Herrschaft und Volk im Karolingischen Imperium: Studien über soziale Konflikte und dogmatisch-politische Kontroversen im fränkischen Reich [Reprint 2021 ed.] 9783112536049, 9783112536032

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Herrschaft und Volk im Karolingischen Imperium: Studien über soziale Konflikte und dogmatisch-politische Kontroversen im fränkischen Reich [Reprint 2021 ed.]
 9783112536049, 9783112536032

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SIEGFRIED

EPPERLEIN

H E R R S C H A F T U N D VOLK IM K A R O L I N G I S C H E N I M P E R I U M

F O R S C H U N G E N ZUR M I T T E L A L T E R L I C H E N

GESCHICHTE

begründet von Heinrich Sproemberg "j" Herausgegeben von G. Heitz, E. Müller-Mertens, B. Töpfer und E. Werner

B A N D 14

AK ADE M I E -VE RLAG 1969



B E R L I N

SIEGFRIED

EPPERLEIN

HERRSCHAFT U N D VOLK IM KAROLINGISCHEN IMPERIUM Studien über soziale Konflikte und dogmatisch-politische Kontroversen im fränkischen Reich

A K A D E M I E - V E R L A G

1969



B E R L I N

Erschienen im Akademie-Verlag G m b H , 108 Berlin, Leipziger StraBe 3—4 Copyright 1969 b y Akademie-Verlag G m b H Lizenznummer: 202 • 100/49/69 E n t w u r f : Karl Salzbrunn, Berlin Offsetdruck und buchbinderische Weiterverarbeitung: V E B Druckerei „ T h o m a s M ü n t z e r " , 582 B a d Langensalza Bestellnummer: 2090/14 • E S 14 D 36,50

INHA LT

VOBWOBT ABKÜB ZUNGEN I.

7 13

FORMEN BÄUERLICHEN WIDERSTANDES UND DIE SOZIALPOLITIK FRÄNKISCHER.HERBSCHER IM 8. UND 9. JAHRHUNDERT

15

1. Leistungsverweigerungen der ländlichen Bevölkerung

20

2. Die Flucht

29

a) Die Klöster

29

b) Das Königsgut

31

c) Die Ursachen der Flucht

39

3. Bäuerliche Schwurbünde und Erhebungen

42

a) ' coniurationes'

42

b) Der Stellingaaufstand

50

4. Die Reformpolitik Karls des Großen, Ludwigs des Frommen und Schutzmaßnahmen der fränkischen Herrscher zugunsten der unteren Bevölkerungsschichten

69

a) Die Reorganisation des Königsgutes

69

b) Die Reorganisation der Königsboten und die Rechtssicherheit im karolingischen Imperium

75

c) Die Reorganisation des Gerichtswesens und des Heeresdienstes

84

d) 'pauperes* und 'latrones'

89

II. BÄUERLICHES FREIHEITSSTREBEN UND DIE SOGENANNTE FREILASSUNG IM FRÜHEN MITTELALTER

105

1. Die Freiheitsprozesse

108

2. Die Haltung der fränkischen Kirche gegenüber den Freigelassenen

127

3. Die wirtschaftliche Lage der Freigelassenen

139

4. Die Haltung fränkischer Herrscher zur Freilassung

146

Iü. MARKNUTZUNG

UND MARKSTREITIGKEITEN

IN DEN SÜDLICHEN

GEBIETEN DES OST FRÄNKISCHEN REICHES IM 9. JAHRHUNDERT 1. St. Gallen 2. Kremsmlinster 3. Kempten IV. RHABANUS MAURUS, HINKMAR VON REIMS, GOTTSCHALK DER SACHSE UND DER SOGENANNTE PRAEDESTINATIONSSTREIT IM FRÄNKISCHEN REICH IM 9. JAHRHUNDERT 1. Die Oblation Gottschalks und sein Prozeß gegen Abt Rhaban von Fulda 2. Die Lehre Gottschalks und die Reaktion des Abtes Rhaban von Fulda, des späteren Erzbischofs von Mainz und des Erzbischofs Hinkmar von Reims a) Die absolute Praedestinationslehre Gottschalks und die guten Werke des Volkes in der Anschauung der fränkischen Kirche b) Die feudale Sakramentskirche in der Auffassung von Erzbischof Rhaban, Erzbischof Hinkmar von Reims und die Praedestinationslehre Gottschalks 3. Die Verurteilung Gottschalks und der Ausgang des Praedestinationsstreites im fränkischen Reich a) Adelsopposition und kirchlicher Reichseinheitsgedanke ERGEBNISSE QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

VORWORT

Das Zeitalter der Karolinger und deren Werk, das karolingische Imperium, erregen seit geraumer Zeit unter den verschiedensten Gesichtspunkten das lebhafte Interesse der mittelalterlichen Geschichtsforschung. Dabei stand weniger eine Gesamtwertung des Reiches und der politischen Leistung seiner Schöpfer generell im Vordergrund der Betrachtung, wenn solche Untersuchungen auch keineswegs fehlen. Denken wir nur an H. Fichtenau 1 , 2 3 F . L . Ganshof und K. Bosl , die sich mit Recht gegen eine Idealisierung des karolingischen Imperiums und seiner Entstehung wenden. Besonders die Vielfalt der Kontroversen und nicht zuletzt die sich ständig differenzierenden und verfeinernden Forschungsmethoden führten indes dazu, daß man sich zunächst wichtigen Spezialproblemen zuwandte, um so auf begrenzterem Gebiete neue Resultate erzielen zu können. Wenn sich vor allem in der westdeutschen Mediävistik dabei ein gewisser geistesgeschichtlich orientierter Trend nicht verkennen läßt, der namentlich f ü r Forschungen über Karl den Großen, seine Politik und

1 Fichtenau, H., Das karolingische Imperium. Durchaus zutreffend unternimmt es hier F . , einmal die "Schattenseiten" dieses Reiches, die Willkür der Großen, die Bedrückung des Volkes und die häufig vorherrschende Rechtsunsicherheit zu würdigen. Er gelangt dabei indes nicht zu einer völlig befriedigenden Wertung dieses Großreiches, dessen positive historische Bedeutung bei aller Gewalttätigkeit seiner Herrscher und des Adels, die allerdings in der bisherigen Forschung nicht immer gebührend beachtet wurde, durch einen wenig glücklichen Vergleich mit "Großreichsbildungen" in neuerer Zeit weitgehend verkannt wird. 2 Ganshof. F . L . , La fin du règne de Charlemagne - une décomposition, S. 439 f. Derselbe. Was waren die Kapitularien?; G. äußert in seinen Studien teilweise erhebliche Zweifel an der gesetzgeberischen Leistung Karls des Großen, dessen Herrschaft G. einer scharfsinnigen Kritik unterzieht und sich dabei eingehend mit den Kapitularien beschäftigt, deren Aussagewert e r dabei beträchtlich einschränkt. 3 Bosl. K . . Anfänge und Ansatzpunkte deutscher Gesellschaftsentwicklung, S. 31; B. bemerkt, daß die Aufrichtung des fränkischen Reiches auch "mit dem Schwert, mit Blut, Deportation (Nordalbingien), mit Härte, Brutalität und Konsequenz" geschah; für die merowingische Zeit vgl. auch Graus, F . . Die Rolle der Gewalt bei den Anfängen des Feudalismus und die "Gefangenenbefreiungen" der merowingischen Hagiographie, S. 83 f. 7

4 sein Kaisertum vielfach kennzeichnend ist , so können wir doch diese Tendenz nicht ohne weiteres verallgemeinern. Widmeten etwa unter verfassungsgeschichtlichem Aspekt K. Bosl und P . Classen

5

der

Frage der Bedeutung des Adels für den Aufbau des karolingischen Imperiums ihr Interesse, g so legte W. Metz

mehrere Studien vor, die neuen Aufschluß Uber die Wirtschaftspolitik

der fränkischen Herrscher, besonders Karls des Großen, und den Aufbau des Reichsgutes geben, dem ja in den Auseinandersetzungen zwischen dem zusehends erstarkenden Adel und der Zentralgewalt im 8. und 9. Jh. wachsende Bedeutung zukam. Diesen Spannungen 7 und Konflikten ging jüngst E. Müller-Mertens

unter einem besonderen Gesichtspunkt nach.

Er analysierte dabei vor allem die Haltung, die Herrscher und feudale Aristokratie gegenüber den ' liberi homines' einnahmen, die, von den 'potentes' häufig bedrUckt, Gegenstand von Schutzmaßnahmen einzelner fränkischer Herrscher waren. Wie in einigen Studien,' in denen Müller-Mertens die Genesis der feudalen Gesellschaftsg Ordnung sowie die mittelalterliche deutsche Geschichte überhaupt ins Auge faßt , untersucht er auch in seinem Werk das Problem, auf welche Weise der größte Teil der ländlichen Bevölkerung im frühen Mittelalter in Abhängigkeit geriet, welche Methoden vorwiegend angewandt wurden, um möglichst breite Bevölkerungskreise in die entstehende Grundherrschaft einzugliedern. Im folgenden möchten wir einige Studien vorlegen, in denen wir vor allem auf Fragen eingehen wollen, die sich aus den Beziehungen zwischen Grundherren und ländlicher Bevölkerung im karolingischen Imperium ergeben. Dabei ist zu beachten, daß der Feudalisierungsprozeß, wie er sich im 8. und 9. Jh. in Westeuropa vollzog, im wesentlichen durch zwei grundsätzliche Entwicklungstendenzen gekennzeichnet ist: durch die Überführung noch freier Bauern in die feudale Abhängigkeit, wie es sich in den östlichen Gebieten des fränkischen Beiches beobachten läßt, und den Aufstieg Unfreier zu feudalabhängigen Hörigen, der westlich des Rheins deutlich hervortritt. Im ersten Kapitel gehen wir der Frage nach, ob diese unterschiedlichen Formen der gesellschaftlichen Entwicklung auch den sozialen

4 Vgl. auch Epperlein. S., Karl der Große in der deutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung, S. 235 f. 5 Vgl. Bosl. K . , Der'aristokratische' Charakter europäischer Staats-und Sozialentwicklung. S. 630 f . ; jClassen, P . . Die Verträge von Verdun, S. 20 f. 6 Vgl. zuletzt Metz, W . , Das karolingische Reichsgut, passim. 7 Müller-Mertens, E . , Karl der Große. 8 Müller-Mertens, E . , Vom Regnum Teutonicum zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, S. 319 f . ; derselbe. Die Genesis der Feudalgesellschaft im Lichte der schriftlichen Quellen, S. 1384 f. 8

Auseinandersetzungen einen divergierenden Charakter verleihen. Dabei wollen wir vor allem untersuchen, ob innerhalb der bereits grundherrlich abhängig gewordenen Bevölkerungsschichten Formen des Widerstandes gegen die Belastung mit bestimmten feudalen Leistungen erkennbar sind. Gegenüber der fortgeschrittenen feudalen Entwicklung im Westen des fränkischen Reiches, wo der Hörige innerhalb der ländlichen Bevölkerung bald dominiert, waren östlich des Rheins die gesellschaftlichen Verhältnisse noch nicht so weit entwickelt. Hier lebte noch eine zahlreiche freie Bauernschaft, die sich in Erhebungen gegen die drohende Feudalisierung wehrte. Eine erneute Untersuchung des sog. Steilingaaufstandes soll zeigen, in welchem Maße auch noch weitgehend freie Bauern unter den Bedingungen einer besonderen politischen Konstellation im 9. Jh. den geschichtlichen Verlauf maßgebend zu beeinflussen vermochten. Verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit hat die bürgerliche Forschung der Frage gewidmet, ob die unteren Bevölkerungsschichten jede Bedrückung so gut wie willenlos hinnahmen oder ob sich Widerstand regte. Blieb eine solche doch zumindest mögliche Reaktion nur einzelnen Angehörigen der feudalen Oberschichten vorbehalten, die sich in ihrer Auseinan9

dersetzung mit fränkischen Herrschern auf ihr Widerstands recht beriefen? Oder läßt sich eine Resistenz, wie immer sie im einzelnen geartet sein möge, auch bei der ländlichen Bevölkerung ganz allgemein beobachten, wie es etwa auch A. Dopsch in seinen freilich nicht immer von inneren Widersprüchen freien Untersuchungen andeutete ? ^ Wenn sich aber eine Bedrückung der unteren Volksschichten nachweisen ließe, die sich möglicherweise dagegen in verschiedener Form zur Wehr setzten, dann wäre weiter zu fragen, inwieweit es einen Rechtsschutz gab, den sie angeblich genossen, und ob von einer Rechtssicherheit gesprochen werden kann, in der sie gelebt haben sollen. Die Untersuchung des Verhaltens einiger mit der Rechtsprechung betrauter, im fränkischen Reich wirkender Persönlichkeiten aus dem weltlichen und geistlichen Bereich, besonders gegenüber der ländlichen Bevölkerung, und eine Analyse der namentlich von fränkischen Herrschern gegen die häufig geübte Willkür der Großen ergriffenen Maßnahmen im Rahmen einer 'Sozialpolitik' ** dürften geeignet sein, zur Klärung der in letzter Zeit wiederholt erörterten Frage von Rechtsschutz und 9

Vgl. etwa Schaab. M., Die Blendung als politische Maßnahme im abendländischen Früh- und Hochmittelalter, S. 35 f . ; Metz, K . . Die Exilierung als polit. Maßnahme im Frankenreich sowie in Deutschland und Frankreich bis zum Ende des 10. J h . , S. 27 f . ; vgl. auch Kern, F . . Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter, S. 138 f. 10 Vgl. Dopsch, A . . Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, Bd. 2, S. 27 f. 11 So Cleff, Chr., Der Schutz der wirtschaftlich und sozial Schwachen in den Kapitularien Karls des Großen und der nachfolgenden Karolinger, passim. 9

Rechtssicherheit im frühen Mittelalter beizutragen. Zugleich werden dabei Wirkungskraft und Erfolgsaussicht zumindest einzelner Gesetze und Maßnahmen fränkischer Herrscher sichtbar, deren Gesetzgebung jüngst wiederholt im Blickfeld der wissenschaftlichen Erör12

terung stand. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels unserer Arbeit wird eine genauere Untersuchung der Freilassung stehen, die vor allem im westlichen Teil des fränkischen Reiches bezeugt ist. Es ist zu fragen, ob nicht hier, wo die Ausbreitung der Grundherrschaft im 8. und 9. Jh. deutliche Fortschritte machte, noch hufenlose, unfreie Bevölkerungsschichten nach einer Lockerung ihrer besonders drückenden Unfreiheit und einer Landausstattung im Rahmen der Freilassung strebten, um auf diese Weise in die Klasse der Feudalbauern aufzusteigen. Besondere Aufmerksamkeit widmen wir in diesem Zusammenhang den Freiheitsprozessen. Außerdem soll analysiert werden, ob die Kirche die Tendenz zur Freilassung auf Seiten der weltlichen Grundherren nicht auch dazu benutzte, die Zahl der von der Kirche Abhängigen zu vergrößern, indem sie den Schutz der Freigelassenen übernahm und daraus 13 14 15 gewisse Verfügungsrechte ableitete. Seit A. Fournier , K. Zeumer , H. Brunner und 16 A. Dopsch wurde diese Frage noch nicht wieder umfassend und systematisch erforscht. Gegenüber der bisher vorwiegend rechtsgeschichtlich orientierten Betrachtungsweise sollen in unserer Untersuchung dieses zweifellos schwierigen und vielschichtigen Problems möglichst viele Seiten berücksichtigt und die dabei auftretenden juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Einzelheiten im Zusammenhang mit der aufstrebenden Grundherrschaft gesehen werden. Im 3. Kapitel untersuchen wir das Problem, inwieweit die ländliche Bevölkerung danach strebte, ihre eigene Position gegenüber den feudalen Oberschichten, etwa durch eigenmächtige Rodung oder Behauptung von Wald- und Weidenutzungsrechten, zu bewahren oder zu

12

13 14 15 16 10

Vgl. besonders Ganshof. F . L . . Was waren die Kapitularien? a . a . O . , passim; dagegen Schieffer. T h . . Die Krise des karolingischen Imperiums, S. 1 f . ; K. wendet sich gegen die Auffassung Ganshof' s, die Regierung Ludwigs des Frommen sei im wesentlichen eine 'décomposition' gewesen. S. Betont demgegenüber die unter Ludwig spürbaren Reformbestrebungen der Kirche und die Bemühungen kirchlicher Kreise, die Reichseinheit zu bewahren. Allerdings wird man bei aller Anerkennung dieser Tendenzen doch nicht Ubersehen dürfen, daß sie schließlich an den wirtschaftlichen und politischen Realitäten scheiterten, die die Auflösung des Imperiums einleiteten und bedingten. Fournier. M . . Les affranchissements de Ve au XlIIe siècle, S. 1 f. Zeumer. K . . Über die Beerbung der Freigelassenen durch den Fiskus nach fränkischem Recht, S. 189 f . Brunner. H., Die Freilassung durch Schatzwurf, S. 55 f. Dopsch, A . , Freilassung und Wirtschaft im frühen Mittelalter, S. 93 f.

verbessern.

17

Besonders gehen wir dabei auf Streitigkeiten ein, die einzelne Klöster im

östlichen Teil des fränkischen Reiches um Marknutzungsrechte und den Besitz an Markländereien mit der ländlichen Bevölkerung ausfochten. Das unsere Arbeit beendende Kapitel wurde von der Überlegung angeregt, daß die mit der Entstehung und Festigung der Feudalordnung im fränkischen Reich aufgeworfene Problematik, von der die herrschenden Kreise ebenso wie andere Bevölkerungsschichten betroffen wurden und mit der sie sich auseinanderzusetzen hatten, nicht nur im Bereich der Sozialund Wirtschaftsgeschichte faßbar sein wird, wenn sie auch hier oft unmittelbar und mit besonderer Deutlichkeit hervortreten dürfte. Auch im geistigen, kirchlichen Bereich, auf dem Gebiet der dogmatischen Auseinandersetzungen und der theologischen Kontroversen etwa kann sich der im 8. und 9. J h . in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens spürbare tiefgreifende Strukturwandel bemerkbar machen. Daher hielten wir es für lohnend, abschließend die Frage zu erörtern, ob, vielleicht ähnlich wie auf der Ebene der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, auch in der Sphäre der religiösen Beziehungen Kräfte sichtbar werden, die, freilich in Herkunft, Form und Ziel wesentlich von Widerstandsregungen etwa der ländlichen Bevölkerung unterschieden, gegen die Art und Weise opponierten, wie die mit dem fränkischen Reich eng verflochtene Kirche die christliche Religion auffaßte und deren Gebote auslegte. 18

Zwar wird es sicher verfehlt sein, wie zuletzt B. Töpfer

ausführte, im 8. und 9. J h . ,

wo sich die junge feudale Gesellschaftsordnung erst etablierte, etwa mit chiliastischen Zukunftserwartungen zu rechnen, die die sich eben erst durchsetzende Ordnung schon als verderbt empfanden und an ihre Stelle grundsätzlich neue Verhältnisse setzen wollten. Doch dürfte eine solche

an sich völlig«utreffende Feststellung noch nicht alle Möglichkeiten und

Varianten einer gegen die aufstrebende fränkische Kirche gerichteten Opposition völlig erschöpfen, die, auch von vielfach außerkirchlichen Kreisen ausgehend, im frühen Mittelalter hervortreten konnte. Auf solche geistigen, zum Teil häretischen Strömungen im fränkischen 19 Reich wies zuletzt H. Grundmann in einem Uberblick hin und ging dabei auch auf den Fuldaer Mönch Gottschalk ein. Wir wandten uns daher dem Wirken dieser eigenartigen Per17

Vgl. Wopfner. H . . Beiträge zur Geschichte der älteren Markgenossenschaft, S. 1 f . ; dagegen Dopsch. A . . Die Markgenossenschaft der Karolingerzeit, S. 401 f . ; derselbe. Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, Bd. 1, S. 361 f . ; Ganahl. K . H . . Die Marie in den ältesten St. Galler Urkunden, Bd. 61, 1941, S. 21 f. Neussychin. A . J . . Sud 'ba sowobodnowo krest' janstwa w Germanii w 8.-12.ww., S. 86 f. 18 Töpfer. B . , Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter, S. 13. 19 Grundmann, H.. Ketzergeschichte des Mittelalters, S. 3 f. 11

sönliohkeit zu, dessen Leben und Lehre von der Forschung bisher verschiedentlich unter konfessionellen und geistesgeschichtlichen Gesichtspunkten interpretiert, aber auch mißdeu,

tet wurde.

20

Naturgemäß kann im Rahmen dieser Arbeit nicht auf alle Fragen eingegangen werden, die sich aus dem Feudalisierungsprozeß ergeben, wie er sich im frühen Mittelalter in Westeuropa vollzog. Doch sollen die folgenden Untersuchungen deutlich machen, wie kompliziert die Entstehung der Feudalordnung im einzelnen verlief und welche Widerstände dabei zu überwinden waren.

20

12

Vgl. zuletzt Vielhaber, K . , Gottschalk der Sachse, S. 1 f . ; Mitterauer. M . . Chr., Gottschalk der Sachse und seine Gegner im Prädestinationsstreit, passim.

ABKÜRZUNGEN

Cap.

Capitularía

DA

Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters

DLZ

Deutsche Literaturzeitung

Epp.

Epistolae

FF

Formulae

HZ

Historische Zeitschrift

Jb.

Jahrbuch

LL

Leges

MGH

Monumenta Germaniae Histórica

MIÖG

Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung

NA

Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde

PL

Patrología Latina

SS

Scriptores

Scr. r e r . germ.

Scriptores rerum germanicarum

UB

Urkundenbuch

VSWG

Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

ZRG, GA, KA.

Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Kanonistische Abteilung

ZfG

Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

13

I.

F O R M E N B Ä U E R L I C H E N W I D E R S T A N D E S UND DIE SOZIALPOLITIK 8 . UND 9 .

FRÄNKISCHER HERRSCHER

IM

JAHRHUNDERT

In seiner 1879 erschienenen 'Deutschen Wirtschaftsgeschichte' gelangte K.Th. v. InamaSternegg zu der Ansicht, daß die ländliche Bevölkerung, die sich im 8. und 9. Jahrhundert immer mehr der Gewalt der Grundherren ausgeliefert sah, "allmählich einer Gleichgültigkeit gegen jeden Fortschritt und jede Erhebung, schließlich auch gegen die eigene Freiheit und Selbstbestimmung" verfiel. Die Bauern hätten die ' Gewißheit' gehabt, "ihr Los aus eigener Kraft nicht verbessern zu können". Nur die "Verbrüderung und geheimen Verbindungen" deuteten an, daß nicht "alles Selbstbewußtsein und nicht jeder Drang nach Selbsthilfe durch die grundherrschaftliche Organisation der unteren Volksklassen zu ersticken 21 w a r "... Auf die von Inama-Sternegg untersuchten Beziehungen zwischen Herrschaft und ländli22

eher Bevölkerung im frühen Mittelalter ging 1896 W. Sickel in einer Studie ein. Sickel, 23 sichtlich von v. Inama-Sternegg und K. Lamprecht beeinflußt, deutet zwar an, daß seit dem Niedergang der Freiheit sich "die unteren Volksklassen nicht willenlos ihrem Schicksal unterwarfen". Er verweist hier auf die "conjurationes", die jedoch nur kursorisch analysiert und dargestellt werden sowie auf den Steilingaaufstand, der ebenfalls nur kurz erwähnt wird. Nur "kleine Gruppen von Menschen erwachen für einen Augenblick aus dem Schlaf des politischen Todes, sie greifen zu den Waffen, sie stehen wider ihre Beherrscher 24 auf." Insgesamt gesehen ist Sickels Urteil weithin von der Depression der freien Bauern geprägt. "Millionen von Freien", schreibt e r , "sind Herrschaftsleute geworden. Alle diese mit der Not kämpfenden und in ihr untergehenden Menschen fanden keinen Zusammenhang. In keiner Volksversammlung hat das Volk seine Angelegenheiten erörtert, kein Führer hat seine Forderungen aufgestellt und seine Waffen geleitet. Die Kräfte des Volkes lagen 21 v. Inama-Sternegg. K. T h . . Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 361 f. 22 Sickel, W.. Die Privatherrschaften im fränkischen Reiche, S. 111 f. 23 Lamprecht. K . . Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter, Bd. 1, 2. Teil, besonders S. 737 ff. 24 Sickel. W.. ebenda S. 170. 15

zerstreut. Die Leiden des einzelnen gelangten zur Kenntnis weniger, die meisten wußten 25 und erfuhren nichts voneinander." Von der mit lebhafter Anteilnahme am Los der Bauern im frühen Mittelalter verfaßten Arbeit von W. Sickel hebt sich ein Werk ab, das, mit großer Quellenkenntnis und kritischem Scharfblick geschrieben, wesentliche Partien der weithin auf von Inama-Sternegg und K. Lamprecht basierenden wirtschaftsgeschichtlichen Forschung anzweifelte und ihren weiteren Fortgang in Deutschland maßgeblich beeinflußte. A. Dopsch verwickelte sich jedoch in seiner 1912 zum ersten Mal erschienenen Darstellung der "Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit"

in Widersprüche. Es ist sicher verdienstlich, wenn Dopsch auf bestimmte

Erscheinungsformen bäuerlicher Resistenz gegen feudale Willkür aufmerksam machte. Recht fragwürdig ist indes seine Einschätzung dieses Phänomens. Dopsch sucht sich hier mit der formaljuristischen Feststellung zu helfen, daß dieser Widerstand ebenso wie die Verknechtung Freier widerrechtlich war und meint, daß die "widerrechtliche Selbstbefreiung Unfreier" die "widerrechtliche Verknechtung Freier", gemessen an der Zahl der auf 26 uns gekommenen Quellennachweise,reichlich kompensiert.

Das Recht wurde also, das

ergibt sich jedenfalls aus der Ansicht von Dopsch, von Feudalherren und Bauern verletzt, wobei die ländliche Bevölkerung sich häufiger unrechtmäßig verhielt als die Herren. So zweifelhaft diese Feststellung ist, so richtig ist Dopschs Hinweis auf bäuerlichen Widerstand. Andererseits aber meint Dopsch, daß "die Klage über Bedrückung der Armen durch die Reichen und Mächtigen eine seit altersher beliebte Phrase der Moralprediger ge27 wesen s e i . "

Wenn die Erwähnung feudaler Bedrückung im frühen Mittelalter sich ledig-

lich auf phraseologische Wendungen reduziert, denen keine wirkliche Bedeutung beizumessen ist, dann wird man an der Frage nicht vorbeikommen, weshalb es dann "Retorsionsbewegungen" gab, die Dopsch doch 28 selbst schildert. Wo wenig Druck besteht, gibt es sicherlieh auch keinen Gegendruck. Gegenüber von Sickel, von Inama-Sternegg und in gewisser Hinsicht auch im Gegensatz zu DopSeh, die wenigstens noch in einzelnen Fällen mit einer Aktivität der ländlichen 25 26 27 28

16

Sickel. W . , ebenda. Dopsch. A . , Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, Bd. 2, S. 36. Dopsch. A . . ebenda, S. 14. Später wiederum bemerkt A. Dopsch durchaus richtig zur Frage der Bedrückung der ländlichen Bevölkerung: "Es kann kein Zweifel sein: Das sind keine etwa durch die Eigenart der Verfassungs- und Wirtschaftsentwicklung karolingischer Zeiten bedingten sozialen Ereignisse, sondern wiederkehrende typische Begleiterscheinungen bestimmter wirtschaftlicher und verfassungsrechtlicher Bildungen überhaupt, und zwar vornehmlich der großen Grundherrschaften und der Feudalisierung öffentlicher Gewalten." Vgl. Dopsch. A . . Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, Bd. 2, S. 13 f.

