrositäten entwickelt hatte.7 Als begeisterter Naturforscher ließ 4 Zu diesem »Berufsbild« vgl. Barbara Bauer, Die Rolle des Hofastrologen und Hofmathematicus als fürstlicher Berater, in: August Buck (Hrsg.), Höfischer Humanismus. Weinheim 1989, 93–117. 5 Jana  M. Schütte, Medizin im Konflikt: Fakultäten, Märkte und Experten in deutschen Universitätsstädten des 14.–16. Jahrhunderts. Leiden/Boston 2017, 12–30, 198–281; Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München/ Zürich 1991, 18 f.; Sabine Sander, Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe. Göttingen 1989. 6 Dario  A. Franchini u. a. (Hrsg.), La scienza a Corte: collezionismo eclettico, natura, immagine a Mantova fra Rinascimento e Manierismo. Rom 1979, 87 ff. Neben den Gonzaga betrieben auch die Medici intensive Naturstudien, vgl. Paula Findlen, Possessing Nature: Museums Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy. Berkeley/Los Angeles/ London 1994, 223 f. 7 Clifford M. Brown, Lo insaciabile desiderio nostro di cose antique: New Documents on Isabella d’Este’s Collection of Antiquities, in: Cecil H. Clough (Hrsg.), Cultural Aspects of the Italian Renaissance. Essays in Honour of Paul Oskar Kristeller. New York 1976, 324–353;

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Isabellas Sohn Federico II. exotische Tiere und Pflanzen zeichnen,8 hielt lebende Gazellen und Papageien auf seinem Landsitz Marmirolo9 und züchtete Jagdhunde, Greifvögel und Pferde.10 In Marmirolo soll sich zudem ein weitläufiger botanischer Garten befunden haben, dessen Mauern mit kostbaren Fresken verziert waren.11 Wohl angeregt durch die naturkundlichen Sammlungen des veronesischen Apothekers Francesco Calzolari (1522–1609),12 des mantuanischen Apothekers Filippo Costa (1550–1587) und des Arztes Paolo Carazzi erreichten die naturwissenschaftlichen Forschungen vor allem unter Guglielmo Gonzaga (1538–1587) einen noch nie dagewesenen Höhepunkt:13 Guglielmo pflegte Kontakte zu bekannten Naturforschern wie Pietro Andrea Mattioli (1501–1577) oder Ulisse Aldrovanti (1522–1605),14 der nach einem Besuch in Mantua von diversen Gegenständen in der Grotta des Herzogs berichtet, darunter dem sagenumwobenen Horn eines »Einhorns«.15 Ein ausgeprägtes Interesse an den medizinischen Wissenschaften16 geht hingegen vor allem auf Ercole (1505–1563) zurück, den zweiten Sohn Francesco II.



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Franchini, La scienza  a Corte (wie Anm.  6), 89 f. Erste Beispiele für solche Sammlungen war etwa das Museum von Mantegna (ebd., 87). Zu Isabellas Interesse an Monstrositäten vgl. ebd., 101, bes. 104–114; 108–109. Isabella d’Este war zudem eine der wenigen Frauen dieser Zeit, die ein Naturalienkabinett besaßen, vgl. Findlen, Possessing Nature (wie Anm. 6), 112. Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 72, 89 f. Zum Inventar siehe: ASMn, Fondo notarile, lib. K 10. Abgesehen von den Gonzaga selbst besaßen auch viele Privatleute Kuriositätenkabinette, darunter der Hofmaler Theodoro Ghisi, der auch für den Naturforscher Ulisse Aldrovanti verschiedene Illustrationen schuf. Bekannt war etwa das Kabinett von Giovanni Battista Lucchini und Ippolito della Sirena, einem Chirurgen und Apotheker und engem Freund Aldrovantis, vgl. ebd., 30 ff. Ebd., 95 (Quellen in Anm. 31); zur Rekonstruktion des Landsitzes siehe: ebd., 195 ff. Ebd., 94, 96 f.; Itinerarium Italiae totius, Colonia 1602, 242 und 69 f. Zur Rekonstruktion des Gartens siehe: Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 196 f. Zu Calzolari vgl. ausführlich: Findlen, Possessing Nature (wie Anm. 6), 31, 37–40, 67, 118 f. Zu diesen beiden Privatsammlungen vgl. Franchini, La scienza  a Corte (wie Anm.  6), ­39–44; Findlen, Possessing Nature (wie Anm. 6), 105, 118; Guido Rebechini, Private Collectors in Mantua 1500–1630, Rom 2002, 240. Zur Geschichte von Aldrovantis Naturalienkabinett siehe ausführlich: Findlen, Possessing Nature (wie Anm. 6), 17 ff.; zu den Besuchern ebd., 138–146. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit hielt man insbesondere die spiralförmigen Zähne des Narwals für die Hörner des Einhorns, vgl. Klaus Minges, Das Sammlungs­ wesen der frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung. Münster 1998, bes. 11 f.; zur Bedeutung des Horns vgl. ferner: Lorraine Daston/Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, 1150–1750. Berlin 2002, 85. Aldrovanti publizierte eine Darstellung des Horns in De quadrupedibus solipedibus. Bologna 1639, 415; zum Aufenthalt Aldrovantis in Mantua vgl. Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 115–117. Zur Medizin am Hof der Gonzaga siehe: Adalberto Pazzini, La medicina alla corte die Gonzaga, in: Atti del convegno, Mantova  e i Gonzaga nella civilità del Rinascimento (Mantova 6–8 ottobre 1974). Milano 1977, 306–310; Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 56–62.

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Gonzagas und Isabella d’Estes, und ab 1521 Bischof von Mantua.17 Ercole besuchte regelmäßig anatomische Vorlesungen18 und besaß laut seines Bibliotheksinventars fünfzig medizinische Fachbücher.19 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelte sich Mantua unter Vincenzo I. Gonzaga (1562–1612), dem Sohn von Guglielmo und Eleonora von Österreich und ab 1587 vierter Duca di Mantova, zunehmend zu einem bedeutenden Zentrum botanisch-medizinischer und medizinisch-alchemistischer Forschung.20 Vincenzo Gonzaga war selbst von drei Naturforschern, den Medizinern Giuseppe Moletti di Messina (1531– 1588), Gian Paolo Branca und Marcello Donati (1538–1602), unterrichtet worden und integrierte die scientia naturalis daher auch in den Lehrplan seiner Söhne Francesco (1586–1612) und Ferdinando (1587–1626).21 Francesco faszinierte dabei insbesondere die Zusammensetzung von Therapeutika und er verfasste mit Unterstützung des höfischen Apothekers Antonio Bertoli22 ein medizinisches Traktat über die Herstellung von Theriak (»Il nobilissimo medicamento della Teriaca, facendolo di somma et isquisita perfezione ad uso et in gratia de’poveri oppressi da veleno à quali con larga mano et di buona voglia lo dona et distribuisce«).23 Mantua selbst verfügte Mitte des 16. Jahrhunderts zwar noch nicht über eine eigene Universität mit einer angeschlossenen medizinischen Fakultät, an der Ärzte ausgebildet werden konnten, jedoch konnte die von Cesare Gonzaga 1562 gegründete Accademia degli Invaghiti auf Betreiben von Guglielmo Gonzaga auch Abschlüsse in Medizin, Poesie und den beiden Rechten vergeben.24 17 Zu Ercole Gonzaga vgl. Paul Murphy, Ruling Peacefully. Cardinal Ercole Gonzaga and Patrician Reform in Sixteenth-Century Italy, Washington 2007; Paul  F. Grendler, The University of Mantua, the Gonzaga, and the Jesuits, 1584–1630. Baltimore 2009, 24 f. 18 ASMn, FG , b. 1150, c. 167r; Vincenzo di Prete an Isabella d’Este am 10. Januar 1523. 19 Archivio storico diocesano di Mantova, Mensa vescovile, b. 1, c. 61r (1. Juni 1537). Zu den medizinischen Interessen von Ercole Gonzaga vgl. Murphy, Ruling Peacefully (wie Anm. 17), 11, 18 ff. (zur Bibliothek). Das Inventar befindet sich im ASMn, Minute, Agostino Raggazola, b. 7566, 1. April 1563, 7567. 20 Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 21 ff.; zum Einfluss der paracelsischen Schriften: Grendler, The University of Mantua (wie Anm. 17), 178–184. 21 Ebd., 59–68. 22 Attilio Zanca/Adriano Galassi, Saggio di bibliografia medica mantovana rinascimentale, Atti del Convegno Mantova e i Gonzaga nella civilità del rinascimento. Mantova 1977, 409; Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 127. Bertoli, Verfasser des Traktats Considerazioni sopra l’olio di scorpioni del Mattioli (Mantova 1585), war ebenfalls ein Schüler Aldrovantis. 23 ASMn, Documenti patri raccolti da C. d’Arco, n. 96, Vite de’principi di casa Gonzaga da Luigi I signore di Mantova sino a Vincenzo duca e al di lui figlio Francesco scritta da Paolo Fioretta mantovano, c. 200–202; Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 127; Grendler, The University of Mantua (wie Anm. 17), 59 ff. Theriak galt als universelles Therapeutikum und bestand aus einer Vielzahl von Inhaltsstoffen, vgl. Thomas Holste, Der Theriakkrämer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Arzneimittelwerbung. Würzburg 1976. 24 Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 116, 188 f.; Grendler, The University of Mantua (wie Anm.  17), 55; Michele Maylender/Luigi Ravà, Storia delle accademie d’Italia. Bd. 3. Bologna 1926–30, 363–366.

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Erst 1624 sollte Ferdinando Gonzaga (1587–1627) eine Universität gründen, die von Jesuiten geleitet wurde und an der Theologie, Philosophie, Medizin und Botanik studiert werden konnten.25 Unter Vincenzo Gonzaga entstand auch der von dem Literaten, Botaniker und Direktor des botanischen Gartens in Pisa, Zenobio Bocchi, angelegte botanische Garten im palazzo ducale:26 Gärten wie dieser Giardino dei semplici27 hatten stets eine quadratische Form, welche die vier Ecken der Welt, die vier Elemente, die vier Jahreszeiten, aber auch die vier Phasen zur Herstellung des Elixiers der Unsterblichkeit symbolisierten. Im Zentrum befand sich ein Lebensbaum oder eine Wanne mit Wasser, aus der symbolisch die vier Flüsse von Eden herausflossen. Die Samen wurden gemäß einer hermetischen Philosophie und nach ihren spezifischen medizinischen Wirkungsweisen ausgesät (Spagyrik, Pflanzenalchemie). Im vom Garten aus zugänglichen Appartamento delle Metamorfosi befand sich die herzogliche Bibliothek,28 die 1630 im Verlauf des Sacco geplündert wurde, sowie ein Kuriositätenkabinett, in dem sich Föten, seltene Steine, der als Talisman verehrte mumifizierte Körper von Passerino Bonacolsi und mumifizierte Tiere (Krokodile etc.) befanden.29 Bereichert wurde die naturkundliche Sammlung durch eine Expedition des Apothekers Evangelista Marcobruno (geb. ca. 1580) nach Südamerika, dem es zwar nicht gelang, ein sagenumwobenes Insekt namens »Gusano« zu finden, von dem sich der Herzog eine aphrodisierende Wirkung erhofft hatte, der jedoch stattdessen zahlreiche exotische Vögel, Steine, Harze und Öle nach Mantua brachte.30

25 Studenten war es in dieser Zeit verboten, sich an anderen Universitäten einzuschreiben, vgl. Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 128. Ausführlich zur Geschichte der Universität von Mantua siehe: Grendler, The University of Mantua (wie Anm. 17), bes. 175 ff. (zur Medizin). 26 Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 130 ff. Bocchi publizierte 1603 eine Abhandlung über den Garten, siehe: Attilio Zanca, Il giardino dei semplici a Mantova di Zenobio Bocchi, Quadrante padano II /2, 1981, 32–37; Gaetane Lemarche-Vadel, Jardins secrets de la Renaissance: des astres, des simples et des prodiges. Paris 1997. 27 Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 132; zum Inventar siehe: ASMn, FG , b. 330, 3, c. 7v. 28 Biblioteca Comunale degli Intronati di Siena, Ms. B V 2, Memorie di Ottavio Piccolomini, cc. 17–23v; zu weiteren Quellen siehe: Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 136 (Inventar), 140 f. 29 Zum Kuriositätenkabinett der Gonzaga vgl. Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 136 ff.; Carlo d’Arco, Delle arti e degli artifici di Mantova. Bd. 2. Mantova 1859, 173–175. Es gibt mehrere zeitgenössische Beschreibungen des herzoglichen Kuriositätenkabinetts, darunter von Josef Furtembach (Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 136–138) und Benedetto Ceruti (ebd., 138–141). 30 Maria Belloncini, Segreti dei Gonzaga. Milano 1963, 267–269; Giuseppe Ostino, L’avventuroso viaggio al Perù di Evangelista Marcobruno, speziale mantovano nei primi anni del ’600 alla ricerca di una curiosa droga, La farmacia nuova 8/9, 1968, 19–21; Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 123.

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Kein Gonzaga zeigte jedoch ein so ausgeprägtes Interesse an der Alchemie wie Vincenzo I., der neben Bocchi31 noch weitere, unzählige ›Goldmacher‹ beschäftigte.32 Alchemie und Scharlatanerie hatten in Mantua unter Vincenzo I. aber derartige Ausmaße angenommen, dass sein Sohn und Nachfolger Ferdinando laut eines Berichts des venezianischen Senates von 1612 alle Alchemisten entlassen haben soll.33 Ferdinando, der eigentlich die kirchliche Laufbahn hatte einschlagen sollen, war in der Tat weniger von Alchemie denn von Medizin fasziniert, wobei seine Kenntnisse ähnlich wie bereits bei Ercole weit über das Verständnis eines medizinischen Laien hinausgingen. So berichtet etwa der Arzt Francesco Pona (1595–1655),34 Sohn des veronesischen Apothekers Giovanni Pona und Leibarzt des Herzogs, der Duca habe persönlich an Untersuchungen des Gelehrten Fabrizio Bartoletti (geb. 1587)35 in dessen anatomischem Theater teilgenommen und sich an wissenschaftlichen Diskussionen beteiligt.36 Als Pona 1623 erkrankte, schickte Ferdinando aus Maderno sogar seine eigenen Therapeutika (»La picciola cassetta de’miei antidoti«), um die Heilung zu be31 Ebd., 131; App., Dok. Nr. 56. 32 Antonino Bertolotti, Le arti minori alla corte di Mantova nei secoli XV, XVI e XVII . Milano 1889 (Nachdruck: Bologna 1974), 91–96; Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 122; Grendler, The University of Mantua (wie Anm. 17), 57. Zahlreiche Widmungen von alchemistischen Schriften richten sich daher auch an Vincenzo Gonzaga, darunter vom medico ducale Abramo Portaleone jr. (1542–1612), De auro dialogi tres (Venetijs 1584), und Cesare della Rivieras (gest. 1625), Il magico mondo de gli heroi (Mantova 1603). Riviera fertigte für Vincenzo auch giftige Substanzen an, die in der Artillerie verwendet werden konnten (letztendlich jedoch keine Wirkung zeigten). Zu Portaleone: Franchini, La Scienza a corte (wie Anm. 6), 122; Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science. Bd. 5. New York/London 1966, 645–647. 33 Arnaldo Segarizzi (Hrsg.), Relazioni degli ambasciatori veneti al Senato. Bd. 1. Bari 1912, 118. 34 Pietro Rossi, Francesco Pona nella vita  e nelle opere. Verona 1897, 31; Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 129 f. Francesco hatte Medizin und Philosophie in Padua studiert und war 1631 am Collegium medicum von Verona zugelassen wurde. Er war Mitglied mehrerer Akademien, darunter der Accademia dei Filarmonici (Verona) und der Accademia degli Invaghiti (Mantua). Pona verfasste mehrere medizinische und botanische Schriften; über sein Verhältnis zu Ferdinando schreibt er ausführlich im Indice delle opere compiute e iniziate di Francesco Pona (Biblioteca Comunale di Verona, Ms. 1510, 82.7, c. 36). Zu einer vollständigen Liste vgl. Salvatore de Renzi, Storia della medicina italiana. Bd. 4. Napoli 1846, 76, 180, 478, 480, 522; Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 129. 35 Zu diesem Anatomen, der auch an der Universität von Mantua unterrichtete, siehe: Grendler, The University of Mantua (wie Anm. 17), 128–144, 175–192. 36 Biblioteca Comunale di Verona, Ms. 1510, 82.7, c. 36: »Mi portarono intorno quel tempo in Mantova i commandi del Serenissimo Ferdinando Gonzaga, Principe di meravigliosi talenti e gran fautore delle scienze. Mentre amministrandosi in pubblico Theatro l’anatomia dal valorosissimo Fabrizio Bartoletti, hebbe gusto quella Altezza di trovarsi presente à discorsi et alle dispute che vertivano in quella materia.« Zu diesem Dokument: Franchini, La scienza a Corte (wie Anm. 6), 130. Zum Interesse an öffentlichen Anatomien von Seiten der Herrschenden vgl. Findlen, Possessing Nature (wie Anm. 6), 208–220.

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schleunigen.37 Beigefügt war der Sendung in Schreiben, in welchem der Herzog seine Sorge ausdrückte und seinen Beistand versicherte.38 Als Ärzte erhielten Gelehrte wie Pona einen intimen und verantwortungsvollen Einblick in das Leben ihrer Dienstherren, was sie von anderen Höflingen abgrenzte.39 Die Aufstiegsmöglichkeiten eines Medicus machten das Amt des Hofarztes seit jeher zu einem begehrten Beruf, und so mancher Arzt hatte in dieser Funktion bereits eine beachtenswerte Karriere vorzuweisen. Bereits Jean Calard (1374–1449), Hofarzt unter dem französischen König Charles  VI. (1368–1422), wirkte nicht nur als königlicher Leibarzt, sondern auch als Erzieher des königlichen Nachwuchses und Berater in politischen Angelegenheiten. Auf eine glanzvolle Hofkarriere konnte auch der italienische Arzt Giovanni Manardo (1462–1536) zurückblicken, die ihn an den Hof der Pico della Mirandola (Mirandola)  und der Este (Ferrara)  geführt hatte.40 Vor allem die in der Frühen Neuzeit oft belegte Personalunion von Leibarzt und Astrologe prädestinierte einen Gelehrten geradezu zum politischen consiliarius.41 Zur Blütezeit Mantuas dienten unzählige Ärzte am herzoglichen Hof, jedoch sollte nur wenigen ein glanzvoller Aufstieg zu Macht und Einfluss gelingen. Wie unvorhersehbar und letztendlich unplanbar eine derartige Karriere war, zeigen vor allem die anfangs durchaus vielversprechenden, letztendlich aber ergebnislosen Bemühungen des aus Ravenna stammenden Arztes und Astrologen Tomaso Rangone (1493–1577), der seit den 1520er Jahren in den Diensten des päpstlichen Condottiere Guido Rangoni in Modena stand.42 Als Guido Rangoni im Januar  1525 im Rahmen des Karnevals zahlreiche Empfänge gegeben hatte, befand sich unter den Gästen auch Ercole Gonzaga (1505–1563), der auf den jungen Arzt und Astrologen aufmerksam geworden war. Da Guido Rangoni nicht zuletzt aus politischen Gründen ein harmonisches Verhältnis zu Mantua pflegte, empfahl er bereits am 8. Januar 1525 seinen Protegé ausdrück-

37 Biblioteca Comunale di Verona, Ms.  1510, 82.7, c.  182v; Franchini, La scienza  a Corte (wie Anm. 6), 130: »Mando a V. S. alcuni pochi rimedi, come vedrà nella congiunta nota. Mi rincresce ch la sua lettera mi habbia trovato qui in Maderno dove l’ho ricevuta tardi e per esservi venuto per pochi giorni ho messo solo la picciola cassetta de’miei antidoti. […].« 38 Ebd.: »[…] Piaccia a Dio che le giovino, com’io sommamente desidero. Fra tanto creda V. S. che in me sempre troverà prontezza in tutto quello che sarà il suo servitio, e Dio la guardi. Il Duca di Mantova, il Maderno l’ultimo settembre 1623.« 39 Man vergleiche die Rolle der Hofärzte bei den »prove di virilità« Vincenzo Gonzagas, vgl. Costantino Cipolla/Giancarlo Malacarne (Hrsg.), El più soave et dolce et dilectevole et gratioso Bochone. Amore e sesso al tempo dei Gonzaga. Milano 2006, bes. 156 ff. 40 DBI, s.v. a. »Manardo, Giovanni«; Andrea Ostoja, Notizie inedite sulla vita del medico e umanista ferrarese Giovanni Manardo, Atti del convegno Internazionale per la celebrazione della nascita di Giovanni Manardo (1462–1536). Ferrara 1962. 41 Bauer, Die Rolle des Hofastrologen und Hofmathematicus (wie Anm. 4), 93–117. 42 Sabine Herrmann, Tomaso Rangone: Arzt, Astrologe und Mäzen im Italien der Renaissance. Göttingen 2017.

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Abb. 1: Tomaso Rangone (1493–1577). Detailansicht der von Alessandro Vittoria entworfenen Bronzebüste. Ateneo veneto, Aula magna.

lich an den Hof von Mantua.43 Nach seiner Rückkehr verfasste auch Tomaso selbst am 25. März ein euphorisches Dankesschreiben an den herzoglichen Sekretär Mario Equicola (1470–1525)44 und übermittelte anliegend ein astrologisches Prognostikon mit dem Titel »De Liberatione Francisci regis christianissimi«,45 worin er sich auf die Gefangennahme des französischen Königs François  I. (1494–1560) durch die kaiserlichen Truppen bei der Schlacht von 43 ASMn, FG , b. 1292, c. 5: »Perche scio che la Ex(zellen)tia V(ost)ra ha qualche desiderio de conoscer lo excellente M. Thomaso astronomo presente ostensore, secondo che Zoppino dice haverlo inteso per parte di M. Mario (Equicola). Et io che penso per ogni tempo di satisfare alla predetta Ex(zellen)tia V(ost)ra subito l’ho indirizato da epso con animo che l’abbia arestare de lui ben satisfacto: cosi ge lo racomando et la prego che ultra le virtute sue per amor mio lo vogli haverlo sommamente grato: Che di tutto mi restaro obbl.mo alla prelibata Ex(zellent)ia V. alla quale di nuovo ricordo del del officio del p. Zoppin come me rendo certo lo habbi in memoria et alla sua bona gratia per sempre mi ricomando.«« 44 ASMn, FG , b. 1292, c. 39. 45 Ebd.

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Pavia am 24. Februar 1525 bezog. In einem anliegenden Schreiben betonte er den ausdrücklichen Wunsch, in die Dienste des Marchese zu treten.46 Zudem machte er dem Herrscher diverse Geschenke, darunter eine Flasche mit Pinienwasser sowie einen kleinen Pinienbaum (»alberello di pignie«).47 Anscheinend erfolgte jedoch keine umgehende Reaktion auf das Schreiben, weshalb sich der junge Arzt am 30. Oktober 1525 erneut an Federico  II. wandte und ihn daran erinnerte, er habe ihn doch nach seinem letzten Aufenthalt in Mantua in seine Dienste nehmen wollen und ihm ein Haus, die stattliche Pension von zweihundert Dukaten, zusätzliches Kostgeld, eine eigene Dienerschaft und sogar ein Pferd in Aussicht gestellt.48 Aus diesem Schreiben geht deutlich hervor, dass der junge Arzt nicht ausschließlich als Astrologe und Arzt für den Marchese tätig werden wollte, sondern auch als Sekretär und consiliarius in politischen Angelegenheiten.49 Schon bald erhielt Tomaso umgehend Antwort, denn nur wenige Tage später (2. November 1525) dankte ihm der Marchese höflich für sein Angebot, lehnte jedoch ab, Tomaso in seine Dienste zu nehmen, da er sich aus finanziellen Gründen dazu nun nicht mehr in der Lage sähe, ohne andere entlassen zu müssen.50 Ein Brief Guido Rangonis vom 22. Oktober 152551 legt nahe, dass diese Zurückweisung möglicherweise weniger Tomaso selbst als vielmehr seinem Dienstherren gegolten haben könnte, da Guido Rangoni darin über einen Edelmann aus dem Gefolge des Marchese berichtete, der gegen ihn intrigiert habe (»per le parole di mala natura che l’ha detto di me«), und die Hoffnung äußerte, der Marchese werde dessen Worten kein Gehör schenken. Im April 1526 begab sich Tomaso auf Wunsch Guido Rangonis erneut nach Mantua, wobei er sich wieder auf ein eigenhändiges Empfehlungsschreiben des condottiere stützen konnte;52 aber auch diesmal scheint Tomasos Aufenthalt nicht zum gewünschten Ergebnis geführt zu haben – vielleicht, da sich Federico  II. zu diesem Zeitpunkt bereits um den in Venedig ansässigen Astrologen Luca 46 ASMn, FG , b. 1292, c. 39r: »[…] e dedicarlo al mio Ill(ustre) et desideratissimo mecenate Signor Marchese, che per ciò sono desideroso di servirlo, che cosa mai desiderasse ad altro non espetto cha esser ricerchato al servitio suo ogni altra speranza mi è manchata et questa sola mi resta per benignità di S. S. et per ogni modo vuorìa esser al suo servizio.« 47 Ebd.: »[…] una fiascha d’acqua di pigne che solo in Romagna la scia così preparare et un alberello di pigne confetto a ciò ne faci uno presente al amico et conoscendo li sia grato nel prossimo magio non faro fare quantita.« 48 ASMn, FG , b. 1292, c. 85. 49 Ebd.: »[…] e io sono homo per servirla in qualuncti […], si in negociar, come in scriver, medicar, e altre virtu […].« 50 ASMn, FG , b.  2929, c.  53v: »M(aestr)o Thomaso havemo recevuto la vostra lettera del 30 del p.to per la quale havemo inteso il bon animo et gran desiderio che havete di venire alli servitii nostri il che ne stato molto grato. In risposta vi dicemo che, essendo noi tanto carichi de famiglia como semo, non vi potressimo accetare, secondo che merita un vostro paro, ne con le conditioni convenienti alle virtu vostre se prima non licentiassemo molti de li nostri antichi servitori.« 51 ASMn, FG , b. 1292, c. 83r. 52 ASMn, FG , b. 1292, c. 136r.

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Gaurico (1475–1558) bemühte,53 dessen Bekanntschaft er bereits als junger Mann in Mantua gemacht hatte, woraufhin er Freskenzyklen mit astrologischer Thematik in Auftrag gegeben hatte.54 Während im Fall von Tomaso Rangone die Initiative vermutlich von Guido Rangoni ausgegangen war, der aus politischen Gründen einen vertrauensvollen Informanten am Hof von Mantua postieren wollte, erging von Seiten des Herrschers oft auch der direkte Auftrag, nach einem fähigen Experten außerhalb Mantuas zu suchen. Guglielmo Gonzaga (1538–1587) galt als ein schwieriger Patient mit einem besonders delikaten Gesundheitszustand, der an Arthrose, Rachitis und starkem Übergewicht litt, weshalb er seine Berater beauftragte, einen fähigen Arzt zu finden.55 In Venedig fiel das Augenmerk bald auf einen für diese Aufgabe geeigneten Kandidaten, den Arzt Giovanni Tommaso Minadoi (1548–1615), der vorher als Konsulatsarzt (medico di condotta) für die Republik Venedig in Syrien gedient hatte.56 Für ihn verbürgten sich auch der ehemalige Hofarzt der Gonzaga, Giovan Paolo Branca, der von 1576 bis 1578 die Erziehung von Guglielmos Sohn Vincenzo begleitet hatte,57 sowie der Chirurg Cesare Pendasio, ebenfalls langjähriger Arzt der Gonzaga, wobei Eugenio­ Calcina ›Signor Minadoi‹ jedoch für bescheidener (»di alquanta più modestia«) hielt.58 Zudem würden die chirurgischen Fähigkeiten Minadois, so Pendasio, 53 Laut eines Briefes vom 9. April 1526 bedankte sich der gerade in Venedig ansässige Luca Gaurico für die großzügige Einladung des Marchese, einige Tage in Mantua zu verbringen (di venir qua in Mantua per alcuni giorni), vgl. ASMn, FG , b. 1460, c. 302r/v; siehe hierzu auch: Marco Pecoraro, Lettere di Luca Gaurico ai Gonzaga di Mantova e agli Estensi, Divinazioni astrologiche e testimonianze autobiografiche, Quaderni per la Storia dell’Università di Padova 37, 2004, 119–138, bes. 126. 54 Zu Luca Gaurico in Mantua vgl. Alfonso Silvestri, Luca Gaurico e l’astrologia a Mantova nella prima metà del Cinquecento, L’Archiginnasio 34, 1939, 299–315; Götze, Der öffentliche Kosmos (wie Anm. 1), 233 ff., 247 ff. 55 Adalberto Pazzini, La medicina alla corte dei Gonzaga, in: Atti del convegno: Mantova e I Gonzaga nella civilità del Rinascimento (Mantova 6.–8.  Ottobre  1974). Milano 1977, 306–310; Lucia Samaden, Giovanni Tommaso Minadoi (1548–1615), Da medico della »nazione« veneziana in Siria a professore universitario a Padova, Quaderni per la storia dell’Università di Padova 31, 1998, 91–165, bes. 122 f. 56 Samaden, Giovanni Tommaso Minadoi (wie Anm.  55), 122–129 (Aufenthalt in Mantua); vgl. ferner zu Minadoi: Isidoro Ghibellini, Un medico rodigino alla corte di Mantova (Gian Tomaso Minadois), Minerva medica 48, 1952, 912–920. 57 ASMn, FG , b. 2621; s. Davari, Notizie storiche intorno allo studio pubblico e ai maestri del sec. XV e XVI che tennero scuola a Mantova. Mantova 1876, 23; Samaden, Giovanni Tommaso Minadoi (wie Anm. 55), 123; zu Branca vgl. auch: Grendler, The University of Mantua (wie Anm. 17), 56 f. Branca nahm 1578 eine Professur in Padua an, worauf ihm Marcello Donati nachfolgte. 58 ASMn, FG , b. 1513 (Brief Pendasios vom 8. April 1583); Samaden, Giovanni Tommaso Minadoi (wie Anm. 55), 123. Zu Pendasio siehe auch: Valeria Finucci, The Virgin’s Body and Early Modern Surgeons, in: Amy Leonard/Karen  L. Nelson (Hrsg.), Masculinities, Childhood, Violence. Attending to Early Modern Women and Men. Proceedings of the 2006 Symposium. Newark 2011, 195–222; Costantino Cipolla/Giancarlo Malacarne

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denen von Calcina voll und ganz entsprechen.59 Nach dieser ›Examinierung‹ durch Pendasio wurde Minadoi in den Dienst der Gonzaga aufgenommen. Dort sollte er nicht nur ein jährliches Gehalt von zweihundert Scudi und Kostgeld erhalten, sondern auch zwei Diener und ausreichend Reisegeld.60 Auch seine Aufgaben als Hofarzt waren genau umrissen: Er sollte den Duca überallhin begleiten (»seguitarla in tutti i luoghi«) und ihm besondere Aufmerksamkeit beim Aufstehen, als diätetischer Berater während der Mahlzeiten und beim Zubett­ gehen zuteilwerden lassen61 sowie erforderliche Therapeutika in der Hofapotheke besorgen.62 Jedoch musste Minadoi während seiner nur einjährigen Tätigkeit enttäuscht feststellen, dass kaum eine seiner Forderungen erfüllt werden sollte. Bereits am 24. Mai 1583 schrieb er aus Sacchetto vor den Toren Mantuas, weder Diener noch Pferd noch die drei versprochenen Zimmer in Mantua erhalten zu haben.63 Auch das Collegium medicum in Mantua schien Minadoi nicht zu akzeptieren und nannte ihn nicht einmal unter den ›Ausländern‹, die zu dieser Zeit in Mantua praktizierten.64 Bereits im Februar  1584 bat er daher um seine Entlassung und wurde erst durch den römischen Arzt Pisanelli und dann durch den aus Novarra stammenden Arzt Torniello ersetzt.65 Den letztendlich gescheiterten Hofkarrieren eines Rangone und Minadoi steht der Lebenslauf des wohl bedeutendsten und einflussreichsten Hofarztes der Gonzaga, Marcello Donati (1538–1602),66 gegenüber, dessen Funktionen weit über die eines Leibarztes hinausgehen sollten. Donati, Sohn eines Goldschmieds und Laura Pomponazzis, der Tochter des berühmten Arztes­ Pietro Pomponazzi, hatte in Mantua bereits bei Francesco Facini, dem Leibarzt­ (Hrsg.), El più soave et dolce et dilectevole et gratioso Bochone. Amore e sesso al tempo dei Gonzaga. Milano 2006, bes. 157–160 und Quellen (425, 427, 429). Zu Calcina siehe: Serafino Mazzetti Bolognese, Repertorio di tutti i professori antichi, e moderni della famosa università, e del celebre instituto delle scienze a Bologna. Bologna 1848, 75. 59 ASMn, FG , b.  2214 (Brief an Cesare Pendasio vom 20.  April  1583), b.  1513 (Brief von­ Cesare Pendasio aus Venedig vom 22. April 1583). 60 ASMn, FG , b. 1513 (Brief von Cesare Pendasio aus Venedig, 22. April 1583); Samaden, Giovanni Tommaso Minadoi (wie Anm. 55), 124. 61 ASMn, FG , b. 1513 (Brief von Cesare Pendasio aus Venedig, 22. April 1583); Samaden, Giovanni Tommaso Minadoi (wie Anm. 55), 125. 62 Ebd. 63 ASMn, FG , b. 2620 (Brief von Minadoi aus Sacchetta vom 24. Mai 1583); Samaden, Giovanni Tommaso Minadoi (wie Anm. 55), 124. 64 Ebd. 65 ASMn, FG , b. 2626 (Brief von T. di Sangiorgio an den Bischof von Casale [Aurelio Zibramonti], vom 19. Februar 1584); Samaden, Giovanni Tommaso Minadoi (wie Anm. 55), 127. 66 DBI, s.v. a. »Donati, Marcello«; Korrepondenz: Pietro Torelli (Hrsg.), L’Archivio Gonzaga di Mantova. Ostiglia 1920; und Alessandro Luzio, La corrispondenza familiare, amministrativa e diplomatica dei Gonzaga. Verona 1922; Luigi Castellani, Vita del celebre medico mantovano Marcello Donati. Mantova 1788; Pompilio Pozzetti, Elogio di Marcello Donati. Modena 1791; Attilio Zanca, Notizie sulla vita e sulle opere di Marcello Donati da Mantova (1538–1602) medico, umanista, uomo di Stato. Pisa 1964; Guido Rebecchini (Hrsg.), Private Collectors in Mantua, 1500–1630. Rom 2002, bes. 185 ff.

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Abb.  2: Luigi Francesco Castellani, Vita del Celebre Medico Mantovano Marcello­ Donati: Conte di Ponzano, Segretario, Consiglier di Vincenzo Primo, Duca di Mantova, e Commendatore di S. Stefano, Mantova 1788.

Guglielmo Gonzagas, Medizin studiert. Da er in Mantua zu diesem Z ­ eitpunkt sein Studium jedoch nicht abschließen konnte, führte er es in Padua weiter, wo er am 17.  Juli  1560 promoviert wurde.67 Bereits am 12.  Oktober  1560 wurde Donati ins Collegium medicum von Mantua aufgenommen und im Alter von 26  Jahren Vizedirektor der Accademia degli Invaghiti, von 1577 bis 1599 sogar Direktor der Akademie. Donati pflegte ein enges Netzwerk mit bekannten Wissenschaftlern seiner Zeit, darunter dem Naturforscher Ulisse Aldrovanti und dem Direktor des botanischen Gartens von Ferrara, Alfonso Pancio.68 Sein besonderes Interesse galt neben der Anatomie69 vor allem der Pharmakologie und Botanik und Donati unterhielt eigens zu diesem Zweck bei seinem

67 Zanca, Notizie (wie Anm. 66), 8 ff. 68 Literatur zu Pancio: Franchini, La Scienza a corte (wie Anm. 6), 34; Gino Luzzato, Un botanico ferrarese ben noto agli studiosi dei suoi tempi, Alfonso Pancio. Paris 1952. 69 Donati führte regelmäßig anatomische Untersuchungen durch: Zanca, Notizie (wie Anm. 66), 10 f. Darüber berichtet er auch in seiner 1577 erschienenen De medica mirabili, einer Sammlung von außergewöhnlichen medizinischen Fallbeispielen (Buch  IV, Kap. 2–3). Zu De medica mirabili: Zanca, Notizie (wie Anm. 66), 34 ff.

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Haus im Stadtteil Leone Vermiglio einen botanischen Garten70 mit seltenen exotischen Pflanzen aus der neuen Welt sowie ein Kuriositätenkabinett, in dem sich neben Preziosen der Antike und einer Bibliothek auch ein menschliches Skelett sowie anatomische Präparate befanden, die zu Demonstrationszwecken dienten.71 Bereits am 26.  Oktober  1574 wurde Donati zum herzoglichen Arzt mit einem Jahresgehalt von fünfzig Golddukaten ernannt, wobei er dem Herzog ab 1577 auch als Erzieher seines Sohnes Vincenzo sowie als Staatssekretär und Ratgeber diente.72 In seiner Funktion als Arzt und Ratgeber wurden Donati Aufgaben mit bedeutender Tragweite zuteil, darunter die Untersuchung der jungen Margherita Farnese (1567–1643), der Braut Vincenzo Gonzagas: Da Vincenzo nicht fähig gewesen war, die Ehe mit Margherita zu vollziehen, führte Donati eine medizinische Untersuchung durch und kam zu dem Schluss, dass bei der Braut ein chirurgischer Eingriff notwendig sei. Um die Gesundheit Margheritas nicht zu gefährden, wurde die Ehe jedoch im Oktober 1583 annulliert. Vincenzo warb daraufhin um Eleonora de’  Medici (1567–1611), musste sich jedoch in Venedig auf Betreiben Bianca Capellos und Francesco I. de’  Medici einer ›prova di matrimonio‹ unter Anwesenheit Donatis unterziehen, bevor er im April 1584 Eleonora ehelichen durfte.73 In seiner Rolle als Staatssekretär war Donati auch maßgeblich an der Befreiung Torquato Tassos (1544–1595) aus dem Ospedale di S. Anna in Ferrara beteiligt, nachdem Tasso zwischen 1581 und 1585 mehrere Briefe an den Arzt gerichtet hatte.74 Neben Donati kurierte auch Giovanni Battista Cavallara (gest. 1587) aus der mantuanischen adeligen Familie der dei Cavallara und seit 1581 Hofarzt in Mantua75 im Auftrag des Herzogs den kranken Dichter, wobei er seine therapeutischen Ratschläge auch brieflich fortsetzte.76 Zur Krönung seiner Hofkarriere 70 Zu Donatis Garten vgl. Zanca, Notizie (wie Anm. 66), 11; Franchini, La Scienza a corte (wie Anm. 6), 60 f. Marcello Donati verfasste auch eine Abhandlung über die amerikanische Wurzel und deren therapeutische Eigenschaften: Marcello Donati, De radice purgante quam mechiocan vocant. Mantova 1590; Zanca, Notizie (wie Anm. 66), 31–33. 71 Viele Preziosen vermachte Donati testamentarisch der herzoglichen Familie, siehe: ASMn, Registro delle estensioni notarili, Anno 1602, c. 833r–855r; Franchini, La Scienza a corte (wie Anm. 6), 60 ff. 72 Zanca, Notizie (wie Anm. 66), 13. 73 Zur Funktion Donatis in dieser Angelegenheit siehe: Zanca, Notizie (wie Anm.  66), ­14–20; Grendler, The University of Mantua (wie Anm. 17), 28 f. 74 Zanca, Notizie (wie Anm. 66), 20 f. 75 Zur Ernennung Cavallaras als Hofarzt vgl. ASMn, FG , b. 2614 (Brief von Aurelio Zibramonti vom 18. Mai 1581); Franchini, La Scienza a corte (wie Anm. 6), 46. In einem Brief an Donati, mit dem Cavallara seit 1575 in Kontakt stand, legte er zudem seine Forderungen dar, die aus einem ausgestatteten Appartement, einem Wagen sowie Zusatzbeträgen für adäquate Kleidung, die seiner neuen würdevollen Stellung gerecht sei, bestanden. ASMn, FG , b. 2613 (Brief aus Medole vom 21. Mai und vom 19. Mai 1581). 76 Cavallara verstarb in demselben Jahr. 1587 wurde er in Oiubega in der lokalen Kirche bestattet, wo er ein Grabmonument erhielt (Jo. Baptista Caballaria philosophus pius MDLXXXVII).

