Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement: Globalisierung – Digitalisierung – Geschäftsmodelltransformation [1. Aufl. 2019] 978-3-658-27728-4, 978-3-658-27729-1

Die Autoren diskutieren über das Spannungsfeld zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit vor dem Hintergrund der

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German Pages IX, 336 [332] Year 2019

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Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement: Globalisierung – Digitalisierung – Geschäftsmodelltransformation [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-27728-4, 978-3-658-27729-1

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Front Matter ....Pages 1-1
Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft (Hermann Knödler)....Pages 3-19
Zur Relevanz der Digitalisierung, Globalisierung und Geschäftsmodelltransformation für das Nachhaltigkeitsmanagement (Christian Arnold, Sonja Keppler, Martin Reckenfelderbäumer)....Pages 21-31
Front Matter ....Pages 33-33
Die Bedeutung eines ethischen Kompasses für das Nachhaltigkeitsmanagement (Andreas Suchanek)....Pages 35-50
Moral und Wirtschaft: Überlegungen zur Lösung eines Konflikts (Klaus Gabriel)....Pages 51-71
Business Metaphysics und SustainAbility: Wie ein nachhaltiges Transaktionsmanagement generell funktioniert (Michael Schramm)....Pages 73-95
Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes (Georg Müller-Christ, Sabine Sohn)....Pages 97-123
Das Trolley-Paradoxon: Über die Ethik der digitalen Welt (Michael Garmer)....Pages 125-142
Der deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) als Instrument zur Erfüllung des CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetzes (CSR-RUG) (Wolfgang Schuster)....Pages 143-167
Front Matter ....Pages 169-169
Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie: Das Prosumer-Phänomen als Externalität im Konsum (Hermann Knödler, Swantje Martach)....Pages 171-194
Global Business Models and the Social Responsibility of Multinational Enterprises: Challenges and Solutions (Stephanie Schrage, Dirk Ulrich Gilbert)....Pages 195-221
Prinzipienorientierte Einbettung als Beitrag der Unternehmen zu nachhaltigem und inklusivem Wachstum (Isabelle Schluep)....Pages 223-247
Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie (Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann, Florian Anderhuber)....Pages 249-284
Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten aus Sicht der Leistungstheorie (Christian Arnold, Martin Reckenfelderbäumer)....Pages 285-304
Nachhaltigkeit im Personalmanagement (Bernd Walzer, Michael Müller-Camen)....Pages 305-323
Promise Management als Konzept für ein nachhaltiges Nachhaltigkeitsmanagement (Christian Arnold)....Pages 325-333
Back Matter ....Pages 335-336

Citation preview

Christian Arnold · Sonja Keppler Hermann Knödler Martin Reckenfelderbäumer Hrsg.

Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement Globalisierung – Digitalisierung – Geschäftsmodelltransformation

Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement

Christian Arnold · Sonja Keppler · Hermann Knödler · Martin Reckenfelderbäumer (Hrsg.)

Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement Globalisierung – Digitalisierung – Geschäftsmodelltransformation

Hrsg. Christian Arnold Internationale Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur gGmbH Baden-Baden, Deutschland Hermann Knödler Internationale Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur gGmbH Berlin, Deutschland

Sonja Keppler Allensbach Hochschule Konstanz, Deutschland Martin Reckenfelderbäumer Allensbach Hochschule Konstanz, Deutschland

ISBN 978-3-658-27729-1  (eBook) ISBN 978-3-658-27728-4 https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort Wenn es unter den Trendthemen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten eine Konstante gibt, dann ist es der Nachhaltigkeitsbegriff in all seinen vielen Facetten. Schon von daher lag es nahe, ausgewählte Aspekte der aktuellen Diskussion zum Nachhaltigkeitsmanagement in Form eines Sammelbands aufzugreifen. Dabei war es zweckmäßig, die Nachhaltigkeitsthematik mit den neueren Trends der Globalisierung und der Digitalisierung sowie mit dem Phänomen der Geschäftsmodelltransformation zu verknüpfen. Auch das Nachhaltigkeitsthema unterliegt im Zeitablauf einem Auf und Ab des Interesses, was gelegentlich an konjunkturellen Schwankungen erinnert. Dass sich mit dem Thema in kurzer Zeit große Teile der Öffentlichkeit mobilisieren lassen, zeigt die gegenwärtige Debatte um Möglichkeiten, den Ausstoß von sogenannten Treibhausgasen spürbar zu reduzieren. Dabei zeigt sich erneut, dass Nachhaltigkeitsthemen nicht für sich betrachtet werden können, sondern immer ein interdisziplinäres Phänomen darstellen. Die eher technische Seite des Nachhaltigkeitsmanagements spiegelt sich in der Nutzung digitaler Technologien wider, durch die einerseits Ressourcen eingespart werden können, andererseits Zielgruppen adäquat angesprochen und große Datenmengen zu Wissen aufbereitet werden können. Mit Hilfe dieses Wissens lassen sich Kundenpräferenzen und Leistungserstellung besser aufeinander abstimmen und im Ergebnis die wirtschaftliche Nachhaltigkeit von Unternehmen steigern. Durch die immer weiter integrierte globale Produktion von Waren und Dienstleistungen wird jene wirtschaftliche Nachhaltigkeit allerdings kontinuierlich in Frage gestellt, so dass Unternehmen ihre bestehenden Geschäftsmodelle in immer kürzeren Zeiträumen an ein dynamisches Umfeld anpassen müssen. Dabei gilt es heute umso mehr, dem Wunsch von Politik und Gesellschaft nach mehr Nachhaltigkeit Rechnung zu tragen, da die Öffentlichkeit zunehmend kritisch auf nicht nachhaltiges Handeln von Akteuren achtet und gegebenenfalls einzelne Marktteilnehmer durch Boykott abstraft. Die Komplexität des Themas „Nachhaltigkeit“ lässt sich im Übrigen auf den vorliegenden Sammelband selbst übertragen, auch wenn sich durch diese Publikation vermutlich nicht große Teile der Öffentlichkeit mobilisieren lassen: Allein der Druck eines Buches verbraucht unter anderem die Ressourcen Papier, Druckfarben und Energie. Wird der Band in digitaler Form bereitgestellt, dann mag man den physischen Ressourcenverbrauch schonen, aber ein gewisser Energieverbrauch lässt sich kaum vermeiden. Schnell stellt sich damit unter Nachhaltigkeitsaspekten

VI

Vorwort

die Frage nach den Kosten und Nutzen eines solchen Buchprojektes. Dem genannten Ressourcenverbrauch steht bei wohlwollender Betrachtung ein Nutzen gegenüber, wenn an anderer Stelle durch die hoffentlich induzierte Diskussion wiederum Ressourcen eingespart werden können. Allein der Versuch einer empirischen Prüfung dieser Kosten-Nutzen-Betrachtung zeigt, woran eindeutige und belastbare Aussagen zur Nachhaltigkeit des Wirtschaftens scheitern oder gar scheitern müssen: Es fehlt an verlässlichen Daten, um solche Fragen – zumindest im Falle eines Buches – letztlich beantworten zu können. Der Dank der Herausgeber gilt zunächst den Autorinnen und Autoren des Sammelbands, die neben den beruflichen Herausforderungen die Zeit gefunden haben, dieses Buchprojekt mit ihren Beiträgen zu unterstützen. Außerdem bedanken sich die Herausgeber beim Springer-Verlag – hier insbesondere bei Frau Dr. Schulz – für die erneut ausgezeichnete Betreuung und jederzeitige Unterstützung. Schließlich hat die Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur (HWTK) mit Sitz in Berlin die vorliegende Publikation mit einem Druckkostenzuschuss und viel Wohlwollen gegenüber den Herausgebern gefördert. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle auch nochmals für ihre Geduld gedankt, die sie in den zurückliegenden Monaten mit Blick auf gesetzte Fristen, auf Wünsche der Herausgeber und auf eventuelle Verzögerungen im Projektverlauf aufgebracht haben. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbands maßen sich kein Urteil darüber an, ob sie mit dieser Veröffentlichung selbst einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten können. Mit der Veröffentlichung ist aber die Hoffnung verbunden, dass der eine oder andere Beitrag zumindest die Diskussion über Nachhaltigkeit anregt und vielleicht sogar zu kritischer Reflexion eingefahrener Verhaltensweisen führen kann. Baden-Baden, Berlin und Konstanz Christian Arnold, Sonja Keppler, Hermann Knödler, Martin Reckenfelderbäumer

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ................................................................................................................. V

1

Einleitende Überlegungen

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft Hermann Knödler .................................................................................................. 3 Zur Relevanz der Digitalisierung, Globalisierung und Geschäftsmodelltransformation für das Nachhaltigkeitsmanagement Christian Arnold, Sonja Keppler und Martin Reckenfelderbäumer ............................................................................................. 21

2

Ethische, konzeptionelle und rechtliche Aspekte

Die Bedeutung eines ethischen Kompasses für das Nachhaltigkeitsmanagement Andreas Suchanek ................................................................................................ 35 Moral und Wirtschaft: Überlegungen zur Lösung eines Konflikts Klaus Gabriel ....................................................................................................... 51 Business Metaphysics und SustainAbility: Wie ein nachhaltiges Transaktionsmanagement generell funktioniert Michael Schramm................................................................................................. 73

VIII

Inhaltsverzeichnis

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes Georg Müller-Christ und Sabine Sohn ................................................................. 97

Das Trolley-Paradoxon: Über die Ethik der digitalen Welt Michael Garmer ................................................................................................. 125 Der deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) als Instrument zur Erfüllung des CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetzes (CSR-RUG) Wolfgang Schuster.............................................................................................. 143

3

Strategische und umsetzungsbezogene Aspekte

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie: Das Prosumer-Phänomen als Externalität im Konsum Hermann Knödler und Swantje Martach ........................................................... 171 Global Business Models and the Social Responsibility of Multinational Enterprises: Challenges and Solutions Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert ....................................................... 195 Prinzipienorientierte Einbettung als Beitrag der Unternehmen zu nachhaltigem und inklusivem Wachstum Isabelle Schluep.................................................................................................. 223 Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann und Florian Anderhuber............................................................................................ 249

Inhaltsverzeichnis

IX

Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten aus Sicht der Leistungstheorie Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer ............................................ 285 Nachhaltigkeit im Personalmanagement Bernd Walzer und Michael Müller-Camen ........................................................ 305 Promise Management als Konzept für ein nachhaltiges Nachhaltigkeitsmanagement Christian Arnold................................................................................................. 325

Autoren ............................................................................................................... 335

1

Einleitende Überlegungen

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft Hermann Knödler



Zeithorizont und Ziele des Nachhaltigkeitsmanagements ............................. 3 



Wechselwirkungen zwischen Nachhaltigkeit, Ethik und Ökonomie............. 6  2.1  2.2  2.3 



Nachhaltigkeit als multidisziplinäres Phänomen ............................... 6  Nachhaltigkeit und Wirtschaftswissenschaften .................................. 7  Nachhaltigkeit, Ethik und Grenzen des Wissens................................ 9 

Rückwirkungen der Nachhaltigkeitsdebatte auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft .................................................................................................... 12  3.1  3.2  3.3 

Realwirtschaftliche Wirkungen des Nachhaltigkeitsmanagements .. 12  Bewusstseinswirkungen der Nachhaltigkeitsdebatte........................ 12  Wirtschaft als Transmissionskanal für mehr Nachhaltigkeit? .......... 15 



Effektive Umsetzung des Nachhaltigkeitsmanagements ............................. 17 

1

Zeithorizont und Ziele des Nachhaltigkeitsmanagements

Der Nachhaltigkeitsbegriff hat mit dem 1972 veröffentlichten Bericht „The Limits to Growth“ des Club of Rome seinen Einzug in die heute noch andauernde politische Debatte der Industrieländer gefunden. Aus dieser nunmehr fast ein halbes Jahrhundert anhaltenden Debatte sind nicht nur Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement von Politik und Gesellschaft erwachsen, sondern auch für Unternehmen. In einer von Globalisierung und Digitalisierung getriebenen Wirtschaft sehen sich Unternehmen einer kontinuierlichen Transformation von Geschäftsmodellen, Produktionsprozessen und Marketingstrategien in Richtung Nachhaltigkeit gegenüber.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_1

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Hermann Knödler

Dabei wechseln Phasen des großen Interesses an Nachhaltigkeit mit Phasen eines weniger ausgeprägten Interesses ab. Dies spiegelt sich auch in den Agenden von Konferenzen und Parteiprogrammen wider. So hat die Bunderegierung beispielsweise ein „Nationales Programm für nachhaltigen Konsum“ verabschiedet, das explizit auch gesellschaftliche Diskussion als Handlungsfeld nennt und viele konkrete Maßnahmen beschreibt, um Nachhaltigkeit umzusetzen (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, 2019: 5ff.). Auch auf Ebene der Europäischen Union wurde bereits 2001 eine Europäische Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt (Bertelsmann Stiftung 2014: 41). Im Sinne einer ökonomisch nachhaltigen Unternehmensentwicklung tragen alle betrieblichen Entscheidungen, die ein langfristiges Überleben des Unternehmens begünstigen, zum Ziel der nachhaltigen Unternehmensentwicklung bei. Dies kann natürlich die nicht-nachhaltige Ausbeutung von Ressourcen und mithin einen Verstoß gegen das Postulat der ökologischen Nachhaltigkeit implizieren. Letztlich handelt es sich bei Nachhaltigkeitsfragen um mehrdimensionale konfliktäre Zielbeziehungen, die viele Akteure betreffen. Legt man die „Dreiteilung“ des Nachhaltigkeitsbegriffs in ökologische, wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit zugrunde und überlegt, welche Rolle unterschiedliche Zeithorizonte spielen können, dann lässt sich dies als eine Art „Magisches Dreieck der Nachhaltigkeit“ auffassen, wie in Abbildung 1 veranschaulicht: Aus kurzfristigen Zielkonflikten können sich mittelfristig geänderte Zielbeziehungen ergeben, was in der Abbildung 1 durch das hintere und das mittlere Zieldreieck veranschaulicht wird. Während im hinteren Zieldreieck die Zeithorizonte der drei Zielvariablen stark divergieren (bei Komplementarität von sozialer und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit), sind die Zeithorizonte im mittleren Zieldreieck einander angenähert (bei Zielkomplementarität von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit) und im vorderen Zieldreieck identisch (bei Auflösung der Zielkonflikte durch vollständige Zielkomplementarität). Allenfalls langfristig ist denkbar, dass sich soziale, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit in Einklang bringen lassen, sofern die betroffenen Akteure langfristige Ziele im Blick haben. Je mehr die Betrachtungszeiträume der drei Nachhaltigkeitskomponenten voneinander abweichen, desto eher stellen sich Zielkonflikte ein und das Zieldreieck kippt beziehungsweise verschiebt sich entlang der Zeitachsen. Man wird allerdings im Allgemeinen davon ausgehen können, dass der Zeithorizont eines Unternehmens kürzer ist als derjenige für ökologische Fragestellungen zweckmäßige Zeithorizont.

5

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft

+

Zielkonflikt Zielkomplementarität

+

Soziale Nachhaltigkeit

+

Ökologische Nachhaltigkeit

+

-

-

+ + Wirtschaftliche Nachhaltigkeit

Abbildung 1: Nachhaltigkeit, Zeithorizont und Zielbeziehungen

Bei näherer Betrachtung der Zielbeziehungen fallen vier Aspekte auf: (1) Nur wenn die berücksichtigten Ziele aus einer langfristigen Perspektive definiert werden, könnte Zielharmonie realisiert werden. Schließlich ist auf ganz lange Sicht eine ökologische Wirtschaftsweise die Basis auch für wirtschaftliches und soziales Überleben. (2) Die kurz- und mittelfristig wahrgenommenen Zielkonflikte resultieren zum Teil aus der Tatsache, dass die ökologische Nachhaltigkeit auf einem anderen Zeithorizont als die soziale und die wirtschaftliche Nachhaltigkeit beruht. (3) Was genau unter den drei genannten Nachhaltigkeitsaspekten als Zielerreichung angesehen wird, lässt sich nur schwer exakt festlegen und damit auch kaum exakt wohlfahrtsökonomisch messen. (4) Je nach den Zielsetzungen der beteiligten Akteure ist es denkbar, dass Nachhaltigkeit unterschiedlich stark präferiert und damit tatsächlich verhaltenswirksam wird. Diese vier Aspekte illustrieren, dass es keinen Konsens über Nachhaltigkeitsmanagement geben kann, ohne sich vor der Analyse ausgewählter Problemstellungen über einen Untersuchungszeitraum zu einigen, und dass sich Ökonomen bisweilen etwas schwertun mit dem Nachhaltigkeitsbegriff. So spiegelt auch der vorliegende Sammelband ganz unterschiedliche Sichtweisen auf das Nachhaltigkeitsmanagement und mögliche Transformationen von Geschäftsmodellen wider, ohne alle relevanten Teilbereiche abbilden zu können.

6

2

2.1

Hermann Knödler

Wechselwirkungen zwischen Nachhaltigkeit, Ethik und Ökonomie Nachhaltigkeit als multidisziplinäres Phänomen

Bereits die heute oft bemühte definitorische Abgrenzung des Nachhaltigkeitsbegriffs mittels der drei Teilbereiche ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit legt den Grundstein für eine multidisziplinäre Herangehensweise an nachhaltigkeitsbezogene Phänomene. Eine allgemein gültige Definition von Nachhaltigkeit kann es daher auch nicht geben, sondern jeweils auf einzelne Forschungsfragen abgestimmte und möglichst sinnvolle Abgrenzungen für jeweils zweckmäßig festgelegte Untersuchungszeiträume. Diese Überlegung ist sicher hilfreich, um zentrale Wechselwirkungen zwischen Fragen der Nachhaltigkeit und einzelnen wissenschaftlichen Teildisziplinen möglichst umfassend abzubilden. Zu diesen Wechselwirkungen zählen beispielsweise Konflikte zwischen Ethik und Wirtschaftswissenschaften, da ein mögliches höheres Wachstum des Sozialprodukts von Volkswirtschaften infolge des damit verbundenen größeren Ressourcenverbrauchs tendenziell zulasten der Umwelt geht. Gerade der übermäßige Gebrauch und Verbrauch natürlicher Ressourcen kann als ethisches Problem identifiziert werden, da die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen hierdurch negativ tangiert und Wachstumsziele als ethisch bedenklich eingestuft werden. Aus solchen Überlegungen und Einsichten resultieren in der Sphäre von Politik und Gesellschaft wiederum rechtliche Vorschriften, die die Akteure der Wirtschaft auf Angebots- und Nachfrageseite zu ethisch langfristig vertretbaren Verhaltensweisen anhalten sollen. Dadurch können Anreize zur Entwicklung technologischen Fortschritts entstehen, beispielsweise schadstoffarme Antriebstechnologien. Die multidisziplinären Herausforderungen der Untersuchung von Nachhaltigkeit mögen die Hauptursache dafür sein, dass immer mehr diesbezügliche Publikationen und Forschungsprojekte in Form von Kooperationen beziehungsweise Autorenkollektiven durch Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen erfolgen. Bei dieser „Melange“ besteht aus Sicht des einzelnen Wissenschaftlers immer die Gefahr, sich in zentrale Forschungsgebiete anderer Disziplinen zu bewegen, mit deren Feinheiten der Einzelne nicht recht vertraut ist. Dass in der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte auch indirekt betroffene Bereiche der drei Nachhaltigkeitssäulen berührt werden, zeigen die Ausführungen des Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2018: 15-22): Hier werden neben Di-

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft

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gitalisierungsaspekten, Künstlicher Intelligenz und beruflicher Bildung auch Nachhaltigkeitsüberlegungen für die Außenwirtschaftspolitik und die regionale Wirtschaftsförderung thematisiert.

2.2

Nachhaltigkeit und Wirtschaftswissenschaften

Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften berührt der Aspekt der Nachhaltigkeit direkt oder indirekt nahezu alle Teilgebiete. Dies gilt in erster Linie für die wirtschaftliche Nachhaltigkeit, betrifft aber auch die ökologische und die soziale Nachhaltigkeit, wenn man etwa an die Teilgebiete Ressourcenökonomik, Verteilungspolitik, Social Marketing oder Destinationsmanagement denkt. Berücksichtigt man rechtliche Vorschriften und Kostensenkungspotentiale durch Minderverbrauch oder die Substitution von Rohstoffen, dann sind auch ganz allgemeine betriebliche Funktionsbereiche wie Kosten- und Leistungsrechnung, Marketing oder Logistik betroffen. Aus dem Management von Wertschöpfungsketten könnte dann das „nachhaltige Management“ von Wertschöpfungsketten werden, aus der Unternehmensführung die „nachhaltige Unternehmensführung“. Dies legt den Verdacht nahe, dass den Wirtschaftswissenschaften oder einzelnen Teilgebieten im Sinne eines „wissenschaftlichen Greenwashing“ ein Nachhaltigkeitsetikett aufgeklebt werden könnte. Dass dies nicht der Fall ist, verdeutlichen folgende Überlegungen: (1) Die grundsätzlichen Probleme des Wirtschaftens treffen auch auf nachhaltiges Wirtschaften im Sinne eines weiteren Zeithorizonts zu und sind von daher nichts grundlegend Neues. (2) Einzelne Teilbereiche der Wirtschaftswissenschaften haben sich explizit mit dem beschäftigt, was in der Nachhaltigkeitsdebatte von großer Bedeutung ist, nämlich Externalitäten, Kollektivgüter und intertemporalen Konsum- und Produktionsentscheidungen. Wenn also das Adjektiv „nachhaltig“ gelegentlich in Verbindung ausgewählter wirtschaftswissenschaftlicher Teildisziplinen genannt wird, so drückt dies eher eine inhaltliche Schwerpunktsetzung der Aspekte Zeit und Interdependenzen aus als dass es sich um Greenwashing handelt. Ein Beispiel für den Einzug des Nachhaltigkeitsbegriffs in die Wirtschaftswissenschaften ist die Untersuchung der betrieblichen Teilbereiche, die von Nachhaltigkeitszielen betroffen sind. Ressourcen- und damit Kostenersparnis ist nur einer von vielen Aspekten. So spielen etwa in der Literatur zu Events beziehungsweise zur Veranstaltungsbranche sehr weit gesteckte Themenfelder eine Rolle, wenn es um Nachhaltigkeit geht (Wall/Behr 2010: 15f.). Bei der Entwicklung nachhaltiger Unternehmensstrategien wird gelegentlich auch die Rolle der Digitalisierung berücksichtigt (Baringhorst et al.: 12f.).

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Hermann Knödler

Gerne wird in der öffentlichen Nachhaltigkeitsdebatte übersehen, dass die Rolle der Nachfrageseite für den ökonomischen Erfolg nachhaltiger oder ethisch korrekter Produktion entscheidend ist. Diese Überlegung lässt sich mittels eines Zweigüter-Diagramms für einen nutzenmaximierenden Haushalt veranschaulichen. In Abbildung 2 sei x1 die Menge eines herkömmlichen Konsumguts, während x2 die Menge eines nachhaltig erzeugten Gutes darstellt. Das Haushaltsoptimum liegt dann für die Ausgangskonstellation A in der Kombination der beiden Gütermengen x1A und x2A, die durch den Tangentialpunkt von Indifferenzkurve IA und Budgetgerade BGA beschrieben wird. x2

x2B

B 

IB A 

x2A

IA x1B

x1A

x1

Abbildung 2: Nachhaltigkeit, Nutzenmaximierung und Präferenzen

Wenn sich eine Veränderung der Präferenzen des betrachteten Haushalts in der Art einstellt, dass anstelle von IA nunmehr IB gilt, dann würde weniger vom herkömmlichen Gut 1 und mehr vom nachhaltigeren Gut 2 konsumiert, so dass das Haushaltsoptimum B durch x1B und x2B charakterisiert wird. Die Bemühung einer solch grundlegenden Graphik zeigt einen wichtigen Zusammenhang: Wenn sich die Präferenzen der Haushalte in Richtung Nachhaltigkeit ändern, dann wird es auch zu mehr nachhaltigem Konsum kommen. Würde sich das Preisverhältnis zuungunsten des nachhaltigeren Gutes 2 verändern, so müsste noch eine geänderte Steigung der Budgetgeraden abgebildet werden. Abbildung 2 legt allerdings die Vermutung nahe, dass sich Nachhaltigkeit dann langfristig effektiv verfolgen lässt, wenn die Kundenpräferenzen sich in Richtung nachhaltigen Konsums und nachhaltiger Produktionsweisen entwickeln. Letztlich entscheiden Endverbraucher darüber, ob sich nachhaltige Produktion durchsetzen

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft

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kann. Analogien zur politischen Ökonomie drängen sich geradezu auf: War das Thema Umweltschutz in den 1970er und 1980er Jahren noch auf eine politische Partei begrenzt, so haben im Rahmen des politischen Wettbewerbs inzwischen fast alle Parteien in westlichen Demokratien dieses Thema in ihre Programme aufgenommen, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Langfristig scheinen Konsumenten respektive Wähler der entscheidende Faktor erfolgreicher Nachhaltigkeitspolitik zu sein. Um den Erfolg nachhaltigen Wirtschaftens und den Weg dorthin in den Wirtschaftswissenschaften für eine Gesellschaft insgesamt aus der Haushaltsperspektive beurteilen zu können, bedürfte es einer sozialen Wohlfahrtsfunktion, die durch Aggregation individueller Nutzenfunktionen generiert werden müsste. Allein dies ist mit ganz erheblichen Problemen hinsichtlich der Aggregationsmethode für die individuellen Nutzenfunktionen und der Datenverfügbarkeit verbunden. Wenn man schließlich auch die Produktions- beziehungsweise Angebotsseite einer Volkswirtschaft einschließlich möglicher Externalitäten und einem Kollektivgut „saubere Umwelt“ über mehrere Perioden einbeziehen wollte, dann erforderte dies ein sehr komplexes, intertemporales allgemeines Gleichgewichtsmodell. Solche komplexen Modelle dürften kaum sinnvoll zu entwickeln sein, zumal sich ja in der Realität die Präferenzen der Haushalte, die verfügbaren Technologien und überdies die politischen Rahmenbedingungen permanent verändern. Außerdem stellt sich auch hier die bereits in Kapitel 1 aufgeworfene Frage nach dem „richtigen“ Zeithorizont, der einem solch komplexen Modell zugrunde gelegt werden sollte. Folglich lässt sich festhalten, dass mit wirtschaftswissenschaftlichen Modellen zwar ausgewählte Zusammenhänge nachhaltigen Wirtschaftens untersucht werden können, dass aber die Ableitung von Verhaltensweisen oder Politiken, die sicher zu einem langfristigen Wohlfahrtsoptimum unter Berücksichtigung einer umfassend verstandenen Nachhaltigkeit führen, die Wirtschaftswissenschaften überfordert. Ökologische, wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit sind also weit mehr als ein langfristige Optimierungsproblem, in dessen Kontext die Wirtschaftswissenschaften für Partialanalysen durchaus sinnvolle Dienste im Sinne eines strukturierten und systematischen Denkens leisten können. Eine Ökonomisierung der Nachhaltigkeit als Gesamtheit scheint nicht zweckmäßig.