Bevölkerung und ihrer Gegenwehr gegen feudale Bedrückung rechneten, begann mit 29 30 F r . Lütge , H. Dannenbauer und K. Bosl eine neue Forschungsetappe. Nach F r . Lütge ist das Treueverhältnis wesentlich, das Grundherren und Grundholden miteinander verbindet und in der Schutz- und Fürsorgeverpflichtung der Herren und der Treue- und Hilfsverpflichtung der Hörigen seinen Ausdruck findet. Damit wird deutlich, daß im Gegensatz zu von Inama-Sternegg und besonders zu W. Sickel, in deren Arbeiten die heftigen sozialen Auseinandersetzungen zwischen Grund31 herrn und Bauern noch zur Geltung kommen, bei F r . Lütge, im Anschluß an O. Brunner , die Schutz-Hilfebeziehungen als die das Leben innerhalb der Grundherrschaft bestimmenden Kategorien in den Vordergrund rücken. Gewalttätigkeiten beim Ausbau der Grundherr Schaft waren allenfalls Ausnahmeerscheinungen und auch nicht weiter bedrohlich, "schon weil der 32 Rechtsschutz im allgemeinen eine wirksame Hilfe dagegen bot." Neue Akzente setzten H. Dannenbauer und K. Bosl, die dem Adel eine seit der Antike ausschlaggebende Stellung im geschichtlichen Geschehen zuwiesen, demgegenüber die ländliche Bevölkerung angeblich zu völliger Bedeutungslosigkeit herabsank. So schrieb bereits in einer Betrachtung über Grundlagen der deutschen Verfassungsent1941 H. Dannenbauer 33 Wicklung : "Die Taten und Untaten dieser weltlich-geistlichen Aristokratie machen die Geschichte jener Jahrhunderte aus; mit ihnen füllen die Chronisten der Zeit die Blätter ihrer Bücher. Von anderen Leuten ist nichts zu vermelden. Das Volk auf dem Lande ist zum größten Teil abhängig, unfrei in mannigfaltigen Abstufungen. Es hat zu gehorchen, zu arbeiten und Abgaben zu entrichten. Zu sagen hat es nichts. Es hat im Grunde keine Geschicht e . " Insgesamt gesehen bleibt damit jede mögliche Aktivität der unteren Volksschichten gegenüber der einziehenden Feudalordnung gänzlich am Rande der Betrachtung und vielfach unberücksichtigt. Zu einer stark herrschaftsgebundenen Sicht neigt auch K. Bosl. Sie deutet sich bereits

29 30

31 32 33

Lütge. F r . . Die Agrarverfassung des frühen Mittelalters im mitteldeutschen Raum, S. 171, 213. Vgl. Lütge, F r . , Deutsche Sozial-und Wirtschaftsgeschichte, S. 47 f . ; Derselbe, Geschichte der deutschen Agrarverfassung, S. 32; allerdings läßt L. hier, wenigstens fUr das hohe Mittelalter, etwas die bäuerliche Aktivität und den Widerstand gegen feudale Bedrückung gelten; ebenda S. 389; vgl. auch Lösche. D . , Agrargeschichte oder Agrarverfassungsgeschichte ? S. 381 ff. Brunner, O . . Land und Herrschaft, 4. Aufl., Wien-Wiesbaden 1959. Lütge. F r . , Deutsche Sozial-und Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl., S. 58. Vgl. auch derselbe, Die Agrarverfassung des frühen Mittelalters, S. 171, 213. Grundlagen der mittelalterlichen Welt. S. 121; vgl. dazu die Rezension von MüllerMertens. E . , DLZ, J g . 81, 1960, S. 338 f. 17

in seinem Werk über die Reichsministerialität der Salier und Staufer an

34

, in dem eine

"schöpferische Staatsplanung der staufischen Könige" das Kernstück von Bosls Konzeption ist. Auf kritische Einwände, die gegenüber dem schöpferischen Wollen des Menschen auf 35 die eigenständige Wirksamkeit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung hinweisen , entgegnete K. Bosl mit 'Randglossen', die er mit der Überschrift 'Individuum und histori, 36 scher Prozeß versah. 37 Auch 1959 geht K. Bosl in seiner "Strukturanalyse einer fränkischen Königsprovinz" nur kurz auf die Frage der 'Untertanen' ein, "auch wenn sie nur Objekte der Geschichte waren." Maßgebend war und blieb gegenüber der 'Unterschicht', die 'Führungsgruppe', die ' E l i t e ' . 3 8 1960 beschäftigte sich Bosl erneut mit diesen Problemen

39 und meinte in diesem Zusam-

menhang, daß "in einer weniger bewegten agrarisch-lokalen Welt . . . die Anstöße zu sozialen Aufwärtsbewegungen von oben" ausgehen. Zwar sei "bei Zusammenschluß und genossenschaftlichem Willen" ein Aufstieg "von unten" möglich - "doch nur die Führer der Aufwärtsbewegung erlangen auch individuelle Geltung". Daß im größeren Teil der mittelalterlichen Geschichte so gut wie kein Raum für Widerstandsäußerungen der ' Unterschichten' war, ist dem Hinweis Bosls zu entnehmen, "daß soziale Aufwärtsbewegungen aus eigener Initiative und mit eigenen Führern erst seit dem späten Mittelalter 40 zu finden sind". Lediglieh 'Ansätze' dazu sind in früheren Jahrhunderten erkennbar. Überdenkt man die Betrachtungen von K. Bosl und H. Dannenbauer, so kam danach dem Adel im frühen Mittelalter eine bedeutende, wenn nicht überhaupt die entscheidende Position zu, eine Ansicht, die zwar an sich einen durchaus richtigen Kern enthält. Tatsächlich hatte 41 42 der Adel, wie zuletzt P. Ciassen und K. F . Werner mit Recht betonten, beim Aufbau 34 35 36 37

38 39 40 41 42 18

Schriften der Monumenta Germaniae Histórica, 10, 1950/1. Kirchner, G.. Staatsplanung und Reichsministerialität, S. 446 f. Bosl, K . , Individuum und historischer Prozeß, S. 475 f. Bosl. K . , Franken um 800. S. 19 f . , 27. Andererseits i s t K . Bosl durchaus zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, daß wir im ostfränkischen Reich mit einer größeren Anzahl vielfach noch landloser Bevölkerungsschichten im frühen Mittelalter in weit höherem Maße rechnen müssen, als es bisher die Forschung gemeinhin annahm. Vgl. jetzt Müller-Mertens, E . , Die Genesis der Feudalgesellschaft im Lichte der schriftlichen Quellen und die Fragen des Historikers an den Archäologen, S. 1388 f. Bosl. K . . Franken um 800, S. 79. Über soziale Mobilität in der mittelalterlichen "Gesellschaft" Dienst, Freiheit, Freizügigkeit als Motive sozialen Aufstiegs, S. 306 f. Vgl. auch Bosl, K . . La société allemande moderne: Ses origines médiévales..., S. 852. Classen. P . . Die Verträge von Verdun..., S. 20 ff. Werner. K. F . , Bedeutende Adelsfamilien..., S. 125 ff.

und in der Verwaltung des fränkischen Reiches wichtige Aufgaben zu erfüllen. Doch zeigt sich die Einseitigkeit der Auffassung Bosls eben darin, daß sie neben dem Adel die Bedeutung der ländlichen Bevölkerung, der Freien, der feudalabhängigen Bauern und der Unfreien f ü r das geschichtliche Geschehen zu wenig berücksichtigt. Man gewinnt den Eindruck, daß in der westdeutschen Forschung ganz allgemein vorwiegend die innerhalb der feudalen Oberschichten ausbrechenden Auseinandersetzungen in Betracht gezogen werden. Dabei wird vor allem auf den Widerstand hingewiesen, den Teile des Adels gegenüber den fränkischen 43 Herrschern leisteten

, während die bäuerliche Resistenz kaum berücksichtigt wird. Aller-

dings ist festzustellen, daß K. Bosl in jüngster Zeit seine Ansichten modifiziert zu haben scheint und seine früheren Thesen von der geringen Bedeutung der ländlichen Bevölkerung 44 nunmehr etwas einschränkt. Auch gegenüber der ' A d e l s h e r r s c h a f t s t h e o r i e ' regte sich in Westdeutschland Widerspruch. F . Lütge lehnt sie ab und bemerkt mit Recht, daß es nötig s e i , die im Verlaufe der bäuerlichen Geschichte wirksame 'genossenschaftliche' und ' h e r r s c h a f t l i c h e ' Komponente in ihren Wechselbeziehungen zutreffend darzustellen. 45 In einem 1963 erschienenen Buch von E . Müller-Mertens werden neue Probleme aufge46 worfen. Müller-Mertens

setzt sich mit A. Dopsch, vor allem mit F r . Lütge auseinander,

die eine Bedrückung der unteren Volksschichten weitgehend ablehnten. Auf ein umfangrei43

Vgl. beispielsweise Schaab. M•, Die Blendung als politische Maßnahme im abendländischen F r ü h - und Hochmittelalter, S. 35 f . ; Metz, K . , Die Exilierung als politische Maßnahme im Frankenreich sowie in Deutschland und Frankreich bis zum Ende des 10. J h . , S. 27 f . ; die H e r r s c h e r versuchten u . a . ihre Gegner mit Hilfe d e r Exilierung zu bekämpfen. Diese Strafe wurde bis zu Ludwig dem Frommen besonders in den der Expansion des fränkischen Reiches ausgesetzten Randgebieten des k a r o lingischen Imperiums seitdem vorwiegend im innenpolitischen Machtkampf angewendet.

44

So veränderte K. Bosl die eben zitierten, recht pointierten Formulierungen, die in seinem auf dem deutschen Historikertag 1956 in Ulm gehaltenen Vortrag enthalten waren, der dann 1957 in VSWG, Bd. 44, 1957, S. 193 f. unter dem Titel "Freiheit und Unfreiheit. Zur Entwicklung der Unterschichten in Deutschland und Frankreich während des Mittelalters" erschien, später nicht unwesentlich. In dem in Bosl, K . , Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München-Wien 1964, S. 22 f. erneut abgedruckten Aufsatz, der nun den Titel "Anfänge und Ansatzpunkte deutscher Gesellschaftsentwicklung" erhielt, heißt es nun über Unfreie und Hörige: " . . . Sie hatten noch keine eigene Geschichte größeren, das heißt sichtbaren Stils, sie waren nach außen nur indirekt und passiv wirksame historische K r a f t , insofern sie das meist (Stellingaaufstand!) schweigende und willenlos scheinende Substrat und Werkzeug" einer Eliteschicht waren. (Das Unterstrichene ist gegenüber 1957 neu hinzugekommen). Bosl scheinen danach inzwischen selbst gewisse Zweifel an der Richtigkeit seiner 1956 so prononciert ausgesprochenen Ansicht von der völligen Passivität der Unterschichten im frühen Mittelalter gekommen zu sein.

45

Lütge. F r . . Das Problem der Freiheit. . S .

46

Müller-Mertens, E . . Karl der Große.

30.

19

ches Quellenmaterial gestützt,betont Müller-Mertens, daß es gerade der Druck der immer "selbständiger und mächtiger werdenden 'potentes' auf die Armen" war, der Karl den Großen ùnd Ludwig den Frommen mit einer außerordentlich schwierigen Situation konfrontierte. Sie versuchten, diese oppositionellen Kräfte zu zügeln,und setzten sich nachdrück47 lieh für den Schutz der Freien vor feudaler Willkür ein. Wir wollen nun die Frage stellen, wie sich tatsächlich die Beziehungen zwischen feudalen Oberschichten und ländlicher Bevölkerung im 8. und 9. Jh. im fränkischen Reich gestalteten, wie die Sozialpolitik der fränkischen Herrscher zu werten ist, ob und in welchem Grade von einem ' Rechtsschutz' gesprochen48werden kann, den im frühen Mittelalter die ländliche Bevölkerung genossen haben soll.

1. LeistungsVerweigerungen der ländlichen Bevölkerung Wenn wir danach fragen, ob sich im 8. und 9. Jh. Äußerungen bäuerlichen Widerstandes gegen feudale Bedrückung im karolingischen Imperium fassen lassen, so können wir eine Antwort darauf nur in der schriftlichen Überlieferung selbst suchen. Dabei wird erkennbar, daß sich die Resistenz der ländlichen Bevölkerung beispielsweise gegen die Leistung bestimmter Abgaben richtete. Vor allem die Zehntzahlung, die die fränkischen Herrscher 49 immer wieder geboten

, begegnete bei den Hörigen, aber auch innerhalb der herrschenden

Kreise beträchtlichem Widerstand. So trugen Königsboten 829 Ludwig dem Frommen verschiedene Klagen vor und wiesen darauf hin, daß allgemein der Zehnte durch viele Jahre hindurch entweder teilweise versäumt oder vollständig verweigert wurde. 50 Wer sich das zuschulden kommen ließ, sollte 51 entsprechend früheren Kapitularien Neunten und Zehnten eines Jahres zahlen, dazu den Königsbann. 52 Wer auch immer sich künftig in der Zehntentrichtung saumselig zeigte,

47 Müller-Mertens. E . . a . a . O . , S. 111 f. 48 Lütge. F r . . Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl., S. 58. 49 Zum Wesen der Zehntpflicht im 8. und 9. Jh. vgl. Pereis, E . , Die kirchlichen Zehnten im Karolingerreiche, S. 12 f. ; Stutz, U., Das karolingische Zehntgebot, S. 187 f . ; Lèsne, E . , Histoire de propriété ecclesiastique en France, Bd. 1, S. 186 f . ; Pöschl, A . . Das karolingische Zehntgebot in wirtschaftsgeschichtlicher Beleuchtung, S. 7 f . ; Feine, H . E . , Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S. 174 f. ; vgl. auch Schmid, H. F . , Byzantinisches Zehntwesen, S. 45 f . ; Langer, B . , Die Lehre von den Ständen im frühen Mittelalter, S. 133. 50 MGH, Cap. 2, Nr. 191 (829), c. 5. 51 MGH, Cap. 1, Nr. 141 (818/19), c. 6. 52 Der Königsbann beträgt 60 solidi; vgl. auch Conrad, H•, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 103. 20

wurde mit dem Verlust des zehntpflichtigen 'beneficium' bedroht. 53 Bezogen sich diese Bestimmungen vor allem auf Vasallen, so wurde doch auch von dem Zehnten gesprochen, den 54 die Bevölkerung, also auch die Bauern, nicht geben wollte (quae dare populus non vult). Wer, so heißt es, sich als ' contemptor' erwies und weder auf den Bischof noch auf den Grafen hören wollte, wird, wenn er königlicher Mann (homo) ist, zum König zitiert. Alle anderen Schuldner sollen der geschädigten Kirche das geben, wozu sie sich freiwillig nicht bereitgefunden haben. Sehr aufschlußreich ist c . 10 des gleichen Kapitulars. Danach ging die allgemeine Abneigung gegenüber der Zehntzahlung so weit, daß "agros dominicatos" deshalb schlecht oder gar nicht bebaut wurden, weil man den Zehnten nicht leisten wollte. Es wurde vorgezogen, fremdes Land (alienas terras) zur Bestellung anzunehmen, in der Hoffnung, der Zehntlast auf diese55 Weise entgehen zu können. Wer das tat, hatte für drei Jahre den Zehnten zu entrichten. Befolgte der Missetäter jedoch die Weisungen des Grafen oder Königsboten nicht, so hatte er vor der Pfalz zu erscheinen. 5 6 Die in den Kapitularien enthaltenen Bestimmungen gegen die Zehntverweigerung, die die Ablehnung des Zehnten zunächst nur als Möglichkeit in Betracht ziehen, werden im konkreten Einzelfall bestätigt. Welche Schwierigkeiten die Klöster bei der Eintreibung des Zehnten zu überwinden hatten, wird am Beispiel von Kloster Corbie deutlich, das in besonderen Statuten auf diese Fragen eingehen mußte. Zunächst wurden die schuldigen * decimae' erwähnt, die in Früchten, Vieh und Leinen 57 zu liefern waren.

Wenn wegen zu großer Entfernung die ' familia* des Klosters den Zehn-

ten nicht einfahren konnte, so sollte eine andere Lösung gefunden werden, damit der Zehnte nicht etwa liegenbliebe. Die * familia' wurde außerdem ermahnt, den Zehnten nicht zu 53

In diesem Zusammenhang wird auf frühere Kapitularien verwiesen. Offenbar kam es vor, daß zehntpflichtige Feudalherren der Kirche den Zehnten vorenthielten. Es geht aus dem Quellentext nicht hervor, ob die Besitzer von Benefizien den von den Bauern gelieferten Zehnten für eigene Zwecke verwandten oder die Bauern selbst keinen Zehnten ablieferten. Verlust des 'beneficium' oder ' a g e r ' als Strafe für vernachlässigte Zehntzahlung begegnet auch sonst in den Quellen. Vgl. Hübner, R . , Gerichtsurkunden der fränkischen Zeit, Nr. 272 (832). 54 MGH, Cap. 2, Nr. 191 (829), c . 7. 55 Die erwähnten 'agri dominicati' sind "zehntpflichtiges Salland, welches im Privatbesitz steht"; vor allem der Graf war befugt, einzuschreiten, wenn der Besitzer das Gut brach liegen läßt, um der Zehntpflicht zu entgehen; Brunner, H., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 170, Anm. 59; vgl. auch v. Inama-Sternegg, K. T h . , Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 421, Anm. 4; vgl. auch Flade, G-, Vom Einfluß des Christentums auf die Germanen, Forschg. zur Kirchen- und Geistesgeschichte, Bd. 10, 1936, S. 90; er bemerkt, "daß dabei das Interesse des öffentlichen Besitzes dem Schutzbemühen der Kirche einen ganz besonderen Nachdruck verleiht." 21

vergeuden oder zurückzuhalten. Es sollte darauf geachtet werden, daß die gesamte Ernte bezehntet wurde. Die bäuerlichen Unfreien (homines) in den einzelnen Dörfern sollten 'fortissime' dazu angehalten werden, bei der Zehntentrichtung keinen Betrug zu machen. Immer wieder wird die Bezehntung von Heu und Getreide nach Qualität und Quantität genau bestimmt. Ist eine klösterliche 'villa' weiter, eine andere dagegen näher am Kloster gelegen, so sollte diese den Transport der Zehntfrüchte zum Kloster übernehmen, ohne damit die 'familia' des Klosters zu behelligen. Die Transportpflicht der auf Hufen ansässi58 gen bäuerlichen Unfreien wurde häufig betont. Diese Bestimmungen, die im Bereich des Klosters Corbie die Zehntentrichtung regelten, lassen nicht nur darauf schließen, wie hoch auch die Mönche von Corbie die Zehnteinnahme einschätzten. Die immer wieder, häufig mit Nachdruck ausgesprochene Ermahnung, die Hörigen sollten jeden Betrug meiden und als Gottesfürchtige zahlen, zeigt, daß man gegenüber der Bereitwilligkeit der Bauern zur Zehntleistung recht skeptisch war. Es gab offenbar Widerstände, die das Kloster Corbie mit allen Mitteln zu überwinden suchte. Der Appell an den christlichen Glauben der Bauern dürfte dabei sehr wirksam gewesen sein. Der bäuerliche Widerstand konnte sich gegen die Zehntzahlung und die damit verbundene 56 Wenn Pöschl, A., Das karolingische Zehntgebot. . S. 17, schreibt: "Der Zehnt war die Verteilung der durch den Ausbau de? Karolingerreiches, seiner Kriegsmacht und seines Beamtentums vor allem zunehmenden Staatslasten auf die Gesamtheit der Bevölkerung," so wird damit der Unterschied zu wenig klar, der darin bestand, ob Angehörige der feudalen Herrenschicht oder die ländliche Bevölkerung den Zehnten entrichteten. Der entstehende Feudalstaat war ein Staat der geistlichen und weltlichen Feudalgewalten. Er sicherte ihnen Macht- und Besitzzuwachs auf Kosten der unteren Bevölkerungsschichten, die Abgaben und Dienste an die herrschenden Kreise leisten mußten. Für die Sicherung und Erweiterung seiner Macht zog er die Kirche heran und entlohnte sie dafür in gewissem Maße mit der Zehntleistung. Die oberen Schichten entrichteten diese Abgabe letztlich deshalb, weil der feudale Staat ihren wirtschaftlichen und politischen Zielen und Bestrebungen entsprach. Wenn dieser sich stabilisierte, so stärkte das schließlich auch ihre Macht gegenüber ihren Hörigen. - Im Gegensatz zu den Feudalherren, die von den bäuerlichen Abgaben und Diensten lebten, hatten die Bauern eine zusätzlich schwere Abgabe an einen Staat zu entrichten, der sein Hauptziel in der Feudalisierung der Bauern sah. Während also die Bedrückung der Bauern mit dem Zehntgebot erhöht wurde, bestand die Einbuße der Feudalherren lediglich darin, daß sie auf einen Teil der bäuerlichen Leistungen verzichten mußten, der nun in der Gestalt des Zehnten an die Kirche fiel. Von einer gerechten Verteilung der Staatslasten auf die gesamte Bevölkerung in der Karolingerzeit wird man daher schwerlich sprechen können. 57 Vgl. Statuta seu brevia Adalhardi abbatis Corbeiensis, S. 388 f. ; Adalhard war Abt des Klosters Corbie; vgl. auch Lèsne, E . , L'économie domestique d'un monastère au IXe siècle d'après les statuts d'Adalhard, abbé de Corbie, S. 385 f . , der die Entstehungszeit der Statuten auf 822 datiert; vgl. jetzt Verhulst, A . E . , Semmler, J . , Les status d'Adalhard de Corbie de l'an 822, S. 20 f. 58 Statuta Adalhardi, S. 390 f. 22

Verpflichtung richten, die Abgabe zum Kloster zu transportieren. Denn nicht immer besorgte diesen Dienst die klösterliche 'familia'. Dieser Dienst war keineswegs leicht. So 59 wurde betont, daß die klösterliche 'familia' dadurch nicht zu schwer bedrückt werde. Auch im ostfränkischen Reich ist der Widerstand gegen die Zehntentrichtung nachweisbar. Rhabanus Maurus, Abt von Fulda, schreibt in der ersten Hälfte des 9. J h . in lakonischer Kürze, daß niemand eine Kirche betreten, die Messe hören oder 60 die heiligen SakraEs war offenbar

mente empfangen darf, der nicht vorher den Zehnten abgeliefert hat.

nötig, mit verhältnismäßig strengen Strafen zu drohen, um die vollständige und pünktliche Zehntleistung zu sichern. Doch nicht nur die Ablehnung des Zehnten durch die ländliche Bevölkerung ist bezeugt. Verschiedene Klöster hatten sich häufig auch mit der Resistenz ihrer Hörigen gegen Abgaben ganz allgemein auseinanderzusetzen. Als 828 Pippin von Aquitanien in der "villa Cassanogilo" im Gau Poitou Gericht abhielt, beschwerten sich vier Hörige (coloni) - Aganbertus, Aganfredus, Frotfarius und 61 Martinus in ihrem und ihrer Gefährten Namen wegen Forderung übermäßiger Abgaben. Die ' coloni' stammten aus der ' villa Antoniacum', die dem Kloster Cormery unterstand, das etwa 90 km südöstlich von Le Mans liegt. Die ' coloni' behaupteten, sie seien rechtlich zur Entrichtung des Zinses nicht verpflichtet und auch ihre Vorfahren hätten den Zins nicht gezahlt. Dagegen wandten der Klostervogt Agenus und der Propst Magenarius ein, sie hätten lediglich die seit dreißig Jahren rechtmäßigen Leistungen (redibutiones) gefordert, wie sie in einer Urkunde verzeichnet waren, die die ' coloni' selbst eidlich verbrieft hätten (cum 62 juramento). Diese 'descriptio' der von einem ' mansus' zu leistenden Abgaben wurde unter Karl dem Großen (802) angefertigt. Die 'coloni' wurden nun befragt, ob diese 'descriptio' wahr sei oder ob sie dagegen etwas zu sagen haben. Es heißt nun, daß die 'coloni' die vorgelegte Urkunde und damit das Recht des Klosters auf Abgabenforderung als richtig anerkannten. Daraufhin bezeugten auch die am Gericht teilnehmenden "fideles", unter ihnen ein Graf und ein Pfalzgraf, die Richtigkeit der 'descriptio'. Es wird festgestellt, daß auch die 'coloni' nunmehr ihre Leistungspflicht anerkennen. Schließlich entschieden König Pippin und seine Getreuen, daß die 'coloni' zur Leistung der in der Urkunde von 802 genannten Abgaben verpflichtet sind.

59 60 61 62

Statuta Adalhardi, S. 391 MGH, Epp.,Bd. 5, S. 522 (832/45), Z. 12 f. Placitum de colonis villae Antoniaci, in Polyptyque de l'abbé Irminon, publ. par M. Guérard, Bd. 2, Paris 1844, S. 344, Nr. 9. " . . . descriptio . . . quid per singula mansa ex ipsa curte solvere debebant. . "; a . a . O . 23

Aus dem ausführlichen Gerichtsverfahren geht zunächst hervor, daß die namentlich genannten 'coloni' im Auftrag ihrer Gefährten sprachen. Eine vorherige Absprache unter den Hörigen über den Gegenstand ihrer Beschwerde ist daher sehr wahrscheinlich. Darauf deutet auch die Tatsache hin, daß die 'coloni' eine Abordnung schickten, um ihre Beschwerde durchzusetzen. Nehmen wir dazu, daß die 'coloni' selbst im königlichen Gericht vorsprachen, so wird die Intensität der bäuerlichen Resistenz deutlich. Aufschlußreich ist auch die Tatsache, daß in dem Prozeß eine urbarähnliche Aufzeichnung wichtig ist, die dem Kloster und dem König als Beweismittel diente. Hier wird eine Aufgabe deutlich, die Urbare haben konnten. Teilweise, wie im vorliegenden Fall, von der ländlichen Bevölkerung beschworen, sicherten sie nicht nur den Hörigen ein Fixum feudaler Leistungen zu, sondern waren auch für die Herren ein Mittel der Kontrolle. Verweigerten die Hintersassen die verlangten Leistungen, so konnte sich die Herrschaft auf den in den Urbaren schriftlich niedergelegten Tatbestand berufen und darauf hinweisen, daß einst die Bauern selbst an der Abfassung des Urbars mitgewirkt hatten. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß Hörige einer klösterlichen Grundherrschaft nicht nur Abgaben verweigerten, sondern sich unmittelbar beim König beschwerten. Dieser leitete daraufhin ein ausführliches Prozeßverfahren ein, das sich eingehend mit der bäuerlichen Klage beschäftigte. Pippin beachtete zwar die bäuerliche Klage sorgsam, entschied dann aber doch zugunsten des Klosters und überwand den bäuerlichen Widerstand. Neben der Verweigerung von Abgaben gerieten Klöster im westfränkischen Reich auch mit Hörigen in Streitigkeiten wegen der Verrichtung von Frondiensten, die angesichts der noch relativ niedrigen Produktionskapazität der bäuerlichen Wirtschaft im frühen Mittelalter ganz allgemein unter den bäuerlichen Leistungen verwogen. Solche Kontroversen hatte beispielsweise das Kloster St. Denis zur Zeit Karls des Kahlen auszufechten, das sich dabei der Unterstützung des Königs erfreute. Karl der Kahle stand einem Kloster wie St. Denis vor allem auch deshalb bei, weil es ein Königskloster war. Diese Königsklöster stellten eine wichtige Stütze der königlichen Herrschaft dar, auf die ein Herrscher wie Karl der Kahle angesichts der zunehmenden Stärke des Adels in besonderem Maße angewiesen war. So hatten diese Klöster regelmäßige Leistungen an den König zu entrichten, waren zur Zahlung des Normannentributes verpflichtet, sollten dem König in besonderen Notlagen 63 'munera' geben und mußten teilweise Truppen für den Kriegsdienst stellen. Karl der Kahle scheint von dieser Möglichkeit regen Gebrauch gemacht zu haben. Als 858 Ludwig der Deutsche in das westfränkische Reich einfiel, ersuchten die Bischöfe dieses Gebietes in einer von Hinkmar von Reims verfaßten Denkschrift, die sich an Ludwig den Deutschen, 63 Vgl. allgemein Voigt, K . , Die karolingische Klosterpolitik..., S. 26 ff. 24

aber auch an Karl den Kahlen richtete, darum, die königlichen Güter besser bewirtschaften zu lassen, damit die ungebührliche Belastung der Bischöfe und Klöster aufhöre und auf das 64 Maß zurückgeführt werde, das zur Zeit seines Vaters üblich war.