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erhielt Donati 1587 von Vincenzo Gonzaga zudem einen Adelstitel und das­ Castello di Ponzano in Monferrat. Donati wirkte bis zu seinem überraschenden Tod (1602) am herzoglichen Hof und wurde, geehrt durch ein bedeutendes Grabmonument, in der Kirche San Francesco begraben. Insbesondere am Beispiel des langjährigen Hofarztes und herzoglichen Beraters Marcello Donati wird deutlich, welche einflussreiche Stellung Ärzte am Hof von Mantua erreichen konnten. Aus den dargestellten Karrierewegen wird jedoch gleichzeitig ersichtlich, dass die Gonzaga ihr medizinisches Personal bevorzugt in Mantua rekrutierten – zum Nachteil von Ärzten wie Tomaso Rangone oder Giovanni Tommaso Minadoi, die nicht aus einer mantuanischen Familie stammten, dort studiert oder bereits früh Kontakte zu einflussreichen Mitgliedern des Hofes geknüpft hatten. Letztere verfügten kaum über Möglichkeiten, sich langfristig am herzoglichen Hof zu etablieren. Auch das Collegium medicum zögerte, wie am Beispiel Giovanni Tommaso Minadois gezeigt werden konnte, ›ausländische‹ Ärzte langfristig anzuerkennen. Zusammenfassend lässt sich daher konstatieren, dass Ärzte und Medizinprofessoren auch am Hof der Gonzaga häufig als Tutoren und Erzieher des herzoglichen Nachwuchses tätig waren. Daraus ergaben sich wie im Fall des Arztes Marcello Donati, der als Erzieher Vincenzo Gonzagas gewirkt hatte, lebenslange Freundschaften, die weit über den Kompetenzbereich eines Leibarztes hinausgingen.

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Vom Funktionsuntertanen zum geschätzten Antiquarius Höfische Kompetenzfelder zwischen Hilfstätigkeit und Spezialistentum

I. Einleitung Eines Tages erschien dem König von Frankreich, Heinrich IV. »sein Leib-Schneider, der ihm […] ein Project überreichte, wie der Staat wohl einzurichten[;] daher der König schrie, der Cantzler sollte kommen, und ihm das Kleid anmessen, weil sein Schneider ein Staats-Mann worden.«1

Der Hof der Frühen Neuzeit versammelte und beschäftigte verschiedene Personen, deren Aufgaben idealerweise klar voneinander getrennt waren. Der Träger des Sonderwissens, so suggeriert es die Anekdote, hatte seinen jeweiligen Kompetenzrahmen nicht zu überschreiten. Nur auf diese Weise konnte nach der zeitgenössischen Vorstellung das Funktionieren des arbeitsteilig organisierten »Systems Hof« gewährleistet werden. Die Ausbildung höfischen Expertentums orientierte sich einerseits an der allgemeinen Struktur eines Hofes und andererseits an dessen spezifischen und je nach Standort divergierenden Bedürfnissen. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bilden die unterschiedlichen Aufgabenfelder, die sich aus einer (hoch-)adeligen Haushaltung und dem daraus folgenden Bedarf an Personal mit verschiedenen Arten von Spezialwissen ergeben. Diese höfischen Kompetenzfelder leiteten sich einerseits aus lebenspraktischen Notwendigkeiten und andererseits aus Kulturtraditionen sowie Normen ab, die sich in der zeitgenössisch prominenten Textgattung der sogenannten Hausväterliteratur und besonders in den beiden Werken von Franz Philipp Florinus, dem »Klugen Hausvater« und dem »Continuatus« aus dem ersten Viertel des 18.  Jahrhunderts, nachvollziehen lassen. Trotz der Tatsache, dass Personalentscheidungen von der Größe und Relevanz eines Hofes abhingen, lassen sich generelle Bedarfs- und Bedarfsdeckungsmuster aufzeigen. Je nach Kompetenzfeld und Anforderungsprofil wurden dabei unterschiedliche Beschäftigungsstrategien verfolgt, die auf

1 Franz  P. Florinus, Continuatus oder Grosser Herren Stands und Adelicher Haus-Vatter. Nürnberg/Frankfurt a. M./Leipzig 1719, Vorrede.

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einer gedachten Kompetenzskala zwischen ungelernten Funktionsuntertanen und akademisch ausgebildeten Spezialisten angesiedeltes Personal rekurrierte. In Bezug auf jedes Feld lassen sich zugleich bestimmte Strategien der Personalrekrutierung und -besetzung nachzeichnen. Am Beispiel des Arnstädter Hofes in Thüringen um 1700 zeigt sich der Personalbedarf und die Personalpolitik der einzelnen Felder in der Praxis. Der Arnstädter Hof als kleinstaatliches Duodezfürstentum zwischen Guts- und Landesherrschaft eignet sich in besonderer Weise, weil er die allgemeinen Grundaufgaben und Bedürfnisse von höfischen Systemen sichtbar macht und dieser bestimmte Hof zugleich durch seine spezifische Ausprägung Bedürfnisse nach ungewöhnlichen Spezialisten entwickelte, die zeitgenössisch aber nicht unbedingt den Status eines Experten genossen. Zugleich ging ein institutionell organisiertes und erworbenes oder zünftig geprüftes Spezialistentum2 nicht automatisch mit sozialen Rangpositionierungen einher. Ob jedoch die im Traktat geforderte Einhaltung der arbeitsteilig gedachten Kompetenzbereiche in der Praxis umgesetzt wurde, zeigt ebenfalls das Praxisbeispiel. Die quantitative Verteilung der einzelnen Kompetenzgruppen und die unterschiedlichen Rekrutierungsstrategien sind zugleich bedeutsam hinsichtlich der sekundären Funktionen eines jeden Spezialisten, die in Bezug auf den höfischen Gesamtkomplex jenseits seiner eigentlichen Kernkompetenz lagen. Dieser Aufsatz unternimmt den Versuch, anhand von Florinus und im Vergleich mit dem Arnstädter Hof in systematischer Weise höfische Kompetenzfelder auszuweisen und eine Grundlage für das Verständnis unterschiedlichster Arten von am Hof benötigten Expertentums zu legen. Dies gelingt nur durch eine modellhafte Vereinfachung des komplexen Systems des Hofes. Die diskursive Konstruktion der Relation zwischen dem Wissensstand der Hauseltern und dem ihrer Experten greift auf das Verhältnis zwischen holistischem Allwissen und Detailexpertise zurück, welche die innerhöfischen Machtverhältnisse diskursiv auf der Ebene von Kompetenzzuschreibungen umsetzt. Am Ende steht der Vorschlag zu einem breiten Verständnis höfischen Expertentums.

II. Die Hausvätertraktate des Franz Philipp Florinus Die Textgattung der Hausväterliteratur beginnt in der frühen Neuzeit um 1600 im Rückgriff auf Agrarlehren und antike Ökonomiken – sittliche Lehren von der Haushaltsführung – mit dem Hausbuch des Johann Coler aus Wittenberg

2 Siehe die Definition des »Experten« bei: Frank Rexroth, Systemvertrauen und Experten­ skepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Ders./Björn Reich/Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (HZ , Beih. N. F. Bd. 57.) München 2012, 12–44, hier 22 f.

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Abb. 1: Die ideale Anlage eines Hausväterlichen Hofes als vermeintlich geschlossenes System.3

zwischen31593 und 1603.4 Coler führte die beiden Bereiche des »religiös-sittlichwirtschaftlichen und wirtschaftlich-technische[n] Wissen[s]«5 zusammen und ergänzte diese um Erkenntnisse aus der eigenen praktischen Erfahrung. Mitte des 17.  Jahrhunderts wurden Anteile der Kalenderliteratur integriert, die den Typus der Hausväterliteratur vervollständigten. Die Autoren waren überwiegend Juristen, protestantische Pfarrer, Architekten, Leiter der herrschaftlichen Domänen, damit selbst also im Besitz von Sonderwissen, und sämtlich Personen, die neben literarischen Vorlagen und Sittenlehren wie bereits Coler auf eigene Erfahrung zurückgreifen konnten.6 Der Bedarf an solchen enzyklopädischen Lebensratgebern zeigt sich in der Blüte der Gattung nach dem Dreißigjäh-

3 Abbildung aus Kluger Hausvater = Franz Philipp Florinus, Oeconomvs Prvdens Et Legalis. Oder Allgemeiner Kluger und Rechts-verständiger Haus-Vatter, Nürnberg/Frankfurt a. M./ Leipzig [Riegel] 1722 [Exemplar BSB München, Res/2 Oecon. 44, unter: urn:nbn:de:bvb: 29-bv015429261–5], 3. 4 Julius Hoffmann, Die »Hausväterliteratur« und die »Predigten über den christlichen Hausstand«. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1959, 65. 5 Ebd. 6 Johannes Coler, Oeconomia ruralis et domestica. Mainz 1645. Weitere wichtige Werke sind: Georg A. Böckler, Nützliche Hauß- und Feld-Schule. Nürnberg 1678; Wolf H. von Hohberg, Georgica Curiosa. Nürnberg 1682; Johann J. Becher, Kluger Haus-Vater, verständige HausMutter, vollkommener Land-Medicus. Leipzig 1747. Die »Georgica Curiosa« diente Otto Brunner zur Entwicklung der Vorstellung vom »ganzen Haus«. Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612– 1688. Salzburg 1949; Werner Trossbach, Das »ganze Haus« – Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft deutscher Territorien in der Frühen Neuzeit, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129, 1993, 277–314; Stefan Weiß, Neueste Diskussion um Otto Brunner und das Ganze Haus, in: HZ 273, 2001, 335–369; Irmintraut Richarz, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik. Göttingen 1991;

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rigen Krieg bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Das Grundwissen über Haushaltung, Subsistenz- und Landwirtschaft scheint verloren gewesen zu sein und machte eine forcierte Verbreitung quasi »alten« Wissens notwendig. Ihren Höhepunkt erlebte diese Gattung mit den beiden umfangreichen, mehrbändigen Folianten von Franz Philipp Florinus, die posthum in Nürnberg gedruckt und verlegt wurden: der »Kluge und Rechtsverständige Hausvater oder Oeconomus Prudens et Legalis« von 1702 und seiner Fortsetzung von 1719, dem »Continuatus oder großer Herrenstands und adelicher Hausvatter«.7 Während der »Kluge Hausvater« die Grundlagen für eine sittsame Haushaltsführung in allen erforderlichen Lebensbereichen einer Gutsherrschaft legt, bezieht sich der »Continuatus« dezidiert auf den (regierenden) Adel als Zielpublikum: »Weil sich der Adel in zwey Classen theilet, in den hohen und ordinairen Adel, so hat man sich beflissen in diesem Werck beyden ein Genüge zu thun, dergestalt, daß der Fürsten und Stands-Personen in ihren Regierungs-Angelegenheiten einige hierzu dienliche Stücke, als auch der andere Adel in seiner Haushaltung nützliche Beyhülffe finden wird.«8

Der Autorenname avancierte unmittelbar zum Inbegriff des Werks: Der Florinus sei für »Teutsche geschrieben« worden und man habe »ohne einige PartheyNehmung« die konfessionellen Unterschiede in der Haushaltung im Werk dargestellt, ebenso habe man die Sonderform des geistlichen Adelshofes bedacht.9 Die besondere Bedeutung des Florinus innerhalb der Gattung der Hausväter­

Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des Ganzen Hauses, in: GG 20, 1984, 88 f.; Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 38, 2011, 621–64. 7 Franz  P. Florinus, Allgemeiner Kluger und Rechts-verständiger Haus-Vatter. Nürnberg/ Frankfurt a. M./Leipzig 1702; Ders., Continuatus (wie Anm. 1). Beide Werke, sowohl der Kluge Hausvater als auch der Continuatus wurden von dem Verleger Christoph Riegel und später von seiner Witwe Lothar Franz von Schönborn (1655–1729), Kurfürsten und Erz­ bischof von Mainz, gewidmet. 8 Florinus, Continuatus (wie Anm. 1), Vorrede. 9 Ebd. Mit der Rolle des Florinus in Bezug auf die höfische Ökonomie und zur politischen Funktion des Hausvaters als Landesherrn haben sich bereits befasst: Gotthardt Frühsorge, Die Begründung der »väterlichen Gesellschaft« in der europäischen Oeconomia Christiania. Zur Rolle des Vaters in der »Hausväterliteratur« des 16. bis 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Hubertus Tellenbach (Hrsg.), Das Vaterbild im Abendland. Stuttgart 1978, ­110–123; Matthias Steinbrink, Adlige Ökonomie in der Frühen Neuzeit zwischen Idealbild und Realität, in: Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (Hrsg.), Atelier – Hofwirtschaft. Ein ökonomischer Blick auf Hof und Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. (Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Sonderh.  9.) Kiel 2007, 33–40; Volker Bauer, Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus. Wien 1997.

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Abb. 2: Florinus, Kluger Hausvater, Frontispiz. Der Hausvater als Meta-Experte umgeben vom Personal der zur Grundsicherung nötigen Kompetenzfelder.10

literatur besteht10nicht nur in seiner ausdrücklichen Hinwendung zum Hochadel als Zielpublikum und Leserschaft, sondern auch in den umfangreichen rechtlichen Anmerkungen und (historischen oder zeitgenössischen) Fallbeispielen, den sogenannten Exempla, die jedem einzelnen Unterkapitel oder Paragraphen beigegeben werden. Florinus formuliert ein Idealbild einer gelungenen oeconomia christiania und schwört dabei im »Continuatus« den Fürsten auf »Landes-Vätterliche Huld und Liebe eines Regenten gegen seine Unterthanen«11 ein. Der Fürst solle diesen mit 10 Abb. aus: Franz P. Florinus, Allgemeiner Kluger und Rechts-verständiger Haus-Vatter. Nürnberg/Frankfurt a. M./Leipzig 1713. 11 Florinus, Continuatus (wie Anm. 1), 20.

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Verantwortung, »Freundlichkeit und Sanfftmuth«12 begegnen. Beide Werke zusammen entwerfen ein umfassendes Tableau der höfischen Aufgabenbereiche und Tätigkeitsfelder und bilden damit die unterschiedlichen Kompetenzfelder ab, seien sie obligatorisch für die notwendige Subsistenzwirtschaft, die Regierung, die Finanzverwaltung oder scheinbar fakultativ für die Ausgestaltungen des höfischen Lebens. Florinus’ Bücher sind als normative Standardwerke für den adeligen Hausvater in der ersten Hälfte des 18.  Jahrhunderts anzusehen, deren Darstellung vorbildlicher fürstlicher Ökonomien in mehreren Auflagen zwischen 1702 und 1752 wiederholt wurden.13 In Bezug auf die Identität des Autors und Herausgebers  – oder besser der Autoren und Herausgeber – besteht jedoch Unklarheit.14 Für den zweiten Teil 1719 hielt man vor allem aus Gründen der Vereinheitlichung am Namen fest.15 Florinus steht also nicht für eine Person, sondern für das Selbstverständnis des Werks im Sinne einer »Collection«, einer Stoffsammlung oder eines enzyklopädischen Ratgebers, der sowohl mit Hilfe bereits gedruckter Literatur als auch unter Mitwirkung vieler anonym gehaltener Personen entstand,16 da »man zu einem ieden Capitel einen eigenen gelehrten Mann, welcher nicht allein Gelehrsamkeit, sondern auch Erfahrenheit in der Sache hatte, gebrauchet.«17 Mehrfach verweist der Florinus bereits in der Vorrede auf die Bedeutung von sowohl theoretischem Wissen als auch praktischer Erfahrung, aus deren Kombination die versammelten Experten in ihren jeweiligen Gegenstandsbereichen sowie das Werk als Ganzes ihre Autorität ableiteten.

12 Ebd. 13 Der »Kluge Hausvater« liegt in Ausgaben von 1702, 1705, 1713, 1719, 1722, 1725, 1748/49 (Basel), 1750 und zuletzt 1751 vor, während der »Continuatus« nach seinem Erscheinen 1719 nur 1722 und 1748 (Basel) nachgedruckt wurde. Mit der Ausnahme der Baseler Ausgaben wurden die anderen bei Christoph Riegel in Nürnberg verlegt. 14 Es handelt sich entweder um den fränkischen Theologen Franz Philipp Florin ­(1649–1699), der als Bibliothekar am Hof des Wittelsbacher Pfalzgrafen Christian August von PfalzSulzbach (1622–1708) tätig war (Allgemeine Deutsche Biographie 48, 1904, 601 f.) oder aber um dessen jüngeren Bruder, den Pfalzgrafen Philipp Florinus von Pfalz-Sulzbach (1630–1703) (ADB 7, 1878, 131 f.). Eine Kollaboration verschiedener Personen erwägt: Heinz Haushofer (»Franz Philipp Pfalzgraf Florin, Franz Philipp«), in: NDB 5, 1961, 255 (http://www.deutsche-biographie.de/pnd118023977.html, abgerufen am 23.08.2014). Baader bezeichnet den Florinus als Schrift des Nördlinger Juristen und Rats Johann Christoph Donauer (1669–1718), der in der Vorrede als Autor der rechtlichen Anmerkungen genannt wird (Clemens A. Baader, Lexikon verstorbener baierischer Schriftsteller des achtzehenten und neunzehenten Jahrhunderts. Augsburg u. a. 1824, 121 f.). 15 »Man hat den Namen Florini, welcher erfahrne Oeconomus zu den Ersten Theil den Vorschlag gethan, aber auch darinne […] das wenigste elaboriret, auch hier nicht aussen lassen wollen, ungeachtet er schon lange todt, und viel andere Leute als er, zu Ausarbeitung dieses Wercks nöthig waren, damit diese beyde[n] Theile, so zusammen gehören […] einander nicht fremde gemachet würden.« Florinus, Continuatus (wie Anm. 1), Vorrede, 2. 16 Ebd. 17 Ebd.

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III. Hausvater und Hausmutter als Meta-Experten Hausvätertraktate richten sich in gleichem Maße an den Hausvater und die Hausmutter, denen gemeinsam als »Arbeitspaar« (Heide Wunder) die Haushaltsführung in christlicher Tugendhaftigkeit nahegelegt wird. Das Frontispiz bei Florinus setzt die gleichwertige Zuständigkeit beider Ehepartner wie auch einige inhaltliche Kernbereiche prominent ins Bild. Auf einem runden Stufenpodest sitzt mittig die Personifikation der Justitia, die in göttlichem Licht erstrahlt. Zu ihren Füßen stehen Hausvater und Hausmutter mit dem Rücken und im Viertelprofil zum Betrachter, Justitias Hand haltend und zu ihr aufblickend. Halbkreisförmig um diese angeordnet befinden sich Vertreter oder allegorische Darstellungen und Attribute der Künste und einzelner Gewerke: ein Bauer mit Dreschflegel, Schaf und Ziege, ein Fischer mit Fangnetz, ein Bacchus mit Weintrauben und eine Bäuerin mit Krug, ein Bauer mit Getreidesack, ein Bereiter mit Pferd, ein Gärtner mit Schössling sowie gegenständliche Hinweise auf Architektur, Geometrie, Zeitmessung und Wissenschaften. Das Medaillon »Omnia ad unum« (alles für das eine) verweist mit dem ebenfalls mittig inszenierten geschlossenen Folianten auf das ideelle Ziel des Florinus: Hausvater und Hausmutter als oberste Haushaltsvorstände an der Spitze einer pyramidal angelegten »sozialharmonischen Utopie«.18 Neben der christlichen Eheführung, der Erziehung der Kinder und der Sorge für den erweiterten Kreis der Haushaltsmitglieder, den konfliktvermeidenden Umgang mit den Nachbarn und der christlichen Kerntugend der Caritas werden vier Hauptfelder des Grundwissens eröffnet, nämlich Jura, Medizin, Astronomie und Architektur. Die Hausväterliteratur transportiert dabei ein Idealbild von genereller Aufgabenkompetenz und, im heutigen Sinn, von Management. Von beiden Hausvorständen wird eine besondere Fertigkeit erwartet, nämlich ein Generalistentum in Bezug auf alle Felder des Lebens und der Haushaltung, getrennt nach der zeitgenössisch gängigen Geschlechtszuordnung jedes Bereichs. Ihre Aufgabe ist die Anleitung und Supervision all derjenigen, die ihrem Zuständigkeitsbereich untergeordnet sind. Hausvater und Hausmutter sind damit in idealer Weise als Meta-Experten konzipiert, denen die »allumfassende Deutungskompetenz«19 zukommt und die Aufgaben an einen »verständigen und der Sach erfahrenen Manne ohne Ersparung der hierzu nötigen Müh und Unkosten«20 delegieren. Im Unterschied zum »Klugen Hausvater« relativiert Florinus seine Sichtweise auf den HausvaterFürsten als Super-Experten jedoch im »Continuatus«: »Die größte Gemüths-Vergnügung eines Fürsten soll die Conversation, vernünfftiger Gelehrter und erfahrner Leute seyn. Ich sage nicht, daß ein Fürst selbst gelehrt seyn 18 Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm. 2), 21. 19 Ebd, 23. 20 Florinus, Kluger Hausvater (wie Anm. 3), Bd. I, 49.

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Abb. 3: Florinus, Kluger Hausvater, Titelkupfer.21 und alle21Disciplinen als ein Doctor ausstudirt haben soll, dieses ist meines Erachtens ein schlechtes Requisitum zu einem vollkommenen Regenten […], da hingegen die größten Potentaten zwar allezeit Liebe vor die Studien gehabt, aber nicht selbst wie ein Schulmann denen Büchern obgelegen […] also soll nun ein Printz das Mittel halten, die Studia lieben und [sich] mit erfahrenen Leuten stetig umgehen und reden, welches vornehmlich bey der Tafel geschehen kann […] die Conversation ist die leichteste und wohl anständigste Art, wodurch sich ein Printz der Studien theilhafftig machen […] kan.«22

21 Abb. aus: Franz P. Florinus, Oeconomus prudens et legalis. Oder allgemeiner Klug- und Rechts-verständiger Haus-Vatter, Bd.1, Nürnberg, Frankfurt und Leipzig [Riegel] 1722 [Exemplar Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, M: Oe 2° 11:1]. 22 Ders., Continuatus (wie Anm. 1), 130 f.

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Der Fürst soll sich also mit gelehrten und erfahrenen Personen umgeben, um ein relatives, ein mittleres Maß an Kenntnis und dadurch kritische Urteilskraft in den einzelnen Gebieten zu erlangen. Dieses generalisierte Expertentum, scheinbar ein Widerspruch in sich, war eine ideale Konstruktion und in der Praxis nicht leistbar und erklärt die Notwendigkeit eines handbuchartigen Nachschlagewerks, welches das Generalistenpaar von Hausvater und Hausmutter zu theoretischen Experten machen sollte. Denn was ihnen zum »wirklichen« Experten fehlte, war die bereits vielfach zitierte Kategorie der Erfahrung. Die Umsetzung der Forderung nach dem Super-Expertentum in der alltäglichen Praxis hing von der Größe und dem Rang des Hofes und den Interessen des Herrscherpaares oder des Hausvorstands ab. Realiter waren es die vier großen Hofämter Hofmarschall, Hofkämmerer, Mundschenk, Truchseß (falls vorhanden), die als »Bereichsleiter« ihrer spezifischen Teilbereiche der Hofwirtschaft vorstanden. Die Distanz der Haushaltsvorstände zu den einzelnen Lebensbereichen war mitunter unüberbrückbar, so dass beispielsweise von der Hausmutter kaum verlangt wurde, den Überblick über alle ihr theoretisch unterstellten Felder zu haben. Wie sehr sich Hausvater und Hausmutter jenseits der Bestallung der Bereichsleiter »einmischten«, hing maßgeblich von ihrer persönlichen Disposition ab. Die Darstellungen im Florinus gehen jedoch von einer Rat gebenden und kontrollierenden Teilhabe der Hauseltern an allen Bereichen aus. Anhand der von Florinus behandelten thematischen Kapitel lassen sich summarisch vier generelle Gegenstandsbereiche ausweisen: Lebenssicherung und Grundversorgung (I), Personal- und Familienführung (II), kulturelle Hofhaltung (III) und Staatsführung und Verwaltung (IV). Jeder Gegenstandsbereich benötigte graduell unterschiedlich hoch spezialisierte Experten, um sein Funktionieren zu garantieren. Jedes Feld ist mit personalen Austauschbeziehungen und keinesfalls als geschlossenes System zu denken. (I) Zur Lebenssicherung und Grundversorgung gehörten der Bau eines wetterfesten Hauses, Wärme, Wasserversorgung, Beleuchtung, die Organisation der Wirtschaftseinheit, der Großbereich der Nahrungsmittelherstellung, also Nahrungsanbau, Ernte, Lagerung, Zubereitung, Fleisch, Milch- und Nutztierhaltung, Meierei zur Herstellung von Milchprodukten, Bier- und Weinherstellung, Fertigung von Kleidung, Wäscherei und Heilkunst.23 Dieser Bereich war besonders personalintensiv und benötigte viele Träger von unterschiedlichem Sonderwissen, die wiederum personelle Führungsaufgaben übernehmen und eine große Anzahl von Hilfskräften anleiten mussten. 23 Unter anderem wurden benötigt: Architekt, Baumeister, Maurer, Schreiner, Zimmerer, Dachdecker, Stuckateure, Maler, Gartenbaumeister, Gärtner (Gemüseanbau, Küchengarten/Nutzgarten, Kräutergarten, Heilpflanzenanbau, Obsthölzer), Bauern (Getreideanbau), Bierbrauerei/Kellermeister (Weinanbau, Gersten- und Hopfenanbau; Wasserwirtschaft), Viehzucht/Stallmeister (Rinder, Schafe, Pferdezucht, Federvieh, Bienenzucht), Waldwirtschaft.

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Abb. 4, 5, 6 und 7: Der Hausvater als Architekt, Astronom, Rechtskundiger und Mediziner.24 24 Abb. aus: Florinus, Kluger Hausvater, (wie Anm. 3) Ausgabe 1722, 129, 127, 125, achtes Buch, 3 [Paginierungswechsel].

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Abb. 8: Hausvater und Bienenzüchter.25

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(II) Zur Personal- und Familienführung gehörten die »einige«, also friedliche Ehe, die Erziehung der Kinder und die Anleitung und Zucht des Personals. Alters- und geschlechtsabhängig benötigte man Hebammen, Säugammen, Instrukteure, Informatoren, Präzeptoren, Sprachlehrer, Gouvernanten, Hofmeisterinnen und Hofmeister, Theologen, Mediziner, Bader, Haushaltsvorsteher sowie Leib- und Kammerdiener. Der Personalbedarf bezog sich hier auf meist je eine Person pro gesuchter Kompetenz, die in kürzeren Abständen nach Bedarf gewechselt wurde. (III) Neben der notwendigen Grundsicherung und der Familienführung stand die eigentliche kulturelle Hofhaltung, die auf die Inszenierung von Distinktion und Repräsentation politischer Macht abzielte. Florinus rechnet zum eigentlichen Hof selbst: »les Ministres de plaisir de beaus arts, die Direction der Music, der Comoedien und Opern, die Ball-Häuser, die Ballette, Gärten, Bilder, Gallerien, Antiquitäten, Kunst- und Schatz-cammern, Observatoria, Ritter-Academien, die HoffMüntze, die Direction des Medaillien-Collegii, die Societäten der Künste […], die Hoff-Bibliothec, Laboratoria, Rüst cammern […] auch die Hoff-Jägerey […] vornehmlich aber de[n] Ceremonien-meister.«26 25 Abb. aus: Florinus, Kluger Hausvater (vgl. Anm. 3), 1135. 26 Florinus, Continuatus (wie Anm. 1), 49.

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Dazu zählt ebenfalls die Hoforganisation und der Typus des Höflings als »Virtuosen der courtoisie«,27 der jedoch hier keine weitere Betrachtung finden soll, weil seine Expertise vor allem im Beherrschen eines facettenreichen Verhaltensrepertoires bestand. (IV) Die Staatsführung verlangte in der Innen- und Außenpolitik die Aufsicht über die Regierung, die Gesetzgebung, die Staatsfinanzen, die Regalien, die Steuern, die Kabinett- und Kammerverwaltung sowie über das Konsistorium und die Kirchenbehörde zum Zwecke der Steuerung der konfessionellen Durchdringung. Hierzu benötigte der Hof als Zentrum des Territoriums Experten der Rechtsprechung und der Verwaltung (als Minister, Kanzler, Räte, Diplomaten, Schreiber, Theologen, Amtsmänner), Schulmeister, Boten sowie Personal der Exekutive zur Etablierung und Einhaltung der Ordnung.

Viele Kompetenzprofile und Aufgaben überlappen mit mehreren Gegenstandsbereichen: So ist das zum Überleben notwendige Gebäude oder die Zubereitung der Speisen durch den Koch zugleich Teil der repräsentativen Hofhaltung, und die Staatsführung greift zum Beispiel auch in die Erziehung der Kinder ein. Für die meisten Höfe ergab sich die Frage nach den Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten in den einzelnen Feldern. Bei Übernahme des Landesund Haushaltsvorstands durch Erbanfall waren die Gestaltungsmöglichkeiten durch einen traditionellen Bestand an Gebäuden, Landbestellung und Personalstock oft gering. Dies bedeutete, dass im Bereich der Grundsicherung (I) nur vereinzelte Veränderungen erzielt wurden oder erwünscht waren. Das Feld der Lebenssicherung war personalintensiv und erforderte hauptsächlich praktisch ausgebildete Kompetenz- und Leistungsträger, die selbst Führungsaufgaben übernehmen mussten. Unterhalb der Spezialisten waren zum Gelingen der Aufgaben viele Hilfsarbeiter notwendig. Im Feld der Familienführung muss eingeschränkt von einer Gestaltungsmöglichkeit ausgegangen werden, in der die oft politisch motivierte Entscheidung für einen Ehepartner einen Entwicklungsrahmen steckte, der nur mäßig beeinflussbar war. Dieser Bereich war wenig planbar und stand in Abhängigkeit von Gesundheit und Krankheit und vom gegenseitigen Wohlwollen der Partner. Im Fall der erfolgreich in die Welt gesetzten Nachkommenschaft, die das Kleinkindalter überlebte, waren in oft schnell wechselnder Folge verschiedene Wissensexperten nötig, welche die Heranwachsenden in der Tradition der Werte des Hauses erzogen. Von übergeordneter Bedeutung war die Aufgabe der konfessionellen Erziehung sämtlichen Personals. Dieser Bereich erforderte eine zahlenmäßig vergleichsweise geringe Anzahl von Experten, die nur vereinzelt Verantwortung außerhalb ihrer eigenen Aufgaben trugen und keine Delega­ tionspflichten hatten. Hier wurden langfristige personelle Grundentscheidungen über den Hofmeister und die Hofmeisterin oder den Hofprediger/Beichtvater 27 Rexroth, Systemvertrauen (wie Anm. 2), 28.

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Abb. 9 und 10: Personalintensive Grundsicherung. Das Bestellen der Felder und die Herstellung von Butter.28 28 Abb. 9 und 10 aus: Florinus, Kluger Hausvater (wie Anm. 3), 565, 594.

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Abb. 11 und 12: Aufgabe Personalführung: Religiöse Unterweisung und Unterrichtung der Jungen.29 29 Abb. 11 und 12 aus: Florinus, Kluger Hausvater (wie Anm. 3), 3, 50.

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Abb. 13 und 14: Themen der kulturellen Hofhaltung: Anlage eines Wintergartens und Schlittenfahrt.30 30 Abb. aus: Franz P. Florinus, Oeconomus prudens et legalis continuatus. Oder Grosser Herren Stands und Adelicher Haus-Vatter, Nürnberg/Frankfurt a. M./Leipzig [Riegel] 1719 [Exemplar Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, M: Oe 2° 13:1 und 13:2], Bd. I, 952 und Bd. II, 88.

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Abb. 15 und 16: Staatsführung: Das Einnehmen der Steuern und Audienz mit Lehnsnehmern.31

31 Ebd., Bd. I, 366, 618.

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getroffen, die mit häufig wechselnden praktisch oder akademisch gebildeten Spezialisten für einzelne Situationen (z. B. Geburt) oder Lehrinhalte (z. B. Geographie) zusammenarbeiteten. Der Bereich der kulturellen Hofhaltung (III) bot das höchste Maß an Gestaltungsmöglichkeiten, und zwar auch jenseits der von im Hause gepflegten Traditionen. In besonderer Weise eröffnete sich der eingeheirateten Ehefrau eine kulturelle Einflussmöglichkeit. Nichtregierende Haushaltungen hatten hier die einzige Entfaltungsmöglichkeit. Zugleich war dies der Bereich des stärksten Prestigepotentials neben den Repräsentationsmedien der oft nicht beeinflussbaren Architektur und der nicht zu unterschätzenden Pflanzenzucht. Hier lag der höchste Bedarf an externen Spezialisten, die, gepaart mit einem hohen Grad an Fluktuation, mitunter Detailexpertise anboten, wie beispielsweise Theaterkompagnien oder Tanzmeister. In diesem Feld waren wenige Hilfskräfte vonnöten (etwa Alchemist und Laborassistent). Das Gestaltungspotential bei der Staatsführung (IV) war ebenfalls in seinen politischen Entwicklungsmöglichkeiten durch natürliche, geographische und politische Grundkonstellation beschränkt. Die benötigten (ebenfalls oft vorhandenen) Juristen im Staatsdienst erhielten mitunter durch ihr Expertenwissen Machtpositionen, weitreichenderen Einfluss und zu supervidierende Untergebene. Das Verhältnis der einzelnen Felder zueinander war abhängig von der Größe und politischen Bedeutung des Hofes.32 In Abhängigkeit von den Gestaltungsmöglichkeiten und der Prestigeträchtigkeit einzelner Aspekte wurden Experten gezielt akquiriert. Je nach Rang und Standort des Hauses war der Standesunterschied zwischen den Hauseltern und ihren Bereichsleitern kleiner oder größer. Beispielsweise bestanden die Höflinge am Arnstädter Hof wegen eines Mangels an landsässigem Adel aus wenigen Niederadeligen und darüber hinaus aus Bürgerlichen.33 Die vier anhand des Florinus definierten Gegenstandsbereiche korrelierten mit verschiedenen Rekrutierungsstrategien, wie sich am Praxisbeispiel eines »durchschnittlichen« kleinstaatlichen Hofes beispielhaft zeigen lässt.

IV. Experten und Spezialisten am Arnstädter Hof Die generelle Ausrichtung entfaltete jeder Hof durch seine Konfessionsgebundenheit, den Adelsrang, die geographische Lage, territoriale Größe und seinen politischen Einfluss. Seine besondere Prägung erhielt der einzelne Hof durch 32 Die Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der Architektur und im Politischen waren in Bezug auf die Flächenstaaten und Großmächte aufgrund der finanziellen Ausstattung ungleich weiter und nicht mit dem hier skizzierten kleinstaatlichen Fürstenhof gleichzu­ setzen, auch wenn die Verteilung der Experten prinzipiell ähnlich nur umfangreicher und differenzierter war. 33 Siehe dazu die Besoldungslisten und die Klage über den Mangel an standesgemäßen, adeligen Sargträgern beim Tod der Fürstin unter Wolfenbüttel: Niedersächsisches Landes­ archiv/Staatsarchiv=NLA , 1 Alt 24, 239 und 238, 57.

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die persönlichen Neigungen von Landesvater und Landesmutter, die maßgeblich waren für die Beschäftigung von Experten, wie das Arnstädter Beispiel zeigen wird. Besondere Bereiche wurden durch die individuellen Neigungen der Herrscher etabliert, vermutlich jedoch meist unter der Bedingung, dass sie selbst Fachkundige in diesen Themen waren; dazu gehörten die gelehrten Wissenschaften, die Alchemie, die Numismatik und das fürstliche Dilettieren, also die eigene Kunstübung (Drechseln, Musizieren, Malerei)34. Wie zeigen sich nun diese Kompetenzfelder in der höfischen Praxis? Die Grafen von Schwarzburg sind seit dem 12.  Jahrhundert in Thüringen nachweisbar.35 Sie gehörten zu den alt-adeligen Häusern, die als exemplarische Vertreter ihres Standes galten.36 Traditionell lutherisch, besaß das Haus Schwarzburg drei geographisch getrennte Gebiete. Um 1700 waren dies SchwarzburgRudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen und Schwarzburg-Arnstadt. Außenpolitisch befand sich das Haus in einer vertrackten Situation, weil einerseits durch das Reichslehen Gehren eine formale Reichsunmittelbarkeit hergestellt war, andererseits Sachsen-Weimar sich als Oberlehnsnehmer von Sondershausen und der sächsische Kurfürst in Dresden sich als Oberlehnsnehmer von Arnstadt betrachtete.37 Die Auflösung dieser Lehnsbeziehungen und die ordentliche Erhebung in den Reichsfürstenstand war über Jahrhunderte hinweg das zentrale politische Ziel und Thema des Familienverbands.38 Territorial befand sich Schwarzburg-Arnstadt in einer sehr dicht gedrängten Situation unterschiedlichster politischer Gebilde, die mehrfach als paradigmatische Kleinstaaterei beschrieben wurde.39 In der Folge dieses dichten Nebeneinanders von Höfen kam es zur Ausbildung einer starken höfischen Prestigekonkurrenz, die unmittelbare Auswirkungen hatte auf die Beschäftigung von höfischen 34 Vgl. Annette C. Cremer/Matthias Müller/Klaus Pietschmann (Hrsg.), Fürst und Fürstin als Künstler. Berlin 2018. 35 Jens Beger/Jochen Lengemann, Geschichte eines Aufstiegs: Die Schwarzburger, in: Konrad Scheurmann (Hrsg.), Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen. Katalog 1. Mainz 2004, 49–54. 36 Harry Gerber, Über Quellen und verfassungsrechtliche Deutung der mittelalterlichen Quatuorvirate und den geschichtlichen Wert der »Vier-Grafen-Würde« für die Grafen von Schwarzburg, in: Erika Kunz (Hrsg.), Festschrift Edmund Ernst Stengel. Münster 1952, 453–472. 37 Das bedeutete, dass interne Konflikte zwischen den Familienzweigen der ernestinischen und albertinischen Wettinern gerne über Schwarzburg ausgetragen wurden. Jochen Vötsch, Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2003, 313. 38 Die langsame Lösung gelingt unter großen Verlusten und Konflikten um 1700. Die tatsächliche Introduktion im Reichsfürstenrat erfolgte erst 1754. Annette C. Cremer, Mäzen und frommer Landesherr. Graf Anton Günther  II . von Schwarzburg-Arnstadt (1653–1716), in: Zeitschrift für Thüringische Landeskunde 66, 2012, 111–154, hier 124. 39 Jörg J. Berns/Detlef Ignasiak (Hrsg.), Frühneuzeitliche Hofkultur in Hessen und Thürin­ gen. Erlangen 1993; Jürgen John (Hrsg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert. Weimar 1994.

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Spezialisten.40 Um die Erhebung in den Fürstenstand zu rechtfertigen, musste der Arnstädter Hof sich bereits lange vor der eigentlichen Standeserhebung kompetent in den repräsentativen Künsten erweisen. Mit der Fürstung Schwarzburg-Arnstadts 1697 durch den Kaiser wurde die kulturelle Äußerung zur Statusverpflichtung. Es waren eben diese höfischen Konkurrenzfelder und der mit hoher sozialer Reputation versehene Bereich, für den man Spezialisten anheuerte. Ausgehend von Volker Bauers Idealtypologisierung der Höfe41 handelt es sich beim Arnstädter Hof mit seinen ca. 100 Beschäftigten bei ca. 4000 Untertanen, die sich zu 90 % auf Arnstadt selbst beschränkten, und Jahreseinnahmen von ca. 200.000 Reichstalern um eine Mischform, nämlich einen »hausväterlichen Musenhof«.42 Von seiner ethischen Prägung her war der Landesherr Anton Günther II. (1653–1717) ein streng lutherischer fürsorglicher Landesvater, der seine Untertanen in wohlwollender Manier mit Gesetzen überreglementierte.43 Durch seine Ausbildung am Hof der Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel, also dem zeitgenössischen Musenhof schlechthin, besonders aber durch die Heirat mit der Wolfenbütteler Prinzessin Auguste Dorothea (1666–1751), die diese Kultur nach Arnstadt exportierte, entstand ebenjene Mischung, die in Anbetracht der territorialen und finanziellen Beschränkungen die reputierliche Ausübung und reputationsfördernde Personalpolitik in den Bereichen der guten Staatsführung, konfessionellen Durchdringung sowie Musik, Theater, Oper, Alchemie, Kunst und Sammlung bewirkte. Gerade für die kleineren Höfe war es aufgrund von Standortnachteilen und fehlender Finanzkraft schwer, wirklich »gute« Experten an sich zu binden. Man musste sich meist mit einer »B-Qualität« zufriedengeben; ein Phänomen, das sich in der Breite auch in Arnstadt findet, allerdings mit wenigen signifikanten Ausnahmen.44 Es ließ und lässt sich im Umkehrschluss anhand der Fähigkeit der Höfe, transregionale Experten an sich zu binden, der soziale Rang des Hofes ablesen. Das kinderlose Grafen- bzw. Fürstenpaar Anton Günther und Auguste­ Dorothea waren intellektuelle Sammler und Curiosi und hegten beide in erstaunlicher Parallelität lebenslange Leidenschaften. Während er ein begeisterter 40 Roswitha Jacobsen, Prestigekonkurrenz als Triebkraft höfischer Kultur – Fürstenbegegnungen im Tagebuch Herzog Friedrich I. von Sachsen-Gotha und Altenburg, in: Dies. (Hrsg.), Residenzkultur in Thüringen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Bucha bei Jena 1999, 187–207. 41 Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17.  bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993. 42 Matthias Klein, Arnstadt – eine thüringische Residenzstadt zur Zeit Johann Sebastian Bachs, in: Ausstellungskatalog Arnstadt, Johann Sebastian Bach und seine Zeit in Arnstadt, hrsg. v. Schlossmuseum Arnstadt, Stadtgeschichtsmuseum Arnstadt. Rudolstadt 2000, 39–48, hier 45. 43 Cremer, Anton Günther (wie Anm. 37), 134 ff., Edikte. 44 Thomas Winkelbauer, Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Aristokrat des konfessionellen Zeitalters. Wien 1999; Helga Scheidt, Künstler und Werke der bildenden Kunst und des Kunsthandwerks in Arnstadt und am Hof Anton Günthers II ., in: Ausstellungskatalog Arnstadt 2000 (wie Anm. 41), 89–114.