2.3

Nachhaltigkeit, Ethik und Grenzen des Wissens

Das Dilemma zwischen ethisch nicht korrektem Verhalten und den möglichen Folgen wird in der Ethik als Unterscheidung zwischen Pflicht- und Folgenethik problematisiert. Wäre Nachhaltigkeit in erster Linie ein langfristiges Optimierungs-

10

Hermann Knödler

problem im Sinne der Wirtschaftswissenschaften, dann ließen sich die Folgen alternativer Politiken und Verhaltensweisen gut vorhersagen und ethisch korrekt wäre, was unter dem Aspekt langfristiger Folgen optimal wäre – dann sollte Ethik als Folgenethik aufgefasst werden. Wird dagegen angenommen, dass die langfristige Optimierung des Nachhaltigkeitsproblems nicht sinnvoll durchführbar ist und mithin die Folgen heutigen Verhaltens gar nicht eindeutig oder nicht hinreichend genau bestimmt werden können, dann ließen sich dennoch Verhaltensweisen aus Sicht der Ethik ableiten, die in dem Sinne ethisch korrekt wären, dass Akteure bestimmte Regeln beachten und sich daran halten – in diesem Fall wäre Ethik als Pflichtethik aufzufassen. Je weniger also die Folgen wirtschaftlichen Handelns unter Einbeziehung einer „Drei-Säulen-Nachhaltigkeit“ vorhergesagt und gemessen werden können, desto größer müsste die Rolle der Pflichtethik sein. In der Forschungspraxis zur Nachhaltigkeit stellt sich die Frage danach, was Forschung überhaupt leisten kann, wenn es um langfristige Entwicklungen beziehungsweise um Langfristprognosen geht. Würde man nachhaltiges Verhalten eines Akteurs so definieren, dass innerhalb eines gegebenen Untersuchungszeitraums die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Belange der direkt und indirekt Betroffenen bei gleichzeitiger Maximierung der Gesamtwohlfahrt angemessen berücksichtigt werden, dann stellten sich die in Abschnitt 2.2 genannten methodischen Probleme ein. Für die Praxis der Gestaltung von Politik und Wirtschaft kann die Ethik als eine Art Filter aufgefasst werden, den die Informationen aus der Nachhaltigkeitsdebatte durchlaufen, bevor Entscheidungen hinsichtlich politischer Rahmenbedingungen, Produktion oder Konsum im Sinne eines gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsmanagements getroffen werden. Dadurch beeinflusst die Ethik auch die Handlungsoptionen von Politik, Unternehmen und Haushalten – dies allerdings vor dem Hintergrund der jeweils individuellen Zielsetzungen einzelner Akteure. Dieser Zusammenhang ist in Abbildung 3 für das gesellschaftliche Nachhaltigkeitsmanagement dargestellt. Für den Bereich der Politik setzen Politiker die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns, beispielsweise durch Umweltschutzbestimmungen, und bieten den Wählern Programme an, von denen sich Parteien die Umsetzung ihrer Ziele am ehesten erhoffen beziehungsweise von denen sie vermuten, dass sie den Wählerpräferenzen am ehesten entsprechen. Unternehmenseigentümer und Manager streben im Rahmen der Unternehmensführung eine je nach Zielsetzung unterschiedliche Verzinsung des eingesetzten Kapitals an und reagieren auf geänderte Umweltbedingungen mit der Anpassung ihrer Geschäftsmodelle. Diese Geschäftsmodelltransformation kann als Teil eines strategischen Change-Managements innerhalb von Unternehmen aufgefasst werden.

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft

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Haushalte streben durch Arbeitsangebot, Eigenproduktion und Konsum von Gütern nach Selbstverwirklichung und Nutzenmaximierung. Dies betrifft sowohl den Konsum im eigentlichen Sinne als auch die Entscheidung, bestimmte Konsumgüter selbst zu erzeugen oder an deren Produktion mitzuwirken, um Ressourcen zu schonen.

Handlungsfelder

Akteure

Filter

Wirkungsbereiche des gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsmanagements

Ethik (Pflichtethik, Folgenethik) versus Ziele der Akteure

Politik (Parteien, Politiker)

Unternehmen (Eigentümer, Manager)

Haushalte (Konsumenten)

Setzung von Rahmenbedingungen, Angebot von politischen Programmen.

Langfristige Unternehmensführung, Geschäftsmodelltransformation.

Selbstverwirklichung, Nutzenmaximierung.

Abbildung 3: Nachhaltigkeit, Ethik und Handlungsoptionen einzelner Akteure

Damit können sowohl die aktuelle Nachhaltigkeitsdebatte als auch die Ethik als wichtige Einflussfaktoren hinsichtlich gesellschaftlicher Entscheidungen im Sinne eines gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsmanagements aufgefasst werden. Für die Verhaltenswirksamkeit des in Abbildung 3 dargestellten „Ethikfilters“ spielen letztlich die Stärke und Richtung individueller Zielsetzungen eine Rolle, die ethische Bewertungen unter Umständen konterkarieren. Der Erfolg des Nachhaltigkeitsmanagements in einer Gesellschaft hängt also von den Zielen und Werten der Akteure ab. Dass Politik und Verwaltung bei der Entwicklung von Nachhaltigkeitsstrategien auch wissenschaftlichen Sachverstand nutzen, zeigt beispielsweise der große Kreis von einbezogenen Wissenschaftlern, die allein bei einem einzelnen entsprechenden Projekt beteiligt waren (Bertelsmann Stiftung 2014: 296-299).

12

3

3.1

Hermann Knödler

Rückwirkungen der Nachhaltigkeitsdebatte auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Realwirtschaftliche Wirkungen des Nachhaltigkeitsmanagements

Die mehr oder weniger intensiv geführten tagespolitischen Debatten um die Nachhaltigkeit werden einerseits durch Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gestaltet, wirken jedoch ihrerseits in vielfältiger Weise auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zurück. Dies zeigt sich schon daran, dass auch durchgeführte Investitionen, die der ökologischen Nachhaltigkeit dienen, auf gesamtwirtschaftlicher Ebene mehr oder weniger starke wirtschaftliche Multiplikatorwirkungen entfalten. Solche Investitionen durch Staat und Unternehmen sind beispielsweise nachhaltigkeitsbezogene öffentliche Projektmittel oder Sachinvestitionen in Umweltschutzmaßnahmen. Die exakte reale Wirkung solcher Investitionen im Sinne eines Einkommenswachstums lässt sich umso schwerer abschätzen, je länger der gewählte Untersuchungszeitraum ist. Dies liegt natürlich bei allen Prognosen in der Natur der Sache, da sich klassische Multiplikatorwirkungen mit der Zeit abschwächen. Diese rein makroökonomische Sichtweise greift allerdings zu kurz, denn (1) einerseits kann die langfristige Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft durch effektivere Nutzung natürlicher Ressourcen steigen und zu einem langfristigen Einkommensanstieg führen, und außerdem kann (2) durch den „Leuchtturmeffekt“ ein Bewusstseinswandel in der Gesellschaft eintreten, der zu Folge- oder Nachahmungsinvestitionen führt. Dies ist dann der Fall, wenn öffentliche Projektmittel oder private Sachinvestitionen ähnliche Projekte auslösen.

3.2

Bewusstseinswirkungen der Nachhaltigkeitsdebatte

Wenn Investitionen in Form von öffentlich finanzierten Nachhaltigkeitsprojekten oder Umweltschutzmaßnahmen öffentlich diskutiert und seitens der Unternehmen daraufhin umgesetzt werden, können dadurch langfristig auch die Präferenzen der Haushalte verändert und gegebenenfalls „Öko-Trends“ auf Nachfragerseite induziert werden. Dadurch werden beispielsweise Konsumenten eher auf nachhaltigen Konsum achten oder als Wähler den politischen Druck zu weiteren Nachhaltigkeitsvorhaben erhöhen. Damit stehen den obengenannten klassischen Multiplikatorwirkungen indirekte Zweitrundeneffekte gegenüber, die am modelltheoretisch am ehesten den aus der Makroökonomie bekannten Akzeleratoreffekten entsprechen.

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft

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Dieser Wandel trifft auch auf den Bildungssektor zu. So haben beispielsweise in den vergangenen zwei Dekaden in vielen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen neue Lehrveranstaltungen, die sich explizit mit ethischen Fragen und mit Nachhaltigkeit befassen, Eingang in Curricula gefunden. Vereinzelte Vorläufer solcher Veranstaltungen finden sich vermutlich schon seit den 1970er Jahren in wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen. Dass Lehrveranstaltungen, die die Bezeichnungen „Ethik“, „Nachhaltigkeits-“ o.ä. im Titel tragen, vor kurzem aber noch eine eher untergeordnete Rolle in Wirtschaftsstudiengängen an deutschen Fachhochschulen spielten, zeigt eine kursorische Durchsicht entsprechender Curricula (Stand: Frühjahr 2015). Berücksichtigt wurden bei dieser Durchsicht 13 Bachelor- und 10 Masterstudiengänge, wobei speziell auch Studiengänge im Bereich Öko-Tourismusmanagement berücksichtigt wurden. Aus Tabelle 1 erkennt man, dass nur ein geringer ECTS-Punkte-Anteil der Module an den gesamten ECTSPunkten der Studiengänge die Bezeichnungen „Ethik“, „Nachhaltigkeits-“ o.ä. im Titel trugen. ECTS-Punkte-Anteile „nachhaltiger“ Lehrveranstaltungen (FH-Wirtschaftsstudium; Stand: Frühjahr 2015) Bereich des FH-Studiengangs Abschluss

Allg. Management bzw. nichtökologische Vertiefungen

Öko-Tourismusmanagement

Bachelor (180 ECTS)

20/1440 [ECTS] 0,0139 = 1,4%

12/540 [ECTS] 0,0222 = 2,2%

Master (90 od. 120 ECTS)

12/720 [ECTS] 0,0167 = 1,7%

22/330 [ECTS] 0,0667 = 6,7%

Bei den Studiengängen im Bereich Öko-Tourismusmanagement liegt der Anteil der „nachhaltigen“ ECTS-Punkte sowohl auf Bachelor- wie auch auf Masterniveau deutlich höher als in den eher allgemeinen beziehungsweise nicht ökologisch ausgerichteten Studiengängen. Die in Tabelle 1 berücksichtigten Hochschulen, Studiengänge und Module einschließlich der jeweiligen ECTS-Punkte sind in Tabelle 2 genannt.

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Hermann Knödler

Berücksichtigte Hochschulen, Studiengänge und Module zu Tabelle 1 (* Anteilig; ** Wahlpflichtmodul; *** Bei 210 ECTS: 30 Praxis-ECTS nicht berücksichtigt, d.h. Basis = 180 ECTS) Hochschule, Studiengang, “nachhaltige” Module, ECTS-Punkte Abschluss

Allg. Management od. nichtökologische Vertiefungen

Öko-Tourismusmanagement

Bachelor (180 ECTS) ***

FH Worms, Int. Management [Corporate Social Responsibility 3]

HWTK Berlin, Business Administration/HuT [Ethik 2, CSR und Nachhaltigkeit in der Hotellerie 1,5]

FH Worms, Steuerlehre [Wiss. Arbeiten und Wirtschaftsethik 3*] FH Pforzheim, Personalmanagement [Ethik und gesellschaftliche Verantwortung 6**] FH Koblenz, Business Administration [0] FH Offenburg, Betriebswirtschaft [0] DHBW Stuttgart, BWL Finanzdienstleistungen [Wirtschaftsethik 8**] FH Würzburg-Schweinfurt, Betriebswirtschaft [0]

FH Worms, Tourism and Travel Management [0] CBS Cologne Business School, International Tourism Management [Business Ethics 3**, Sustainable Tourism 3**] FH München, Tourismus Management [0] FH Heilbronn, Tourismusmanagement [Wirtschaftsethik 2,5; Nachhaltiges und interkulturelles Tourismusmanagement 2,5]

FH Albstadt-Sigmaringen, Betriebswirtschaft [0] Master (90 od. FH Worms, Taxation [90 ECTS; 0] 120 ECTS) FH Pforzheim, Human Resources Management [Nachhaltigkeit und CSR im HRM, 3] FH Koblenz, Business Management [Wirtschaftsethik und Philosophie, 6**] FH Offenburg, International Business Consulting [90 ECTS; 0]; Businessmanagement Dienstleistungen [0] FH Würzburg-Schweinfurt, International Business [90 ECTS; 0] FH Albstadt-Sigmaringen, Betriebswirtschaft und Management [90 ECTS; Wirtschaftsethik, 3]

FH Worms, MBA International Tourism Management [90 ECTS; 0] FH München, Tourismus Management [0] Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde, Nachhaltiger Tourismus [Grundlagen des nachhaltigen Destinationsmanagements 6, Nachhaltiges Unternehmensmanagement 6, Planung nachhaltiger Fachexkursionen 2, Cultural Tourism and Sustainability 2, CSR in Tourism 6]

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft

15

Selbstverständlich enthalten auch Module, die sich nicht speziell Nachhaltigkeitsaspekten widmen, stellenweise und je nach Lehrenden entsprechende Inhalte. Die Auswahl der berücksichtigten Studiengänge ist primär an der Verfügbarkeit entsprechender Modulkataloge ausgerichtet und außerdem nicht nach Studierendenzahlen gewichtet, liefert aber dennoch einen Einblick in den formalen Stellenwert von „nachhaltigen“ Lehrveranstaltungen in Wirtschaftsstudiengängen.

3.3

Wirtschaft als Transmissionskanal für mehr Nachhaltigkeit?

Wegen der unmittelbaren und spürbaren Wirkungen eines nachhaltigeren Handelns im Bereich der Wirtschaft auf Miko- und Makroebene lässt sich der Bereich Wirtschaft als Transmissionskanal für den oft postulierten Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit auffassen. Dadurch wird die besondere Rolle der Wirtschaft für ein erfolgreiches Nachhaltigkeitsmanagement deutlich: Wirtschaften im Sinne von Produktion und Konsum löst einerseits viele nachhaltigkeitsbezogene Zielkonflikte aus und stellt daher andererseits auch einen wesentlichen Ansatzpunkt zur Lösung der aktuellen nachhaltigkeitsbezogenen Herausforderungen dar. Oft werden die Ansatzpunkte für mehr Nachhaltigkeit im Bereich der Produktion gesehen, d.h. als wesentliche Akteure werden Unternehmen identifiziert. Dass dies nur eine Seite der Medaille ist, wird gerne übersehen, da den produzierten Waren und Dienstleistungen auch eine entsprechende Nachfrage gegenübersteht, letztlich also in erster Linie der private Konsum beziehungsweise die Konsumgewohnheiten der Haushalte. Der Transmissionskanal Wirtschaft wirkt sowohl auf mikroökonomischer als auch auf makroökonomischer Ebene. Die Summe einzelwirtschaftlicher Entscheidungen über Produktion und Konsum schlägt sich in gesamtwirtschaftlichen Nachhaltigkeitseffekten nieder. Ansatzpunkte für mehr Nachhaltigkeit bieten sich insbesondere durch Projekte zur Förderung ethisch korrekten Verhaltens auf einzelwirtschaftlicher Ebene. Solche Projekte können sowohl auf betriebliche Entscheider in Unternehmen als auch auf Verbraucher gerichtet sein. Diese Überlegungen sind in Abbildung 4 zusammengefasst. Die dort dargestellte Rolle der Wirtschaft als Transmissionskanal für eine effektive Umsetzung des Nachhaltigkeitsmanagements stellt keinen Ausdruck des Primats der Wirtschaft dar, sondern verdeutlicht nur die herausgehobene Rolle des Wirtschaftens auf Angebots- und Nachfrageseite, wenn es um Nachhaltigkeitsfragen geht. Im politischen Prozess spielen Nachhaltigkeitsthemen in jüngster Zeit eine wachsende Rolle, d.h. das Abstimmungsverhalten von Wählern scheint verstärkt ethische Überlegungen einzubeziehen. Gerade auf der Mikroebene bieten sich zahlreiche Ansatzpunkte wie etwa Projekte oder Kampagnen, die ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit schaffen können, oder aber Anregungen für die bewusste Auswahl von Anbietern geben, die sich der

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Hermann Knödler

Nachhaltigkeit verpflichtet haben. Umgekehrt könnte man überlegen, ob nicht der bewusste Boykott von Anbietern, die gegen Nachhaltigkeitsstandards verstoßen, ebenfalls einen Ansatzpunkt aufzeigt, um durch eine „Abstimmung mit dem Geldschein“ langfristig denjenigen Geschäftsmodellen zum Erfolg zu verhelfen, die Nachhaltigkeit versprechen. Wirkungsbereiche der Nachhaltigkeitsdebatte

Wachsende Handlungswirksamkeit der Ethik

Makro-Wirkungen

Gesamtwirtschaftliche Größen, z.B. Sozialprodukt, Preisniveau

Gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen, z.B. Gesetze

Mikro-Wirkungen

Produktionsentscheidungen (Unternehmen) und Projekte

Konsumentscheidungen (Haushalte) und Projekte

Ökologische und soziale Nachhaltigkeit

Abbildung 4: Wirkungsbereiche der Nachhaltigkeitsdebatte

Einen Dämpfer erhalten solche Überlegungen, wenn man die Verhaltenswirksamkeit des Wunsches nach mehr Nachhaltigkeit den tatsächlichen Konsumentscheidungen gegenüberstellt: Eine Befragung australischer Konsumenten für den Untersuchungszeitraum 2001 bis 2013 ergab beispielsweise, dass sich zwar rund 20% der Befragten für den nächsten Urlaub eine Ökotourismus-Erfahrung wünschten, dass aber nur 1% der Befragten bei ihrem letzten Urlaub tatsächlich Ökotourismus gebucht hatten (Roy Morgan Research 2013). Diese Ergebnisse waren in dem mehr als zehnjährigen Untersuchungszeitraum erstaunlich konstant. Vor diesem Hintergrund darf bezweifelt werden, dass die in staatlichen Programmen mit eher empfehlendem Charakter genannten Maßnahmen und Hoffnungen tatsächlich kurz- bis mittelfristig zu Verhaltensänderungen führen (vgl. etwa Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, 2019: 6264; Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018: 25).

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft

4

17

Effektive Umsetzung des Nachhaltigkeitsmanagements

Eine Prüfung des Nachhaltigkeitsmanagements auf dessen effektive Umsetzung scheint aus wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Perspektive schwer durchführbar, da sowohl die zweckmäßige Festlegung eines zu untersuchenden Zeithorizonts als auch teils sich widersprechende Ziele der beteiligten Akteure die Prüfung erschweren. Außerdem mögen für Politik, Wirtschaft (Unternehmen) und Gesellschaft (Haushalte) unterschiedliche Effektivitätskriterien gelten. Während beispielsweise Politiker und Parteien letztlich auf Wählerzustimmung fokussiert sind, werden Unternehmen bestenfalls langfristig ihre Gewinne maximieren beziehungsweise ihre Geschäftsmodelle entsprechend transformieren und die Haushalte ihre individuelle Wohlfahrt maximieren oder zumindest sichern. Wenn daher an dieser Stelle keine allgemeingültigen Kriterien für effektives Nachhaltigkeitsmanagement bestimmt werden können, dann sollen zumindest einige der im vorliegenden Sammelband dargestellten relevanten Erfolgsfaktoren beziehungsweise Herausforderungen beschrieben werden: 



Der Beitrag von Garmer thematisiert die Herausforderungen, die technologischer Fortschritt für das Nachhaltigkeitsmanagement und die Entwicklung einer nachhaltigen Ethik auslösen. Künstliche Intelligenz nimmt dem Menschen viele Entscheidungen ab, beispielsweise beim Autofahren, bei der Personalauswahl und bei der Nutzung von Big Data. Hier entsteht ein rechtlicher Regelungsbedarf, der nur dann nachhaltig akzeptiert werden wird, wenn entsprechende Regeln den technischen Fortschritt nicht behindern und gleichzeitig nicht in den Verdacht geraten, nur der Durchsetzung von Gruppeninteressen zu dienen. Im Beitrag von Müller-Christ/Sohn wird ein konkretes Projekt vorgestellt, um nachhaltiges Wirtschaften für Unternehmen erfahrbar zu machen und Führungskräfte zu sensibilisieren. Dabei werden an der Universität Bremen ausgewählte Geschäftsprozesse mit Hilfe eines Erfahrungsraums (Sustainable Business Development Space) dargestellt, der real durchlaufen werden kann bis hin zu einer Phase der Reflexion von Geschäftsmodellentwicklung. Damit wird das Lernen von Führungskräften als ein wichtiger Aspekt des Nachhaltigkeitsmanagements herausgestellt. Es kommt darauf an, sich von kurzfristigen Gewinnmaximierungsstrategien zu lösen und eine andere, längerfristige und gesamtheitliche Perspektive anzunehmen. Wandel setzt also Lernprozesse auch und gerade für das Management voraus.

18 







Hermann Knödler

Im Beitrag von Schramm wird der multidisziplinäre Aspekt der Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt gerückt: Einzelwissenschaften sehen das Untersuchungsobjekt durch die Brille der jeweiligen Disziplin, denn ausdifferenzierte Modelle entsprechen letztlich nicht der untersuchten Realität. Im Rahmen der Business Metaphysics wird deutlich, dass Unternehmen als eine lange Reihe von einzelnen Ereignissen aufgefasst werden können, beispielsweise Transaktionen. Dabei entstehen zwischen den wirtschaftlichen Ereignissen und der moralischen Dimension ständig neue Herausforderungen. Dieses „Sich bewusst werden“ stellt einen wichtigen Aspekt auf dem Weg zu einem effektiven Nachhaltigkeitsmanagement dar. Der Beitrag von Suchanek zeigt, dass es bei Nachhaltigkeit aus ethischer Perspektive immer auch um einen normativen Kontext in Verbindung mit der Verlässlichkeit hinsichtlich der Verhaltenserwartungen von beteiligten Akteuren geht. Ohne Verlässlichkeit entstehen Transaktionskosten, da die Beteiligten stetig an Alternativstrategien infolge potentiell unzuverlässiger oder unberechenbarer Akteure arbeiten müssen. Der Aspekt der Gemeinsamkeit spiegelt den Kooperationsgedanken wider, d.h. es müssen Akteure mit unterschiedlichen Zielsetzungen in einen Nachhaltigkeitskontext eingebunden werden. Kurzfristiges Denken durch kurzfristige Anreize verhindert den Aufbau von Vertrauen. Ein ethischer Kompass fasst die wesentlichen Aspekte von Nachhaltigkeit unter dem Kriterium, möglichst wenig langfristigen Schaden anzurichten, zusammen. Auf die Bedeutung von Spielregeln wird hingewiesen, denn hier besteht ein Kernproblem, weil auch Anreize zur Nichteinhaltung von Regeln existieren, um individuelle Ziele zu verfolgen. Den scheinbar unauflöslichen Konflikt zwischen Moral und Wirtschaft untersucht der Beitrag von Gabriel. Durch die zunehmend anonymisierten Transaktionen schwindet der Anreiz zu moralisch korrektem Verhalten. Wirtschaftsethisch wünschenswert ist es, wenn Unternehmen Anreize haben, sich moralisch korrekt zu verhalten. Hierzu müssen durch den Staat die entsprechenden verbindlichen Regeln durchgesetzt werden. Eine wieder stärkere Verbindung von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne einer integrativen Wirtschaftsethik könnte diesen Konflikt auflösen. Dass sich das gesellschaftliche Ringen und das Bemühen um mehr Nachhaltigkeit auch in rechtlichen Vorschriften niederschlagen, zeigt der Beitrag von Schuster, in dem der Deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) dargestellt wird. Auch auf EU-Ebene ist das Thema noch immer aktuell, wie eine EU-Richtlinie vom Dezember 2014 zeigt: Deutsche berichtspflichtige Unternehmen können hierbei auf den DNK zurückgreifen, um ihre Nachhaltigkeitsberichte zu veröffentlichen. Dadurch sind Unternehmen zumindest gezwungen, verstärkt

Nachhaltigkeitsmanagement zwischen Wirtschaft, Ethik, Politik und Gesellschaft

19

über Nachhaltigkeit nachzudenken und dies auch in eine Form zu bringen, die öffentlich kommuniziert wird. Daraus mag sich ein gewisser Druck aufbauen, wenn eine kritische Öffentlichkeit die Unternehmen daran misst. Die vorigen Ausführungen illustrieren, dass Nachhaltigkeitsmanagement als Ganzes für Volkswirtschaften, Branchen oder Regionen kaum auf Effektivität zu prüfen ist. Gleichwohl lassen sich partiell entsprechende Regeln, Kriterien und ethische Maßstäbe für einzelne Unternehmen oder Haushalte ableiten, um Nachhaltigkeitsmanagement partiell zu evaluieren oder in der Praxis zu verbessern. Im Wechselspiel des Nachhaltigkeitsmanagements zwischen Ethik, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft lässt sich abschließend festhalten, dass Nachhaltigkeitsmanagement umso effektiver ist, je stärker ethische Prinzipien, die von der Politik aufgegriffen werden können, bei Haushalten und Unternehmen verankert sind.