In diesem Zusammen-

hang sind auch die Ermahnungen zu sehen, die die Bischöfe an die 'iudices' als Verwalter der Krongüter richten. Sie sollen nicht habgierig sein oder Wucher treiben, uie Unfreien der königlichen Güter nicht bedrücken und keine ungewöhnlichen Frondienste verlangen. Die 'iudices' werden aufgefordert, die 'coloni' der Krongüter um des Gewinnes an Gold und Silber wegen nicht ungerecht zu verurteilen. Nur Gebäude 65 von mäßigem Umfang sollen errichtet werden, damit die 'familia' nicht belastet wird. Karl der Kahle, dem an einem leistungsfähigen Fiskus gelegen sein mußte, versuchte daher, jede Schädigung der Krongüter zu verhindern. Kam es bei der Bebauung der königlichen Güter zur Verweigerung bestimmter Leistungen durch Hörige, so griff Karl der Kahle ein, der sich 864 in einem zu Pitre erlassenen 66 Edikt mit einer besonderen Form des bäuerlichen Widerstandes beschäftigen mußte. Es wird zunächst darüber geklagt, daß Hörige kirchlicher Grundherrschaften und des Fiskus die seit altersher (ex antiqua consuetudine) geforderten Hand- und Spanndienste zwar leisteten, Mergelfuhren aber verweigerten, da diese bisher nicht gefordert worden waren. 67 68 Von Inama-Sternegg

nahm an, daß sich die 'coloni' deshalb widersetzten, weil die Fixie-

rung der Dienstleistungen mit der Forderung bisher nicht beanspruchter Mergeltransporte verletzt wurde. Im Kapitular selbst wurde ja betont, daß die 'coloni' zwar bereit waren, Hand- und Spanndienste zu leisten, wie es in den Güterverzeichnissen festgesetzt und "ex antiqua consuetudo" üblich sei. Doch Mergel hätten sie "in Ulis antiquis temporibus" nicht gefahren. Offenbar wußte die ländliche Bevölkerung recht genau, was alter Brauch war. Für sie war in erster Linie das in mündlicher Überlieferung weitergegebene Maß an feudalen Leistungen verbindlich, das dann auch in entsprechenden Güter- und Leistungsverzeichnissen

64 65 66 67

MGH, Cap. 2, Nr. 297 (858), c. 14, S. 437. Ebenda. MGH, Cap. 2, Nr. 273 (864), c. 29. Weshalb diese zusätzliche Fron verlangt wurde, erläutert das Edikt nicht. Es ist denkbar, daß um 860, wo Normanneneinfälle häufig die westfränkischen Küstengegenden heimsuchten, das Maß der Dienste gesteigert wurde, um die von den Normannen angerichteten Zerstörungen zu beheben und die Felder durch Düngung mit Mergel wieder fruchtbar zu machen. Das Edikt, a . a . O . , c. 31, erwähnt ' t e r r a e ' , die durch die Normannen verwüstet wurden. 68 Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 508. 25

seinen Niederschlag finden konnte. Sie widersetzte sich, wenn das auch gewohnheitsrechtlich sanktionierte Dienstmaß überschritten wurde. Allerdings möchten wir gegen v. Inama-Sternegg einwenden, daß in e r s t e r Linie die Mergelfuhren abgelehnt wurden, weil sie eine neue, zusätzliche Dienstleistung darstellten, nicht aber deshalb, weil damit der Grundsatz der fixierten Fron verletzt wurde. Denn dieses Prinzip bestand ja noch gar nicht, wie die westfränkischen Polyptycha mit ihren F o r 69 1 derungen von gänzlich unbemessenen ' c a r r o p e r a und ' m a n opera' deutlich zeigen. Gerade das von Inama angezogene Kapitular von Le Mans (800) beweist doch, wie stark das Dienstmaß schwankte und wie erheblich die Fron gesteigert werden konnte. Es dürfte daher kaum zutreffen, schon f ü r diese Zeit generell von einer durchweg festgesetzten Dienstleistung der Hörigen zu sprechen. Die Rechtslage der ländlichen Bevölkerung war in dieser Hinsicht noch keineswegs völlig gesichert und ein oft willkürliches Vorgehen der Herren nicht ausgeschlossen, wie die Quellen selbst bezeugen. Andererseits wird deutlich, daß Karl der Kahle, gleichsam von ' h ö h e r e r W a r t e ' aus, mit der Forderung von Mergelfuhren die Bewirtschaftung des Königsgutes günstig beeinflussen wollte. Verbesserte Bodenpflege durch Düngung war ja besonders in den von den Normanneneinfällen verwüsteten Landstrichen - Pitre liegt am Unterlauf der Seine - dringend nötig. Damit aber wurde ein Dienst beansprucht, den offenbar die Polyptycha nicht vorsahen. Das Kapitular deutet es selbst an. Es ist verständlich, wenn die mit Hand- und Spanndiensten stark belasteten Hörigen diese Fuhren ablehnten. Daß die feudale Belastung der Bauern beträchtlich w a r , geht aus 70 einer anderen Bestimmung des Ediktes zu P i t r e h e r v o r . Karl der Kahle wendet sich dagegen, daß 'coloni' und ' fisealini' die zu ihren ererbten ' m a n s i ' gehörigen Ländereien nicht nur an ihresgleichen, also an Bauern ganz allgemein, sondern auch an Geistliche und andere Personen verkauften und sich nur ihre Wohnstatt, ihre eigene Wirtschaft vorbehalten. Damit suchten die Hörigen den auf jenen Ländereien lastenden Diensten und Abgaben zu ent71 gehen.

Diese Verkäufe hatten einen derartigen Umfang angenommen, daß der Landbesitz

einzelner ' v i l l a e ' gefährdet w a r . Zweimal wurde betont, daß auf diese Weise ' v i l l a e destructae' entstehen. Gegen diese Bestrebungen der ' coloni' wurde verfügt, daß bereits erfolgte Verkäufe rückgängig zu machen sind. Die einzelnen ' m a n s i ' sollten soweit vervollständigt werden, 69 Vgl. das Güterverzeichnis von St. Ger main des P r é s , a . a . O . , II, 2; III, 2; IV, 2,3, 28; VI, 54; XVI, 52; XVIII, 3; vgl. auch das Güterverzeichnis von St. Remi de Reims, a . a . O . , XI, 8; XIV, 3; XV, 12, 14; XVIII, 9, 8; XXII, 15. 70 MGH, Cap. 2, Nr. 273 (864), c. 30. 71 Vgl. auch von Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 508. 26

wie e s f ü r die Ableistung der entsprechenden Fronpflicht nötig w a r . Wir haben damit eine sonst nicht nachweisbare Form des Widerstandes von ' c o l o n i ' vor uns, die auf diesem Wege Dienste, aber auch Abgaben abschütteln wollten. Offenbar waren die feudalen Lasten höher als der E r t r a g , der aus den von den ' c o l o n i ' abgestoßenen Ländereien gezogen wurde, sonst hätte sich ja der Verkauf nicht gelohnt. Wahrscheinlich handelte es sich bei den erwähnten ' coloni' um verhältnismäßig günstig gestellte Bauern, die über relativ umfangreichen Landbesitz verfügten und wohl auch berechtigt waren, diesen zu veräußern. Solche Verkäufe wurden ja nicht grundsätzlich verboten, sondern e r s t dann untersagt, als dadurch Einkünfte und Fronleistungen zurückzugehen drohten. Sicher konnten sich die 'coloni' auf gewohnheitsrechtliche Übung berufen, wie sie dann auch in Polyptycha ihren Niederschlag fand. Andererseits steht f e s t , daß diese Verzeichn i s s e , besonders hinsichtlich der Art der Dienste, oft einen überkommenen Wirtschaftszustand festhielten, der neue, f ü r eine v e r b e s s e r t e Pflege und Bestellung der Felder nötig gewordene wirtschaftliche Methoden nicht berücksichtigte. Zwar garantierten gewohnheits rechtliche Überlieferung und Güterverzeichnisse die Einhaltung bestimmter grundherrlicher Forderungen bis zu einem bestimmten Grade und gewährten der ländlichen Bevölkerung einen gewissen Schutz. Doch konnten solche Vereinbarungen auch die wirtschaftliche Entwicklung hemmen, da sie einen bestimmten w i r t s c h a f t lichen Zustand s t a r r fixierten. Daß Karl der Kahle sich gegenüber der Verweigerung von Diensten an Hand von Güterverzeichnissen darüber informierte, welche Leistungen die Hörigen entrichten mußten, deutet auch darauf hin, daß solche Polyptycha nicht nur dazu dienten, einen Überblick über Einkünfte und fällige Dienstleistungen innerhalb einer Grundherrschaft zu vermitteln. Die verschiedenen feudalen Institutionen legten auf solche Schriftstücke auch deshalb Wert, um gegen verschiedene Formen des bäuerlichen Widerstandes gewappnet zu sein. Wurden bestimmte, in den Polyptycha festgelegte Leistungen verweigert, dann konnte mit Hinweis auf das entsprechende Güterverzeichnis der Bauer ins Unrecht gesetzt und verurteilt w e r den. In welchem Maße Grundherr wie Bauer diese Urbare, an deren Abfassung beide Seiten beteiligt sein konnten, als bindend anerkannten, zeigt das Edikt von P i t r e s deutlich. Zusätzliche, über das schriftlich fixierte Maß hinausgehende Verpflichtungen wurden von den 'coloni' abgelehnt. So wichtig für die Kultivierung verwüsteter Felder auch die Mergeldüngung sein mochte - die damit verbundene Mehrarbeit, f ü r deren Forderung kein Rechtstitel vorhanden w a r , stieß auf entschiedene Ablehnung und stellte Karl den Kahlen vor eine schwierige Situation. Damit wollen wir keineswegs einer vorwiegend formalrechtlichen Be-

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trachtung das Wort reden. Sicher war es möglich, daß sich die Feudalgewalten über den Inhalt der Urbare hinwegsetzten und willkürlich vorgingen. Aber offenbar - das Edikt von Pitres zeigt es deutlich - war die rechtliche Wirkung dieser Urbare, die häufig unter Mithilfe der ländlichen Bevölkerung zustande kamen, nicht unerheblich. Da bei der Anlage von 72 Inventaren und Urbaren verschiedentlich die Pflichtigen befragt wurden und in einigen 73 Fällen Rechtsweisungen durch die Hintersassen wahrscheinlich stattfanden , darf angenommen werden, daß die ländliche Bevölkerung einen gewissen Einfluß auf die Fixierung feudaler Lasten hatte. Ihr Wille konnte zumindest dann nicht einfach übergangen werden, wenn Abgaben und Dienste schriftlich fixiert wurden. Zusammenfassend können wir feststellen, daß die ländliche Bevölkerung bestimmte drückende Leistungen, wie Fron und Zehnten, verweigerte. Vor allem bei der Ablehnung der Zehntpflicht, die die fränkischen Herrscher zusammen mit der Kirche im karolingischen Imperium allmählich durchsetzten, drohten strenge Strafen, die bis zum Ausschluß vom Gottesdienst reichen konnten. Von der Ablehnung der unpünktlichen oder unvollständigen Entrichtung des Zehnten wurden vielfach Klöster betroffen (Corbie), die sich mit dem F r e i heitsstreben ihrer Hörigen allgemein auseinandersetzen mußten. Die Klöster fanden bei ihren Streitigkeiten mit der ländlichen Bevölkerung teilweise den Beistand fränkischer Könige, die besonders in den Königsklöstern und im Königsgut Stützen ihrer Herrschaft sahen und auch deshalb ihre Hilfe nicht versagten. Gefährdete die bäuerliche Resistenz, etwa durch Verweigerung bestimmter wichtiger Dienste, z . B . Düngefuhren, die Bewirtschaftung der königlichen Güter, so schritt beispielsweise Karl der Kahle entschlossen ein, boten diese doch für ihn gegenüber dem ständig mächtiger werdenden Adel einen wertvollen materiellen Rückhalt. Insgesamt gesehen tritt der Widerstand der ländlichen Bevölkerung gegenüber der Forderung bestimmter feudaler Lasten in der schriftlichen Überlieferung des 8. und 9. Jh. deutlich hervor und bewirkt, daß sich einzelne Klöster und fränkische Herrscher eingehend mit ihm auseinandersetzen müssen.

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73

28

Vgl. Metz. W . . Zur Geschichte und Kritik der frühmittelalterlichen Güterverzeichnisse Deutschlands, S. 199 f . ; vgl. auch Perrin. Ch. E . , Recherches sur la seigneurie rurale en Lorraine d'après les plus anciens censiers (IX-XII. siècle), S. 9 f. vgl. Metz. W . . Die hofrechtlichen Bestimmungen der Lex Baiuuariorum I, 13 und die fränkische Reichsgutverwaltung, S. 189.

2. Die Flucht a) Die Klöster Namentlich im westlichen Teil des fränkischen Reiches gehen schon seit der Merowingerzeit die Quellen verhältnismäßig häufig auf die Flucht Unfreier ein. Die Erwähnung Flüchtiger (fugitivi, fugaces) ist " . . . zu einem ständigen Programmpunkt jeder Gesetzgebung 74 geworden", bemerkte mit Recht A. Dopsch , d e r sich zuletzt etwas näher mit d i e s e r E r scheinung beschäftigte. Auf die teilweise recht unterschiedliche Haltung, die die f r ä n k i schen H e r r s c h e r zu diesen Fragen einnahmen, ging Dopsch nicht näher ein. Aufschlußreich f ü r die Verbreitung der Flucht im fränkischen Reich sind zunächst jene Nachrichten, die den Verkauf von ' s e r v i ' behandeln. Diese seien nicht n u r , so wird v e r sichert ' m e n t e et omni corpore s a n o ' , sondern auch keine ' f u g i t i v i ' . Niemand wollte ja einen ' s e r v u s ' erwerben, der plötzlich 75 von einem anderen Feudalherrn als entwichener Unfreier reklamiert werden konnte. Deutlicher faßbar werden die Flucht Unfreier und die Reaktion der feudalen Oberschicht in der schriftlichen Überlieferung einiger w e s t f r ä n kischer Klöster, die in ihren grundherrschaftlichen 76 Besitzungen die vielfältigsten Berührungspunkte mit der ländlichen Bevölkerung hatten. Zunächst wurde versucht, durch Bitten jenen H e r r n , zu dem ' s e r v i ' geflohen waren, zur Rückerstattung zu bewegen. In einer Formel aus dem Kloster Angers ist ein ' m a n d a t u s ' enthalten, in dem es u . a . heißt: " . . . Ich bitte s e h r , daß m i r mein ' s e r v u s ' , der geflohen i s t , ausgeliefert wird, wo i m m e r e r zu finden ist - im Gau (pagus), im königlichen Palast oder an anderer Stelle. 77 Eine andere Formel aus dem Kloster Flavigny berichtet von klösterlichen ' m a n c i p i a ' , die flüchtig wurden. Die Herren, welche die Flüchtlinge aufnah78 men, sollen den mit der Untersuchung beauftragten ' m i s s u s ' unterstützen. Offenbar 79 hatte sich der Abt des Klosters um Beistand an einen fränkischen König gewandt , wie es auch andere, noch zu erwähnende Klöster taten. Bitten um Auslieferung geflüchteter Unfreier allein fruchteten jedoch nichts. Mit einem Appell an fränkische H e r r s c h e r v e r suchte man weiterzukommen. So hatten in der Mitte des 8. J h . ' m a n c i p i a ' des Klosters 74 Dopsch, A . . Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, Bd. 2, S. 28. 75 MGH, F F , Marculfi Formulae, lib. II, N r . 22, S. 90. 76 Vgl. jetzt auch P r i n z . F . , Frühes Mönchtum im Frankenreich, S. 534; mit Recht spricht P . von einem "herrschaftlich-aristokratischen Charakter der merowingischfrühkarolingischen Klöster"; dieser äußere sich auch darin, daß die Klöster ihre flüchtigen Unfreien verfolgen ließen. 77 MGH, F F , Formulae Andecavenses, N r . 51, S. 22. 78 MGH, F F , Collectio Flaviniacensis, Nr. 117 c , S. 487. 79 Die Sammlung gehört wahrscheinlich in das 3. Viertel des 8. J h . , vgl. Buchner, R . . Die Rechtsquellen in Wattenbach - Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Weimar 1953, S. 53. 29

Murbach im Oberelsaß eine Adelserhebung

80

dazu benutzt, um sich ihren Verpflichtungen 81

dem Kloster gegenüber zu entledigen, zu fliehen und sich als Freie auszugeben.

Ein

Graf und andere nicht näher bezeichnete 'homines' hatten nun diese Flüchtlinge aufgenommen und behaupteten, die 'mancipia' gehörten ihnen als königliches 'beneficium'. Daraufhin bat Amico, der in Murbach von 774 bis 787 Abt war, Karl den Großen, dem Kloster 82 beizustehen und den Grafen anzuweisen, die klösterlichen 'mancipia' herauszugeben. Deutlich wird nicht nur, daß die Unfreien die mit der 'turbatio' verbundene Verwirrung und Unsicherheit innerhalb der feudalen Herrenschicht zur Flucht aus der klösterlichen Grundherrschaft nutzten, sondern auch das Ziel, das damit erreicht werden sollte: Die 'mancipia' wollten auf diese Weise dem klösterlichen 'servitium' entrinnen. Sie gaben sich als frei aus, ohne daß in der 'formula' diese 'Freiheit' näher charakterisiert wird. Auffällig ist schließlich, daß sich das Kloster anscheinend erst geraume Zeit nach der bäuerlichen Abwanderung beklagte. Es ist möglich, daß es lange dauerte, bis das Kloster den Aufenthaltsort der Flüchtigen ermittelt hatte. Die prekäre Lage, in die das Kloster Murbach durch die Flucht seiner Hörigen und die Aufnahme der Flüchtigen durch einen Grafen und andere Herren geraten war, konnte es allein offenbar nicht meistern. Deshalb bat der Abt Karl den Großen um Hilfe. Der fränkische Herrscher wird seinen Beistand kaum versagt haben, hatte das Kloster doch Karl dem 83 Großen viel zu verdanken. 792 bezeichnete er sich sogar als Laienabt von Murbach. Einer ähnlichen Unterstützung durfte das Königskloster des berühmten Abtes Benedikt von Aniane sicher sein. Tatsächlich wurde sie auch gewährt, als das Kloster Ludwig den Frommen bat, bei der Restitution von entfremdetem Klosterbesitz und flüchtigen 'mancipia' 84 behilflich zu sein. Der Kaiser griff ein; seine Beschlüsse wurden 820 urkundlich fixiert. Danach erhielten die 'fideles' des Kaisers in Septimanien, der Provence und Aquitanien 80 81 82

83 84

30

Vgl. MGH. FF, Formulae Alsaticae, S. 331, Nr. 5. Möglicherweise bezieht sich diese, in einer Formula Morbacensis bezeugte Erhebung auf die Empörung des Theutbald vom Jahre 744. '*... de proprio servitio evaserint et modo se aliqui ingenuas esse dicunt.. .", a . a . O . , S. 331, Z. 13. Es ist möglich, daß der erwähnte Graf mit jenem identisch ist, über den sich Amico bereits in anderem Zusammenhang beschwert hatte; vgl. MGH, FF, Formulae Alsaticae, S. 330, Nr. 4; vgl. auch Hauck, A., Kirchengeschichte Deutschlands, Bd. 2, S. 218, Anm. 3. Vgl. Waitz, G., Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 154 f . ; vgl. zuletzt Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1962, S. 693; vgl. auch Semmler, J . , Karl der Große und das fränkische Mönchtum, S. 278. Migne, PL, Bd. 103, S. 1427, Nr. 7 (820); Böhmer-Mühlbacher, Regesta imperii, Nr. 728; vgl. auch Semmler, J . , ebenda, S. 260 f; derselbe, Reichsidee und kirchliche Gesetzgebung bei Ludwig dem Frommen, S. 42 f.

den Auftrag, die Vögte des Klosters in ihrem Bemühen zu unterstützen, die verlorenen Güter zu reklamieren und die aus den Besitzungen der St. Martinszelle in der Stadt Arles geflohenen ' m a n c i p i a ' zurückzugewinnen. Die St. Martinszelle hatte Ludwig am 4. Dezember 819 dem Kloster Aniane geschenkt.

85

Benedikt von Aniane hoffte, Ludwig der Fromme würde seinen Beistand einem so bedeutenden Reformkloster nicht versagen, bildeten diese Klöster doch eine wesentliche Stütze f ü r die Politik des H e r r s c h e r s gegenüber der i m m e r s t ä r k e r werdenden Opposition hochadliger K r ä f t e , die später in Persönlichkeiten wie Matfrid von Orléans und Hugo von Tours ihren 86 Ausdruck fand.

Wesentlich f ü r die Handlungsweise des Klosters war jedoch neben der

Besitzklage die Flucht der ' m a n c i p i a ' , die die Vögte des Klosters zu verfolgen hatten. Sie kamen allein offenbar nicht zum Ziel und sollten deshalb von den ' f i d e l e s ' des K a i s e r s unterstützt werden. Fünfzehn J a h r e s p ä t e r , 835, wandte sich der Abt von Aniane anläßlich der Besetzung der Vogtei wiederum an Ludwig den Frommen und beklagte sich in diesem Zusammenhang 87 d a r ü b e r , daß die Hörigen der St. Martinszelle "per loca diversa fugitiva sint". Ludwig bestimmte, daß der Klostervogt die Flüchtigen verfolgen und, wenn e r sie ausfindig machte, nach römischem Recht verurteilen sollte. b) Das Königsgut Von d e r bäuerlichen Flucht wurden auch die königlichen Güter betroffen. Die einzelnen fränkischen H e r r s c h e r reagierten dann unverzüglich und gingen auf die damit aufgeworfenen Fragen in Kapitularien mehrfach ein. Wie sehr beispielsweise Karl der Große bemüht w a r , die Bewirtschaftung des Krongutes durch eine ausreichende Anzahl von Bauern zu sichern und ihre Arbeitskraft im Interesse des Krongutes möglichst ungeschmälert zu nutzen, b e zeugt das 'Capitulare de v i l l i s ' . Es ist den Forschungen von W. Metz zufolge als E r l a ß Karls des Großen anzusehen, unterlag keinen räumlichen Beschränkungen und entstand 88

kurz vor 800.

Dem ' i u d e x ' als Verwalter königlichen Gutes wird aufgetragen, dafür zu

sorgen, daß das Gesinde gut arbeitet und sich anläßlich der Abhaltung von Märkten nicht entfernt. Die kontinuierliche, ordnungsgemäße Bebauung der königlichen Güter, fUr die sich Karl der Große wiederholt einsetzte 90 , war aber gefährdet, wenn es zur bäuerlichen Ab-

85

Böhmer-Mühlbacher. Regesta imperii, Nr. 706.