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Abb. 17 und 18: Grafen und Fürstenpaar Anton Günther  II. von Schwarzburg-Arnstadt (1653–1716) und Auguste Dorothea, Prinzessin von Braunschweig und Lüneburg (1666–1751).45

Numismatiker war, sammelte und baute sie Puppenhäuser. Beide waren für das Ergebnis ihrer jeweiligen Leidenschaften europaweit bekannt. Fürst und Fürstin waren selbst Experten in ihren Bereichen und stellten zum kenntnisreichen Umgang und zur Pflege, zur Erforschung und zur Fortführung ihrer Sammlungen weitere Experten an. Anton Günthers numismatische Sammlung soll 1712 ca. 20.000 Münzen und Medaillen umfasst haben46 und gehörte zu den größten und bedeutendsten in ganz Europa, die nur noch von der Sammlung Ludwigs  XIV. übertroffen wurde. Dort hatte sich Numismatik zwischen 1660 und 1700 zu der Prestigewissenschaft schlechthin entwickelt. In Frankreich war sie in den bürokratischen Staatsapparat eingebunden, man reiste, forschte und sammelte im Auftrag des Königs. Anton Günther zog die Historiker, Numismatiker und Altertumsforscher, oft gelernte Juristen oder Mediziner, d. h. die Wissensbourgeoisie der ganzen Region, zwischen 1680 und 1710 an seinen Hof und formierte dort ein ständeübergreifendes Milieu gelehrter Männer, zu denen unter anderem die Schüler des Jenaer Historikers Caspar Sagittarius (­1643–1694), Johann Christoph Olearius (1668–1747) und Christian Schlegel (1667–1722) gehörten.47 Der wichtigste unter ihnen war der Schweizer Andreas Morell ­(1646–1703), den Anton Günther 1693 als Kustos an seine Sammlung berief 45

45 Anonym, Schlossmuseum Arnstadt, Abb. Autorin. 46 Peter Berghaus, Das münzsichtige Arnstadt. in: Ausstellungskatalog Arnstadt 2000 (wie Anm. 41), 121–136, hier 123. 47 Ebd.

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und den Martin Mulsow für den »vielleicht begabtesten und ambitioniertesten Numis­matiker«48 seiner Zeit hält. Der in St. Gallen und Zürich ausgebildete Morell war seit 1680 Zeichner am Münzen- und Medaillenkabinett Ludwigs  XIV. und fasste dort den Plan, eine allumfassende Systematik aller bekannten Münzen vorzulegen. Die Bedingung zur Umsetzung dieses Lebenswerks und zum Aufstieg in den Rang des obersten Kämmerers des Münzkabinetts war die Konversion zum Katholizismus, die Morell verweigert hatte, woraufhin er mehrere Jahre mit kurzen Unterbrechungen in der Bastille saß. Doch auch von dort aus blieb er aktives Mitglied des numismatischen Netzwerks und gelangte über eine Appellation des Berner Rats an Ludwig  XIV. frei und in der Folge nach Arnstadt.49 Anton Günther verortete sich durch die Qualität und Quantität seiner Sammlung auf einem europäischen Vergleichsniveau und demonstrierte damit den kulturellen Anspruch seines Hauses. Besonders aber gelang dies durch die Anstellung von Morell, der durch seine Biographie eine Attraktion an sich darstellte. Die politische Situation und das Streben nach der Reichsunmittelbarkeit machten jedoch 1712 die Veräußerung dieser Sammlung nötig, um sich von den Albertinern loszukaufen. Die Sammlung wurde an den Herzog von Gotha für 100.000  Reichstaler verkauft, angeblich die Hälfte des Materialwerts der Münzen. Der Experte, der Nachfolger Morells als Kämmerer des Arnstädter Sammlung, Christian Schlegel, ging mit der Sammlung nach Gotha.50 Anton Günthers Münzsammlung erhielt sogar einen Eintrag in den Florinus, der 1719 bemerkt: »Das gothaische Müntz-Cabinet gehörte vordem dem Fürsten von Schwartzburg-Arnstadt und ist eines der größten von Europa.«51 Anton­ Günther verlor durch den Verkauf seiner Sammlung nicht nur sein Steckenpferd und seine kulturelle Reputation, sondern auch seine soziale Funktion als Knotenpunkt der lokalen und translokalen Gelehrtenkreise. Auguste Dorotheas Leidenschaft war als Gegenstand weniger reputierlich und besaß vielmehr den Rang einer Kuriosität, aber immerhin einer solchen, die den Besuch des Prinzen von Wales, Friedrich Ludwig von Hannover (1707– 1751), rechtfertigte.52 Mit Mitte zwanzig begann Auguste nachweislich, Puppen und Puppenhäuser zu sammeln; im Lauf ihres Lebens wuchs ihre Sammlung auf ca.  82 Szenenbilder mit mindestens 400  Figurinen und 2600  Miniaturgegenständen, verteilt auf 17  Häuser vom Boden bis zur Decke, an.53 Auguste 48 Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 2012, 358. 49 Jacob Amiet, Der Münzforscher Andreas Morellius von Bern. Bern 1883. 50 Uta Wallenstein, Die Friedensteinische Münzsammlung von ihren Anfängen bis zur Blüte unter Herzog Friedrich II . (1691–1732) von Sachsen-Gotha-Altenburg, in: Patrimonia 207, 2003, 15–31. 51 Florinus, Continuatus (wie Anm. 1), 128. 52 Olivia Bristol/Leslie Geddes-Brown, Dolls’ Houses. Domestic Life and Architectural­ Styles in Miniature from the 17th Century to the Present Day. London 1997, 40. 53 Matthias Klein/Carola Müller, Die Puppenstadt im Schlossmuseum zu Arnstadt. Königstein im Taunus 1992.

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Abb. 19 und 20: Mon Plaisir, Schlossmuseum Arnstadt. Gelehrter in seiner Studierstube; Stubenmagd beim Bettenrichten.54

sammelte jedoch nicht mit historischem Interesse wie ihr Gemahl, sondern sie bildete54mit den Puppen und Szenen aus ihrer persönlichen Perspektive in enzyklopädischer Weise das Leben ihres Hofes nach.55 Bei den meisten Figurinen mit Wachsköpfen handelt es sich um Portraits biographisch relevanter Personen oder ihres Hofpersonals, wohingegen die reinen Funktionsuntertanen mit stereotypen Gesichtszügen ausgestattet wurden und nur über ihre textile Ausstattung in ihrer Funktion erkennbar waren und sind. Die Fürstin erstellte wahrscheinlich gemeinsam mit ihrem Hofstaat den größten Teil  der Sammlung, bastelte die Puppen, stattete diese mit Kleidung und ebenso die wandfeste Dekoration der Kästen mit Reststoffen aus. Die Miniaturen (Bilder, Möbel, Dekoration) wurden entweder selbst produziert, in Auftrag gegeben, gekauft oder als Geschenk integriert. Auguste Dorothea benötigte Bedienstete, die bestimmte, eigentlich gewöhnliche Fertigkeiten auf höchstem Niveau beherrschten. Dazu gehörten alle traditionell handwerklichweiblichen Fähigkeiten wie Sticken, Nähen, Weben und Klöppeln. Zusätzlich zum eigenen Dilettieren benötigte sie zur portraithaften Durchbildung der Wachsköpfe geübte Wachsbossierer, Portraitkünstler, wie sie aus dem Bereich 54 Abb. Autorin. 55 Annette C. Cremer, Mon Plaisir. Die Puppenstadt der Auguste Dorothea von Schwarzburg. Köln/Wien/Weimar 2015.

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der Effigies als ephemere Bilddarstellungen im monarchischen Totenkult bekannt sind.56 Das Wachsbossieren hatte eine lange Tradition in Italien und Süddeutschland in katholischen Klöstern im Kontext der Krippenherstellung.57 Passend zu ihrer Leidenschaft war die Fürstin 1715 zum Katholizismus konvertiert und durfte im Rahmen der ihr genehmigten privaten Religionsausübung katholische Padres bei sich beschäftigen; und nachweislich waren die bei ihr beschäftigen Beichtväter des Wachsbossierens mächtig, sie lassen sich namentlich an der Sammlung nachweisen.58

V. Personalentscheidungen, Rekrutierungsstrategien und Kompetenzgruppen Vergleicht man diese sehr verschiedenen Expertenbedürfnisse im Feld der kulturellen Hofhaltung, die aus Neigung, nicht aus Pflicht oder Not entstanden, finden sich unterschiedliche Arten des Expertentums. Während Anton Günther akademisch gebildete Poly-Historiker und ausgebildete Zeichner an seinen Hof zog, band Auguste Dorothea Personen mit handwerklich-praktischem Erfahrungswissen an sich, die nicht etwa durch ein Qualitätssicherungsverfahren der Zünfte als Experten ausgewiesen waren. Hinter den Personalentscheidungen lagen neben den grundsätzlichen Aspekten der untadeligen Reputation, der Konfessionszugehörigkeit und der Geschlechterzuordnung bestimmter Aufgaben zwei wichtige Qualitätskriterien: die des theoretischen und des praktischen Wissens. Beide, wie sie bereits bei Florinus aufscheinen, lassen sich im frühneuzeitlichen Sprachgebrauch als Erfahrung, Erkenntnis und Gelehrsamkeit finden. Erfahrung zeigt Zedlers »Universallexicon« zufolge »nicht die blosse Wissenschafft an, sondern ein solches Wissen, das mit Beyfall und Vertrauen verbunden ist« und das durch praktisches Tun erworben wurde.59 Gelehrsamkeit fällt nicht unter natürliche Erkenntnis, sondern muss  – in Abgrenzung von der Wissenschaft, »die aber keinen Nutzen«60 habe – durch künstliches Nachdenken erarbeitet werden. Der Experte sollte also je nach dem Gebiet seiner Expertise über eine geeignete persönliche Disposition verfügen, Talent und praktische Erfahrung mitbringen, die 56 Z. B. Julius von Schlosser, Tote Blicke. Geschichte der Portraitbildnerei in Wachs. (Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. 29.) Wien 1910 (Nachdruck: Berlin 1993); oder auch: Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. München 1957. 57 Nina Gockerell, Krippen im Bayerischen Nationalmuseum. München 2005. 58 Einer der Pater kam aus Paderborn, der andere aus Braunschweig: Thomas  T. Müller/ Bernd Schmies/Christian Loefke (Hrsg.), Franziskaner in Thüringen. Für Gott und die Welt. Paderborn 2008. 59 Johann H. Zedler (1732–1750), Universal-Lexicon. Leipzig, 8, 829 (www.zedler-lexikon. de, abgerufen am 01.09.2014). 60 Ebd., 10, 376.

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gemeinschaftlich goutiert und mit sozialer Bedeutung versehen wird, und Lernbereitschaft in sich tragen. Sämtliche wünschenswerte Charaktereigenschaften waren dem Diktum der Nützlichkeit unterworfen. Jedoch bildet die Kategorie der Erfahrung die zentrale Kompetenz des Experten, damit also Wissen, das auf eigenem Erleben gründet.61 Wollte man nun das Expertentum für die in Florinus beschriebenen Kompetenzfelder gemeinsam mit den Befunden für den Arnstädter Hof auf einer Skala zwischen ungelerntem und hochspezialisiertem Personal beschreiben, so lassen sich folgende Gruppeneinteilungen vornehmen: Die erste Gruppe bestand aus ungelernten Personen aus dem lokalen Umfeld, aus »gemeinen« Untertanen, die für Hilfstätigkeiten oder Aufgaben mit geringem Spezialisierungsgrad eingesetzt wurden. Dazu gehörten zum Beispiel Erntehelfer, Waschmägde und Viehknechte. Eine zweite Gruppe setzte sich aus – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – »selbstgezogenem Personal« zusammen, also aus Hofbediensteten, die am Hof Erfahrung erwarben und dort ge- und befördert wurden, oder aus Kindern der am Hof lebenden Hofbediensteten, die in bestimmte Aufgaben hineinwuchsen oder für diese bestimmt wurden. Oft bestand ein Patenverhältnis zwischen der Fürstin und den Kindern, so dass auch der Aspekt der Versorgungsverpflichtung gegenüber den Kindern und die Loyalität gegenüber den Hofangestellten eine Rolle gespielt haben mag. Die dritte Gruppe bestand aus regionalen Spezialisten, also aus Ärzten und Juristen, Kanzlisten, Schreibern, Landeskindern, die protegiert und mit einem Stipendium versehen zum Studieren geschickt wurden und die damit in einer Loyalitätsverpflichtung standen und mit Vertraulichem betraut werden konnten; aber auch aus Mitgliedern der lokalen Zünfte, den Schreinern und Schneidern, deren Können man zur eigenen Bedarfsdeckung benötigte oder aber die in der Weiterverarbeitung der in Arnstadt produzierten Rohstoffe, wie etwa Schafswolle, gebraucht wurden.62 Die vierte Gruppe, die hier vermutlich von größtem Interesse ist, war die der translokalen Experten, die man gezielt zur Erfüllung bestimmter Aufgaben mitunter über größere Entfernungen hinweg anwarb. Dazu gehörten neben den Kurzengagements von Künstlern (Theatergruppen, Musikern, bildende Künstler), die von Hof zu Hof reisten, Instrukteure und Bildungsakademiker. Die fünfte Gruppe stellten die externen Experten jenseits der bei Florinus beschriebenen Felder dar, kleinteilige Spezialisten, Ärzte für bestimmte Krankheiten, Zwischenhändler im Warenverkehr, Mittler im Geldverkehr, Kunsthändler, deren Spezialistentum für den Luxuskonsum unabdingbar war. Zwischen dem Hof und seinen jeweiligen Experten bestand eine gegenseitige, wenngleich asymmetrische Abhängigkeitsbeziehung, die sich mit dem Grad 61 Hedwig Röckelein/Udo Friedrich (Hrsg.), Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung. (Das Mittelalter, Perspektiven mediävistischer Forschung, Bd. 17/2.) Berlin 2012. 62 Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Geheimes Archiv B IV 67 bis 72, Vol. II, 57: fünftausend Schafe im Besitz des Fürstenpaares (1716).

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Abb.  21: Korrelationen von Rekrutierungsgruppen und Kompetenzfeldern: Die lokal-ungelernten und am Hof ausgebildeten Gruppen (I und II), die auch zahlenmäßig den größten Anteil ausmachen, finden sich gehäuft im Bereich der Grundversorgung; regionale Spezialisten werden bevorzugt im Feld der Personalführung und der Staatsführung beschäftigt (III); transregionale Spezialisten lassen sich am meisten im Bereich der kulturellen Hofhaltung nachweisen (IV). Die Einbindung von externen Experten mit Sonderwissen – wie zum Beispiel Kunsthändler, Seidenraupenzüchter oder Ingenieure – zeigt sich in allen Bereichen (V).

an Spezialisierung, akademischer Bildung, räumlicher Entfernung und Konkurrenzangeboten zuungunsten der Herrschaft verschob. Während die Abhängigkeit der Funktionsuntertanen im Feld der Grundversorgung durch ihre territoriale Bindung und mangelnde Alternativen fundamental war, wurde die Beziehung zur fünften Gruppe nur durch Waren oder Geldverkehr geprägt, in der Fragen der Loyalität kaum Raum einnahmen. Die aus (selbstständigen) Akademikern und Zunftmitgliedern gebildete dritte Gruppe (wenngleich deren Mitglieder mitunter finanziell auf den Hof angewiesen waren) machte ihre Identität nur bedingt von der Beschäftigung am Fürstenhaus abhängig. Auch in der finanziellen Verpflichtung den verschiedenen Gruppen gegenüber bestand ein signifikanter Unterschied. Die direkt abhängigen Hofangestellten bezogen immer Kost und Logis, Feuerholz oder Bierdeputat zusätzlich zu ihrem Salär, welches oft jahrelang ausblieb und teils erst posthum eingefordert werden konnte. Am Beispiel Arnstadts lässt sich zeigen, dass Personen oder Personengruppen mit hohem kulturellem Kapital im Sinn der repräsentativen Hofhaltung regelmäßig entlohnt oder zumindest schneller entlohnt wurden, wie zum Beispiel der hochspezialisierte Koch, nicht jedoch der örtliche Fleischer oder andere Bedienstete, die jahrelang auf ihren Lohn warten mussten.63 Durch diese Praxis wurden zugleich innerhöfische Personalhierarchien entworfen und ausgebildet. Sie erlauben einen Blick auf die unterschiedlichen sozialen Wertbeimessungen in Bezug auf die einzelnen Aufgaben. 63 NLA WB , 1 Alt 24 (wie Anm. 33), 237, 12 und 238, 59 f.

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VI. Fazit: Ein neues Verständnis von Expertentum? In der Zusammenschau der höfischen Kompetenzfelder und der Personalpolitik am Beispiel des Arnstädter Hofes lassen sich folgende Ergebnisse formulieren. Es ist festzustellen, dass in den meisten Feldern in Bezug auf die Personalpolitik eine Mischung der Expertenebenen hergestellt wurde, um das Funktionieren des Bereichs zu gewährleisten, ein hohes Niveau und die daran gebundene Reputation sicherzustellen und den Nachwuchs anzuleiten. Zugleich sorgte man auf diese Weise für soziale Ordnung, eine klare interne Hierarchie und schonte die eigene Hofökonomie.64 Der grundlegende Korpus an Personal besorgte die täglichen multiplen Anforderungen, während der Experte innerhalb der Gruppe der Fachkundigen diese in erster Linie anleitete – wie zum Beispiel Johann Sebastian Bach, der zwischen 1700 und 1704 in Arnstadt wirkte und selbst nur zu bestimmten Gelegenheiten spielte. Wie lässt sich nun die Bedeutungszuschreibung der unterschiedlichen Spezialistengruppen für den Arnstädter Hof nachweisen? Besoldungslisten, Tischund höfische Rangordnungen machen interne Bewertungshierarchien offensichtlich nachvollziehbar. Wenn also Andreas Morell als Spezialist 1693 mit 228 Gulden und drei Jahre später mit bis zu 571 Gulden pro Jahr plus Kost und Logis zu den bestbezahltesten Männern des Hofes gehörte, befand sich der Hofmaler Wentzing mit 57 Gulden65 im mittleren Segment, während die Waschoder Küchenmagd mit 10 Gulden pro Jahr am untersten Ende der hofinternen Lohnhierarchie stand. Trotz der absoluten Abhängigkeit der Herrschaften von den Kompetenzen der Waschmägde gehörte diese Tätigkeit zur Grundversorgung und war nicht reputationsträchtig. Morell dagegen war Reputationsträger qua seines gelehrten Wissens über Münzen, seiner praktischen Begabung in der Zeichenkunst und seiner Erfahrungen am französischen Hof. Ein weiteres Indiz gibt Auskunft über die hofinterne Sichtweise auf die soziale Reputation des Expertentums der Bediensteten. Die Tischordnung der Fürstin 1716 beschreibt namentlich die Personen, mit denen die Fürstin speiste: die Hofdamen, den Pastor, die Räte, den Schreiber. Summarisch werden dagegen alle anderen mit ihren Aufgabenbezeichnungen aufgeführt, also zehn Pagen,

64 Einer der »Tricks« hierbei bestand darin, Personal in Doppelfunktionen zu bestallen. In Arnstadt waren alle Musiker gleichzeitig Küchenschreiber, Kammerdiener, Kornschreiber und Lakaien, wie zum Beispiel die Bestallungsurkunde von Adam Drese zeigt, der 1683 bis 1701 sowohl »Hofkapellmeister und Cammer-Secretario« war. Janny Dittrich, Das Musikleben in Arnstadt. Von den Anfängen der Arnstädter Hofmusik im 16. und 17.  Jahrhundert bis zu ihrem Ende 1716, in: Ausstellungskatalog Arnstadt 2000 (wie Anm. 41), 75–80, hier 77. 65 Helga Scheidt, Der Hofmaler Heinrich Richard Wentzing und die Gemäldesammlung Anton Günthers II ., in: ebd., 89–94, hier 89.

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zwölf Mägde usw.66 Wer diese Personen sind, war nicht bedeutsam, nur ihre bloße Anzahl, denn bei ihnen handelte es sich um reine Funktionsuntertanen. Noch weniger bedeutsam waren die Personen, die sich geographisch in der Peripherie befanden und keinen alltäglichen Umgang mit dem Haushalt hatten, die zum Beispiel als Schultheis der Ämter und jenseits des namentlich bekannten als Bauern in entfernten Domänen oder als Grubenarbeiter in Bergwerken arbeiteten. Diese Kompetenzstufe hatte rein funktionalen und bestenfalls numerischen Wert. Offensichtlich hing die Zuweisung des Expertenstatus mit der ständischen Rangordnung zusammen, in der jedem Mitglied »sein Platz und Rang angewiesen und dadurch aller Streit, Zanck und Verdruß«67 vermieden werden sollte. Bemerkenswert, wenngleich aus dem ständischen Denkmuster heraus erklärbar, ist die Tatsache, dass sich die tatsächliche Bedeutung einer bestimmten Expertise für das Gelingen des täglichen Lebens, wie zum Beispiel die des Gärtners, dessen Produkte man aß, nicht in einem hohen Rang in der höfischen Rangordnung abbildete. Die beiden Beispiele, die Experten im Kontext der Puppenstadt und die Experten im Kontext der Münzsammlung, zeigen zwei unterschiedliche Typen des Expertentums an. Die Wachsbossierer und Schneiderinnen hatten Erfahrungswissen, also praktisches Wissen, während die Numismatiker praktisches Erfahrungswissen im Umgang mit den Münzen, künstlich angeeignete Gelehrsamkeit und sogar »nutzlose« Wissenschaft in sich vereinten. Scheinbar waren es zeitgenössisch nur die gelehrten Numismatiker, denen der Status des Experten zuerkannt wurde. Die Beschäftigung von Personen unterschiedlicher Kompetenzgruppen hatte über die Erfüllung funktionaler Bedürfnisse hinaus jedoch auch soziale und politische Funktionen. Während die Beschäftigung von Personal der ersten Kategorie primär eine Arbeitsleistung darstellte oder bestenfalls auf die Mildtätigkeit des Hauses verwies, war das Abhängigkeitsverhältnis, aber auch die Loyalität der »selbstgezogenen« Mitarbeiter besonders groß. Mit ihnen gelang es, eine hofeigene Kultur oder Stimmung zu schaffen. Sie stellten den Stamm des Personals und für das Fürstenpaar verlässliche Haushaltsmitglieder dar und stabilisierten das interne Gefüge des Hofes. Vor allem durch die Beschäftigung regionaler Experten wie Theologen, Juristen oder Mediziner, die auf dem höfischen Verweissystem beruhte, wurde das regionale Personennetzwerk bestätigt und gebunden. Die Personengruppe, die als Experten den Arnstädter Hof befeuerten, die Numismatiker und Wachsbossierer, bedienten die Leidenschaften des 66 Auszug aus der Tischordnung der Fürstin »An denen gemeinen Tischen: 1 Außgeberin mit 3 Mägden […], 5 Garderobbe, Lauff und Waschmägde, 1 Koch, 1 Conditor, 1 Gärtner mit 1 Geselln und 1 Jungen, 3 Laquayen, 1 Laquaye vom Herrn Beichtvater, 2 Cavalier Laquayen, 1 Fräul. Laquaye, 1 Kutscher, 1 Vorreiter, 2 Knechte […]«. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Kanzlei Arnstadt 311, Witthumsakten 1716–21. 67 Florinus, Continuatus (wie Anm. 1), 107.

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Fürsten­paares und sorgten für die Reputation des Hofes und dessen Implementierung in das translokale Adelsnetzwerk. Die Motivation zur Rekrutierung teurer transregionaler Experten lag neben der Erfüllung bestimmter Aufgaben im Bespielen höfischer Konkurrenzfelder und in der Schaffung eines Alleinstellungsmerkmals. Diese Experten sorgten entweder durch bestimmte Kompetenzen für die Reputation des Ortes selbst oder schufen Anlässe für den sozialen Austausch innerhalb des translokalen Personennetzwerks. Zugleich wurden die hofinternen sozialen Situationen wie Mahlzeiten und Salons durch diese Experten belebt. Translokale Experten wurden oft aus der geographischen Herkunftsregion der Ehefrau rekrutiert, der es damit gelang, nicht nur ihre eigene Hofkultur oder regionale Kompetenz zu transferieren, sondern die dadurch auch Verbündete an ihren neuen Hof ziehen konnte.68 Ob die Reputation in gleichem oder in asymmetrischem Maße dem Verursacher (also den Experten) oder seinem Dienstherren angerechnet wurde, bleibt fraglich. Wurde also der Gärtner, der die berühmte Agave im Arnstädter Garten zweimal zum Blühen brachte, namentlich erwähnt und vielleicht sogar als Experte an andere Höfe verliehen, oder erhielt nur seine Schöpfung Aufmerksamkeit? Die Rekrutierung der genannten Expertengruppen, sieht man von den ungelernten Arbeitskräften ab, hatte also maßgeblich soziale Funktionen, indem sie eine lokale Verankerung herstellten und Fürst und Fürstin als Landeseltern zeigten, die durch die Anstellung von Untertanen den Wohlstand der Bevölkerung beförderten. In Anbetracht der oben konstatierten unterschiedlichen Erfahrungsgruppen schlage ich gewissermaßen ahistorisch vor, die Definition des Experten als institutionell trainiertem und sozial konstruierten Träger von Sonderwissen auszuweiten und stattdessen einem breiten Verständnis von Expertentum zu folgen, das mit einer Anti-Hierarchisierung einhergeht und nicht nur Akademiker als Experten versteht, sondern auch Milchmägde, Büttner und Kellermeister, von denen der Hof und die akademischen Experten sowie das Funktionieren des Gesamtsystems abhingen. Aus der Sicht der Hauseltern oder Landesherren ergab sich die Befüllung einzelner Kompetenzfelder durch die Bestallung von Spezialisten durch die Motive des Nutzens, des Prestiges und der Neigung. Allein die Prestigeträchtigkeit des einzelnen Feldes und die soziale Bewertung einer Tätigkeit gaben den Ausschlag, ob die betreffende Person als reiner Funktionsuntertan »ohne Namen« oder als geschätzter Antiquarius bewertet wurde. Ausschlaggebend waren dabei die beiden Komponenten des theoretisch-gelehrten Wissens und der praktischen Erfahrung. Florinus wies mit Hilfe eines Sprachbildes explizit darauf hin: Man habe nicht nur die Schriften der erfahrensten Staatsminister rezipiert, sondern sich vor allem am Rat und der Erinnerung der noch Lebenden orientiert, um den Skeptikern zu begegnen, »die da

68 Landeskirchenarchiv Eisenach, Kirchenbücher Arnstadt-Illmenau, Kirchenbuch ­1626–1716 Oberndorf, Dorotheental, K7 2a–1, Filmsignatur kf 7/25 und K7 2a–2 Kirchenbuch zu Oberndorf. Boerner/Reissland/Reissland 1717–1757, unpaginiert.

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meinen möchten, man habe die Gelehrsamkeit ohne Erfahrung allhier zum Behuff genommen, welches ja freylich so ungereimt wäre, als wann ein Blinder von denen Farben urtheilen wollte.«69

69 Florinus, Continuatus (wie Anm. 1), Vorrede.

Leonhard Horowski

Der gefährliche Duft des Schnitzelmachers Der Hofadel von Versailles im Spannungsfeld von Expertise und sprezzatura

So wie das Palais de Justice im Herzen von Paris gelegen ist, stand das dort untergebrachte parlement de Paris im Zentrum der Justiz des Ancien Régime. Als Obergericht für den Großteil des Königreichs war es unzweifelhaft nicht nur die mächtigste Korporation, sondern neben dem conseil d’état privé zusammen auch die unbestritten respektierteste juristische Experteneinrichtung des Landes. Als Erbe des mittelalterlichen Hoftages schloss es zudem in sich ein, was anderswo Fürstenrat, Oberhaus oder Herrenstand war, nämlich den unbestrittenen Hochadel des Landes. Neben den eigentlichen Juristen, den Prinzen des Königshauses und sechs bzw. sieben geistlichen Pairs hatten zu Anfang der 1690er Jahre 35 Herzoge als weltliche Pairs Sitz und Stimme in der grandchambre des Parlaments und verdankten allein diesem Umstand den höchsten Rang, den man in Frankreich ohne königliches Blut oder Kardinalshut einnehmen konnte1. Es hätte für die Herzöge also nahegelegen, ihren Status durch regelmäßige Teilnahme an den Sitzungen des Parlaments immer wieder neu zu demonstrieren, zumal sie außerhalb des Parlaments den »einfachen« Herzogen ohne Pairie zeremoniell gleichgestellt waren,2 ihre Überlegenheit über diese folglich nur an Sitz und Stimme im Parlament hing. Tatsächlich jedoch scheinen die Herzog-Pairs selbst in der Epoche zwischen 1664 und 1714, während derer ihnen kein Rangstreit mit den Parlamentspräsidenten die Teilnahme an den Sit1 Die Zahl von sieben geistlichen und 35 weltlichen Pairs außerhalb des Königshauses bezieht sich mit Blick auf die im Folgenden zu besprechende Begebenheit auf die Jahre zwischen 1690 und 1694; die 35 Inhaber besaßen insgesamt 38 duchés-pairies. Vgl. Leonhard Horowski, Die Belagerung des Thrones. Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789. (Francia, Beih. 74.) Ostfildern 2012, Anhang I7 (CD -ROM) sowie allgemein zu den Herzog-Pairs: Christophe Levantal, Ducs et pairs et duchés-pairies laïques à l’époque moderne (1519–1790). Paris 1996. 2 Für die zwölf um 1693 existenten einfachen Herzogtümer (duchés vérifiés), deren Besitzer nicht zugleich Angehörige des Königshauses oder Pairs waren: Horowski, Belagerung (wie Anm. 1), Anhang I8. Bei Hof und in Gesellschaft wurden Herzoge mit und ohne Pairie als eine einzige Ranggruppe behandelt, so dass ein einfacher Herzog mit älterem Titel-Verleihungsdatum den Vorrang vor einem Herzog-Pair mit jüngerem Verleihungsdatum erhielt. Neben diesen eindeutigen Konkurrenten der Pairs existierten noch die sogenannten ducs à brevet bzw. Inhaber von Herzogsehren ohne Titel, wie sie um 1693 insgesamt 18 Personen aus eigenem Recht besaßen (ebd., Anhang I9).

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zungen verderben konnte,3 ihre Teilnahme strikt auf die in Anwesenheit des Königs vorgenommenen Zeremonien sowie sonst auf ihre einmalige zeremonielle Einführung (réception) bzw. auf die ihrer Standesgenossen beschränkt zu haben. So sehr der Duc de Saint-Simon ein hochgradig parteilicher Verteidiger herzoglicher Rangvorrechte und daher zweifelhafter Zeuge sein mag, so typisch scheint er doch darin für seine Standesgenossen gewesen zu sein, dass auch er außerhalb der genannten essentiellen Anlässe in 21 Jahren nur ein einziges Mal an einer Parlamentssitzung teilgenommen haben will. Selbst dies habe er nur auf Einladung eines weiteren Herzogs getan und es sofort bereut, da sein Begleiter Duc de Coislin sein Stimmrecht spielerisch zur Verzögerung einer Abstimmung einzusetzen wusste und so zuletzt ein 40.000 livres teures Fehlurteil erzwingen konnte.4 Noch bezeichnender als diese Anekdote, noch aufschlussreicher auch als die durchgehende Bereitschaft der Herzog-Pairs zur vorzeitigen Abgabe ihres Stimmrechts im Tausch gegen einen Rangvorteil5 erscheint ein weiteres Zitat, das zwar ebenfalls nur durch Saint-Simon überliefert ist, jedoch selbst als dessen etwaige Erfindung die ideale Illustration des gleich näher zu entwickelnden Themas dieses Textes bliebe. Der 1690 als Pair in das Parlament aufgenommene und 1695 »abgedankte« Duc de Charost beging Saint-­Simon zufolge nicht nur den Stilfehler, aus reinem Interesse ins Parlament zu gehen, sondern habe mehrfach auch seinen Cousin Duc d’Estrées dazu überredet, bis dies dessen mächtigem Onkel Cardinal d’Estrées zu viel geworden sei, der Charost mit den boshaften Worten: »Mon Cousin, cela sent son Lescalopier«, zur

3 Der Anspruch der Parlamentspräsidenten, im Parlament zeremoniell besser behandelt zu werden als die Herzöge, war 1664 durch königliche Entscheidung abgewiesen worden und wurde erst ab 1714 wieder erhoben; Details und weitere Literatur bei: Louis de Rouvroy, Duc de Saint-Simon, Mémoires, hrsg. v. Arthur Michel de Boislisle/Léon Lecestre. Paris 1879–1930, Bd. 25, v. a. 266, Anm. 3. 4 Ebd., Bd. 19, 116–119. Die drei anwesenden Herzöge konnten die Abstimmung entscheidend beeinflussen, da sie aus Ranggründen als letzte vor dem Ersten Präsidenten abstimmten. Aus der Präsenz Coislins, der am 21. Dezember 1702 im Parlament rezipiert wurde (Levantal, Ducs et pairs [wie Anm. 1], 540), und der Erwähnung des am 10. April 1707 zurückgetretenen Ersten Präsidenten Harlay ergibt sich die Datierung des Vorfalls, die allerdings im Widerspruch zu Saint-Simons Bezeichnung des Rats Le Nain als Doyen des Parlament steht, da dieser erst 1710 kurz vor Coislins Tod Doyen wurde (Saint-Simon, Mémoires [wie Anm. 3], Bd. 17, 221, Anm. 1). 5 Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts wurde es zur Gewohnheit herzoglicher Familien, dass der Familienchef meistens anlässlich der Heirat seines ältesten Sohnes zu dessen Gunsten als Herzog und Pair »abdankte«. Der Vorteil, dass der Sohn und seine Frau nunmehr herzoglichen Rang hatten, während der abgedankte Vater sowohl den Herzogstitel als auch – durch ein königliches brevet de conservation d’honneur – den Rang behielt, war es den Vätern offenbar ohne Weiteres wert, Sitz und Stimme im Parlament in relativ jungen Jahren an den meistens noch gar nicht volljährigen Sohn zu verlieren – ein klares Indiz dafür, dass man nicht dieses Stimmrecht, sondern den Rang als das Wertvollste am Herzogtum ansah. Dazu: Levantal, Ducs et pairs (wie Anm. 1), 388–392.

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Ordnung gerufen habe.6 Der Lescalopier, an den Charost den Kardinal in diesem Ausspruch erinnerte (oder nach dem, wörtlich genommen, Charost roch!), war konkret zwar einfach Charosts Großvater mütterlicherseits; vor allem jedoch war er Jurist und Parlamentsrat gewesen und als solcher trotz persönlicher Unbekanntheit jedenfalls aus Hochadelsperspektive schon daran zu erkennen, dass er den geradezu lächerlich bürgerlichen Namen Schnitzelmacher7 trug. Der Kardinal (immer angenommen, dass wir Saint-Simon trauen dürfen) mochte hier aus sehr individuellen Motiven sprechen, weil seine eigene Familie trotz ihres Herzogstitels von sehr neuem Adel und erst vor kurzer Zeit durch eine Königsgeliebte emporgekommen war; umso wichtiger musste ihm daher seine mütterliche Abstammung von den ur- und hochadeligen Béthune-Charost sein und umso mehr musste es ihn treffen, wenn die ritterliche Vornehmheit dieses Hauses durch eine Imitation (sei sie auch noch so frivol) bürgerlichen Juristenverhaltens kompromittiert zu werden drohte. Indem er jedoch aus solch individuellen Gründen dem Verwandten signalisierte, er verhalte sich wie der Enkel des »falschen«, nämlich unritterlichen Großvaters, verlieh d’Estrées zugleich einer selbstverständlichen Grundannahme des ludovizianischen Frankreichs Ausdruck. Dass der höfische ritterbürtige Schwertadel (noblesse d’épée)  der nob­lesse de robe, also dem im Pariser Parlament am vornehmsten inkarnierten Justizadel, an Adelsqualität allgemein überlegen sei, war nicht nur seine eigene Meinung, sondern trotz rhetorischer Einwände des Justizadels auch die der ganzen Gesellschaft.8 Wohl änderte dies nichts daran, dass in der Praxis beide Standesgruppen jeweils wichtige Machtpositionen dominierten, dass also der Schwertadel zwar das Monopol auf die hohen Hof- und Kriegs-Chargen, auf Herzogstitel, Provinzgouvernements und den Heiliggeistorden behielt, die robe andererseits aber alle Justiz-, damit das Gros der Verwaltungsämter und (jedenfalls bis 1715) die Ministerposten monopolisierte, während auf dem Felde der Diplomatie sowie der Kirche robe und épée jeweils etwa die Hälfte der Ämterbeute an sich brachten. Gerade weil aber diese Bedingungen die klienteläre Zusammenarbeit beider Seiten und folglich auch Eheschließungen wie die von Charosts Vater mit Mlle Lescalopier regelrecht erzwangen, wurde es für den höfischen Schwertadel überlebenswichtig, seine Standesüberlegenheit durch bewusste habituelle Abgrenzung von der robe zu verfestigen und zu bewahren: Je mehr ein Feld in der beschriebenen Arbeitsteilung dem Justizadel zugefallen 6 Saint-Simon, Mémoires (wie Anm. 3), Bd. 25, 181 sowie leicht variiert: Bd. 22, 119. Zur Datierbarkeit des Folgenden die Daten von Charosts Rezeption 1690, Demission 1695 sowie der Rezeption seines Sohnes 1698, die dem Vater endgültig das Stimmrecht nahm, in: Levantal, Ducs et pairs (wie Anm. 1), 452 f., 500 f. 7 Der Begriff escalope für Schnitzel erschien im Hochfranzösischen erstmalig 1691, war aber im nordostfranzösischen Herkunftsgebiet der Béthune, Estrées und Lescalopier schon lange vorher gebräuchlich gewesen: Le petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analo­ gique de la langue française, hrsg. v. Alain Rey/Josette Rey-Debove. Paris 1984, 686. 8 Umfangreichere Begründung dieser hier nur anreißbaren Position und ihre Erörterung in:­ Horowski, Belagerung (wie Anm. 1), 54–74.

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war, desto mehr wurde alles Dazugehörige zum Tabu für den Schwertadel. Da nichts den Justizadel mehr definierte als die juristischen Ämter, denen er seinen Adel verdankte, absentierten sich ranghohe Schwertadelige wie im obigen Beispiel aus Kontaminationsfurcht selbst von jenem Gremium, dem anzugehören ihnen in jedem anderen Land die höchste Ehre hätte sein müssen.9 Die Kollateralschäden dieser in Europa einzigartigen Abgrenzung waren jedoch noch viel weitreichender und schlossen nichts Geringeres als beispielsweise das Universitätsstudium ein, das vom französischen Schwertadel in ebenfalls europaweit einzigartiger Weise fast vollkommen boykottiert wurde (lediglich die für den Klerus bestimmten jüngeren Söhne durften sich immatrikulieren). Indem so der den französischen Hof dominierende Schwertadel beruflich-zielgerichtete Gelehrsamkeit und die systematische Durchdringung von Sachmaterien zu potentiell unadeligen Eigenheiten erklärte, machte er zugleich die Entwicklung eines wirklich höfischen Expertenhabitus von vornherein unmöglich; wie sich das in der höfischen Praxis auswirkte, ist der Gegenstand dieses Textes. Zu diesem Zweck sind zuerst die grundsätzlichen Strukturen des französischen Hofes zwischen etwa 1660 und 1789 in ihrem Verhältnis zum Expertentum zu erörtern, bevor dann in einem zweiten und dritten Schritt zum einen das ranghöchste Expertenamt (die surintendance des bâtiments) und zum anderen zwei miteinander eng verbundene rangniedrigere Expertise-Funktionen (introducteurs des ambassadeurs und Hofgenealogen) betrachtet werden sollen. Dabei wird die Betrachtung der surintendance die Unmöglichkeit eines Expertenhabitus auf der Ebene der obersten Chargen aufzeigen, während die beiden anderen Funktionen zwar dessen Existenz unter Subalternen belegen, aber auch zum eher negativen Befund der Abschlussbetrachtung überleiten, indem sie illustrieren, wie ein solcher Habitus unter den Bedingungen von Versailles zwangs­läufig in die Karrieresackgasse führen musste. Natürlich gab es am französischen Hof des 17.  und 18.  Jahrhunderts eine Unzahl von Personen, die wir retrospektiv sinnvoll als Experten bezeichnen 9 Es erscheint übrigens nicht wie ein Zufall, dass die wenigen Herzöge, die laut Saint-Simon überhaupt einmal zu vermeidbaren Besuchen im Parlament bereit waren, zum interessierenden Zeitpunkt sämtlich jener relativ kleinen Gruppe von Herzögen angehörten, die weder in Hof- oder Militärchargen noch als Diplomaten aktiv waren und somit – abgesehen von reinen Sinekuren als Gouverneure – faktisch arbeitslos waren; dies galt sowohl in den 1690ern für Charost (Karriereende 1672 bzw. 1687: Levantal, Ducs et pairs (wie Anm. 1), 452) und d’Estrées (zum Karriereende 1680: Louis Susane, Histoire de l’infanterie française. Bd. 3. Paris 1876, 105) als auch 1703–07 für den 1702 aus dem Dienst ausgeschiedenen Saint-Simon, für Coislin (Karriereende 1693: Saint-Simon, Mémoires [wie Anm. 3], 10, 282, Anm. 5), den als Dritten mitgenommenen Sully (keine Laufbahn außer Sinekuren: Levantal, Ducs et pairs [wie Anm. 1], 919) sowie schließlich für den Duc de Foix, der mitzukommen zugesagt hatte, dann aber verschlief (außer Schlachtenteilnahme 1667 keine Laufbahn: [Pierre Guibours, dit le Père] Anselme de la Sainte Vierge, Histoire généalogique et chronologique de la maison royale de France, des pairs, des grands officiers de la couronne, de la maison du Roy et des anciens Barons du Royaume. 2. Aufl. Paris 1726–1733, dazu Supplementbände 4.1, 9.1 u. 9.2, hrsg. v. Pol Potier de Courcy. Bd. 3. Paris ­1868–1890, 389).