Literaturverzeichnis Baringhorst, S./Lefèvre, J./Menz, V./Probst, M. (2017): Digitalisierung und Nachhaltigkeit in mittelständischen Unternehmen. Bertelsmann Stiftung (2014): Nachhaltigkeitsstrategien erfolgreich entwickeln. Strategien für eine nachhaltige Zukunft in Deutschland, Europa und der Welt. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) (2019): Nationales Programm für nachhaltigen Konsum. Gesellschaftlicher Wandel durch einen nachhaltigen Lebensstil. 3. Auflage. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2018): Nachhaltigkeitspolitik ist Modernisierungspolitik. Ressortbericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zur Umsetzung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie; Geschäftsstelle Ressortkoordination Nachhaltigkeit. Stand: 18. Oktober 2018. Roy Morgan Research (2013): „Ecotourism remains a dream for too many”. Press Release from July 19, 2013. http://www.roymorgan.com/findings/ecotourismremains-dream-for-too-many-201307182317 [2019-04-10]. Wall, A./Behr, F. (2010): Ein Ansatz zur Messung der Nachhaltigkeit von Events. Kernziele eines Nachhaltigkeitsmanagements von Events und Indikatoren zur Messung der Nachhaltigkeit. Lüneburg: Leuphana Universität Lüneburg; Centre for Sustainability Management (CSM) e.V.

Zur Relevanz der Digitalisierung, Globalisierung und Geschäftsmodelltransformation für das Nachhaltigkeitsmanagement Christian Arnold, Sonja Keppler und Martin Reckenfelderbäumer



Einleitung .................................................................................................... 21 



Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement ............................ 24  2.1  2.2  2.3 



Globalisierung .................................................................................. 27  Digitalisierung.................................................................................. 27  Geschäftsmodelltransformation ....................................................... 28 

Ausgewählte strategische und umsetzungsbezogene Aspekte des Nachhaltigkeitsmanagements ...................................................................... 29  3.1  3.2  3.3 

Leistungstheoretische und serviceorientierte Perspektive ................ 29  Geschäftsmodellperspektive ............................................................ 29  Funktionale Perspektive ................................................................... 30 



Schlussfolgerungen ..................................................................................... 30 

1

Einleitung

Zweifelsohne wird der Begriff Nachhaltigkeit in den gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen, ethischen, ökonomischen und sonstigen Diskursen gerne verwendet – schon weil er mit positiven Attributen ausgestattet ist und sich eignet, die „Bedeutung“, die „Verantwortung“ oder gar die „Moral“ der eigenen Position herauszustellen. Der vorliegende Sammelband betrachtet Nachhaltigkeit partialanalytisch, vorrangig im Kontext betriebswirtschaftlicher Problemstellungen. Die damit verbundenen Anforderungen gehen allerdings auch hier nur dann mit weitreichenden Konsequenzen für das Management konkreter Einzelwirtschaften einher, wenn

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_2

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Christian Arnold, Sonja Keppler und Martin Reckenfelderbäumer

Nachhaltigkeit nicht als Kampfbegriff, als leicht zu instrumentalisierende Floskel oder als modisches Buzzword verstanden wird. Ist dies der Fall, muss geklärt werden, welche Bedeutungsinhalte dem Phänomen in der betrachteten Domäne zuzuschreiben sind. Laut Duden (2019) handelt es sich entweder um ein de facto normfreies Phänomen, nämlich um eine längere Zeit anhaltende Wirkung oder um ein normatives Prinzip, das eine Balance zwischen Ressourcenproduktion und Ressourcenverbrauch fordert. Schließt man sich der letztgenannten Sichtweise an, dann beschränken sich die konkreten Aufgaben des Nachhaltigkeitsmanagements auf eine langfristig angelegte und ressourcenneutrale Wertschöpfung und zwar sowohl im Rahmen der Schöpfung von Tauschwert (Value-in-Exchange), als auch im Zuge der Gebrauchswertschöpfung (Value-in-Use). Zwar findet sich dieser historische Kern des Nachhaltigkeitsgedankens bereits bei von Carlowitz (1732), betrachtet man aber den gegenwärtig akademisch und/ oder praktisch geprägten Diskurs, ist leicht festzustellen, dass zahlreiche Beiträge und Ideen offenbar von der erstgenannten (normfreien) Begriffsbelegung ausgehen, diese aber doch mit Normen ausstatten und damit eine scheinbar einfache, aber tatsächlich hoch komplexe Frage aufwerfen: Welche Wirkungen sollen (oder strenger: dürfen) Einzelwirtschaften hervorbringen und welche sollen (dürfen) nicht hervorgebracht werden? Dies impliziert für das Management konkreter Einzelwirtschaften quasi unausweichlich eine Auseinandersetzung mit den Ursachen der gewünschten (oder unerwünschten) Wirkungen. Es kann daher nicht überraschen, dass zahlreiche Ideen, Richtlinien, Konzepte, Methoden, Strategien und Maßnahmen diskutiert werden, die eine breit und tief angelegte Sichtweise auf das Phänomen der Nachhaltigkeit erfordern und mit facettenreichen, teils konkurrierenden Aufgaben für das Management verbunden sind. Als Beispiel mag der Begriff Corporate Social Responsibility (CSR) dienen, der in den zurückliegenden Dekaden zu einem quasi ubiquitären Schlagwort avancierte (Campbell 2007). Dennoch oder gerade deswegen fällt es schwer, CSR inhaltlich exakt zu bestimmen und die zahlreich zugeschriebenen Facetten stimmig zu ordnen (Dahlsrud 2008). Ein häufig referenziertes Schichtenmodell findet sich bei Caroll 1991, das sich aus den mehr oder weniger hierarchisch geordneten Ebenen    

ökonomische Verantwortung, gesetzliche Verantwortung, ethische Verantwortung und philanthropische Verantwortung

zusammensetzt. Dahlsrud 2008 identifiziert mittels Literaturanalyse die konstitutiven Merkmale

Zur Relevanz der Digitalisierung, Globalisierung und Geschäftsmodelltransformation

    

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Environment (natural environment), Voluntariness (actions not prescribed by law), Economic (socio-economic or financial aspects), Social (relationship between business and society) und Stakeholder (people who are linked with the company),

wobei den beiden letztgenannten Eigenschaften besondere Relevanz zugeschrieben wird. Akzeptiert man einerseits die Komplexität der mit nachhaltiger Produktion und nachhaltigem Ressourcenverbrauch oder CSR (und verwandten Ansätzen wie Tripple-Bottom-Line) einhergehenden Management-Herausforderungen und berücksichtigt andererseits die konkreten Problemstellungen der einzelwirtschaftlichen Praxis, dann müssen die dort vorherrschenden Rahmenbedingungen in die Überlegungen zur Ausgestaltung nachhaltiger Verhaltensmuster einbezogen und in Einklang gebracht werden. Neben der anhaltenden Globalisierung zwingt vor allem die in disruptiven Schüben voranschreitende Digitalisierung Einzelwirtschaften zu einer Transformation tradierter Geschäftsmodelle. Würde das handelnde Management diese Megatrends ignorieren, wäre die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit unmöglich: Nachhaltigkeitsmanagement kann nicht isoliert von den konkret anzutreffenden Rahmenbedingungen stattfinden, vielmehr muss eine stimmige Synthese zwischen Wettbewerbsposition und Nachhaltigkeit gefunden werden, damit letztere tatsächlich nachhaltig ist. Dieser Gedankengang mag irritieren, als engsichtig betrachtet werden und ablehnende Reaktionen auslösen. Daher sei das Fundament der Argumentation benannt:  



Nachhaltigkeit ist keine Wirtschaftssystemfrage und innerhalb marktwirtschaftlicher Strukturen umsetzbar. Eine konkurrenzfähige Position an einem marktwirtschaftlich organisierten Markt ist notwendig, um die langfristige Überlebensfähigkeit konkreter Einzelwirtschaften zu sichern. Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit können in einem Spannungsfeld zueinanderstehen, das aber nicht unüberwindbar ist.

Geht man von diesen Annahmen aus, dann ist die logische Konsequenz: Verantwortung, sei sie sozialer oder ökologischer Natur und umgesetzt mittels Nachhaltigkeitsmanagement, muss komplementär zu dem Streben nach einer stabilen Wettbewerbsposition sein. Ist dies nicht der Fall, kann sich die Einzelwirtschaft nicht langfristig am Markt behaupten und somit nicht langfristig verantwortungsvoll handeln, was das Streben nach Nachhaltigkeit ad absurdum führen würde. Mit anderen Worten, Nachhaltigkeitsmanagement ist dann nicht pathologisch, wenn es nicht die

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Christian Arnold, Sonja Keppler und Martin Reckenfelderbäumer

Überlebensfähigkeit der Einzelwirtschaft zerstört: Suizidale Forderungen an Einzelwirtschaften sind weder zielführend, noch hilfreich und weder einzel-, noch gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Dies bedeutet aber nicht, dass das Management von Einzelwirtschaften ausschließlich die Wettbewerbsposition als Entscheidungsfindungskriterium zugrunde legen soll, vielmehr sind konkrete Ziele, Strategien und Maßnahmen sorgfältig mittels ethisch fundierter Überlegungen zu reflektieren und im Zweifelsfall zu justieren. Vor diesem – hier nur grob skizzierten – gedanklichen Hintergrund haben die Herausgeber des vorliegenden Bandes den in Punkt 2 in leicht geänderter Form abgedruckten Call for Chapters (Arnold et al. 2018) initiiert. In Punkt 3 findet sich der Versuch, die Erkenntnisse, Ideen und Konzepte der zum Kapitel 3 des vorliegenden Buches beitragenden Autoren zu würdigen. Der abschließende Punkt 4 liefert einige Schlussfolgerungen aus der Perspektive der Herausgeber.

2

Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement

Corporate Social Responsibility (CSR), grob verstanden als die auf ethischen Prinzipien beruhende und prinzipiell freiwillige Verhaltensregulierung einer Institution gegenüber der In- und Umwelt (Jones 1980), basiert auf einem normativen Fundament, das tradiertes Geschäftsgebaren in Frage stellt, aber auch Impulse für die Evolution von Geschäftsmodellen bereithält. Die Gestaltung, Steuerung und Entwicklung sozialverantwortlicher Verhaltensmuster zur Umsetzung des CSR-Gedankens (im weiteren Nachhaltigkeitsmanagement) mag damit zwar auch aus konservativbetriebswirtschaftlicher Sicht positive Beiträge für Einzelwirtschaften leisten, dennoch ist zu attestieren, dass zahlreiche Empfehlungen und Forderungen (bspw. ISO 26000, siehe Abbildung 1) nur bedingt kompatibel mit etablierten Management Techniken sind, in deren Zentrum das Denken in Wettbewerbsvorteilen steht (Porter 1985) und kostenwirtschaftliche Überlegungen einschließt. Es kann daher wenig überraschen, dass die praktische Umsetzung mit erheblichen Hürden verbunden ist: Die Internalisierung negativer externer Effekte durch Nachhaltigkeitsmanagement geht kurzfristig mit Kostennachteilen einher, während die Externalisierung negativer externer Effekte kurzfristig Kostenvorteile gegenüber den nachhaltig agierenden Wettbewerbern eröffnet. Die Implementierung von Nachhaltigkeitsmanagement in Einzelwirtschaften kann aus der Makroperspektive als Schaffung eines Kollektivgutes „Nachhaltigkeit“ aufgefasst werden, von dem wohlfahrtstheoretisch alle Akteure langfristig profitieren.

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Geschäftsmodelltransformation

Umwelt Kundenanliegen

Faire Geschäftspraktiken

Arbeitspraktiken Einbindung & Entwicklung der Gesellschaft

Globalisierung

Menschenrechte

Digitalisierung

Zur Relevanz der Digitalisierung, Globalisierung und Geschäftsmodelltransformation

Abbildung 1: Handlungsfelder in Anlehnung an ISO 26000, Globalisierung, Digitalisierung und Geschäftsmodelltransformation

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Christian Arnold, Sonja Keppler und Martin Reckenfelderbäumer

Betrachtet man die dezentrale Planung und Koordination von Wirtschaftsprozessen als gegeben und sinnvoll, dann muss auch das Merkmal des Wettbewerbs als obligatorisch angesehen werden (von Hayek 1944). Das Streben nach einzelwirtschaftlichen Wettbewerbsvorteilen ist unter diesen Rahmenbedingungen nicht nur legitim und systeminhärent, sondern zumindest insofern eine Voraussetzung für nachhaltiges Handeln, da de facto nur Wettbewerbsvorteile die Überlebensfähigkeit der Einzelwirtschaft ermöglichen (Porter 1985). Es mag daher behauptet werden: Je stärker die Wettbewerbsposition, desto höher die Fähigkeit zur Implementierung sozial verantwortlicher Verhaltensmuster. Diese Logik greift aber schon deswegen zu kurz, weil aus ethischem Blickwinkel schwerlich gelten kann: Je schwächer die Wettbewerbsposition, desto geringer die gesellschaftliche Verantwortung. Dabei muss immer auch bedacht werden, dass eine Einzelwirtschaft nur dann über Vorteile im Wettbewerb verfügt, wenn entsprechende Leistungseigenschaften aus Sicht der Kunden wahrnehmbar und relevant sind. Marktprozesse folgen insofern dem Rekursprinzip: Eine Unternehmung kann ihre eigenen Ziele nur dann erreichen, wenn sie einen Beitrag zur Lösung der Probleme des Kunden und damit zur Erreichung seiner Ziele leistet. Aus der betriebswirtschaftlichen Perspektive ist daher zu ergänzen: (1) Sozial verantwortliches Handeln kann mit Wettbewerbsvorteilspotenzialen einhergehen, nicht verantwortliches Handeln mit Wettbewerbsnachteilen. (2) Gewünschte Verhaltensmuster können dann wettbewerbsneutral implementiert werden, wenn sie eine sanktionsbefähigte Instanz für die gesamte Branche einfordert. Somit eröffnen sich mindestens zwei Stoßrichtungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, die auch mit der klassischen kaufmännischen Logik vereinbar sind: 

Umweltinduzierte Regulierung durch sanktionsbefähigte Instanzen (OutsideIn): Stakeholder können mithilfe ihrer Machtpositionen auf das Kosten-Nutzen Kalkül der Einzelwirtschaft einwirken. So können Marktstufenpartner (Kunden und Lieferanten) ein nicht sozial verantwortliches Handeln durch Boykott bzw. durch Boykott-Androhung bestrafen. Für Kapitalgeber ist ein Renditeverzicht möglich, um so die Kapitalkosten der Einzelwirtschaft zu reduzieren, womit sich Spielräume zur Implementierung erwünschter Verhaltensmuster eröffnen. Die Sanktionierung nicht erwünschter Verhaltensweisen durch staatliche Einrichtungen mag ebenfalls ein Mittel des Eingriffs darstellen, wodurch allerdings der Aspekt der Freiwilligkeit in den Hintergrund und regulatorische Instrumente in den Vorderrund rücken.



Inweltinduzierte Selbstregulierung (Inside-Out): Gelangt das Management zur Überzeugung, dass die Übernahme sozialer Verantwortung mit positiven Effekten (z. B. höhere Mitarbeitermotivation) einhergeht, dann reduziert sich die

Zur Relevanz der Digitalisierung, Globalisierung und Geschäftsmodelltransformation

27

Problematik auf ein einfaches Kosten-Nutzen-Kalkül. Versteht die Einzelwirtschaft Nachhaltigkeit als Kernkompetenz, dann können sich hieraus umweltbezogene Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, was aber selbstredend voraussetzt, dass es sich hierbei tatsächlich um eine Kernkompetenz mit Wettbewerbsvorteilscharakter handelt (Barney 1991). Darüber hinaus drängt sich die Frage auf, ob das Denken in Wettbewerbsvorteilskategorien im Sinne klassischer Management-Techniken dysfunktionale Eigenschaften aufweist, die eine nachhaltige Wohlfahrt letztendlich sogar behindern. So mögen stärker an ethischen Grundsätzen ausgerichtete Management-Ausbildungsprogramme den Blick für langfristige Erfolgsbedingungen schärfen und bspw. den Gedanken des Shared Value (Porter/Kramer 2011) bei den zukünftigen Manager-Generationen verankern. Auch die Perspektive des Social Entrepreneurship bietet hier Ansatzpunkte.

2.1

Globalisierung

Die voranschreitende Verflechtung der Weltwirtschaft geht mit mannigfachen Chancen und Risiken für Einzelwirtschaften einher, die wiederum Einfluss auf das Nachhaltigkeitsmanagement ausüben. Beispielhaft seien genannt: 



2.2

Staatenspezifische Sanktionen nicht nachhaltigen Handelns belasten die betroffenen Einzelwirtschaften und lösen kreative Problemlösungsprozesse aufseiten des Managements aus. Sanktionsfreie Volkswirtschaften mögen sogar über Standortvorteile verfügen, womit überstaatliche Instanzen in den Blickpunkt rücken müssen. Kapitalgeber und Marktstufenpartner sind in spezifische kulturelle Umfelder eingebunden; die Intensität der Wertschätzung sozial erwünschter Verhaltensweisen ist unterschiedlich ausgeprägt. Ähnliches gilt für die interne Dimension der globalisierten Einzelwirtschaft: Soziale Vielfalt gilt es konstruktiv zu würdigen und im Sinne eines Diversity-Managements aufzugreifen.

Digitalisierung

Ein Ende der zunehmenden Durchdringung der Gesellschaft mit Informationstechnologien ist nicht absehbar, vielmehr scheint die Gegenwart sogar nur eine Übergangsphase darzustellen, die durch eine nachhaltige Veränderung der MenschComputer-Beziehung gekennzeichnet werden kann. Neben M-Commerce und

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Christian Arnold, Sonja Keppler und Martin Reckenfelderbäumer

Social Media rücken vermehrt smarte und lernfähige Informationstechnologien in den Vordergrund, die erstens sehr große, dezentral abgelegte, fehlerbehaftete und kontextgebundene Datenströme verknüpfen und zweitens algorithmenbasierte Inferenzen durchführen, die autonome Entscheidungsfindungs- und Ausführungsprozesse in Echtzeit ermöglichen. Diese Fähigkeiten versprechen sowohl interne Leistungssprünge als auch ubiquitäre Kommunikationschancen mit und zwischen den Stakeholdern. Letztgenannter Punkt führt dazu, dass sich sozial unerwünschtes Verhalten schnell und im Zweifel unkontrollierbar über zahlreiche elektronische Kanäle verbreitet und mindestens negative Image-Effekte auslöst. Andererseits können Stakeholder in verschiedenste Prozesse integriert werden, was neue Formen der Shared Social Responsibility (Gneezy et al. 2010) gestattet. Gefordert sind hier aber auch besondere Kompetenzen im Bereich der Personalführung im Sinne von Digital Leadership.

2.3

Geschäftsmodelltransformation

Die tradierte Logik des Produktionsmanagements basiert auf Spezialisierung, Normierung, Automatisierung und Massenfertigung möglichst homogener Produkte mit dem Ziel der Tauschwertschöpfung (Gutenberg 1958). Globalisierung und Digitalisierung beeinflussen diese Geschäftsmodelle insofern maßgeblich, da Stakeholder ein immer höheres Maß an Individualisierung bzw. Integration einfordern. Das geschäftliche Gebaren von Einzelwirtschaften wird grenzübergreifend transparent. Die Gefahr nicht intendierter Effekte durch sozial unerwünschtes Verhalten wächst: Die Ausgestaltung der Organisationsführung, die Achtung der Menschenrechte, die Arbeitspraktiken, die Achtung der Umwelt, die Fairness des Geschäftsgebarens, die Anliegen der Kunden und die Einbindung der Gemeinschaft (ISO 26000) avancieren damit zu einzelwirtschaftlichen Kernthemen (siehe ergänzend Abbildung 1) – sei es zur Vermeidung negativer Effekte oder zum Auf- und Ausbau von Alleinstellungsmerkmalen. Neue Geschäftsmodelle entstehen z. B. im Bereich des Online-Marketings und zielen darauf ab, Kundenströme gezielt an den Meistbietenden umzuleiten.

Zur Relevanz der Digitalisierung, Globalisierung und Geschäftsmodelltransformation

3

3.1

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Ausgewählte strategische und umsetzungsbezogene Aspekte des Nachhaltigkeitsmanagements Leistungstheoretische und serviceorientierte Perspektive

Hermann Knödler und Swantje Martach diskutieren in ihrem leistungstheoretisch inspirierten Beitrag zur „Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie: Das Prosumer-Phänomen als Externalität im Konsum“ Kundenintegration als einen Spezialfall externer Effekte, der positiv in die Sphäre des Produzenten einwirkt. Sie konstatieren, dass Kundeneinbindung in erster Linie zu Kundenbindung und zu Ressourceneinsparungen im Zuge der Produktion führt, was – wenn adäquat koordiniert und durchgeführt – mit positiven Nachhaltigkeitseffekten einhergeht. Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer interpretieren in ihrem Beitrag „Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten aus Sicht der Leistungstheorie“ Nachhaltigkeit als ressourcenschonende Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten. Sie postulieren, dass eine dichotome Aufgabenzuordnung dysfunktional und logisch falsch ist. Vielmehr verstehen sie die Verantwortung für die Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten als gemeinsame Aufgabe der beteiligten Marktpartner. Nachhaltigkeit liegt aus dieser Sicht dann vor, wenn die Erstellungs- und Nutzungsprozesse sowohl für den Anbieter, als auch für den Nachfrager wertschöpfend sind und keine Wertvernichtung in der Sphäre der Umwelt stattfindet. Christian Arnold behauptet in seinem Kurzbeitrag „Promise Management als Konzept für ein nachhaltiges Nachhaltigkeitsmanagement“, dass Nachhaltigkeit für die Stakeholder nicht nur relevant ist, sondern weiter an Relevanz gewinnen wird. Nachhaltigkeit ist daher ein Wertversprechen an die Stakeholder, das zu entwickeln, zu kommunizieren und einzuhalten ist, um so Vertrauen aufzubauen und die langfristige Überlebensfähigkeit der Einzelwirtschaft zu ermöglichen.

3.2

Geschäftsmodellperspektive

Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert thematisieren im Rahmen ihres Beitrags zu „Global Business Models and the Social Responsibility of Multinational Enterprises: Challenges and Solutions“ die Architektur der Wertschöpfung globaler Geschäftsmodelle. Sie betonen die Verantwortung von Einzelwirtschaften über alle Marktstufen hinweg und stellen fest, dass es nicht legitim sein kann, nicht nachhal-

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Christian Arnold, Sonja Keppler und Martin Reckenfelderbäumer

tige Praktiken mithilfe konkreter Machtkonstellationen auszulagern. Vielmehr ist die Lieferkette Teil des Geschäftsmodells und daher im Verantwortungsbereich global agierender Einzelwirtschaften zu verorten. Isabelle Schluep erarbeitet in ihrem Beitrag „Prinzipienorientierte Einbettung als Beitrag der Unternehmen zu nachhaltigem und inklusivem Wachstum“ die Bedeutung ökonomiekonformer Verhaltensmuster und arbeitet heraus, dass das Wohlergehen der lokalen Bevölkerung und eine intakte Umwelt sehr wohl im langfristigen Eigeninteresse multinationaler Unternehmen stehen kann und soll. Inklusives Wachstum bedeutet aus dieser Sicht, dass die Erträge aus einem wirtschaftlichen Aufschwung nicht nur Investoren zugutekommen können, sondern bei möglichst allen Menschen ankommen müssen.

3.3

Funktionale Perspektive

Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann und Florian Anderhuber beschäftigen sich mit dem Thema „Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie“ und stellen die potenziell funktionale Bedeutung moderner Blockchain-Technologien am Beispiel der Metall-Industrie in das Zentrum ihrer Ausarbeitung. Mithilfe einer explorativen Studie stellen sie fest, dass die Multi-Metall-Zertifizierung auf Basis der Blockchain-Technologie einen positiven Beitrag für den Nachweis der Nachhaltigkeit liefern kann. Die Anwendbarkeit wird hingegen kritischer beurteilt; dennoch schlussfolgern sie, das Nutzen und Implementierungsaufwand in einem adäquaten Verhältnis zueinanderstehen. Bernd Walzer und Michael Müller-Camen erarbeiten in ihrem Beitrag zur „Nachhaltigkeit im Personalmanagement“ die Bedeutung des Personalbereichs, um den Gedanken der Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit von Einzelwirtschaften in Einklang zu bringen. Sie zeigen mithilfe einer Fallstudie auf, dass die Implementierung einer demokratischen Organisationsform funktional ist, um ein nachhaltiges Personalmanagement bei Einzelwirtschaften zu etablieren, die in ein marktwirtschaftliches System eingebettet ist.