86 Vgl. Müller-Mertens, E . , Karl der Große . . . , S. 138 f. 87 Migne, P L , Bd. 103, Sp. 1456 A, N r . 14. 88 Vgl. Metz. W . . Das karolingische Reichsgut, S. 77 f . , 84. Vgl. jetzt auch Verhulst, A . E . . Karolingische Agrarpolitik. . . S. 175 f. 31

Wanderung kam. Welche Bedeutung Karl der Große diesen Fragen beimaß, geht daraus her91 vor, daß er eine entsprechende Bestimmung in den ihm zu leistenden Eid aufnehmen ließ. 92 Fliehenden Königsknechten, die sich zu Unrecht als Freie ausgeben , sollte niemand Unterschlupf gewähren. In einem anderen Kapitular setzt Karl der Große fest, daß 'homines fiscalini', ' servi' oder 'coloni', die sich in fremden Herrschaftsbereichen aufhalten, zu ihren ursprünglichen Herren zurückkehren sollen. Nur ihnen steht das Rückforderungsrecht 93 gegenüber den Flüchtigen zu, deren sozialer Status sorgfältig erforscht werden soll. Auch sonst suchte Karl der Große genauere Einzelheiten über Flüchtige zu erfahren. Königsboten werden angewiesen, die Herkunft, den Namen und die Herren der 'advenae', "fugitivi" festzustellen. Sie sollen dem 'placitum' Karls vorgeführt werden, konnten doch auf diese Weise auch ehemalige Bewohner des Krongutes ermittelt werden. Ihnen wandte auch Ludwig der Fromme sein Interesse zu. Die Erhaltung der königlichen Güter war für ihn schon deshalb wichtig, weil die Macht und damit der politische Einfluß des Adels unter seiner Herr89 Vgl. Capitulare de villis, c. 54; außerdem wurde es untersagt, an Sonntagen Märkte stattfinden zu lassen; vgl. auch MGH, Cap. 1, Nr. 61 (809), c. 8; Nr. 62 (809), c. 18; Nr. 83 (813), c. 2; in verschiedenen Konzilbeschlüssen wird das Verbot, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten, mit der Mahnung verbunden, an solchen Tagen keine Märkte abzuhalten; vgl. MGH, Conc. 2, 1, S. 296, c. 15 (813); ebenda, S. 252, c. 16 (813); ebenda, S. 270, c. 37 (813); ebenda, S. 256, c. 35, (813). Sicherlich sollte in erster Linie auf diese Weise verhindert werden, daß die von der Kirche vorgeschriebene sonntägliche Arbeitsruhe gestört wurde. Es ist auch denkbar, daß sonst, wenn der Markt an Sonntagen stattfand, die ländliche Bevölkerung, anstatt in die Kirche zu gehen, den Markt aufsuchte und möglicherweise nicht zurückkehrte. 90 Vgl. MGH. Cap. 1, Nr. 77 (802/3), c. 19, S. 172, Z. 24, wo Karl der Große anordnet, daß Rodungen gefördert werden sollen "ut nostrum servitium inmelioretur"; vgl. dazu Capitulare de villis, a . a . O . , c. 36; Imbart de la Tour. Les colonies agricoles et l'occupation des t e r r e s désertes ä l'époque carolingienne, S. 146 f. Im Capitulare de villis wird außerdem dem 'iudex' befohlen, darauf zu sehen, daß Kläger, unter denen auch ' s e r v i ' genannt werden, sich mit ihren Klagen an den zuständigen 'magister' und nicht direkt an den Kaiser wenden sollen, damit keine Diensttage verloren gingen. Erschienen ' s e r v i ' doch beim Kaiser, um sich zu beschweren, so sollte geprüft werden, ob sie aus Not oder nur zum Vorwand kamen. (Capitulare de villis, a . a . O . , c. 29, 57). Schließlich spricht die Sorge Karls des Großen um den Bestand und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Krongutes deutlich aus einer Bestimmung eines Kapitulars von 805. Nicht mehr der ' s e r v i proprii' und 'ancillae' von Königsgut sollten geschoren werden und ins Kloster gehen, als es erlaubt war, damit die 'villae' nicht verödeten; vgl. MGH, Cap. 1 Nr. 43 (805), c. 11. 91 Vgl. allgemein Kern, F r . , Gottesgnadentum und Widerstands recht im frühen Mittelalter, S. 219 f . ; Fichtenau, H., Das karolingische Imperium, S. 160. 92 MGH, Cap. 1, Nr. 33 (802), c. 4; über 'fiscales, fiscalini'; vgl. auch Waitz, G., Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4. S. 34R f 93 MGH, Cap. 1, Nr. 56 ( 803/13), c. 4. 32

Schaft weiter wuchsen. Unter diesen Bedingungen kam dem Krongut als Stütze der Zentralgewalt besondere Bedeutung zu. So sind uns aus der Zeit Ludwigs des Frommen verhältnismäßig ausführlich gehaltene Bestimmungen über Fälle bekannt, in denen die königlichen Güter Ziel der bäuerlichen Flucht waren. Wie sein Vater, versuchte Ludwig der Fromme die Flüchtigen, wenn möglich, dem Krongut einzuverleiben. Um 818/9 erwähnte ein Kapi94 95 tular in einem besonderen Abschnitt 'mancipia', die in eine königliche ' villa' flohen. 96 Was sollte nun mit diesen bäuerlichen Unfreien geschehen? Der ' a c t o r ' der betreffenden ' villa' wird zunächst angewiesen, dem Grundherrn, der Ansprüche auf den Geflohenen geltend machte, nicht zu widersprechen und das 'mancipium' auszuliefern. Dieser recht eindeutigen, vor allem die grundherrlichen Interessen berücksichtigenden Stellungnahme folgen nun Sätze, die weit weniger klar formuliert sind. Wenn, so heißt es weiter, der königliche Amtmann jedoch glaubt, daß er berechtigt sei (iustitiam habere), das 'mancipium' zu behalten, so solle e r den unfreien Bauern "secundum legem" erwerben. Zwar war Ludwig der Fromme an der Gewinnung flüchtig gewordener bäuerlicher Arbeitskräfte interessiert, legte es jedoch in das Ermessen seines Beauftragten, über Auslieferung oder Zurückhaltung des flüchtigen ' mancipium' zu entscheiden. Auch der folgende Satz überließ dem ' a c t o r ' die Entscheidung, 'mancipia', die zur Zeit Karls des Großen in den Fiskus geflohen waren, dem reklamierenden Grundherrn zu restituieren oder sie als rechtmäßigen Besitz auszugeben. Daß hier eine wichtige Frage zu regeln war, geht nicht nur aus der sorgfältigen Erörterung des Rechtsfalles hervor. Innerhalb der 'capitula' wird textmäßig nur noch die Zehntpflicht mit derselben Ausführlichkeit behandelt. Vielmehr zeigt die Art der vorsichtigen Formulierung, daß es hier um Ansprüche ging, auf die Ludwig nicht ohne weiteres verzichten wollte. Geschickte Interpretation des Textes sollte es den königlichen Verwaltern der ' villae' jederzeit ermöglichen, zugezogene bäuerliche Unfreie als rechtmäßig erworbenen Besitz auszugeben. Das war sicher nicht immer leicht, denn der aufstrebende Adel wollte nicht nur seine geflohenen Hörigen wieder besitzen, sondern versuchte ebenso wie Ludwig, aus der bäuerlichen Flucht Nutzen zu ziehen. 97 94 MGH, Cap. 1, Nr. 140 (818/9), c. 6; vgl. dazu Ganshof. F . L . . Was waren die Kapitularien?, S. 28 f. 95 "De mancipiis in villas dominicas confugientibus." 96 Der ' a c t o r ' ist dem 'villicus' gleichzusetzen, der als Verwalter königlichen Gutes tätig war. Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. J h . , Bd. 1, Berlin 1959, Sp. 135/6; vgl. auch Mediae latinitatis lexicon minus, fasc. 1, S. 14. 97 Das erste Kapitel des Kapitulars von 818/9 zeigt es deutlich. Es geht von dem Tatbestand aus, daß 'mancipia' eines 'dominus' geflohen waren und sich nun in einem anderen Herrschaftsbereich aufhielten. Es wird ausdrücklich bestimmt, daß für die Auslieferung des Geflohenen kein Lösegeld verlangt werden sollte; vgl. MGH, Cap. 1, Nr. 140 (818/9), c. 1. 33

Dieses Interesse wird auch in einem jener Kapitel deutlich, die um 821 für Königsboten 98 erlassen wurden.

Der im Verhältnis zu den anderen Kapiteln ausführlich gehaltene Ab-

schnitt drei geht auf die Flucht von ' s e n d ' in den königlichen Fiskus ein. Auch hier wieder sind die für den "actor fisci", den königlichen Amtmann, den Verwalter königlichen Gutes getroffenen Bestimmungen recht aufschlußreich. Erst dann, wenn er zugewanderte 'servi' rechtmäßig nicht behalten konnte, sollte e i sie an die Einspruch erhebenden Herren ausliefern. Erkennt der 'actor' jedoch, daß die 'servi' zum Fiskus gehören, dann soll er die Geflohenen zwar an die ' Zurückforderer' (repetitores) herausgeben, gleichzeitig jedoch mit ihnen eine rechtliche Übereinkunft suchen und, wenn möglich, die Flüchtigen für das Krongut gewinnen. Ludwig versuchte wiederum, zugewanderte Unfreie dem Fiskus einzuverleiben. Erst dann sollten sie ausgeliefert werden, wenn der 'actor fisci' die bäuerlichen Unfreien rechtlich nicht halten konnte. Andererseits wollte Ludwig auch hier Streitigkeiten mit revindizierenden Herren vermeiden und lavierte vorsichtig. Selbst dann, wenn die rechtliche Zugehörigkeit der ' servi' zum Fiskus feststand, sollten die ' servi' zunächst ausgeliefert werden, sofern man sie zurückforderte. Erst dann sollte der königliche Verwalter sie ' legitimam actionem' in den Besitz des Fiskus bringen. Vorsichtig wird die Bestimmung noch durch ein auf den 'actor' bezogenes ' s i poterit' eingeschränkt. Mit anderen Worten: Ludwig überließ es auch hier dem ' actor', alles zu versuchen, die ' servi' dem Fiskus zu erhalten, ohne allerdings dabei Konflikte zu riskieren. Am Rande dürfen wir vermerken, daß es, wie der Wortlaut des Textes zeigt, vorkommen konnte, daß die herrschenden Kreise flüchtige ' servi' beanspruchten, die ihnen gar nicht gehörten. Auch diese Tatsache zeigt, daß man keine Mittel scheute, um in den Besitz von Arbeitskräften zu gelangen. Ähnliche Bestrebungen lassen sich unter Karl dem Kahlen nachweisen, der sich 857 mit Bischöfen, Äbten, Grafen und anderen 'Getreuen' beriet. Für die Verwirklichung der dabei gefaßten Beschlüsse hatten Königsboten zu sorgen. Unter anderem wurde bestimmt, daß "mancipia aliena", die in Immunitätsbezirke, in den Fiskus oder andere ' potestates' flohen, ohne jedes Geschenk, widerspruchslos zurückgegeben werden soll99 ten.

Damit traf Karl der Kahle eine Entscheidung, die von dem etwas abwich, was seine

Vorgänger in solchen Situationen unternahmen. Zwar läßt sich im Gegensatz zu Karl dem Großen, der souverän befahl, alle Flüchtigen (fugitivi, adventitiae) vor das Gericht des Herrschers zu führen und ihre Herkunft eingehend zu untersuchen, schon bei Ludwig dem 98 MGH, Cap. 1, Nr. 148 (821), c. 3. 99 MGH, Cap. 2, Nr. 267 (857), c. 4. 34

Frommen ein gewisses Lavieren gegenüber den Feudalherren beobachten, wenn es darum ging, zugewanderte Unfreie den königlichen Gütern einzugliedern. Die Macht des Adels war gewachsen, dem Kaiser Ludwig*"" nicht mehr mit der Sicherheit und Autorität entgegentreten konnte wie Karl der Große. Das gilt auch in der Frage der bäuerlichen Abwanderung, die u . a . dann leicht zu Kontroversen zwischen Herrscher und Adel führen konnte, wenn der Fiskus Ziel der Flucht war. Ganz besonders tritt dann die Stärke der Großen des Landes unter Karl dem Kahlen bestimmend hervor, auf deren Willen und politische Absichten er gezwungenermaßen Bücksicht zu nehmen hatte. Spätestens seit dem Vertrag von Coulaines 843 mußte der 'honor fidelium' ständig respektiert werden, hatten die Interessen der Großen dauerhafte und entscheidende Bedeutung für die politische Willensbildung und Regierung Karls des Kahlen gewonnen.

Es ist verständlich, daß die ' potentiores'

des Landes ihre Macht aufboten, um auch die Fluchtfrage in ihrem Sinne zu beeinflussen und ihren Standpunkt durchzusetzen. Wenn nun 'mancipia, servi' anderer Herren in den Fiskus abwanderten, so entschied sich Karl der Kahle im Gegensatz zu Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen grundsätzlich für die Auslieferung an die Großen. Für sie war es wesentlich, daß ihre entflohenen 'mancipia' revindiziert werden konnten - unabhängig davon, ob das Krongut oder andere Grundherr Schäften das Ziel der Flucht waren. Die bisher gebrachten Belege für die bäuerliche Flucht und die Maßnahmen, die sie namentlich bei fränkischen Herrschern auslösten, stammen vorwiegend aus dem westfränkischen Bereich. Demgegenüber berichten die schriftlichen Quellen in den Gebieten östlich des Rheins, wo die gesellschaftliche Entwicklung langsamer verlief als im westlichen Teil des Imperiums, weitaus seltener von der Abwanderung. Nur dort, wo sich verhältnismäßig früh grundherrliche Abhängigkeitsverhältnisse herausbildeten, wie etwa in Bayern, lassen sich entsprechende Zeugnisse finden. Einen Hinweis auf die grundherrliche Entwicklung in diesen Gebieten geben zahlreiche

100 So beklagt Agobard von Lyon, einer der entschiedensten Anhänger der Reichseinheit, die zunehmende Unabhängigkeit des Adels und die damit verbundene Rechtsunsicherheit. Die Furcht vor Herrscher und Gesetz sei in vielen verstummt, so daß die meisten glauben, niemand fürchten zu müssen; vgl. MGH, Epp. Bd. 5, S. 202, z. 8 f. (818/28). Agobard schrieb an Ludwig den Frommen, daß die in der Bibel angegebenen Merkmale der Endzeit sichtbar werden; bald würde Satan losgelassen und der Antichrist zerträte die hl. Stadt; vgl. MGH, Epp. Bd. 5, S. 182, Z. 29 (826/7); vgl. auch Müller-Mertens, E . , Karl der G r o ß e . . . , S. 137 f. 101 Vgl. Classen, P . , Die Verträge von Verdun, S. 20 f. Kern. F r . , Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter, S. 80 f . , 197 f . , 221 f . , 296, 311; vgl. auch Ganshof, F. L . . Das Lehenswesen im fränkischen Reich, S. 45 f.; Lot, F . , Halphen. L . , Le règne de Charles le Chauve, Bd. 1, S. 162 f . ; Dümmler. E . , Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 1, S. 414 f. 35

Traditionen des 8. und 9. J h . , in denen 'mancipia' und 'servi 1 verschiedener Grundherr102

Schäften ausgetauscht wurden.

Die Ursache für den im Freisinger Gebiet ziemlich häu-

fig anzutreffenden Austausch von ' mancipia' und ' servi' ist darin zu suchen, daß durch die Heirat von ' s e r v i ' oder 'ancillae' mit Unfreien anderer Grundherrschaften die betreffenden Feudalherren leicht Arbeitskräfte verlieren konnten, da die Ehepartner zusammen103 zogen. Zuletzt nahm Ph. Dollinger mit Recht an, daß zum Ersatz für eine durch Eheschluß verlorene bäuerliche Arbeitskraft der betroffene Grundherr von demjenigen Herrn, zu dem der Ehepartner gezogen war, einen anderen bäuerlichen Unfreien erhielt. Dieser Vorgang, der sich im Rahmen einer 'commutatio' vollzog, zeigt deutlich den Arbeitskräftebedarf der aufstrebenden bayrischen Grundherrschaft ganz allgemein. Die Grundherren reagierten daher entschieden, wenn Unfreie abwanderten bzw. abgewandert waren und nun von anderen Herren einbehalten wurden. So befindet sich unter den Fragmenten einer Formelsammlung von St. Emmeram zu Regensburg auch ein Stück, in dem der Klostervogt vor einem von Ludwig dem Frommen abgehaltenen Gericht einen 'homo' beschuldigt, er halte widerrechtlich klösterliche 104 'mancipia' zurück.

Der Beklagte wurde daraufhin befragt, ob das zuträfe. E r antwortete,

daß er die 'mancipia' vor dem 'palatium' des Kaisers rechtmäßig evindizierte. Eine ' c a r t a evindicata', die er dafUr erhalten habe, konnte er jedoch nicht vorweisen. Deshalb, so beschlossen 'missus' und Schöffen, waren diese 'mancipia' dem Vogt und Priester zurückzugeben. Darüber hinaus wurde eine 'notitia' angefertigt. Wie die Dinge wirklich lagen, läßt sich nachträglich schwer rekonstruieren. Möglicherweise waren 'mancipia' des verklagten 'homo' diesem entlaufen und hatten sich in die klösterliche Grundherrschaft begeben. Daraufhin evindiziert er die Geflüchteten vor Gericht, erhält sie zurück und bekommt außerdem eine ' carta' darüber. Nun aber protestiert das Kloster, das die Zugewanderten behalten möchte und sie deshalb als klösterliche Unfreie ausgibt. Das Kloster kann sich schließlich durchsetzen. Für Freising begegnen wir einer ähnlichen Situation. 828 forderte Reginbertus, Vogt des Bischofs Hitto von Freising, drei namentlich genannte 'mancipia' zurück. Über den Ablauf des Prozesses erfahren wir nichts. Es wird105 lediglich konstatiert, daß sich diese 'mancipia' in 'manus Reginberti' ergeben haben. Um den Besitz der Freisinger ' e c c l e s i a ' an diesen bäuerlichen Unfreien über jeden Zweifel zu erheben, wurden Augen102

Vgl. beispielsweise Die Traditionen des Hochstifts Feising, Bd. 1, Nr. 754, 767, 774, 790, 795, 827, 852, 872, 895, 923, 927, 928, 938, 1046. 103 Dollinger, Ph., L'évolution des classes rurales en Bavière, S. 257 f. 104 M GH, F F , Formularum codicis S. Emmeramis Fragmenta, Nr. 3, S. 463. 36

zeugen angeführt, die gesehen haben, daß sich die ' mancipia' in das ' servitium' der Freisinger Kirche begaben. Die Flucht von Unfreien läßt sich aber in Bayern nicht nur in lokal begrenzten Einzelfällen nachweisen. Sie ist auch Gegenstand von Verhandlungen, die zwischen den bayrischen Herzögen, geistlichen und weltlichen Feudalherren geführt werden. Als am 14. Oktober 772 ein Konzil 'sub principe domino Thassilone' in Neuchingen im Erdinggau tagt, wird gleich eingangs beschlossen, daß niemand Uber die Grenzen seiner ' provincia' bäuerliche 106 Unfreie (mancipia) verkaufen darf, die ihm gehören oder flüchtig geworden sind. Es ist bemerkenswert, daß zwei Gruppen von 'mancipia' unterschieden werden. "Mancipia propria" waren offenbar die einem Grundherrn untergebenen Unfreien, vielleicht das Gesinde. Wie verhält es sich aber mit den 'mancipia fugitiva' ? Sicher ist, daß wir hier flüchtige Unfreie vor uns haben. Es ist denkbar, daß die Grundherren, die ein solches 'mancipium fugitivum' aufgenommen hatten, möglichst schnell diesen Unfreien verkaufen wollten, um ihn dem Zugriff seines ehemaligen Grundherrn zu entziehen und selbst auf diese Weise noch etwas zu profitieren. Wie eingehend das Phänomen der bäuerlichen Flucht in kirchlichen Kreisen auch im ostfränkischen Reich ganz allgemein erörtert wurde, soll abschließend ein Blick auf die Antworten zeigen, die Rhaban, Abt von Fulda, auf die Frage gab, was mit einem ' servus' *

105

106

107

Die Traditionen des Hochstifts Freising, Bd. 1, Nr. 553 (828). Wie Dollinger, Ph., L'évolution des classes rurales en Bavière, S. 78 f . , zeigen konnte, waren die ' mancipia' mit hohen Fronleistungen belastet und ursprünglich zu ungemessenen Diensten verpflichtet. Es bedeutete schon eine gewisse Erleichterung ihrer schweren Lage, wenn sie nur zwei oder drei Tage wöchentlich fronen mußten. Allerdings wird bei D. die Schichtung innerhalb der 'mancipia' nicht deutlich. Es handelt sich hier keineswegs nur um Gesinde ('mancipia infra domo'); vgl. Die Traditionen des Hochstifts Freising, Bd. 1, Nr. 300 (812), Nr. 652 (842); verschiedentlich werden ' mancipia' erwähnt, die Landbesitz haben und über ' substantia' oder 'facultas' verfügen konnten; vgl. Die Traditionen des Hochstifts Regensburg und des Klosters St. Emmeram, Nr. 13 (814), 14 (814), 1 (760), 17 (820); Die Traditionen des Hochstifts Freising, Bd. 1, Nr. 29 (769), 576 a (828); die 'mancipia' konnten auch über Hausrat und Gerätschaft verfügen; vgl. Traditionen des Hochstifts Regensburg, Nr. 5 (778); diesen Quellenzeugnissen darf entnommen werden, daß sich auch innerhalb der ' mancipia' der Übergang vom landlosen Unfreien zum Hörigen allmählich vollzog. M GH, Conc. 2, 1, Nr. 16 (772, Oct. 14) c. 1; vgl. auch M GH, LL, 3, S. 244,^ Anm. 45. Der Verkauf wurde wohl auch deshalb untersagt, weil die 'mancipia als begehrte Arbeitskraft im bayrischen Herrschaftsbereich bleiben sollten. Daß wir etwa im mitteldeutschen Raum unter ' s e r v i ' im 8. und 9. Jh. nicht überwiegend landlose Unfreie zu verstehen haben, bemerkte bereits Schlesinger, W . , Die Entstehung der Landherrschaft, S. 100 f . , 103 gegen Lütge. F r . , Die Agrarverfassung des frühen Mittelalters, S. 115 f . ; vgl. auch Bosl, K . , Franken um 800, S. 19 f . , der in den 'mancipia' vorwiegend landlose Unfreie erblicken möchte. 37

geschehen soll, der seinem Herrn entflieht.

108

"Stirbt er auf der Flucht", meinte Rhaban, "so sollen für ihn Messen und ' Psalmodias' gesungen werden. Das finden wir in der Heiligen Schrift nicht verboten (hoc in divinis libris non invenimus prohibitum), wenn wir auch von den Aposteln das strikte Gebot (fortissime preceptum) kennen, daß die ' s e r v i ' in allem Untertan sein sollen"

(1. Petr. 2,

109 18). Weiter heißt es, daß in 'canones' des Konzils zu Gangra

geschrieben steht: "Wer

einen ' servus' lehrt, den eigenen Herrn zu verachten und ihn zu verlassen (ut discedat ab eius obsequio), statt ihm beizubringen, willig und aufrichtig zu dienen, der sei verflucht." Rhabanus meinte nun: "Wenn jener, der solches lehrt, verdammenswert ist, um wieviel mehr jener, der seinen Herrn verschmäht und ihm nicht dienen will (et eius servitio subdi noluerit)". Doch soll derjenige ' s e r v u s ' , der aus Übermut (superbia) flieht, von dem unterschieden werden, der gezwungenermaßen vor der Grausamkeit seines Herrn floh. ' P e r fideles Christi doctores' soll der flüchtige 'servus' ermahnt werden, zu seinem Herrn zurückzukehren, ihm Untertan zu sein und die Weisung seines Herrn nicht zu verachten.

Es wird deutlich, wie vorsichtig die 'libri divini' und ihre Satzungen interpretiert

wurden. Es war gefährlich, hier zu fehlen oder in Widerspruch zur geheiligten Überlieferung und zu den Interessen der fränkischen Feudalität zu geraten. Dem kleinen Zugeständnis an den auf der Flucht gestorbenen 'servus* folgte daher sogleich die Beteuerung, daß man sehr wohl von der gottgewollten Knechtschaft des 'servus' wisse. Keinesfalls wollte Rhaban den gleichsam suspekten Anschein erwecken, er lasse dem flüchtigen ' servus' gegenüber zu große Milde walten. Der gleich darauffolgende Passus klärt den Standpunkt des Geistlichen eindeutig: Der 'servus', der floh, wurde verflucht wie derjenige, der ihn lehrte, seinen eigenen Herrn zu schmähen und zu verlassen. Wenn schließlich unterschieden werden sollte, ob ein ' servus' aus Not oder Übermut (superbia) geflohen sei, so ist das eine sehr vage und dehnbare Formulierung. Wer konnte nachweisen, ob Flucht aus Not oder 'superbia' erfolgt war? Wo verlief die Grenze zwischen echter Not (neccesitas) und Übermut (superbia) ? Konnte nicht eine geringfügige Verletzung 108

MGH, Epp. Bd. 5, Nr. 30, S. 448 ff. (842); nur dann wird für den Toten gebetet, wenn er nicht in ein Verbrechen verwickelt oder in eine 'perfidia' verstrickt ist.

109

Vgl- Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Bd. 2, Sp. 1105, c. 3. Auch in frühmittelalterlichen theologischen Schriften, die in vielem auf das Werk Augustins "De civitate Dei" zurückgehen, wurden jene ' s e r v i ' verurteilt, die ihren Herrn verlassen. Der Mensch solle sich in dem Stande, in den er hineingeboren wurde, in christlichem Sinne bewähren. Flucht vor Bedrückung wurde gleichsam als Flucht vor der 'Bewährung im Unglück' angesehen. Auch deshalb drohte die frühmittelalterliche Kirche flüchtigen ' s e r v i ' mit dem Bann. Vgl. dazu auch Langer. B . . Die Lehre von den Ständen im frühen Mittelalter, S. 129.

110

38

feudaler Leistungspflicht als dem christlichen Gehorsamsgebot widersprechende ' superbia' gedeutet werden? Hier kam es auf die Interpretation an. Ob sie, von den Herren unternommen, zugunsten des flüchtigen 'servus' ausfiel, darf bezweifelt werden. Rhabanus hatte sich ja selbst in seiner Erörterung der Flucht von ' servi' deutlich für deren herrschaftliche Gebundenheit ausgesprochen und sich gegen die Flüchtigen gewandt. c) Die Ursachen der Flucht Über die Ursachen der im fränkischen Reich offenbar verbreiteten Flucht Unfreier geben die schriftlichen Quellen nur selten Aufschluß. Sie erwähnen allenfalls die Tatsache der bäuerlichen Abwanderung, verbieten sie, untersagen die Aufnahme der Flüchtigen und ordnen die Rückkehr zu ihrem ehemaligen Herrn an. Das war es ja auch, was die oberen Schichten der entstehenden Feudalordnung, in deren Händen die schriftliche Fixierung entsprechender Rechtsfälle lag, vor allem interessierte: Die Abwanderung gefährdete die kontinuierliche Bewirtschaftung ihrer Güter erheblich und konnte zu einer mitunter spürbaren Verminderung der Arbeitskräfte führen. Deshalb wurden entsprechende, freilich nicht ohne weiteres wirkungsvolle 1 ** Bestimmungen erlassen. Sie gehen nur dann, man darf sagen ausnahmsweise, auf die Gründe der Flucht ein, wenn es etwa innerhalb der feudalen Oberschichten zu Spannungen oder Konflikten kam und die eine Seite die gegnerische Partei durch entsprechende Argumente ins Unrecht zu setzen bzw. ihr Verhalten als verwerflich hinzustellen versuchte. In einer solchen Situation konnte es geschehen, daß man dabei dem Kontrahenten auch die Bedrückung der ländlichen Bevölkerung vorwarf. Es kann also, dem Charakter der schriftlichen Quellen im 8. und 9. J h . entsprechend, kein auch nur annähernd vollständiges Bild in dieser Hinsicht erwartet werden. Wir müssen uns damit begnügen, was die zeitgenössischen Schriftzeugnisse überliefern, ohne in jedem Fall sagen zu können, daß das uns zur Kenntnis Gebrachte auch durchweg typisch war. Ein solches Spannungsverhältnis, wie es oben angedeutet wurde, bestand zu Beginn des 9. J h . zwischen Grafen und fränkisches, Herrschern. Die Grafen, bemüht, mit allen Mitteln ihre politische und ökonomische Position zu stärken und sich möglichst unabhängig zu machen, sahen sich schon unter Karl dem Großen einer eingehenden Kritik gegenüber. Man

111

Mit Recht bemerkte schon Bloch, M . , La société feodale, S. 392, daß man im fränkischen Reich nicht in der Lage war, Flüchtlinge wirksam zu verfolgen, da es an einer zuverlässigen Exekutive fehlte. Nur mit Mühe gelang es, sich in dem gesamten Fluchtkomplex auch nur einigermaßen zurechtzufinden und Herkunft, Stand und Namen festzustellen. Aber auch das waren nur Anordnungen, die etwa den 'missi' zur Ausführung übertragen wurden. Ob sie verwirklicht wurden, bleibt dahingestellt.

39

warf ihnen Willkür und Bestechlichkeit vor.

112

Bereits 787 tadelte Karl der Große im soge113 nannten zweiten Kapitular von Mantua die Habsucht der Grafen , die von der Bevölkerung (a populo) ' redibutiones vel collectiones'

"bittweise erpressen" (quasi deprecando exigere

solent). Mit allerlei Kunstgriffen (machinationes) zwingen sie das Volk zur Erntearbeit, zum Jäten, Pflügen, Säen, Mähen und zu Fuhrdiensten. Verschiedentlich war der Druck der geforderten Dienste so stark, daß "populus oppressus" ganz allgemein seine Herren fluchtartig verläßt. Der grundherrliche Besitz verödet deshalb (in solitudinem redacte). Bedrükkung mit Diensten durch die Grafen als ein Motiv der Flucht wird auch in späteren. Kapitularien Karls des Großen erwähnt. E r kritisiert die Grafen auch deshalb, 114weil sie versuchten, die ihnen übertragenen Benefizien zum eigenen Allod zu schlagen. Außerdem wird 806 auf einem 'placitum' des Kaisers in Nymwegen den dort versammelten ' m i s s i ' mitgeteilt, daß die Grafen die auf dem 'beneficium' wohnenden Dienstpflichtigen für eigene Fronleistungen heranziehen. Deshalb lagen verschiedene auf dem Benefizialgut gelegene königli115 che Höfe verlassen da.