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können:10 Der Hof als Institution war ja eine fast vollständige Abbildung der zeitgenössischen Gesellschaft und musste so auch praktisch alle technischen Aufgaben der Zeit lösen.11 Selbst wenn man die Amtsträgerlisten extrem skeptisch betrachtet und viele Ämter als nur noch funktionslos weitergeschleppte Sinekuren ansieht, selbst wenn man also z. B. annimmt, dass der königliche Kormoranjäger Sévin de La Penaye sich 1749 nur noch des Logis im Schloss von Fontainebleau oder der mit dem Amt verbundenen Steuerfreiheit erfreute und folglich keine Ahnung von Kormoranen mehr haben musste12 oder dass die 1783 im Großfalknerei-Amt beobachtbare »Vereinigung der Unterabteilungen (›Flüge‹) für die Falkenjagd auf Enten, Elster, Hasen und ›Feldtiere‹ unter dem Kommando ein und derselben Person«13 auf einen Rückgang der Nachfrage nach Falkenjagd überhaupt (und also der nötigen Spezialisierung) deute, so bleiben doch genug Ämter, die nachweislich bis zuletzt durchgehend ausgeübt wurden. Nicht alle zwar benötigten im gleichen Maße Expertise, und dass etwa von den beiden porte-chaise d’affaires, die den Toilettenstuhl Ludwigs XVI. herumtrugen, der eine als Keramikhändler gewissermaßen Fachmann war, der andere hingegen ein Schneider, der sich das 20.000 livres teure Amt von einem Lottogewinn gekauft hatte,14 dürfte für die Effizienz der Amtsausübung keinen Unterschied gemacht haben. Viele Experten waren auch eher Hoflieferanten 10 Der Begriff selbst wurde von den Zeitgenossen noch als selten empfunden und einzig zur Bezeichnung von Gutachtern verwendet, die von Gerichten oder Behörden in materiellen Fragen konsultiert wurden: Dictionnaire de l’Académie françoise. Bd. 1. 1. Aufl. Paris 1694, 418; Bd. 1. 4. Aufl. Paris 1762, 699; sowie zur Entwicklung dieser Rolle als staatliche Gutachter: Caspar Hirschi, Moderne Eunuchen? Offizielle Experten im 18.  und 21. Jahrhundert, in: Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hrsg), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (HZ , Beih. N. F. Bd. 57.) München 2012, 290–328. 11 Allgemein zur Alltagsorganisation dieses riesigen Sozialorganismus: Mathieu da Vinha, Le Versailles de Louis XIV. Le fonctionnement d’une résidence royale au XVIIe siècle. Paris 2009; William R. Newton, Derrière la façade. Vivre au château de Versailles au XVIIIe siècle. Paris 2008. 12 État de la France 1749. Bd.2, 288. Für eine bloße Sinekure sprechen das Fehlen sowohl eines präzisen Amtstitels als auch einer Gehaltsangabe sowie die Platzierung außerhalb der institutionellen Unterabteilungen des königlichen Haushaltes, welch letztere der Kormoranjäger allerdings mit den königlichen Tennismeistern teilt, die sowohl fixe Amtstitel (maître paumier bzw. paumiers-racquetiers) als auch reguläre Bezüge hatten. Ein ähnliches Amt war schon 1675 in der Familie gewesen (Bulletin du comité des travaux historiques et scientifiques, section d’histoire 1, 1882, 26), wird jedoch in den États de la France dieser Zeit noch nicht und im ab 1773 erscheinenden Almanach de Versailles nicht mehr erwähnt. 13 Almanach de Versailles. Versailles/Paris 1783, 111 f.; für einen früheren Zustand, in dem fast alle genannten Ämter noch jeweils verschiedene Inhaber hatten: État de la France (wie Anm. 12), Bd. 2, 278–282. Im Rahmen der großen Einsparungen von 1787 wurde die gesamte Großfalknerei abgeschafft. 14 Félix, Comte de France d’Hézecques, Souvenirs d’un page de la cour de Louis  XVI, hrsg. v. Charles-Robert-Marie-Guillaume de France, Comte d’Hézecques. Paris 1873 (Nachdruck: Paris 1998), 212.

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als reguläre Amtsträger und kamen wie die königlichen Uhrmacher faktisch nur alle Jubeljahre bei Überreichung eines neuen Meisterstücks je in die Nähe des Herrschers. Andererseits fand sich oft noch an den überraschendsten Stellen professionelle Aktivität – dieselben Angehörigen der Familie Antoine, die man in eher anspruchslosen Chargen als valet des petits chiens de la chambre du roi oder als Diener bei den Kammerspanielen findet, dienten zugleich als Jagdinspektoren, porte-arquebuse und artilleur ordinaire du roi15 und waren offenbar jenseits des Gewehrtragens für den König auch selbst so gute Schützen, dass drei von ihnen 1765 in die Wälder des Zentralmassivs geschickt wurden, um die berühmte Bestie von Gévaudan zu erlegen.16 Überhaupt begünstigte die für den Hof von Versailles so typische Bildung von Amtsträger-Dynastien auf den ersten Blick das Expertentum – Familien wie die Cotte, Francini oder Liard, die ihre Ämter als höfische Architekten, Wasserpumpen-Ingenieure17 oder Maulwurfsjäger18 über mehrere Generationen hinweg ausübten, entwickelten zwangsläufig eine optimal ihrer ökologischen Nische angepasste und von Kindesbeinen an den Erben weitergereichte Expertise. Freilich beweisen solche Beispiele erst einmal nur das Vorhandensein von Expertise und damit das in einem so allumfassenden und elitären Mikrokosmos wie dem Hof ohnehin nahezu Selbstverständliche. Die historisch ungleich interessantere Frage nach bewusster, erkennbarer und vor allem erfolgreicher Selbstpositionierung der Akteure als Experten verlangt den Blick auf deren Habitus, ihre Abgrenzung von anderen Gruppen und – wohl am wichtigsten – auf Erfolg oder Misserfolg. Wie aber in diesem Zusammenhang Erfolg definieren? Hier erweist sich die Ambivalenz der Dynastiebildung, die nur in einer Hinsicht uneingeschränkt als Erfolgsbeweis gewertet werden kann. Höfischen Fachleuten wie den Genannten gelang es mit großer Regelmäßigkeit, ihren Söhnen die Amtsnachfolge zu sichern und damit Idealen des Obenbleibens und der Statuskontinuität zu entsprechen, die in einer durch und durch dynastisch geprägten Elite von größter Wichtigkeit waren. Allerdings zeigt bereits der Vergleich mit den höchsten Hofämtern, dass diese dynastische Autoreproduktion mit einem wie auch immer gearteten Expertentum offenbar nichts zu tun hatte  – die höchsten Hofämter erforderten praktisch keine irgendwie spezifische Expertise, wurden ohne jede Merito­k ratie an Personen vergeben, die oft noch im Kindesalter standen19 und schon deshalb 15 William  R. Newton, La petite cour. Services et serviteurs à la cour de Versailles au XVIIIe siècle. Paris 2006, 73 f.; Edmond Du Fornel, baron du Roure de Paulin, La bête du Gévaudan dans les armoiries de la famille Antoine. Clermont-Ferrand 1907, 7 f.; zu den Amtsfunktionen: État de la France (wie Anm. 12), Bd. 2, 262 f., 273–275. 16 Michel Louis, La bête de Gévaudan. Paris 2003, 102–140. 17 Jacques Levron, Les inconnus de Versailles. 2. Aufl. Paris 1988, 138–149; Newton, Derrière la façade (wie Anm. 11), 73–102. 18 Nancy Mitford, Der Sonnenkönig. Ludwig XIV. und sein Hof. Stuttgart 1966, 42. 19 Dies war übrigens keineswegs auf die Ämter des hohen Adels beschränkt; die Institution der survivance (Horowski, Belagerung [wie Anm. 1], 145–148) erlaubte die Ernennung eines zukünftigen Nachfolgers noch zu Lebzeiten des Amtsinhabers und wurde

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reine Platzhalter ihrer Familien und Faktionen sein mussten.20 Wenn jedoch selbst die höchsten und begehrtesten Ämter des Hofes so vergeben werden konnten, spricht daraus, wie selbstverständlich König und höfischer Adel dynastische Ambition empfanden; dass dieselbe Logik auch auf vergleichsweise subalterne Ämter angewandt wurde, bedarf daher umso weniger einer zusätzlichen Erklärung durch Expertentum, als die Nachfolge des Sohnes im Beruf des Vaters ja auch in der übrigen Gesellschaft des Ancien Régime die unhinterfragte Regel blieb. Legt man aber diese zeitgenössische Erfolgsmesslatte der dynastischen Ambition einmal konsequent an, offenbaren sich plötzlich die Grenzen des Erfolgs der Experten. So sehr ihre regelmäßige Dynastiebildung im gleichbleibenden Amt zeigt, dass sie nicht wieder aus dem Hofsystem herausfielen, so sehr demonstriert sie zugleich, dass ihnen auch kein Aufstieg innerhalb des Systems gelang: Wer einmal als Architekt, Ingenieur oder Tennislehrer eine mehr durch Expertise als durch Geburt definierte Position erworben hatte und mit ihr identifiziert wurde, dessen Nachkommenschaft blieb jedenfalls ab etwa 168021 über viele Generationen auf diese Position festgelegt. Expertenfamilien hatten damit noch weniger Aufstiegschancen als die adeligen Generalisten, die sich zumindest bis kurz vor dem Gipfel in jeder Generation eine kleine Stufe weiter hocharbeiten konnten. Es ist kein Zufall, wenn wir auf der Ebene der höheren Hofämter keinen Akteuren mehr begegnen, die sich in erster oder auch nur zweiter Linie als Experten, als Inhaber einer speziellen Ausbildung oder Professionelle eines klar abgegrenzten Tätigkeitsfeldes definiert hätten. Die Natur dieser höheren Ämter spielte dabei eine wesentliche Rolle, denn wo sie überhaupt an klare Tätigkeitsfelder gebunden waren, handelte es sich stets nur um solche, die wie Jagd, Reitkunst oder militärische Fähigkeiten ohnehin essentiell zum Habitus des Schwertadels gehörten und daher allen Hofadeligen auch ohne solches Amt vertraut waren. Mindestens ebenso viele Hofämter der obersten Ebene waren jedoch von vornherein so generalistisch angelegt, dass man ihnen gar keinen denkbaren Expertenhabitus hätte zuordnen können – die maßgeblich wichtigen Oberkammerherren (premier gentilshommes de la chambre), der Großkämmerer (grand chambellan), der grand maître und die einfachen maîtres de la garde-robe, die menins oder gentilshommes d’honneur der Prinzen, der Oberhofmeister (chevalier auch für subalterne Ämter regelmäßig in Anspruch genommen. Auf diesem Wege wurde z. B. 1758 Robert-François Antoine de Beauterne als gerade erst Zehnjähriger zum königlichen porte-arquebuse ernannt (du Roure, Bête du Gévaudan [wie Anm. 15], 8); drei Angehörige der Familie Bontemps erhielten ihr Amt als Oberkammerdiener 1677, 1715 und 1744 jeweils als Acht-, Zwölf- und Sechsjährige (Horowski, Belagerung [wie Anm. 1], Prosopographie CD -ROM, A264). Den Rekord allerdings hielt dennoch ein Schwertadeliger, der Marquis de Montmirail, der 1719 im Alter von einem Jahr und sieben Monaten die survivance als capitaine-colonel des cent-suisses de la garde erhielt. 20 Detailliertere Analyse in: Horowski, Belagerung (wie Anm. 1), 235–258. 21 Diskussion solcher Aufstiegschancen und des Problems der unvollständigen Akteure: ebd., 154 f.

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d’honneur) bei Königin und Prinzessinnen und erst recht alle höheren weiblichen Chargen (surintendante oder dame d’honneur als Chefin eines Haushalts, dame d’atours als Äquivalent des grand maître de la garde-robe und dames du palais bzw. de compagnie als Begleiterinnen) waren im Wesentlichen einfach Begleiter und Allround-Organisatoren, die zwar nach und nach erhebliches Arkanwissen akkumulierten, dies aber nur ganz informell on the job taten und nie einen von ihrer Schwertadeligkeit unterscheidbaren Habitus daraus hätten formen können. Wie wenig sie das wohl auch gewollt hätten, illustrieren zahlreiche Beispiele bewusst nachlässiger Amtsführung selbst in den wichtigsten Punkten, die in der Regel von der klassischen Ancien-Régime-Konstruktion des effizienten und auf ewig subalternen Zweiten Mannes aufgefangen wurde. Wenn der Oberkammerherr Maréchal Duc de Richelieu (1696–1788) die Kosten für von ihm zu organisierende Hoffeste um 200 % zu hoch veranschlagte und nur durch die Sorgfalt seines Untergebenen, des intendant des menus plaisirs du roi Papillon de La Ferté, daran gehindert wurde, das Staatsbudget zu sprengen,22 dann war das bei diesem erfolgreichen Hofpolitiker kaum individuelle Inkompetenz, sondern vielmehr die anerzogene Demonstrativlässigkeit, die sprezzatura des Grandseigneurs; sie hatte denselben Richelieu schon 1727 ganz offen erklären lassen, die Sachfragen der europäischen Politik könnten ihn (als amtierenden Botschafter am Kaiserhof!) auf Dauer nicht interessieren und seien ihm nur lästiges Mittel zur Erlangung einer großen Hofcharge.23 Männer wie Richelieu, die zusammen mit ihren Frauen und Töchtern die obersten Etagen des Hofes vollkommen dominierten, waren meistens Herzoge und Pairs, fast ausnahmslos aktive Militärs (Richelieu trug 1745 maßgeblich zum Sieg von Fontenoy bei und eroberte 1756 in halsbrecherischem Handstreich die Insel Minorca, wobei er nebenher die Mayonnaise erfinden ließ) und immer Angehörige des Schwertadels. Den feineren Rang- und Standesabstufungen innerhalb dieser Gruppe entsprach eine ungefähre Hierarchie der Ämter, in der mit jedem Amt im Grunde nur ein einziges Niveau kompatibel war: Die Oberkammerherren beispielsweise waren seit 1669 ausnahmslos von herzoglichem Rang,24 ebenso seit 1661 die Oberhofmeisterinnen der Königin, die maîtres de la garde-robe oder premiers maîtres 22 Denis-Pierre-Jean Papillon de La Ferté, L’administration des Menus. Journal de Papillon de La Ferté, intendant et contrôleur de l’argenterie et des menus plaisirs et affaires de la chambre du Roi (1756–1780), hrsg. v. Ernest Boysse. Paris 1887, 47. Zu Papillons Karriere als professioneller Organisator höfischer Festlichkeiten: Raphaël Mariani, Papillon de La Ferté (1727–1794), régisseur de la société de cour, in: Pierre Jugie/Jérôme de La Gorce (Hrsg.), Les Menus Plaisirs du roi (XVIIe–XVIIIe siècles). Paris 2013, 71–87. 23 Zitiert in: Peter R. Campbell, Power and Politics in Old Regime France 1720–1745. London/New York 1996, 109. Es sei hervorgehoben, dass Richelieu als jemand, der keine Hofcharge geerbt hatte und sich nur deswegen überhaupt als Botschafter bewähren musste, innerhalb seines Umfeldes schon ausgesprochen benachteiligt war; bezeichnenderweise brachte ihm dann auch nicht etwa der Botschafterposten, sondern erst der von ihm orchestrierte Aufstieg seiner Cousine zur maîtresse en titre die ersehnte Hofcharge ein. 24 Oder zumindest älteste Söhne und damit absehbare Erben eines Herzogs.

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d’hôtel dagegen nie. Diese Verklammerung war so eng, dass Mobilität von Amt zu Amt nur intergenerationell möglich war. Eine Einzelperson, die ranghoch genug geboren war, um z. B. eines der gleichwertigen Ämter Oberkammerherr, Hauptmann der Leibgarde oder Oberstallmeister erlangen zu können, konnte dagegen auch nur auf genau dieser Ebene in die Ämterpyramide einsteigen; die Annahme eines niedrigeren Amtes hätte sie entehrt, so dass die für Experten­ systeme typische, wo nicht gar notwendige geregelte Ämterlaufbahn im hohen Hofadel anders als im Militär oder Klerus, anders auch als an anderen Höfen nicht einmal denkbar war. Die Spitze der Hofhierarchie durch eine solche Karriere zu erreichen, wäre freilich ohnehin nur den Erbsöhnen der dort schon etablierten Familien möglich gewesen, denn weil auch hier trotz nominell freier Verfügung des Monarchen der Erbanspruch des direkten Erben de facto heilig war, blieben die oberen Etagen auf Dauer in den Händen einer winzigen Elite: Von 692 zwischen 1661 und 1789 auf Hofchargen der obersten drei Klassen ernannten Personen entstammten 442 (also 63,9 %) den 49 erfolgreichsten Familien, von denen 22 bereits 1661 in Hofchargen der obersten Klasse verankert gewesen waren; der Anteil der Personen, die in 2. oder höherer Generation große Hofchargen besaßen, lag im Haushalt des Königs bereits 1661 bei rund 49 % und 1787 gar bei 84 % (47 % sogar in 4. oder höherer Generation).25 Ein möglichst präzises Verständnis dieser Mechanismen ist für das hier interessierende Thema nicht nur wichtig, weil sie schon grundsätzlich ausschließen, dass individuelle Expertenkompetenz für Hofkarrieren in Versailles je eine wesentliche Rolle gespielt haben könnte; es erlaubt uns auch ganz konkret, das als Nächstes zu betrachtende große Amt als eine doppelte Ausnahme von der Regel zu erkennen. Die surintendance (bzw. ab 1708, endgültig 1726: direction générale) des bâtiments, also das mit der obersten Verwaltung der königlichen Schlösser und Bauprojekte beauftragte Amt, war die einzige der großen Hofchargen, die umfassende Administrativkompetenz und damit auch – ebenfalls als einzige26 – eine im Hofmilieu nicht ohnehin schon selbstverständliche Expertise er25 Zur (nachträglichen und rein analytischen, aber anhand zeitgenössischer Kriterien entwickelten) Klassifizierung der wichtigsten Hofchargen: Horowski, Belagerung (wie Anm. 1), 157 f.; sowie für die Zahlen: ebd., 226–235. Einzelne leichte Abweichungen der obigen Angaben von den dort zu findenden resultieren aus Detailkorrekturen der zugrundeliegenden Prosopographie für die bevorstehende französische Ausgabe des Buches. 26 Eine nicht selbstverständliche Kompetenzanforderung ließe sich sonst höchstens noch für die großen geistlichen Chargen (also grand aumônier und premier aumônier des Königs sowie die Äquivalente bei Königin, Prinzen und Prinzessinnen) konstatieren; faktisch war die nicht so leicht zu erfüllende Vorbedingung der Ernennung dort aber nicht etwa die theologische oder pastorale Expertise, sondern lediglich der geistliche Stand, dessen Normalanforderungen an Bildung und Lebenswandel auch zur Ausübung geistlicher Hofämter völlig ausreichten. Wenn es Familien dennoch schwerer fiel, solche Posten dynastisch zu monopolisieren, lag dies folglich nicht etwa an hohen Kompetenzanforderungen, sondern nur daran, dass hier erstens die sonst üblichen Kinderernennungen als unpassend empfunden wurden und dass zweitens für die irreversibel zölibatäre geist-

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forderte. Wenn sie sich zugleich auch darin massiv von den übrigen Chargen unterscheidet, dass sich in ihr praktisch keinerlei familiäre Kontinuität aufbauen ließ, verdeutlicht das die grundsätzliche Kollision jeder Expertiseanforderungen mit dem üblichen höfischen Erfolgsmodell. Zwischen 1638 und 1791 gelang es keinem einzigen direkten Familienerben, die tatsächliche Nachfolge in diesem Amt anzutreten, und selbst entferntere Angehörige kamen lediglich zweimal (1691 und 1746/51) zum Zuge. Designierte Nachfolger oder survivanciers, wie sie in allen anderen Ämtern die entscheidende Rolle bei der Dynastifizierung spielten, wurden hier kaum je ernannt: Wenn einer von ihnen 1719 noch vor dem Vater starb, so wurde zwei anderen 1683 bzw. 1726 in sonst nur bei Ministerämtern denkbarer Weise ihr Nachfolgerecht wieder entzogen,27 weil sie als zu jung oder inkompetent angesehen wurden – die hohen Anforderungen sabotierten also die sonst selbstverständliche Kontinuität. Sollte man da nicht annehmen, es habe sich bei dieser einen großen Charge, die so nicht-­erblich besetzt wurde und daher frei von den üblichen Mechanismen war, noch am ehesten Meritokratie und damit ein distinkter und bewusster Expertenhabitus entwickeln können? Um diese Frage beantworten zu können, soll hier eine aufschlussreich standardisierte, zugleich aber ausreichend individuelle und durchgehend vorhandene Quelle auf die ständische und professionelle Selbstdarstellung der Amtsinhaber hin analysiert werden – ihre großen Staatsportraits.28 Schon der Blick auf die Portraits der ersten hier interessierenden Inhaber Colbert (1664–1683) und Louvois (1683–1691) zeigt ein erstes Problem für die Herausbildung eines eigenständigen Expertentypus: Weil Budget und Kompetenzen der surintendance so groß waren, war sie nicht nur schwer zu besetzen, sondern wurde auch umgekehrt von den Ministern als attraktive Ergänzung ihrer jeweiligen Hausmacht angesehen und fiel so zuerst nacheinander an die beiden mächtigsten Minister Ludwigs  XIV. Deren Habitus aber konnte durch das Amt als surintendant des bâtiments nicht mehr geprägt werden und war vielmehr ein bereits längst etablierter ministerialer – dieser aber war damals noch identisch mit dem der höchsten noblesse de robe, der Ludwig  XIV. die Ressortministerposten vorbehielt.29 Die enge Kooperation der robe-Minister mit dem liche Laufbahn ja nur jüngere Söhne in Frage kamen, die nicht zur Fortsetzung der Dynastie gebraucht wurden und die es angesichts hoher Kindersterblichkeit und abnehmender Kinderzahl des Hofadels nicht in jeder Generation im passenden Alter gab. 27 Für alle Details zu den Personen vgl. die Liste der Inhaber in: Horowski, Belagerung (wie Anm. 1), Anhang A 25 (Artikel A249 bis A262, CD -ROM). 28 Abbildungen und alle sonstigen Details zu den im Folgenden nur mit den Namen von Maler und Dargestelltem, Datum und heutigem Museumsstandort zitierten Bildern lassen sich problemlos den Online-Datenbanken der Réunion des musées nationaux (»recherche avancée«, unter http://www.photo.rmn.fr/C.aspx?VP3=CMS3&VF =Home& ADVS =1, abgerufen am 12.09.2017) bzw. der ergänzenden base joconde (http:// www.culture.gouv.fr/public/mistral/joconde_fr, abgerufen am 12.09.2017  – über ›chercher‹ kommt man zur ›recherche avancée‹) entnehmen. 29 Allgemein zur Rolle und zum Sozialprofil der Minister Ludwigs XIV.: Thierry Sarmant/ Mathieu Stoll, Régner et gouverner. Louis XIV et ses ministres. Paris 2010, v. a. 437–478.

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hohen Schwertadel änderte nichts daran, dass sie durch weiterwirkende Kleiderordnungen äußerlich unübersehbar von ihm abgesetzt wurden. Ihre offiziellen Portraits30 zeigen sie in strikt schwarzer Robe und mit dem robe-typischen Spitzenbeffchen (rabat) anstelle der vom Schwertadel damals getragenen bunten Schleife; Schriftstücke, Schreibtisch und Feder zeugen von administrativer Tätigkeit, während der aufgenähte Ordensstern bzw. das blaue Band des Heiliggeistordens darauf verweisen, dass sie jener winzigen Elite des Justizadels angehörten, die zwar nicht vollgültige Ritter, immerhin aber Funktionäre dieses Ordens werden konnten und daher die sonst nur auf hohen Schwertadel verweisenden Insignien tragen durften. Ein Expertenhabitus also insofern, als die noblesse de robe sich zwangsläufig stärker durch Expertise rechtfertigen musste als der Schwertadel – aber keiner, der irgendetwas mit der surintendance oder ihren Funktionen zu tun hätte. Mit dem nächsten Inhaber, Louvois’ Cousin Villacerf (1691–1699), finden wir einen Mann, der zwar selbst keine ausdrücklichen Justizämter mehr innegehabt hatte und als premier maître d’hôtel der Königin auch eine allerdings nicht ausdrücklich schwertadelig konnotierte Hofcharge dritter Ordnung besaß. Zugleich rechnete man ihn aber als bisherigen intendant général des bâtiments, conseiller d’État de robe longue und Sohn einer robeFamilie noch so eindeutig dem Justizadel zu,31 dass auch er wieder in schwarzer Robe und Beffchen porträtiert wurde, freilich ohne die Ordensinsignien, für die er als Nicht-Minister nicht wichtig genug war, und dafür mit einem Bauplan auf dem Schreibtisch,32 der zeigt, dass er sich anders als die Minister explizit über die surintendance definieren musste.33 Mit Villacerf freilich brach die Reihe der robins abrupt ab, weil er das Amt 1699 wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten abgeben musste (einmal mehr der Malus der hohen Anforderungen!) und man daraufhin – wie sich herausstellen sollte: zum ersten und letzten Mal – auf die kühne Idee kam, tatsächlich einen professionellen Architekten zum Chef der Bauverwaltung zu ernennen. Es ist bezeichnend für die Prägekraft der Vorgänger, aber wohl auch für die Identifikation hochrangiger technischer Expertise mit dem Justizadel, dass der neue Inhaber Mansart (1699–1708), der 1685 als premier architecte du roi noch im fröhlichen Phantasiekostüm des Künstlers porträtiert worden war und niemals irgendeine Justizcharge besessen hatte, sich nun ebenfalls mit schwarzer Robe und Beffchen malen ließ, wozu er freilich

30 Claude Lefebvre, Portrait des Jean-Baptiste Colbert. 1666. Château de Versailles; Pierre Mignard, Portrait des François-Michel Le Tellier, Marquis de Louvois, nach 1671 (da er bereits den Heiliggeistorden trägt: cf. Horowski, Belagerung [wie Anm. 1], Prosopographie, Artikel H537). Musée de Reims; Louis Elle d. Ä., Portrait desselben, 1689. Château de Versailles (Kopie). 31 Seine Söhne gingen wie ihre ministerialen Cousins in den Schwertadel über, was für zwei von ihnen mit einem frühen Kriegstod endete. 32 Pierre Mignard, Portrait des Édouard Colbert, Marquis de Villacerf, 1691–95. Château de Versailles. 33 Seine Karrieredaten in: Saint-Simon, Mémoires (wie Anm. 3), Bd. 3, 27 Anm. 3.

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auch den sozial schon stark abgesunkenen, nämlich nur noch meritokratisch verliehenen Michaels-Orden trug.34 So logisch die Besetzung des Amtes mit einem Fachmann aus moderner Sicht war, so sehr blieb sie unter den Bedingungen von Versailles Episode, was sich an der Benennung von Mansarts Nachfolger besonders drastisch zeigte. Schon unter Colbert wäre die surintendance beinahe in den Schwertadel abgebogen, wie es damals auch das übliche Los ehemaliger Ministerfamilien war; der Minister hatte 1674 das Nachfolgerecht nicht seinem älteren Sohn, der als survivancier des wichtigeren Staatssekretärsposten noch robin blieb, sondern dem zweiten Sohn Ormoy verschafft, der dann 1682 eine Militärkarriere begann,35 das Bauamt freilich bereits 1683 verlor und stattdessen 1685 grand maître des cérémonies wurde. Wir wissen nicht, wie dieser Ministersohn und -bruder in seiner Selbstdarstellung Administrativamt und Militärstand miteinander vereint hätte; wahrscheinlich hätte er das aber jedenfalls dezenter getan als der nun zum Nachfolger Mansarts ernannte Duc d’Antin (1708–1736). Als einziger Herzog in diesem Amt, Sohn aus uraltem Schwertadel, Halbbruder der unehelichen Kinder Ludwigs XIV. und Generalleutnant der Armee empfand er es offenbar als absolut unnötig, das Bauamt, so lukrativ und königsnah es auch war und so ausdrücklich er es 1708 vom eher überraschten König erbeten hatte, weil »er gerne gärtnere und bei Häusern einigen Geschmack habe«,36 in irgendeiner Weise in das Staatsportrait aufzunehmen, das ihn mit Plattenpanzerrüstung, Feldherrenstab, Herzogsmantel und Heiliggeistorden vielmehr als reinen Ritter und Grandseigneur positionierte:37 Der praktische Nutzwert war das eine und die definierenden Standesqualitäten etwas ganz anderes. 34 Hyacinthe Rigaud, Portrait des Jules Hardouin-Mansart, 1685. Paris, musée du Louvre; François de Troy, Portrait desselben, 1699. Château de Versailles; zum Orden: Benoît de Fauconpret, Les chevaliers de Saint-Michel (1665–1790). Le premier ordre de mérite civil. Paris 2007. 35 François-Joseph-Guillaume Pinard, Chronologie historique militaire. Paris 1760–1778, Bd. 4, 459. 36 Louis-Antoine de Pardaillan de Gondrin, Duc d’Antin, Mémoires du Duc d’Antin, hrsg. v. Comte Juste de Noailles. (Mélanges publiés par la Société des bibliophiles français) Paris 1822, 69: »Je connoissois les agrémens de cette charge, et quels accès elle donnoit auprès du Roy; je savois encore ceux qu’elle pouvoit donner à un homme de condition [d. h. einen Mann von Stand – bewusster Kontrast zu den bisherigen Inhabern, L. H.] qui en feroit un bon usage et qui se conduiroit sagement. Je la demandai au Roy, sur le pied de m’être toujours mêlé de jardinage, même avec Sa Majesté, et d’avoir un peu de goût pour les maisons. Le Roy, peu accoutumé à donner des emplois de détail et de finance à des gens de condition, ne parut pas faire grande attention à ma demande.« Seine Berichte an den König in: Ders., Le duc d’Antin et Louis  XIV. Rapports sur l’administration des ­bâtiments annotés par le roi, hrsg. v. Jules-Joseph Guiffrey. Paris 1869; der Herausgeber attestiert d’Antin dort (11–16) eine für die Künste desaströse Amtsführung. 37 Werkstatt des Hyacinthe Rigaud, Portrait des Louis-Antoine de Pardaillan de Gondrin, Duc d’Antin, 1724 oder später (da er bereits den Orden trägt: cf. Horowski, Belagerung [wie Anm. 1], Prosopographie, Artikel H244). Château de Versailles. Das Bild entstand

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Nachdem selbst der ungewöhnlich ranghohe und einflussreiche d’Antin trotz anfänglicher Erfolge38 das nunmehr endgültig zur direction générale herabgestufte Bauamt nicht in seiner Familie halten konnte, rotierte es nach seinem Tod nur umso rascher durch alle denkbaren Standesgruppen. Es wurde zuerst dem der robe entstammenden Minister Orry (1737–1745) verliehen, dessen Selbstdarstellung ganz der oben für Colbert und Louvois beschriebenen entsprach,39 ihm aber bei seinem Sturz als Minister wieder entzogen und an den Finanzier Tournehem (1745–1751) vergeben, der als Onkel von Mme de Pompadours Ehemann nur Platzhalter für deren zuerst noch zu jungen Bruder Marigny (1746/51–1773) war. Da ein Finanzier selbst mit solcher Protektion eine normale große Hofcharge nie hätte erlangen können, bestätigte Tournehems Ernennung nur den Ausnahmecharakter des Bauamtes. Mit dem auf diese Charge hinweisenden Bauplan musste er sich schon deshalb malen lassen40, weil ihm alle anderen Distinktionen fehlten; noch im Amt wird er nur in einem zwar reich dekorierten, aber braunen Rock dargestellt, da die leuchtenderen Farben dem alten Hofadel vorbehalten waren. Den Nachfolger Marigny konnte derselbe Maler da­gegen nicht nur mit dem bewährten Bauplan, sondern auch im Gold und Hellblau des alten Adels sowie mit den Insignien des Heiliggeistordens malen,41 da er nur Finanzierssohn war, aber selbst kein solches Amt mehr ausgeübt hatte und sich daher unter dem Schutz der Schwester wenigstens zeitweise als Hofmann neuerfinden konnte – freilich ohne Militärkarriere oder vornehme Heirat. Wie wenig stabil seine Position war, zeigte sich nach dem Tod der Schwester, als man 1773 auch ihm das Amt wegnahm und es dem Finanzminister Abbé Terray (1773–1774)

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also eindeutig zu einem Zeitpunkt, zu dem d’Antin bereits seit langem Inhaber des Bauamts war. Sein 1716 zum survivancier ernannter Sohn Bellegarde starb bereits 1719; d’Antin erlangte dafür zwar 1721 eine neue survivance für seinen Enkel Duc d’Épernon, musste aber 1726 zusehen, wie diese nach einem höfischen Machtwechsel wieder aberkannt wurde (einmal mehr der Fluch der ungewöhnlich hohen Amtsanforderungen, da vergleichbares sonst mindestens nach 1661 bei keinem höfischen Amt je vorkam). Leider fanden sich keine Portraits dieser beiden survivanciers, deren Selbstinszenierung angesichts relativer Jugend und entsprechend niedrigerer militärischer Dienstgrade vielleicht eher auch auf das Bauamt rekurriert haben mag. Andererseits zeigt Hyacinthe Rigauds Portrait des Duc de Lesdiguières (ca. 1688. Château de Versailles), dass bereits der für Jugendliche aus solchen Familien schnell erreichbare Obristenrang ausreichte, um notfalls selbst ein zehnjähriges Kind im Plattenpanzer malen zu lassen. Hyacinthe Rigaud, Portrait des Philibert Orry. 1735. Château de Versailles (Kopie). Leider fand sich kein Portrait aus der Zeit nach 1737, als Orry auch directeur général des bâtiments war; analog zu den genannten anderen Ministerportraits darf man aber annehmen, dass sich an seiner Darstellung auch dann nichts mehr geändert hätte. Die Insignien des Heiliggeistordens fehlen auf dem Portrait, weil es Orry erst 1743 gelang, eine entsprechende Charge zu erwerben. Louis Tocqué, Portrait des Charles-François de-Paule Le Normand, Sieur de Tournehem 1745 oder später. Château de Versailles. Ders., Portrait des Abel-François Poisson, Marquis de Marigny. 1755. Paris, musée Carna­valet (Kopie Château de Versailles).

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übergab, der freilich selbst so kurz danach schon wieder stürzte, dass er kaum Zeit hatte, sich als Inhaber des Bauamts zu positionieren.42 Dessen letzter Inhaber wurde nun der Comte d’Angiviller (1774–1791), ein Kavallerieoberst aus zweitklassiger Schwertadelsfamilie, der in zweiter Generation subalterne Hofchargen besaß, sich aber offenbar auch durch Kunstinteresse und als bisheriger Intendant des jardin des plantes qualifiziert hatte;43 er ließ sich nun als höfischer Edelmann mit dem meritokratischen Ludwigs- und dem ritterlichen LazarusOrden, aber ohne die aus der Portrait-Mode gekommene Rüstung und dafür mit dem bewährten Bauplan malen.44 So war zwar durch sukzessives Durchspielen buchstäblich jeder denkbaren Inhaber-Konstellation gegen Ende des Ancien Régime die Kompatibilität dieses technisch anspruchsvollsten aller großen Hofämter mit allen innerhalb der gesellschaftlichen Elite existenten Standespositionen etabliert worden. Vor allem aber verdeutlicht diese ungewöhnlich bunte Reihe der Amtsinhaber, dass erstens mit hohen Ansprüchen an die technische und Verwaltungskompetenz der Verlust genau jenes Vorteils einherging, der den größten Wert der anderen Hofchargen ausmachte, nämlich der leicht erlangbaren Kontinuität der Verankerung am Marktplatz aller Vorteile. Zweitens zeigt sich, dass selbst dieses hohe Amt ungeachtet großer sachlicher Wichtigkeit bei seinem Inhaber nie einen einheitlichen Amts- und Expertenhabitus hervorbringen konnte; die Karrierewege, auf denen man es erreichte, waren vollkommen disparat und die Inhaber für jeden Beobachter schon rein äußerlich immer als Angehörige ihrer jeweiligen Geburtsstände identifiziert, an denen die Charge nichts Wesentliches änderte. In einem Hofsystem, das überall sonst Geburtsstand und Amt miteinander parallelisierte und durch die hohe Dynastizität noch enger miteinander verschraubte, hatte die surintendance des bâtiments offenbar genau infolge der gewichtigen Kompetenzkonnotation nie ihren Ort gefunden und blieb eine Anomalie. Wenn auf der tonangebenden obersten Ebene der Hofämter ein Experten­ habitus nicht denkbar war, so spiegelte sich dieser Befund im übrigen könig42 Alexandre Roslin, Portrait des Abbé Joseph-Marie Terray. 1774. Château de Versailles. Der aus der robe stammende Terray ist hier in seinem violetten geistlichen Ornat mit den wiederum durch eine Ordenscharge erlangten Heilig-Geist-Insignien dargestellt; Staatspapiere und ein vermutlich mit dem Finanzministerium assoziierter roter Aktenordner (er erscheint identisch im Bild des Amtsvorgängers Orry) verweisen auf das Ministeramt, nicht jedoch auf die damals bereits erworbene Charge als directeur général des bâtiments. 43 Charles-Claude de Flahaut de la Billarderie, Comte d’Angiviller, Mémoires du Comte d’Angivillers [sic], hrsg. v. Louis Bobé, Kopenhagen 1933, xi; Emmanuel Duc de Croy, Journal inédit du Duc de Croy 1718–1784, hrsg. v. Emmanuel-Henri, Vicomte de Grouchy/Paul Cottin. Bd.  3. Paris 1906–1907, 136; Marc-Marie-Henri, Marquis de Bombelles, Journal, hrsg. v. Jean Grassion/Frans Durif/Jeannine Charon-Bordas. Bd.  1. Genf 1978–2013, 206; ebd., Bd. 2, 118 f., beschreibt ihn als schwer erträglichen Kulturpedanten und nennt den amtierenden Großfalkenmeister als Kandidaten für die Nachfolge. 44 Joseph-Siffred Duplessis, Portrait des Charles-Claude de Flahaut de La Billarderie, Comte d’Angiviller, ca. 1779. Château de Versailles. (Die Notizen in den genannten Katalogen lassen irrigerweise den Familiennamen Flahaut weg.)