4

Schlussfolgerungen

Die vorliegenden Beiträge betrachten das Phänomen des Nachhaltigkeitsmanagements aus verschiedenen Perspektiven, werfen Fragen auf und liefern Lösungsvorschläge. Zweifelsohne ist das Management von Nachhaltigkeit eine komplexe,

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hoch relevante und dauerhafte Herausforderung, die alle Marktstufen und Gesellschaftsbereiche berührt. Schon aufgrund des letztgenannten Aspekts ist die Notwendigkeit eines ideologiefreien interdisziplinären Diskurses zu betonen, der auf eine ausbalancierte und zukunftsfähige Entwicklung der Wirtschaft zielt.

Literaturverzeichnis Arnold, C./Keppler, S./Knödler, H./Reckenfelderbäumer, M. (2018): Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement: Globalisierung – Digitalisierung – Geschäftsmodelltransformation. https://www.hwtk.de/wp-content/uploads/2018/ 02/Nachhaltigkeitsmanagement-pdf.pdf [2019-04-03]. Barney, J. (1991): Firm Resources and Sustained Competitive Advantage. In: Journal of Management 17(1): 99-120. Gneezy, A./Gneezy, U./Nelson, L.D./Brown, A. (2010): Shared Social Responsibility: A Field Experiment in Pay-What-You-Want Pricing and Charitable Giving. In: Science 329(5989): 325-327. Gutenberg, E. (1958): Grundlagen der Betriebswirtschaftsehre. Erster Band: Die Produktion. 4. Auflage. Springer. von Hayek, F.A. (1944): The Road to Serfdom. Routledge Press. Jones, T.M. (1980): Corporate Social Responsibility Revisited, Redefined. In: California Management Review 22(3): 59-67. Porter, M.E. (1985): The Competitive Advantage: Creating and Sustaining Superior Performance. Free Press. Porter, M.E./Kramer, M.R. (2011): Creating Shared Value. In: Harvard Business Review 89(1/2): 62-77.

2

Ethische, konzeptionelle und rechtliche Aspekte

Die Bedeutung eines ethischen Kompasses für das Nachhaltigkeitsmanagement Andreas Suchanek



Einleitung .................................................................................................... 35 



Nachhaltigkeit ............................................................................................. 37 



Drei Ebenen eines Spiels ............................................................................. 39 



Ethischer Kompass ...................................................................................... 43  4.1  4.2  4.3  4.4 

Freiheit ............................................................................................. 45  Einbettung ........................................................................................ 45  Respekt............................................................................................. 46  Selbstbegrenzung ............................................................................. 47 



Schlussbemerkungen ................................................................................... 48 

1

Einleitung

Mit der Nachhaltigkeit ist es wie mit anderen ethischen Begriffen auch: Sie werden aktuell vor allem in Zeiten, in denen das von ihnen Gemeinte – selbst wenn, und eigentlich weil dies diffus ist – zu fehlen scheint; im Fall von Nachhaltigkeit also in Zeiten, wo nicht nachhaltige Verhaltensweisen zunehmen und Eindrücke stärker werden, dass die dauerhafte Zukunftsfähigkeit – um nur eines von vielen Synonymen von Nachhaltigkeit zu nennen – eben nicht ohne Weiteres gewährleistet ist. Nun ist auch nach 30 Jahren intensiver Diskussion die Interpretation von Nachhaltigkeit nicht eindeutig, auch wenn sich mittlerweile Standardinterpretationen herauskristallisiert haben; zu nennen ist etwa nach wie vor die Definition der Brundtland-Kommission (Hauff 1987) oder das Drei-Säulen Modell (z. B. Rat der Sachverständigen für Umweltfragen 2002). Hier wird folgende Kurzformel vorgeschlagen, die den normativen Kerngedanken auf den Punkt bringen soll. Danach heißt Nachhaltigkeit aus ethischer Sicht: in eine gemeinsame Zukunft investieren. Als das dazugehörende Schlüsselproblem © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_3

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Andreas Suchanek

wird das Problem der Verlässlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen identifiziert; diese Verlässlichkeit wird als Voraussetzung angesehen für jene Investitionen, die nachhaltigkeitsorientiert sind. Der ethische Kompass adressiert seinerseits die wichtigste dieser Erwartungen, nämlich die, nicht geschädigt zu werden. Die Relevanz der Frage nach der Verlässlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen ergibt sich im Kontext des Nachhaltigkeitsmanagements nicht nur daraus, dass genuine Informations- und Anreizprobleme die für Nachhaltigkeit erforderlichen Investitionen verhindern können. Informationsprobleme sind etwa fehlende Kenntnisse über Voraussetzungen und Folgen bestimmter Handlung; Anreizprobleme betreffen den Konflikt von kurzfristigen Vorteilen und langfristigen Schädigungen (anderer) und die Frage des vernünftigen Umgangs mit diesem Konflikt anhand der Beschränkung eigener Handlungsmöglichkeiten. Doch die eigentliche Problematik, die hier thematisiert wird, liegt in tieferliegenden Orientierungen, die jene Informations- und Anreizprobleme vorstrukturieren und idealerweise bereits im Vorfeld entschärfen oder gar verhindern; später wird die Rede von „Spielregeln“ und vom (gemeinsamen) „Spielverständnis“ sein: Recht und moralische Grundsätze bzw. Normen sind es, auf denen Verhaltenserwartungen beruhen; ohne solche (funktionierenden) Ordnungen wird das Handeln fast immer sehr kurzfristig orientiert sein (müssen) und damit das Gegenteil von nachhaltig. In gewissem Sinne ist diese Frage nach der Verlässlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen das normative Kernproblem schlechthin, wie sie sich auch bei Gerechtigkeitsthemen, der Fragen nach verantwortlichem Handeln (von Unternehmen) oder solchen des (betrieblichen) Wertemanagements1 stellt. In heutiger Zeit erhält sie insofern wachsende Relevanz, da Globalisierung und (vor allem) Digitalisierung eine erhebliche Steigerung kurzfristig orientierter Handlungen, deren Handlungsfolgen immer schwieriger zu überblicken sind, mit sich bringt mit der Folge, dass gemeinsame handlungsleitende Orientierungen erodieren. Dies ist der Hintergrund dafür, hier einen ethischen Kompass vorzustellen, der wesentliche solche Orientierungen bereitstellen soll, die gerade im Kontext der Nachhaltigkeit Relevanz besitzen, da sie die Voraussetzungen der Investitionen in eine gemeinsame Zukunft darstellen. Die weitere Argumentation ist wie folgt gegliedert: Zunächst wird das Konzept Nachhaltigkeit erläutert aus der hier eingenommenen Perspektive der Ethik (Abschnitt 2). Die als Schlüsselproblem identifizierte Frage der Verlässlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen wird in Abschnitt 3 strukturiert anhand der heuristischen Unterscheidung von Spielzügen, Spielregeln und Spielverständnis, anhand derer die spezifische Herausforderung für das Nachhaltigkeitsmanagement 1

Gemeint sind nicht finanzielle Werte, sondern solche wie Integrität oder Respekt.

Die Bedeutung eines ethischen Kompasses für das Nachhaltigkeitsmanagement

37

präzisiert werden soll. Abschnitt 4 stellt den ethischen Kompass vor als jenes Modell ethischer Orientierungen, die (auch und gerade) im Nachhaltigkeitsmanagement helfen sollen, relevante Entscheidungsaspekte im Blick zu behalten. Abschnitt 5 enthält einige Schlussbemerkungen.

2

Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit ist zu einem Schlüsselkonzept in der politischen und wirtschaftlichen Diskussion geworden.2 Es ist lohnenswert, sich zunächst die Gründe hierfür zu vergegenwärtigen. Dies geschieht nachfolgend in aller Kürze an exemplarischen Meilensteinen des Nachhaltigkeitsdiskurses. So löste der 1972 erschienene Bericht an den Club of Rome (Meadows et al. 1972) über die Grenzen des Wachstums einen wichtigen Schub im Hinblick auf die Erkenntnis aus, dass die zunehmende Inanspruchnahme aller vorfindlichen Ressourcen im Rahmen menschlichen Wirtschaftens an ökologische Grenzen stößt, deren Berücksichtigung zwingend sei, wenn man nicht in dramatische Probleme gelangen wolle. Auch wenn die damaligen Szenarien auf empirischem Material beruhten, das sich bald als veraltet erwies, löste der Grundgedanke doch Folgeüberlegungen aus, die verstärkt wurden durch das Buch von Hans Jonas „Das Prinzip Verantwortung“ (Jonas 1979). In der Kombination mit dem Buch des Club of Rome und anderen Publikationen lautete die Kernbotschaft: Menschliches Leben und gesellschaftliche Zusammenarbeit haben ökologische Voraussetzungen, und wir Menschen haben heute die Mittel und stehen damit zugleich in der Gefahr, diese Voraussetzungen zu zerstören. Dies führte zu jenen gesellschaftlichen Diskussionen, die 1987 in der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung zu der berühmten Definition im sogenannten Brundtland-Bericht führten: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß [sic] künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ (Hauff 1987: 51). Mit Blick auf die Umsetzungsfrage entwickelte sich weiterhin bald die Einsicht, dass es nicht allein um ökologische Fragen gehen kann, sondern diese in einen Zusammenhang mit ökonomischen und sozialen Fragen und Herausforderungen zu stellen sind. Daraus entwickelte sich das sogenannte Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit, das in verschiedensten Variationen (bis) heute das Nachhaltigkeitsverständnis in der Wirtschaft dominiert und den größeren Teil von Nachhaltigkeitsmanagementsystemen strukturiert. 2

Für einen aktuellen Überblick siehe etwa Pufé (2017).

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Andreas Suchanek

Hier soll indes ein anderes Verständnis von Nachhaltigkeit entwickelt werden, das indes kompatibel mit den genannten Interpretationen ist; da allen Interpretationen gemeinsam ist, dass es darum geht, die Bedingungen künftigen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu erhalten bzw. weiterzuentwickeln. Das hier vorgestellte Verständnis ist geleitet von der Frage, was aus ethischer Sicht als Schlüsselproblem von Nachhaltigkeit anzusehen ist. Dafür ist es nötig, Nachhaltigkeit stärker als handlungstheoretische – und genauer: als interaktionstheoretische3 – Kategorie zu verstehen, allerdings in einer Weise, die das Eingebettetsein jeder Handlung in (systemische) Kontexte systematisch reflektiert. Dafür wird hier folgendes Verständnis von Nachhaltigkeit zugrunde gelegt, formuliert als Imperativ: Nachhaltiges Handeln heißt in eine gemeinsame Zukunft investieren. In dieser Formel sind drei grundlegende Aspekte kombiniert: 1.

2.

3 4

5 6

Der Gedanke der Investition zielt darauf ab, dass heute Kosten zu tragen sind. Diese Kosten sind nicht nur monetär zu verstehen, sondern umfassen auch individuelle (subjektive) Kosten (Zeit, Anstrengungen), vor allem aber Opportunitätskosten, also der Verzicht auf (kurzfristig) attraktive Handlungsalternativen.4 Doch macht der Begriff der Investition zugleich deutlich, dass diese Kosten ihren Sinn in (erwarteter) künftiger Besserstellung – oder zumindest Vermeidung relativer Schlechterstellung –, bei Unternehmen mithin typischerweise künftigen Erträgen bzw. Vermeidung bestimmter Kosten, haben.5 Der Begriff Zukunft ist in Verbindung mit dem Gedanken der Investition eigentlich selbstverständlich, doch ist im Kontext von Nachhaltigkeit nicht nur das nächste Quartal gemeint, sondern eine im Prinzip unbegrenzte Zukunft, die sich der Sache nach nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt bestimmen lässt. Mehr noch: Wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden wird, ist damit ein Perspektivenwechsel verbunden, der die dominante Fixierung auf Ergebnisse relativiert, indem nunmehr die Veränderung von (künftigen) Bedingungen verstärkt in den Blick gerät.6 In der damit unvermeidlichen Unbestimmtheit – insbesondere der Berechnung von Erträgen – liegt ein Problem, das später noch aufzugreifen sein wird, zumal es sich in der heutigen Zeit intensiviert.

Zur theoretischen Grundlegung siehe Suchanek (2007, 2015). Ethisch relevante Opportunitätskosten sind im Kontext von Unternehmen typischerweise etwa Externalisierungen von Kosten oder Realisierung von Gewinnen zu Lasten anderer; beides steigert kurzfristig die Gewinne, geht jedoch mit Reputations- und anderen Risiken einher. Diese Interpretation des Investitionsbegriff zielt vor allem auf die individuelle Bereitschaft ab, die Kosten zu tragen. Konzeptionell lässt sich dies in der Theorie teilweise dadurch einfangen, dass man von Vermögenswerten und deren Auf- bzw. Abbau spricht. Doch wird damit die volle Bedeutung zeitlicher Irreversibilität bzw. von Pfadabhängigkeiten nur begrenzt erfasst.

Die Bedeutung eines ethischen Kompasses für das Nachhaltigkeitsmanagement

3.

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Schließlich verweist das Adjektiv gemeinsam auf den aus Sicht der Ethik unverzichtbaren Gesichtspunkt der Inklusion aller Mitglieder der Gesellschaft, was im Kontext der Nachhaltigkeit auch künftige Generationen einschließt (s. Brundtland-Definition). Angesprochen ist mithin die Sozialdimension, auf die später wieder eingegangen wird.

Nicht explizit ausgewiesen in der Formel, aber mit Blick auf die vorherigen Überlegungen erschließbar, ist, dass es bei der Frage der Investitionen darum geht, die Bedingungen künftiger gesellschaftlicher Kooperation zu erhalten bzw. weiterzuentwickeln. Und es liegt nahe, diese Bedingungen auf die drei Säulen zu beziehen oder, als aktuellere und weiter ausdifferenzierte Variante, auf die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN7. Dennoch sei hier nicht diesem naheliegenden Gedanken gefolgt, sondern eine aus ethischer Sicht besonders wichtige Bedingung genannt: die Verlässlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen als fundamentale Voraussetzung für Nachhaltigkeits-Investitionen – und davon abgeleitet: jene Ordnungen, die diese Verlässlichkeit ermöglichen. Um diesen Gedanken zu klären, sei im nächsten Abschnitt eine Unterscheidung mithilfe der Metapher vom Spiel eingeführt.

3

Drei Ebenen eines Spiels

Im Ordoliberalismus und der Konstitutionenökonomik (Pies 2000) wurde häufiger eine einfache Unterscheidung genutzt zur Strukturierung komplexer Fragen: die Unterscheidung von Spielzügen und Spielregeln. Der zentrale Punkt dieser Unterscheidung ist die Erweiterung des Horizonts von Fragen, die wirtschaftliche oder politische Entscheidungen betreffen: diese Entscheidungen über „Spielzüge“, so die Argumentation, ist stets eingebettet in eine Rahmenordnung von „Spielregeln“, die einen zentralen Teil der Handlungsbedingungen darstellen und deshalb auch maßgeblich die Handlungsfolgen beeinflussen. Eine Änderung der Spielregeln verändert das Spiel und die relative Attraktivität, oder sogar Erlaubtheit, von Spielzügen – und damit auch die Entscheidungen.8 Anders formuliert: Regulierung beeinflusst Unternehmensstrategien. Die wesentliche Bedeutung der Spielregeln lässt sich auf einen zentralen Punkt bringen: Sie dienen dazu, wechselseitige Verhaltenserwartungen zu strukturieren und damit jene Verlässlichkeit zu erzeugen, die für jede (gesellschaftliche) Koope-

7 8

Resolution 69/315 vom 1. September 2015 der UN Generalversammlung. Bezogen auf tatsächliche Spiele konstituieren die Spielregeln allererst das Spiel.

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ration – und a fortiori auch jede unternehmerische Wertschöpfung – erforderlich ist.9 Ohne Verfassung, Gesetze, Richtlinien und andere Regeln, Normen und Standards wäre eine arbeitsteilige Wirtschaft gar nicht zu denken. Dieses Bild von Spielzügen und Spielregeln wird seit einigen Jahren um eine weitere Ebene angereichert: die Ebene des „Spielverständnisses“ (von Broock 2012; siehe auch Suchanek 2015). Angesprochen sind damit die Ebene der Werte und Überzeugungen, der Argumente und der Reflexion. Sie bestimmt, wie Spielregeln interpretiert, ob sie als legitim angesehen – und damit letztlich: ob und wie sie gelebt werden. Auch die Ebene des Spielverständnisses kann als Ordnung verstanden werden, nämlich als Ordnung des Denkens, der Kommunikation oder der Kultur, sei es eines Unternehmens oder der Gesellschaft. Es ist vor allem diese Ebene, die für die weiteren Überlegungen von Interesse ist, denn sie prägt die Wahrnehmungen, Urteile, Interpretationen usw., die Handlungen, aber auch Erwartungen hinsichtlich der Handlungen anderer sowie Urteile über Handlungen anleiten. Um es selbstreflexiv zu illustrieren: Ein Aufsatz oder Sammelband wie dieser zielen darauf ab, durch Übermittlung von Informationen, Argumenten, ‚Denkwerkzeugen‘ etc. das „Spielverständnis“ von Akteuren dahingehend zu beeinflussen, dass das – unterstelltermaßen gemeinsame Ziel nachhaltigen Wirtschaftens, ein wesentlicher Aspekt des gemeinsamen Spielverständnisses – besser erreicht werden kann, indem (Spiel-)Regeln eingehalten oder verändert werden und letztlich solche Handlungen (Spielzüge) stattfinden, die Nachhaltigkeit fördern. Nun sind im Spiel selbst, d.h. im alltäglichen Handeln, die „Spielzüge“ fokussiert auf das unmittelbare Spiel und den Erfolg; die beiden Ordnungen laufen als Hintergrund mit, der typischerweise nicht im Blick ist. Schaut man sich etwa die Inhalte der Betriebswirtschaftslehre an, so scheint die Behauptung nicht übertrieben, wenn man sagt, dass die Theorien, Konzepte, Modelle, Instrumente und so weiter primär darauf ausgerichtet sind, jene „Spielzüge“ zu untersuchen, die die unternehmerischen Ziele wie etwa die Wettbewerbsfähigkeit, Gewinnsteigerung, Kostensenkung oder ähnliches in den Blick nehmen.10 Dabei wird üblicherweise vorausgesetzt, dass die beiden zuvor genannten Ordnungen gelten und ihre Funktion erfüllen, d.h. dass sowohl die gesetzliche Rahmenordnung gilt und funktioniert und dass ein (hinreichend) gemeinsames „Spiel9 10

Das zeigt sich auch innerhalb von Unternehmen, die durch externe (rechtliche) und interne „Spielregeln“ buchstäblich organisiert sind. Typischerweise kommt das klar zum Ausdruck in der oft gebrauchten Maximierungsannahme in vielen Theorien, aber auch im Effizienzdenken. Beides geht immer schon von funktionsfähigen Ordnungen (Spielregeln und unproblematischem Spielverständnis) aus, da andernfalls, bei unklaren Randbedingungen, eine Optimierung gar nicht durchführbar wäre.

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verständnis“ vorherrscht, so dass man sich auch tatsächlich auf das Spiel selbst konzentrieren kann. Um zur Illustration die Analogie etwas zu strapazieren: In einem Fußballspiel wäre es ungewöhnlich, wenn sich Spieler, Trainer oder Zuschauer viele Gedanken über die Regeln oder das zugrunde liegende Verständnis des Spiels machen würden; das Hauptaugenmerk gilt dem Spiel und der Frage, wie man es gewinnt. Das schließt natürlich nicht aus, dass es immer wieder auch Überlegungen zu den beiden Ordnungen – dabei eher noch dem Regelwerk als dem Verständnis – geben kann. Allerdings wird das kaum während des Spiels erfolgen, weil dann andere Dinge vordringlich sind – und das gilt oft auch dann, wenn die Arbeit an den beiden Ordnungen erforderlich wäre. Darin liegt, wenn man so will, ein Schlüsselproblem der Nachhaltigkeit: Kurzfristige Anreize können verhindern, dass in den Aufbau, Erhalt und die Weiterentwicklung langfristiger Bedingungen, insbesondere die Ordnungen des Handelns („Spielregeln“) und der Kommunikation („Spielverständnis“) investiert wird. Diese Frage der Ordnungen ist deshalb wesentlich, weil sie es sind, die wechselseitige Verhaltenserwartungen strukturieren. Das gilt für die vielfältigen Weisen der Kooperation11 als auch mit Bezug auf die Vermeidung oder sachliche Bewältigung der vielfältigen Konflikte des (unternehmerischen) Alltags. Offensichtlich ist das der Fall beim Recht, doch auch Verträge, Kodices, soziale Normen bis hin zu Regeln des Anstands sind die Grundlage dafür, dass Kooperationen ermöglicht und gefördert werden, indem durch geeignete Vorschriften, Gebote, Verbote usw. handlungsleitende Orientierungen formuliert werden, von denen angenommen werden kann, dass alle Beteiligten sie kennen und (normalerweise) befolgen. Weniger offensichtlich, aber auch der Fall, ist das im Fall der Kommunikationsordnung, dem gemeinsamen „Spielverständnis“, das dafür sorgt, dass man einander versteht, hinreichend ähnliche Interpretationen der Regeln und der Situationen hat und das auch voneinander weiß. Doch das funktioniert nur, wenn die Ordnungen hinreichende Verlässlichkeit, Stabilität und Glaubwürdigkeit vermitteln, d.h. jeder Akteur von anderen erwarten kann, dass man sich an diesen Ordnungen orientiert.12 An dieser Stelle offenbart sich in heutiger Zeit eine zunehmende Problematik, die maßgeblich durch zwei Trends geprägt wird: Globalisierung und Digitalisierung. Beide machen, wieder bildlich gesprochen, das Spiel komplexer und unberechenbarer, einschließlich der Unterminierung früherer Verlässlichkeiten.13 Globalisierung 11 12 13

Siehe dazu etwa Homann und Suchanek (2005: Kap. 2.4). Die Relevanz zeigt sich beispielsweise bei interkulturellen Missverständnissen und Konflikten oder dem Scheitern von M&A aufgrund kultureller Unverträglichkeiten. So ist seit einiger Zeit von der VUCA-World die Rede. Das Akronym steht für volatility, uncertainty, complexity und ambiguity (siehe dazu etwa Bennett/Lemoine 2014).

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bedeutet, um im Bild zu bleiben, die Vervielfachung der Spielfelder; auf allen wird irgendwie gespielt, aber die Regeln scheinen des Öfteren von denen abzuweichen, die einem selbst vertraut sind. Digitalisierung bedeutet die Einführung neuer Spielbedingungen, ohne dass die Regeln und das gemeinsame Spielverständnis dafür immer schon gerüstet sind; so sind wir beispielsweise erst mitten im Lernprozess, welche, möglicherweise sehr weitreichenden, Folgen die Abgabe von diversen Aufgaben (und Verantwortung?) an selbstlernende Algorithmen mit sich bringen kann. Um den hier angesprochenen Punkt mit einem weiteren Gedanken aus der Metapher des Spielkontexts zu verdeutlichen, nämlich der Unterscheidung zwischen endlichem und unendlichem Spiel: Im endlichen Spiel geht es darum zu gewinnen; im unendlichen Spiel geht es darum, das Spiel fortzusetzen – und das heißt: nicht so auf Gewinn zu spielen, dass die Fortsetzung des Spiels gefährdet wird.14 Nachhaltigkeit meint dann nichts anderes, als diese Fortsetzung des Spiels mitzudenken und in jene Bedingungen zu investieren, die dies gewährleisten.15 Damit ergibt sich folgendes Grundproblem aus ethischer Sicht (siehe auch Abbildung 1): Was sind zentrale Orientierungen für Unternehmen bzw. ihre Führungskräfte und Mitarbeiter, die helfen, jenes gemeinsame Spielverständnis zu stärken, aus dem sich wechselseitige Verhaltenserwartungen ergeben, die ihrerseits Grundlage für nachhaltige gelingende Kooperation bzw. Wertschöpfung sind? Orientierungen für Führungskräfte

gemeinsames Spielverständnis

verlässliche Verhaltenserwartungen

nachhaltige erfolgreiche Wertschöpfung

Abbildung 1: Die Bedeutung geeigneter Orientierungen

Für genau diese Frage geeigneter Orientierungen soll der nachfolgende ethische Kompass eine Antwort bieten. 14

15

So gesehen kann Nachhaltigkeit auch verstanden werden als strikte Vermeidung gesellschaftlicher Endspiele mit der Überlegung, dass in Endspielen keinerlei Motivation existiert, in die Fortsetzung der Kooperation zu investieren (siehe dazu Suchanek 2006). Dieser Gedanke hat vielfältige Implikationen, auf die hier im Einzelnen nicht weiter eingegangen werden kann. Exemplarisch sei der Hinweis gegeben, dass Change Management, das als solches in aller Regel spielzugorientiert gedacht wird, nur dann erfolgreich sein wird, wenn es das Gegenteil von Change, nämlich Kontinuität, Stabilität usw. mitberücksichtigt (siehe dazu etwa de Biasi 2018).