Gerade die auf Benefizialland sitzenden Bauern, die dem jewei-

ligen fränkischen Herrscher wie dem Inhaber des 'beneficium' verpflichtet waren, reagierten auf Bedrückung besonders empfindlich. Einen weiteren Durchblick auf Motive der Abwanderung vermittelt uns ein Kapitular aus der Zeit Kaiser Ludwig des Frommen, als nach dem Sturz der einflußreichen Grafen Matfrid von Orléans und Hugo von Tours 828 die kirchlichen Reformer wieder stärker in den Vorder116

grund traten.

Die Geistlichkeit, namentlich die Bischöfe, nutzten die Gelegenheit, um

an den weltlichen Großen ganz allgemein scharfe Kritik zu üben. In einem Schreiben aus dem Jahre 829 an Ludwig den Frommen entwerfen sie ein düsteres Bild von den Folgen des Wuchers und der unbarmherzigen Ausplünderung der ' pauperes' durch ' laici', aber auch 117 'clerici'

: Viele gingen aus Hunger zugrunde oder suchten ihr Los zu verbessern, in-

dem sie in andere Gebiete abwanderten. Das Gebot Gottes, so beschweren sich die Bischöfe, 112 Vgl. MGH, Cap. 1, Nr. 20 (779), c . 11; vgl. auch die Vision des Reichenauer Mönches Wetti, der im Fegefeuer Grafen sieht, die dort für ihre Habsucht und Bestechlichkeit büßen müssen. Walahfried Strabo verfaßte die 'visio' nicht vor 826; vgl. allgemein Levison, W . , Die Politik in den Jenseits Visionen des frühen Mittelalters, S. 235 f. 113 MGH, Cap. 1 Nr. 93 (787 ?), c . 6. 114 Solche Bestrebungen lassen sich unter Karl dem Großen im fränkischen Reich ganz allgemein nachweisen; vgl. Waitz. G . , Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 209; Brunner. H., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S. 294; Bd. 2, S. 226; v. Inama-Sternegg, K. T h . , Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 394 f. 115 116 117 40

MGH, Cap. 1, Nr. 46 (806), c. 6. Vgl. Müller-Mertens. E . , Karl der Große, S. 140 f. MGH, Cap. 2, Nr. 196 (829), c . 54, S. 43, Z. 20 f.

werde von jenen mißachtet, die sich an der Bedrückung der 'pauperes' nicht genug tun können. Für die Klärung der Ursachen der bäuerlichen Abwanderung im 9. Jh. ist auch das Kapitular von Pitre 864 aufschlußreich. Es entstand, als Karl der Kahle einen Reichstag mit seinen Großen abhielt. Dabei wurde u.a. auf die Arbeiten an den zur Abwehr der Norman118

nen errichteten Befestigungen eingegangen.

Gerade in dieser Zeit häuften sich ja die

Einfälle der Normannen, unter deren Eroberungszügen in besonderem Maße die ländliche Bevölkerung litt, die vielfach aus den verwüsteten Gebieten flüchtete. Grafen und Bischöfe werden nun angewiesen, für die Rückkehr der Flüchtlinge 119 zu sorgen und sie weder mit einem 'census' noch mit 'exactiones' zu bedrücken. Offenbar war zu befürchten, daß die verheerten und verlassenen Gebiete verödeten. Die ausdrückliche Befreiung von bestimmten Abgaben sollte sicherlich als Anreiz wirken - eine Maßnahme, die ja ganz allgemein siedlungsfördernd wirkte. Abschließend möchten wir feststellen, daß die Fluktuation innerhalb der ländlichen Bevölkerung in engem Zusammenhang mit der Entstehung der Grundherrschaft im 8. und 9. Jh. zu sehen ist. Hier sind die Gründe zu suchen, die im Einzelfall im 8. und 9. J h . zur Flucht führen konnten. Die Bedrückung mit feudalen Lasten ist dabei als Motiv ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, daß die fränkischen Herrscher wie die geistlichen und weltlichen Grundherren am Zuzug bäuerlicher Arbeitskräfte interessiert waren, bestand doch innerhalb der sich herausbildenden Grundherrschaft ein entsprechender, zweifellos beträchtlicher Bedarf. Eine solche Haltung innerhalb der Oberschichten gegenüber der bäuerlichen Flucht mußte naturgemäß den gegen die Abwanderung und die Aufnahme gerichteten Verboten viel von ihrer Wirkung nehmen. Wie das Kapitular von Pitre 864 zeigt, wurde sogar versucht, durch Verzicht auf bestimmte Leistungen einen gewissen Anreiz zu schaffen, um Flüchtlinge zur Ansiedlung zu bewegen. Möglicherweise hatte dieses Motiv für die bäuerliche Abwanderung eine größere Bedeutung, als es sich unmittelbar in den Quellen widerspiegelt. Namentlich den im östlichen Teil des Frankenreiches verschiedentlich bezeugten flüchtigen ' mancipia', die vielfach 120 zum grundherrlichen Gesinde gehörten , das landlos war, mußte eine wirtschaftliche Besserstellung verlockend erscheinen. Hier wäre an eine Ausstattung mit Landbesitz zu denken. Gerade im Osten des Reiches war die Hufenbindung für einen wesentlichen Teil 118 119 120

Vgl. allgemein Dümmler, E . , Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 2, S. 105 f. M GH, Cap. 2, Nr. 273 (864), c. 31; vgl. ähnliche Bestimmungen Cap. 2, Nr. 260 (853), c. 9. Vgl. Dollinger. P h . . L'évolution des classes rurales en Bavière, S. 78 f. 41

der ländlichen Bevölkerung noch nicht vollzogen worden. Dieser Prozeß befand sich hier im 8. und 9. Jh. noch im vollen Gange. Als Fluchtgrund direkt faßbar ist in der schriftlichen Überlieferung allerdings nur die Belastung mit der Arbeitsrente (Fuhr-, Bestell- und Erntedienste), die ja gegenüber der Produktenrente im frühen Mittelalter ganz allgemein infolge der geringen Produktivität der bäuerlichen Wirtschaft und wegen des Bedarfs der Grundherren an Dienstleistungen zur Bestellung des Sallandes vorherrschte. Außerdem werden in den Quellen die Verwüstungen durch die Normannen als Motiv für die Abwanderung angegeben. Die bäuerliche Flucht ist namentlich im westfränkischen Reich bezeugt. Sie fehlt aber auch im ostfränkischen Reich nicht, wo sie allerdings seltener, besonders in Gebieten mit relativ fortgeschrittener Entwicklung grundherrschaftlicher Verhältnisse auftritt (Bayern). Mit der Flucht von Unfreien müssen sich namhafte Geistliche (Rhaban), Klöster und einzelne fränkische Herrscher mehrfach auseinandersetzen. Sie helfen den um Beistand nachsuchenden Klöstern besonders dann, wenn es sich um Königsklöster handelte, die für diese Herrscher wichtige Stützen ihrer Politik waren. Sowohl Karl der Große wie Ludwig der Fromme versuchen außerdem in ihrem Bemühen, das Krongut als materiellen Rückhalt ihrer Macht zu erhalten und zu stärken, jeden Verlust von Arbeitskräften durch Abwanderung von den königlichen Gütern zu hindern. Andererseits sind sie bemüht, zugezogene Flüchtlinge zu behalten. Während Karl der Große und Ludwig der Fromme bei diesen Bestrebungen im wesentlichen erfolgreich sind, muß Karl der Kahle den inzwischen erstarkten und einflußreich gewordenen Großen des Landes die Auslieferung auch jener Flüchtlinge zugestehen, die sich in das Gebiet des Fiskus begeben hatten. Zusammenfassend können wir feststellen, daß sich, ebenso wie die Resistenz gegen die Entrichtung einzelner feudaler Leistungen auch die Flucht als Form bäuerlichen Widerstandes gegen feudale Bedrückung, eine Fluktuation innerhalb der ländlichen Bevölkerung im 8. und 9. Jh. nachweisen läßt. Auf diese Abwanderung gehen sowohl Gerichtsurkunden, Kapitularien und Empfehlungen geistlicher Würdenträger wiederholt ein. Ihr kommt im 8. und 9. Jh. offenbar eine nicht unbeträchtliche Bedeutung zu.

3. Bäuerliche Schwurbünde und Erhebungen a) 'coniurationes' Wir konnten aus unseren bisherigen Ausführungen bestimmte Formen der bäuerlichen Resistenz erkennen, mit denen sich Klöster und fränkische Herrscher auseinandersetzen. Dabei war nicht immer genau festzustellen, ob es um einzelne Angehörige der unteren Bevölkerungsschichten ging oder aber ein vereintes Vorgehen von Unfreien anzunehmen ist. Immer42

hin darf soviel gesagt werden, daß dort, wo diese selbst vor dem königlichen Gericht e r scheinen und ihre Beschwerde vorbringen, an ein gemeinsames, möglicherweise auf vorheriger Absprache beruhendes Handeln zu denken ist. Lassen sich innerhalb der ländlichen Bevölkerung solche auf eine vereinte Abwehr feudaler Bedrückung abzielende Tendenzen noch etwas deutlicher nachweisen? In diesem Zusammenhang soll zunächst auf die sog. 'coniurationes' eingegangen werden, denen schon Karl der Große seine Aufmerksamkeit zuwandte.

121

Er suchte vor allem dann diese Schwurbünde

122

zu unterdrücken, wenn neben

der ländlichen Bevölkerung auch Adelsschichten daran teilnahmen. So wurde 786 in Thüringen eine Verschwörung mit dem Grafen Hardrad an der Spitze aufgedeckt, deren Teilnehmer den König ermorden oder ihm den Gehorsam aufsagen wollten. In diesem Zusammenhang werden neben ' comités, nobiles' auch jene genannt, 'qui innoxii in hac coniuratione 123 seducti sunt*.

Abel meinte, daß das Ganze 'wenigstens ursprünglich nur eine Verschwö-

rung eines Teiles der Grafen und Vornehmen, keine allgemeine Volksbewegung' war, 'wenn die Urheber auch möglichst viele zum Beitritt nötigten und verführten'. Doch konze121

Zuletzt betonte Coornaert, E . , Les ghildes médiévales (V e - VII e siècle), S. 27 f . , daß zumindest im frühen Mittelalter das Wort Gilde sich auch auf die ländliche Bevölkerung beziehen konnte. Neben diesen Gilden wurden in der Forschung auch die in den frühmittelalterlichen Quellen bezeugten 'coniurationes' erörtert. Nachdem Waitz. G . . Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 357 f. und v. Inama-Sternegg. K . . Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 261 f. nur kurz auf diese Vereinigungen eingegangen waren, jedoch ihre dem Druck der Feudalherren entgegengesetzte Wirkung erkannten, befaßte sich Dopsch. A . , Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, Bd. 2, S. 29 f. erneut mit diesen Fragen. Er wies daraufhin, daß im westlichen Frankenreich, in Italien und Sachsen, wo sich die Grundherrschaft im 8. und 9. Jh. entwickelte, zwischen der Verknechtung Freier und den Verschwörungen Zusammenhänge bestehen. Für die bedrückte ländliche Bevölkerung war oft "die gemeinsame Selbsthilfe der einzige Weg, einen der Mächtigen in die Schranken zu weisen." Vgl. Fichtenau. H.. Das karolingische Imperium, S. 147. Deshalb schlössen sich die verschiedensten Bevölkerungsschichten in 'conjurationes' zusammen, die zuletzt Njeussychin, A. I . , Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse, S. 581, als erste Anzeichen verschärfter Auseinandersetzungen zwischen den herrschenden Schichten und der ländlichen Bevölkerung im karolingischen Imperium wertete. Vgl. auch Neubert, H., Aus der Arbeit der sowjetischen Mediävistik, S. 1714 f.

122

Auf die 779 zuerst bezeugten Gilden, die, soweit sie sich auf eidliche Vereinbarungen gründeten, verboten wurden, gehen wir nicht ein, da sich hier offenbar vor allem Kaufleute, weniger Bauern, zusammenschlössen. Die Bestimmung, daß nur Vereinigungen zur gegenseitigen Hilfe bei Brandgefahr oder Schiffbruch gestattet sein sollten, weist in diese Richtung; vgl. MGH, Cap. 1, Nr. 20 (779), c. 16; vgl. auch Coornaert, E . . Les ghildes médiévales (V e - VII e siècle), S. 277 f. Anläßlich dieser Verschwörung wurde eine allgemeine Eidesleistung bis zum 12. Lebensjahr gefordert. Seitdem wurde öfters die Leistung eines Eides verordnet, um die inneren Verhältnisse des Frankenreiches zu stabilisieren; vgl. dazu Dumas, A . , Le serment et la conception du pouvoir du I e au IX e siècle, S. 30 f.

123

43

diert er, daß, den Quellen entsprechend, ' auch ein erheblicher Teil des Volkes von ihr 124 ergriffen wurde'.

Karl der Große erfährt von der Verschwörung und zerschlägt sie.

Drei Jahre später, 789, werden in den für Königsboten bestimmten Anweisungen

125

'coniurationes' erwähnt, die St. Stephan, dem König und seinem Sohn gewidmet waren. Die Schwurbünde werden ohne Angabe näherer Gründe untersagt. Es fällt jedoch auf, daß der Stephanstag, der 26. Dezember, mit dem heidnischen Julfest zusammenfällt. Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß mit der Widmung dieser Schwurbünde an St. Stephan heidnischer Brauch mit christlichen Symbolen getarnt werden sollte. Das Verbot würde 126 sich dann gegen die Pflege heidnischen Gedankengutes in diesen 'coniurationes' richten.

Die Wid-

mung an den König konnte zudem den Zweck verfolgen, hier Schutz und Unterstützung gegen Bedrückung durch die Großen des Landes zu finden. 127 Auf der Synode zu Frankfurt 794 werden erneut 'coniurationes' erwähnt. Sie wurden wie die 'conspirationes' strikt unter128

sagt. Solche Schwurbünde richteten sich jedoch nicht nur gegen Bedrückung im Lande selbst, sondern wurden auch, wie es namentlich unter Ludwig dem Frommen geschah, zum Schutz gegen die Überfälle der Normannen im Küstengebiet 129 beschlossen. 821 wies Ludwig Königsboten an, solche 'coniurationes' zu verbieten. Die Herren der ' s e r v i ' , die nach der Bekanntmachung dieses Befehls nicht genügend dafür sorgten, daß solche ' coniurationes' unterblieben, wurden bestraft. Sie mußten den Königsbann, also 60 ' solidi' zahlen. Bezeichnenderweise wurden nicht nur bestehende 'coniurationes' verboten. Es wurde damit 124

Vgl. Jahrbücher der deutschen Geschichte, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen, Bd. 1, 2. Aufl., bearb. von Simson, B . . Leipzig 1888, S. 523. 125 MGH, Cap. 1, Nr. 23 (789), c. 26. 126 Andere KapitularbeStimmungen für 789 befassen sich gerade mit der Bekämpfung heidnischer Vorstellungen bei der ländlichen Bevölkerung. Die Furcht vor dem Unwetter, das die Frucht mühseliger Arbeit, die Ernte, mit einem Schlage vernichten konnte und der Wunsch, die Fruchtbarkeit von Wald, Weide, Wiese und Feld zu mehren, führten den Bauern leicht zum Glauben an überirdische Kräfte, deren Macht er sich ausgeliefert fühlte. Sie suchte er sich günstig zu stimmen: Glockentaufen sollten den Hagel abwenden, Täfelchen mit magischen Zeichen wurden an Bäumen befestigt usw. Das wurde verboten. Vgl. dazu MGH, Cap. 1, S. 64, Anm. 19. Die Bevölkerung wurde zum christlichen Glauben ermahnt, dessen Gebote die Bauern aufriefen, den Herren gehorsam zu sein. Die 'Hüter der Herde der christlichen Kirche' sollten wachsam sein und sich bemühen, das Volk auf die 'Weide des ewigen Lebens zu führen'. 'Verirrte Lämmer" waren in die Kirche heimzubringen, damit sie nicht dem 'hinterlistigen Wolf' zum Opfer fielen. Dieser sanften Arenga der 'admonitio generalis' folgten recht energische Bestimmungen, die in ihrem Tonfall eher an Befehle als an milde Ermahnungen erinnerten und heidnische Reste im bäuerlichen Denken ausmerzen sollten. Törichte Zauberei und Beschwörung an Bäumen, Felsen und Quellen waren"'pessimus' und unchristlich. Wo der Priester solches Treiben entdeckte, hatte e r es zu unterbinden (tollatur et distruatur); vgl. MGH, Cap. 1, Nr. 22 (789), c. 65. 44

gerechnet, daß sich auch in Zukunft solche Bünde bildeten. Wir erkennen, daß in Flandern um 820 bäuerliche Bünde derartig hervortraten, daß Königsboten beauftragt werden, dagegen vorzugehen. Etwas seltsam erscheint die Bestimmung, daß Grundherren, die die Bildung von 1 coniurationes' nicht verhindern, bestraft wurden. Wenn sich die 'coniurationes' gegen die Grundherren richteten, warum war es dann nötig, sie zum Vorgehen gegen diese Bünde zu veranlassen? Zur Klärung des sonst im fränkischen Beich in dieser Form nicht nachweisbaren Sachverhaltes möchten wir auf die Normanneneinfälle hinweisen, die in verheerender Weise immer wieder gerade die Küstengebiete des karolingischen Imperiums im 9. Jh. heimsuchten. Es ist möglich, daß die Grundherren, die selbst im harten Abwehrkampf gegen die Eindringlinge standen, es zumindest vorübergehend der ländlichen Bevölkerung erlaubten, sich vereint den Angriffen 130 der Normannen zu widersetzen und Schwurbünde einzugehen. Ludwig dem Frommen schien jedoch offenbar jede Art von Verschwörung verdächtig zu sein. Daher ging e r gegen diese drohende Gefahr vor und suchte dazu die Unterstützung der Grundherrn zu gewinnen. Konnten wir bisher 'coniurationes' und 'conspirationes', gegen die Karl der Große, Ludwig der Fromme und geistliche Würdenträger zum Teil unter Einsatz von Königsboten entschieden Stellung nahmen, in einigen wichtigen Quellen nachweisen, so sind indes alle diese Zeugnisse streng genommen theoretischer Natur. Denn so eindeutig die Kapitularien solche Schwurbünde bezeugen und so klar die Reaktion der fränkischen Herrscher beschrie127

Vgl. dazu auch Hauck, K. Geblütsheiligkeit. S. 191 f. Besonders dann erschienen den fränkischen Herrschern diese Bünde gefährlich, wenn sie eidlich beschlossen wurden. Sie durchbrachen dann als private Eideszirkel den allgemeinen Untertanenverband, die unmittelbare Beziehung vom Herrscher zu seinen Untergebenen, die e r durch wiederholte Forderung eines allgemeinen Treueides sich verpflichten wollte; vgl. dazu Sickel, T h . , Acta regum et imperatorem Karolinorum, Bd. 2, Wien 1867, S. 272; namentlich die Tatsache, daß bei einer Verschwörung 792 die Täter sich darauf beriefen, sie hätten keinen Treueid geleistet, zeigte, wie wichtig die Forderung einer allgemeinen Eidespflicht war; Mühlbacher, E . , Einleitung zu Unedierte Diplome aus Aquilija (799 - 1082), MIÖG, Bd. 1, 1880 , S. 266, Nr. 4; derselbe. Die Treupflicht in den Urkunden Karls des Großen, S. 871 f. ; Brunner. H . , v. Schwerin. C., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 75 f. ; Unter Karl dem Großen findet sich die Neuerung, daß der Treueid nicht nur aus Anlaß des Regierungswechsels, sondern unabhängig davon von Zeit zu Zeit allen eidesfähigen P e r sonen abgenommen wird. Schwurpflichtig waren alle freien Leute, die das 12. Lebensjahr vollendeten, die Hintersassen des Fiskus, der Kirchen und weltlichen Großen, die Unfreien, die Ämter besaßen oder als Vasallen dienten und zum Reiterdienst fähig waren. Brunner. H.. Grundzüge der deutschen Rechtsgesch., 8. Aufl. München - Leipzig 1930, S. 58 f . ; Krawinkel. H., Untersuchungen zum fränkischen Benefizialrecht, S. 48 ff. ; Ganshof, F. L . . La fin du règne de Charlemagne, S. 439 f. ; vgl. auch Steinbach. F . . Das Frankenreich, S. 68 f. 128 M GH, Cap. 1, Nr. 28 (794), c. 31. 129 MGH, Cap. 1, Nr. 148 (821), c. 7. 45

ben wird - es bleibt bei Anordnungen dafür, wie gegen 'coniurationes' vorgegangen werden sollte, ohne daß dabei auf ein besonderes Vorkommnis Bezug genommen wurde. Wir möchten in diesem Zusammenhang auf einzelne Erhebungen aufmerksam machen, in denen sich, ähnlich wie in den 'coniurationes', die ländliche Bevölkerung zu gemeinsamem Vorgehen gegen feudale Bedrückung vereinte. Daß es an solchen Vorfällen nicht fehlte, deuten schon Äußerungen maßgebender fränkischer Geistlicher an, die sich ja wiederholt mit dem bäuerlichen Freiheitsstreben auseinandersetzen mußten. Aufschlußreich ist in dieser Beziehung ein Gedicht, in dem Alkuin eine Empörung verurteilt, die sich zwischen 782 und 785 im westlichen Frankenreich zu St. Amand, der Abtei des mit Alkuin befreundeten Erzbischofs 131 Arn von Salzburg, ereignet hatte. Sie wurde als "rurensis turba" bezeichnet. Mit Worten des Tadels und der Verachtung wollte Alkuin seinen Unmut über diesen 'Bauerntumult' ausdrücken. Wer waren die ' o p i f i c e s ' , die sich auflehnten? Es können Bauhandwerker sein, die die Baufron drückte; da aber auch die ländliche Bevölkerung ganz allgemein fronen mußte - wir denken an Wagenfuhren, Steine karren - wird sie gleichfalls am Aufstand teilgenommen haben. Bei der Bestrafung wird ja auch von 'ruricolae' ge132 sprochen.

Alkuin stellte schließlich die Frage, was mit den Schuldigen zu tun sei: Sie

sollen mit Stockschlägen auf den Rücken gezüchtigt werden. Die Empörung sei eine 'turba rurensis'; sie sei 'infelix' und müßte bestraft werden. 130 Daß diese Tendenz in den von Normannen bedrohten Gebieten innerhalb der ländlichen Bevölkerung vorhanden war, zeigen die Annales Bertiniani für das Jahr 859; vgl. Annales Bertiniani, a. 859. Dagegen vermutet Bartmuß, H. J . . Die Geburt des ersten deutschen Staates, S. 156, daß die Verschwörungen in Flandern und im Küstengebiet 820 "auf Grund ungenügender Wachsamkeit der betreffenden Feudalherren" möglich waren; deshalb befahl Ludwig, die 'coniurationes' zu unterdrücken. Trifft diese Hypothese zu, dann würde sich das Vorgehen Ludwigs des Frommen in seine reformierende Politik einfügen lassen, die sich gegen die Unbotmäßigkeit des Adels richtete, der gegen die fränkischen Herrscher immer heftiger opponierte und ihre Befehle nur widerwillig oder gar nicht ausführte. Diese auf eine Reform des Reiches abzielende Politik war 820, als die 'coniurationes' verboten wurden, noch wirksam; vgl. Müller-Mertens, E . , Karl der Große, S. 138 f. 131

132

46

MGH, Poetae latinae aevi carolini, Bd. 1, Nr. 108, S. 334, Z. 7-10 (Alcuini carmina); Erzbischof Arn war von 782-85 in St. Amand Abt; in diese Zeit wird auch der Aufstand zu datieren sein. Alkuin lebte von 730-804. Das Gedicht hat folgenden Text: "Venerat infelix rurensis turba timore/ quam premit opifices illic inamatus Amandus/ quid faciunt miseri? rumpantur dorsa flagellis/ Sit rea ruricolis tantum substantia salva." Die unter Karl dem Großen intensivierte Bautätigkeit erforderte viele Dienste von der ländlichen Bevölkerung. Vgl. allgemein Weise. G., Staatliche Baufronden in fränkischer Zeit, S. 341 f. Offenbar wuchsen die Baudienste bald zu einer fühlbaren Last an. So ermahnt Smaragdus von St. Mihiel in seinem Karl dem Großen gewidmeten Fürstenspiegel, nicht auf den Tränen der Armen zu bauen. Es heißt u . a . : "Cave ne pauperum lacrymis miserorumque impensis sibi domus aedificetur r e g a l i s . . . " ; Migne. P L , Bd. 102, Sp. 966 B, c. 27.

Gestattet bereits dieses kleine Poem, einen ersten Einblick in die Urteilsbildung Alkuins gegenüber der Resistenz der Bevölkerung zu nehmen, so wird seine schon hier zutage tretende Haltung in einer Antwort bestätigt, die er 798 auf Fragen Karls des Großen erteilte. "Man muß das Volk nach den göttlichen Geboten führen, nicht aber ihm folgen. Nicht soll auf jene gehört werden, die sagen: 'Des Volkes Stimme ist Gottes Stimme'. Denn der Unge133 stüm der Masse kommt stets dem Wahnsinn nahe."

Das 'Volk' nach den 'göttlichen Ge-

boten' führen, hieß am Ende des 8. Jh., nach den Sachsenkriegen, im Frankenreich nichts anderes, als es der feudalen Gesellschaftsordnung einzugliedern, welche die Kirche und die gesamte Geistlichkeit sanktionierte. Jede wirklich freiheitliche Regung der Bevölkerung, die sich gegen die feudalen Lasten auflehnte und das christliche Gehorsamsgebot mißachtete, wurde verurteilt. Sträflicher Leichtsinn sollte es gleichsam sein, die Wünsche der 'vulgi' zu berücksichtigen, denn ' der Ungestüm der Masse kommt leicht dem Wahnsinn nahe'. Für die herrschenden Kreise war die 'tumultuositas' des Volkes der Inbegriff dessen, was der feudalen Oberschicht täglich als Widerstand in der vielfältigsten Form entgegentrat: Diese Kräfte sollten gezügelt werden, und keinesfalls durfte dem gottlosen Drängen der unteren Schichten nachgegeben werden. Deuten diese Quellenbelege auf kleinere, etwa durch übermäßige Forderung von Baudiensten hervorgerufene Aufstände hin, so wollen wir uns nun größeren Empörungen zuwenden, mit denen sich die 'Großen' ja einzelne fränkische Herrscher selbst auseinanderzusetzen hatten. In diesem Zusammenhang darf auf eine bäuerliche Erhebung hingewiesen werden, die im westlichen Frankenreich in der 40 km nordöstlich von Reims gelegenen Villa Celtus' Sault les Rethel ausbrach. Der Aufstand läßt sich zeitlich nicht genau datieren. In der 'vita' des Bischofs Remigius von Reims, die Erzbischof Hinkmar zwischen 877 und 878 verfaßte, wurde lediglich vermerkt, daß der Aufstand stattfand, als 134 Karl der Große Kaiser war. Danach kommt der Zeitraum zwischen 800 und 814 in Frage.