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lichen Haushalt dergestalt wider, dass ein solcher Habitus zwar umso leichter denkbar wurde, je weiter unten man in der Hierarchie der Ämter stand, zugleich aber auch das Risiko umso größer wurde, durch ihn auf Dauer in einer ständisch subalternen Position eingeklemmt zu werden. Dieses Risiko soll an zwei Ämtern der mittleren bzw. unteren Chargenebene verdeutlicht werden. Der hierarchisch höherstehende der beiden Posten, also das Amt der jeweils zwei introducteurs des ambassadeurs, war bezeichnenderweise auch jener, welcher wesentlich weniger eindeutig durch formalisiertes Expertenwissen geprägt war. Dennoch erforderte bereits diese Charge unbestritten mehr davon und vor allem größere Kenntnisse in Bildungsmaterien wie Geographie oder Geschichte als die meisten Hofämter, weil ihre Inhaber den größeren Teil des diplomatischen Zeremoniells zu organisieren hatten45 und also auf einem für die Monarchie besonders signifikanten Parkett auftraten, wo schon kleine Fehler politisch wichtige Folgen nach sich ziehen konnten. Wenn sich nicht zuletzt hieraus ergab, dass die beiden introducteurs-Ämter nach 1659 mit einer einzigen kurzen Ausnahme nie mehr von Schwertadeligen und vielmehr immer entweder von Männern aus der nichtministerialen noblesse de robe oder aus kürzlich geadelten Finanziersfamilien ausgeübt wurden46 und zeitgenössische Kommentatoren bei Erwähnung dieser Amtsträger überdurchschnittlich oft die Frage ihrer Bildung thematisierten, während andererseits die dynastische Weitergabe fast ganz wegfiel (von zwanzig Inhabern zwischen 1635 und 1792 waren nur drei die Söhne ihrer Vorgänger), so blieb doch auch hier das Verhältnis zwischen Bildung und Ritterlichkeit ein höchst kompliziertes. Regelrecht amphibisch war das Amt bereits darin, dass seine Inhaber zwar aus robe oder Finanz stammten, selbst jedoch fast nie mehr 45 Insgesamt zur Charge und ihren Inhabern: Auguste Boppe, Les introducteurs des ambassadeurs 1585–1900. Paris 1901. 46 Die Liste der Inhaber: ebd., 45–61, sowie zur sozialen Charakterisierung der dort nicht näher eingeordneten Familien: Saint-Simon, Mémoires (wie Anm. 3), Bd. 6, 37, Anm. 1, 3, Bd. 24, 10, Anm. 5, Bd. 25, 479 f., Bd. 26, 136–138, Bd. 32, 121 f.; François-Alexandre Aubert de La Chesnaye-Desbois/Jacques Badier, Dictionnaire généalogique, héraldique, chronologique et historique de la noblesse. 3. Aufl. Paris 1863–1876, Bd.  4, 966; ebd., Bd. 17, 793–795; Auguste Jal, Dictionnaire critique de biographie et d’histoire. 2. Aufl. Paris 1872, 1099 f.; Daniel Dessert, Argent, pouvoir et société au Grand Siècle. Paris 1984, 679 f.; Louis-Pierre d’Hozier, Armorial général, ou registres de la noblesse de France. Paris 1738–1908, Bd. 5, 973; Michel Antoine, Le gouvernement et l’administration sous Louis XV. Dictionnaire biographique. Paris 1978, 107 f., 238; Anselme, Histoire généalogique (wie Anm. 9), Bd. 9/2, 879 f.; Annuaire de la noblesse 1894, 359 f. Die einzige Ausnahme war der aus altem, aber obskuren Schwertadel stammende Comte de Monconseil (1725–1730), der das Amt anlässlich seiner Ehe mit einer Cousine der Mätresse des damaligen Premierministers erhielt, es aber bezeichnenderweise schon nach fünf Jahren abgab; seine weitere Karriere und die vorteilhaften Heiraten der Töchter verdankte er nicht diesem Amt, sondern den guten Beziehungen seiner Frau zu mehreren sukzessiven Kriegsministern. Zu ihm: Dictionnaire de biographie française. Bd. 17. Paris 1989, 299 f.; Henri Beauchet-Filleau, Dictionnaire historique et généalogique des familles du Poitou. 2. Aufl. Poitiers/Paris/Fontenay-le-Comte 1891–1979, Bd. 4, 610–615, sowie seine Ahnenprobe in Paris, Bibliothèque Nationale de France (im folgenden BN), Ms. fr. 32112, fol. 228–229v.

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in diesen Ständen aktiv gewesen waren (nur zwei Inhaber hatten zuvor robe-Ämter innegehabt,47 und nur sie hatten wohl auch eine Universität besucht). Allerdings hatte neben dem einzigen geborenen Schwertadeligen auch nur ein weiterer Inhaber eine (kurze) Militärkarriere absolviert.48 Der typische introducteur war folglich ein aus robe oder Finanz ausgestiegener, aber nicht im Schwert­ adel und damit auch nicht im Kern des Hofmilieus angekommener Aufsteiger zwischen allen Stühlen. Auch die Nachkommen stiegen offenbar fast nie oder nur ganz unabhängig von der Charge auf,49 welche die meisten introducteurs im Übrigen schon nach relativ kurzer Amtszeit wieder abgaben.50 Wo diese Abweichungen vom Idealmodell der gehobenen Hofchargen sich theoretisch wieder mit professioneller Meritokratie erklären ließen, zeigt ein näherer Blick, wie wenig diese tatsächlich praktiziert wurde. Gerade die relativ vornehmsten Inhaber wurden bei Amtsantritt für Qualifikationen gelobt, die mit der sachlich sinnvollen Bildung nichts zu tun hatten – bei Ernennung des jüngeren Sainctot (1709–1751) »tout le monde fut ravi de le voir en cette place«, weil er »avec réputation« als Kavalleriehauptmann gedient hatte51, während man 47 Der gescheiterte Provinzintendant Foucault de Magny (1715–1719) sowie der frühere conseiller au parlement Rémond (1719–1723): Antoine, Gouvernement (wie Anm.  46), 107 f., sowie: d’Hozier, Armorial Général (wie Anm. 46), Bd. 5, 973. 48 Der Chevalier de Sainctot (1709–1751), bezeichnenderweise einer von nur zwei Inhabern, die ihrem Vater nachgefolgt waren: Louis du Bouchet, Marquis de Sourches, Mémoires du Marquis de Sourches sur le règne de Louis XIV, hrsg. v. Gabriel-Juste, Comte de Cosnac/ Arthur Bertrand/Édouard Pontal. Paris 1882–1892 (Anm. 5), Bd. 12, 120. 49 Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, da das Gros der Inhaber entweder so spät amtierte, dass ihre Söhne erst nach 1789 erwachsen wurden, oder überhaupt kinder- bzw. söhnelos waren. Der einzige klare Aufstiegsfall, an dessen Ende ein Enkel des introducteur Baron de Breteuil (1698–1715) relativ hochadeliger Schwertadeliger und 1783 auch Minister wurde, war nur in Teilen der Hofintegration und vornehmen Heirat des Großvaters geschuldet und resultierte mindestens genauso aus der konventionellen robeKarriere des Großvatersbruders, dessen Sohn als Kriegsminister dem Cousin einen überdurchschnittlich guten Einstieg in den Schwertadel ermöglichte. Auch der besagte erfolgreiche Enkel blieb noch durch seine Abstammung und den Familiennamen Le Tonnelier (Böttcher) behindert und soll im Gespräch mit einem Offizier aus altem Schwertadel gesagt haben: »Ah! si j’avais eu votre nom! … moi, qui ne suis qu’un pied-plat.« (SébastienRoch Nicolas dit Chamfort, Produits de la civilisation perfectionnée. Maximes et pensées, caractères et anecdotes, hrsg. v. Geneviève Renaux. Paris 1970, 196 f.). Der beim Tod des Vaters erst vierjährige Sohn des jüngeren Bonneuil (1674–1698) ging in die robe zurück und wurde conseiller im Parlament von Paris, wo sein Sohn später auch Präsident wurde. 50 Nach 1725 starb kein introducteur des ambassadeurs mehr im Amt; die durchschnittliche Amtszeit betrug – unter Ausklammerung der beiden 1792 von der Revolution beendeten Amtszeiten – für die zwischen 1700 und 1788 Amtierenden nur 12,8 Jahre (zum Vergleich: premiers gentilshommes de la chambre derselben Zeit amtierten wiederum unter Ausklammerung der jeweils letzten Inhaber im Durchschnitt 31,3 Jahre lang, obwohl diese Statistik anders als die der introducteurs noch einige sehr jung Verstorbene einschließt). 51 Sourches, Mémoires (wie Anm.  48), Bd.  12, 120 f. Noch vier Jahrzehnte später verhielt sich Sainctot demonstrativ wie ein alter Soldat (Jean-Nicolas, Comte Dufort de Cheverny,­ Mémoires sur le règne de Louis XV et Louis XVI et sur la Révolution, hrsg. v. Robert de Crèvecoeur. Paris 1886, Bd. 1, 61).

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über den Comte de Meslay (1723–1725) sagen konnte: »[I]l aime les chevaux et les équipages et cette charge-là lui vient bien.«52 Sainctots Nachfolger Dufort (1751– 1764), den einzig der Widerstand seiner robe-Verwandten an einer Militärkarriere gehindert hatte, achtete zwar darauf, sich als Kandidat beim Besuch des maßgeblichen Hoffunktionärs in seinem »fort bel appartement, et […] entouré de livres et d’instruments« zu zeigen, erhielt das Amt aber de facto einzig aufgrund familiärer Mikropolitik53 und machte sich erst nach der Ernennung nolens volens wenigstens rudimentär mit Geschichte und Geographie vertraut;54 sein einziger Rivale du Thuit war als Gegenkandidat nicht nur infolge Reichtums und guter Verschwägerungen plausibel gewesen, sondern auch, weil er groß, gutaussehend, begabter Reiter und Tennisspieler war und besser mit Pfeil und Bogen schießen konnte »als ein Wilder«; er scheiterte letztlich nur an seiner (noch) niedrigeren Herkunft. Umgekehrt wurde vom sich bewusst gelehrt gebenden Baron de Breteuil (1698–1715) gerade negativ vermerkt, dass »il faisoit volontiers le capable, quoique respectueux, et on se plaisoit de le tourmenter«, indem man seine Bildung ironisierte.55 Den aus einer wissenschaftsfreudigen Finanziers­ familie stammenden Ex-robin Rémond (1719–1723) beschrieb nicht nur der notorisch snobistische Saint-Simon als »un petit homme fort du commun…, qui, à force de grec et de latin, de belles-lettres et de bel-esprit, s’était fourré où il avoit pu« sowie infolge verwachsener Figur als ein nicht richtig zu Ende gebackenes Gebäckstück;56 auch ein unabhängig überliefertes Spottgedicht attestiert ihm »le vrai corps d’un hareng«, verspottet seine Prätention, zugleich Hofmann und Gelehrter sein zu wollen, und resümiert: »Il passe en science / Socrate et Platon / Cependant il danse / Tout comme un ballon«.57 Unter solchen Umständen verwundert es kaum, wenn auch die professionell eigentlich unverzichtbare Dokumentation der absolvierten Zeremonien oft nur denkbar beiläufig erfolgte. Der bereits erwähnte Ex-Kavallerist Sainctot mag darin ein Extremfall gewesen sein, dass er in 42 Amtsjahren keine Zeile Protokoll geschrieben haben soll.58 Aber auch dort, wo die introducteurs ihrer Amtspflicht nachkamen, vermach52 Mathieu Marais, Journal et mémoires sur la régence et le règne de Louis  XV, 1715–1737, hrsg. v. Mathurin-François-Adolphe de Lescure. Paris 1863–1868, Bd.  3, 69, 174, 316; über sein großes Vermögen, das für ein Amt mit so großen Repräsentationspflichten ebenfalls als wesentliche Voraussetzung angesehen wurde, vgl. Dufort, Mémoires (wie Anm. 51), Bd. 1, 42. 53 Ebd., Bd. 1, 30, 46, 54 f. Der dort genannte Protektor war ein Verwandter Duforts. 54 Jean-Nicolas, Comte Dufort de Cheverny, Mémoires de Dufort de Cheverny. La Cour de Louis  XV, hrsg. v. Jean-Pierre Guicciardi. Paris 1990, 93 [in der älteren Ausgabe gestrichen]. 55 Saint-Simon, Mémoires (wie Anm. 3), Bd. 6, 41. Man beachte, dass das dort angeführte Beispiel sich in einem Ministerhaushalt der noblesse de robe, also nicht einmal bei den ärgsten Bildungsfeinden abgespielt haben soll. 56 Ebd., Bd. 29, 261 f., Bd. 36, 136 (»un biscuit manqué«). Saint-Simon selbst wurde wegen seiner fast zwergenhaften Körpergröße allgemein nur »le petit Duc« genannt. 57 Marais, Journal (wie Anm. 52), Bd. 1, 503. 58 So die Aussage seines Nachfolgers: Dufort, Mémoires (wie Anm. 51), Bd. 1, 61.

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ten sie ihre Aufzeichnungen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nicht etwa den nachfolgenden Experten im Amt, sondern ihren eigenen Nachkommen. Neuernannte introducteurs wurden dadurch auf die oft verweigerte Hilfe des Kollegen oder auf die des ihnen nicht unterstellten einzigen secrétaire à la conduite des ambassadeurs verwiesen, was das Problem jedoch nur verlagerte. Der als Zwölfjähriger zum Nachfolger des Vaters ernannte Sekretär Girault mochte sich in seiner 75-jährigen Amtszeit (1622–1697) zum »lebenden Nachschlagewerk« entwickelt haben:59 Aufgeschrieben hatte anscheinend aber auch er nichts, und so musste der introducteur Breteuil (1698–1715), dem der Kollege ebenso die Hilfe verweigerte wie die Erben des Vorgängers Bonneuil, wieder im Blindflug navigieren: »Dans la plupart de mes fonctions, je chemine en aveugle.«60 Am Ende war es der König selbst, der ihm versicherte, er solle sich bei ihm Auskunft holen, da er ja seit 55 Jahren an allen Staatszeremonien teilgenommen habe – eine Umkehrung des Verhältnisses von Experten und Auftraggeber, die bizarr erscheinen mag, aber hier strukturell zwingend war und sich 1752 mit Ludwig  XV. und Dufort ausdrücklich wiederholte.61 Auch diesem enthielten sowohl der Kollege Verneuil (1743/47–1756) als auch der secrétaire à la conduite La Tournelle (1741– 1761) ihre Papiere vor; gerade letzterer, ein »protocôle ambulant«, bezog seine Kompetenz nicht nur wie viele Inhaber dieses Postens aus vorangegangenem subalternen Ministerialdienst, sondern ironischerweise auch daraus, dass er privat die Zeremonial-Memoiren von Duforts-Amts-Vorvorgänger Sainctot (1691– 1709) erworben hatte.62 Was Dufort rettete, war neben der Hilfe des Königs vor allem der gewissermaßen symmetrische Glücksumstand, dass einer seiner Schulkameraden der Enkel von Verneuils Vor-Vorgänger Bonneuil (1674–1698) war und ihm nunmehr dessen Memoiren überließ; vorsichtshalber schrieb er in der Folge selbst ein kleines Handbuch der relevanten Zeremonialwissenschaft und verschaffte dem Amt einen späten Professionalisierungsschub, indem er dieses bewusst ungedruckt gebliebene Material 1764 zum offenbar ersten Mal in der Geschichte der Charge dem familienfremden Amtsnachfolger und – sogar –

59 Boppe, Introducteurs (wie Anm. 45), 7, 63 (»recueil vivant«). 60 Louis-Nicolas Le Tonnelier, Baron de Breteuil, Mémoires, Bd.  2, 147 f. (Manuskript in 7 Bden., château de Breteuil; Kopie Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 3859–3865), zit. nach: Ders., Lettres d’amour, mémoires de cour 1680–1715, hrsg. v. Évelyne Lever. Paris 2009, 35 f. (auch für das unmittelbar Folgende). 61 Dufort, Mémoires (wie Anm. 51), Bd. 1, 82: »[L]le roi … m’expliquait tout avec une bonté sans égale …:›…et en général, si vous n’avez pas de note de Sainctot, vous pouvez vous adresser à moi‹.« 62 Ebd., Bd. 1, 61–63; über La Tournelle außerdem: Boppe, Introducteurs (wie Anm. 45), 64 f. (ein ex-libris in den Sainctot-Memoiren weist ihn als deren Besitzer aus); État de la France (wie Anm. 12), Bd. 2, 298; Mercure de France, Juni 1741, 1241 f., und zur Frage seiner vorherigen Position als commis aux affaires étrangères: Annuaire de la noblesse 1908, 308. Sein Nachfolger Séqueville (1761–1792) hatte zuvor ebenfalls im Außenministerium gedient.

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dem Kollegen überließ.63 Leider hatte das Amt jedoch einige Zeit zuvor einen in sozialer Hinsicht fatalen Schlag erhalten, der Prestige und Hofintegration dieser Beinahe-Experten viel stärker herabsetzte, als noch so effiziente Amtsführung sie je hätten emporheben können. Im Jahr 1750 hatte Duforts bereits erwähnter Kollege Verneuil beschlossen, das Prestige seiner Familie, indirekt aber damit auch das des Amtes dadurch zu heben, dass er sich um eine höfische Distinktion bewarb, die erst vor kurzem klarer formalisiert und damit wertvoller gemacht worden war  – die sogenannte présentation.64 Sie erfolgte für Männer durch Zulassung zu den Karossen des Königs (d. h. zu seiner Jagd), für Frauen durch eine zeremonielle Vorstellung beim König, war formal eine Hofakkreditierung und stellte als solche für Personen ohne Hofämter zwar keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Vorbedingung relevanter Hofzugehörigkeit dar. Da von den Kandidaten bzw. den Ehemännern der Kandidatinnen seit etwa 1732 genealogische Nachweise für eine dreihundertjährige Zugehörigkeit zum Schwertadel ohne bekannte Nobilitierung verlangt wurden,65 war die présentation vor allem aber auch die offizielle Bestätigung, dass die begünstigte Familie entweder wirklich zum alten Schwertadel gehörte oder (was in Ermangelung einer offiziellen Begründung der Entscheidung oft nicht davon zu unterscheiden war) vom König gnadenhalber so behandelt wurde. Verneuil scheint sich zwar selbst als ausreichend schwertadelig angesehen zu haben, da er, sein Vater und Großvater keine robe- oder Finanzämter innegehabt hatten und letzterer auch Offizier in einer Prinzenleibgarde gewesen war; angesichts der weiter zurückliegenden Vorfahren musste ihm aber klar sein, dass er nur gnadenhalber zugelassen werden konnte. Dabei setzte er offensichtlich nicht nur auf persönliche Gunst und die schwertadelige Geburt seiner Frau, sondern maßgeblich auch darauf, dass ihm die fehlenden Ahnen wegen des in zweiter Generation besessenen Amtes nachgesehen würden, und brachte dementsprechend Belege für die Hofpräsentation der Ehefrauen dreier früherer introducteurs vor.66 In einem System der Experten 63 Dufort, Mémoires (wie Anm. 51), Bd. 1, 62, 273 f., sowie: Ders., Mémoires (wie Anm. 54), 109 [Passage in der älteren Ausgabe gestrichen]. Zur Geschichte früherer Zeremonialmemoiren: Saint-Simon, Mémoires (wie Anm. 3), Bd. 5, 5, Anm. 6, Bd. 6, 37, Anm. 6, sowie für die bis heute in Privatbesitz befindlichen Memoiren Breteuils oben Anm. 60. 64 Zu den Details, zur Vorgeschichte und umfassenderen Relevanzgewichtung dieses Verfahrens: Horowski, Belagerung (wie Anm. 1), 134–140. 65 Zur Rekonstruktion der Zulassungskriterien, die zwischen etwa 1732 und der endgültigen Kodifikation 1759 galten: François Bluche, Les honneurs de la cour. (Les Cahiers nobles 10/11) Paris 1957 (Nachdruck: Paris 1998), 13–15, sowie zur Illustration der vor allem anfangs noch im Fluß befindlichen Maßstäbe ein Fall aus dem Jahre 1736 bei: Horowski, Belagerung (wie Anm. 1), 59, Anm. 68. 66 Zu den Einzelheiten dieser Angelegenheit: Charles-Philippe d’Albert, Duc de Luynes, Mémoires du Duc de Luynes sur la Cour de Louis XV (1735–1758), hrsg. v. Louis Dussieux/Eudore Soulié. Paris 1857–1864, Bd. 10, 229–232, 234, 409; Dufort, Mémoires (wie Anm.  51), Bd.  1, 170 f.; zur Genealogie der Familie Chaspoux de Verneuil: Anselme, Histoire généalogique (wie Anm. 9), Bd. 9/2, 879 f., sowie Saint-Simon, Mémoires (wie

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hätte ihm hierbei seine Rolle als Organisator und Protokollant des Zeremoniells massiv nützen müssen, zumal sie ihm erlaubte, die Präsentation seiner Frau fast ganz geheim vorzubereiten; unter den Bedingungen von Versailles dagegen konnten feindselige Angehörige der Königsentourage dennoch von Verneuils Plan erfahren und seine teilweise nur auf Erinnerungen älterer Amtsträger beruhenden Argumente auch ganz ohne Expertenstatus mit grausamer Effizienz konterkarieren, indem sie den König darauf hinwiesen, dass erstens diese Präzedenzfälle nur die Frauen von Schwertadeligen oder eine zweitklassige Form der Präsentation betroffen hatten, zweitens Verneuil mit Familiennamen nicht Chaspoux, sondern Chassepoux (Flohjäger) heiße,67 drittens seine Mutter eine geborene Bigre (Euphemismusform des Schimpfwortes bougre)  sei und viertens am Herkunftsort der Familie noch ein eng mit Verneuil verwandter Metzger lebe; auch dass Verneuil in zweiter Generation secrétaire du cabinet ayant la plume war und bis vor kurzem als Erbe eines bürgerlichen Gelehrten die Hofzeitung »Gazette de France« besessen hatte, wird eher zu seinen Ungunsten gewirkt haben.68 Der König wich daher bei Mme de Verneuils Hofpräsentation am 15.  März  1750 unangekündigt vom üblichen Zeremoniell ab, verweigerte ihr im letzten Moment den Etikettekuss (salut) und markierte sie damit unmissverständlich als nur zweitklassig Präsentierte. Der Affront ließ Verneuil zu Recht verzweifeln, da er nicht nur große Aufmerksamkeit auf seine unzureichend vornehme Geburt lenkte69 und ihn damit in der Folge um mindestens eine Gelegenheit zum Ausstieg in eine andere Charge brachte.70 Vor allem

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Anm. 3), Bd. 32, 121 f. Bei Bluche, Honneurs (wie Anm. 65), 42, wird die Präsentation zwar fehldatiert, dafür aber das Verdikt des Hofgenealogen reproduziert, demzufolge Verneuils Adel nur 100 Jahre und damit (einschließlich seiner selbst) vier Generationen alt war. Das kodifizierte Reglement von 1759 verschärfte zwar die Geburtsanforderungen noch, sah aber ausdrücklich Ausnahmen für die Inhaber höfischer Chargen vor. Man versteht, warum dem armen Marquis nicht einmal das an sich wohl stumme s der üblicheren Namensform nicht stumm genug war und er sich selbst »Chapou« schrieb (z. B. eine Schuldobligation vom 28. Januar 1759, Paris, Archives Nationales, MC/ET/XXXVI/491). Es unterstreicht die kreative Natur dieser Einwände, wenn Saint-Simon in seinen noch vor diesem Eklat geschriebenen Memoiren nicht nur die genannten Namen ironisiert, sondern dem Vater Verneuils offenbar aus eigener Machtvollkommenheit auch noch den nirgendwo sonst überlieferten Titel »Sieur de Croquefromage« (etwa: Herr von Käseschmatz) attestiert (Saint-Simon, Mémoires [wie Anm. 3], Bd. 32, 122). Zur Äquivalenz von bigre und bougre: Petit Robert, (wie Anm. 7), 183. Der Kabinettssekretärsposten war anders als das bekanntere preußische Homonym eine fast reine Sinekure, infolge seines Titels aber naturgemäß auch nicht gerade ritterlich konnotiert. Neben den bereits zitierten Zeitgenossen: René-Louis de Voyer de Paulmy, Marquis d’Argenson, Journal et mémoires du marquis d’Argenson, hrsg. v. Edmé-Jacques-Benoît Rathery. Paris 1859–1866, Bd. 6, 175; Wenzel Anton, Fürst von Kaunitz-Rietberg, Mémoire sur la cour de France (1752), hrsg. v. Édouard-Marie-Maurice, Vicomte du Dresnay, in: Revue de Paris 11, 1904, 441–454, 827–847, hier 444. Als Verneuil 1754 darum bat, das Amt des maître des cérémonies des Heiliggeistordens zu kaufen, konzedierte man ihm zwar, dass er die geforderten vier Generationen Adel besaß und Anspruch auf einen Trost für den Affront von 1750 hatte, verweigerte aber dennoch

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war nun das introducteurs-Amt unübersehbar mit Inhabern assoziiert, die für die Präsentation nicht vornehm genug waren, und zugleich etabliert, dass es anders als höherrangige Ämter auch nicht geeignet war, diesen Makel zu kompensieren. Verneuils Kollege Dufort mochte sich kühl über das Ungeschick des Rivalen mokieren und weiter an die höhere Qualität der eigenen Abstammung glauben: Als er 1755 heiratete, verzichtete er dennoch ebenso wie alle späteren introducteurs wohlweislich darauf, seine Frau zur Präsentation vorzuschlagen, und demonstrierte damit die Unmöglichkeit vollständiger Hofintegration.71 Verneuil selbst flüchtete sich bereits 1756 in das Amt des Ersten Mundschenks (premier échanson), das zwar außer bei der Gründonnerstags-Fußwaschung und der Krönung keinerlei Funktionen mehr, also auch keine Königsnähe und kaum Gehalt hatte, dafür aber unangreifbar mittelalterlich war; der Nachfolger im statusverminderten Amt als introducteur wurde zu Duforts großem Bedauern ebenso aus ganz neuadeliger Finanziers-Familie gewählt, wie es dann auch mit allen zukünftigen Inhabern geschehen würde.72 Angesichts des eben Beschriebenen wird die Wichtigkeit des letzten hier anzusprechenden Amtes, nämlich das des Hofgenealogen, kaum noch einer langen Herleitung bedürfen. Die genauen Funktionen der beiden GenealogenÄmter (généalogiste des écuries alias: de la maison du Roi und généalogiste des ordres du Roi) wie auch die Inhaber sind in der Literatur ausführlich genug beschrieben worden,73 um es hier bei der Feststellung zu belassen, dass beide Gedie Erlaubnis, da man zuvor den Außenminister Rouillé wegen zu jungen Adels abgewiesen hatte: es hätte Rouillé entehrt, wenn man durch die Ernennung Verneuil betont hätte, dass selbst dieser quasi amtlich anerkannte Parvenu noch vornehmer als Rouillé sei (Luynes, Mémoires [wie Anm. 66], Bd. 13, 439). 71 Dufort, Mémoires (wie Anm. 51), Bd. 1, 170 f.; dort auch als Beschreibung von Verneuils Fehler: »Verneuil avait voulu s’assimiler à la cour, et son origine était trop connue.« 72 Ebd., 189 f. Die Behauptung, der introducteur Tolozan (1773–1792) sei aus altem Adel gewesen (Boppe, Introducteurs [wie Anm. 45], 61), ist irrig; er führte ausweislich Almanach Royal und Gazette de France niemals den ihm bei Boppe gegebenen Titel Marquis und war der Sohn eines durch Ämterkauf geadelten Bankiers mit durchsichtigen Prätentionen (Annuaire de la noblesse 1894, 359 f.; Antoine, Gouvernement [wie Anm. 46], 238). 73 Chantal Grell/Mathieu da Vinha, Les Généalogistes, le roi et la cour en France, XVIIe– XVIIIe siècles, in: Markus Völkel/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Historiographie an europäischen Höfen (16.–18. Jahrhundert). Studien zum Hof als Produktionsort von Geschichtsschreibung und historischer Repräsentation. (ZHF, Beih.  43.) Berlin 2009, 255–274; Benoît de Fauconpret, Les preuves de noblesse au XVIIIe siècle. La réaction aristocratique. 2. Aufl. Paris 2012, 25–29 u. passim; Bluche, Honneurs (wie Anm. 65), v. a. 16–18; Leonhard Horowski, »Diese große Regelhaftigkeit muss Ihnen fremd erscheinen«. Versailles, Straßburg und die Kollision der Adelsproben, in: Elizabeth Harding/Michael Hecht (Hrsg.), Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion  – Initiation  – Repräsentation. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne) Münster 2011, 351–385, hier 357–368. Für die Ordensgenealogen vor 1698: Anselme, Histoire généalogique (wie Anm. 9), Bd. 9, 342–345. Leider nicht zugänglich waren mir: Alain de Grolée-Virville, Les d’Hozier, juges d’armes de France. Paris 1978; sowie: Françoise Pathie, Les généalogistes des ordres du roi au XVIIIe siècle, unpublizierte thèse de l’école de chartes, 1959.

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nealogen die für den höfischen Adel insgesamt vielleicht wichtigste Expertise ausübten, indem sie die Ahnenproben überprüften, die im Laufe des 18. Jahrhunderts für eine immer größer werdende Zahl höfischer und militärischer Ämter und Vergünstigungen verlangt wurden. Gleichzeitig war ihr Expertenstatus stärker ausgeprägt als bei anderen Amtsinhabern, da das Fehlen mediävistischer, juristischer, heraldischer und paläographischer Kenntnisse bei ihrer Arbeit rasch aufgefallen wäre.74 Zwar gab es auch hier – schon infolge der winzigen Zielgruppe und in Ermangelung auch nur eines regulären universitären Geschichtsstudiums – keine förmlich geregelte Ausbildung; aus dem Kontext der Laufbahnen lässt sich aber meistens eine Kombination aus Jurastudium (erkennbar an den gelegentlich mit dem Amt kumulierten robe-Chargen75) und Selbststudium der Genealogie erschließen.76 Letzteres wurde wie in anderen Ämtern durch eine relativ ausgeprägte Dynastizität und also das Heranziehen der Amtsinhaber von Kindesbeinen unterstützt: Das Amt des généalogiste de la maison wurde zwischen 1643 und 1790 über insgesamt fünf Generationen ausnahmslos in der Familie d’Hozier vererbt, das des Ordensgenealogen immerhin noch von 1610 bis 1698 über drei, von 1698 bis 1758 und erneut von 1772 bis 1790 über jeweils zwei Generationen in insgesamt nur drei Familien. Interessanterweise war in Gestalt von Jean-Nicolas Beaujon (1758–1772) der einzige Ordensgenealoge ohne dynastische Nachfolge (freilich auch ohne Söhne oder Neffen) zugleich derjenige, der am erkennbarsten infolge klientelärer Beziehungen und trotz juristischer Vorbildung als relativer Amateur ernannt wurde; selbst er zeigte jedoch ausweislich seiner Aufzeichnungen einen geradezu rührenden Willen zur Fortbildung und scheint die nötige Kompetenz erreicht zu haben,

74 Bernard Chérin konnte eine gefälschte Urkunde 1773 schon durch die Feststellung eliminieren, der Tag vor St. Matthäus sei 1265 ja gar kein Freitag, sondern ein Sonntag ge­ wesen (Gustave Chaix d’Est-Ange, Dictionnaire des familles françaises anciennes ou notables à la fin du XIXe siècle. Évreux 1903–1929, Bd. 16, 38). 75 Unter den Ordensgenealogen findet man einen 1639 ernannten conseiller au parlement und späteren président de la cour des monnoies, dann Beaujons Charge (folgende Anm.) und zuletzt mit dem jüngeren Chérin 1788 einen conseiller à la cour des aides von Paris. In der Familie d’Hozier (cf. deren selbst erstellte Genealogie in: Hozier, Armorial général [wie Anm. 46], Bd. 3, 515–608, 771–777, sowie die biographischen Notizen: ebd., Bd. 7/2, i–viii; und die Fortsetzung in: La Chesnaye-Desbois, Dictionnaire [wie Anm. 46], Bd. 10, 829–832) finden sich – allerdings erst ab 1727 – ein maître des comptes in Paris und zwei sukzessive Präsidenten der chambre des comptes von Rouen (ein vom letzten Hofgenealogen noch 30 Jahre nach dem Untergang der Institution stolz weitergeführter Titel). 76 Z. B. den Lebenslauf des Ordensgenealogen Pierre [de] Clairambault (1698–1740) bei: Philippe Lauer, Catalogue des manuscrits de la collection Clairambault. Bd. 3. Paris 1923– 1932, i–ix. Hier stand am Anfang eine Laufbahn in der Bibliothek erst Colberts, dann des Königs; der Posten [oder wohl eher: Ehrentitel] als premier commis unter dem Colbert-Amtsnachfolger als Hof- und Marineminister Maurepas (dies laut: Louis Moréri, Le grand dictionnaire historique. Paris 1759, Bd. 3, 711) war dagegen in diesem Fall nicht der Ausgangspunkt, sondern erst späte Konsequenz der Genealogenkarriere.

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als er das Amt aufgeben musste.77 Sein Nachfolger Bernard Chérin (1772–1785) ging als erster (und einziger) Inhaber aus einer Art von amtsinternen cursus­ honorum hervor,78 was freilich nichts daran änderte, dass das Amt nach seinem Tod dem erst 23-jährigen Sohn übergeben und nur für zwei Jahre ad interim in die Hände eines Subalternbeamten gelegt wurde. An die Seite dieser familiären Kontinuität trat aber von Anfang an auch eine ungewöhnliche institutionelle Kontinuität der Dokumentation, da die Inhaber beider Chargen nicht nur über Generationen hinweg Manuskripte, Urkunden und Bücher sammelten, sondern diese auch zum größeren Teil an die königliche Bibliothek verkauften, wo dadurch ab 1711/17 mit dem sogenannten cabinet des titres ein Arbeitsinstrument entstand, das auch familienfremden Nachfolgern die Amtsausübung enorm erleichtern würde – ein Professionalisierungsgrad, den die introducteurs bekanntlich erst 1764 in unendlich viel bescheidenerem Maße erreichten. Somit war wenig überraschend, dass die solcherart professionalisierten Genealogen im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend die bei den königlichen Orden zur Überprüfung der Adelsproben eingesetzten altadeligen Kommissare auf eine rein ornamentale Rolle zurückdrängen konnten und mit der Expansion genealogischer »Tests« im 18. Jahrhundert ihr Tätigkeitsfeld immer weiter auszudehnen vermochten. Dennoch oder in gewisser Weise gerade deswegen blieb auch diese Expertenfigur bei Hof letztlich wieder marginal und subaltern. Das Problem ihrer Stellung lag noch nicht einmal so sehr darin, dass in allen Fragen der genealogiebasierten Ressourcenzuteilung die letzte Entscheidung beim König verblieb und 77 Zur Kompetenz das aus großer Sachkenntnis geschöpfte Urteil bei: Bluche, Honneurs (wie Anm.  65), 17 (inkl. Zitat einer zerknirschten rückblickenden Notiz Beaujons von 1766). Beaujon war vorher seit 1750 avocat général der cour des aides von Bordeaux gewesen, was ein Jurastudium voraussetzt, verdankte seine Ernennung (auch zum königlichen Zensor!) aber sicher dem weitaus einflussreicheren Bruder, einem für den Staat wichtigen Finanzier und späteren Hofbankier, der 1753 in die auf subalterner Ebene sehr einflussreiche Oberkammerdienerfamilie Bontemps eingeheiratet hatte (Christine Favre-Lejeune, Les secrétaires du roi de la grande chancellerie de France. Dictionnaire biographique et généalogique (1672–1789). Bd. 1. Paris 1986, 181 [allerdings ist das Todesdatum in 1791 zu korrigieren]; Silvia Marzagalli, De Grateloup à l’Élysée, en passant par Bordeaux: ascension sociale et mobilité de la famille Beaujon au XVIIe–XVIIIe siècle, in: Dies./Hubert Bonin (Hrsg.), Négoce, ports et océans, XVIe–XX e siècles: mélanges offerts à Paul Butel. Bordeaux 2000, 15–26; André Masson, Un mécène bordelais. Nicolas Beaujon, 1718–1786. Bordeaux 1937). 78 Er hatte bereits seit 1742 unter Beaujons Vorgänger im cabinet des titres gearbeitet, dann ab 1769 Beaujon fallweise bei Erstellung der Gutachten vertreten (Louis Lainé, Dictionnaire véridique des origines des maisons nobles ou anoblies du royaume de France. Bd. 1. Paris 1818–1819, 180; sowie: Bluche, Honneurs [wie Anm. 65], 17) und 1770 das Amt des historiographe des ordres du roi erhalten, das 1758 geschaffen worden, bis dahin aber offenbar eine Sinekure gewesen war (der Vorgänger war ein Kavallerieoffizier gewesen, der in 12 Jahren nicht einmal den Amtseid abgelegt hatte: Charles-Fort [?] Vicomte de­ Gabrielly, La France chevaleresque et chapitrale. 2. Aufl. Paris 1787, 105). Erst 1774 wurde Chérin auch geadelt.

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immer auch entgegen dem Evaluations-Memorandum des Genealogen ausfallen konnte. Darin wird man noch höchstens einen graduellen Unterschied gegenüber der Position moderner Experten sehen müssen, zumal es auch nichts daran änderte, dass sie in nahezu jedem Fall eine archivierte Evaluation abgaben79 und dass oft auch mächtige Hofakteure sie darin zu beeinflussen suchten.80 Derartiger Einfluss wog unzweifelhaft in vielen Fällen schwerer als die professionelle Verpflichtung zur Enttarnung unhaltbarer genealogischer Prätentionen. Wie sehr man darin allerdings schon ein Abweichen vom Modell des modernen Experten sehen will, dürfte davon abhängen, wie idealistisch man dieses Modell auffasst. An ihre eigene Gesellschaft und erst recht die höfische Umgebung waren die Genealogen dagegen gerade durch eine diplomatische Mikropolitik formal verbotener Zugeständnisse bestens angepasst, und ihr Problem war eher, dass sie insofern aus der Hofgesellschaft hinausfielen, als ihr soziales Kapital so ungewöhnlich stark von der Fassade professioneller Unbeeinflussbarkeit abhing. Wenn andere Höflinge sich gelegentlich bei Aufsteigern von niedriger Geburt einschmeichelten, so mochte dies eine Peinlichkeit sein, der Subalterne häufiger, Grandseigneurs in geringerem Umfang ausgesetzt waren, die sich aber jedenfalls durch andere Distinktionen kompensieren und notfalls selbstironisch abtun ließ. Ungleich schwerer war dies für jemanden, dessen einzige höfische Daseinsberechtigung die Diagnose unpassender Herkunft war und der genau deswegen validationsbedürftige Parvenüs stärker anzog als irgendein anderer Akteur. Die weitgehend expertisefreien und zugleich aus ihrer Geburt heraus gerechtfertigten Oberchargen hätte man durch Verweise auf Inkompetenz nie ernstlich beschädigen können; die Hofgenealogen dagegen sollten praktisch ohne soziales oder machtpolitisches Eigenkapital im Alleingang die soziale Ordnung einfrieren, scheiterten daran zwangsläufig und fanden sich so regelmäßig als Gegenstand von Satiren wieder, in denen ihnen beispielsweise 1665 Boileau nachsagte, dass die d’Hoziers jedem aufgestiegenen Lakaien (also dem gleichermaßen omnipräsenten wie unrealistischen Schreckgespenst der Adelsgesellschaft) gerne und schnell »hundert Ahnen in der Geschichte« beschaffen würden.81 Wenn die Angegriffenen sich später vom selben Autor ein lobhudelndes Gegengedicht schreiben ließen und dieses dann nicht ohne Sturheit immer wieder in die ohnehin schon hypertrophe eigene Familiengeschichte einbauten, änderte das – ebenso wenig wie ihre Stilisierung des Spitzenahnen 79 Es musste schon ein so außergewöhnlicher Fall wie 1769 der der neuen Königsmätresse Madame du Barry und ihres für die Präsentation der Frau zu neuadeligen Schein-Ehemannes auftreten, damit die Expertise des Genealogen weder angefragt noch von ihm selbst, der nicht lügen wollte, verschriftlicht wurde (Bluche, Honneurs [wie Anm. 65], 47). 80 So schrieb etwa Außenminister Vergennes 1786 dem Ordensgenealogen Berthier anlässlich eines problematischen Präsentationsfalles: »Madame de Montécot inspire trop d’intérêt par elle-même pour que je ne vous recommande pas, Monsieur, de lui donner les facilités compatibles avec la rigueur de vos fonctions.« (Ebd.; zum Kontext: Horowski, Große Regelhaftigkeit [wie Anm. 73], 365 f., Anm. 56). 81 Nicolas Boileau-Despréaux, Oeuvres, hrsg. v. Jean-Augustin Amar. Bd. 1. Paris 1821, 116.