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4

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Ethischer Kompass16

Die bisherigen Überlegungen führten zu folgender Schlüsselfrage für unternehmerische Wertschöpfung und gesellschaftliche Kooperation: Was können wir vernünftigerweise voneinander erwarten? Es sei bereits hier angemerkt, dass mit dieser Frage ein elementarer Perspektivenwechsel verbunden ist. Normalerweise bestimmt die Frage nach den eigenen Zielen, neuerdings auch dem „Purpose“17, die Perspektive von Führungskräften bzw. Unternehmen; dies entspricht dem Fokus auf das endliche Spiel und dem Ziel, jene Spielzüge zu machen, die in diesem Spiel zum Erfolg verhelfen. Mit der zuvor genannten Frage indes wechselt die Perspektive, denn die Frage wird gewissermaßen aus der Außensicht gestellt: Für Kunden, Zulieferer, Analysten und andere Stakeholder ist die Frage nach dem Erfolg des Unternehmens allenfalls von sekundärer Bedeutung. Doch lässt sich für alle betroffenen Stakeholdergruppen eine Erwartung identifizieren, von der plausibler Weise angenommen werden kann, dass sie ihnen gemeinsam ist: Wir können vernünftigerweise voneinander erwarten, dass wir einander nicht (ohne akzeptable Gründe) schädigen. Eben dies ist die zentrale Maxime des ethischen Kompasses: do no harm (siehe Abbildung 2). Ausgangspunkt des Kompasses ist Freiheit. Wie ein richtiger Kompass gibt auch dieser nicht selbst die Richtung vor, sondern ‚nur‘ Hilfestellung, was beim (vernünftigen, ethisch begründbaren) Gebrauch der Freiheit beachtet werden sollte. Mit dem Grundprinzip und den vier Schritten, die Hinweise für die Umsetzung des Prinzips darstellen, bringt er zum Ausdruck, was Interaktionspartner voneinander erwarten können sollten: Akteure – hier: Unternehmen – sollten ihre Freiheit nicht so gebrauchen, dass andere (oder auch das Unternehmen selbst in der Zukunft) illegitim geschädigt werden. Die Maxime „do no harm“ ist dabei nicht so zu verstehen, dass niemandem irgendein Schaden zugefügt werden dürfe – das wäre offensichtlich lebensfremd. Es gehört gewissermaßen zum Spiel, dass Preise erhöht werden, Mitarbeiter entlassen, Unternehmen pleitegehen können ebenso wie viele andere Formen, in denen wir uns wechselseitig Zumutungen (Kosten, Risiken) auferlegen. Es wäre weltfremd, eine Welt – einen Alltag – ohne jegliche Nachteile oder Schädigungen anzustreben oder zu erwarten. Der wesentliche Punkt ist, dass die Nachteile und Schädigungen, die wir uns (wechselseitig) zumuten, im Dienst der nachhaltigen Wertschöpfung bzw. der gesellschaftlichen Zusammenarbeit stehen sollten. Des16

17

Der ethische Kompass wurde im Jahr 2017 am Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik in zahlreichen Gesprächen mit ca. 500 Führungskräften, Wissenschaftlern und Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen entwickelt. Eine knappe Darstellung findet sich auch in Suchanek und von Broock (2017). Siehe hierzu etwa Kirchgeorg et al. (2018).

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wegen wurde weiter oben formuliert, dass wir erwarten können, dass wir einander nicht ohne akzeptable Gründe schädigen. Um es wieder anhand der Metapher des Spiels auszudrücken: Wenn die Schädigungen unter Anerkennung geltender Spielregeln und entsprechend dem allgemein akzeptierten „Spielverständnis“ erfolgen, sind sie legitim. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass nicht die „Spieler“, die die Schädigungen verursachen, festlegen, ob diese legitim sind oder nicht; auch die Geschädigten legen das nicht fest, auch wenn ihre Stimme natürlich Gewicht hat. Aus ethischer Sicht geht es um einen verallgemeinerbaren Maßstab, der die Legitimität bestimmt.18

Abbildung 2: Der ethische Kompass (WZGE 2018)

Der Kompass ist allerdings weniger ein Instrument, bei dem es um die inhaltliche Spezifikation dieses Maßstabs – also darum, wann welche Schädigung noch als legitim angesehen werden könnte – geht, als vielmehr ein allgemeineres und in 18

In der Ethik ist beispielsweise ein klassischer Begriff, der diesen Maßstab repräsentieren soll, der des unparteiischen Betrachters, der auf A. Smith zurückgeht (siehe hierzu Suchanek 2015: 182 ff).

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gewissem Sinne umfassenderes Instrument zur Orientierung, welche drei Grundfragen bei der angemessenen Umsetzung des Prinzips zu beachten sind und in welche Richtung die Beantwortung dieser Grundfragen gehen sollte. Diese Grundfragen lauten:   

Analyse: Welche Schädigungen können beim Freiheitsgebrauch auftreten? Bewertung: Welche Werte bzw. Werthaltungen sollten bei der Beurteilung der Schädigungen leitend sein? Umsetzung: Wie können diese Erkenntnisse und Bewertungen im Handeln umgesetzt werden?

Diesen drei Fragen entsprechen beim Kompass der Gedanke der Einbettung, die Haltung des Respekts und der Gedanke der Selbstbegrenzung. Nachfolgend seien die vier Elemente des Kompasses näher betrachtet.

4.1

Freiheit

Im allgemeinsten Sinne meint Freiheit die Möglichkeit, selbstbestimmt Zwecke setzen und umsetzen zu können. Bezogen auf Unternehmen lässt sich dies interpretieren als die Möglichkeit, den Purpose des Unternehmens zu bestimmen, also das Selbstverständnis, aus dem sich die langfristige Strategie mit Blick auf die vorhandenen und potenziell acquirierbaren Ressourcen und Kompetenzen ergibt. Doch Freiheit kann auch konkrete Handlungsoptionen meinen, beispielsweise die Einführung eines neuen Produkts, die Wahl eines anderen Lieferanten, die Entscheidung zur Einführung digitalisierter Verfahren im Personalmanagement usw. Egal ob es sich um einzelne konkrete Entscheidungen oder langfristig orientierte Strategiefestlegungen handelt, der Kompass zielt darauf ab, im Sinne des oben genannten Perspektivenwechsels nicht nur die eigenen Ziele in den Blick zu nehmen, sondern auch die möglichen Nebenwirkungen und hierbei insbesondere diejenigen, die anderen (oder in der Zukunft auch einem selbst) Schaden zufügen können. Dies zunächst zu analysieren dient der nächste Schritt.

4.2

Einbettung

Entscheidungen und deren Umsetzung erfolgen immer in situativen Kontexten. Wir sind nie in der Lage, alle Bedingungen dieses Kontextes zu erfassen, doch lassen sich einige Aspekte benennen, deren Vernachlässigung generell Risiken erzeugt. Im Kontext ethischer Analysen sind es immer wieder zwei Dimensionen, deren feh-

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Andreas Suchanek

lende Berücksichtigung nicht nachhaltiges bzw. unverantwortliches Handeln – und damit ethische Risiken – generiert: die Sozialdimension und die Zeitdimension. Einbettung meint deshalb die systematische Beachtung beider Dimensionen. Mit der Sozialdimension ist der eigentlich selbstverständliche Umstand angesprochen, dass das Handeln von Individuen oder Organisationen eigentlich immer eine Inter-Aktion darstellt: Man re-agiert auf andere und andere reagieren auf einen selbst. Genau deshalb macht es Sinn, was in einem reinen Ziel-Mittel-Denken eigentlich unsinnig scheinen muss: Dass man seine eigene Freiheit beschränkt. Denn erst dadurch wird man für andere berechenbar und verlässlich. Wertschöpfung ist ohne Kooperation nicht denkbar, doch Wertschöpfungspartner werden sich – sofern sie Alternativen haben – nur dann auf die Kooperation einlassen, wenn sie nicht befürchten müssen, dadurch benachteiligt – geschädigt – zu werden. Deshalb ist es nicht nur eine Frage genuiner Verantwortung, sondern auch der Klugheit, bei seinem Handeln darauf zu achten, ob andere als Folge geschädigt werden. Die Zeitdimension verweist darauf, dass kurz- und langfristige Betrachtung oft zu erheblich unterschiedlichen Einschätzungen von Handlungsoptionen führen können. Was kurzfristig attraktiv scheinen mag, hat nicht selten längerfristig negative Auswirkungen – ökonomisch formuliert: Kosten. Das gilt auch und gerade für unverantwortliches Handeln, das geradezu definitorisch mit der Erzeugung ethischer Risiken gleichgesetzt werden kann. Denn praktisch immer gehen mit unverantwortlichem Handeln Schädigungen anderer einher, was zu Reaktionen der Geschädigten führen kann, die auf den Akteur zurückwirken: Beschwerden, Abwanderungen und schlechte Bewertungen durch Kunden, Unzufriedenheit, sinkende Loyalität und Einsatzbereitschaft sowie hohe Fluktuation bei Mitarbeitern, erhöhte Transaktionskosten, Haftungs- oder Reputationsrisiken u.v.a.m. Diese knappen Überlegungen machen auch deutlich, dass das Prinzip „do no harm“ auch die Vermeidung von Selbstschädigungen einbezieht.19

4.3

Respekt

Im nächsten gedanklichen Schritt geht es um die Haltung bzw. Bewertung der zuvor ermittelten potenziellen Schäden. Denn es ist das eine, Informationen über mögliche Schädigungen anderer einzuholen. Es ist das andere, diese Schädigungen zu bewerten im Hinblick auf die Relevanz für die eigenen Entscheidungen.

19

Man könnte an dieser Stelle fragen, warum nicht die ökologische Dimension angeführt wird. Das ist natürlich möglich, mehr noch: bei der Analyse ließen sich im Kontext des Nachhaltigkeitsmanagements generell das drei Säulenmodell nutzen.

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„Respekt“ als Element des ethischen Kompasses soll hier zum Ausdruck bringen, dass aus ethischer Sicht geboten ist, bei der Bewertung der Schädigungen das grundsätzliche Recht und die daraus resultierenden legitimen Ansprüche und Erwartungen von Betroffenen des Handelns auf Nicht-Schädigung – sofern es nicht akzeptable Gründe dafür gibt – anzuerkennen. Respekt kommt im Kontext von Unternehmen zum Ausdruck über die Unternehmenswerte – sofern sie tatsächlich gelebt werden. Das betrifft sowohl den direkten Umgang miteinander als auch die Weise des Respekts, die sich durch die Einhaltung von Regeln und Normen manifestiert, die in besonderem Maße dafür sorgen, dass wechselseitige Verlässlichkeit der Verhaltenserwartungen existiert. Zu beachten ist, dass diese Haltung des Respekts nicht durch Autoritäten, durch Regeln oder durch Anreize erzwungen werden kann. Allerdings sind diese extrinsischen handlungsbeeinflussenden Faktoren in vielen Fällen unterstützend oder gegenläufig in ihrer Wirkung auf einen respektvollen Umgang miteinander, weshalb es stets lohnt, die entsprechenden Zusammenhänge in den Blick zu nehmen.20

4.4

Selbstbegrenzung

Im Prinzip „Do no harm“ ist die Idee der Selbstbegrenzung bereits angelegt: Handlungen, aber auch Ansprüche und Erwartungen, sind dort zu begrenzen, wo sie einem selbst oder anderen in unangemessener Weise schaden. Der Sache nach ist dieser Gedanke etwas, was bereits Kinder lernen. Mit der Eröffnung neuer Freiheiten wie sprechen lernen, lernen Kinder auch, nicht alles gleich auszusprechen, was ihnen durch den Sinn geht, weil es andere verletzen könnte.21 Für Unternehmen manifestiert sich dieser Zusammenhang heute in vielfältiger Form in den Kontexten der Globalisierung und Digitalisierung, die zahlreiche neue Freiheiten eröffnen, mit denen jedoch auch verschiedene Schädigungen verbunden sein können. Beispiele hierfür sind Menschenrechtsverletzungen in der Lieferkette, Datenmissbrauch, manipulative Darstellungen in der Werbung und vieles andere mehr. Der Kern unternehmerischer Verantwortung besteht in diesen Fällen darin, seine eigene Freiheit so zu beschränken, dass illegitime Schädigungen anderer unterbleiben – oder um es anders zu formulieren: Ein Unternehmen gilt als verantwortlich, wenn sich andere darauf verlassen können, dass das Unternehmen sie nicht schädigen will und wird. 20

21

Beispielsweise können intensive Wettbewerbsstrukturen oder ein Fokus auf monetäre Anreize dazu führen, dass gegenseitiger Respekt unterminiert wird, zumindest sofern nicht von der Führung darauf geachtet wird, dass diese Faktoren nicht die Dominanz erringen. Diese elementare Lektion müssen viele Menschen offensichtlich wieder lernen, wenn sie neue Freiheiten wie Kommentarmöglichkeiten im Internet eröffnet bekommen.

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Dies ist offensichtlich nicht nur eine Frage bloßer Worte, sondern muss buchstäblich organisiert werden.22 Selbstbegrenzungen, die Grundlage verlässlicher, vertrauensvoller Kooperation sein sollten, sind zu gestalten und ihre Umsetzung ist sicherzustellen. Dies betrifft insbesondere drei Formen der Selbstbegrenzung:   

Auf der Ebene der Spielregeln gilt es, die Beachtung bestehender Regeln, Gesetze, Verträge usw. zu gewährleisten (Compliance). Auf der Ebene der Spielzüge manifestiert sich Verlässlichkeit vor allem im Hinblick auf die Einhaltung gegebener Versprechen.23 Auf der Ebene des Spielverständnisses geht es vor allem darum, in der Unternehmenskommunikation Konsistenz der eigenen Werte und Grundsätze mit dem eigenen Handeln zu gewährleisten und an jenen Orientierungen zu arbeiten, die diese Konsistenz motivieren.

So verstandene Selbstbegrenzungen sind nichts anderes als Investitionen in Nachhaltigkeit. Denn nachhaltiges Wirtschaften setzt vertrauensvolle Kooperation voraus. Und Vertrauen setzt die wechselseitige Annahme voraus, dass die Kooperationspartner einen nicht schädigen werden.

5

Schlussbemerkungen

Nachhaltigkeit als normative Kategorie verweist auf die Notwendigkeit, die künftigen Voraussetzungen gesellschaftlicher Zusammenarbeit in den Blick zu nehmen. In diesem Aufsatz wurde argumentiert, dass nachhaltiges Wirtschaften zwingend Verlässlichkeit der wechselseitigen Verhaltenserwartungen benötigt, und die wichtigste dieser Erwartungen besteht darin, nicht (ohne akzeptable Gründe) geschädigt zu werden. Vor allem in zwei Situationen wird dies besonders relevant: Erstens dann, wenn Investitionen unternommen werden sollen, die unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten bzw. aus gesellschaftlicher Sicht wünschenswert sind, deren Erträge jedoch von anderen abhängen, die somit über Schädigungspotenzial verfügen; zweitens zeigt sich die Bedeutung in Konfliktsituationen, in denen die Frage, inwieweit man sich auf die anderen verlassen kann trotz konfligierender Ansprüche und Interessen, offensichtlich wichtig ist für eine konstruktive Bewältigung der Konflikte.

22 23

Ausführlich hierzu Suchanek (2015: Kap. 11-13). Im Unternehmensalltag werden permanent Versprechen abgegeben, sei es in der Werbung, bei Stellenausschreibungen, in Zielvereinbarungsgesprächen, in Geschäftsberichten usw.

Die Bedeutung eines ethischen Kompasses für das Nachhaltigkeitsmanagement

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Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten rücken dabei insbesondere die Strukturen (Ordnungen) ins Zentrum, die vertrauensvolle Kooperation ermöglichen. Hier wurden zwei Ordnungen hervorgehoben: die Ordnung der Handlungen („Spielregeln“) und die Ordnung der Kommunikation („Spielverständnis“). Beide Ordnungen koordinieren nicht nur die Zusammenarbeit, sondern haben auch die Funktion, Konflikte zu vermeiden oder, wenn sie doch auftreten, in sachlicher und konstruktiver Weise bewältigen zu helfen. Insofern können sie als fundamentale gesellschaftliche Vermögenswerte angesehen werden, deren Erhalt und Weiterentwicklung zu den genuinen Aufgaben von Unternehmen – auch im eigenen wohlverstandenen Interesse – gehört. Der ethische Kompass kann verstanden werden als Instrument zur Anleitung und Motivation von Investitionen in diese Vermögenswerte.

Literaturverzeichnis Bennett, N./Lemoine, G.J. (2014): What a difference a word makes: Understanding threats to performance in a VUCA world. In: Business Horizons 57(3): 311-317. de Biasi, K. (2018): Solving the Change Paradox by Means of Trust. Gabler. Homann, K./Suchanek, A. (2005). Ökonomik. Eine Einführung. 2. Auflage. Mohr Siebeck. Jonas. H. (1979): Das Prinzip Verantwortung. Suhrkamp. Kirchgeorg, M./Meynhardt, T./Pinkwart, A./Suchanek, A./Zülch, H. (2018): Das Leipziger Führungsmodell. Führen und beitragen. 3. Auflage. HHL Academic Press. Meadows, D./Meadows, D./Zahn, E./Milling, P. (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. DVA. Pies, I. (2000): Ordnungspolitik in der Demokratie. Ein ökonomischer Ansatz diskursiver Politikberatung. Mohr Siebeck. Pufé, I. (2017): Nachhaltigkeit. Beck. Rat der Sachverständigen für Umweltfragen (2002): Umweltgutachten 2002. Suchanek, A. (2006): Überlegungen zu einer interaktionsökonomischen Theorie der Nachhaltigkeit. In: Ebert (Hrsg.): Wirtschaftsethische Perspektiven. Duncker&Humblot: 229-245. Suchanek, A. (2007): Ökonomische Ethik. 2. Auflage. Mohr Siebeck. Suchanek, A. (2015): Unternehmensethik. In Vertrauen investieren. Mohr Siebeck.

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Andreas Suchanek

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Moral und Wirtschaft: Überlegungen zur Lösung eines Konflikts Klaus Gabriel



Wirtschaft, Ethik, Nachhaltigkeit: Beschreibung eines Konfliktfeldes ....... 51 



Moralökonomik: Durchsetzung der Moral mit ökonomischen Mitteln ....... 53  2.1  2.2 



Grundlagen und zentrale Aussagen .................................................. 53  Kritische Rückfragen ....................................................................... 59  2.2.1  Geht die Moralökonomik von realistischen Bedingungen aus? ............................................................... 59  2.2.2  Braucht es noch eine Unternehmens- und Individualethik? .................................................................. 61  2.2.3  Primat der Ökonomik?........................................................ 62 

Integrative Wirtschaftsethik: Wiederankoppelung der Ökonomik an die Lebenswelt .................................................................................................. 63  3.1  3.2 

Grundlagen und zentrale Aussagen .................................................. 63  Kritische Rückfragen ....................................................................... 67  3.2.1  Hat die Entkoppelung von Ökonomik und Lebenswelt auch Vorteile? ..................................................................... 67  3.2.2  Ist der „Wirtschaftsbürger“ ein realistisches Modell? ........ 68 



Fazit: Ist der Konflikt zwischen Moral und Ökonomik lösbar? .................. 68 

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Wirtschaft, Ethik, Nachhaltigkeit: Beschreibung eines Konfliktfeldes

Nachhaltiges Wirtschaften, Corporate Social Responsibility (CSR), Verantwortungs-Management oder Ethik-Kodex: die Liste der Ansätze und Schlagwörter, mit denen die Verantwortung von Unternehmen gegenüber Gesellschaft und Umwelt zum Gegenstand gemacht wird, ist eine lange. Als Folge prominenter Skandale in © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_4

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der Wirtschaft rückt das Thema immer wieder in den Vordergrund – um auch bald wieder in der Versenkung zu verschwinden, sobald sich die Empörung über ausbeuterische Geschäftsmodelle oder Umweltskandale gelegt hat. Zumindest ist es der Regelmäßigkeit solcher Skandale zu verdanken, dass sich immer mehr Unternehmen nun systematisch mit Fragen der Ethik und der Nachhaltigkeit beschäftigen. Wer dieses Phänomen sorgfältig beobachtet, findet bald heraus: Unternehmen nähern sich diesem Thema in sehr unterschiedlicher Weise und Qualität an. Nur wenige Unternehmen gehen dahin, wo es wirklich weh tut, die meisten Unternehmen betreiben eine so genannte instrumentelle CSR: soziale und ökologische Themen werden adressiert und strategisch berücksichtigt, wenn sie als ergebnisrelevant erkannt werden. Aktuell beschäftigt der Skandal um mehrfach zurückgeforderte (und erhaltene) Kapitalertragssteuern aus Aktien-Dividenden (Cum-Ex bzw. Cum-Cum-Geschäfte) die Fachwelt. Dies könnte sich zu einem wirklich großen Skandal entwickeln, wenn sich bewahrheitet, was Journalisten aus zwölf Ländern rund um das Recherchenetzwerk CORRECTIV nun herausgefunden haben: dass der Griff in die Staatskassen von einigen Finanzinstituten in mehreren europäischen Ländern systematisch über Jahre betrieben wurde und ein Schaden von mehr als 50 Milliarden Euro entstanden ist. Man stelle sich vor: findige Finanzmarktakteure haben es geschafft, sich einmal bezahlte Kapitalertragssteuern über komplexe Strukturen mehrfach rückerstatten zu lassen – auf dem Rücken der Allgemeinheit und auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wurden so Profite erzielt und Renditen eingesackt. Dass die Politik davon wusste und jahrelang nicht oder unzureichend reagiert hat, kommt zwar dazu. Aber man braucht nicht Philosophin oder Ethiker zu sein, um zu erkennen, dass ein solches Vorgehen von Unternehmen und ihren Vertretern – unabhängig von der rechtlichen Beurteilung – zutiefst unmoralisch ist. Wie lässt es sich erklären, dass Ethik und Nachhaltigkeit in wirtschaftlichen Prozessen so regelmäßig unter die Räder kommen? Oder umgekehrt gefragt: wie lässt es sich vermeiden, dass die Moral in ökonomischen Prozessen außen vor bleibt? Wie lassen sich moralische Standards und Normen in die Wirtschaft integrieren, damit solche Entwicklungen tunlichst hintangehalten werden? Und überhaupt: warum besteht zwischen Wirtschaft und Moral so häufig ein Konflikt? Lässt sich dieser nicht vermeiden? Diesen Fragen widmet sich die Wirtschaftsethik. Wie der Name schon verrät geht es dabei um eine Ethik der Wirtschaft, also um ein Reflektieren ökonomischer Sachverhalte, Prozesse und Systeme vor dem Hintergrund des Gerechten, Richtigen und Nachhaltigen. Die Frage nach dem moralisch „richtigen“ Wirtschaften ist gleich alt wie das Wirtschaften selbst. Aktuell diskutiert man unter anderem auch

Moral und Wirtschaft: Überlegungen zur Lösung eines Konflikts

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darüber, warum dieser Konflikt zwischen Moral und Ökonomik existiert und woran es liegt, dass in Konfliktfällen dem Profit der Vorzug vor der Moral gegeben wird. In meinem Beitrag möchte ich deshalb der Frage nachgehen, welche Lösungsansätze es in der aktuellen wirtschaftsethischen Debatte gibt, um diesen Konflikt zwischen Moral und Ökonomik zu überwinden. Ich werde mich dabei jedoch auf zwei Ansätze der Wirtschaftsethik beschränken, die insbesondere im deutschen Sprachraum bekannt sind und diskutiert werden: die Moralökonomik von Karl Homann und die Integrative Wirtschaftsethik von Peter Ulrich.

2

2.1

Moralökonomik: Durchsetzung der Moral mit ökonomischen Mitteln Grundlagen und zentrale Aussagen

Die Moralökonomik von Karl Homann ist ein wirtschaftsethischer Ansatz, der besonders im deutschen Sprachraum verbreitet ist und dem sowohl innerhalb der wissenschaftlichen Debatte als auch hinsichtlich der praktischen Umsetzung eine große Bedeutung beigemessen wird. Das liegt vor allem daran, dass dieser Ansatz an mehreren Universitäten vor allem in Deutschland gelehrt und in Wirtschaftskreisen gerne rezipiert wird. Tatsächlich ist dieser Ansatz höchst anschlussfähig an die gängigen Modelle der Ökonomik, zudem bewegt er sich auch begrifflich („Moralökonomik“) auf – für Ökonomen – vertrautem Terrain. Und das ist nicht verwunderlich: Karl Homann (geboren 1943) hat nach seinem Studium der Philosophie, der Germanistik und der Theologie auch Volkswirtschaftslehre studiert. Gemeinsam mit seinen Schülern entwickelte er einen institutionenökonomischen Ansatz zur Wirtschaftsethik, der derzeit vor allem von seinen Schülern und Wegbegleitern verbreitet und weiterentwickelt wird. Bei der Wirtschaftsethik geht es um das Verhältnis zwischen Moral und Wirtschaft. Dabei wird darüber debattiert, wie sich die diesen beiden Bereichen inhärenten Gegensätze auflösen lassen: geht es der Moral um das gute und richtige Handeln, stehen im Zentrum ökonomischen Denkens Überlegungen zu Effizienz und Profitabilität. Nicht immer – Skeptiker meinen: nur selten – lassen sich sozial verantwortliches und ökologisch zukunftsfähiges Handeln auf der einen und Profitstreben auf der anderen Seite konfliktfrei kombinieren. Einen solchen Gegensatz zwischen Moral und Ethik versucht Karl Homann mit seinem Konzept der Moralökonomik aber erst gar nicht aufkommen zu lassen. Für ihn geht es nicht darum, welche der beiden Disziplinen im Falle eines Konflikts vorzuziehen wäre. Auch

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geht es ihm nicht darum, Wege für einen Interessensausgleich aufzuzeigen. Vielmehr geht es Homann darum deutlich zu machen, welche moralischen Normen und Werte unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft und der modernen Wirtschaft letztlich auch zur Geltung gebracht werden können. Für Homann steht fest, dass die Moral in der Wirtschaft nicht gegen die Wirtschaft, sondern vielmehr erst durch die Wirtschaft zum Durchbruch gelangen kann. Für ihn ist deshalb klar, dass die Wirtschaftsethik nicht nur als eine Teildisziplin der Ökonomik entwickelt werden darf, sondern ihr fester Bestandteil sein muss. Worauf baut nun diese Überzeugung auf? Für Homann muss eine zeitgemäße Wirtschaftsethik andere Handlungsempfehlungen geben als dies in vormodernen Wirtschaftskontexten der Fall war. In der Antike war das Streben nach Reichtum und Wohlstand oder der Gelderwerb durch Handel, Gewerbe oder selbst durch Arbeit verpönt. Heute hat sich mehrheitlich die Ansicht durchgesetzt, dass die Marktwirtschaft am besten dazu beitragen kann, das humanistische Ideal der zivilisierten Welt – für Homann sind das die Freiheit als Chance zur Selbstverwirklichung und die Solidarität unter den Menschen – anzustreben. Diese Grundthese formuliert Homann wie folgt: „Die Marktwirtschaft mit Vorteils-/Gewinnstreben und Wettbewerb ist unter den Bedingungen der modernen Welt das beste bisher bekannte Instrument zur Verwirklichung von Freiheit und Solidarität aller Menschen“ (Homann 2008: 11).