Es

wird berichtet, daß nicht nur zur Zeit des Bischofs Remigius von Reims die 'homines Celtenses' aufrührerisch waren, sondern auch unter Karl dem Großen Grund zur Klage bestand. Er hatte, wie es heißt, diese 'homines', die einst ihren 'vicedominus' der ' villa Celtus' grausam umgebracht haben (morte crudelissima occiderunt), fortgejagt. Die Anführer des Aufruhrs wurden hingerichtet. Jene, die ihnen halfen (consentientes), wurden über verschiedene Gebiete hin verstreut und zu dauerndem Exil verurteilt (condempnari). Die 'villa Celtus' sollte wiederhergestellt werden (restaurare). Offenbar 133

MGH, Epp. Bd. 4, Nr. 132 (798), S. 199, c. 9. 'Populus iuxta sanctiones divinas ducendus est, non sequendus; . . . nec audiendi qui solent dicere: ' Vox populi vox Dei', cum tumultuositas vulgi Semper insanie proxima Sit.' 47

hatten die mit der Erhebung verbundenen Wirren erhebliche Zerstörungen - etwa Gebäudeschäden - verursacht, so daß Ausbesserungsarbeiten nötig waren. Anscheinend war mit den Maßnahmen Karls gegen den Aufruhr die Gefahr nicht vollständig gebannt. Es wurde damit gerechnet, daß die Nachkommen der Bestraften als 'rebelies ac sediciosos' hervortraten. Auch sie wurden, wie versichert wird, vor schrecklicher 135 Strafe nicht verschont bleiben. i Wenn wir versuchen wollen, Intensität und Ausmaß der Erhebung genauer zu bestimmen, so fällt zunächst auf, daß die unmittelbaren Ursachen in der Quelle nicht genannt werden. Wir erfahren lediglich, daß die empörten Bauern den 'vicedominus' der 'villa Celtus* umbrachten, der als Stellvertreter des Herrn auch über die Entrichtung recht beträchtlicher feudaler Leistungen zu wachen hatte. Mußten doch die Hintersassen der Besitzungen von St. Remi zu Reims, zu denen auch die 'villa Celtus' gehörte, zum Teil unbeschränkte 136 Fron ableisten.

Der Haß der Hörigen richtete sich daher auch gegen den 'vicedominus',

der diese Dienste im Auftrage seines Herrn verlangte. Für die Stärke des Aufstandes spricht nicht nur die Tatsache, daß Karl der Große selbst eingriff, sondern auch die Härte der Strafen; die Anführer wurden getötet, ihre Verbünde137 ten ins Exil geschickt

und die teilnehmenden Bauern vertrieben. Das sind Maßnahmen,

die Karl der Große vor allem während der Sachsenkriege als äußerstes Mittel anwandte, um den Widerstand seiner Gegner zu Uberwinden. Sicher wird man die Erhebung in Celtus in ihrer Bedeutung mit den recht folgenschweren Aufständen während der Sachsenkriege 134

Vita Remigii episcopi Remensis auctore Hincmaro, S. 315, Z. 37. Ein Aufruhr in der 'villa Celtus' ereignete sich bereits unter Bischof Remigius von Reims, der 533 starb. Wie es heißt, ließ er, um das arbeitende Volk in Hungersnöten vor Entbehrungen zu bewahren, Getreideschober aufstellen. Doch wären die 'homines Celtenses' schon immer aufrührerisch gewesen (rebelies et sediciosi fuerunt). Bei einem sonntäglichen Zechgelage sprachen sie untereinander, der Bischof wolle ihre Höfe mit Schobern so umgeben, wie Türme, die eine Stadtmauer zieren. Schließlich, vom Teufel überredet, ermunterten sie sich gegenseitig, Feuer anzulegen. - Remigius, dem der Vorfall gemeldet wurde, bestieg ein Pferd, eilte nach Bazancourt, um das Schlimmste zu verhindern. Doch das Feuer brannte schon. Remigius kündigte nun den Missetätern eine schreckliche Strafe an: Ihre Nachkommen sollten mißgestaltet sein: die Söhne würden einen Bruch und die Töchter einen Kropf haben, - was dann auch eingetreten sein soll; a . a . O . , S. 315.

135 136

Ebenda, S. 315 f. Vgl. das Güterverzeichnis von St. Remi de Reims, häufig werden ' s e r v i ' zu unbeschränkter Dienstleistung verpflichtet: XI, 8-9 f . ; XIV, 3; XV, 12; XVIII, 9; XIX, 8; XX, 13; XXII, 15; immer wieder heißt es von dem betreffenden Hörigen: " . . . et facit omne servitium quod ei injungitur...", " . . . carroperas et omne servitium sibi injunctum...". Daneben gab es auch die Verpflichtung zu drei Tagen oder vier Tagen Fron wöchentlich; vgl. St. Remi de Reims, XXVIII, 20; VIII, 2. Vita Remigii episcopi Remensis auctore Hincmaro, S. 316, Z. 1 f.

137 48

nicht gleichsetzen können. Immerhin ist es aufschlußreich, daß Karl der Große auch gegen die Einwohner von Celtus so energisch vorging. Daß nicht nur ein Anführer, sondern mehrere * auctores' und Verbündete erwähnt wurden, zeigt an, daß auch das Ausmaß des Aufstandes nicht unerheblich war. Gerade der Hinweis auf 'consentientes' deutet auf gegenseitigen Beistand, wie er sich in 'conjurationes' aus dem eidlichen Zusammenschluß ergab. Solche Verschwörungen treten dann noch einmal deutlich unter Karl dem Kahlen hervor. 138 859 berichten die Annales Bertiniani : "Die Dänen verwüsteten das Land jenseits der Scheide. Das gemeine Volk (vulgus promiscuum) zwischen Sequana (Seine) und Liger (Loire) verschwor sich untereinander und leistete den Dänen tapferen Widerstand. Da aber die Verschwörung (coniuratio) derselben unvorsichtig betrieben wurde, so konnten sie von unseren Großen (a potentioribus nostris) leicht getötet werden." Die 'coniuratio', gebildet vom 'gemeinen Volk', richtete sich dieser Quellenaussage entsprechend zunächst gegen die eindringenden Dänen. Wie die fränkischen Feudalherren, wehrten sich auch die Bauern gegen die Eindringlinge. Sehr eigentümlich ist nun die folgende Bemerkung, derzufolge die 'coniuratio' 'unvorsichtig' war und schließlich niedergeworfen werden konnte. Weshalb unterdrückten die fränkischen 'potentiores* plötzlich die 'coniuratio*, mit der sie noch eben gemeinsam gegen die Dänen gefochten hatten? Die Annalen schweigen sich darüber aus. Es ist möglich, daß die Verschwörung nach Abwehr der Dänen sich nicht auflöste, sondern nunmehr mit einer gegen die eigenen Grundherren gerichteten Spitze weiterbestand und deshalb von den ' potentiores' als Gefahr angesehen wurde. Die Vokabel "incaute" ist dann sinngemäß so zu interpretieren, daß das 'gemeine Volk' seinen Schwurbund 'unvorsichtig' in einer Weise einging, die den Herren gefährlich e r schien. Deshalb warfen sie schließlich diese Bünde nieder. Drei Jahre später, 862, wurden im Zusammenhang mit den Einfällen fremder Eroberer erneut 'coniurationes' erwähnt. Karl der Kahle berief die Grafen und Bischöfe seines Rei-

138

Annales Bertiniani, ad 859; die in der neuen Ausgabe der Annales Bertiniani (S. 80, n. 1) im Anschluß an Lot, F . , La grande invasión normande de 856 - 862, in Bibliotheque de l'école des chartes; fasc. 69, 1908, S. 32, n. 2 vorgenommene Interpretation von " . . . a potentioribus nostris facile interficiuntur" ist nicht überzeugend. Danach wurden die aufsässigen Bauern durch die einfallenden Dänen getötet. Zwangloser und wohl auch zutreffender erklärte schon Dümmler, E . . Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 1, S. 477 die Textstelle. E r verweist darauf, daß den großen Vasallen (potentiores) die bäuerliche Erhebung gefährlicher erschien, als die Verwüstungen der heidnischen Dänen. Vgl. auch Töpfer, B . , in seiner Rezension der Annales Bertiniani in DLZ, J g . 89, H . 2 , S p . 153. Vgl. auch Ganshof. F. L . . Notes critiques sur les Annales Bertiniani, S. 159 f. 49

ches nach Pitre, um die durch die Normannenzüge verursachten Mißstände zu beheben.

139

Es wird beklagt, daß ' t e r r a nostra' verwüstet wurde. Die Bewohner fanden den Tod oder flüchteten. Viele Dörfer verbrannten. Umherziehende Heerscharen raubten und brannten im Lande, nahmen den Bauern Vieh und Getreide. Auch Freie und Unfreie (servi) wehrten sich und gingen gewaltsam vor. In diesem Zusammenhang wurden 'coniurationes, seditiones' erwähnt. Diese, so heißt es, verbieten wir ebenso wie unsere Vorgänger es getan haben "ex batino nostro". Offenbar hatten entsprechende Beschwerden der Bischöfe und Grafen Anlaß dazu gegeben, gegen diese Verschwörungen einzuschreiten - gleichgültig, wer sie beschloß. Da die anwesenden Bischöfe und Grafen aus dem westfränkischen Reich stammten, ist anzunehmen, daß vor allem in ihrem Herrschaftsbereich diese Bünde beschlossen wurden. Zwar geht die Bestimmung, die die 'Verschwörung' erwähnt, auf die Teilnehmer dieser 'coniurationes' nicht näher ein. Dennoch zeigt der textliche Zusammenhang, in dem diese Bünde stehen, daß hier ganz allgemein jede Form des Ungehorsams und der Auflehnung gemeint ist. Rückblickend dürfen wir feststellen, daß in der Zeit von Karl dem Großen bis zu Karl dem Kahlen bäuerliche Schwurbünde vor allem im westfränkischen Reich bezeugt sind und hier u.a. zur Abwehr der durch die Einfälle der Normannen hervorgerufenen Gefahren beschlossen wurden. Außerdem ließen sich kleinere Erhebungen erkennen, mit denen sich Alkuin befaßte und Karl der Große auseinandersetzte. Wenngleich wir die Bedeutung dieser Bünde und kleinerer Aufstände, die namentlich unter der Herrschaft Karls des Großen ausbrachen, keineswegs gering veranschlagen wollen, so treten sie doch insgesamt gesehen an Ausmaß und Intensität erheblich hinter der Erhebung der Stellinga zurück, der wir uns abschließend zuwenden wollen. b) Der Stellingaaufstand Wurde die in der schriftlichen Überlieferung oft nur schwer faßbare Aktivität der ländlichen Bevölkerung, die sich im 9. J h . im fränkischen Reich in verschiedener Form des Widerstandes feudaler Bedrückung erwehrte, bisher verhältnismäßig wenig beachtet, so können wir dagegen bei der Analyse des in den Quellen deutlich hervortretenden Aufstandes der Stellinga auf eine ganze Anzahl von Arbeiten zurückgreifen. Ausführlich untersuchte zuletzt 140 1955 in einer Dissertation H. J . Schulze den Aufstand. Eine der Hauptstützen seiner Beweisführung, die Verbindungslinien von den Auswirkungen der Erhebung zum Vertrag 139

MGH, Cap. 2, Nr. 272 (862), c. 4, S. 309, Pitre liegt am Unterlauf der Seine, in einem Gebiet also, das von den Normannen besonders schwer heimgesucht wurde. Für diesen Raum bezeugten bereits 859 die Annales Bertiniani Schwurbünde.

140

Schulze. H . J . . Der Aufstand der Stellinga in Sachsen und sein Einfluß auf den Vertrag von Verdun (843). i

50

von Verdun 843 aufzuzeigen bemüht ist, bezweifelte 1957 H. J . Bartmuß.

141

E r lehnt das

von Schulze herangezogene Bündnis Lothars mit den Rebellen, das Nithard und Prudentius von Troyes bezeugten, ab und unterstellt diesen Chronisten tendenziöse Absichten. Nach142 143 dem Müller-Mertens und Njeussychin in größeren Werken die Empörung der Stellinga nur am Rande streiften und Müller-Mertens dabei auf Zusammenhänge mit der Entstehung 144 des frühfeudalen deutschen Staates hinwies, setzte sich H. J . Bartmuß

1961 mit den von

diesen Gelehrten vertretenen Ansichten auseinander. Bartmuß wertet den Aufstand als spontane Erhebung, spricht ihm organisatorische Züge ab und schätzte sowohl den Umfang als auch die Intensität des Aufstandes verhältnismäßig gering ein. Bartmuß nimmt eine weite Verbreitung feudaler Bindungen innerhalb der ländlichen Bevölkerung in145 ganz Sachsen im 9. J h . an und sieht auch in den Stellinga vorwiegend abhängige Bauern. Da der Aufstand der Stellinga und sein Einfluß auf die politische Geschichte für die F r a gestellung unserer Arbeit bedeutungsvoll ist, wollen wir uns im folgenden diesem Problemkreis zuwenden, um die bisher geäußerten Ansichten abzuwägen und zu prüfen. Die Ursachen der Spannungen, deren gewaltsame Entladung wir bei der Erhebung der Stellinga beobachten können, lassen sich in ihrer Entstehung weiter zurückverfolgen. Sie wurzeln in dem Gegensatz, der sich teilweise schon vor der fränkischen Eroberung, besonders aber danach in Sachsen,in immer stärkerem Maße zwischen den Edelingen (nobiles) auf der einen Seite und den anderen Bevölkerungsschichten, vor allem den Frilingen und Liten, bemerkbar macht. Sie empfanden offenbar die nach der fränkischen Eroberung in Sachsen entstandenen Verhältnisse als bedrückend. Bezeichnenderweise fordern sie, als es 842 zum Aufstand kommt, jene Gesetze wieder, die sie bis zu ihrer Bekehrung hatten. Sowohl Nithard wie Prudentius von Troyes überliefern, daß die 146 sächsischen Frilinge und Liten nach den Gewohnheiten der heidnischen Zeit leben wollten und sich voll Sehn such' danach erhoben hätten. Dem ist zu entnehmen, daß sich seitdem die Lebensverhältnisse der Frilinge und Liten geändert hatten und offenbar schlechter geworden waren. Es soll daher zunächst die soziale Lage der Liten und Frilinge skizziert werden, die in der Lex Saxonum bereits scharf von den sächsischen Edelingen getrennt erscheinen. Während diesen ein Wergeid von 1.440 solidi zustand, hatte der Lite nur 120 'solidi' 141 Bartmuß, H. J . , Zur Frage der Bedeutung des Steilingaaufstandes, S. 113 f. 142 Müller-Mertens. E . . Das Zeitalter der Ottonen, Berlin 1955, S. 32 f. 143 Njeussychin, A . J . , Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse in Westeuropa, S. 331 f. 144 Bartmuß. H . J . , Zur Entstehung des frühfeudalen deutschen Staates, S. 152 f . ; derselbe, Ursachen und Triebkräfte im Entstehungsprozeß des frühfeudalen deutschen Staates, S. 1591 f. 145 Vgl. Bartmuß, H . J . , Die Geburt des ersten deutschen Staates, S. 156 f. 146 Nithardi historiarum, liber IV, c. 2, S. 41; Annales Bertiniani, ad 841. 51

und der Friling wahrscheinlich die doppelte Summe des Litenwergeldes, also etwa 240 147 'solidi', zu beanspruchen. Damit treten die wohl schon in die Zeit vor der fränkischen 148 Eroberung zurückgreifenden Standesunterschiede vor allem zwischen Edelingen, Liten und Frilingen deutlich hervor. Allerdings ist anzunehmen, daß die ökonomische Belastung der abhängigen Bevölkerungskreise verhältnismäßig erträglich war, 149 solange die Sachsen Eroberungszüge auf dem Lande und auch über See durchführten. Im selben Maße jedoch, in dem die Kämpfe abflauten und auch die oberen Schichten des sächsischen Stammes allmählich seßhaft wurden, änderte sich die Situation. Die Ansprüche, die die angehenden Grundherren nun gegenüber den von ihnen Abhängigen machten, ließen den bisher nur latent vorhandenen Gegensatz um die Wende vom 7. zum 8. Jh. deut150 licher hervortreten.

Immerhin gab es noch eine gemeinsame Versammlung des sächsi-

schen Stammes in Marklo an der Weser, wo aus jedem Gau jährlich einmal 12 Edlinge, 12 berieten Frilinge und 12 Liten erschienen151 undDie über Gesetze,durch Gerichtsfälle und unter gemeinsame Kriege und diese entschieden. Eroberung die Franken Karl dem Großen brachte hier jedoch einschneidende Änderungen: Die Versammlung zu Marklo wurde 152 aufgehoben. Die Grafschaftsverfassung als Stütze der fränkischen Herrschaft hielt ihren 153 Einzug. Nur der Graf oder der Königsbote durfte künftig Gerichtstage einberufen. 147 148

149 150 151

152 153 52

Vgl. Lex Saxonum, c. 14, c. 16; vgl. allgemein Lintzel, M., Die Stände der deutschen Volksrechte, S. 337; derselbe, Die Entstehung der Lex Saxonum, S. 390 f . ; derselbe. Zur altsächsischen Rechtsgeschichte, S. 426. So Lintzel, M . . Die Stände der deutschen Volksrechte, S. 334. Sie dürften eine Folge der inneren gesellschaftlichen Entwicklung und der von den Sachsen durchgeführten Eroberungen sein; aus der 'Kriegerkaste' der sächsischen Eroberer gingen später die 'nobiles' hervor; vgl. auch Hagemann, A., Die Stände der Sachsen, S. 115 f. Vgl. auch Lintzel, M . . Bruchstück einer Geschichte des sächsischen Stammes, S. 449 ff. Lintzel. M . . Der sächsische Stammesstaat und seine Eroberung durch die Franken, S. 43 f. Nachdem im Anschluß an Homberg. A . K . . Westfalen und das sächsische Herzogtum, S. 5 f . , jüngst Kronshage. W.. Die Entstehung der Vita Lebuini, S. 1 f . , die Marklo-Überlieferung bezweifelt hatte, setzte sich zuletzt Löwe. H., Entstehungszeit und Quellenwert der Vita Lebuini, S. 345, nachdrücklich für die Glaubwürdigkeit der Vita Lebuini antiqua und die Richtigkeit des dort überlieferten Berichtes Uber die Volksversammlung von Marklo ein; ähnlich schon vorher Wiedemann. H., Die Sachsenbekehrung, Missionswiss. Studien, NR, Bd. 5, 1932, S. 18 f . ; ' ' Wenskus, R . , Stammesbildung und Verfassung, S. 546; Hauck. K . . Ein Utrechter Missionar auf der altsächsischen Stammesversammlung, S. 745 f. Vgl. jetzt auch Büttner. H.. Mission und Kirchenorganisation, S. 466, n. 84; Wenskus. R . . Sachsen, Angelsachsen, Thüringer, S. 543 f . ; die sich wie H. Löwe für die Glaubwürdigkeit der Vita Lebuini einsetzen. Vgl. dazu allgemein Krüger. S.. Studien zur sächsichen Grafschaftsverfassung im 9. J h . , passim. MGH. Cap. 1, Nr. 26 (785), c. 34.

Sowohl die Liten wie die Frilinge aber, deren Überführung in die Abhängigkeit von einem 154 Herrn durch die fränkische Eroberung sicherlich beschleunigt wurde , verloren nun die Möglichkeit, ihren politischen Willen zu äußern und mitzubestimmen, wenn auch die Widerstandskraft dieser Bevölkerungskreise auch keineswegs erloschen war. Wie M. Lintzel überzeugend nachwies, ging ja ein großer Teil des sächsischen Adels im Verlauf der Sachsenkriege Karls des Großen, besonders seit 785, gerade deshalb auf die Seite der fränkischen Eroberer über, um dort Unterstützung155 gegenüber der offenbar beträchtlichen ResiStenz der unteren Volksschichten zu finden. Die anscheinend keineswegs gefestigte und noch weitgehend unsichere Position der Edelinge suchte Karl der Große zu stärken. Zahlreiche Schutzbestimmungen für die Person und die Familie der Edelinge weisen in diese 156 Richtung. Danach wurde derjenige mit dem Tode bestraft, der seinen Herrn tötete. Auch die sehr strengen Strafen bei Eigentumsdelikten dürften in erster Linie den Grund157 herren zugute gekommen sein, wie es die Edlinge ja waren. Auf Einbruch und Diebstahl 158 von Bienenkörben oder Vieh stand ebenfalls die Todesstrafe. Aus den Reihen dieser Edelinge nahm Karl der Große, der offensichtlich in den 'nobi159 lissimi' seine verläßlichsten Verbündeten sah, die Grafen. Schließen wir uns S. Krüger an, wonach der Besitz der sächsischen Grafensippen die Grundlage für die neuen sächsischen Grafschaftsbezirke war, so ergibt sich, daß die 'nobilissimi' zumindest teilweise ihre alten Herrschaftsbezirke im Auftrage des fränkischen Königs erhielten. Zu deren Sicherung konnten sie nun auch die Machtmittel des fränkischen Rechts einsetzen. Auf diese Weise und durch Förderung der christlichen Mission hofften die Edelinge die schon vor der 154

Die Stelle der Lex Saxonum, aus der auf eine solche Abhängigkeit geschlossen werden könnte, ist umstritten; in c. 64, ist u.a. von einem 'liber homo, qui sub tutela nobilis cuiuslibet erat, qui iam in exiliam missus est. . . ' die Rede; vgl. Lintzel, M . , Zur altsächsichen Rechtsgeschichte, S. 430 f. L. betont, daß aus diesem Quellenbeleg nicht allgemein auf eine Schutzherrschaft der Edelinge über Frilinge vor der fränkischen Eroberung geschlossen werden könne. Immerhin dürfte doch die Tatsache, daß eine entsprechende Bestimmung Uber die 'tutela', in der sich Frilinge befanden, in die Lex Saxonum aufgenommen wurde, darauf hinweisen, daß solche Fälle nicht selten vorkamen. Zumindest ergibt sich, daß die Frilinge auf dem Wege waren, in Abhängigkeit zu geraten, die dann auch von Nithard konstatiert wird. (liber IV, c. 2); vgl. auch Njeussychin, A . J . , Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse, S. 270 f . , 294.

155

Vgl. Lintzel. M . , Die Unterwerfung Sachsens durch Karl den Großen und der sächsische Adel, besonders S. 115 f. Lex Saxonum, c. 25; MGH, Cap. 1, Nr. 26 (Capitulatio in partibus Saxoniae), c . 13. Zur grundherrlichen Lebensweise der Edelinge, vgl. Lintzel. M . , Die Stände der deutschen Volksrechte, S. 353 f. Lex Saxonum, c . 29 - 36. Krüger, S . , Studien zur sächsischen Grafschaftsverfassung im 9. J h . , S. 72.

156 157 158 159

53

fränkischen Eroberung spürbare und auch danach weiterhin wirkende bäuerliche Resistenz, die sich namentlich auch gegen die Ausbreitung des Christentums feudaler Prägung richtete, zügeln und - wenn möglich - unterbinden zu können. 160 Da in jUngster Zeit von G. Baaken

gerade diese Resistenz kaum berücksichtigt wurde,

möchten wir noch einmal darauf eingehen. Denn wenn wir den entsprechenden Quellenerzeugnissen nicht die gebührende Beachtung schenken, bleiben nicht nur das Verhalten des sächsischen Adels im Verlauf der Sachsenkriege, sondern auch die Widerstandskraft der ländlichen Bevölkerung in Sachsen 161 unverständlich, die später in der Erhebung der Stellinga so deutlich zum Ausdruck kam. Bereits vor der gewaltsam vollzogenen Christianisierung durch die Franken wandten sich die unteren Volksschichten in Sachsen in teilweise sehr scharfer Form gegen die christliche Mission. Denken wir nur an den Bericht Bedas von den beiden Missionaren, dem schwarzen und dem weißen Ewald, die unter dem Schutz 162 des 'princeps' standen. Sie wurden von 'vicani' ermordet, bevor sie zu ihm gelangten.

Bezeichnenderweise wird als Motiv

für diese Tat die Befürchtung angegeben, der 'princeps' könne zum Christentum übertreten und dann die 'vicani' zwingen, das gleiche zu tun. Dieser Widerstand mußte sich versteifen, wenn die Bekehrung zum christlichen Glauben, wie unter Karl dem Großen, erzwungen werden sollte. Die Reaktion der ländlichen Bevölkerung war eindeutig: Bischöfe und Priester wurden vielfach getötet. Der alte heidnische Glaube wurde verschiedentlich wieder ange163 nommen. Durch Androhung der Todesstrafe suchte Karl der Große das Leben der Geistlichen und damit das für die Unterwerfung der Sachsen so wesentliche Missionswerk zu si164 ehern.

Besonders die mit der Übernahme der christlichen Religion verbundene Zehnt-

forderung stieß auf kräftigen Widerstand und trug zumindest dazu bei, die Missionierung zu verzögern. Bekannt sind die Äußerungen Alkuins, die Priester sollten bei den Sachsen mehr Wert auf Vertretung des Glaubens als165 auf die Eintreibung des Zehnten legen, da die Zehnten dendie Glauben der Sachsen brächen. 160 161

162 163 164 165

54

Baaken, G . , Königtum, Burgen und Königsfreie, S. 34. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die kritische Würdigung der Arbeit von Baaken. G . , durch Müller-Mertens, E . . ZfG, 10. J g . , 1962, H. 4, S. 976 f . ; vgl. auch Lintzel, M . , Der sächsische Stammesstaat und seine Eroberung durch die Franken, S. 30 f . , 53 f. Vgl. Historia ecclesiastica gentis Anglorum, 5. Buch, c . 10; zur Sachsenmission allgemein vgl. jetzt auch Haendler. G . . Geschichte des Frühmittelalters und der Germanenmission, E 35, E 65 f. Annales Laureshamenses, ad 792. MGH, Cap. i , iNr. ¿a {iou), t . u. MGH, Epp. Bd. 4, Nr. 107 (796), S. 154, z. 15 f . ; vgl. auch ebenda, Nr. 111 (796), S. 161, z. 5 f . ; vgl. dazu von den Steinen. W . . Karl und die Dichter, S. 78, n. 56.