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Pierre d’Hozier (généalogiste de la maison 1643–1660) zum großen Gelehrten82 – nichts daran, dass es für gekränkte Adelsfamilien leicht blieb, die Aktivität der Geburts-Gutachter als unredlich anzugreifen, ihnen gegebenenfalls die Publikation altadeliger Genealogien vom König verbieten83 und ihre Gutachten ausnahmsweise sogar gerichtlich für unrichtig erklären zu lassen.84 Den durch ihr Amt beim König geschützten Hofgenealogen erwuchs daraus zwar ungleich weniger Schaden als ihren in frühere Statuskämpfe hochadeliger Häuser verwickelten »privaten« Kollegen;85 die Kritik offenbarte jedoch das tiefergreifende Legitimationsproblem der Experten auf diesem Feld. Nicht nur die Praxis des Nachweises mittelalterlicher Abstammungen sprach ja für die Heranziehung von Gelehrten  – und damit aus altadeliger Perspektive: von Außenseitern. Auch mit Blick auf die ständige und rabiate Statuskonkurrenz innerhalb des Adels gab es gute Gründe, zur Evaluation ständischer Qualitäten Außenseiter heranzuziehen, und diese Logik dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass im Frankreich des 17.  Jahrhunderts ein System der Adelsvalidation entstand, in dem die Evaluation in der Hand fast noch bürgerlicher Genealogen, die demonstrativ davon ganz getrennte und bewusst nie rechenschaftspflichtige Entscheidung aber in der Verantwortung des Monarchen lag – eine Arbeitsteilung, in der beide Seiten abwechselnd good cop und bad cop 82 Hozier, Armorial général (wie Anm. 46), Bd. 3, 536, Bd. 7, viii (für das Gegengedicht), Bd. 3, 529–545, für die Darstellung der wissenschaftlichen Brillanz und Anerkennung des ›großen‹ Hozier; der ihm gewidmete Personenartikel ist länger als irgendein anderer im Gesamtwerk, obwohl die Mehrzahl der sonst behandelten Familien bekanntlich von altem Schwertadel war oder dies zu belegen suchte. Ein den d’Hoziers wohlgesonnener Rezensent konnte Boileaus Spottvers durch Weglassen der Hälfte sogar zum Lob einer freundlichen Dienstleistung für den alten Adel ummünzen (Journal des sçavans 1753, 11). 83 So 1740 auf Wunsch des Duc de Châtillon, der seine Genealogie nicht von d’Hozier behandelt sehen wollte: Louis-Pierre d’Hozier, Lettres inédites de L. P. d’Hozier et de J. du Castre d’Auvigny, hrsg. v. Jules Silhol. Paris 1869, 60–63. Die phonetische Orthographie des Herzogs illustriert, wie wenig in dieser Hinsicht auch vom obersten Erzieher des Kronprinzen erwartet wurde. 84 So 1780 im Falle des Marquis de Créquy: Lainé, Dictionnaire (wie Anm.  78), Bd.  1, xl–xliii. Von Créquys für seine Zeit repräsentativer Kritik zu trennen ist die Polemik des Herausgebers, der 1818 seinen scheinadeligen Lehrmeister und dessen Projekt eines Adelshandbuches polemisch rechtfertigen musste, welches unter bewusster Ausschaltung kritischer Gelehrte nur auf den so ungleich vertrauenswürdigeren Selbstaussagen der betroffenen Familien beruhte. Ein Beispiel für die im Adel wohl verbreitetste Einstellung gegenüber den Hofgenealogen ist dagegen eine 1785 gemachte Aussage über den eben verstorbenen Ordensgenealogen Chérin, »dont, comme de tous ses pareils, on a dit du mal et du bien.« (Bombelles, Journal [wie Anm. 43], Bd. 2, 60). 85 Für das prominenteste Beispiel: Martin Wrede, Ohne Furcht und Tadel für König und Vaterland. Frühneuzeitlicher Hochadel zwischen Familienehre, Ritterideal und Fürstendienst. (Francia, Beih. 75.) Ostfildern 2012, v. a. 103–105. Immerhin wurde jedoch auch in diesem Fall 1701 anlässlich der Verhaftung genealogischer Fälscher in einem Spottlied sofort die Panik des Hofgenealogen d’Hozier imaginiert, der logischerweise als nächstes dran sein müsse (BN, Ms. fr. 12625, fol. 37; ebd., Ms. fr. 12621, fol. 277 f.).

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waren und so die Rigidität des Reinheitsideals mit der Notwendigkeit flexibler Bevorzugungen noch am ehesten vereinbaren konnten. Angesichts der Legitimitäts- und Macht-Asymmetrie zwischen König und Genealogen war freilich auch von Anfang an klar, wem hierbei die Rolle des Sündenbocks zufallen musste. Das fundamentale Problem der Genealogieexperten war ein ganz simples: Kohärent funktionieren konnte ein solches System nur unter der Bedingung, dass die Genealogen auch Außenseiter blieben. Tatsächlich lässt sich im Laufe des 17.  Jahrhunderts beobachten, wie sich (zweifellos auch im Einklang mit der allgemeinen Verhärtung vieler inneradeliger Abgrenzungen) das Sozialprofil der Inhaber beider Genealogenposten sukzessive immer deutlicher am untersten Rande des Adels verfestigte. Das 1595 geschaffene Amt des Ordensgenealogen war zwar von Anfang an relativ neuadeligen Personen verliehen worden, dann aber ab 1610 über drei Generationen in der Familie Cotignon de Chauvry geblieben, die zuerst in gute robe-Chargen aufstiegen und dann wie ihre Vorgänger in den Schwertadel einheirateten. Genau dieser gehobene Status erschien jedoch dem letzten Chauvry anscheinend inkompatibel mit der Genealogen-Charge, die er daher 1698 verkaufte86 – bezeichnenderweise für bloß etwa ein Zwanzigstel des für die großen Hofämter üblichen Kaufpreises.87 Sein Nachfolger Pierre Clairambault (1698–1740) war seit gerade einmal drei Jahren adelig; auf Clairambaults Neffen folgten 1758 und 1772 sogar Bürgerliche, die jeweils erst nach einigen Jahren im Amt geadelt wurden.88 86 Zum Status: Anselme, Histoire généalogique (wie Anm. 9), Bd. 9, 343 f. Chauvrys Motiv ist in Ermangelung genauerer Quellen nur zu erraten; er war seit 1677 survivancier, trat das Amt aber erst mit dem Tod des Vaters 1692 an. Der Wunsch, ein anderes Amt zu erwerben, spielte offenbar keine Rolle, da er nicht wieder als Amtsträger auftritt. Dass Chauvry keinen Sohn haben würde, konnte er 1698 noch nicht wissen, da er erst seit drei Jahren verheiratet war – mit einer schwertadeligen Cousine 3. Grades des Prinzen von Condé! (Detlev Schwennicke, Europäische Stammtafeln. Neue Folge. Bd.  10. Marburg/ Frankfurt a. M. 1978–2013, 54, 63 f.). Da auch die Tochter später einen distinguierten Schwertadeligen heiratete (Charles Loizeau de Grandmaison, Inventaire-sommaire des archives départementales antérieures à 1790: Indre-et-Loire, Bd. 1/2. Tours 1878, 21; Pinard, Chronologie [wie Anm. 35], Bd. 5, 96) und also eine akzeptable Mitgift gehabt haben muss, scheidet Verarmung als Verkaufsmotiv ebenfalls aus, zumal die Charge einen geringen Verkaufserlös erbrachte (folgende Anm.) und ihre Ausübung anders als die der introducteurs keine Kosten verursachte. 87 Der Kaufpreis betrug 32.000 livres; der Vater des Inhabers hatte bereits 10 Jahre zuvor über einen Verkauf an den Genealogenkollegen d’Hozier verhandelt, dem allerdings die geforderten 60.000 livres zu viel waren (BN Clairambault 1224 fol. 12). Zum Vergleich: die beiden Ämter als introducteur des ambassadeurs wurden 1691 bzw. 1698 für 246.000 bzw. 120.000 livres verkauft (Philippe de Courcillon, Marquis de Dangeau, Journal, hrsg. v.­ Eudore Soulié u. a. Bd. 6. Paris 1854–1860, 464). Die Hofchargen der obersten Ebene kosteten in der Regel zwischen 400.000 und 800.000 livres; für das Amt des Oberstallmeisters, also des Vorgesetzten der d’Hoziers, wurde vom König 1717 sogar ein Chargenwert von einer Million livres festgelegt (Saint-Simon, Mémoires [wie Anm. 3], Bd. 31, 186). 88 Zu den Clairambaults: Chaix d’Est-Ange, Dictionnaire (wie Anm. 74), Bd. 11, 77 f. Stichdatum des Adels war der Tod von Clairambaults Vater im Amt eines secrétaire du roi

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Im Vergleich damit war nun zwar der Status der permanent im anderen Genealogenamt verankerten Familie d’Hozier eindeutig besser, da ihr erster Vertreter im Amt zwar wohl nicht den von seinen Nachkommen später beanspruchten mehrere Generationen alten Adel besessen zu haben scheint, zumindest aber den im frühen 17. Jahrhundert gerade noch möglichen »stillschweigenden« Einstieg in den Adel (anoblissement tacite) erfolgreich absolviert hatte, bevor er das für ihn neugeschaffene – und also nicht durch niederrangige Vorgänger kompromittierte – Genealogenamt annahm.89 Zwei Generationen lang blieben hier die Inhaber wohl bewusst außerhalb der robe, bevor Louis-Pierre d’Hozier (1710/32–1767) 1727 die Amtsgeschäfte übernahm und gleichzeitig maître en la chambre des comptes von Paris wurde. Die von den d’Hoziers seriell ausgestellten Adels-Zertifikate erlauben es, ihre in der Selbst-Intitulation ausgedrückte eigene Einschätzung des Genealogenamts und vor allem deren Wandel über 145 Jahre genau zu analysieren.90 Man sieht hier zum einen, wie Louis-Pierre d’Hozier (1695). Die Wahnidee der Abstammung von einer namensähnlichen ritterbürtigen Familie (Nicolas Viton de Saint-Allais, Nobiliaire universel de France. Bd. 8. Paris 1872–1878, 410–412) entwickelte erst der Neffe des letzten Genealogen, nachdem auch hier sozialer Aufstieg – der allerdings mindestens auch den Verwaltungsämtern der GenealogenBrüder geschuldet war – erstens zum Ausstieg aus der Genealogencharge und zweitens in dasselbe Niemandsland zwischen robe und epée geführt hatte, in dem auch die freilich reicheren introducteurs oder die Ex-Genealogen Cotignon de Chauvry landeten. Zur Nobilitierung der Nachfolger 1763 bzw. 1774 vgl. Marzagalli, De Grateloup à l’Élysée (wie Anm. 77), 21, Anm. 31; Lainé, Dictionnaire (wie Anm. 78), Bd. 1, 181. 89 Siehe dazu die in Anm.  75 zitierte Genealogie im von der Familie selbst publizierten Werk. Sie stützt sich auf eine erschlagende Masse abgedruckter Quellenbelege, die jedoch angesichts vager Begrifflichkeiten und Zustände im 16. Jahrhundert selbst dann keinen alten Adel belegen, wenn man den dazu einzigartig befähigten Experten hier keine interessegeleitete Schönung unterstellen will (ein für den kurzen Militärdienst Pierre d’Hoziers maßgebliches Stück wird z. B. als Kopie einer Kopie zitiert). Die Genealogie zitiert eine große Zahl von Adelsproben, bei denen spätere d’Hoziers wiederholt den von Pagen oder Stallmeistern verlangten Adel ab 1550 nachgewiesen hätten, verschweigt aber, dass diese Posten ihnen mindestens einmal (1757) allein gnadenhalber und trotz nicht erfüllter Geburtskriterien gewährt wurde – ein Faktum, das zeitgenössische Nachschlagewerke großzügig nachtrugen (Moréri, Grand dictionnaire (wie Anm. 76), Bd. 6, 109). Zur Neuschaffung des Amtes als généalogiste des écuries bzw. de la maison: Hozier, Armorial général (wie Anm. 46), Bd. 3, 576 f. 90 Die chronologische Serie der Atteste für Pagen der grande und petite écurie und Schülerinnen des königlichen Pensionats von Saint-Cyr in: BN, Ms. fr. 32100–32136. Diese wie auch die anderen hier zitierten Bände der Serie Manuscrits français sind auf Gallica digitalisiert zugänglich. Die Reihung (bzw. das selektive Weglassen) multipler Titel war auch deswegen eine individuelle Aussage über das ihnen zugeschriebenen Gewicht, weil das französische Ancien Régime zwar extrem hierarchisch dachte, unterhalb der allerobersten Ränge und Ämter aber keine fixierte Rangordnung vom mittel- und osteuropäischen Typ kannte, die diese Reihenfolge automatisert hätte. Lediglich der stereotyp praktisch allen königlichen Amtsträgern gegebene Titel »conseiller du roi en ses conseils« wurde ungeachtet seiner Rangirrelevanz fast immer ganz nach vorne gestellt und ist daher aus der Analyse auszuklammern.

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zuerst nicht nur dem Michaels-Orden und dem erwähnten robe-Amt, sondern etwa ein Jahr lang sogar noch einer daran hängenden ganz kleinen Rolle in der Pariser Kommunalverwaltung Vorrang vor seinem Genealogenamt gab. Während jedoch der Kollege Chérin diese Perspektive noch 1789 einnahm,91 ließ d’Hozier ab 1760/61 das  – wohlgemerkt beibehaltene  – robe-Amt aus seinem Titel gänzlich weg und machte aus dem Titel als Michaels-Ritter einen unspezifischen chevalier, wie ihn der höhere Adel und große Würdenträger vor dem eigentlichen Titel zu tragen pflegten. Vor allem aber eliminierte er bei dieser Gelegenheit auch seinen Titel als Genealoge völlig, obwohl er das Amt bis zum Tod ausübte und auch die Zertifikate ja einzig in dieser Funktion ausstellte – ein Paradox, welches er zwar durch den offenbar selbsterfundenen Titel commissaire pour les preuves löste,92 das aber illustriert, wie kompromittierend diese Berufsbezeichnung empfunden worden sein muss. Dies wird noch deutlicher, wenn man sieht, welchen Alternativtitel d’Hozier nicht nur bereits seit 1728 allen anderen vorangestellt hatte, sondern auch ausnahmslos benutzte, wenn er in Publikationen in der dritten Person über den Adel dozierte: Er nannte sich nunmehr an erster Stelle juge (anfangs auch: juge général) d’armes de France und rüstete das dann bald dauerhaft zum juge d’armes de la noblesse de France auf. Dieses Wappenrichter-Amt war zwar seit 1641 im Besitz der Familie, hatte aber in seiner Beschränkung auf die Heraldik ungleich weniger wichtige Funktionen als das des généalogiste des écuries und war auch deswegen von den bisherigen Besitzern stets an letzter Stelle ihres Titels aufgeführt worden.93 Wenn Louis-Pierre d’Hozier es nun ab 1728 zur definierenden Hauptcharge aufwertete, so konnte dies daher einzig jenem Statusvorteil geschuldet sein, der sich mit diesem Amt verband, weil es nicht nur älter war als das Genealogenamt, sondern 1615 auch 91 Z. B. sein Attest von 1789 in: BN Ms Clairambault 939 fol. 97, in dem er das 1788 erworbene Amt als conseiller en la cour des aides von Paris dem Genealogistenamt voranstellt. 92 Der Wechsel erfolgte bei den Attesten für die petite écurie am 28. Juli 1760 (BN Ms. fr. 32117 fol. 88), bei denen Saint-Cyr am 29. Mai 1761 (BN Ms. fr. 32135 fol. 109), nachdem in beiden Fällen schon vorher einige Jahre lang (seit 1753 bzw. 1759) der Genealogentitel als einziger hinter der Abkürzung »&c.« verschwunden war. Obwohl die Atteste immer von denselben Sekretärshänden stammen, erfolgte ein identischer Wechsel bei den Attesten der grande écurie bereits am 3. Januar 1753 (BN Ms. fr. 32108 fol. 31) – vielleicht, weil hier der Vorgesetzte ein anderer war und den neuen Titel früher akzeptierte? Jedenfalls zeigen die Streichungen im unmittelbar vorangehenden Attest (ebd., fol. 29), dass diese Veränderungen ausdrücklich bewusst erfolgten und also mit einer Absicht verbunden waren. 93 Der Vorgänger Louis-Pierres hielt es so noch im 1727 ausgestellten letzten seiner Atteste (BN Ms. fr. 32104 fol. 77v.). Louis-Pierre folgte diesem Beispiel zuerst, zog den Titel als juge d’armes dann jedoch erstmalig am 17. August 1728 nach vorne (BN Ms. fr. 32128 fol. 8), wobei er nach nur dreimonatiger Übergangsfrist bis zum Tode blieb. Bei seinem Tod gab ihm auch der Mercure de France (décembre 1767, 243), seinen Wunschtitel und ließ auch dieselben Titel weg wie er selbst in den Attesten, obwohl er das Amt in der chambre des comptes bis zuletzt besessen hatte (Almanach Royal 1766, 226); dieselbe Zeitschrift hatte d’Hozier zuvor (août  1754, 205) noch »juge d’armes et grand généalogiste de France« genannt.

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auf ausdrücklichen Wunsch des Adels eingerichtet und zuerst in Einklang mit dessen Bitte einem in zwölfter Generation adeligen Inhaber verliehen worden war – eine Tatsache, die von nun an in allen Publikationen der d’Hoziers massiv hervorgehoben wurde.94 Das ab 1738 von Louis-Pierre herausgegebene »Armorial général de la France« wurde so mit Vorwort, gigantischer Genealogie der eigenen Familie und nicht zuletzt der am Ende jedes Familienartikels als Faksimile abgedruckten Unterschrift des Wappenrichters auch ein Projekt zur ritterlich-autoritativen Neupositionierung der Familie, zu dem das Weglassen der robe-Titel, ja sogar des zu bescheidenen Michaels-Ordens wie auch des Genealogen-Amts ebenso passt wie die Annahme des tendenziell hochadeligen Prädikats chevalier. Dieser Titulaturwandel blieb den Zeitgenossen nicht unbemerkt und gab zu Spott Anlass,95 wurde aber von allen drei familiären Amtsnachfolgern bis zum Ende ihres Amts 1790 selbst überall da beibehalten, wo es technisch fast unmöglich hätte sein sollen, den Genealogentitel wegzulassen.96 Wenn so gerade die von Zeitgenossen archetypisch mit dem GenealogenAmt identifizierte Familie im Laufe des 18.  Jahrhunderts mit immer stärkeren Verrenkungen versuchte, nicht mehr als Genealogen wahrgenommen zu werden, und sich stattdessen bemühte, sich als altadelige Richter aus dem Inneren des Adels zu positionieren, so illustriert das eindrucksvoll, wie sehr die förmliche Assoziation mit gelehrter Expertise zumindest von all jenen als statusmindernd gefürchtet werden musste, die ihre soziale Rolle tatsächlich in erster Linie der Ausübung solcher Expertise verdankten und sich nicht hinter 94 Z. B. in der eigenen Genealogie: Hozier, Armorial général (wie Anm. 46), Bd. 3, 527–529, 574 f., aber auch in der oben (Anm. 82) zitierten Rezension und in allen späteren Nachschlagewerken, welche die Familie behandelten. Zum Adel des Vorgängers: La ChesnayeDesbois, Dictionnaire (wie Anm. 46), Bd. 5, 599. 95 Vgl. die bei: Lainé, Dictionnaire (wie Anm. 78), Bd. 1, ix–xiii, zitierte Kritik am 1738 erschienen Band des »Armorial général« und der Intitulation als Wappenrichter. Ihr Autor kann allerdings nicht der dort angegebene Abbé d’Estrées sein, da der letzte Träger dieses Titels 1718 starb. 96 Vgl. für den Titelgebrauch des jüngeren Sohnes Hozier de Sérigny, der bereits seit 1734 survivancier als juge d’armes war, die Serie seiner Atteste für die königlichen Militärschulen in: BN Ms. fr. 32060–32099 (1753–1790); er führte von Anfang an den Titel chevalier zwischen Familiennamen und Titel, obwohl er anders als sein Vater ja zuerst (bis 1762) keinem Ritterorden angehörte. Sein Bruder, der seit 1751 Präsident an der cour des aides von Rouen war, ließ zwar diesen hochrangigen robe-Titel nicht weg und nannte sich auch nicht chevalier, schaffte es aber dafür, sich im Amt immer nur juge d’armes zu nennen, obwohl er seit 1734 survivancier des Vaters gerade nicht als solcher, sondern als généalogiste de la maison war und also 1767 alleiniger Inhaber wurde. Das genaue Arrangement der nach 1767 vorgenommenen Amtsteilung zwischen den Brüdern läßt sich ohne Archivrecherchen nicht rekonstruieren und mag eine survivance als juge d’armes für den Präsidenten eingeschlossen haben, damit er auch – und eben nur! – diesen Titel führen dürfte (Almanach de Versailles 1773–1789, jeweils im Kapitel grande écurie sowie Atteste des Präsidenten in: Louis de Ribier, Preuves des noblesse des pages auvergnats­ admis dans les écuries du roi 1667–1792. Paris 1909, 17 f.; sowie: Revue d’Aquitaine et du Languedoc 5, 1861, 540).

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höherem Rang oder generalistischen Ämtern verstecken konnten (die im älteren Sinne des Wortes dilettantische Beschäftigung mit Wissenschaften und Künsten war nie ein Problem). Die Stärke dieses Vorurteils erweist sich dagegen nicht zuletzt daran, dass das Projekt der d’Hoziers ihnen zwar beim Erwerb einer Reihe symbolischer Ressourcen97 geholfen haben dürfte, an ihrer grundsätzlichen Außenseiterposition jedoch nichts änderte. Bis zuletzt gelangen ihnen, die ihr Amt hauptsächlich von Paris aus und per Korrespondenz ausgeübt zu haben scheinen, weder Heiratsverbindungen mit Familien des Hofadels noch eine irgendwie geartete Integration in die Soziabilität auch nur der »zweiten Gesellschaft« von Paris und Versailles.98 Ihre Position war zwar etablierter als die des nur durch sein Talent definierten Ex-Uhrmachers Beaumarchais, den ein böswilliger Edelmann angeblich auf dem Höhepunkt seines gesellschaftlichen Erfolgs um Reparatur seiner Taschenuhr bat, die Beaumarchais dann mit den Worten: »je suis devenu très maladroit« demonstrativ habe fallen lassen;99 97 So die Aufnahme ihrer Töchter in das Pensionat Saint-Cyr, die Ernennung eines Sohnes zum Pagen, die Verleihung eines savoyischen Ritterordens an d’Hozier de Sérigny und seinen jüngeren Bruder sowie vor allem die Laufbahn dieses jüngeren Bruders chevalier d’Hozier, der anders als seine Brüder nicht durch Ausübung des Genealogenamts kompromittiert wurde, als Kammerherr beim Vater der Königin, königlicher écuyer de main, Ehrenrichter des Marschallstribunals und kurpfälzischer Kammerherr mit Ahnenprobe (La Chesnaye-Desbois, Dictionnaire [wie Anm. 46], Bd. 10, 830). Wenn mit dieser geradezu aufgesetzten Ritterlichkeit nur ein im Alter von 15 Jahren schon wieder beendeter Militärdienst einherging, so kompensierte der Chevalier dies nach der Revolution dadurch, dass er ein auf Relegitimation des Adels abzielendes monumentales Verzeichnis aller jemals im Krieg gefallenen französischen Adeligen verfasste und Napoleon zusandte. 98 Zu den Ehen der Söhne und Töchter mit Angehörigen vgl. die zitierten Genealogien. Ansonsten ist ein Negativum naturgemäß schwer zu belegen; die d’Hoziers hatten jedoch weder im Schloss von Versailles noch in dessen Nebengebäuden ein Appartement (vgl. die diversen Publikationen von William R. Newton); wie ihre Kollegen aus dem Ordensgenealogen-Amt werden sie in den akribischen höfischen Diarien oder Memoiren der Zeit (etwa Sourches, Dangeau, Saint-Simon, Luynes, Croy, du Deffand-Walpole, Bombelles etc.) praktisch nie und wenn, dann nur ganz beiläufig erwähnt. Selbst in den Memoiren Duforts ist nirgends von ihnen die Rede, obwohl dieser ein kaum übertreffbares Panorama der zweiten Gesellschaft von Versailles und Paris zeichnet und obwohl z. B. der mit ihm zeitgleiche Ordensgenealoge Beaujon der Schwager eines Jugendfreundes von Dufort war (Dufort, Mémoires (wie Anm. 51), Bd. 1, 35, Anm. 2; La Chesnaye-­ Desbois, Dictionnaire (wie Anm. 46), Bd. 3, 521). Auch die Beibehaltung des bloßen Namens »sieur« oder maximal »président d’Hozier« und der Verzicht auf die damals auch ohne staatliche Intervention annehmbaren Titel comte, marquis etc. ist aufschlussreich. 99 Louis de Loménie, Beaumarchais et son temps. Études sur la société en France au XVIIIe siècle. Bd. 1. 2. Aufl. Paris 1858, 97 f., 82 f.; darüber, wie ein Amt als horloger du roi (de facto eher ein Hoflieferant) ihm tatsächlich zum Einstieg in die unteren Ebenen der Hofverwaltung diente. Die Anekdote ist zwar nicht sicher zu verifizieren, kursierte aber immerhin schon unter Zeitgenossen (z. B. Nouveau dictionnaire d’anecdotes, ou l’art de se désennuyer, 2. Aufl., Bd. 2 Lüttich 1786, 212) und könnte so selbst als Fiktion noch die Selbstverständlichkeit belegen, mit der eine handwerklich-technische Vergangenheit als gesellschaftlich kompromittierend angesehen wurde.

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strukturell waren sie doch in derselben Lage gefangen wie dieser, den in Momenten der Konfrontation alle seine Hofsinekuren nicht davor beschützten, für seine niedrige Geburt angegriffen zu werden. Nur der ohnehin als homo novus bekannte und für individuelles Talent bewunderte Salonliebling konnte es sich leisten, darauf ironisch von »mon origine antique qu’on avait presque oubliée« zu sprechen und zu versichern, sein jüngst gekaufter Adel sei nicht »comme celle de beaucoup de gens, incertaine et sur parole, et que personne ne m’oserait la disputer, car j’en ai la quittance«.100 Seit Generationen etablierte Familien hatten zu viel zu verlieren, als dass ihnen ein solcher Ausweg offen gestanden hätte; waren sie wie die d’Hoziers zusätzlich dadurch angreifbar, dass ihre definierende Amtstätigkeit in allzu deutlichem Widerspruch zum ritterlichen Ideal stand, so blieb ihnen nur die Wahl, entweder ihre einzige gegenwärtige Statusressource ohne Aussicht auf gleichwertigen Ersatz aufzugeben oder auf Dauer in klar subalternen Positionen fixiert zu werden. Gerade wenn man sich wie die d’Hoziers als Experten außerhalb der wenigen schwertadelskompatiblen Felder so sichtbar bewährt und positioniert hatte, war man dadurch über die Generationen hinweg als Außenstehender gekennzeichnet und in jener zum Aufstieg nötigen Reimagination der Familiengeschichte massiv behindert, die völlig unbekannten Familien gleicher Herkunft perverserweise hundertmal leichter fiel. Im Falle der Hofgenealogen lag freilich eine zusätzliche Bitternis darin, dass ihre statusdefinierenden Chargen im Lauf des 18. Jahrhunderts gerade durch jenen Prozess an stetig größerer Relevanz und Reichweite gewannen, der zugleich ihre eigene Verbannung in die unterste Etage der Elite zu verewigen drohte. Machtpolitische und soziale Schwäche mochten die Hofgenealogen immer wieder zu Zugeständnissen oder Gefälligkeitsgutachten zwingen: im Großen und Ganzen war ihre Arbeit doch nach wie vor deutlich gewissenhafter als alles, was in früheren Zeiten an Statusüberprüfung vorgenommen worden war. So fügte sich ihre Rolle in jene allgemeinen Prozesse intensivierter gesellschaftlicher Organisation und Verregelung, die das französische 18. Jahrhundert kennzeichnen und die üblicherweise umstandslos der Modernisierung zugeschlagen werden. Erst in letzter Zeit ist prägnanter herausgearbeitet worden, dass ein ähnlicher Prozess immer strikterer Verrechtlichung und immer komplexerer Anforderungen auch auf dem Felde der sozialen Distinktionen ablief und dort Resultate mit sich brachte, die dem älteren Bild einer sich öffnenden und verbürgerlichen-

100 Loménie, Beaumarchais (wie Anm. 99), Bd. 1, 86, 88, 95, 123–127, 91, 116 zu seinen sukzessiven Ämtern als controleur-clerc de la maison du roi (alias controleur de la bouche du roi), Harfenlehrer der Königstöchter und lieutenant des chasses de la Varenne du L ­ ouvre bzw. zum Erwerb des Adels; da das 1761 gekaufte Amt als secrétaire du roi erst nach 20jähriger Inhaberschaft nobilitierte, war Beaumarchais tatsächlich im Moment seiner zitierten Aussage (1773) noch gar nicht adelig. Schon um das Amt kaufen zu können, hatte er im Übrigen seinen Vater dazu bringen müssen, ein Uhrmacher-Ladenschild vom Elternhaus abzunehmen.

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den Elite diametral entgegenstehen.101 Die immer ausgereifteren und strikteren genealogischen Prüfungen betrafen auch keineswegs etwa nur arkane höfische Ehren, sondern verbanden sich im Gegenteil mit nichts Geringerem als jenem Professionalisierungsprozess, an dem sich nach verbreiteter zeitgenössischer Ansicht das Schicksal des Adels ebenso entscheiden musste wie das der Nation: dem des Militärs. Der von den Reformern projektierte Übergang vom edlen Ritter zum disziplinierten Offizier war so utilitaristisch und rational wie das ganze Jahrhundert und konnte sich doch den anvisierten Berufsstand systematisch ausgebildeter Militärexperten noch nicht anders denn als einen Adel vorstellen, der noch mehr als vor dem ungesunden Einfluss verwöhnter Hofgeneralisten vor der panisch befürchteten Infiltration durch Ex-Uhrmacher geschützt werden musste, die die Quittung über ihren Adelskauf mit sich herumtrugen. So wurden zuerst ab 1751 für die neugegründeten Militärschulen, schließlich 1781 sogar für alle Offiziersposten Ahnenproben eingeführt und deren Durchführung symmetrisch auf die beiden Hofgenealogen verteilt. Es war folglich ein d’Hozier, der 1779 beim korsischen Rechtsanwalt Bonaparte die korrekte französische Übersetzung des Vornamens Napoleone erfragte, und es war ein Chérin, dessen bestätigendes Attest dem jungen Bonaparte 1785 eine Leutnantsstelle eröffnete, die infolge der Vier-Generationen-Adelsprobe in der Familie des Genealogen erst den Urenkeln offenstehen würde.102 Es darf einem vielleicht wie die letzte ironische Pointe des Ancien Régime vorkommen, dass eine schwertadelige höfische Elite, die aus Abgrenzungsfurcht gegenüber dem systematisch gebildeten Justizadel mindestens anderthalb Jahrhunderte lang nahezu alles peinlichst vermieden hatte, was sie zu Experten im modernen Sinne hätte machen können, bei ihrem letzten großen Professionalisierungsschub elementar auf die Mitarbeit neu- und justizadeliger Gelehrter angewiesen war und jene doch mittels der so ermöglichten Ahnenproben nur noch mehr ihr Außenseitertum spüren ließ. Gewiss fiel diese Kränkung für die schon seit 150 Jahren etablierte Genealogenfamilie wesentlich weniger stark aus, und so erscheint es nur folgerichtig, dass die d’Hoziers den Untergang des Ancien Régime und das Ende ihrer Expertenrolle wesentlich nachtragender nahmen; Napoleons zweite Begegnung mit der Familie erfolgte 1800, als der Bruder des letzten d’Hozier versuchte, den Ersten Konsul in die Luft zu sprengen, wo101 Für die Entwicklung der »Adeligkeits-Tests«, aber auch allgemeiner zur Frage der Elitenoffenheit maßgeblich: Fauconpret, Preuves (wie Anm. 73); sowie v. a. für das folgende: Jay M. Smith, The Culture of Merit. Nobility, Royal Service, and the Making of Absolute Monarchy in France, 1600–1789. Ann Arbor 1996 (wenn auch mit streckenweise überspitzter These); Rafe Blaufarb, The French Army, 1750–1820. Careers, Talent, Merit. Manchester/New York 2002, sowie als jüngere Zusammenfassung vieler Diskussionen: David D. Bien (Hrsg.), Caste, Class and Profession in Old Regime France: the French Army and the Ségur Reform of 1781. St. Andrews 2010. 102 Vgl. den Brief Hozier de Sérignys an Carlo Bonaparte, Paris 7. März 1779, Paris, Archives des affaires étrangères I/13/1/1 (online digitalisiert in der »base Archim« verfügbar); zur Rolle Chérins: Fauconpret, Preuves (wie Anm. 73), 141.

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für er dann 1814 unter der Restauration eine nunmehr durch keine Gelehrsamkeit mehr kompromittierte ritterliche Hofcharge erhielt.103 Der ganz neuadelige letzte généalogiste des ordres Louis-Nicolas-Hyacinthe Chérin (1787–1790) begrüßte dagegen die Abschaffung des Adels sofort in einem euphorischen Pamphlet, in dem er den Verlust seiner Charge als angemessenen Kaufpreis für das Recht beschrieb, sich endlich auch als citoyen bezeichnen zu dürfen.104 Weniger als drei Jahre später wechselte er, den die Bedingungen des Ancien Régime auf immer im Genealogenamt und in der robe festgehalten hätten, ins Militär, wo er die erfolgreiche Strategie zum Sieg über die Royalisten der Vendée entwickelte, als Chef der Leibgarde des Direktoriums 1797 einen Staatsstreich durchzuführen half und 1799 als Divisionsgeneral im Kampf gegen eine vom ehemaligen Vorgesetzten der d’Hoziers mitbefehligte Armee tödlich verwundet wurde:105 Das Zeitalter subalterner und durch Geburt in ihre Rolle gezwungener Experten war vorbei.

103 Ebd., 86, über Hozier de Sérignys nostalgischen Amtsabschied 1791 und Annahme des Titels »ci-devant juge d’armes de la noblesse de France«; zur Laufbahn des Neffen Charles d’Hozier, der 1814 écuyer cavalcadour des Königsbruders wurde, Nouvelle biographie générale, hrsg. v. Jean-Chrétien-Ferdinand Hoefer. Bd. 25. Paris 1858, 326; sowie: Annuaire de la noblesse 1852, 377 f. 104 Louis-Nicolas-Hyacinthe Chérin, Considérations sur le decret de l’Assemblée nationale rélatif à la noblesse héréditaire, Paris 1789. 105 Jean-Baptiste-Pierre Jullien, Chevalier de Courcelles, Dictionnaire historique et biographique des généraux français. Paris 1820–1823, Bd. 4, 234–236. In der ersten Schlacht bei Zürich kommandierte auf gegnerischer Seite unter anderem der nunmehrige öster­ reichische Feldmarschall Prince de Lambesc, der bis 1789 in Versailles als grand écuyer gedient hatte.

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Der Architekt Balthasar Neumann bei Hof Zur Beziehung von Bauexperte und Dienstherr im 18. Jahrhundert

Unter den Experten am Hof versahen die Architekten und ihre Mitarbeiter eine wichtige Aufgabe, indem sie ihm einen substantiellen Handlungsraum gaben und für seine bauliche Erhaltung und Aktualisierung sorgten. Bereits seit dem Spätmittelalter hatte die Errichtung des Residenzbaus eine immer größere Bedeutung gewonnen; im Verlauf der Frühen Neuzeit löste sie schließlich den Kathedralbau als neue Hauptaufgabe im Bauberuf ab. Gleichzeitig strengten die leitenden Bauexperten eine Professionalisierung des Architektenberufes an. Deren Ideen und Anfänge liegen vorwiegend in der Frühen Neuzeit. Einer der wichtigsten Faktoren war dabei der Wandel des beruflichen Selbstverständnisses des Architekten vom Handwerker zum Künstler,1 der die Emanzipation vom Bauherrn bedingte. Dies führte häufig zu Spannungen und Konflikten zwischen beiden, besonders, wenn sie durch ein Anstellungsverhältnis miteinander verbunden waren. So bei Balthasar Neumann (* 1687 in Eger, † 1753 in Würzburg), der den Fürstbischöfen Johann Philipp Franz (reg. 1719–1724) und Friedrich Karl (reg. 1729–1746) von Schönborn in Würzburg und Bamberg diente.2 In einer Zeit des beschleunigten Umbruchs im Bauwesen baute er für sie eine der letzten großen Residenzen nach »alter Schule« in Würzburg. Selten standen sich die Auffassungen von Urheberschaft bei Dienstherr und Architekt so diametral und beispielhaft für die Frühe Neuzeit gegenüber. Sie sollen im Folgenden erläutert und der daraus folgende Konflikt beleuchtet werden. Abschließend folgt eine Einordnung in den Entwicklungsstand des Architektenberufes. Die Quellenlage zu diesem Thema ist hervorragend und gut erschlossen. Sie schöpft sich aus dem Briefwechsel Neumanns mit seinen Dienstherren, deren Korrespondenz untereinander sowie Verwaltungsakten der Hochstifte Würzburg und Bamberg.3 1 Die Idee von der Architektur als Kunst und folglich vom Architekt als Künstler kam zuerst bei Vasari auf: Vgl. Klaus J. Philipp, Euphorie und Ernüchterung – Architektur und Kunst, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.), Der Architekt. Geschichte und Gegenwart eines Berufsstandes. München 2012, 549–557, hier 549. 2 Vgl. Wilfried Hansmann, Balthasar Neumann. Köln 2003, 14. 3 Karl Lohmeyer (Hrsg.), Die Briefe Balthasar Neumanns an Friedrich Karl von Schönborn, Fürstbischof von Würzburg und Bamberg und Dokumente aus den ersten Baujahren der Würzburger Residenz. Saarbrücken u. a. 1921; Ders. (Hrsg.), Balthasar Neumann. Die Briefe von seiner Pariser Studienreise 1723. Düsseldorf 1911; Quellen zur Geschichte des Barocks in Franken unter dem Einfluss des Hauses Schönborn: Anton Chroust (Hrsg.),

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I. Die Schönborn als Dienstherren Nur wenige andere Bauherren vertraten ihre Auffassung von Mäzenatentum so vehement wie die Mitglieder des Grafengeschlechts von Schönborn als Dienstherren. Die führende Position in Familienangelegenheiten wie auch in Bausachen der Schönborn hatte Lothar Franz (1655–1729), Kurfürst-Erzbischof von Mainz, Erzkanzler des Reiches und Fürstbischof von Bamberg, inne. Für seine Neffen, die erwähnten Johann Philipp Franz und Friedrich Karl, sowie Damian Hugo (1676–1743), Kardinal und Fürstbischof von Speyer und Konstanz und nicht zuletzt Franz Georg (1682–1756), Kurfürst-Erzbischof von Trier und Fürstbischof von Worms4 war er der »Erzbaumeister«.5 Er sorgte für fundierte Baukenntnisse seiner Familie,6 so dass sie sich innerhalb der Sprache und Gesetzmäßigkeiten des Bauwesens bewegen konnten. Dies entsprach durchaus dem Ausbildungskanon junger Adeliger in dieser Zeit,7 doch war eine derartig tiefgehende Beschäftigung mit dem Thema Architektur, wie die regierenden Schönborn dieser nachgingen, ungewöhnlich. Mit seinen Neffen stand Lothar Franz in engem Kontakt über Briefe.8 Aus ihnen wird ersichtlich, dass jedes Familienmitglied zu jeder Zeit über laufende Bauvorgänge und Planungen der Anderen informiert war. Sie verschickten Risse zur Überprüfung und für Verbesserungsvorschläge und diskutierten die Vorhaben mit anderen architektonisch gebildeten Adeligen. So griff Lothar Franz oft tief in die Pläne seiner Neffen und ihrer Architekten ein9 und wollte seine Ideen durchsetzen. Da er sie selbst weder auf Papier noch in Stein umsetzte, blieb er letztlich in der Architektur ein »Dilettant«10.