Während sich die wirtschaftlich handelnden Akteure in vormodernen Gesellschaften in der Regel noch persönlich kannten (face-to-face-Beziehungen) und es dadurch möglich war, moralisch unerwünschtes Verhalten unmittelbar zu sanktionieren, gibt es diese Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung von Individuen in modernen Gesellschaften nicht mehr bzw. immer weniger. Moderne Gesellschaften zeichnen sich geradezu durch anonymisierte Wirtschaftsprozesse und über Märkte organisierte Austauschbeziehungen aus, bei denen die unmittelbare und persönliche Sanktionierung unmoralischen Verhaltens oft gar nicht mehr möglich ist. Um das Verhalten der Menschen in modernen (Markt-)Gesellschaften zu steuern, reicht es deshalb auch nicht mehr, an die Individuen zu appellieren, moralisch zu handeln. Moralische Appelle, so Homann, entfalten in anonymisierten Marktprozessen keine Wirkung mehr. Vielmehr muss eine Verhaltenssteuerung in der modernen Gesellschaft über institutionalisierte Regeln erfolgen. Für Homann gilt deshalb, dass Moral in modernen Gesellschaften nur durchgesetzt werden kann, wenn sich alle Marktakteure an diejenigen Regeln halten, die in einer Rahmenord-

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nung vorgegeben sind und die so ausgestaltet sind, dass die Akteure in der Befolgung dieser Regeln automatisch moralisch handeln. Anstelle einer individuellen Selbstbindung geht es nun also um eine kollektive Selbstbindung. Dies hat zur Folge, dass das Handeln der Wirtschaftsakteure zwar aus Eigeninteresse erfolgt, aber durch die für alle geltenden Regeln der Rahmenordnung gleichsam in eine Richtung gelenkt wird, die im Sinne des Gemeinwohls gutzuheißen ist. Es ist an dieser Stelle wichtig zu verstehen, was Homann von der Wirtschaftsethik konkret erwartet: für ihn geht es nicht darum, moralische Normen zu begründen oder zu setzen. Für ihn besteht die Aufgabe der Wirtschaftsethik darin, nach Möglichkeiten zu suchen, moralische Standards unter den Bedingungen moderner marktwirtschaftlicher Verhältnisse durchzusetzen. Für Homann kommt es darauf an, die Rahmenordnung so zu gestalten, dass es für Unternehmen ökonomisch von Vorteil ist, moralisch zu handeln bzw. moralisch unerwünschtes Handeln unterbleibt, weil es sich nicht rentiert. Die Wirtschaftsakteure handeln moralisch also nicht deshalb, weil dies das Ergebnis ihrer individuellen moralischen Überzeugungen und Werthaltungen ist, sondern weil sie aus der Rahmenordnung abgeleiteten Anreizen folgen, die ökonomische Vorteile gewähren. Es sind also nicht die Werthaltungen und moralischen Überzeugungen der Akteure, welche die Einhaltung der Moral in der Wirtschaft garantieren, sondern das Eigeninteresse und das Kalkül der Wirtschaftsakteure, ökonomisch erfolgreich zu sein. Gegenüber diesem als Spielregeln des Wirtschaftens bezeichneten Ordnungsrahmen sind für Homann die individuellen Spielzüge der Wirtschaftsakteure aus wirtschaftsethischer Sicht eher von geringerer Bedeutung. Die Unterscheidung in Spielzüge und Spielregeln trifft Homann übrigens explizit in Anlehnung an den Sport: „Da unter den Bedingungen des Wettbewerbs moralisch motivierte Vor- und Mehrleistungen Einzelner, sofern sie zu Kostenerhöhungen führen, von der weniger moralischen Konkurrenz ausgebeutet werden können, kann sich der einzelne Akteur moralisch verhalten nur unter der Bedingung, dass seine Konkurrenten denselben Moralstandards unterworfen werden. Das bedeutet, dass Moral in allgemein verbindliche, also auch die Konkurrenten bindende Regeln inkorporiert werden muss, weil sie nur so ausbeutungsresistent praktiziert werden kann. Für das Regelsystem und seine Durchsetzung ist der Staat – allgemeiner: das politische System – zuständig, während das wirtschaftliche Handeln im Wettbewerb allein Sache der Akteure auf dem Markt ist. Das ist ganz wie im Fußball, wo die FIFA die Regeln setzt und Schiedsrichter mit deren Durchsetzung beauftragt, während die Spielzüge allein von den Mannschaften und deren Spielern bestritten werden“ (Homann 2007: 11-12). Und weiter: „Das Verhältnis von Ordnungsmoral und Hand-

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lungsmoral lässt sich daher so bestimmen: Da keine Ethik vom Einzelnen verlangen kann, dass er dauerhaft und systematisch gegen seine Interessen handelt, kann es individuelle Moral in der Marktwirtschaft nur unter zwei Bedingungen geben: Entweder muss sie durch ein entsprechendes Regelsystem vor Ausbeutung im Wettbewerb geschützt werden, also durch eine geeignete Rahmenordnung gestützt sein, oder das moralische Verhalten selbst muss den Akteuren Vorteile im Wettbewerb bringen. Anders formuliert: Unter den Bedingungen moderner Gesellschaften mit Marktwirtschaft kann Moral im Normalbetrieb nur dann praktiziert werden, wenn sie in die Rahmenordnung inkorporiert ist oder dem moralischen Akteur ökonomische Vorteile bringt. Dabei umfasst die ‚Rahmenordnung‘ all jene Regeln und Bestimmungen, die als Ordnungsvorgaben politisch gestaltet werden können: Verfassung, Eigentumsrechte, Vertrags- und Gesellschaftsrecht, die gesamte Wirtschaftsordnung bis hin zu den Grundzügen von Steuerrecht, Arbeitsund Tarifrecht, Umweltrecht“ (Homann 2007: 12).

Homann macht darüber hinaus deutlich, dass es innerhalb einer solchen Rahmenordnung weder Platz noch Möglichkeit für die Lösung moralischer Probleme durch Individuen gibt: „Unter den Bedingungen moderner Wirtschaft […] ist die Moral nicht (mehr) in den einzelnen Handlungen, also nicht in den Spielzügen, zu finden. Deswegen können unter Wettbewerbsbedingungen moralische Werte auch nicht mehr durch die einzelnen Spielzüge geltend gemacht werden. Angesichts von Wettbewerbs-, d.h. Dilemmastrukturen sind moralische Probleme der Wirtschaft systematisch kollektiver Natur und können demzufolge nicht von einzelnen, sondern nur kollektiv gelöst werden“ (Homann/Blome-Drees 1992: 35).

Für Homann ist damit auch klar, dass es Unternehmen nicht zumutbar ist, auf Gewinn zu verzichten, um moralischen Ansprüchen gerecht zu werden, die über den allgemeinen Ordnungsrahmen hinausgehen. Denn dann würde ein solches Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil erleiden und über kurz oder lang in den Ruin getrieben. Wirtschaftsethik wird damit auf Ordnungsethik reduziert, deren Aufgabe darin besteht, die moralischen Zielvorstellungen in die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zu implementieren. Die einzelnen Wirtschaftssubjekte haben in einer dergestalt verfassten Wirtschaftsordnung weder den Bedarf noch die Möglichkeit, eigenständig moralisch zu handeln. Ihre moralische Pflicht besteht demnach lediglich in der Gewinnmaximierung, weil damit den Konsumenten und auch dem Gemeinwohl am besten gedient ist.

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Innerhalb dieser Spielregeln sind – wie gesagt – alle Spielzüge erlaubt. Nach Homann streben die Spieler in zwei Richtungen: Zum einen gibt es jene Spieler, die unter Einhaltung der Spielregeln ihre ökonomischen Interessen mit maximalem Erfolg verwirklichen möchten und zum anderen diejenigen Spieler, die sich darum bemühen, die Rahmenordnung zu gestalten und weiterzuentwickeln, um die zulässigen Spielzüge zu erweitern oder einzuschränken. Würde man die Analogie zum Fußball weitertreiben, könnte man sagen, dass die Spieler versuchen würden, die FIFA-Regeln zu verändern, um neue Spielzüge möglich zu machen. Was uns für den Fußball eher suspekt erscheint, ist in der wirtschaftlichen Realität jedoch schon längst angekommen: Seit jeher versuchen Wirtschaftsakteur selbst oder über Verbände und Lobbyorganisationen Einfluss auf die Gestaltung der Rahmenordnung zu nehmen. Homann ist das Problem defizitärer Rahmenordnungen bewusst. Er weiß, dass die Rahmenordnung samt ihrer Kontroll- und Sanktionsmechanismen aus verschiedensten Gründen Fehler und Lücken haben kann. Die Steuerung komplexer und ständiger Veränderung unterworfener Systeme – wie die Wirtschaft eines ist – lässt sich eben nicht ein für alle Male festlegen, sondern bedarf der laufenden Anpassung und Aktualisierung. In solchen Fällen, in denen die Spielregeln nun defizitär sind bzw. den (moralischen) Anforderungen nicht mehr entsprechen, fordert Homann, dass die Unternehmen die moralische Verantwortung – die ja eigentlich an die Rahmenordnung abgegeben wurde – wieder an sich ziehen. Die Unternehmen sollen nach Homann dafür sorgen, dass die Rahmenordnung entsprechend angepasst wird. Homann spricht hier von der Verpflichtung der Unternehmen, zu einer stetigen „Versittlichung“ der Marktwirtschaft beizutragen (Homann 2007: 53). Um das Konzept von Homann zu verstehen ist es wichtig hervorzuheben, dass sich für ihn die Legitimität des unternehmerischen Handelns ausschließlich an der Entsprechung der moralischen Vorgaben der Rahmenordnung zu messen hat. Homann lässt das Argument nicht gelten, dass Unternehmen auch die legitimen Interessen ihrer Stakeholder zu berücksichtigen hätten, weil er der Ansicht ist, dass diese bereits auf der Ebene der Rahmenordnung Berücksichtigung finden und ihre Anliegen bereits über die entsprechenden Auflagen, Gesetze, Verordnung sowie Steuern und Abgaben abgedeckt sind. Sie auf der Ebene einer Unternehmensethik nochmals zu berücksichtigen wäre unrichtig, es würde einer Verdoppelung gleichkommen. Damit gibt es bei Homann im eigentlichen Sinne gar keine Unternehmensethik, sondern lediglich eine moralische Pflicht der Unternehmen, in Konfliktfällen die Rahmenordnung dahingehend zu beeinflussen, dass diese Konfliktfälle ausgeräumt werden. Folgende Punkte lassen sich an dieser Stelle festhalten:

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Für Homann verhalten sich die Marktakteure nur dann moralisch, wenn für sie damit entsprechende Vorteile einhergehen. Hingegen bleibt Moral unberücksichtigt, wenn sie etwas kostet. Dass eine individuelle Gesinnungsethik gar nicht mehr von Nöten ist, nennt Homann einen Vorteil, weil das Moralisieren und Appellieren in anonymisierten Wettbewerbssituation keine Wirkung entfalten kann. Der systematische Ort der Moral in der Wirtschaft befindet sich in der Rahmenordnung. Homann ist überzeugt davon, dass die Marktwirtschaft den Eigennutz der Menschen in Gemeinwohl transformiert. Im marktwirtschaftlichen Kontext führt demnach die Maximierung des Eigennutzes zu einer Steigerung des Wohls der Gemeinschaft. Marktteilnehmer sollen – gedeckt durch eine moralkonforme Rahmenordnung – möglichst moralfrei agieren können und sich auf ihre eigentliche sittliche Aufgabe konzentrieren: ihren Gewinn maximieren. Eine individuelle Moral der Marktakteure einzufordern ist für Homann nicht nur unrealistisch, sondern unter den Bedingungen moderner Wirtschaftsverhältnisse auch gar nicht mehr sachgerecht. Wer dies dennoch tut, hat den Anschluss an die Moderne verpasst. Weiters unterscheidet Homann zwischen Spielregeln und Spielzügen. Spielregeln haben die Aufgabe, Moral durchzusetzen. Sie sollen so konzipiert sein, dass die Marktakteure zu moralischem Handeln zu motivieren, weil es für sie ökonomisch vorteilhaft ist. Demgegenüber sind die Spielzüge weitgehend moralfrei. Die Marktakteure haben keine sittlichen Pflichten mehr, außer ihren persönlichen Nutzen so gut als möglich zu suchen und ihren Gewinn zu maximieren. Die Gewinnmaximierung ist somit die einzige sittliche Pflicht des Wirtschaftsakteurs. Mit einer Ausnahme: In jenen Fällen, in denen sich die Rahmenordnung als fehlerhaft, nicht mehr zeitgemäß oder defizitär erweist, kommt den Unternehmen die Aufgabe zu, diese dahingehend zu verändern, damit der Konflikt zwischen ökonomischem Kalkül und moralisch Erwünschtem wieder aufgelöst wird. Vor allem: Homann kommt zum Schluss, dass es nicht zumutbar ist von Unternehmen zu verlangen, dass sie auf Gewinn verzichten müssen, um moralischen Ansprüchen zu genügen. Solche Unternehmen können dann im Wettbewerb nämlich nicht mehr reüssieren und würden über kurz oder lang in den Ruin getrieben.

Die Moralökonomik von Karl Homann – hier nur grob und skizzenhaft wiedergegeben – wurde vielfach kommentiert und diskutiert. Und natürlich gibt es – wie oft bei Fragen der Moral – Befürworter und Kritiker seines Ansatzes. Kaum jemand

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wird bestreiten wollen, dass es für das Gelingen wirtschaftlicher Prozesse einer funktionierenden Rahmenordnung bedarf. Nur darauf zu vertrauen, dass sich die am Markt Agierenden freiwillig und altruistisch an moralische Normen und Standards halten, ist wohl wenig realistisch. Tatsächlich lassen sich die ethischen Herausforderungen der modernen Wirtschaft nicht mit moralischen Appellen an die Wirtschaftsakteure und moralischer Empörung über menschenunwürdige Zustände alleine lösen. Viel mehr braucht es Mechanismen und Anreize, um wirtschaftliche Aktivitäten an sozialen und ökologischen Erfordernissen auszurichten. In den letzten beiden Jahrhunderten hat das System der Marktwirtschaft bewiesen, dass es in der Lage ist, Effizienz zu steigern und Innovation zu fördern. Die Verbesserung der Lebensumstände für immer mehr Menschen ist ganz entscheidend der marktwirtschaftlich organisierten Ausgestaltung von Gesellschaften zu verdanken. Es gibt aus ethischer Sicht also keinen Grund, die Marktwirtschaft samt Wettbewerb prinzipiell zu verurteilen. Homann macht das vor allem gegenüber jenen Kritikern deutlich, die in der Marktwirtschaft die Ursache für soziale Missstände und Umweltzerstörung sehen und Wettbewerb als zerstörerisch bzw. als die Wurzel allen Übels erachten. Umgekehrt ist aber auch zu hinterfragen, ob es gerechtfertigt ist, alleine auf die bestmögliche Ausgestaltung der Rahmenordnung zu vertrauen. Streng genommen erübrigt sich ja mit Homann eine eigenständige Unternehmensethik und auch die eigenständige Reflexion ökonomischer Sachverhalte durch Individuen. Es ist ja geradezu der Sinn der Moralökonomik, die Unternehmen aus moralischen Zwängen zu befreien und den Individuen die Möglichkeit zu geben, sich ganz und ohne moralische Skrupel ihrem persönlichen Vorteilsstreben hinzugeben. Das macht die Moralökonomik ja gerade so attraktiv für viele. Aber kann das funktionieren?

2.2

Kritische Rückfragen

Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten lassen sich freilich kritische Rückfragen stellen. 2.2.1

Geht die Moralökonomik von realistischen Bedingungen aus?

Zunächst einmal ist zu fragen, ob der Grundthese von Homann, wonach die Marktwirtschaft Freiheit und Solidarität aller Menschen ermöglicht, vorbehaltlos zuzustimmen ist. Tatsächlich geht die Geschichte der Marktwirtschaft mit einer Reihe von Errungenschaften einher, die unser heutiges Leben sicherer, angenehmer und selbstbestimmter machen. Dennoch ist zu fragen, ob Freiheit nicht etwas ist, was

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vielmehr erst durch politische Grund- und Freiheitsrechte entsteht und abgesichert wird. Freiheit im umfassenden Sinne ist mehr als die Unabhängigkeit von herrschaftlicher oder staatlicher Alimentierung. Freiheit ist insgesamt auch mehr als die Abwesenheit von Zwang. Und vor allem ist Freiheit mehr als die Möglichkeit zum Konsum. Es gibt nicht nur die Freiheit von etwas, sondern auch die Freiheit zu etwas. Frei zu sein im eigentlichen Sinne bedeutet die Freiheit zur Entfaltung eigener Lebensentwürfe auch außerhalb einer Marktlogik. Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass die Marktwirtschaft von Voraussetzungen lebt, die sie selbst gar nicht hervorbringen kann: (aus-)gebildete Menschen, stabile, friedliche gesellschaftliche Verhältnisse, ein umfassendes Gesundheitssystem, aber auch eine intakte Umwelt und ein funktionierendes Ökosystem – und vieles mehr. Dass die Marktwirtschaft die Solidarität aller Menschen ermöglicht, stimmt nur bedingt: sicher müssen Sozialtransfers erst einmal von jemandem erwirtschaftet werden und die Wirtschaft trägt mit der Schaffung von Arbeitsplätzen sowie mittels Steuern und Abgaben dazu bei, dass die für Solidarleistungen erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Und natürlich ist der Beitrag der Marktwirtschaft zum Gemeinwohl unübersehbar: es stimmt schon, dass auch über die Verfolgung von Einzelinteressen das Gemeinwohl befördert wird. Die Ermöglichung von Solidarität aber alleine der Marktwirtschaft zuzuschreiben, wäre wohl übertrieben. Solidarität bedeutet nicht nur Solidarität unter Marktteilnehmern, sondern auch und vor allem Solidarität mit jenen, die – aus welchen Gründen auch immer – vom Marktgeschehen ausgeschlossen sind oder daran nicht teilnehmen können oder wollen. Nicht nur weltweit, auch hierzulande gibt es viele Menschen, denen ein Agieren am Markt gar nicht möglich ist, weil sie über keine ausreichende Kaufkraft verfügen oder der Zugang zu Märkten verschlossen ist. Gelingende Gesellschaften zeichnen sich gerade dadurch aus, dass diese Menschen mit der Solidarität der anderen rechnen können. Dazu kommt noch, dass immer so getan wird, als ob den eigennutzorientierten Akteuren automatisch auch an fairen Marktbedingungen und Wettbewerb gelegen sei. Doch das Gegenteil ist eher der Fall: Dass es Institutionen wie einer Wettbewerbsbehörde bedarf, macht deutlich, dass Unternehmen dazu neigen, marktbeherrschende Stellungen zu erlangen und Monopole zu bilden. Eine Wettbewerbsbehörde braucht es in den meisten Fällen nicht dafür, um den Wettbewerb im Zaum zu halten, sondern um ihn gegen solche Intentionen von Unternehmen überhaupt erst zu ermöglichen. Wie kann man unter diesen Umständen also erwarten, dass sich Unternehmen an einem Prozess beteiligen, dessen Ziel die stetige „Versittlichung“ der Marktordnung ist? So etwas entspricht gar nicht den bisher gemachten Erfahrungen: die Einflussnahme von Unternehmen oder Verbänden auf Regelbil-

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dungsprozesse und Gesetzesinitiativen zur Durchsetzung eigener Interessen ist leider wesentlich besser dokumentiert als die Beteiligung von Unternehmen an der Erstellung von Rahmenbedingungen zur Förderung des Gemeinwohls. 2.2.2

Braucht es noch eine Unternehmens- und Individualethik?

Die Vertreter der Moralökonomik räumen zwar ein, dass der Markt eine ganze Reihe öffentlicher Institutionen schaffen und akzeptieren muss, um das eigennutzenorientierte Handeln in Gemeinwohl zu verwandeln. Generell wird aber davon ausgegangen, dass es eine Unternehmensethik im eigentlichen Sinne oder eine Individualethik in Wirtschaftsfragen gar nicht mehr braucht. Denn nichts anderes nimmt Homann für seinen Ansatz ja in Anspruch, wenn er zwischen moralisch konzipierten Spielregeln und moralfreien Spielzügen unterscheidet. Demnach gibt es für die Unternehmen in erster Linie lediglich die Pflicht, sich an die Rahmenordnung zu halten und innerhalb dieser ihren Gewinn zu maximieren. Die Unternehmen – also die Spieler – sind von moralischen Pflichten befreit und sollen das tun, was das Gemeinwohl am meisten fördert: die Gewinne maximieren. Nur wenn sich die Spielregeln als fehler- und lückenhaft erweisen, wenn das moralische Handeln der Marktakteure also nicht mehr durch die in der Rahmenordnung enthaltenen Anreize gewährleistet wird, sollen die Unternehmen dazu beitragen, die Rahmenordnung zu verbessern und damit den Konflikt zu lösen. Diese „Anpassung“ soll so erfolgen, dass moralische Ansprüche als Regeln oder Anreize in die Rahmenordnung integriert werden. Eine eigenständige Unternehmensethik ist dann gar nicht mehr erforderlich. Doch wie realistisch ist das? Wie bereits ausgeführt erleben wir ja tagtäglich, dass die Ausgestaltung wirtschaftlicher Regeln sich deshalb als so schwierig erweist, weil die hier von Homann geforderte Intervention der Unternehmen im Sinne einer „Versittlichung“ der Rahmenordnung geradezu unterbleibt und Unternehmen statt dessen– selbst oder über Mittler – sehr erfolgreich darin sind, die Regel der Marktwirtschaft zu ihren Gunsten zu verändern. Lobbyisten haben nicht das Ziel, eine defizitäre Rahmenordnung zu „versittlichen“, sondern sie zu bewirtschaften. Die Reihe von Beispielen ist lang und reicht vom Umgang mit öffentlichen Gütern über asymmetrischen Informations- und Machtkonstellationen bis hin zur Moral Hazard-Problematik (Göbel 2016: 79-80). Umso wichtiger wäre daher eine eigenständige Unternehmensethik, welche die Rolle von Unternehmen in Prozessen wie diesen aber auch gegenüber Stakeholdern reflektiert und gegebenenfalls korrigiert. Denn, Unternehmen bzw. Unternehmensvertreter verfügen in der Regel auch über Handlungsspielräume, die es ihnen ermöglichen, Alternativen zu wählen und Verantwortung zu übernehmen.

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Homann betont auch, dass individualethische Aspekte keine Rolle spielen sollen und dürfen, weil alle moralischen Fragen in der Rahmenordnung – also in den Spielregeln – aufgehen bzw. behandelt werden. Doch ist zu hinterfragen, ob die einzelnen Individuen in ihren jeweiligen Rollen als Produzent/in, Manager, Arbeitskraft oder Konsument/in tatsächlich aller moralischer Verantwortung enthoben sein können. Wäre nicht gerade in diesen Rollen jene explizite Individualmoral gefordert, welche die Moralökonomik ablehnt? Braucht es nicht gerade im Befolgen der Marktregeln und in der je konkreten Wettbewerbssituation Dinge wie Transparenz, Redlichkeit, Ehrlichkeit, Vertragstreue und so weiter? Kommt es in solchen Fällen nicht sehr wohl auf Individualmoral an? Besonders relevant wird das im oben beschriebenen Kontext, wenn sich die Rahmenordnung als defizitär erweist und gefordert wird, an der Verbesserung und Gestaltung der Rahmenordnung mitzuarbeiten. An solchen Prozessen mitzuwirken geht eigentlich nur, wenn man nicht eigennutzmaximierend unterwegs ist, sondern als moralisches Subjekt mit den dafür erforderlichen charakterlichen Eigenschaften ausgestattet ist. Dies wird auch von den Vertretern der Moralökonomik eingeräumt: „Moral und moralische Motivation von einzelnen sind unverzichtbar“ (Homann/Blome-Drees 1992: 40). Die Moralökonomik verzichtet also nicht gänzlich auf die Individualmoral, macht aber nicht deutlich, wo und wie diese ins Spiel kommt. 2.2.3

Primat der Ökonomik?