Angesichts einer solchen Situation ist es nur allzu verständlich, wenn, wie es in-der Vita Liudgeri heißt, kein Geistlicher im Frankenreich gern zur Missionspredigt bei den 166 Sachsen auszog. Die dort zu erwartenden Gefahren und Schwierigkeiten waren eben doch erheblich. Noch in der ersten Hälfte des 9. Jh. wird berichtet, daß in Sachsen 167 "plebeium vulgus" sehr am Heidentum hänge und den christlichen Glauben ablehne. Daß dabei die Geschichtsschreiber des 9. Jh. die von Karl dem Großen schließlich gegen den Widerstand der sächsischen Bevölkerung mit Gewalt durchgesetzte Christianisierung in ein friedliches und erwünschtes Bekehrungswerk ummünzten, ist nicht weiter verwunderlich, wenn wir berücksichtigen, daß die Chronisten selbst Geistliche waren und daher die Dinge von ihrem Standpunkt aus betrachteten und schilderten. Immerhin ist es auch in ideologiegeschichtlicher Hinsicht bemerkenswert, daß bereits im 9. Jh. eine offenbar von geistlichen Kreisen bewußt gelenkte 168Apologie der sächsischen Zwangsmission im Sinne einer empfangenen Wohltat einsetzte. In der Erinnerung sollte die einst mit Feuer und Schwert vollbrachte Missionierung als friedliche, völlig gewaltlose Tat verklärt erscheinen. Um so aufschlußreicher ist es, daß selbst in diesen idealisierenden Schilderungen der hartnäckige Widerstand gegen die christliche Mission, wie er ja tatsächlich von der sächsischen Bevölkerung ausgeübt wurde, nicht ganz unterdrückt werden konnte. Bei aller vorgefaßten Absicht, die Mission in Sachsen als gewaltlosen Vorgang darzustellen, schimmert doch immer wieder das wirkliche Geschehen durch, wie es sich einst in so dramatischer Weise vollzog. 169 Im Gegensatz zur ländlichen Bevölkerung förderten die 'nobiles' von Anfang an die Mission, diente sie doch dazu, ihre Stellung zu festigen und die Unterwerfung der 170 niederen Volksschichten zu sichern. Allen Versuchen Karls des Großen, der von ihm eingesetzten Grafen, des sächsischen Adels und der kirchlichen Missionsbestrebungen gegenüber blieb der Widerstandswille in 166 167

168

Vgl. Vita sec. Liudgeri, I, 17, ed. Diekamp, S. 62; MGH, SS Bd. 2, S. 411, Anm. 13; vgl. auch Löwe, H., Liudger als Zeitkritiker, S. 85 f . ; vgl. jetzt auch Schröer, A . . Das geistliche Bild Liudgers, S. 194 f. Translatio S. Liborii, c. 7; Translatio S. Alexandri, S. 425, Z. 20 f . , 27 f . ; vgl. weiter Translatio s. Pusinnae, S. 541 f . ; dazu Honselmann, K . , Gedanken sächsischer Theologen des 9. Jh. über die Heiligenverehrung, S. 40 f . , wonach die "Translatio" zwischen 860 und 875 entstand, in der von der Verstockung und Hartnäckigkeit der Sachsen gesprochen wird, die sich nur widerwillig dem christlichen Glauben unterwerfen; vgl. auch Dümmler, E . , Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 1, S. 266. Vgl. auch Bischoff, K . , Das Thema der Poeta Saxo, S. 198 f. Der Poeta Saxo will in den gegen Ende des 9. Jh. entstandenen Gesta Caroli métrica Karl dem Großen seinen Dank für die Bekehrung der Sachsen zum Christentum bezeugen. Allerdings läßt der Dichter dabei noch den Zwang als Mittel gelten. Seiner Ansicht nach gab Gott dem fränkischen Herrscher den Auftrag, die Sachsen durch Gewalt oder Überzeugung zu bekehren. 55

breiteren Bevölkerungskreisen jedoch lebendig. So nennt 805 das Dietenhofener Kapitular 171 'coniurationes' und ' conspirationes', gegen die Königsboten eingesetzt wurden. Aus zwei Gründen ist die verhältnismäßig ausführlich gehaltene Bestimmung des Kapitulars aufschlußreich. Es werden zunächst einmal die Strafen für jene Vergehen genannt, die von 'conspirationes', 'coniurationes' verübt wurden. Die Rädelsführer (auctores) sollten getötet werden. Für ihre Helfershelfer (adiutores) galt die Prügelstrafe. Es ist möglich, daß sich diese Strafen auf solche Verschwörungen bezogen, die auf einen Aufstand abzielten; 'malum' kann in diesem Sinne interpretiert werden. 'Conspirationes', die nur durch ein feierliches Versprechen oder Handschlag bekräftigt wurden, fanden eine unterschiedliche Beurteilung: Waren die Mitglieder des Bundes frei, so hatten sie mit geeigneten Geschworenen zu versichern, daß sie nichts Böses zu tun beabsichtigen. Handelte es sich aber um ' s e r v i ' , so sollten sie ausgepeitscht werden. Damit aber wurde der Teilnehmerkreis umrissen, der für 'coniurationes' und 'conspirationes' in Betracht kam, wenn auch die in diesem Zusammenhang gebrauchten Vokabeln ' servus' und ' liber' relativ weitläufig sind und sich auf breiteste Bevölkerungskreise bezogen, ohne daß eine genaue, eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Klasse oder sozialen Gruppe möglich ist. Doch läßt die für ' s e r v i ' angeordnete Strafe des Auspeitschens den Schluß zu, daß hier Unfreie, vielleicht Angehörige des Gesindes gemeint waren, für die gerade die schon in Volksrechten häufig genannte Flagellation als Strafe typisch ist. Schließlich wurde nochmals befohlen, daß

169

170 171 56

Vgl. dazu Honselmann. K., Eine Essener Predigt zum Feste des hl. Marsus aus dem 9. J h . , S. 199 f . ; in der um die Mitte des 9. Jh. aufgezeichneten Predigt wird u . a . Sachsen mit anderen Ländern verglichen, die zwar reich an Gebeinen und Heiligen, doch befleckt durch Marter und Tötung der Heiligen sind. Dagegen ist Sachsen selig zu preisen, da es ohne Verbrechen ein solches Gut erlangt habe. Weitere Beispiele bei Honselmann. K., Die Annahme des Christentums durch die Sachsen im Lichte sächsischer Quellen des 9. J h . , besonders S. 208 f. Wenn H. davon spricht, daß der sächsische Adel zur Annahme des christlichen Glaubens neigte, so trifft dies sicher zu. Wenn H. diese Tatsache jedoch verallgemeinert und davon spricht, "die Sachsen" hätten sich schlechthin gegenüber der christlichen Religion aufgeschlossen gezeigt, so ist das in dieser allgemeinen Form kaum richtig. Gerade die von H. selbst angeführten Quellenzeugnisse sprechen doch immer wieder von dem Widerstand, der von nichtadligen Bevölkerungsschichten ausging und sich gegen die Annahme des christlichen Glaubens wandte, mit dessen Verbreitung die Durchsetzung grundherrlicher Verhältnisse ja Hand in Hand ging; vgl. auch Honselmann. K . . Reliquientraditionen nach Sachsen, S. 151 f. So erwirkte Lebuin durch Fürsprache der Edelinge in Marklo die Erlaubnis zur Predigt; vgl. Vita S. Lebuini excerpta, S. 362 ff.; Vita Lebuini antiqua, S. 793 f . , c. 6. MGH, Cap. 1, Nr. 44 (um 805), c. 10.

"in unserem Königreich (regnum) keine irgendwie geartete 'conspiratio' sein soll - sie 172 sei eidlich oder ohne Eid beschlossen." Es ist bemerkenswert, daß dieses Kapitular, das sich auch auf ostfränkisches Gebiet bezog, relativ ausführlich gerade auf 'coniurationes' eingeht. Wir befinden uns hier in einem Raum mit noch verhältnismäßig schwach ausgebildeten grundherrschaftlichen Verhältnissen, die längst noch nicht alle niederen Bevölkerungsschichten erfaßt hatten. Bezeichnenderweise nennt ja die entsprechende Bestimmung des Kapitulars neben ' servi 1 auch Freie, die sich zusammen unter der Leitung von 'auctores' an Verschwörungen beteiligen. Die eingehende Behandlung dieser Fragen deutet an, daß die in Form von ' coniurationes' besonders wirksamen Widerstandsregung^n noch recht lebendig waren und damit gerechnet wurde, daß ' servi' und Freie zusammengingen. Es bedurfte nur einer günstigen politischen Konstellation, um diese Resistenz sich in einer größeren Erhebung entladen zu lassen. Dieser Augenblick war gekommen, als Lothar im Kampf gegen Karl den Kahlen und Ludwig den Deutschen den ihm offenbar bekannten Unwillen der ländlichen Bevölkerung ausnutzte und ihre Erhebung begünstigte. Außerdem war anscheinend der sächsische Adel in Anhänger Lothars und Ludwigs des Deutschen gespalten, 173 was sicher dem Vorgehen der Stellinga zugute kam. Wir wollen uns im folgenden mit einigen wichtigen Fragen dieser Empörung beschäftigen und dabei auch auf verschiedene Einwände eingehen, die jüngst Bartmuß vorgebracht hat. 174 Vier Chronisten überliefern uns Einzelheiten über diese Erhebung: Nithard , Pru175 176 177 dentius von Troyes , Rudolf von Fulda und die Xantener Annalen , die die Empörer unterschiedlich bezeichneten: Nithard spricht von "frilingis lazzibusque, quorum infinita 178 multitudo est", die den Aufstand durchführten. Prudentius von Troyes erwähnte allge179 180 mein "Saxonibus, qui Stellinga appellantur..." Rudolf von Fulda nennt "liberti" , 181 während der Xantener Annalist von "servi" berichtete. Wir stimmen mit Bartmuß insofern überein, daß sich diese Bezeichnungen auf eine in sich differenzierte ländliche Bevölkerung beziehen, die vielfach von 'domini' abhängig ist, gegen die sich der Aufstand 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181

Ebenda; vgl. auch die Beschlüsse der Frankfurter Synode von 794; MGH, Cap. 1, Nr. 28 (794), c . 31. Vgl. Nithardi historiarum, liber IV, c. 2, S. 41. Nithardi historiarum, liber IV, c . 2. Annales Bertiniani, a. 841, S. 38 f. Annales Fuldenses, a. 842, S. 33. Annales Xantenses, a. 841, S. 12. Nithardi historiarum, ebenda. Annales Bertiniani, ebenda. Annales Fuldenses, ebenda. Annales Xantenses, ebenda. 57

richtete. 182 w i r möchten aber dieser offenbar stark ausgeprägten, vielfältigen sozialen Gliederung mehr Bedeutung beimessen als Bartmuß, der die Abhängigkeit von einem 'dominus' als das Wesentliche betrachtet. So gesehen würden sich freilich weitgehende Analogien zu den sozialen und ökonomischen Verhältnissen im westlichen Frankenreich e r geben, wo die feudale Abhängigkeit der ländlichen Bevölkerung im 9. Jh. k l a r zutage t r i t t . Eine bloße Konstatierung von Abhängigkeitsverhältnissen bleibt indes formal, wenn nicht gleichzeitig die Frage gestellt wird, in welchem Ausmaß, mit welcher Intensität die ländliche Bevölkerung davon erfaßt wurde. Das Bild gleichzeitiger Parallelen und Analogien weicht dann erheblichen Unterschieden, die im 9. J h . zwischen Sachsen und dem westfränkischen Reich deutlich hervortreten. Während in der schriftlichen Überlieferung des westfränkischen Gebietes sich im 9. Jh. zur Bezeichnung der hörigen und unfreien Bevölkerung einheitliche Begriffe ausbildeten, wie 183 'colonus, mancipium', auch ' s e r v u s ' , h e r r s c h t e dagegen in Sachsen in d i e s e r Hinsicht ziemliche Unsicherheit. Mit den verschiedensten Bezeichnungen (lazzi, liti, Saxoniae, servi, s e r v i l e s , liberti) versuchte man der noch ganz im Flusse befindlichen Entwicklung gerecht zu werden. Im Gegensatz zum westlichen Frankenreich gab es hier noch keine r e lativ einheitliche Schicht von Hörigen, f ü r die klare Begriffe vorhanden waren. Die recht differenzierte Struktur der ländlichen Bevölkerung, wie sie uns anläßlich des Steilingaaufstandes in Sachsen begegnet, weist auf noch wenig verbreitete feudale Bindungen in diesem Raum im Vergleich zum westlichen Frankenreich hin. Dagegen gelangt Bartmuß in seinem Bestreben, in Sachsen f ü r das 9. J h . eine allgemeine feudale Abhängigkeit der ländlichen Bevölkerung nachzuweisen, zu Überlegungen, die nicht ohne weiteres einleuchten. So meint e r , daß auch die bei Nithard bezeugten ' f r i l i n g i ' abhängig waren, "denn die Gemeinfreien waren in Gallien Mitte des 9. J h . weitgehend vergrundholdet, so daß wir annehmen können, daß auch Nithard grundherrlich Abhängige gemeint hat, als e r mit den Worten ' f r i l i n g e ' und ' l a z z i ' die Teilnehmer am Stellingaaufstand näher bezeichn e t . " 184 Damit setzt Bartmuß als erwiesen voraus, was nicht bewiesen ist, daß nämlich im westlichen und östlichen Teil des Frankenreiches die ländliche Bevölkerung vielfach 185 gleichzeitig in Abhängigkeit geriet. 182 Bartmuß. H . J . , Zur Frage der Bedeutung des Stellingaaufstandes, S. 113 f. ; derselbe. Zur Entstehung des frühfeudalen deutschen Staates, S. 152 f. 183 Das zeigen die Güterverzeichnisse f ü r St. Germain des P r é s und St. Remi de Reims deutlich; vgl. auch Thibault, F . . Les coloni dans le polyptique d'Irminon, S. 97 f. 184 Bartmuß. H . J . , Zur Frage der Bedeutung des Stellingaaufstandes, S. 114. 185 Es ist bis heute noch nicht k l a r erwiesen, ob die ' f r i l i n g i ' abhängig waren oder nicht; die Bestimmung von Lex Saxonum, c. 64, die von der ' t u t e l a ' eines 'nobilis' über einen ' l i b e r homo' spricht, kann sich auf einen Ausnahmefall beziehen. Vgl. auch Molitor, E . , Zur Entwicklung der Munt, S. 112 f . 58

Zwar stimmen wir durchaus mit M. Lintzel überein, daß schon im 8. J h . den Quellen entsprechend in Sachsen ein im Gegensatz zu Frilingen und Liten stehender Adel deutlich 186 hervortrat

und die Gefahr eines Zusammengehens zwischen Liten und Frilingen gegen

die ' n o b i l e s ' gegeben w a r . Aber es sollte auch nicht unbeachtet bleiben, daß in den von Karl dem Großen geführten Sachsenkriegen die sächsischen Herren vor dieser drohenden Gefahr bei den fränkischen Eroberern Zuflucht suchten, um ihre Herrschaft im Innern 187 188 zu festigen. Die damit deutlich zutage tretende Schwäche des sächsischen Adels war auch im folgenden Jahrhundert noch nicht Uberwunden. Allein konnte e r sich einem bäuerlichen Aufstand gegenüber nicht behaupten: Als sich 842 die Stellinga erhoben, v e r trieben sie fast ihre Herren und wollten ' z u r alten Ordnung' zurückkehren. Diese Tatsachen sprechen eine deutliche Sprache. Sie zeugen von der noch ungebrochenen Kraft einer vom Feudalisierungsprozeß nur wenig erfaßten Bevölkerung, die mit einer Energie um ihre F r e i heit rang, wie es im westlichen Frankenreich in der Mitte des 9. J h . in keiner Quelle nachweisbar ist. Hier mußten sich bereits feudalabhängige Bauern damit begnügen, vorwiegend durch Leistungsweigerung oder Flucht der steigenden feudalen Bedrückung zu widerstehen bzw. sich ihr zu entziehen. Gerade von hier aus gesehen wird der Unterschied zwischen den Verhältnissen im westfränkischen Reich und in Sachsen im 9. J h . deutlich. In Sachsen ereignete sich mit dem Aufstand der Stellinga etwas, was im 9. J h . im westlichen Frankenreich kaum mehr möglich war: Die ländliche Bevölkerung eines größeren Bereiches erhob sich gegen die Ausbreitung der Feudalordnung, ja gegen ihre Konstituierung, wie die F o r 189 derung nach Rückkehr zu den alten heidnischen Zuständen beweist. Eine solche Zielsetzung war nicht rein utopisch und konnte wenigstens vorübergehend noch Erfolg haben. 186 Lintzel, M . , Die Unterwerfung der Sachsen durch Karl den Großen und der sächsische Adel, S. 95 f. 187 Lintzel. M . , Der sächsische Stammesstaat und seine Eroberung durch die Franken, passim. 188 Von hier aus gesehen erscheint die Annahme von Bartmuß, H . J . , Die Geburt des ersten deutschen Staates, S. 157, daß dieser Adel auch ökonomisch stark w a r , nicht überzeugend. 189 Vgl. auch Njeussychin, A . J . , Die Entstehung einer abhängigen Bauernschaft als Klasse, S. 257 f . ; allerdings wirkt die Interpretation von Nithardi h i s t o r i a r u m , ü b e r IV, c . 2, S. 41, wie sie N. vornimmt, gekünstelt. Nithard schreibt von " F r i lingis lazzibusque, quorum infinita multitudo e s t . . . dominis e regno pene pulsis. . . " Njeussychin ist der Ansicht, daß 'infinita multitudo' sich keineswegs nur auf die Laten beziehe,."denn diese bildeten im 9. J h . kaum die Mehrheit der sächsischen Bevölkerung." Nithard meine hier vielmehr die Frilinge, die e r auch an e r s t e r Stelle nennt. Dagegen weist Bartmuß. H . J . , Zur Entstehung des frühfeudalen deutschen Staates, S. 168, mit Recht d a r a u f h i n , daß Nithard hier Frilinge und Laten als Gesamtheit auffaßt, denen e r die 'domini' gegenüberstellt. Hätte Nithard nur die Frilinge gemeint, so hätte e r von ' f r i l i n g i s , quorum infinita multitudo est, et lazzibus' gesprochen. 59

Immerhin wurden die Herren von den Rebellen fast vertrieben. Damit aber erwies sich der Aufstand als Versuch der ländlichen Bevölkerung, gegen die in Sachsen eben entstehende 190 Feudalordnung im Prinzip anzugehen. 191 Dagegen läuft die Interpretation, die Bartmuß dieser Erhebung zuteil werden ließ, letztlich darauf hinaus, ihre Bedeutung erheblich einzuschränken. So betont er vor allem 192 , daß von einer 'Organisation der Stellinga' nicht gesprochen wergegen H. J . Schulze den kann. 193 Die Aufständischen hatten nach Bartmuß offenbar keinen 'namhaften adligen F ü h r e r ' , denn keine Quelle nennt irgendeinen Namen. Dagegen möchten wir darauf hinwei194 sen, daß Rudolf von Fulda "auctores factionis" und Prudentius von Troyes "auctores 195 tantae impietatis"

erwähnt. Chronisten aus dem west- und ostfränkischen Bereich berich-

ten damit eindeutig von Führern der Erhebung. Ob sie "namhaft" waren, wissen wir nicht. Daß es sie aber gegeben hat, daran kann nach dem eben angeführten Zeugnis der Quellen kein Zweifel sein. Wenn aber ' a u c t o r e s ' , die uns bereits als Anstifter von ' coniurationes' begegnet sind, als Urheber der Empörung tatsächlich am Werke waren, so wird eine Absprache zwischen den Führern und den Rebellen in hohem 196 Grade wahrscheinlich. Auch verdient die Tatsache Beachtung, daß Nithard Frilinge und Laten erwähnt. Sie empörten sich gemeinsam. Eine Fühlungnahme zwischen beiden Schichten der ländlichen Bevölkerung in Sachsen ist damit nicht von der Hand zu weisen. Schließlich sollte Lothars Versprechen in dem er Stellingabeitrug. die ' leges' 197 ihrer Vorfahren zugestand undnicht damitvergessen wesentlichwerden, zum Ausbruch derden Erhebung 190 191

192 193

194 195 196 197

60

Vgl. auch Müller-Mertens, E . , Vom Regnum teutonicum zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, S. 327. Bartmuß, H . J . , Zur Frage der Bedeutung des Stellingaauf standes, S. 113 f. ; derselbe, Zur Entstehung des frühfeudalen deutschen Staates, a . a . O . , S. 152 f. ; derselbe. Ursachen und Triebkräfte im Entstehungsprozeß des frühfeudalen deutschen Staates, S. 1591 f. Schulze, H . J . , Der Aufstand der Stellinga in Sachsen, S. 63. Bartmuß. H . J . . Zur Frage der Bedeutung des Stellingaauf standes, S. 118, wendet sich gegen Schulze. H . J . , der meinte, die "Organisation der Stellinge" müßte schon vorher bestanden haben, "weil man sonst nicht so schnell hätte losschlagen können." Das sei, so bemerkt B . , "ein Fehlschluß, der aus . . . falschen Vorstellungen von der Organisationskraft der feudalabhängigen Bauern in der Periode des Aufstiegs und der Festigung feudaler Verhältnisse resultiert." Unter den damaligen Verhältnissen waren nur "spontane Erhebungen" möglich. Für diese Behauptung tritt B. jedoch nicht den Beweis an. Annales Fuldenses, a. 842, S. 33. Annales Bertiniani, a. 842, S. 42. Nithardi historiarum, liber IV, c. 2, S. 41. Nithardi historiarum, liber IV, c. 2, S. 41, Annales Bertiniani, a. 841, S. 25 f . ; Bartmuß. H . J . . Zur Frage der Bedeutung des Stellingaauf standes, S. 114, bestreitet die Glaubwürdigkeit dieser Chronisten. Die Argumente, die B. in diesem Zusammenhang anführt, werden wir noch zu untersuchen haben.

Fassen wir diese Einzelheiten zusammen, so ergibt sich, daß von einer unvermittelt, 198 spontan

ausbrechenden Erhebung kaum gesprochen werden kann. Wir haben vielmehr

einen Aufstand vor uns, in dem sich, geführt von 'auctores' und begünstigt durch eine politische Konstellation, die zum fördernden Eingriff Lothars führt, Laten und Frilinge ge199 meinsam

gegen ihre Herren erhoben. Berücksichtigen wir dies, so können von außen

herangetragene, den Aufstand vorantreibende Elemente und organisatorische Züge innerhalb der Stellinga (Verhältnis 'auctores - 'frilingi', ' l a z z i ' ) nicht geleugnet werden. Das Ausmaß des Stellingaaufstandes kann mit einiger Sicherheit bei eingehender Interpretation der Quellen bestimmt werden. Die Annales Xantenses sprechen von ganz Sachs e n " ^ , und Prudentius von Troyes stellte für die Stellinga fest, daß "multiplicior numerus in eorum gente habetur". 201 Nithard beschränkt sich nicht nur bei der Erwähnung der202 Rebellen auf 'frilingi' und ' l a z z i ' , sondern erwähnt auch ganz summarisch 'seditiosi'. Sehen wir aber einmal von Nithard ab, dessen Interpretation hier keine völlig eindeutigen Resultate zeitigt, so bezeugen die anderen Chronisten, daß die Mehrheit der Bevölkerung in weiten Gebieten Sachsens (per totam Saxoniam) an der Erhebung teilnahm. Dabei ist zu berücksichtigen, daß im Gegensatz zum Norden Sachsens, wo grundherrschaftliche Verhältnisse erst relativ wenig ausgebaut waren und der Abstand zwischen Edelingen, Frilingen und Liten noch gering ausfiel, im sächsischen Süden die Entwicklung schon etwas weiter war. Liten, aber auch Frilinge befanden sich hier in einer gedrückteren 203 und sahen auch deshalb in den sächsischen Herren ihren gemeinsamen Widersacher.Lage Wenn schließlich Prudentius von Troyes von Ludwig erzählt, daß er ganz Sachsen durch204 zog und durch ' Gewalt und Schrecken' alle unterwarf, die ihm bisher widerstanden hat205 ten, so kann daraus kaum auf die geringe Ausbreitung des Aufstandes , wohl aber auf

198 199 200 201 202 203 204

205

Vgl. auch Bartmuß. H . J . , Stern, L., Deutschland in der Feudalepoche von der Wende des 5 . / 6 . Jh. bis zur Mitte des 11. J h . , S. 131. " . . . in unum conglobati . . . " ; Nithardi historiarum, liber IV, c . 2, S. 42. Annales Xantenses, a. 841, S. 12. Annales Bertiniani, a. 841, S. 38/39. Nithardi historiarum, a. 842, S. 45. Vgl. zuletzt Schulze. H . J . , Der Aufstand der Stellinga . . . , S. 39 f . , 56 f. Annales Bertiniani, a. 842, S. 42; wohl mit Recht weist Bartmuß, H. J . , Zur Bedeutung des Stellingaaufstandes, S. 118 f . , daraufhin, daß Ludwig, der im August 842 noch in Salz einen Reichstag abhielt und Anfang Oktober schon wieder in Worms eintraf, bei der damaligen geringen Reisegeschwindigkeit unmöglich ganz Sachsen durchzog. Doch kann darin nicht ein Hinweis auf die geringe Ausbreitung des Stellingaaufstandes gesehen werden, sondern allenfalls eine summarische Fixierung des Reiseweges von Ludwig, wie sie Prodentius vornahm. Ludwig genügte es, die entscheidenden Widerstandsherde zu bekämpfen. Bartmuß. H . J . . ebenda, S. 118, bemerkt, daraus ginge eindeutig hervor, daß nicht alle feudalabhängigen Bauern in Sachsen sich der Erhebung anschlössen. 61

seine Kraft geschlossen werden, die nur durch Anwendung von Gewalt Uberwunden werden konnte. Doch auch diese Widerstandskraft schätzt Bartmuß als wenig beträchtlich ein, weil der Aufstand schnell niedergeschlagen werden konnte. Ausdrücke wie "validissima conspiratio" 206

seien Übertreibungen und waren dem "rein subjektiven Urteil vorbehalten".

Daß die

Empörung relativ rasch unterdrückt wurde, kann ein Hinweis auf die Stärke des Gegners sein, berechtigt jedoch nicht zu Bückschlüssen auf die Energie, die in der Erhebung der Stellinga steckte. Es ist eine bekannte Tatsache, daß nahezu alle mittelalterlichen Bauernaufstände von den überlegenen Streitkräften der Gegenseite schließlich überwunden wurden. Kein objektiver Betrachter wird jedoch daraus die Schlußfolgerung ableiten wollen, daß deshalb etwa die Erhebung der sächsischen Bauern im Harzgebiet 1073 oder der Aufstand der Stedinger 1233/34 keine kraftvollen Empörungen waren. Die in relativ kurzer Zeit erfolgte Niederwerfung ergibt sich in erster Linie aus dem ganz ungleichen Kräfteverhältnis 207 der Widersacher. Gegenüber der Überlegenheit eines Aufgebotes, dem Panzerreiter eine besondere Schlagkraft gaben, konnte sich selbst ein machtvoller Bauernaufstand kaum behaupten. Diesem Schicksal entgingen auch die Stellinga nicht, deren Erhebung Rudolf von Fulda, der die sächsischen Verhältnisse unter allen den Aufstand erwähnenden Chronisten 208 am besten kannte, wie Bartmuß selbst zugibt , als "gewaltige Empörung" kennzeich, 209 nete. Gewiß trifft es zu, daß wir Wertungen, wie sie mittelalterliche Chronisten vornehmen, sehr vorsichtig und kritisch zu betrachten haben. Übertreibungen oder Unterschätzungen eines bestimmten historischen Vorganges gehen vielfach auf die subjektive Haltung des Betrachters und seinen geschichtlichen Standort zurück. Stände Rudolf von Fulda - dessen Aussage besondere Bedeutung zukommt, war doch Fulda dem sächsischen Grenzgebiet unmittelbar benachbart - mit seiner Aussage von der "validissima conspiratio" allein, so hätten wir freilich Grund zur Zurückhaltung. Das trifft indes nicht zu. Die Annales Xantenses nennen eine 'potestas servorum', die in Sachsen "weit über ihre Herren hinausgewachsen sei".