Teil 1, Die Zeit des Erzbischofes Lothar Franz und des Bischofes Johann Philipp Franz von Schönborn 1693–1729. Erster Halbband. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe 8, Quellen und Darstellungen zur fränkischen Kunstgeschichte, Bd. 1/1/1.) Augsburg 1931; Max H. von Freeden (Hrsg.), Teil 1, Die Zeit des Erzbischofes Lothar Franz und des Bischofes Johann Philipp Franz von Schönborn 1693–1729. Zweiter Halbband. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe 8, Quellen und Darstellungen zur fränkischen Kunstgeschichte, Bd. 1/1/2.) Würzburg 1955; Joachim Hotz (Hrsg.), Teil 2, Die Zeit des Bischofes Friedrich Carl von Schönborn 1729–1746. Erster Halbband. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe 8, Quellen und Darstellungen zur fränkischen Kunstgeschichte, Bd. 1/2/1.) Neustadt a. d. Aisch 1993. 4 Vgl. Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 14. 5 Zit. nach: ebd., 16. 6 Vgl. Bernhard Schütz, Balthasar Neumann. Freiburg i. Br. 1988, 11. 7 Vgl. Winfried Siebers, Ungleiche Lehrfahrten  – Kavaliere und Gelehrte, in: Hermann Bausinger (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerreise zum modernen Tourismus. München 1991, 47–57, hier 48. 8 Der Großteil ist im dreibändigen Werk der »Quellen zur Geschichte des Barocks in Franken unter dem Einfluss des Hauses Schönborn« veröffentlicht (s. Anm. 3). 9 Vgl. Schütz, Neumann (wie Anm. 6), 11. 10 Nach Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 24. Aufl. Berlin 2002, 201 fühlt sich der Dilettant zur Kunst, Archi-

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Nichtsdestoweniger sah er sich als »Meister und Erfinder«11 seines Lustschlosses in Pommersfelden. War der französische Architekt Germain Boffrand 1724 bei seinem Besuch in Franken darüber noch verwundert, so schien Boffrands Verleger dies 1753 bei der Veröffentlichung dessen nicht realisierter Pläne vielleicht als »deutsche Eigenart« zu billigen, denn das Projekt zur Würzburger Residenz ließ er kommentieren: »Le projet general du Palais de Wurtzbourg en Franconie a été formé en premier lieu par S. A. M.gr l’Eveque de Wurtzbourg, et par M.r Neuman […].«12 Die Idee, dass das geistige Eigentum beim Architekten liegt, flammte zwar seit der Renaissance gelegentlich auf, konnte sich im Heiligen Römischen Reich aber über Jahrhunderte kaum durchsetzen. Selbst Neumanns Signierung auf Plänen waren lediglich Approbationsvermerke.13 So stieß der noch in mittelalterlicher Tradition stehende Anspruch der Schönborn, als Bauherr durch die Hand des Künstlers zu gestalten und somit wichtiger für das Entstehen eines Bauwerks als jener zu sein,14 bei Zeitgenossen und Künstlern zumindest nicht auf lauten Widerspruch.15 Deshalb wurden in der Grundsteinkapsel der Würzburger Residenz alle Mitglieder des Hauses Schönborn aufgezählt,16 nicht jedoch der Architekt Neumann. Dass ihre Einstellung nicht singulär war, zeigt das Beispiel eines anderen Bauherrn für den Neumann tätig wurde. Es ist der Abt von Neresheim, Aurelius Braisch (1739–1755). Auf seinem Portrait von 1757 ist er mit Zirkel und Plan der von ihm veranlassten, allerdings von Neumann geplanten und ausgeführten, Klosterkirche abgebildet. Die Attributkombination von Zirkel auf Bauplan steht ikonologisch allein für den Entwerfer.17 Folglich benötigten die Schönborn als Experten zur Realisierung ihrer Vorhaben keine weiteren Entwerfer, sondern nur einen Bauleiter und qualifizierte Handwerker, welche die Handarbeit verrichten konnten, die sie selbst als Adelige nicht übernehmen konnten und wollten. Zum Zweiten brauchte Johann Philipp Franz von Schönborn einen leitenden Baudirektor, der sich um den reibungslosen Ablauf mittels Inspektionen kümmerte, kostbare Ausstattungs-

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tektur o.a. hingezogen, hat aber »keine professionelle Ausbildung«. Auch von Freeden, Quellen (wie Anm. 3), 4 bezeichnete Lothar Franz mit diesem Begriff. Lohmeyer, Briefe (wie Anm. 3), Nr. 173, 212. Œuvres d’Architecture de Monsieur Boffrand Architecte du Roy, et Inspecteur général des Ponts et Chaussées de France; Contenant les principaux Bâtimens Civils, Hidrauliques, et Mécaniques, qu’il a fait exécuter en France et dans les Pays Etrangers, gravés en taille douce par les plus habile maîtres. Paris 1753. Ecrit par Cosmant, 4. Hans Reuther, Die Landkirchen Balthasar Neumanns, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 16, 1953, 154–170, hier 154. Günther Binding, Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als sapiens architectus. Köln 1996, 1. Johann Kettner, Balthasar Neumann in Gößweinstein. Das Baugeschehen nach den Schriftquellen. (Bonner Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 5.) Münster u. a. 1993, 14. Text und Namen finden sich abgedruckt in: Von Freeden, Quellen (wie Anm. 3), Nr. 791, 617 f. Zur Grundsteinlegung durch den Bauherren vgl. Binding, Bauherr (wie Anm. 14), 287. Siehe dazu Abb. 1.

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Abb.  1: Abt Aurelius Braisch. Anonym, 1757. Neresheim, Benediktinerabtei. Aus: Erich Hubala, Balthasar Neumann ­1687–1753. Der Barockbaumeister aus Eger. Wendlingen a. N. 1987, 21.

stücke bestellte und die Kosten im Blick behielt. Und schließlich benötigte er Beamte,18 die seine Baupolitik, eines der wichtigsten Mittel der Schönbornschen Regierung, auch im Stadt- und Landbauwesen umsetzten und damit zur Legitimierung und Sicherung seiner Herrschaft beitrugen. Für alle diese Aufgaben berief er 1720 Balthasar Neumann19 und sandte ihn bald darauf mit den ersten Plänen der Residenz zu Lothar Franz und Friedrich 18 Stefan Kummer, Balthasar Neumann als Fürstlicher Baumeister, in: Frankenland 61/6, 2009, 379–390 beschreibt wie die Schönborn – und besonders Friedrich Karl – Neumann nur als Ausführer ihrer Ideen gesehen haben. Johannes Süßmann, Balthasar Neumann als fürstbischöflicher Baukommissar, in: Ulrich Oevermann (Hrsg.), Die Kunst der Mächtigen und die Macht der Kunst. Untersuchungen zu Mäzenatentum und Kulturpatronage. (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 20.) Berlin 2007, 223 und 237 f konstruierte dagegen ein Bild von Neumann als »Baukommissar« (siehe auch Anm. 114 unten). 19 Karl Siegl, Balthasar Neumann, in: Unser Egerland 36/7/8, 1932, 74–84, hier 81.

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Karl, die gerade in Pommersfelden weilten,20 um die Entwürfe vom Familienoberhaupt »absegnen« zu lassen. Die beiden gaben sich überrascht, dass der so unerfahrene Bauherr Johann Philipp Franz den in ihren Augen ebenfalls unerfahrenen und nicht fertig studierten Neumann zu ihnen geschickt hatte.21 Der wichtigste Grund dafür war höchstwahrscheinlich, dass Johann Philipp Franz seinen Residenzbau nicht zu einem weiteren Projekt seines Onkels Lothar Franz werden lassen wollte.22 Er hatte wohl dessen Ränkespiel um Einfluss auf den Residenzbau erkannt, als jener ihm empfohlen hatte, Neumann noch für einige Zeit nach Frankreich zu schicken.23 Deshalb verzögerte er die Reise bewusst bis zu einem Zeitpunkt, an dem tiefer gehende Änderungen am fortgeschrittenen Bau kaum noch möglich waren.24 Konkret umfassten Balthasar Neumanns Aufgaben ab 1720 die Organisation des gesamten Bauvorhabens der Residenz. Er fertigte eigene Entwürfe und Modelle an und konnte durch die Reinzeichnung der Pläne letztendlich die Planungshoheit weitgehend behalten. Er erstellte Kostenvoranschläge, war zuständig für die Beschaffung und Bereitstellung des Baumaterials, die Regelung des Transportwesens, die Vergabe der Bauarbeiten, den Abschluss von Kontrakten (Arbeits- und Lieferverträgen), die Bauleitung (Anführung der Handwerker), die Aufsichtsführung, die Kontrolle, die Bauabnahme und viele weitere administrative Aufgaben. Nebenbei kontrollierte er das Landbauwesen und als Leiter der Stadtbaukommission die Einhaltung seiner Bauverordnung.25 Als Ingenieurhauptmann hatte er die Aufsicht über den Ausbau der Stadtbefestigungen, die Straßen und die Pulvermühle inne.26 Etwa ab 1725 organisierte er als Feuerwerker, also als Experte für Sprengstoffe, Feuerwerke und Jagden.27 20 Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 12. 21 Stefan Kummer, Balthasar Neumann und die frühe Planungsphase der Würzburger Residenz, in: Thomas Korth/Joachim Poeschke (Hrsg.), Balthasar Neumann. Kunstgeschicht­ liche Beiträge zum Jubiläumsjahr 1987. München 1987, 80. 22 Ebd., hier 13; Schütz, Neumann (wie Anm. 6), 43. 23 Lohmeyer, Briefe (wie Anm. 3), Nr. 2, 175. 24 Siehe dazu die in den Quellen 1721 angekündigte Reise, die letztendlich erst 1723 stattfand: Max H. von Freeden, Balthasar Neumann als Stadtbaumeister. (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 20.) Berlin 1937, 17; sowie: Georg Eckert, Balthasar Neumann und die Würzburger Residenzpläne. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Würzburger Residenzbaues. (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 203.) Straßburg 1917, 145. 25 Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 14; sowie grundlegend: Von Freeden, Neumann (wie Anm. 24), bes. 12. 26 Andreas Scherf, Johann Philipp Franz von Schönborn. Bischof von Würzburg (1719–1724), der Erbauer der Residenz. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd.  4.)­ Aalen 1973 (Nachdruck der Ausgabe von München 1930), 113. 27 Joachim Hotz, Das Skizzenbuch Balthasar Neumanns. Bd. 1, Text und Katalog. Bd. 2, Das »Skizzenbuch«. Wiesbaden 1981, 14 und 17 f.; Hans Reuther, Balthasar Neumann. Der mainfränkische Barockbaumeister. München 1983, 154 kommt zu folgendem Schluss: »Daher zählt der Meister aufgrund seiner universellen Begabung, seiner Ausbildung und seiner beruflichen Stellung zu den spätesten Vertretern in der deutschen Barockbau-

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II. Balthasar Neumann als Bauexperte Welche Ausbildung konnte diesem breitgestreuten Aufgabenfeld gerecht werden? Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab es noch verschiedene Wege in den Architektenberuf.28 Während der Ingenieursberuf nur parallel zu einer militärischen Laufbahn erlernt werden konnte, fehlte dem im Zivilbauwesen tätigen Architekten noch die Komponente des »Bauingenieurs«.29 Er bildete sich vor allem durch das Selbststudium einschlägiger Lektüre30, Zeichenunterricht und durch Studienreisen. Ein anderer Weg führte über eine Ausbildung im Handwerk,31 meist der Maurer- oder Zimmerzunft, Meisterlehre und wiederum nach dem Selbststudium zum Architekten. Das Entwerfen von Architektur blieb dabei stets eine Art Zusatzausbildung. Ein Architekturstudium ohne Ausbildung zum Ingenieur oder Handwerksmeister wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht als vollwertige Ausbildung anerkannt, da in diesem Fall die Erfahrung in der Bauausführung fehlte. Einer der ersten Architekten ohne militärische und handwerkliche Ausbildung war der spätere sächsische Oberlandbaumeister ­Matthäus Daniel Pöppelmann, der ab 1686 im Dresdner Bauamt als »Conducteur« ausgebildet wurde.32 Die Tatsache, dass der Weg wahrscheinlich zuerst als Zeichner und dann über die Ingenieursausbildung häufiger in hohe Positionen bei Hof führte, liegt wohl zum einen an dem Vorteil, dass der Architekt auf diese Weise auch technischkonstruktive Probleme lösen konnte. Zum anderen war der Offizier in einer besseren Ausgangslage, was seinen Rang und seine Ausbildung betraf, wenn es darum ging, mit fürstlichen Bauherren zu verhandeln. Handwerker hatten zudem seltener die Gelegenheit, sich auf größere Bildungsreisen begeben zu können, die bis ins Ausland führten. Die Wanderjahre als Geselle in einem enger begrenzten Gebiet mussten oft ausreichen. Beispielkunst, die souverän noch im Sinne der humanistisch gebildeten italienischen Renaissancearchitekten wirkten.« Zu seiner Zuständigkeit für das Jagdpersonal unter Friedrich Karl siehe: Lohmeyer, Briefe (wie Anm. 3), 6. 28 Die Ausführung soll hier auf die Ausbildungszeit des im Fokus stehenden Architekten beschränkt bleiben. Die Verfasserin bereitet eine Dissertation zur Entwicklung des Berufsbildes des Architekten im Heiligen Römischen Reich (ca.  1500–1800) vor, die die Wege in den Beruf und die Verdienstmöglichkeiten ausführlicher berücksichtigen wird. Näheres: Jörg Biesler, Maß und Gefühl – Die frühe Architektenausbildung in Deutschland und die Erfindung der Architektur als Kunst, in: Ralph Johannes (Hrsg.), Entwerfen: Architektenausbildung in Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Geschichte, Theorie, Praxis. Hamburg 2009, 359–378. 29 Reuther, Neumann (wie Anm. 27), 168. 30 Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 9. 31 Ebd. 32 Klaus Mertens, Matthäus Daniel Pöppelmann. 1662 bis 1736, in: Kurt Milde (Hrsg.), Matthäus Daniel Pöppelmann (1662–1736) und die Architektur der Zeit Augusts des Starken. Dresden 1991, 15–20, hier 15.

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haft sind hierfür die Architektenbrüder Dientzenhofer, die aus dem oberbayerischen Dorf St. Margarethen über einige Zwischenstationen nach Prag, Amberg und Bamberg auswanderten.33 Auch Johannes Seiz lernte kaum mehr als Heimat-, Ausbildungs- und Anstellungsort kennen.34 Daher wählte der Bürger eher den »ehrenvolleren« Weg über das Militär, das ihn auf Feldzügen an architektonisch interessante Orte führen konnte. Ein Paradebeispiel hierfür ist Maximilian von Welsch: Geboren in eine kleinbürgerliche Familie in Kronach, lernte er 1699–1704 im Gefolge des schwedischen Königs Karl  XII. Europa mit seinen Städten und Festungen kennen. Er besuchte unter anderem Ungarn, Wien, Holland, Belgien, England, Frankreich und Paris, Berlin, Stockholm, Hamburg, Reval und Breslau.35 Für den angehenden Kavalier waren architektonische und militärische Studien in Verbindung mit einer abschließenden Auslandsreise ohnehin Teil seiner standesgemäßen Ausbildung.36 Im Allgemeinen bemühte sich der Architekturstudent, nach Italien und Frankreich zu gelangen. Für Ingenieur- und Wasserbaustudien besuchte er die Festungen und Anlagen in den Niederlanden. Obwohl Studienreisen meist der einzige Punkt waren, an dem die Fürsten fördernd eingriffen, schickten sie selbst aussichtsreiche Kandidaten bis Mitte des 18. Jahrhunderts nur nur sehr selten auf Studienfahrt.37 Typischer waren Reisen wie die Johann Jacob Michael Küchels, eines Mitarbeiter Neumanns, die an Orte innerhalb des Alten Reiches führten, an denen der Dienstherr Kontakte zu anderen Bauherren hatte, die ähnliche Projekte wie er verfolgten. So reiste Küchel 1737 mit dem Architekturzeichner Roppelt über Regensburg, Nymphenburg, Passau und Melk bis nach Wien und Budapest. Auf dem Rückweg besichtigte er Prag, Breslau, Dresden, Berlin, Potsdam, Leipzig und Erfurt.38 Balthasar Neumann selbst hatte ungewöhnlicherweise mehrere Ausbildungen absolviert: Aus einer verarmten Egerer Tuchmacherfamilie stammend, hatte er ab etwa 1700 zuerst bei seinem Paten Balthasar Platzer Glocken- und

33 Heinrich G. Franz, Die Dientzenhofer. Ein bayerisches Baumeistergeschlecht in Böhmen und Franken. (Hefte zur bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 12.) München 1991, 4 f. 34 Karl Lohmeyer, Johannes Seiz. Kurtrierischer Hofarchitekt, Ingenieur sowie Obristwachtmeister und Kommandeur der Artillerie (1717–1779). Die Bautätigkeit eines rheinischen Kurstaates in der Barockzeit. (Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen, Bd. 1.) Heidelberg 1914, 3–30. 35 Fritz Arens, Maximilian von Welsch (1671–1745). Ein Architekt der Schönbornbischöfe. München 1986, 11 ff. 36 Siebers, Ungleiche Lehrfahrten (wie Anm. 7), 48. 37 Nach Italien gelangte der Handwerkerarchitekt Johann Dientzenhofer durch Ludwig Franz von Schönborn 1699/1700: Franz, Dientzenhofer (wie Anm. 33), 37; Neumann gelangte u. a. nach Paris. 38 Sein detaillierter Reisebericht an Friedrich Karl hat sich erhalten und wird ebenfalls an folgender Stelle erwähnt: Joachim Hotz, Johann Jacob Michael Küchel. Sein Leben, seine Mainzer Zeit und seine Tätigkeit für die Landschlösser des fränkischen Adels. Würzburg 1963, 22–33.

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Geschützgießerei gelernt.39 Diese Ausbildung vertiefte er auf seiner Gesellenwanderung, die ihn nach Würzburg geführt hatte, mit einem Abschluss in »Buechsen­meister – Ernst – und Lustfeuerwerkerey«.40 1712, bereits 25-jährig, trat er als Gemeiner in die fränkische Kreisartillerie ein und begann Zeichenunterricht zu nehmen.41 Neumann hatte sich also bewusst für einen Berufseinstieg über die Ingenieursausbildung entschieden. Gefördert wurde sein Studium von seiner Heimatstadt Eger.42 Spätestens ab 1715 wurde sein Studium mehr und mehr durch praxisnahe Arbeiten ergänzt, denn ab dieser Zeit gibt es Belege für Vergütungen für Brunnenbauten und Zeichnungen als Gehilfe des würzburgischen Stadt- und Landbaumeisters Joseph Greissing und für gemeinsame Inspektionsreisen.43 Bei dem gelernten Zimmermann und führenden Bauunternehmer Würzburgs dieser Zeit sowie beim Hofbaumeister Bambergs, Johann Dientzenhofer, muss Neumann spätestens auch Bauleitung, also die konkrete Anleitung von Zimmerleuten und Maurern auf der Baustelle, die Errichtung von Lehrgerüsten für seine komplizierten Wölbformen sowie die Organisation von Großbaustellen, inklusive Vertragsabschluss, erlernt haben.44 Das Ziel Neumanns erster Studienreise war tatsächlich durch seinen Militärdienst bestimmt. Der Venezianisch-Österreichische Türkenkrieg unter Prinz Eugen führte ihn 1717 bis vor Belgrad.45 1718 reiste er auf Einladung von Fürst Maximi­lian Karl zu Löwenstein über Wien und Oberitalien nach Mailand weiter, wo er nur zwei Wochen (!) verbrachte. Als er 1718 im Alter von 31 Jahren nach Würzburg zurückkehrte, galt seine Ausbildung als abgeschlossen und er wurde zum Ingenieurhauptmann mit einem festen Sold von 300 Reichstalern pro Jahr ernannt.46 Als Oberbaudirektor erhielt er dann ab 1729 jährlich etwa 880 Reichstaler aus dem Militäretat47 und als Obristleutnant noch einen Sold von etwa 710 Reichs-

39 Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 7. 40 Christian Bönicke, Grundriß einer Geschichte von der Universität zu Wirzburg. 2. Teil. Würzburg 1788, 107. 41 Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 7. 42 Ebd. Er erhielt ein zinsloses Darlehen über 75 Gulden für Bücher und Instrumente. 43 Max H. von Freeden, Balthasar Neumanns Lehrjahre. Das Bruchstück einer Lebensbeschreibung aus Familienbesitz im Vergleich mit Quellen und Überlieferung, in: Archiv des Historischen Vereins von Mainfranken 71, 1937, 8; Alexander Wiesneth, Gewölbekonstruktionen Balthasar Neumanns. München 2011, 29 und 209. 44 Ebd., hier 234. Belege dafür, dass er auch selbst Hand anlegte: ebd., 230; Lohmeyer, ParisBriefe (wie Anm. 3), 33; siehe auch: Annegret von Lüde, Studien zum Bauwesen in Würzburg 1720–1750. Würzburg 1987, 105. 45 Max H. von Freeden, Balthasar Neumann in Italien, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 1=72, 1949, 206. 46 Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 10. 47 St AW, Standbuch 805, Cammeral Tax Bestallung betr. 693 f., abgedruckt in: Kettner, Neumann (wie Anm. 15), 10. Die Besoldung erfolgte in Fränkischen Gulden (ebd., 3, Anm. 4;

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talern vom Fränkischen Kreis.48 Johann Friedrich Eosander von Göthe dagegen erhielt als Generalleutnant der Infanterie in Sachsen 3600 Reichstaler pro Jahr.49 Jean de Bodt, dessen Bestallung im Königreich Sachsen ebenfalls als Militär erfolgte, erhielt sogar 5000 Reichstaler pro Jahr.50 Neumanns Gehalt zählte also, obwohl er sich in vergleichbarer Position befand, nicht zu den Spitzensätzen, weshalb es für ihn wie für viele andere Hofbaubeamte von Bedeutung war, dass er auch private Aufträge annehmen und ausführen durfte. Dies war umso wichtiger, je kleiner die Höfe waren und damit die Dotierung der Stelle. Titel von Kleinsthöfen im Schwäbischen und Thüringischen, besonders aber der Städte, Klöster, Stifte und Kapitel waren so gering dotiert, dass sie mehr dem Ruf und der Werbung des Inhabers dienten, als dass sie zum Lebensunterhalt wesentlich beitrugen. Neumann hatte mehrere solcher Stellen inne, zum Beispiel ab 1728 die des Baudirektors des Domkapitels in Würzburg, wofür er mit einem Fuder Wein und acht Malter Korn jährlich vergütet wurde.51 Noch dazu war im geistlichen Bereich bei einem Herrscherwechsel die Weiterbeschäftigung deutlich weniger gesichert als in Territorien und Institutionen mit dynastischer Nachfolge. Diese Erfahrung musste auch Neumann 1746–1749 machen, als Friedrich Karl von Schönborn starb und sein Nachfolger, Anselm Franz von Ingelheim, seine Bestallung auf 400 Reichstaler senkte und seine Aufgaben auf den militärischen Bereich begrenzte.52 Städtische Positionen boten durch den Bedeutungsverlust der Reichsstädte im 18. Jahrhundert nur noch ein begrenztes Auftragsvolumen, waren ebenfalls recht gering dotiert und blieben deutlich stärker dem Handwerk verpflichtet. Von Privataufträgen als »freier Architekt« zu leben, war nur wenigen möglich, wie Johann Michael Fischer aus München und einigen Vertretern der sogenannten Graubündner Baumeister und Vorarlberger Barockbaumeister. Die Art der Anstellung bei Hof über das Militär stellte wie bei Neumann, de Bodt, Eosander und vielen anderen zwar einen sicheren und ausreichenden Lebensunterhalt dar, zumal die meisten Offiziersstellen kaum aktiven Dienst von

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von Lüde, Bauwesen (wie Anm. 44), 137, geben das Verhältnis von Reichstaler zu Fränkischen Gulden mit 1 : 1,2 an). Ebd., 183, Anm. 430. Alexander Holland, Johann Friedrich Eosander genannt von Göthe (1669–1728). Anmerkungen zu Karriere und Werk des Architekten, Ingenieurs und Hofmannes am Hof Friedrichs I. in Preußen. Weimar 2002, 126. Hans-Joachim Kuke, Jean de Bodt Zusatz 1670–1745. Architekt und Ingenieur im Zeitalter des Barock. Worms 2002, 214. Max H. von Freeden/Hans-Peter Trenschel, Daten zum Leben und Werk Balthasar Neumanns, in: Hanswernfried Muth (Hrsg.), Aus Balthasar Neumanns Baubüro. Pläne der Sammlung Eckert zu Bauten des großen Barockarchitekten. Sonderausstellung aus Anlaß der 300. Wiederkehr des Geburtstages Balthasar Neumanns. Würzburg 1987, 42; Joseph Keller, Balthasar Neumann. Artillerie- und Ingenieurs-Obrist. Fürstlich Bambergischer und Würzburger Oberarchitekt und Baudirektor. Eine Studie zur Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts. Würzburg 1896, 23. Lohmeyer, Briefe (wie Anm. 3), IX ; von Lüde, Bauwesen (wie Anm. 44), 122.

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ihren Inhabern erforderten. Im Architektenberuf im Alten Reich war das »notwendige Übel« der Ausübung eines »Brotberufes«,53 wie es Bourdieu für die anderen Kunstsparten erst ab dem 19. Jahrhundert beschreibt, bis zur Etablierung des Baubeamtentums im Verlauf des 18. Jahrhunderts folglich durchgängig erforderlich, stellte aber in den meisten Fällen keinen so großen Kontrast wie in anderen Künstlerberufen dar. Die Anerkennung und Behandlung, die Warnke für Maler und Bildhauer durch ihre fürstlichen Mäzene beschreibt,54 gab es weit seltener für Architekten, da sie dem Handwerk noch mehr verbunden waren. Dies spiegelte sich nicht nur an Gehaltshöhe und der Häufigkeit der Nobilitierung wider. Darauf, dass Neumann sich als Künstler sah, gibt es mehrere Hinweise: Der wichtigste ist dabei das »Bruchstück einer Lebensbeschreibung«,55 das in der Generation von Neumanns Enkeln entstand und interessanterweise viele Muster aufweist, die Kris und Kurz als Elemente der stereotypen Künstlerbiographik entlarvt haben: Es sind das enorme Talent, das sich bereits sehr früh oder gar schon im Kindesalter zeigt,56 die Herkunft aus armen Verhältnissen in Verbindung mit einem unerwarteten sozialen Aufstieg57 und das Fehlen eines Lehrers.58 Von einem typischen Künstlerstreit59 mit dem Motiv des Selbstmordes eines Künstlers, der von einem anderen übertroffen wird,60 berichtete Neumanns Sohn Franz Ignaz Michael: »Ja er ging dabei so weit, dass er [Johann Lucas von Hildebrandt] dem Fürstbischof sein eigenes Leben zum Pfand setzte und sich bereit erklärte, von Wien nach Würzburg zu reisen und da unter dem Gewölbe der berühmten grossen Stiege sich auf eigene Kosten hängen zu lassen, wenn die Konstruktion sich bewähre. Neumann hingegen erbot sich, unter das Gewölbe des Treppenhauses Geschütze aufzufahren, und selbst eine beliebige Zahl von Schüssen abzugeben um die Festigkeit seines Gewölbes zu erproben.«61 53 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999, 359. 54 Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. 2. Aufl. Köln 1996, 142 ff. 55 Von Freeden, Lebensbeschreibung (wie Anm. 43), 2 von Freeden fand es im Privatbesitz einer Nachkommin Neumanns und datierte es auf Anfang des 19. Jahrhunderts. 56 Ebd., 10, 37 f. 57 Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt a. M. 1995 (Nachdruck der Ausgabe von 1934), 29 und 41; Von Freeden, Lebensbeschreibung, (wie Anm. 43), 10. 58 Kris/Kurz, Legende vom Künstler (wie Anm. 57), 39; Von Freeden, Lebensbeschreibung (wie Anm. 43), 11: Neumann wird von einem »Artilleriechef« lediglich »empfohlen«. Von Freeden identifizierte jenen als Ingenieur- und Stückhauptmann Andreas Müller und damit auch Lehrer Neumanns (13 f.). 59 Kris/Kurz, Legende vom Künstler (wie Anm. 57), 153 und 158, 163. 60 Ebd., 163. 61 Zit. nach: Keller, Neumann (wie Anm. 51), 66: Aus einem Brief des Sohnes vom 25.03.1774 an das Mainzer Domkapitel, ohne Quellenangabe abgedruckt in: Friedrich Schneider, Der

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Mögen die Fakten auch günstig liegen, so wurde doch daran gearbeitet, dass sich die spezifischen Daten Neumanns in das typische Bild vom Künstler einfügen. Dies lässt den Schluss zu, dass er sich selbst, und in der Folge auch seine Familie, als Künstlerarchitekt und nicht als gewöhnlichen Handwerker oder Baubeamten sah.

III. Kommunikationssituation und kulturelle Dynamiken zwischen Dienstherr und Architekt Wie kamen nun die Interessen von fürstlichem Mäzen und Architekt zusammen? Bis auf wenige Ausnahmen gab es im 18. Jahrhundert noch keine »Hofarchitektenstellen«.62 Um als Architekt tätig werden zu können, konnte man bei Hof nur wenige Positionen besetzen: zum einen die oft noch stark auf die Bauausführung orientierten Land- und Hofbaumeisterstellen und zum anderen die vorrangig administrativ orientierten Baudirektorenstellen, die eher mit Militärarchitekten und Kavalieren besetzt wurden. Im kleinen Fürstbistum Würzburg war unter den beiden Schönborn keine Hofbaumeisterstelle eingerichtet, da sie, wie bereits dargestellt, keine weitere Entwurfs- und Planungsstelle benötigten, aber sicherlich auch, um Kosten zu sparen.63 Neumann war daher Oberbaudirektor und zusätzlich als Hof- und Landbaumeister tätig. Dabei verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Aufgaben neben dem Entwerfen mit der Zeit von der praktischen Bauleitung hin zur Inspektion und Verwaltung.64 Dies entsprach faktisch einem Aufstieg innerhalb der Bauamtshierarchie. Aber auch typische Direktorenaufgaben verrichtete er bereits auf seiner Parisreise: Er studierte, zeichnete und kaufte unzählige Ausstattungsmusterstücke für die Residenz,65 warb Kunsthandwerker an66 und erwarb drei Prunkkutschen für seinen Dienstherrn.67 Gezielt suchte er nach den besten Ideen, Materialien, Fertigungsweisen und Handwerkern für das Gesamtkunstwerk der Residenz und baute sich Kontakte für eventuelle Nachbestellungen auf.68 Doch suchte er zudem auf Baustellen nach neuen Techniken,69 was eher dem Aufgabenbereich des Hofbau­ meisters zuzurechnen wäre.

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Dom zu Mainz. Geschichte und Beschreibung des Baues und seiner Wiederherstellung. (Zeitschrift für Bauwesen, Bd. 34/10–12, 1884) Berlin 1886, 416, Anm. 1. Siehe die in Vorbereitung befindliche Dissertation der Verfasserin (wie Anm. 28). Von Lüde, Bauwesen (wie Anm. 44), 140. Max H. von Freeden, Balthasar Neumann: Vom Wirken und Schaffen des großen Baumeisters. Amorbach 1960, 26 wonach er als Bauleiter nach 1729 nur noch sehr selten tätig war. Lohmeyer, Paris-Briefe (wie Anm. 3), z. B. 25 und 32 f. Ebd., 18. Ebd., 27. Ebd., 39. Ebd., 33.

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Vergütet wurde er, wie bereits erwähnt, aus Militäretats mit Zulagen.70 Der Grund dafür soll einerseits im Bestreben des Fürstbischofes gelegen haben, die Personalkosten möglichst gering zu halten. Andererseits waren Zulagen leichter wieder zu entziehen,71 was Neumann als Angestellten stärker an seinen Dienstherrn band. Zwar spiegelte sich seine künstlerische Karriere und sein steigender Einfluss auf das gesamte Würzburger und Bamberger Bauwesen durch die Verschränkung mit seiner militärischen Laufbahn bis zum Oberst der Fränkischen Kreisartillerie 174172 wider. Diese Art des dauerhaften Bindungsversuches war aber keineswegs eines Künstlers, sondern bestenfalls eines Offiziers, Beamten oder Kommissars würdig. Geachtete Künstler wurden mit der Vergabe von Adelstiteln gelockt,73 nicht mit Hilfe der Art ihrer Anstellung zwangsgebunden. So wurden in Neumanns Umfeld 1720 der Festungsingenieur und Architekt Johann Lucas von Hildebrandt74 und auf Betreiben Lothar Franz von Schönborn 1714 Maximilian von Welsch geadelt.75 Auch andere Baudirektoren wie Jean de Bodt in Sachsen und der Kavalierarchitekt Anselm Franz Reichsfreiherr von Ritter zu Groenesteyn in Mainz hatten ein Studium absolviert und waren häufig adeliger Herkunft oder führten das Adelsprädikat wie Eosander von Göthe in der Folge ihrer Ernennung selbst ein.76 Dabei war ein spezifisches Studium der Architektur nicht zwangsläufig erforderlich: Philipp Joseph Jenisch (1671–1736), Landbaudirektor in Württemberg, hatte Theologie, Mathematik und Physik studiert.77 Er wurde übrigens nicht nobilitiert.78 Neumanns Schüler und späterer Mitarbeiter in Trier, Johannes Seiz, führte gegen Ende seines Lebens, nach dem Tod seines Dienstherren aus dem Hause Schönborn, das Adelsprädikat »von«.79 Neumanns Sohn Franz Ignaz Michael verwendete es ab 1750 bei der Signierung seiner Pläne;80 da lebte sein Vater noch. In dessen Korrespondenz mit seiner Heimatstadt Eger hatte sich seit etwa 1740 die Verwendung des Adelsprädikates bei der Titulatur von Seiten des Stadtrates »eingeschlichen«.81 Auch auf einer Replik seines Portraits von Anfang der 1740er Jahre wird er als »Balthasar von Neumann« ausgewie70 Siegl, Balthasar Neumann (wie Anm. 19), 81; vgl. von Freeden/Trenschel, in: Muth, Baubüro, 78; von Lüde, Bauwesen (wie Anm. 44), 138: Ab 1733 erhielt er eine »gnäd. bewilligte addition als hofbaumeister« in Form von 120 Gulden und einem Fuder Wein. 71 Ebd., 47. 72 Max H. von Freeden, Balthasar Neumanns Gesuche an den Fränkischen Kreistag, in: Karl Schwingel (Hrsg.), Festschrift für Karl Lohmeyer. Saarbrücken 1954, 65–69, hier 68 f. 73 Warnke, Hofkünstler (wie Anm. 54), 205 f. 74 Bruno Grimschitz, Johann Lucas von Hildebrandt. Wien u. a. 1959, 8 f. 75 Arens, von Welsch (wie Anm. 35), 13. 76 Holland, Eosander von Göthe (wie Anm. 49), 48 und 51. 77 Werner Fleischhauer, Barock im Herzogtum Württemberg. Stuttgart 1958, 137. 78 Ebd. 79 Lohmeyer, Seiz (wie Anm. 34), 30–32. 80 Eckert, Neumann (wie Anm. 24), 157. 81 Siegl, Balthasar Neumann (wie Anm. 19), 78.

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Abb. 2: Gartenpavillon Neumanns in Randersacker, erbaut 1743. Aus: Wilfried Hansmann, Balthasar Neumann. 2.  Aufl. Köln 2003, 182.

sen.82 Er selbst war bei der Verwendung von Titeln sehr korrekt und hat nur ein Buch eigenhändig mit einem »v.« als das seine gekennzeichnet.83 Sein letzter Dienstherr Carl Philipp von Greiffenclau hat dies entweder toleriert oder die förmliche Nobilitierung stand bei seinem Tod sogar kurz bevor.84 82 Max H. von Freeden, Balthasar Neumann-Bildnisse, in: Altfränkische Bilder und Wappenkalender 86, 1987, 5 f. Ein Abdruck des Gemäldes findet sich in: Keller, Neumann (wie Anm. 51), II . 83 Eckert, Neumann (wie Anm. 24), 157. 84 Von Lüde, Bauwesen, (wie Anm. 44), 144. Weder für den Vater noch für den Sohn Neumann gibt es einen Hinweis auf ein förmliches Verfahren. Die Adelsakten im Österreichischen Staatsarchiv in Wien sind unvollständig überliefert, daher ist das Fehlen

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Einen adeligen Habitus hatte er sich bereits unter Friedrich Karl von Schönborn sukzessive zugelegt: Sein letztes Wohnhaus, ein ehemaliges Adelspalais, hatte er ab 1724 repräsentativ ausgestaltet. In Randersacker versah er seinen Weingarten mit zwei Pavillons.85 Diese sind mit den eingezogenen Ecken, komplett durchfensterten Wänden, geschwungenem Dach und verzierten Pilastern architektonisch und dekorativ so aufwändig gestaltet, dass sie mit einem bürgerlichen Gartenhäuschen kaum mehr etwas gemein haben. Den bürgerlichen Nutzgarten des Schwiegervaters wollte Neumann so in einen adeligen Lustgarten umwandeln. Spätestens seit 1732 unterhielt er zudem eine ansehnliche Dienerschaft und mehrere Pferde.86 Als Offizier stand ihm eine Dienstkutsche zu. Dem Wappen seines Briefsiegels fehlte ab 1727 jegliche handwerkliche Symbolik, weder Zirkel noch Feder waren vorhanden, sogar das Kanonenrohr hatte er entfernt. Ganz adeligen Gepflogenheiten entsprechend, verwies die Symbolik von Neumond und Mann nur noch auf seinen Namen.87 Kurz vor seinem Tod 1753 hat Tiepolo ihn auf dem Deckengemälde über der großen Treppe der Würzburger Residenz mittels »Fürst- und Herrscherikonographie«88 als »Künstlerfürst« inszeniert. Darüber hinaus wird jener noch von einem weiteren Attribut flankiert, das nicht im künstlerischen Kontext verwendet wurde: Es ist sein Windhund,89 mithin ein edles Tier, das zu dieser Zeit noch vorrangig als Jagdbegleiter und Statussymbol des Adels in Erscheinung trat.90 Hier zeigt sich, dass die bauherrliche Einstellung der Schönborn überholt und fern der sozialen Wirklichkeit war. Sie konnten Neumann nur lenken und selbst die Planungsoberhoheit behalten, indem sie ihn in andauernden Kompetenzstreit mit der Hofkammer stehen ließen91 und bei Streitigkeiten mit aufstrebenden Mitarbeitern wie Raphael Tatz nicht eingriffen, um so seinen Einfluss zu schwächen.92 Während Friedrich Karl von Schönborn besorgt war, dass

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einer Akte kein negativer Beweis. (Siehe dazu ÖStA Wien, Findmittel Adelsakten bis 1823. Bd. 1, Vorwort). Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 14, 34 und 181 (siehe Abb. 2). Neumanns Bestallung bei: Kettner, Neumann (wie Anm. 15), 10, Anm.  15. Zuschläge für Pferde erhielten sonst nur Hofkanzler und Kammerherren, also engste Vertraute des Fürstbischofes, den Neumann als Oberst auch gleichrangig war (von Lüde, Bauwesen (wie Anm. 44), 131 und 144). Siehe Abb. 4. Ingrid Severin, Baumeister und Architekten. Studien zur Darstellung eines Berufsstandes in Porträt und Bildnis. Berlin 1992, 71. Der Fürstbischof nimmt links oberhalb Neumanns eine sehr ähnliche liegende Haltung ein. Peter Stephan, »Im Glanz der Majestät des Reiches«. Tiepolo und die Würzburger Residenz: die Reichsidee der Schönborn und die politische Ikonologie des Barock. Weißenhorn 2002, 141; sowie Abb. 3 in diesem Aufsatz). Erika Billeter, Hunde und ihre Maler. Zwischen Tizians Aristokraten und Picassos Gauklern. Wabern-Bern 2005, 29–31 und 34. Von Lüde, Bauwesen (wie Anm. 44), 50 f. Von Freeden, Stadtbaumeister (wie Anm. 24), 75.

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Abb. 3: Giovanni Battista Tiepolo: Fresco 1752/53. Ausschnitt aus dem Deckenfresko im Treppenhaus der Würzburger Residenz. Aus: Wilfried Hansmann, Balthasar Neumann. 2. Aufl. Köln 2003, 51.

er Johann Lucas von Hildebrandt nicht aus Versehen in Verlegenheit brachte,93 gab er Neumann, in seinen Augen »ein guether Kerl«,94 wie allen anderen Beamten Anweisungen im straffen Befehlston mit einem »du«.95 Ein enges familiäres Verhältnis zwischen Mäzen und Künstler, das sich durch Aufnahme in die Hoffamilie, bis hin zur Bestattung in der fürstlichen Gruft sowie Wohnung und Werkstatt in unmittelbarer Nähe zum Fürsten zeigen konnte,96 ist in diesem Kontext undenkbar. Die Nobilitierung eines Beamten, Kommissars oder Handwerkers, als den sie Neumann ansahen, stand den Schönborn ebenso fern.97 93 Chroust, Quellen (wie Anm. 3), Nr. 481, 399. 94 Zit. nach: Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 16. 95 Hotz, Quellen (wie Anm. 3), Nr. 62a, 72; sowie: Kettner, Neumann (wie Anm. 15), 17 und 23. Zum Verwaltungsbeamten siehe dazu: Nr. 10, 37 u. a. 96 Warnke, Hofkünstler (wie Anm. 54), 142–159. 97 Wie Isabel A. Haupt, Christian Traugott Weinlig (1739–99). Eine Architektenkarriere im Kurfürstentum Sachsen. Zürich 2005, 15 herausstellt, wurde auch im Sächsischen Bauamt keiner der dort tätigen Architekten geadelt.

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Abb. 4: Wappen Balthasar Neumanns auf Briefsiegeln. Rechts das Allianzwappen des Ehepaares. Aus: Max H. von Freeden, Balthasar Neumann. Leben und Werk. München 1963, 66 f.

Doch hat Neumann bei anderen Mäzenen durchaus die ihm gebührende Achtung und Behandlung erfahren: Wie andere Künstler und Architekten98 wurde er von seinem Dienstherrn mindestens einmal auf diplomatisch-kulturelle Mission geschickt. Anfang der 1740er Jahre reiste er mehrmals zu Clemens August von Bayern, der 1723–1761 Fürstbischof von Köln sowie von Münster, Paderborn, Hildesheim und Osnabrück war. Dort speiste er an der kurfürstlichen Privattafel99 und nahm, wie es sich für einen hochrangigen Diplomaten gehörte, an Jagden teil.100 Für Franz Georg von Schönborn führte er gut 20 Jahre lang die Oberaufsicht über dessen Bauprojekte und Landesverteidigung. Die wohl freundschaftlich geprägte Beziehung spiegelt sich in den Briefen Franz Georgs an Neumann, der jenen mit »Hochedelgebohrner, hochgeehrtister Herr Obrist Lieutnant« anredete und höflich siezte.101 Schließlich trat der Konflikt zwischen Neumann und Friedrich Karl von Schönborn offen zutage. Anlässlich der Einweihung der Hofkirche 1743 hatte einer der beteiligten Künstler ein Gedicht verfasst, das in der Weiheschrift abgedruckt werden sollte und das Neumann deshalb dem Fürstbischof zur Approbation vorlegen musste, was unverkennbar zum Streit führte.102 Es ging dabei um nicht weniger als um die Urheberschaft des Gesamtkunstwerkes der Residenz. Nach Meinung des Fürstbischofes hatten die beteiligten Künstler seinen Anteil zu gering und ihren eigenen Verdienst daran zu sehr herausgestellt. In der redigierten Fassung hatte Friedrich Karl von Schönborn Neumann und die anderen Künstler zu bloßen Ausführenden seines Willens herabgewürdigt.103

98 Warnke, Hofkünstler (wie Anm. 54), 74; Kuke, de Bodt (wie Anm. 50), 53. 99 Von Freeden, Stadtbaumeister (wie Anm. 24), 41. 100 Lohmeyer, Briefe (wie Anm. 3), 169. 101 Zitat bei: Ebd., 231, Anm. 3. 102 Kummer, Balthasar Neumann (wie Anm. 18), 381 f. 103 Ebd.