Deutlich hingegen ist die Moralökonomik, wenn es um den Stellenwert des Profits gegenüber moralischen Aspekten geht. In Fällen, in denen es einen Konflikt zwischen ökonomischem Nutzen und moralischen Ansprüchen gibt (die Rede ist vom sogenannten „ökonomischen Konfliktfall“), wird ökonomischen Interessen der Vorrang eingeräumt. Konkret bedeutet das, dass in Fällen, in denen moralisches Handeln von Unternehmen auf lange Sicht zum Ruin führen würde, auf moralisches Handeln verzichtet werden darf. Der Wettbewerb zwinge Unternehmen dazu, weil sie sonst in ihren eigenen Ruin laufen. Doch auch, wenn sich nur Nachteile wie eine verringerte Wettbewerbsfähigkeit ergeben, darf nach Ansicht der Moralökonomik von Unternehmen nicht verlangt werden, moralisch zu handeln. Einige Kritiker bezweifeln deshalb, dass die Moralökonomik überhaupt eine Ethik ist und fragen, ob sie nicht eher der Methodenlehre zugerechnet werden soll (Göbel 2016: 84). Tatsächlich ist zu hinterfragen, was hier als Ethik übrigbleibt, wenn davon ausgegangen wird, dass sich Moral immer lohnen muss und moralisch zu handeln nicht mehr zumutbar ist, wenn dabei der Profit geschmälert wird? Zeichnet sich eine praktische Ethik nicht gerade dadurch aus, dass sie dem Profitstreben von Unternehmen Einhalt gebietet? Dass sie dem Eigennutz eine Grenze setzt und dem

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Gemeinwohl Priorität einräumt, wo dies aus moralischen Gründen unerlässlich ist? Würde ein Primat der Ökonomik nicht in letzter Konsequenz bedeutet, alles dem Profitstreben unterzuordnen? Mit welchem Recht erhebt sich die Ökonomik über alle anderen Bereiche menschlichen Lebens? Diese Frage der „Entkoppelung“ von Ökonomik und Lebenswelt ist auch in der aktuellen wirtschaftsethischen Diskussion von Relevanz. Ist nun die Wirtschaft für die Menschen da oder sind die Menschen für die Wirtschaft da? Oder sind das überhaupt zwei unabhängige Welten, die miteinander nichts zu tun haben? Vor dem Hintergrund dieser Debatte entwickelte sich mit der Integrativen Wirtschaftsethik nach Peter Ulrich eine kritische Position zur Moralökonomik, die im Folgenden ebenfalls kurz vorgestellt werden soll.

3

3.1

Integrative Wirtschaftsethik: Wiederankoppelung der Ökonomik an die Lebenswelt Grundlagen und zentrale Aussagen

Peter Ulrich ist 1948 in Bern geboren und der Begründer der Integrativen Wirtschaftsethik. Von 1987 bis 2009 war er der Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen, des ersten derartigen eigenständigen Lehrstuhls im deutschsprachigen Raum. Ähnlich wie Karl Homann will Peter Ulrich den – aus seiner Sicht nur vermeintlichen – Gegensatz von Moral und Ökonomik aufheben. Damit hat es sich aber schon mit den Gemeinsamkeiten. Denn während Homann darauf abzielt, den Konflikt zwischen Moral und Ökonomik dadurch zu beheben, dass die Moral mit Hilfe der Ökonomik durchgesetzt wird, erkennt Ulrich bereits im Auseinanderfallen moralischer und ökonomischer Zielvorstellungen das eigentliche Problem. Mit dieser Entkoppelung, so Ulrich, hat sich die Ökonomie sukzessive verselbständigt und als selbstreferentielles System etabliert. Verloren gegangen ist dabei aber die Idee, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist. Die Ökonomie dient nicht mehr dem Menschen, sie treibt ihn vor sich her. Ulrich möchte die bei Aristoteles als oikonomoia bezeichnete Idee eines in den Lebensbereich der Menschen eingebetteten Wirtschaftens wiederherstellen, also den Konflikt von Ethik und Ökonomik bereits an der Wurzel überwinden. Ulrich formuliert das so: „Was wirtschaftlich vernünftig ist, lässt sich nicht rein aus der Logik der (Markt-)Wirtschaft bestimmen, sondern setzt lebenspraktische Orientierungspunkte voraus: einen kulturellen Lebensentwurf und ein Leitbild der Gesellschaft, in der wir leben möchten“ (Ulrich 2002: 9).

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Wirtschaften ist für Ulrich in erster Linie ein gesellschaftlicher Prozess mit dem Ziel, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen und die Lebensqualität zu optimieren (Ulrich 2008a: 11). Das Ziel ist die „Enttheoretisierung der Politischen Ökonomie“ und ihre Wiederankoppelung an die lebensweltliche Kommunikationsgemeinschaft der Bürger (Ulrich 1993: 264). Wirtschaftsethik ist für Peter Ulrich „… der Versuch, das herkömmliche Zwei-Welten-Konzept von Ethik und (vermeintlich autonomer) Ökonomik, von Moralität und ökonomischer Rationalität, als zweier Disziplinen, die sich angeblich nichts mehr zu sagen haben, ideologiekritisch zu überwinden. Sie begnügt sich weder mit der Verteidigung der ‚Moral des Marktes‘, wie es die in Deutschland so eigenartig dominierende Schule der Moralökonomik tut, noch mit der Rolle als ‚das Andere der ökonomischen Vernunft‘, nämlich einer bloß korrektiven Wirtschaftsethik, die unvermittelt gegen die als solche nicht weiter hinterfrage ökonomische Ratio argumentiert. Der integrative Ansatz versucht vielmehr für mehr ökonomische Vernunft zu argumentieren – allerdings nicht für ‚reine‘ ökonomische Rationalität im Sinne der Standardökonomik, sondern für eine ethisch integrierte, sozialökonomische Rationalität, wie wir noch sehen werden“ (Ulrich 2008: 61).

Ulrich geht es also um ein Mehr an Vernunft, aber nicht um ein Mehr an ökonomischer Sachvernunft, sondern um einen umfassenden, das Ganze der Menschheit im Blick habenden Vernunftbegriff. Für ihn hat sich die moderne Wirtschaftstheorie von ihren philosophischen Wurzeln verabschiedet und sich einer rein auf den individuellen Eigennutz stützenden ökonomische Rationalität verschrieben. Ein folgenschwerer Fehler, wie Ulrich meint – der dazu führt, dass die Ökonomik eine Eigenlogik entfaltet, die sich von den eigentlichen Bedürfnissen der Menschheit immer weiter entfernt. Er möchte effizienzorientierte Denkweise der Ökonomik in einen umfassenderen Vernunftbegriff einbetten und vertraut dabei – in klarer Abgrenzung zu Homann – auf das Individuum samt seiner Fähigkeit, vernünftig zu handeln. Ulrich kritisiert die Vorstellung einer „reinen“ Ökonomik: sie nehme für sich eine Eigengesetzlichkeit in Anspruch und verzichte auf lebensweltliche Bezüge. Der rein ökonomischen Rationalität stellt Ulrich eine sozial-ökonomische Rationalität gegenüber, welche die „reine“ Ökonomik um nicht-ökonomische Faktoren ergänzt. Ulrich nennt das auch eine qualitative Ökonomik (im Gegensatz zur quantitativen Ökonomik), welche insbesondere soziale und gesellschaftliche Ansprüche und Zielsetzungen in den Blick nimmt. Zentral ist für Peter Ulrich dabei der Begriff der Lebensdienlichkeit. Wirtschaft ist eben nicht nur auf sich selbst bezogen und aus sich selbst heraus eine bloß „technische“ Veranstaltung, sondern immer schon

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auf den Menschen und seine ganzheitlichen Bedürfnisse bezogen. Er versteht die sozialökonomische Rationalitätsidee demnach auch als eine Leitidee vernünftigen Wirtschaftens aus dem Blickwinkel der Lebenswelt (Büscher 2011: 102). Das bedeutet, dass vernünftiges Wirtschaften nicht nur effiziente und effektive Bedürfnisbefriedigung bedeutet und den Menschen nicht nur als Konsumenten betrachtet, sondern dass sich die Vernünftigkeit des Wirtschaftens daran bemisst, in welchem Maße sie zum Gelingen menschlichen Lebens beiträgt. Der Anspruch an die Wirtschaft ist damit ein weit höherer: „richtig“ ist jenes wirtschaften, welches dem Leben in einem umfassenden Sinne dient. Ulrich lehnt die ökonomische Logik mit all ihren quantitativen Elementen und Modellen jedoch nicht ab – im Gegenteil: er anerkennt deren Sinnhaftigkeit, möchte sie aber in eine grundlegendere Überlegung nach dem Sinn und den Zielen des ökonomischen Handelns einbetten. Er macht damit deutlich, dass Wirtschaft eben nicht pure Theorie, sondern Teil unserer Kultur und Lebenswelt ist. Ökonomische Gesetze sind demnach keine physikalischen oder Naturgesetze, sondern das Ergebnis sozialer Prozesse und von daher gestaltbar und veränderbar. Wirtschaft muss sich also an dem orientieren, was „Sinn“ macht. Und Ulrich versteht unter diesem „Sinn“ etwas ganz Umfassendes: „Sinn ist, was das menschliche Leben mit Bedeutsamkeit erfüllt, indem es dieses auf das für unser Leben Wesentliche ausrichtet, nämlich auf das, was wir im Leben als Ganzes wollen“ (Ulrich 2008a: 207).

Die Wirtschaft ist in diesem Sinne also stets nur Mittel zum Zweck und dieser eigentliche Zweck ist das Gelingen menschlichen Lebens. Wirtschaft wird bei Ulrich also in den Dienst des Menschen gestellt. Wie möchte Ulrich das nun bewerkstelligen? Sein Vorschlag ist die Überwindung des auf wirtschaftliche Sachlogik beschränkten Rationalitätsprinzips der Ökonomik mit Hilfe kommunikativer Ethik. Nach Ulrich ist die Ökonomik ohnehin schon mitten in einer Rationalitätskrise, die sich an den wachsenden gesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Krisen und Herausforderungen deutlich zeigt. Die Wirtschaft dient nicht mehr den Menschen, sondern bestenfalls noch einem Teil der Menschen, während ein anderer, immer größer werdender Teil, von der Wirtschaft zunehmend in die Pflicht genommen wird. Die Ziele, nach denen die Wirtschaft zu organisieren ist, müssen laut Ulrich deshalb neu formuliert werden. Verfahrenstechnisch bedient sich Ulrich dabei der Idee der Diskursethik in Anlehnung an Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel, die auf eine kommunikative

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Vermittlung der in der Gesellschaft existierenden Interessen und Bedürfnisse abzielt. Wesen und Ziel der Ökonomik wird demnach in diskursiven Verfahren ermittelt, die– wie es die Diskursethik vorsieht – Informationsasymmetrien und Machtverhältnisse bestmöglich ausgleichen. Gegenüber dem Ansatz der Moralökonomik von Karl Homann, der auf die Bedeutung der Rahmenordnung fokussiert, setzt Ulrich also auf diskursive Verfahren zur Ermittlung ökonomischer Leitvorstellungen. Als Orte dieser Diskurse nennt Ulrich drei Ebenen, in denen die Fragen zu Moral und Ökonomik zusammengeführt werden: 1.

2.

3.

Die Wirtschaftsbürger-Ethik (auch Mikroebene oder Individualethik): Darunter ist das Berufs- und Privatleben von Menschen gemeint, jene Orte also, an denen sich Menschen an moralische Einsichten und Regeln halten. Die Unternehmens-Ethik (auch Mesoebene oder Institutionenethik), innerhalb der der Umgang von Unternehmen mit den Stakeholdern und der kritischen Öffentlichkeit verhandelt und die Verantwortung der Unternehmen an der Mitgestaltung einer entsprechenden Rahmenordnung behandelt wird. Die Ordnungs-Ethik (auch Makroebene oder Strukturen-Ethik), innerhalb derer es um moralische Fragen bezüglich der Ordnungspolitik wirtschaftlichen Handelns geht.

Im Zentrum dieser drei Ebenen steht der Wirtschaftsbürger. Und dieser ist bei Ulrich auch doppelt gefordert: einerseits in seinem Berufs- und Privatleben und andererseits als Bürger und Mitgestalter der gesellschaftlichen Prozesse und Regeln, der seine privaten Interessen gegenüber den Interessen des Gemeinwesens hintanstellt. Nach Ulrich tut das der Wirtschaftsbürger aber nicht, weil er so selbstlos ist, sondern weil er ein solches Handeln als vernünftig erkennt. Fassen wir auch die Position von Peter Ulrich zusammen: 

Ulrich sieht im Auseinanderfallen moralischer und ökonomischer Zielvorstellungen das eigentliche Problem. Seiner Ansicht nach darf es keine von der sozialen Realität der Menschen losgelöste ökonomische Rationalität geben. Sein Vorschlag ist die Überwindung des Konflikts von Moral und Ökonomik an den Wurzeln, die Trennung von ökonomischer und sozialer Realität soll wieder aufgehoben werden.

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Ulrich kritisiert nicht nur, dass es die Vorstellung einer „reinen“ Ökonomik gibt, sondern auch, dass diese selbstreferentiell und dominierend ist. Ulrich verkennt nicht die Vorzüge ökonomischer Sachlogik, will sie aber wieder in den Lebensbereich der Menschen einbetten. Aus der ökonomischen Rationalität wird dadurch eine sozio-ökonomische Rationalität. Deren Kerneigenschaft ist die Lebensdienlichkeit: an ihr hat sich die ökonomische Sachlogik zu orientieren. „Richtiges“ Wirtschaften zielt demnach darauf ab, was „Sinn“ macht. „Sinn“ beschreibt für Ulrich das, was wir im Leben „als Ganzes wollen“: Ein gelingendes Leben, Erfüllung in dem, was wir tun, die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen. Methodisch bedient sich Ulrich dabei der Diskursethik, um die konkreten Ziele der Ökonomik kommunikativ zu ermitteln. Zentraler Angelpunkt dieser kommunikativen Verfahren ist der mündige Wirtschaftsbürger. Als Orte der Moral definiert Ulrich die Mikroebene oder Individualethik (WirtschaftsbürgerEthik), die Mesoebene oder Institutionenethik (Unternehmensethik) und die Makroebene oder Strukturenethik (Ordnungs-Ethik).

3.2

Kritische Rückfragen

Das Anliegen von Peter Ulrich, Wirtschaftswissenschaft und praktische Wirtschaft an gesellschaftliche Bedürfnisse rückzubinden, ist in der Tat wünschenswert. Seine Kritik an der „entkoppelten“ Ökonomik ist berechtigt und es macht Sinn darüber nachzudenken, wie eine Ausrichtung der Wirtschaft auf ihren eigentlichen Zweck – Mensch und Gesellschaft – und durch die Mitgestaltung mündiger Wirtschaftsbürger vollzogen werden kann. Das Verdienst von Peter Ulrich ist es demnach zweifelsohne, dass er mit seiner Integrativen Wirtschaftsethik eine wirtschaftswissenschaftliche Verengung aufbricht, welche Wirtschaft ausschließlich als Selbstzweck mit naturgesetzlichen Determinanten versteht und damit dazu beiträgt, dass soziale Missstände und ökologische Zerstörung als Kollateralschäden eines alternativlosen Zustandes missverstanden werden. Dennoch sind kritische Anfragen an das Konzept der Integrativen Wirtschaftsethik zu richten: 3.2.1

Hat die Entkoppelung von Ökonomik und Lebenswelt auch Vorteile?

Zum einen kann man kritisieren, dass das Konzept der Integrativen Wirtschaftsethik die Entkoppelung von Moral und Wirtschaft zu negativ sieht und die damit erreichten Vorteile zu wenig würdigt. Seit dem Beginn der Moderne hat mit der

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arbeitsteiligen Produktion ein folgenreicher Übergang von face-to-face-Beziehungen hin zu anonymen Abläufen stattgefunden, in dessen Folge es zwar immer mehr zur Ausprägung einer reinen Sachlogik des Wirtschaftens gekommen ist, der aber dafür auch eine wesentliche Leistungssteigerung der Wirtschaft bewirkt hat. Diese Entkoppelung war also zunächst einmal die Ursache für das, was wir heute technischen Fortschritt und Steigerung der Lebensqualität nennen. In diesem Sinne kann man der Entkoppelung der Wirtschaft von unzeitgemäßen moralischen Einschränkungen auch durchaus etwas abgewinnen. Dass diese Entkoppelung auch zu weit führen kann und vermutlich auch schon zu weit gegangen ist, lässt sich nicht leugnen. Zu hinterfragen ist allerdings, ob diese Entkoppelung überhaupt noch rückgängig zu machen ist bzw. gemacht werden soll. Man könnte nämlich kritisch anfragen, ob diese Wiedereinbettung in einen moralischen Kontext vor dem Hintergrund drängender sozialer und ökologischer Herausforderungen überhaupt wünschenswert ist, wenn dadurch die Leistungs- und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft eingeschränkt wird. Vor allem ist zu fragen, wie dieser moralische Kontext in pluralistisch geprägten Gesellschaften aussehen kann. Wer entscheidet, was moralisch ist und was nicht? 3.2.2

Ist der „Wirtschaftsbürger“ ein realistisches Modell?

Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Idee des Wirtschaftsbürgers, der seinen eigenen Vorteil dem Gemeinwohl unterordnet, in anonymisierten Wirtschaftsbeziehungen überhaupt realistisch ist. Ulrich mutet diesem Wirtschaftsbürger ja einiges zu, wenn er fordert, dass er dem Gemeinwohl Vorrang gegenüber dem Eigennutz einräumt. Wird hier nicht ein moralisches Ideal des Menschen unterstellt, dass sich so in der Realität gar nicht finden lässt? Ist das nicht ein verzerrtes Menschenbild? Sind Menschen heute tatsächlich bereit, auf eigene Nutzenmaximierung zu verzichten? Dass der mündige Wirtschaftsbürger ein anzustrebendes Ideal ist, steht aus wirtschaftsethischer Sicht außer Streit. Die alltägliche Erfahrung mit Schnäppchen und Geiz-ist-geil-Mentalität stimmt diesbezüglich jedoch nicht sonderlich hoffnungsvoll.

4

Fazit: Ist der Konflikt zwischen Moral und Ökonomik lösbar?

Beide Ansätze, sowohl die Moralökonomik als auch die Integrative Wirtschaftsethik, haben Modellcharakter. Es handelt sich dabei nicht um fertig ausformulierte Bedienungsanleitungen, die sich eins zu eins in die Praxis umsetzen ließen, sondern

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um theoretische Annäherungen an die Frage, wie der Konflikt zwischen Moral und Ökonomik grundsätzlich aufgelöst werden kann. Hinsichtlich ihres Lösungsansatzes unterscheiden sich die beiden Modelle fundamental: während moralische Ansprüche in der Moralökonomik durch eine entsprechend ausgestaltete Rahmenordnung und über ökonomische Anreize durchgesetzt werden sollen, fordert die Integrative Wirtschaftsethik die Einbettung der ökonomischer Sachlogik in der Lebenswelt der Menschen. Die Moralökonomik agiert sozusagen von oben, von der Rahmenordnung her, die Integrative Wirtschaftsethik argumentiert eher von untern, vom Individuum und seinen Bedürfnissen. Während die Moralökonomik in einer Rahmenordnung Anreize für moralisches Handeln setzen will und sich damit nur auf die Makroebene bezieht, baut die Integrative Wirtschaftsethik auf mündige Individuen, die auf Mikro-, Meso- und Makroebene Ziele für eine lebensdienliche Ökonomik formulieren. Auch in Bezug auf die Rolle der Unternehmensethik unterscheiden sich die beiden Ansätze. Während für die Moralökonomik eine eigenständige Unternehmensethik gar nicht mehr erforderlich ist, nimmt sie im Ansatz von Ulrich einen wichtigen Stellenwert ein. Interessant ist auch, wie unterschiedlich das Individuum, der wirtschaftliche Akteur, charakterisiert wird. Während das Individuum bei Homann im besten Fall auf einen eigennutzorientierten und anreizfokussierten „Spieler“ reduziert wird, mutet Ulrich ihm die Rolle des mündigen Wirtschaftsbürger zu, der in der Lage ist, das Gemeinwohl vor seine eigenen Interessen zu stellen. Bezugnehmend auf das eingangs angeführte Beispiel der mehrfachen Rückforderung einmal bezahlter Kapitalertragssteuern (Cum-Ex- bzw. Cum-Cum-Geschäfte) lassen sich die Unterschiede der beiden Ansätze noch einmal reflektieren. Ein in diese Geschäfte eng involvierter Steueranwalt hat gemeint, dass diese Geschäfte nicht unmoralisch gewesen seien, weil sie sich im Rahmen des gesetzlich Erlaubten bewegt haben. Das zeigt einerseits, dass sich der Steueranwalt des wichtigen Unterschieds zwischen Legalität und Legitimität nicht ausreichend bewusst ist. Andererseits erinnert seine Sichtweise an das Konzept der Moralökonomik, demzufolge die moralischen Regeln wirtschaftlichen Handelns in der Rahmenordnung (in den Spielregeln) enthalten sind und die Wirtschaftsakteure automatisch moralisch handeln, wenn sie sich an diese Spielregeln halten. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass eine Rahmenordnung, die derartige Transaktionen überhaupt zulässt, moralisch defizitär bzw. fehlerhaft ist, weil sie die Bereicherung einiger weniger zulasten der Allgemeinheit ermöglicht. Die Unternehmen der Finanzwirtschaft oder auch der betreffende Anwalt hätten – im Rahmen der in der Moralökonomik vorgesehenen Pflicht zur „Versittlichung“ der Rahmenordnung – dafür zu sorgen, dass diese Fehlanreize behoben werden. Das passierte freilich nicht und es ist fraglich,

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ob es realistisch ist anzunehmen, dass rational agierende Nutzenmaximierer das je tun werden. Die Moralökonomik geht davon aus, dass moralische Appelle an eigennutzorientierte Individuen keine Wirkung haben und das Individuum durch Regeln und Anreize gesteuert werden muss, um moralische Normen durchzusetzen. Aber auch hinsichtlich des Konzepts der Integrativen Wirtschaftsethik lässt sich einwenden, ob denn eine eigenständige Unternehmensethik oder der mündige Wirtschaftsbürger ein solches Problem verhindern hätten können. Aufgrund der Komplexität dieser Geschäfte wäre der Personenkreis, der in der Lage ist, die Sachlage sowohl technisch als auch im Sinne der Lebensdienlichkeit zu beurteilen, wohl relativ klein. Diese Personen müssten – als mündige Wirtschaftsbürger – in einem Fall wie diesem nicht nur Vorkehrungen treffen, um zu verhindern, dass solche Geschäfte überhaupt möglich sind, sondern sich auch bewusst dagegen entscheiden, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Ob Menschen in solchen Situationen bereit sind, im Sinne des Gemeinwohls und nicht im eigenen Interesse zu agieren, bleibt dahingestellt. Die Praxis zeigt jedenfalls, dass dies nicht immer der Fall war und wohl auch nicht automatisch der Fall sein wird. Die Integrative Wirtschaftsethik geht jedoch davon aus, dass das Individuum grundsätzlich dazu in der Lage ist, moralische Entscheidungen verantwortlich zu treffen und dementsprechend zu handeln, wenn es dazu in die Lage versetzt wird. Dem anthropologisch eher pessimistischen Ansatz der Moralökonomik steht damit der anthropologisch eher positive Ansatz der Integrativen Wirtschaftsethik gegenüber. Letztlich kommt es wohl darauf an, was dem einzelnen Individuum moralisch zugetraut wird. Die Frage, wie der Konflikt zwischen Moral und Ökonomik gelöst werden kann, ist deshalb auch eine Frage der Möglichkeiten und Grenzen des Menschen.

Literaturverzeichnis Büscher M. (2011): Integrative Wirtschaftsethik (Peter Ulrich). In: Aßländer (Hrsg.): Handbuch Wirtschaftsethik. J.B. Metzler: 100-107. Göbel E. (2016): Unternehmensethik. Grundlagen und praktische Umsetzung. UVK Verlagsgesellschaft. Homann K. (2007): Ethik in der Marktwirtschaft. Schriftenreihe des Roman Herzog Instituts. Position Nr. 3. Homann, K. (2008): Das ethische Programm der Marktwirtschaft. In: Waldkirch (Hrsg.): Die Moral der Wirtschaft. LIT-Verlag.

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Homann K./Blome-Drees F. (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik. UTB. Ulrich P. (1993): Transformation der ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft. Haupt Verlag. Ulrich P. (2002): Der entzauberte Markt. Eine wirtschaftsethische Orientierung. Herder. Ulrich P. (2008): Auf der Suche nach der ganzen ökonomischen Vernunft. Der St. Gallener Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik. In: Kersting (Hrsg.): Moral und Kapital. Grundfragen der Wirtschafts- und Unternehmensethik. Mentis: 61-75. Ulrich P. (2008a): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Haupt Verlag.

Business Metaphysics und SustainAbility: Wie ein nachhaltiges Transaktionsmanagement generell funktioniert Michael Schramm



Einleitung .................................................................................................... 73 



„SustainAbility“ .......................................................................................... 74  2.1  2.2  2.3 

Williamsons Auslassung .................................................................. 75  „The Fallacy of Misplaced Concreteness“ ....................................... 76  Der Begriff der „SustainAbility“ ..................................................... 78 



Eine kurze Case Study: Hunt’s .................................................................... 80 



„Business Metaphysics“ .............................................................................. 82  4.1  4.2 

Metaphysik ....................................................................................... 83  Wirtschaftsmetaphysik ..................................................................... 86 



Nachhaltiges Transaktionsmanagement ...................................................... 90 

1

Einleitung

Probleme gibt es reichlich. Konkrete Problemlösungen sind dagegen ein knappes Gut. Deswegen ist guter Rat im Allgemeinen teuer. Dies gilt auch für eine realistische Sicht eines nachhaltigen Managements, wie der frühere Geschäftsführer und heutige Aufsichtsratsvorsitzende von Bosch, Franz Fehrenbach, treffend anmerkte: „Ein Patentrezept [...] gibt es nicht, wohl aber ein patentes Wort: die Nachhaltigkeit“ (Fehrenbach 2009: 2). Der Begriff der „Nachhaltigkeit“ verkörpert eine wichtige „regulative Idee“, mit der aber – realistisch betrachtet – konkrete Problemlösungen noch nicht mitgeliefert sind. Meine Darlegungen hierzu erfolgen dabei aus der Perspektive einer

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_5

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Michael Schramm

„Business Metaphysics“ – eines Forschungsprogramms, das ich seit einigen Jahren verfolge. Konkret wird versucht, fünf (konzeptionelle) Thesen zu plausibilisieren. Sie lauten (in der Kurzfassung): 1. 2. 3.