206 207 208 209 210 211 62

210

Prudentius von Troyes

211

überliefert, daß die Stellinga die "Mehrheit in diesem

Bartmuß, H . J . , ebenda, S. 118. Vgl. auch Thietmar, Chronicon, liber IV, c. 46, wo Herzog Boleslaw von Polen die von Otto III. erhaltenen 300 'milites loricati' als besonders wertvolles Geschenk bezeichnet. Bartmuß. H . J . , Zur Bedeutung des Steilingaaufstandes, S. 114 f . ; derselbe, Zur Entstehung des frühfeudalen deutschen Staates, S. 154 f. Annales Fuldenses, a. 842, S. 33. Annales Xantenses, a. 841, S. 12. Annales Bertiniani, a. 841, S. 38/39.

Volke (d.h. der Sachsen) bilden" und Nithard schreibt

212

von einer 'infinita multitudo'

der Frilinge und Lazzen. Diese Chronisten widersprechen Rudolf von Fulda nicht, sondern ergänzen ihn und unterstreichen, was Rudolf über die Stellinga sagt. Die Stärke des Aufstandes hat auf diese Geschichtsschreiber einen erheblichen Eindruck gemacht. Tatsächlich muß die Wirkung dieser Empörung sehr beträchtlich gewesen sein, berichten doch die Xantener Annalen, daß 213 die Edlen des Landes von den Knechten (servi) sehr geschädigt, und erniedrigt wurden. 214 215 Nithard schreibt , daß die Stellinga fast ihre Herren vertrieben, und Rudolf überliefert , die Empörer wollten ihre Herren unterdrücken. Insgesamt gesehen vermitteln diese Chronisten

216 übereinstimmend in überzeugender

Weise ein Bild von einer bäuerlichen Erhebung, die den Oberschichten erheblichen Schrekken einjagte und sie zwang, mit drakonischen Maßnahmen gegen die Rebellen vorzugehen. 217 218 Eine Schlacht wurde geschlagen , die Führer der Erhebung erlitten die Todesstrafe. 140 Aufständische wurden geköpft, 14 am Galgen aufgehängt und eine große Anzahl ver219 stümmelt.

Das alles will nicht recht zu der von Bartmuß gegebenen einschränkenden

Wertung der Empörung der Stellinga passen, sondern läßt im Gegenteil auf eine ziemlich heftige Entladung des bäuerlichen Widerstandes schließen, der, von vier Chronisten ausdrücklich bezeugt, von den Herren des Landes als schwere Gefahr angesehen und bekämpft wurde. Der sächsische Adel ging aus der gemeinsam mit Ludwig dem Deutschen vollzogenen Unterwerfung der Stellinga gestärkt hervor. Er versuchte nun verschiedentlich, Besitz aus dem Krongut zu annektieren, um dadurch seine Macht weiter zu vergrößern. Als 852 Ludwig der Deutsche in Sachsen weilte, durch Engern und die ostfälischen Gaue Hardego, 212 213 214 215 216

217 218 219

Nithardi historiarum, liber IV, c. 2, S. 41. Annales Xantenses, a. 841, S. 12. Nithardi historiarum, liber IV, c . 2, S. 42. Annales Fuldenses, a. 842, S. 33. Schulze. H . J . , Der Aufstand der Stellinga S. 49 weist richtig daraufhin, daß die Nachrichten über den Aufstand der Stellinga zahlreicher und ausführlicher sind als die Quellenzeugnisse über alle anderen frühmittelalterlichen Bauernaufstände zusammen. Annales Bertiniani, a. 841, S. 26; Nithardi historiarum, liber IV, c . 4, S. 45. Annales Fuldenses, a. 842, S. 33. Annales Bertiniani, a. 842, S. 43; Bartmuß, H. J . , Zur Bedeutung des Stellingaauf standes, widerspricht Sich in gewisser Weise selbst, wenn er einerseits die Schwäche der Erhebung zu beweisen sucht (ebenda, S. 118), zum anderen aber bemerkt, der Aufstand habe den Zusammenschluß der sächsischen Feudalherren gefördert (ebenda, S. 119, Anm. 94) und zur Entstehung eines ostfälischen Herzogtums beigetragen. War der Aufstand der Stellinga tatsächlich so schwach, wie Bartmuß annimmt, dann hätte die Erhebung zu solchen Konsequenzen überhaupt nicht führen können. 63

Suabingo, Hosigo zog und dort Gerichtstage abhielt, boten ihm die zahlreichen Rechtsverletzungen des Adels gegenüber der unterdrückten Bevölkerung einen willkommenen Vorwand, um die Herren als Missetäter hinzustellen und von ihnen auf diese Weise das entfremdete 220

Krongut zu revindizieren.

Es wird deutlich, wie sich die politische Konstellation seit

842 gewandelt hatte. War Ludwig der Deutsche damals noch zusammen mit dem sächsischen Adel gegen die sächsischen Bauern vorgegangen, so erschien er zehn Jahre später als ihr Fürsprecher gegen den einstigen Bundesgenossen, der nicht zuletzt auch durch seine Eingriffe in das Krongut zu einem mächtigen Widersacher zu werden drohte. Gefährlich mußte der Stellingaaufstand auch deshalb werden, weil Lothar ihn auslöste, durch Versprechungen begünstigte und ihm damit den Anschein einer gewissen Legalität verlieh. Die Erhebung gewann nun eine folgenschwere politische Bedeutung. Bartmuß wendete ein, daß nur Nithard und Prudentius von Troyes von der Auslösung der Empörung berichten, während Rudolf von Fulda und die Xantener Annalen schweigen. An diesen Tatbestand knüpft er nun die Vermutung, daß Nithard und Prudentius dieses Bündnis erfunden haben sollen, um Lothar in den Augen der fränkischen Feudalität zu diskreditieren, ihm Unfähigkeit zu unterstellen, das Reich zu regieren und damit seine Absetzung zu begründen. 221 Sicher trifft es zu, daß Prudentius und Nithard Lothar recht ablehnend gegenüberstanden. 222

So berichtet Nithard

für 830, daß es unter den Brüdern Lothar und Ludwig Mißstimmung

gab, als Ludwig der Fromme seinem Sohn Karl Alemannien verlieh. Nithard berichtet in diesem Zusammenhang: "Da endlich reizte Lothar, wie wenn er gerechten Grund zur Beschwerde gefunden hätte, die Brüder und das ganze Volk auf." In Wirklichkeit ging diese Empörung nicht von Lothar aus, der in Italien weilte, sondern von Feudalherren im Reiche. Nach seiner Rückkehr billigte Lothar das Geschehene. Man könnte diese Stelle aus Nithards Geschichtswerk als Stütze für Bartmuß' These anführen, Nithard beschuldige Lothar mit allen Mitteln und schrecke dabei auch vor Verleumdungen nicht zurück. Ich stimme mit Bartmuß darin überein, daß Nithard alles willkommen war, was Lothar belastete. Wird man aber so weit gehen können und behaupten wollen, daß alles, was Nithard gegen Lothar vorbrachte und ihm vorwarf, unbedingt unwahr und phantastisch war? Wenn Nithard das Bündnis zwischen Lothar und den Stellinga wirklich nur deshalb erfunden hätte, um ihn zu verunglimpfen und zu verdächtigen, warum wird dann der 220 221

222 64

Vgl. Annales Fuldenses, ad 852; S. 42; vgl. auch Dümmler. E . . Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 1, S. 185 f. Bartmuß. H . J . , Zur Bedeutung des Stellingaaufstandes, S. 114; derselbe, Zur Entstehung des frühfeudalen deutschen Staates, a . a . O . , S. 152 f. Das Bündnis wird auch im Lehrbuch: Deutschland in der Feudalepoche von der Wende des 5./6. Jh. bis zur Mitte des 11. J h . , S. 130 f . , nicht erwähnt. Nithardi historiarum, Uber I, c. 3, S. 3.

entsprechende Passus, der darüber berichtet, nicht im 4. Buch, 1. Kapitel eingeflochten, wo die Brüder Lothars alle seine Taten und Untaten durchgehen, um seine Indignität zu beweisen? Tatsächlich wird das Bündnis Lothars mit den Stellinga erst im 2. Kapitel des 4. Buches erwähnt und damit deutlich von dem Sündenregister abgesetzt, das ihm die Brü223 der vorrechnen. Im Zentrum des 2. Kapitels steht eindeutig der Aufstand der Stellinga, 224 dem Nithard große Bedeutung beimißt. Man sollte in diesem Falle doch mehr danach gehen, was wirklich in der Quelle steht, als Überlegungen Raum zu geben, die letztlich hypothetisch bleiben. Lothar, nach 225 Nithard vielfach von Not bedrängt, suchte, wo und wie e r konnte, nach Unterstützung. Er wird das Bündnis mit den Stellinga nicht verschmäht haben - selbst dann nicht, wenn seine feudale Umwelt darüber empört gewesen sein sollte. Schließlich meint Bartmuß, "daß Lothar als Kaiser, der für seine Herrschaft im Gesamtreich kämpfte . . . als Feudalherr eigentlich kein Interesse an einem Aufstand feudalabhängiger Bauern haben konnte, weil 226 ein solcher Aufstand, erfolgreich durchgeführt, schließlich auch ihm schaden mußte".

Dazu möchten wir bemerken, daß Lothar sicher

nicht die Absicht hatte, dem Aufstand zu einem vollen Erfolg zu verhelfen. Lothar versuchte aber, die Energie dieser Erhebung für seine Zwecke auszunutzen. Lothar hatte stets die Möglichkeit, die Empörung niederzuschlagen, wenn er sie nicht mehr brauchte oder wenn 227 sie ihm gefährlich erschien. Im Anschluß an H. Derichsweiler 229 als auffällig bezeichnet

228

hat H. J . Schulze es mit einem gewissen Recht

, daß Lothar nach den schweren Niederlagen bei Fontanetum

841 und Koblenz 842 Gesandte zu Ludwig den Deutschen und Karl den Kahlen schickte, 223

224 225 226 227

228 229

Nithardi historiarum, S. 41 f . , Gerade dort, wo die Brüder Lothars seine Absetzung begründeten, fehlt bei Nithard der Hinweis auf das Bündnis mit den Stellinga, der gerade hier als belastender Vorwurf dienen könnte. Hätte Nithard wirklich das Bündnis Lothars mit den Stellinga erfunden, um ihn zu verleumden, dann war c. 1 des 4. Buches seines Werkes die wirksamste Stelle. Hier aber fehlt ein entsprechender Hinweis. , . . . "maximos esse perspicio . . ."; Nithardi historiarum, liber IV, c. 2. Nach der schweren Niederlage bei Fontanetum am 25. 6. 841 war Lothar jedes Mittel recht, um seine Position zu stärken; vgl. allgemein Löwe. H. in: Gebhardt, B.. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 1, 8. Aufl., Stuttgart 1954, S. 147. Bartmuß. H . J . , Zur Bedeutung des Stellingaaufstandes, S. 114. Ähnlich verfuhren ja bekanntlich die Feudalherren im Verlaufe des sächsischen Aufstandes von 1073. Die Beweisführung von B. ist auch hier nicht recht schlüssig. B. weist auf die relative Schwäche der Erhebung hin, die ohne Schlacht bezwungen worden sein soll. Wenn die Stellinga aber wirklich schwach waren - was wir bezweifeln - so konnten sie schon deshalb für Lothar keine Gefahr werden, wenn er sich ihrer bediente. Derichsweiler. H., Der Stellingabund, S. 17. Vgl. Schulze. H . J . , Der Aufstand der Stellinga, S. 118 f. 65

die bei der in Aussicht genommenen Reichsteilung mehr als ein Drittel des Reiches forderten. Die Brüder lehnen nun diese Forderung ihres soeben geschlagenen Gegners nicht etwa 230 ab, sondern nehmen das Angebot "dankbaren Herzens" an. Auf welche Weise diese Entscheidung zustande kam, war wohl selbst den Zeitgenossen nicht bis in die letzten Einzelheiten klar. So meint Nithard zunächst, er wisse 231nicht, durch welche Kunstgriffe Lothar die Abgesandten seiner Brüder getäuscht habe. Schulze weist nun in diesem Zusammenhang auf die Erhebung der Stellinga hin, mit der im Bunde Lothar immer noch eine schwere Gefahr für seine Brüder dargestellt habe. Daraus auch erkläre sich nach Schulze in hohem Maße ihre Bereitschaft zu so erheblichen Zugeständnissen, die dann schließlich weitgehend dem späteren Vertrag zu Verdun 843 das Gepräge gaben. So gesehen hätte tatsächlich die Erhebung der Stellinga einen großen Einfluß auf diesen Teilungsvertrag ausgeübt Es trifft sicher zu, daß das Bündnis mit den Stellinga die Verhandlungsposition Lothars stärkte, die nun den Brüdern als bedrohlich erschien. Dennoch wird man darin nicht den entscheidenden Grund fUr die Konzessionsbereitschaft von Karl und Ludwig erblicken können. Es war ein Bündel von Motiven, das hier wirksam war. Eines davon 232 gibt Nithard Nithard wird recht selbst an: Die Großen im fränkischen Reich wünschten den Frieden. gesehen haben. Nicht nur der sächsische Adel war an einer Beendigung der Feindseligkeiten zwischen den Brüdern interessiert, um zusammen mit Ludwig dem Deutschen gegen die Stellinga vorgehen zu können. Auch dem westfränkischen Adel war am Frieden zunächst gelegen, um das in den vergangenen Auseinandersetzungen Errungene nutzen und ausbauen zu können. 233 Schließlich dürften für Karl den Kahlen die Verhältnisse in Aquitanien dazu beigetragen haben, daß er einen baldigen Frieden wünschte, um gegen Pippin von Aquita234 nien vorgehen zu können.

Außerdem sollten die verheerenden Auswirkungen der Nor-

manneneinfälle und die schweren Verluste nicht 235 vergessen werden, die die vorangegangenen Kämpfe den Heeren der Brüder zugefügt hatten. Beides drängte auf einen Abschluß der Feindseligkeiten.

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234 235

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Nithardi historiarum, liber IV, c. 3, S. 43. Nithardi historiarum, liber IV, c. 3, S. 44. Nithardi historiarum, liber IV, c. 6, S. 48. Dümmier, E . , Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 1, S. 180; die politische Bedeutung des Adels in dieser Zeit und seinen Einfluß auf die Entschlüsse besonders der westfränkischen Herrscher betonte zuletzt Classen. P . . Die Verträge von Verdun, S. 7 f. Er weist mit Recht daraufhin, daß Hinkmar von Reims den Bruderkrieg weniger als Kampf um Reichseinheit oder Reichsteilung, sondern als Streit der 'primores regni' um die 'honores' schildert; Migne. PL, Bd. 125, Sp. 985 f. Vgl. Lot, F . , Halphen. L . . Le règne de Charles le Chauve, S. 57, 149 f. Vg1- Dümmier. E . . Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 1, S. 157 f.

So bietet sich also ein ganzer Ursachenkomplex zur Erklärung des Ablaufs der Ereignisse seit 842 an. Man wird hier die Akzente nur nach sorgsamem Abwägen setzen können und dabei, auch die Erhebung der Stellinga berücksichtigen müssen, ohne sie jedoch als alleiniges und ausschlaggebendes Moment in den Vordergrund zu stellen. Dessenungeachtet möchten wir feststellen, daß wir, dem Zeugnis der Quellen entsprechend, den Aufstand der Stellinga als eine energische, weite Gebiete Sachsens umfassende Erhebung betrachten, die, von Lothar ausgelöst und für seine politischen Ziele benutzt, den sächsischen Adel ernstlich bedrohte. Diese Empörung ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, in welch gewaltsamen Auseinandersetzungen sich die Überführung der ländlichen Bevölkerung in die Abhängigkeit in Sachsen vollzog und wie nachhaltig die Aktivität der Bauern auch den Verlauf der politischen Geschichte beeinflussen konnte. Allerdings ist zu beachten, daß ein so scharfer und offener Zusammenprall zwischen der sich durchsetzenden feudalen Oberschicht und der noch nicht voll in Abhängigkeit gebrachten ländlichen Bevölkerung für das 9. Jh. in Westeuropa nicht ohne weiteres als durchweg typische Erscheinung angesehen werden kann. Die Vorgänge in Sachsen erklären sich wohl in erster Linie aus der recht abrupten Überlagerung der ziemlich weit fortgeschrittenen feudalen fränkischen Gesellschaftsordnung und Staatsstruktur über die etwas zurückgebliebenen sächsischen

Verhältnisse.

Auf diese Weise trat eine besondere Verschärfung der Situation ein, die über das sonst innerhalb des fränkischen Reiches anzutreffende Maß an Spannungen zwischen Grundherren und ländlicher Bevölkerung weit hinausging. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, daß sich in Gebieten mit einer ähnlichen Situation wie in Sachsen im 9. J h . durchaus entsprechende Erscheinungen beobachten lassen, wenn es zu Eingriffen von außen her kam. Wir möchten in diesem Zusammenhang nur auf die Verhältnisse bei den Elbslawen im 10. Jh. und bei den Pruzzen im 13. Jh. aufmerksam machen. In beiden Fällen kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen und zu Aufständen der einheimischen, noch vielfach freien Bevölkerung, als diese von deutschen Feudalherren bedrückt wird bzw. von den ins Land einziehenden Ordensrittern in feudale Abhängigkeit 236 überführt werden soll. Die Elbslawen erheben sich in einer kraftvollen Empörung 983. Die Pruzzen widersetzten sich der Herrschaft des deutschen Ritterordens 1242 und 1260 237 in zwei umfassenden Aufständen. Im Zusammenhang rpit diesen Ereignissen gesehen erscheint auch der Stellingaaufstand, der innerhalb des fränkischen Reiches eine gewisse 236 237

Vgl. Brüske, W-, Untersuchungen zur Geschichte des Lutizenbundes, in: Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 3, 1955, S. 39 f . ; Labuda, G . , Powstania SJfowian polabskich u schylku X wieku, Slavia occidentalis, Bd. 18, 1939/47, S. 153 f. Vgl. auch Maschke, E . , Der deutsche Orden und die Preußen. Historische Studien, Bd. 176, 1928, S. 33 f . , 54 f . , 45. 67

Sonderstellung einnimmt, auf dem Hintergrund einer weiträumigeren Betrachtung als eine Erscheinung, die wir namentlich dann nachweisen können, wenn eine noch schwach entwikkelte Gesellschaftsordnung (Sachsen, Elbslawen, Pruzzen) mit feudalen Staatsgebilden zusammenstößt. Noch J a h r e nach der Erhebung der Stellinga beschäftigte weltliche und geistliche Herren die Gefahr von Schwurbünden. 847 berief auf Geheiß Ludwigs des Deutschen der Erzbischof von Mainz, Rhabanus Maurus, eine Synode nach Mainz. Dort kamen namentlich die geistlichen Würdenträger aus dem ostfränkischen Reiche zusammen. Unter ihnen befanden sich die Bischöfe von Worms, Würzburg, Paderborn, Hildesheim, Osnabrück, Halberstadt, 238 Werden, Hamburg, Eichstätt, Augsburg, Konstanz, Speyer und Köln. Dabei wurde auf der Synode insbesondere das besprochen, was in dem Herrschaftsbereich der Bischöfe Anlaß zur Klage gab. Wenn von ' c o n j u r a t i o n e s ' die Rede i s t , so darf angenommen werden, daß gerade im ostfränkischen Gebiet, aus dem die erwähnten Bischöfe in Mainz zusammengekommen waren, diese Erscheinung verbreitet w a r , f ü r die zudem der Erzbischof Rhaban einen geschärften Blick hatte. E r kannte die Lage der ländlichen Bevölkerung und war mit den Äußerungen ihres Widerstandes gegen feudale Bedrückung vertraut. Denken wir nur an die Ratschläge, die e r um 842 zur Bekämpfung der Flucht von ' s e r v i ' gegeben hatte. Wie h i e r , zögerte Rhaban auch gegen den ' c o n j u r a t i o n e s ' nicht, rasch und entschlossen vorzugehen. Die Bischöfe und e r drohten dem Rebellen mit einer der schwersten Strafen, die das Mittelalter kannte: E r wurde aus der Kirche ausgeschlossen. Die Haltung der Synode und der fränkischen Zentralgewalt gegenüber jeder Rebellion wird verhältnismäßig k u r z , fast kategorisch und k l a r u m r i s s e n . Wer gegen die öffentliche Gewalt (rei publicae potestatis), gegen König und Kirche 'coniurationes et conspirationes et repugnantias' anzettelte, wurde aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen, wenn e r nicht Buße tat und um Wiedergutmachung bemüht w a r . Damit ist das Gehorsamsprinzip f ü r alle Untergebenen, einschließlich der ländlichen Bevölkerung, unmißverständlich f o r m u l i e r t . Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Aufstandes der Stellinga werden gerade Erzbischof Rhabanus und die Bischöfe von Paderborn, Hildesheim, Osnabrück, Halberstadt und Werden, in deren stattfand, auf strenge, Gebieten oder in deren unmittelbarer Nachbarschaft der Aufstand 239 wirkungsvolle Maßnahmen gegen 'coniurationes' gedrängt haben. 238 239

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MGH, Cap. 2, Nr. 248 (847), S. 173, Z. 23 f. Um entsprechenden Gefahren zu begegnen, wurden anscheinend auch andere Wege begangen. So wird 847 anläßlich der Zusammenkunft von Lothar I . , Ludwig und Karl bei Meerssen beschlossen, in die verschiedenen ' r e g n i ' , also auch in ostfränkisches Gebiet, geeignete Königsboten zu schicken, die die Klagen der ' p a u p e r e s ' prüfen und gerechte Entscheidungen treffen sollen; vgl. MGH, Cap. 2, N r . 204 (847), S. 69, c. 7. Es ist möglich, daß auf diese Weise nach der Niederschlagung des Stellingaaufstandes noch vorhandene soziale Spannungen neutralisiert werden sollten.

4. Die Reformpolitik Karls des Großen, Ludwigs des Frommen und Schutzmaßnahmen fränkischer Herrscher zugunsten der unteren Bevölkerungsschichten a) Die Reorganisation des Königsgutes In unseren bisherigen Ausführungen konnte gezeigt werden, daß die fränkischen Herrscher den bäuerlichen Widerstand, der sich in der verschiedensten Form äußern konnte, entgegentraten, ihn bekämpften, dabei auch einzelnen Klöstern beistanden und besonders dann einschritten, wenn die königlichen Güter betroffen wurden. Es wäre indes kaum richtig, diese Quellenbelege zu verallgemeinern, um von hier zu generellen Schlußfolgerungen über das Verhalten etwa von Karl dem Großen, Ludwig dem Frommen und Karl dem Kahlen zu gelangen. Sie ließen sich gegenüber der ländlichen Bevölkerung von keinem starren Prinzip leiten, sondern fällten ihre Entscheidungen nach Zweckmäßigkeitsgründen, die sich aus der jeweiligen sozialen und politischen Situation ergaben. So schlug beispielsweise Karl der Große recht verschiedene Wege ein, um die ausreichende Bewirtschaftung der königlichen Güter durch die dort ansässige ländliche Bevölkerung zu gewährleisten. So suchte er die Flucht von Hörigen zu verhindern, war aber auch bestrebt, zugewanderte Arbeitskräfte anderer Grundherrschaften den königlichen Gütern zu erhalten. In seinem Bemühen, Mißstände zu beseitigen, unter denen die Ertragsfähigkeit des Krongutes litt, erließ Karl der Große andererseits Maßnahmen, die sich gegen Übergriffe der Verwalter (iudex) des Fiskus richteten und der abhängigen Bevölkerung zugute kamen.

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Die 'familia' dieser Güter, so wird bestimmt, soll gut versorgt sein 241 und von niemandem ins Elend gebracht werden. Um Beschwerdeverfahren zu regeln und die ordnungsgemäße Behandlung von Rechtsfällen der Hörigen auf königlichen Gütern zu ermöglichen, wird festgesetzt, daß den Hörigen, die sich über ihren ' Meister' beschweren wollen, der Weg zum Kaiser nicht versperrt 242 werden soll.

Dies erschien zumindest als möglich. Aus anderen Bestimmungen des

'Capitulare de villis' ergibt sich jedenfalls, daß sich die Verwalter der königlichen Güter den Hintersassen gegenüber nicht immer korrekt verhielten. Ausdrücklich wird es dem 'iudex' untersagt, die Arbeitskraft der auf Krongut sitzenden Bauern für die eigene Wirtschaft zu nutzen. Es wird ihm verboten, diese Hörigen für sich zu Leistungen zu zwingen 240

241 242

Diese im Capitulare de villis doch recht deutlich hervortretende Tendenz möchte ich etwas höher einschätzen, als es zuletzt Metz. W . . Das karolingische Reichsgut, 5. 87, gegenüber Gareis. K . . Die Landgüterordnung Karls des Großen, S. 8 f . , getan hat. Gareis, K . , Die Landgüterordnung, c. 2. Gareis. K . . Die Landgüterordnung, c. 57. 69

und zu seinem Nutzen von ihnen Ackerdienste, Jagdfronden., Waldarbeiten und andere 243 Dienste zu verlangen.

Solche Forderungen boten den Hintersassen gewiß genügend Anlaß

zu Beschwerden, die den ' iudices' nicht gerade angenehm sein konnten. Auch sie werden daher bestrebt gewesen sein, etwaige Versuche der Hörigen zu vereiteln, beim Kaiser selbst vorstellig zu werden. Gerade dagegen schritt ja Karl der Große ein, und es läßt sich wenigstens in einem Fall zeigen, daß entsprechende Vorstöße der Bauern nicht immer erfolglos sein mußten. In einem etwa um 800 erlassenen Kapitular wird berichtet, daß Karl dem Großen eine Klage kirchlicher Höriger und Fiskalinen überbracht wurde, die zu einer vom fränkischen Herrscher im Gau Le Mans südöstlich von Paris abgehaltenen Gerichtssitzung nicht gela244 245 den worden waren. Die Bauern beschwerten sich über das Ausmaß der Dienste. Daraufhin wurde beschlossen: Wer von den erwähnten Bauern eine Viertelhufe besaß, sollte mit Vieh und Pflug das herrschaftliche Feld wöchentlich einen vollen Tag pflügen. In derselben Woche sollten von ihm keine Handdienste (servicium manuale) mehr verlangt werden. Wer nicht genügend Vieh hatte, um an einem Tag diese Arbeit auszuführen, sollte diese in zwei Tagen verrichten. Wer nur schwaches Vieh hatte, mit dem man nicht pflügen konnte, oder nur vier Stück Vieh besaß, sollte mit diesem und mit von anderen dazugenommenem Vieh wöchentlich einen Tag auf dem herrschaftlichen Feld pflügen und einen Tag Handdienste leisten. Wer keinen Pflugdienst leisten kann und kein Vieh besitzt, hatte drei Tage wöchentlich für seinen Herrn von früh bis abends (a mane usque ad vesperum) zu fronen. Bis zur Abfassung des Kapitulars wurde in unterschiedlicher Weise verfahren. Einige hatten die gesamte Woche hindurch, einige eine halbe Woche, manche nur zwei Tage wöchentlich auf dem herrschaftlichen Feld gearbeitet. Damit aber, so heißt es, die ' familia' sich den e r wähnten Arbeiten nicht entziehen konnte und die Herren nicht mehr als billig verlangen, wurde das Ganze beschlossen. Schließlich wird noch von jenen gesprochen, die weniger als eine Viertelhufe besaßen; sie sollten entsprechend der Einschätzung ihres Bodens a r beiten. Di