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Kirche und Residenz waren »eine alleinige Erfindung […] Dero gesalbten bischöflichen händen«.104 Die einzige Möglichkeit Neumanns, seinen Unmut darüber äußern zu können, ohne seine Anstellung zu riskieren, blieb eine versteckte Kritik im Wortlaut seiner Unterzeichnung. In der Neumannforschung stellte sein Vorname immer einen Stolperstein dar. Hieß er nun »Balthasar« oder »Johann Balthasar«? Im Taufbuch der Stadt Eger ist seine Geburt nur mit »Balthasar« vermerkt, auch seine unzähligen Briefe unterschrieb er stets auf diese Art,105 weshalb die Forschung es schließlich dabei beließ.106 Hiervon gibt es allerdings eine einzige Ausnahme: In der Weiheschrift zur Hofkirche in Würzburg hatte Neumann die Widmung tatsächlich mit »Johann Balthasar« unterschrieben.107 Hierbei gilt es zu beachten, dass »im 18. Jahrhundert […] der Vorname Johann so geläufig geworden [war], dass er als ›Dienername‹ erschien, das heißt sozial abgesunken war.«108 Dies war offensichtlich ebenso Thema bei den sehr standesbewussten Schönborn. Friedrich Karl selbst hatte es stets vermieden, seinen geschätzten Freund, ­Johann Lucas von Hildebrandt, mit »Johann« anzureden, denn in seinen Briefen an jenen und auch in der Korrespondenz mit den anderen Schönborn wurde jener stets »Jean luc[c]a« oder »Gio: lucca« genannt, teils hat er eine Mischung der französischen und italienischen Form verwendet.109 Die Unterschrift insgesamt ist ebenfalls ungewöhnlich: In seiner Zeit unter Johann Philipp Franz von Schönborn, als Neumann lediglich Stückhauptmann gewesen war, unterschrieb er seine Briefe an den Fürstbischof stets als: »Ewer Hochfürstl. Gnaden / Vnterthänigster treyer Diener / Balt. Neumann.«110 Seit seiner Erhebung zum Oberst 1741 unterschrieb er seine Briefe an Friedrich Karl von Schönborn stets als »Ewer Hochfürstl. Gnaden / unterthänigst trey gehorsambster / Balthasar Neumann / obrister m. prio.«111 Die Unterschrift spiegelt folglich seinen sozialen Aufstieg wider. Der »Diener« entfiel und als Offizier schrieb er seinen Vornamen aus. Die Unterschrift der Hofkirchen­weiheschrift lautet unterdessen: »Unterthänigst – treu – gehorsamer Diener / Johann Balthasar Neuman«.112 104 Zit. nach: Wilfried Hansmann, Balthasar Neumann, in: Johannes, Entwerfen (wie Anm. 28), 301. 105 Johannes Stauda, Balthasar Neumanns Abstammung und Ahnen, in: Der Egerländer. Folge 2, 1954, 30. 106 Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 7. 107 Balthasar Neumann, Die Lieb zur Zierd des Hauß Gottes dem Ost-Franken zur ohnvergesslichen Erinnerung hinterlassen, als der Hochwürdigste […] Herr Friderich Carl Bischoff zu Bamberg und Wirtzburg, auch Herzog zu Francken, etc. […] die BischoffFürstliche Hof-Kirch […] an dem 15. Sept. 1743 […] einzuweihen geruhet haben. Würzburg 1745, 8. 108 Michael Maurer, Kulturgeschichte. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien 2008, 51. 109 Lohmeyer, Briefe (wie Anm. 3), Nr. 6, 175; Nr. 19 und 20, 178, Nr. 32, 183 u. a. 110 Ebd., Nr. 45. 111 Ebd., Nr. 171. 112 Neumann, Die Lieb zur Zierd (wie Anm. 107), 8.

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Die einmalige Wiederverwendung des »Dieners« zulasten des »Obristen« in Kombination mit der einmaligen Verwendung des taufurkundlich nicht nachweisbaren »Johann« führt zu dem Schluss, dass er damit kenntlich machen wollte, dass er diesen oktroyierten Text, der ihn und die anderen Künstler zu bloßen Werkzeugen des Erzbischofes degradierte, als »Diener Johann« gegen seinen Willen so veröffentlichen musste.

IV. Institutionelle Verstetigung und Professionalisierung des Architektenberufes Neumann kämpfte hier gegen einen für ihn als Künstler unpassenden Nebeneffekt einer Entwicklung an, die er selbst mitgetragen hatte und in deren Betreiben sich die Schönborn durchaus als fortschrittlich zeigten, nämlich die Institutionalisierung des Bauwesens in Form eines Bauamtes.113 Friedrich Karl von Schönborn wollte damit den Ausbau seines Landes vorantreiben und das alte ständische in ein neues absolutistisches Verwaltungssystem umformen. Dazu bediente er sich Neumanns als Kommissar und wollte ihn letzten Endes ebenfalls in dieses System einbinden.114 Neben dem Nachteil des Verlustes künstlerischer Vorrechte und Freiheiten hatte diese Entwicklung aber auch Vorteile für Neumann und andere Architekten: Da sie die Ausbildung ihrer Mitarbeiter selbst nach Bedarf gestalten konnten, bewirkte dies eine Standardisierung und Anhebung des Ausbildungsniveaus. Bereits ab 1722/24 gab Neumann »junge[n] herren [und] cavaliere[n]« zunächst privaten Unterricht in allen Wissenschaften, die ein Architekt benö113 Im 18.  Jahrhundert war dies in den Territorien des Alten Reiches eine häufige Maßnahme. So wurde auch im Königreich Sachsen nach dem Tode Jean de Bodts 1745 ein Ziviloberbauamt eingerichtet, in dem Architekten wie Christian Traugott Weinlig als Baubeamte arbeiteten (vgl. Haupt, Weinlig (wie Anm. 97), 14). 114 Süßmann, Neumann (wie Anm. 18), 237 f.: »Daher soll hier vorgeschlagen werden, diese Agenten fürstlicher Baupolitik als Baukommissare zu bezeichnen. Wie vor allem Otto Hintze und Carl Schmitt gezeigt haben, war der Kommissar eine charakteristische Erscheinung absolutistischer Politik. Er war ein außerordentliches Organ fürstlicher Gewalt, das querstand zu den ordentlichen Behörden und Amtsträgern der neuzeitlichen Verwaltung. Entstanden als ›Kriegskommissar‹ zur Beaufsichtigung der Söldnerheere, war er ein immer wieder ad hoc geschaffenes Instrument der neuen, absolutistischen Staatsgewalt. Mit überaus heiklen, oft existenziellen und außeralltäglichen Aufgaben betraut, dabei dem Fürsten unmittelbar verantwortlich, sollte er die alten ständischkorporativen Regierungsapparate umgehen, entmachten, überformen. Viele Kommissare entbehrten anfangs einer gesetzlichen, öffentlich anerkannten Rechtsgrundlage; ihr Handeln wurde durch geheime Instruktionen gesteuert, die dem Land und den alten Behörden unbekannt blieben. […] Die Kommissare […] stellten das wichtigste administrative Element für […] die Schaffung der ›société absolutiste‹ dar.« Diese Darstellung ist für Neumann sehr zutreffend, kann jedoch nicht ohne Weiteres auf die Stellung anderer Architekten im Alten Reich übertragen werden.

Der Architekt Balthasar Neumann bei Hof 

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tigt, da der Mathematikunterricht in der Schule dafür nicht ausreichend war.115 Ab 1732, als Friedrich Karl von Schönborn an der Universität Würzburg einen Lehrstuhl für Zivil- und Militärbaukunst einrichtete, unterrichtete Neumann dort.116 Zudem beschäftigte er bereits ab 1721/22 im Schnitt drei Bauzeichner.117 Sie waren meist junge Männer im Alter von 17 bis 25 Jahren; oft sind spätere Architekten unter ihnen, die bei Neumann einen Teil ihrer Ausbildung absolvierten, wie beispielsweise Franz Anton Hillebrandt (1719–1797), der 1739/40 bei Neumann zeichnete, danach Architekt der Ungarischen Hofkammer und später Leiter des Wiener Hofbauamtes wurde.118 Innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes von weniger als hundert Jahren bis zur Einrichtung staatlicher Akademien im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts produzierten einige Höfe tatsächlich Bauexperten über den »Eigenbedarf« hinaus. Dabei standen sich aber die Interessen von Architekt, der künstlerischwissenschaftlich tätig werden wollte, und Dienstherr, der gute Beamte zur baulichen Beherrschung seines Territoriums brauchte, störend gegenüber. Für die Architekten stellte allerdings der Schritt von der städtisch-handwerklichen hin zur höfisch-administrativ-wissenschaftlichen Ausbildung eine wichtige Neuerung zugunsten der Professionalisierung ihres Berufes dar.

115 Von Freeden, Quellen (wie Anm. 3), Nr. 1266, 973 f., vgl. Bönicke, Universität zu Wirzburg (wie Anm. 40), 106 f. 116 Hansmann, Neumann (wie Anm. 2), 27. 117 Lohmeyer, Briefe (wie Anm. 3), 225, Anm. 31 (mit namentlicher Auflistung). 118 Hotz, Skizzenbuch (wie Anm. 27), 52 und 62.

Personenregister* Achilles 34 Agricola, Johannes  57 Albertus Magnus  35 Albrecht von Sachsen, »der Beherzte«, Herzog von Sachsen  49 Aldrovanti, Ulisse  123 (Anm. 8/14/15), 124 Anm. 22, 132 Alexander III. (Rolando Bandinelli), Papst  101 Alexander VI. (Rodrigo Borgia), Papst  87 f, 105, 107, 114 Alfieri, Vittorio  7 Althusser, Louis  11 Angiviller, Charles-Claude de Flahaut de La Billarderie, Comte d’  178 Anselm Franz von Ritter zu Groenesteyn 210 Anselm Franz von Ingelheim, KurfürstErzbischof von Mainz 207 Antin, Louis-Antoine de Pardaillan de Gondrin, Duc d’  176 (Anm. 36) Antoine (Familie)  170 Antoine de Beauterne, Robert-François, Porte-Arquebuse  171 Anm. 19 Anton Günther II., Fürst von Schwarzburg und Reichsfürst  17, 154–156, 158 Ardicino della Porta, Bischof von Aléria  89, 97 Aristoteles  33, 60, 86 Artus (Artus-Roman)  31 f Artaxerxes II., König von Persien  64, 65 Anm. 47 August II. (der Jüngere), Herzog von Braunschweig-Lüneburg  11 Auguste Dorothea, Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel 17, 154–158

Aventinus, Johannes  42 Babenberg (Familie)  22, 28, 29 Bach, Johann Sebastian  161 Bartoletti, Fabrizio  126 (Anm. 36) Bauer, Volker  9, 14, 154 Beatrix von Burgund, Kaiserin des römisch-deutschen Reiches  30 Beaujon, Jean-Nicolas  186 (Anm. 75), 187 Anm. 77 f, 194 Anm. 98 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de, Sieur de  194, 195 Anm. 100 Bellegarde, Gabriel-François-Balthazar de Pardaillan de Gondrin, Marquis de  177 Anm. 38 Benci di Montepulciano, Fabiano  84 f Berthier, Edme-Joseph  188 Anm. 80 Berthold von Regensburg  30 Bertoli, Antonio  124 (Anm. 22) Biagioli, Mario  13 Blanning, Timothy  14 Bocchi, Zenobio  125 (Anm. 26), 126 Bodt, Jean de  207, 210, 216 Anm. 113 Boffrand, Germain  201 Boileau-Despréaux, Nicolas  188, 189 Anm. 82 Bonacolsi, Passerino  125 Bonaparte, Carlo  196 (Anm. 102) Bonneuil, Michel Chabenat, Sieur de  180 Anm. 49, 182 Bontemps (Familie)  171 Anm. 19, 187 Anm. 77 Bourdieu, Pièrre  208 Braisch, Aurelius, Abt von Neresheim  201 f Branca, Giovan Paolo  124, 130 (Anm. 57) Braunschweig-Wolfenbüttel (Famile)  154

* In das Personenregister wurden historische und zeitgenössische Personen mit möglichst vollständiger Angabe von Nachname, Vorname, Beiname sowie Titel und Ämter (soweit wie für die eindeutige Zuordnung nötig) und literarische Personen aufgenommen. Es enthält ebenfalls Hinweise auf Familien.

220 Breteuil, Louis-Nicolas Le Tonnelier, Baron de  180 Anm. 49, 181 f, 183 Anm. 63 Briçonnet, Guillaume, Erzbischof von Narbonne  94 Brück, Gregor  58 Bumke, Joachim  26 Burckard, Johannes, päpstlicher Zeremonienmeister  73, 86 f, 88 (Anm. 61), 89 (Anm. 64), 90–92, 95, 97 (Anm. 97), 100 f, 103–105, 107, 109, 111–113, 114 (Anm. 163), 116 Calard, Jean  127 Calcina, Eugenio  130, 131 (Anm. 58) Calzolari, Francesco  123 (Anm. 12) Capellos, Bianca  133 Carafa, Oliviero, Kardinal von Neapel  97 Carazzi, Paolo  123 Cavallara (Familie)  133 Cavallara, Giovanni Battista  133 (Anm. 75 f) Charles VI. (Karl VI.), König von Frankreich 127 Charost, Louis-Armand de Béthune, Duc de  166, 167 (Anm. 6), 168 (Anm. 9) Châtillon, Alexis-Madeleine-Rosalie, Duc de  189 Anm. 83 Châtillon, Walther von  24 Chauvry (Familie)  190 Chauvry, Joseph-Antoine Cotignon, Sieur de  190 (Anm. 86), 191 Anm. 88 Chérin, Bernard  186 Anm.74, 187 (Anm. 78), 189 (Anm. 84), 196 (Anm. 102) Chérin, Louis-Nicolas-Hyacinthe  186 Anm. 75, 192, 197 Cicero (Marcus Tullius Cicero)  86 Clairambault, Pierre [de]  186 Anm. 76, 190 (Anm. 87 f)  Clemens August I. von Bayern, Fürst­ bischof von Köln, Münster, Paderborn, Hildesheim und Osnabrück 214 Coislin, Pierre du Cambout, Duc de  166 (Anm. 4), 168 Anm. 9

Personenregister

Colbert, Jean-Baptiste  174, 176 f, 186 Anm. 76 Coler, Johann  136 f Costa, Filippo  123 Cotte (Familie)  170 Créquy, Charles-Marie, Marquis de  189 Anm. 84 Dientzenhofer (Familie)  205 Dientzenhofer, Johann  205 Anm. 37, 206 Dionysios von Halikarnass  86 Donati, Marcello  124, 130 Anm. 57, 131, 132 (Anm. 69), 133 (Anm. 70 f, 73, 75), 134 du Barry, Jeanne Bécu, Comtesse  188 Anm. 79 du Thuit, Nicolas-Henri de Racine de Monville, Sieur  181 Dufort de Cheverny, Jean-Nicolas, Comte  181 (Anm. 53), 182 f, 185, 194 Anm. 98 Dupérac, Étienne  90 Durandus, Guilelmus (Durante / Durantis, Wilhelm)  74 (Anm. 13), 85 f, 95, 99, 101–103 Eberhard V., Graf von Württemberg  41 Edenberger, Lukas  45, 47, 53, 54 (Anm. 3), 55 f, 57 (Anm 15), 58 (Anm. 21), 59 f, 64, 65 (Anm. 52 f), 66 (Anm. 56), 67–69 Eilbert von Bremen  24 Eleonora von Österreich, Herzogin von Mantua  124 Engelbrecht, Peter  48 Épernon, Louis de Pardaillan de ­ Gondrin, Duc d’  177 Anm. 38 Equicola, Mario  128 (Anm. 43) Erasmus von Rotterdam  41–46, 48 f Ernestiner (Familie)  54 Ernst von Isserstedt  67 (Anm. 62), 68 Anm. 65 Este, Isabella d’  121 (Anm. 2), 122, 123 (Anm. 7), 124 Estrées, César, Cardinal d’  166 f, 193 Anm. 95

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Estrées, François-Annibal, Duc d’  166, 168 Anm. 9 Eugen IV. (Gabriele Condulmer), Papst  84, 100 Eugen (Franz), Prinz von Savoyen-Carignan 206 Facini, Francesco  131 Farnese, Margherita  133 Felix V. (Amadeus VIII. von Savoyen), Gegenpapst  84 Ferdinand von Ingen  8 Fibonacci, Leonardo  30, 38 Firmanus, Johannes Franciscus  98 Fischer, Johann Michael, bayrischer Hofbaumeister  207 Foix, Henri-François, Duc de  168 Anm. 9 Florinus, Franz Philipp  135 f, 138 (Anm. 9), 139, 140 (Anm. 14 f), ­141–143, 146, 152, 156, 158 f, 163 Foucault de Magny, Nicolas-Joseph  180 Anm. 47 Fouquet, Gerhard  10 Francini (Familie)  170 François I. (Franz I.), König von Frankreich  128 Fried, Johannes  15, 19, 21, 27, 30, 38 Friedrich I., »Barbarossa«, Kaiser des römisch-deutschen Reiches  22 f, 30 Friedrich II., Kaiser des römisch-deutschen Reiches  11, 20, 29, 32 Anm. 49, 36 Friedrich II., »der Große«, König von Preußen  12 Friedrich II., von Walchen, Erzbischof von Salzburg  24 Friedrich III., »der Weise«, Kurfürst von Sachsen 49 Friedrich Ludwig von Hannover, Prinz von Wales  156 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen  12 Fuchs, Hermann  45 (Anm. 27)

Gellius (Aulus Gellius)  86 Georg, »der Bärtige« (oder »der Reiche«), Fürst von Anhalt, Herzog von Sachsen  46, 49 Ghisi, Theodoro  123 Anm. 8 Girault, René  182 Gonzaga (Familie)  16, 121, 122 (Anm. 6), 123 Anm. 8, 16, 124, 125 Anm. 29, 126, 130 f, 134 Gonzaga, Cesare, Herzog von Amalfi  124 Gonzaga, Ercole, Bischof von ­ Mantua  123, 124 (Anm. 17/19), 126, 127 Gonzaga, Ferdinando, Herzog von Mantua und Montferrat  124 f, 126 (Anm. 34/36) Gonzaga, Francesco II., Markgraf von Mantua  121, 123 f Gonzaga, Federico II., Herzog von Mantua, Markgraf von Montferrat  121, 123, 129 Gonzaga, Guglielmo, Herzog von Mantua, Markgraf von Montferrat  123 f, 130, 132 Gonzaga, Vincenzo I., Herzog von Mantua, Markgraf von Montferrat  124 (Anm. 18/23), 125, 126 (Anm. 32), 127 Anm. 39, 130, 133 f Göthe, Johann Friedrich Eosander von, Hofbaumeister in Berlin  207, 210 Gottfried von Viterbo 25 f Grassis, Paris de, Bischof von Pesaro  72 (Anm. 4), 73, 74 Anm. 12, 76 Anm. 20, 78 f, 81 f, 92, 93 (Anm. 82), 94 (Anm. 88), 95–98, 99 (Anm. 107), 100 f, 103 f, 106 (Anm. 138), 107–109, 110 (Anm. 151, 152), 111 (Anm. 156), 112 f, 114 (Anm. 165), 115 f Gratian (Flavius Gratianus)  85, 92 Greissing, Joseph  206 Gundling, Jacob Paul von  12

Galahot (Artus-Roman)  32 f Galilei, Galileo  13 Gaurico, Luca  129, 130 (Anm. 53 f) Gengnagel, Jörg  10

Habsburg (Familie)  28, 41 Hadrian VI. (Adriaan Floriszoon ­ Boeyens), Papst  105 Harlay, Achille de  166 Anm. 4

222 Hartwig II. von Utlede, Erzbischof von Hamburg-Bremen, Reichsfürst von Bremen  24 Heinrich IV., König von Frankreich  135 Heinrich III., »der Löwe«, Herzog von Sachsen und Bayern (Heinrich XII.)  22, 34 Heinrich (Magister)  29 Helies von Toledo  32 f Helt, Georg  49 Heresbach, Konrad  42, 45 Herimannus 35 Hildebrandt, Johann Lucas von  208, 210, 213, 215 Hillebrandt, Franz Anton  217 Hizelo 34 Horaz (Quintus Horatius Flaccus)  86 Hozier (Familie)  186 (Anm. 75), 188, 189 Anm. 82, 190 Anm. 87, 191 (Anm. 89), 193, 194 (Anm. 97, 98), 195–197 Hozier, Charles, Chevalier d’  197 Anm. 103 Hozier, Louis-Pierre d’  191, 192 (Anm. 93) Hozier, Pierre d’  189 (Anm. 82), 190 Anm. 87, 191 Anm. 89 Hozier de Sérigny, Antoine-Marie  193 Anm. 96, 194 Anm. 97, 196 Anm. 102, 197 Anm. 103 Hugo von St. Viktor  35 Innozenz III. (Lotario dei Conti di Segni), Papst  101 Innozenz VIII. (Giovanni Battista Cibo), Papst  83 (Anm. 41), 89 Irmervard 35 James I., König von Schottland 101 Jenisch, Philipp Joseph  210 Johann I., »der Beständige«, Kurfürst von Sachsen  45, 53, 56, 65 Anm. 51 Johann Ernst, Herzog von SachsenCoburg  45, 53 f, 56, 59, 60 Anm. 32, 64, 66 (Anm. 57/59), 67 (Anm, 61), 68 Johann Friedrich I., »der Großmütige«, Kurfürst und Herzog von Sachsen  44,

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46, 48, 50, 53, 56, 58, 60 f, 62 (Anm. 36), 63 f, 65 Anm. 52, 66 Anm. 56/57, 67 f Johannes Paul II. (Karol Józef Wojtyła), Papst  105 Johannes von Salisbury  31 Julius II. (Giuliano della Rovere), Papst  72, 75 Anm. 17, 93, 96 f, 112 (Anm. 158) Junius, Erhard  50 Justitia 141 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis)  63, 86 Karl V. (Carlos María Isidro Benito de Borbón y Borbón-Parma), König von Spanien  48, 121 Karl XII., König von Schweden  205 Karl der Große, König des fränkischen Reiches, »römischer Kaiser«  20, 97 Karl (Carl) Philipp Reichsfreiherr von Greiffenclau zu Vollraths, Fürstbischof von Würzburg 211 Kemmerlin, Ulrich  48 f Konrad der Staufer, Pfalzgraf bei Rhein  26 Konrad von Würzburg  32 Anm. 49 Kriemhild (Nibelungenlied)  31 Krosner, Alexius  46, 50, 56 f, 61, 62 (Anm. 36), 63, 65 (Anm. 51), 66 Küchel, Johann Jacob Michael  205 La Tournelle, Charles-Arnould Nolin, Sieur de  182 (Anm. 62) Laktanz (Lucius Caecilius Firmianus)  86 Lambesc, Charles-Eugène de Lorraine, Prince de  197 Anm. 105 Lancelot (Artus-Roman)  31, 33 Lang von Wellenburg, Matthäus, Kar­ dinaldiakon  94 Le Nain, Jean  166 Anm. 4 Leo X. (Giovanni de’ Medici), Papst  72, 108, 121 Lescalopier, Jean  166, 167 (Anm. 7) Lesdiguières, Jean-François-Paul de Bonne de Créquy de Vesc d’Agoult, Duc de  177 Anm. 38

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Leibniz, Gottfried Wilhelm  13 Liard (Familie)  170 Linck, Wenzeslaus  109 Livius (Titus Livius)  86 Louvois, François-Michel Le Tellier, Marquis de  174 f, 177 Ludwig I. von Nassau-Dillenburg, Graf von Nassau  45, 46 Anm. 30 Ludwig XIV., König von Frankreich und Navarra  9, 155 f, 174 (Anm. 29), 176 Ludwig XV., König von Frankreich und Navarra 182 Ludwig XVI., König von Frankreich und Navarra 169 Luther, Martin 40, 48, 57 Anm. 15, 58 (Anm. 21), 59, 64, 109, 114 Maerker, Anna  9 Manardo, Giovanni  127 Mansart, Jules Hardouin  175 f Marcello, Cristoforo  102 (Anm. 120), 107–109, 114 Marcellus, Johannes  50 Anm. 53 Marcobruno, Evangelista  125 Marigny, Abel-François Poisson, ­ Marquis de  177 Mattioli, Pietro Andrea  123, 124 Anm. 22 Maurepas, Jean-Frédéric Phélypeaux, Comte de  186 Anm. 76 Maximilian I., Kaiser des römischdeutschen Reiches  48, 107 Maximilian Karl Albrecht, Fürst zu ­ Löwenstein-Wertheim-Rochefort  206 Maximilian von Welsch  205, 210 Medici, Eleonora de’  133 Medici, Francesco I. de’, Großherzog der Toskana  133 Melanchthon, Philipp  45, 58 (Anm. 21), 60 (Anm. 27), 66, 67 (Anm. 60), 69 Meslay, Anne-Jean Rouillé, Comte de  181 Messina, Giuseppe Moletti di  124 Michael Scotus  29, 32 Anm. 49, 34 Minadoi, Giovanni Tommaso  130 (Anm. 56), 131, 134

Monconseil, Étienne-Louis-Antoine Guinot, Comte de  179 Anm. 46 Montécot, Jeanne-Henriette de Thibault de La Carte-Senneterre, Marquise de  188 Anm. 80 Montmirail, François-Michel-César Le Tellier de Louvois, Marquis de  171 Anm. 19 Moran, Bruce T.  12 Morell, Andreas  155 f, 161 Mozart, Wolfgang Amadeus  108 (Anm. 147) Mucantius, Franciscus  94 f, 97, 107, 113 (Anm. 163), 117 Mutianus Rufus, Konrad  44 f, 58 (Anm. 19), 59, 67, 68 (Anm. 65) Napoleon I., Kaiser der Franzosen  194 Anm. 97, 196 Nauclerus, Johannes  42 Neumann, Balthasar  17, 199, ­201–204, 205 (Anm. 37), 206 f, 208 (Anm. 58), 209 f, 211 (Anm. 84), 212 (Anm. 86/88), 213–215, 216 (Anm. 114), 217 Neumann, Franz Ignaz Michael  208, 210, 211 Anm. 84 Olearius, Johann Christoph  155 Ormoy, Jules-Armand Colbert, ­Marquis d’  176 Orry, Philibert  177 (Anm. 39), 178 Anm. 42 Ovid (Publius Ovidius Naso)  86, 110 (Anm. 152) Pancio, Alfonso  132 (Anm. 68) Papillon de La Ferté, Denis-Pierre-Jean  172 (Anm. 22) Paul III. (Alessandro Farnese), Papst  98 Patrizi de’ Piccolomini, Agostino, Bischof von Pienza-Montalcino  72 f, 74 Anm. 12, 82, 83 (Anm. 34), ­84–92, 93 (Anm. 82), 95, 97 (Anm. 96), ­101–104, 106 f, 109, 116 Paul (Paulus von Tarsus)  76 Paulus Diaconus  86 Pendasio, Cesare  130 (Anm. 58), 131

224 Peter (Simon Petrus)  76 Pfadenhauer, Michaela  18 Philipp I., Herzog von Pommern  60 Anm. 26 Philipp von Genua  30 Pico della Mirandola (Familie)  127 Pippi, Giulio (Giulio Romano)  121 Pisanelli 131 Pius II. (Enea Silvio Piccolomini), Papst  84, 89 Pius V. (Antonio Michele Ghislieri), Papst  87, 113 Platon  60, 86, 181 Platzer, Balthasar  205 Plautus (Titus Maccius Plautus)  86 Plinius der Ältere (Gaius Plinius Secundus Maior)  67 Anm. 64, 111 (Anm. 155) Plutarch  65 (Anm. 47) Polybios von Megalopolis  86 Pompadour, Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de  177 Pomponazzi, Laura  131 Pomponazzi, Pietro  131 Pona, Francesco  126 (Anm. 34), 127 Pona, Giovanni  126 Pöppelmann, Matthäus Daniel, säch­ sischer Oberlandbaumeister  204 Ptolemaios (Claudius Ptolemäus)  29 Raffael (Raffaello Sanzio da Urbino)  121 Rangone, Tomaso  127 f, 130 f, 134 Rangoni, Guido  127–130 Rémond, Nicolas-François  180 Anm. 47, 181 Reuchlin, Johannes  42 Rexroth, Frank  55 f, 69 Richelieu, Louis-François-Armand du Plessis, Maréchal Duc de  172 (Anm. 23) Rieger, Urban  48 Rocelinus 34 Roppelt, Johann Baptist  205 Rouillé, Louis-Antoine  185 Anm. 70 Rudolf I., Kaiser des römisch-deutschen Reiches  30

Personenregister

Rudolf II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs  13 Sainctot, Nicolas  182 (Anm. 61/62) Sainctot, Nicolas-Sixte, Chevalier de  180 (Anm. 48/51), 181 Sagittarius, Caspar  155 Saint-Simon, Louis de Rouvroy, Duc de  166 (Anm. 4), 167, 168 Anm. 9, 181 (Anm. 56), 184 Anm. 68, 194 Anm. 98 Salmen, Walter  9 Scheurl, Christoph  64 (Anm. 42) Schiefer, Wolfgang  45  Schlegel, Christian  155 f Schönborn (Familie)  199 Anm. 3, 200 f, 202 Anm. 18, 209 f, 212 f, 215–217 Schönborn, Damian Hugo von, Kardinal und Fürstbischof von Speyer und Konstanz  200 Schönborn, Franz Georg von, KurfürstErzbischof von Trier und Fürstbischof von Worms  200, 214 Schönborn, Friedrich Karl von, Fürst­ bischof von Würzburg und Bamberg  199 f, 202 (Anm. 18), 203, 204 Anm. 27, 205 Anm. 38, 207, 212, 214–217 Schönborn, Johann Philipp Franz von, Fürstbischof von Würzburg  199–201, 203, 215 Schönborn, Lothar Franz von, KurfürstErzbischof von Mainz und Fürst­ bischof von Bamberg  138 Anm. 7, 200, 201 Anm. 10, 202 f, 210 Schönborn, Ludwig Franz von  205 Anm. 37 Schwarzburg (Familie)  153 (Anm. 37), 154 f Schwedler, Gerald  10 Segovia, Johannes de  84 Seiz, Johannes  205, 210 Sévin de la Penaye, François  169 Sixtus IV. (Francesco della Rovere), Papst  77, 83, 96, 106, 112 Smith, Pamela  12 Spalatin, Georg  40, 44–48, 56–59, 64 (Anm. 42), 65 f, 67 (Anm. 62), 68 (Anm. 65)

Personenregister

Spenlé, Virginie  9 Spieß, Karl-Heinz  22, 53 Anm. 1 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 86 Sully, Maximilien-Pierre-François-Nico­ las de Béthune, Duc de  168 Anm. 9 Tassos, Torquato  133 Tatz, Raphael  212 Terray, Joseph-Marie, Abbé  177, 178 Anm. 42 Thankmar 34 Theodor von Antiochia  38 Tiepolo, Giovanni Battista  212 f Tedeschini Piccolomini, Francesco, später Papst Pius III.  84 f Torniello (Francesco Torniello da Novara) 131 Tournehem, Charles-François-de-Paule Le Normand, Sieur de  177 Ulrich von Etzenbach  24 Urban, Heinrich  67 (Anm. 62), 68 Valerius Maximus  86 Varro (Marcus Terentius Varro)  86

225 Vergennes, Charles Gravier, Comte de  188 (Anm. 80) Vergil (Publius Vergilius Maro)  84, 110 Verneuil, Anne-Adélaide de Harville, Marquise de  184 Verneuil, Eusèbe-Félix Chaspoux, ­ Marquis de  182, 183 (Anm. 66), 184 (Anm. 66/68/70), 185 (Anm. 70/71) Villacerf, Édouard Colbert, Marquis de  175 Volrad V., Graf von Mansfeld  50 Voltaire (François-Marie Arouet)  12 (Anm. 27) Wale, Johannes (Gallicus)  35 Warnke, Martin  12, 208 Welfen (Familie)  28, 35 Wentzing, Heinrich Richard  161 Wenzel II., König von Böhmen, König von Polen (Wenzel I.)  24 Werner 34 Wolfger von Erla, Bischof von Passau, Patriarch von Aquileia  22, 24, 28 Wolfram der Jüngere, Rheingraf vom Stein  28 Wunder, Heide  17, 141

Ortsregister* Alexandria  96 f Aléria 89 Alpen  35, 75 Altenburg 66 Amberg 205 Anhalt, anhaltinisch  41, 49 Antiochia  38, 96 Arabien, arabisch  20, 29 f, 32 Anm. 49, 33 f, 38, 96 Anm. 93 Arnstadt, Arnstädter  17, 136, 152–157, 159 f, 161 (Anm. 64), 162 f Aschaffenburg 49 Augsburg  48, 94 Avignon  75 f Bamberg, Bamberger  75 Anm. 17, 199 f, 205 f, 210 Basel, Baseler  84, 140 Anm. 13 Bayern, bayrisch, niederbayrisch, oberbayerisch  28, 29 (Anm. 36), 42, 205, 214 Bayreuth 45 Belgien 205 Belgrad 206 Berg 45 Berlin, Berliner  12, 205 Bern, Berner  156 Böhmen 24 Bolanden 28 Bologna  75 Anm. 17, 92, 94, 99, 101, 103, 107, 122 Brandenburg  30, 43 Braunschweig-Lüneburg  11, 64 Anm. 42 Braunschweig-Wolfenbüttel 154 Bremen 24 Breslau 205 Budapest 205 Bulgarien 32

Cambridge 94 Camelot 31 Corsignano (s. Pienza) Deutschland, Süddeutschland, deutsch, süddeutsch, südostdeutsch  9, 14, 16, 20 f, 25, 27 f, 30 f, 33 f, 36, 38, 42 Anm. 15, 48, 50, 57 Anm. 15, 62, 64, 80, 84, 114, 122, 158, 201, 203 Anm. 27 Dresden  153, 205 Eger, Egerer  199, 205 f, 210, 215 Eisleben 57 England, englisch, angelsächsisch  20, 205 Erfurt  30, 44 f, 205 Europa, Westeuropa  14 f, 27, 29–31, 32 (Anm. 49), 33, 39, 74, 155 f, 168, 172, 191 Anm. 90, 205 Ferrara  127, 132 f Fontainebleau 169 Fontenoy 172 Franken  199 Anm. 3, 201 Frankreich, französisch  17 f, 20, 23 Anm. 18, 25, 37, 50, 75, 127 f, 135, 155, 161, 165, 167 (Anm. 7), 168, 173 Anm. 25, 189, 191 Anm. 90, 194 Anm. 97, 195 f, 201, 203, 205, 215 Gehren 153 Geldern 28 Georgenthal 57 Gévaudan 170 Goslar, Goslarer  34, 50 Gotha  44, 156 Göttingen, Göttinger  7 Anm. 1, 55, 87, 105, 115

* Es wird immer auf die von den Autorinnen und Autoren verwendete Schreibweise zurückgegriffen.

227

Ortsregister

Griechenland, griechisch  20, 29, 46, 50 Anm. 57, 61 f, 86, 112 Anm. 157 Habsburgisch 41 Hamburg 205 Hannover 156 Helmarshausen, Helmarshausener  35 Hildesheim 214 Holland 205 Holstein, holsteinisch  50 Innsbruck 45 Italien, italienisch, Oberitalien  7, 16, 20, 32, 37, 47, 50, 105, 122, 127, 158, 204 Anm. 27, 205 (Anm. 37), 206, 215 Jena, Jenaer  155 Jerusalem  96 (Anm. 93) Jülich 45 Kleve 45 Köln, Kölner  23, 40, 214 Konstantinopel  32 Anm. 49, 96 (Anm. 93) Konstanz 200 Kopenhagen, Kopenhagener  30 Korsika, korsisch  89, 196 Kronach 205 Kurpfalz, kurpfälzisch  41, 55 Anm. 6, 60 Anm. 26, 194 Anm. 97 Leipzig  49, 56, 205 Leone Vermiglio  133 Maderno  126, 127 Anm. 37/38 Mailand  94, 206 Mainz, Mainzer  22 f, 49, 138 Anm. 7, 200, 210 Mansfeld, Mansfelder  50 Mantua, mantuanisch  16, 121 (Anm. 1), 123 (Anm. 15), 124, 125 (Anm. 25), 126 (Anm. 34/35), 127–129, 130 (Anm. 53/54/56), 131–134 Marmirolo 123 Meißen 45 Melk 205 Minden 106

Minorca 172 Monferrat 134 München  94, 207 Münster 214 Narbonne 94 Neapel, neapolitanisch  97 Neresheim  201 f Niederlande 205 Novarra 131 Nürnberg  138, 140 Anm. 13 Nymphenburg 205 Osnabrück 214 Österreich, österreichisch  49, 124, 197 Anm. 105, 206, 211 Anm. 84 Paderborn  158 Anm. 58, 214 Padua  122, 126 Anm. 34, 130 Anm. 57, 132 Palermo 29 Paris, Pariser  94, 165, 167, 180 Anm. 49, 186 Anm. 75, 191, 192 (Anm. 91), 194 (Anm. 98), 205 (Anm. 37), 209 Parma 94 Passau, Passauer  24, 28, 205 Pavia  30, 129 Pienza  83 f Pisa  30, 125 Pommersfelden  201, 203 Potsdam 205 Prag  13, 205 Preußen, preußisch  11 f, 184 Anm. 68 Provence 25 Randersacker  211 f Ravenna 127 Regensburg  30, 84, 205 Reval 205 Riechenburg 34 Rom, römisch  25, 48, 63, 73–77, 79, 84, 86 f, 90, 94, 96 (Anm. 93), 97, 99 Anm. 107, 100, 102, 104 f, 107, 111, 116, 131, 201, 204 Anm. 28 Rotterdam 41–43 Sacchetto 131

228 Sachsen, sächsisch, kursächsisch  9, 40 f, 44–50, 53, 56, 58 f, 61, 63, 64 (Anm. 42), 65 (Anm. 49/51/53), 66 f, 68 (Anm. 65), 153, 204, 207, 210, 213 Anm. 97, 216 Anm. 113 Sachsen-Weimar  43, 153 Salzburg  24, 94 Schottland 11 Schwaben, schwäbisch  207 Schwarzburg-Arnstadt (s. Arnstadt) Schwarzburg-Rudolstadt 153 Schwarzburg-Sondershausen 153 Schweden, schwedisch  205 Siena  83, 86 Sizilien, sizilianisch, sizilisch-normannisch  20, 25, 29, 34, 38 Spanien 20, 25, 29, 32 Speyer 200 St. Blasius  35 St. Gallen  156 St. Margarethen  205 Stockholm 205 Stolberg  50 Straßburg  73, 86, 104 Syrien 130 Thüringen, thüringisch  64, 66, 136, 153, 207 Tirol 28 Toledo  29, 32 (Anm. 49) Torgau, Torgauer  53 (Anm. 3) Trient, Trienter  72, 102, 107, 115, 117

Ortsregister

Trier  200, 210 Ungarn, ungarisch  205, 217 Vatikan, vatikanisch  83, 95, 103, 105, 115 Venedig, venezianisch 94, 121, 126, 129, 130 (Anm. 53), 133, 206 Verona, veronesisch  123, 126 (Anm. 34) Versailles  165, 168, 169 Anm. 12/13, 170, 173, 175 Anm. 30/32, 176 (Anm. 34/37), 177 Anm. 38/39/40/41, 178 Anm. 42/44, 184, 185 Anm. 72, 192 Anm. 93, 193 Anm. 96, 194 (Anm. 98), 197 Anm. 105 Wales 156 Weimar  58, 61, 64 Wien  205 f, 208, 211 Anm. 84, 217 Wittenberg, Wittenberger  40, 44 f, 54 Anm. 3, 56, 58, 60, 64, 66 (Anm. 56/57/59), 67, 136 Wolfenbüttel, Wolfenbüttler  9, 152 Anm. 33, 154 Worms  48, 200 Württemberg, württembergisch  41 f, 47, 210 Würzburg, Würzburger, würzburgisch  32 Anm. 49, 199, 201, 206–210, 212 f, 215, 217 Zürich  156, 197 Anm. 105