4.

5.

2

Die ultimativen (und einzigen) Wirklichkeiten in der Welt der Wirtschaft sind Transaktionen. Reale, also konkret geschehende Transaktionen sind (sozial- und naturalontologisch) polydimensionaler Natur. Die Wirklichkeit einer Firma ist ein „organisch“ evolvierendes (sich veränderndes, wachsendes oder schrumpfendes) Netzwerk, das in seinen Transaktionen existiert. Angesichts der „moralökonomischen Kontingenz“ der Transaktionen – also der Ungewissheit, ob sich (öko)moralische Vorleistungen eines Unternehmens betriebswirtschaftlich auszahlen oder nicht – ist das Management polydimensionaler Transaktionen eine echte Herausforderung. Das Leitbild der „SustainAbility“ fasst die Herausforderungen des Transaktionsmanagements zusammen, indem es die „moralökonomische Kontingenz“ der Transaktionen mit der „zeitlichen Kontingenz“ der Transaktionsnetzwerke (der Frage: „auch morgen noch?“) verbindet.

„SustainAbility“

„Nachhaltigkeit“ („Sustainability“) ist ein polydimensionales Konzept. Üblicherweise werden drei Dimensionen unterschieden, die meist als „Säulen“ oder als „triple bottom line“ (Elkington 1999) bezeichnet werden. Der an dieser Stelle für mich hier zunächst springende Punkt ist in der Tatsache zu sehen, dass diese drei „Säulen“ reale Bedingungen der zeitlichen Fortexistenz benennen, also Bedingungen, mit der uns die konkrete Realität konfrontiert: „Society depends on the economy – and the economy depends on the global ecosystem, whose health represents the ultimate bottom line“ (Elkington 1999: 73). Es geht bei dem Konzept der „Nachhaltigkeit“ also nicht um eine abstrahierende Analyse aus dem spezifizierten Blickwinkel einer ausdifferenzierten Einzelwissenschaft, sondern um die dauerhafte, in der Zukunft sich fortsetzende – eben: nachhaltige – Ermöglichung des realen Wirtschaftens in unserer konkreten Welt. Wenn sich das Sustainability-Konzept aber nicht um die abstrakten Modellwelten der Einzelwissenschaften dreht, sondern um das Geschehen des realen Lebens in dieser Welt, ist unmittelbar klar, dass das Konzept multiperspektivisch angelegt sein muss. Denn das wirkliche Leben ist „bunt“ („polydimensional“): es gibt reale ökologische Rahmenbedingungen für das reale Wirtschaften, das wiederum eine

Business Metaphysics und SustainAbility

75

reale Bedingung für das konkrete („soziale“) Florieren der Gesellschaft und seiner Bürger ist. Von daher ist klar, dass „SustainAbility“ ein polydimensionales Gegenprogramm zu einzelwissenschaftlichen Reduktionismen, etwa zu einem ökonomistischen Reduktionismus darstellt.

2.1

Williamsons Auslassung

Wissenschaftstheoretisch besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich eine ausdifferenzierte Einzelwissenschaft nicht durch einen Gegenstandsbereich, sondern durch eine spezifische Fragestellung definiert. Jede der wissenschaftlichen Fachdisziplinen analysiert die eine Weltwirklichkeit aus einer spezifischen Perspektive, nimmt sie gewissermaßen durch eine spezifische „Brille“ oder „Linse“ wahr, durch die sie alle Dinge betrachtet. Dagegen ist zunächst einmal überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil: die Fruchtbarkeit oder Nützlichkeit der ausdifferenzierten Einzelwissenschaften beruhen gerade auf diesen Spezifizierungen der Perspektiven, auf dieser Fokussierung oder Schärfung des Blicks mittels einer spezifischen „Brille“. Jede Wissenschaft sieht als solche nicht mehr das Gesamt der einen Weltwirklichkeit, sondern nur noch diejenigen Aspekte, die durch ihre jeweilige „Brille“ sichtbar sind. Das hat den Vorteil, dass man spezifische Aspekte der Wirklichkeit sehr viel schärfer in den Blick nehmen kann. Darin besteht ja der Zweck der ausdifferenzierten Wissenschaften. Das Problem beginnt allerdings dann, wenn man die Perspektive einer ausdifferenzierten Einzelwissenschaft – den Blick durch eine spezifische „Brille“ – mit der konkreten Wirklichkeit selber verwechselt. Wissenschaftliche Modelle sind selektiver Natur. Die selektiven Modelle stellen aber Abstraktionen von der Gesamtrealität dar. Und häufig geschieht es, dass man das Abstrahierte für die Gesamtwirklichkeit hält (oder zumindest als den einzig relevanten Aspekt der Gesamtwirklichkeit erachtet). Den Versuch, die Geschäftswirklichkeit auf die wirtschaftliche Dimension zu reduzieren, kann man an einer Zitatauslassung studieren, die der Ökonom Oliver Williamson bei seiner Nobel Lecture (Dezember 2009) vorgenommen hat. Zur Untermauerung seiner Grundthese, dass die Grundeinheit der Analyse einer effektiven (Firmen)Governance die distinkte „Transaktion“ sei, zitiert Williamson einen älteren Text von John R. Commons, einem der führenden Institutionenökonomen der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts: „John R. Commons, who was a leading institutional economist during the first half of the twentieth century, formulated the problem of economic organization as follows: ‘The ultimate unit of activity … must contain in itself the three principles of conflict, mutuality, and order. This unit is a transaction’ (Commons 1932: 4)“ (Williamson 2009: 673).

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Interessant ist hier nun die Tatsache, dass der von Williamson zitierte Aufsatz von Commons den Titel „The Problem of Correlating Law, Economics, and Ethics“ trägt. Bereits dieser Titel signalisiert, dass bei Commons die „Transaktion“ eben nicht exklusiv ökonomischer Art ist. Vielmehr wird die Basiseinheit „Transaktion“ polydimensional konzeptionalisiert. In diesem Zusammenhang fällt auch eine Auslassung auf, die Williamson innerhalb seines Commons-Zitats vornimmt. Denn die komplette Originalstelle bei John R. Commons lautet: „Thus the ultimate unit of activity which correlates law, economics and ethics must contain in itself the three principles of conflict, mutuality, and order. This unit is a transaction“ (Commons 1932/1996: 454).

Das bedeutet, dass Williamson zwar wie bei Commons die Transaktion mikroanalytisch als die Basiseinheit der Analyse ansetzt, dass er diese Analyse aber ökonom(ist)isch enggeführt hat: Die Transaktion wird nur noch exklusiv aus dem Blickwinkel der Transaktionskosten betrachtet, während die von Commons diagnostizierte Polydimensionalität (ökonomischer, rechtlicher und ethischer Art) unter den Tisch fällt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Selbstverständlich steht völlig außer Frage, dass die funktional ausdifferenzierten Einzelwissenschaften im modernen Wissenschaftsbetrieb – in unserem Zusammenhang also vor allem die Ökonomik – außerordentlich fruchtbare Arbeit geleistet haben und leisten, wenn es darum geht, den Blick für die spezifisch ökonomischen Aspekte wirtschaftlicher Entscheidungssituationen zu beleuchten.1 Dennoch muss auch die von Commons benannte Korrelation von Ökonomik, Rechtswissenschaft und Ethik – zu ergänzen wäre noch die ökologische Dimension – Berücksichtigung finden, wenn man eine realitätsgerechte Analyse der Transaktionen des operativen Managements vornehmen will.2

2.2

„The Fallacy of Misplaced Concreteness“

Wie bereits gesagt, beginnt das Problem erst dann, wenn man die spezifische Perspektive einer ausdifferenzierten Einzelwissenschaft mit der konkreten Wirklichkeit verwechselt. Angesichts des Reduktionismus der Einzelwissenschaften ist es

1

2

Es ist zweifelsohne nützlich, die ökonomischen Situationsaspekte herauszuarbeiten, doch bedeutet das nicht, dass die realen Situationen nur monodimensional ökonomischer Natur sind. Es steht außer Frage, dass Williamson nicht etwa nur eine abstrakte Modellwelt im Auge hat. Er sagt ausdrücklich, dass seine Theorie – vor allem seine „anti-ethische“ Annahme des „Opportunismus“ der Manager – „der Wirklichkeit entspricht“ (Williamson 1985/1990: 76).

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wichtig, einen Fehlschluss zu vermeiden, den der Philosoph Alfred North Whitehead als den „Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit“ („Fallacy of Misplaced Concreteness“) bezeichnet hat: „Hier liegt ein Irrtum vor; [...] es handelt sich [...] um den [...] Fehler, das Abstrakte mit dem Konkreten zu verwechseln. Es ist ein Beispiel für das, was ich den ,Trugschluß der unzutreffenden Konkretheitʻ nennen werde. Dieser Trugschluß hat in der Philosophie große Verwirrung angerichtet“ (Whitehead 1925/1984: 75).

Um zu illustrieren, worin dieser Fehlschluss besteht, greife ich folgendes schlichte Beispiel heraus: Die Verkehrsregel „Stop bei Rot!“ ist als solche noch abstrakt. Sie gewinnt erst und nur dann konkrete Wirklichkeit, wenn sich die Leute in ihrem konkreten Verhalten tatsächlich daranhalten, wenn sie sich das Stehenbleiben tatsächlich zur Gewohnheit machen. Das ist jedoch nicht immer der Fall: Manche bleiben tatsächlich stehen; andere übersehen das Rot, weil sie gerade träumen; wieder andere ignorieren es wissentlich, weil ihr Eigennutzinteresse, jetzt schnell von A nach B zu kommen, in der Situation überwiegt. Hat man aber nur die abstrakte Spielregel im Blick, so hat man vom Rest der vielen konkreten Dinge, die faktisch auch eine Rolle spielen in der Welt, wie sie wirklich funktioniert, eben „abstrahiert“. Die konkrete Wirklichkeit an der roten Ampel sieht anders aus als die (an sich) nur virtuelle oder abstrakte Verkehrsregel „Stop bei Rot!“ Daher sagt Whitehead (1925/1984: 75): Das Problem bei einer „ausschließlichen Konzentration auf eine Gruppe von Abstraktionen besteht […] darin, daß man […] vom Rest der Dinge abstrahiert […]. Soweit die ausgeschlossenen Dinge […] wichtig sind, bleiben unsere [abstrahierten, M.S.] Denkweisen unangemessen.“

Ein weiteres Beispiel: Ein Stadtplan ist normalerweise eine nützliche Sache. Aber zugleich muss man sagen: Der Stadtplan ist nicht die wirkliche Stadt. Abstraktionen – wie ein Stadtplan – können außerordentlich nützlich sein. Aber sie können – „soweit die ausgeschlossenen Dinge wichtig sind“ (Whitehead) – auch suboptimale Ergebnisse produzieren, wenn die vereinfachenden Abstraktionen der Wirklichkeit nicht hinreichend angemessen sind und daher das Problem verfehlen. Jedenfalls darf man das Abstrakte nicht mit dem Konkreten (der Wirklichkeit) verwechseln. Nun hat Alfred N. Whitehead angesichts des „Fallacy of Misplaced Concreteness“ die These vertreten, dass genau hier ein wichtiger Job von Philosophie bzw. Metaphysik beginne:

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„Wir können nicht ohne Abstraktionen denken; deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, unsere Abstraktionsweisen sehr sorgfältig zu überprüfen. Genau hier findet die Philosophie ihren Platz als wesentlicher Beitrag zum gelungenen gesellschaftlichen Fortschritt. Sie ist Kritik der Abstraktionen“ (Whitehead 1925/1984: 75).

So besteht im Hinblick auf „den ‚Trugschluß der unzutreffenden Konkretheit‘ [...] die Aufgabe der Metaphysik [...] darin, die Anwendungsgrenzen solcher abstrakter Begriffe zu bestimmen“ (Whitehead 1929/1984: 184). Ich komme in Abschnitt 3 auf diese Aufgabe einer „(Business) Metaphysics“ zurück.

2.3

Der Begriff der „SustainAbility“

Man kann dem Begriff der „Nachhaltigkeit“ alles Mögliche nachsagen – etwa, dass er auf „nebulösen“ und „frei vagabundierenden“ Werturteilen beruhe (Homann 1996: 33-34) oder nicht mehr als ein „Gummiwort“ (Wullenweber 2000: 23) sei. Eines aber ist trotz der Tatsache, dass „Nachhaltigkeit“ als Containerbegriff fungiert, sicher: „Sustainability“ ist – wie bereits erwähnt – kein reduktionistisches, sondern ein polydimensionales und auf die konkreten Wirklichkeitszusammenhänge gerichtetes Konzept. Für meine Zwecke möchte ich drei Bedeutungsebenen dieses polydimensionalen Begriffs unterscheiden: 1.

2.

Zeit: Formal lenkt das Konzept die Aufmerksamkeit vor allem auf den Faktor Zeit. Geht man vom englischen Wort aus – was in der Literatur merkwürdigerweise selten geschieht –, dann geht es um die Fähigkeit (ability), die eigene Existenz aufrechtzuerhalten (to sustain). Diesen Wortsinn verdeutlicht die Schreibweise, die einer der Pioniere des Konzepts, John Elkington, in seinen Büchern und auch als Name einer von ihm gegründeten Unternehmensberatung verwendet: „SustainAbility“ (https://sustainability.com). Wörtlich meint der Begriff also „so etwas wie Dauerhaftigkeit“ (Suchanek 2015: 159) oder Zukunftsfähigkeit. Rein formal verweist das Wort also auf die „zeitliche Einbettung“ (Suchanek 2015: 160) aller Geschehnisse in dieser realen Welt. Es geht darum, „auch morgen noch“ (Clausen 2009: 75) zu existieren. Gegenstandsbereiche: Die drei bereits benannten „Säulen“ oder „bottom lines“ – „economy“, „society“ und „environment“ – verweisen auf die wichtigsten Gegenstandsbereiche von Nachhaltigkeit. Fokussiert man vor allem die Nachhaltigkeit der modernen Wirtschaft – was in allen Einlassungen zum „Nachhaltigkeitsmanagement“ der Fall ist –, dann werden erstens wirtschaftliche Transaktionen (Gegenstandsbereich 1) hinsichtlich ihrer Zukunftsfähigkeit in den Blick genommen, wobei zweitens deren Einbettung in die Gesell-

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3.

3

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schaft (Gegenstandsbereich 2) – etwa die juristischen Spielregeln oder die moralische Akzeptanz des Wirtschaftssystems oder der Arbeitsbedingungen – thematisiert wird, und drittens die ökologischen Globalrestriktionen (Gegenstandsbereich 3) für ein zukunftsfähiges Wirtschaften wahrgenommen werden. Die Aufzählung dieser drei Gegenstandsbereiche orientiert sich dabei weitgehend an der pragmatischen Frage, welche Faktoren entscheidend dafür sind, dass unsere moderne Wirtschaft „auch morgen noch“ zu produktiven Transaktionen fähig sein wird. Dimensionen: Schließlich verbinden sich mit dem ontologisch pluralen Gegenstandsbereich der Nachhaltigkeit auch inhaltlich unterschiedliche – und nicht vollständig ineinander aufzulösende – Dimensionen. Die Säule „economy“ repräsentiert den „economic point of view“, die Säule „society“ den „legal point of view“ und den „moral point of view“ (würde ich jedenfalls sagen), und die Säule „environment“ natürlich den „ecological point of view“.3 Hierzu noch eine philosophische Anmerkung. Das Konzept der Nachhaltigkeit ist ein aus pragmatischen Gründen entstandenes und auch für pragmatische Zwecke dienliches Konzept. Philosophisch ist es nicht unbedingt durchbuchstabiert. Will man diesbezüglich etwas nachholen, so wäre zu sagen, dass die ersten drei der genannten Dimension aus „ontologischer“ Sicht gesellschaftlicher Natur sind, also der „sozialen Ontologie“ zuzurechnen sind, während die ökologische Dimension in die Rubrik der „naturalen Ontologie“ gehört.4 Sämtliche EreigAngesichts dieser vier inhaltlichen Dimensionen der Nachhaltigkeit fällt auf, dass etwa in der bereits zitierten Definition einer wirtschaftlichen „Transaktion“ durch John R. Commons („the ultimate unit of activity which correlates law, economics and ethics“) die ökologische Dimension nicht genannt wird. Dies ist nicht erstaunlich, da Commons im Jahr 1932 natürlich das ökologische Problem noch nicht im Blick hatte und deswegen nur die gesellschaftlichen Dimensionen einer Transaktion thematisierte. Hierzu ein paar klärende Erläuterungen. (1) Die „Ontologie“ ist eine klassische Disziplin der theoretischen Philosophie, die sich mit Frage befasst, welche grundlegenden Arten von „Dingen“ es in unserem Universum gibt, kurz also: „was es gibt“ (Searle 1998/2015: 13; Searle 1998/1999: 5): „ontology (what exists)“). Traditionell werden hier drei „Schubladen“ von unterschiedlichen „Dingen“, die unser Universum beherbergt, unterschieden: physische Dinge (wie ein Stein, ein Planet oder ein Organ, aber auch Felder wie etwa das Magnetfeld oder Kräfte wie die Gravitation), mentale Dinge (wie ein Gedanke oder ein Gefühl) und abstrakte Dinge (wie die Zahlen, wissenschaftliche Theorien oder die Logik). (2) Nun hat der Philosoph John Searle überzeugend herausgearbeitet, dass man diesen ontologischen Pluralismus noch um eine vierte ontologische „Schublade“ erweitern muss: die „sozialontologischen“ Dinge, also die von uns selbst konstruierten gesellschaftlichen Wirklichkeiten. Hier geht es um die von uns Menschen erfundenen „Dinge“ wie etwa das Geld, Konzerne oder politische Ämter (näher zu dieser „social ontology“ Searle 2010/2012 bzw. Searle 2010/2011). Rekonstruiert man diese „social ontology“ im Rahmen der Systemtheorie Niklas Luhmanns, dann handelt es sich bei den sozialontologischen Ereignissen – etwa wirtschaftlichen Transaktionen – um solche, die durch einen der ausdifferenzierten Systemcodes geprägt sind – im Fall wirtschaftlicher Transaktionen wäre das „ Zahlen“. (3) Anders als diese „gesellschaftlichen“ („sozialen“) Ereignisse, die der „sozialen Ontologie“ zuzuordnen sind, gehören die Dinge der drei traditionellen ontologischen „Schubladen“ weitgehend zu einer „naturalen Ontologie“ – physische Dinge wie etwa Sonnensysteme oder Berge sind naturaler Natur, ebenso die Fähigkeit des Menschen zu mentalen Operationen und die uns vorgegebenen abstrakten Dinge wie etwa die Logik der Zahlen.

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nisse aber – seien sie nun ontologisch sozialer oder naturaler Natur – müssen, um wirklich zu werden und nicht abstrakt zu bleiben5, konkret geschehen. Das Konzept der „SustainAbility“ hebt genau auf diese konkreten Ereigniszusammenhänge ab. „Wir leben in genau einer Welt“ (Searle 1995/2011: 7), in der das Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder von wirtschaftlichen Transaktionen positiv oder negativ beeinflusst wird, wobei diese Transaktionen wiederum von ökologischen Rahmenbedingungen abhängen. Da alle konkreten Ereignisse „Teile dieser einen Welt“ (Searle 2010/2012: 12) sind, bestehen Wechselwirkungen, die die Zukunftsfähigkeit („SustainAbility“) des polydimensionalen Gesamtprozesses prägen.

3

Eine kurze Case Study: Hunt’s

Ich möchte die empirische Relevanz der „Polydimensionalität“, der „SustainAbility“ sowie der „Kontingenz“ (zu diesem Begriff komme ich noch) anhand eines kleinen Fallbeispiels illustrieren (Shapiro/Jankowski 1998/2001: 231-233; Young 2008: 151-152). Im Jahr 1997 kam es zwischen der Pizzakette Pizza Hut und dem Tomatensoßenhersteller Hunt Wesson (einer Sparte von Con Agra) zu Verhandlungen über die zukünftige Lieferantenstruktur. Hunt’s war einer der größten von sechs verschiedenen Tomatensoßenproduzenten, die Pizza Hut belieferten. Hunt’s versorgte etwa 30 Prozent der Pizzen von Pizza Hut mit seiner Soße. Akt 1 Aus Gründen der Kostenoptimierung erklärte nun Pizza Hut seinen Zulieferern, dass hinfort nur die zwei kostengünstigsten Anbieter den Zuschlag für das gesamte Zuliefergeschäft erhalten würden. Der Verhandlungsführer auf Seiten von Hunt’s war nun im Zugzwang. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass er von seinem Produkt absolut überzeugt war: „He believed in his product. [...] He swore that his sauce is so good, you could tell, just by tasting a Pizza Hut pizza, if it was made with Hunt’s or not“ (Shapiro/Jankowski 1998/2001: 231). Hunt’s entschloss sich schließlich dazu, Pizza Hut einen Preis zu benennen, der zum einen eine angemessene Gewinnspanne aufrechterhielt, vor allem aber zum anderen mit keinerlei 5

Hier kommen die Zusammenhänge ins Spiel, die ich oben im Abschnitt zum „Fallacy of Misplaced Concreteness“ thematisiert habe. Eine sozialontologisch codierte Spielregel (wie etwa „Stop bei Rot!“ oder „ Zahlen“) bleibt abstrakt, bis sie in konkreten (Trans)Aktionen der Leute Wirklichkeit gewinnt. Ebenso bleibt eine naturalontologisch codierte Spielregel (zum Beispiel ein Naturgesetz, eine Naturkonstante oder eine mathematische Regel) so lange abstrakt, bis sie in konkreten Geschehnissen aktualisiert wird.

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Einbußen bei der Produktqualität verbunden war: „[They] arrived at a bottom-line financial analysis to determine how far they could reduce their price, while maintaining a reasonable profit margin, and without any sacrifice of product quality – their lowest, best number.“ (Shapiro/Jankowski 1998/2001: 232). Mit der ersten Bedingung war nicht zuletzt das soziale Anliegen verbunden, keine Hungerlöhne für die Mitarbeiter in Kauf nehmen zu müssen. Und die zweite Bedingung band die Identität der Firma an eine gute, und das heißt auch ökologisch qualifizierte Soßenqualität.6 Ergebnis: Hunt’s landete nur auf Platz 3 und wurde als Zulieferer von Pizza Hut fallen gelassen. Akt 2 Doch damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Nach sechs Wochen kam ein Anruf der Beschaffungsagentin von Pizza Hut, man habe mittlerweile mit signifikanten Qualitätsproblemen – matschige Pizza („runny pizza“) – zu kämpfen. Sie bat Hunt’s, einen Preis für eine Neuauflage des Vertrags zu benennen. Trotz der nun umgekehrten Verhandlungsmacht nannte Hunt’s daraufhin genau den gleichen Preis, der in der ersten Verhandlungsrunde zum 3. Platz geführt hatte. Hunt’s wurde schlussendlich wieder als Lieferant eingesetzt und versorgte Pizza Hut nun mit etwa 70 Prozent der Tomatensoße. Ergebnisse Das kleine Fallbeispiel ist in fünffacher Hinsicht lehrreich (entsprechend der oben benannten fünf Thesen): (1) Die Wirklichkeit des Wirtschaftsgeschehens setzt sich aus einer Reihe von Transaktionen zusammen (hier vor allem Verhandlungstransaktionen). (2) Diese Transaktionen sind nicht nur rein (betriebs)wirtschaftlicher Art, sondern weisen realiter auch andere Aspekte auf: etwa den sozialen Aspekt, die Mitarbeiter nicht mit Hungerlöhnen abzuspeisen oder den ökologisch (und sozial) relevanten Aspekt der Produktqualität. Reale Transaktionen sind also polydimensionaler Natur. (3) Die Firma (hier: Hunt’s) existiert in ihren Transaktionen, wobei das Unternehmens-Transaktionsnetzwerk auch abbrechen oder aber wachsen kann – etwa wenn die Verhandlung scheitert und die Firma im schlimmsten Fall Konkurs anmeldet, wonach es ja nach dem 1. Akt aussah, oder aber wenn das Geschäft floriert, was nach dem 2. Akt der Fall war. (4) Das Beispiel zeigt auch,

6

Das Ziel einer einwandfreien Produktqualität prägt auch heute die Identität der Firma. In einem Videospot wird nicht nur die Frische der Tomaten hervorgehoben, sondern auch die ökologiegerechte Produktion: „We don‘t use any chemicals. We’re environmentally friendly because of that“ (https://www. youtube.com/ watch?v=AVyMOKPmUkg).

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dass ein integres Management mit einer fundamentalen Ungewissheit („Kontingenz“) konfrontiert sein kann: zahlt sich Moral betriebswirtschaftlich aus oder kostet sie? Hunt‘s stand also vor der Frage, ob man die Qualität des Produkts beibehalten und den entsprechenden Preis benennen sollte – auf die Gefahr hin, dass man sich damit aus dem Rennen katapultierte; oder ob man faktisch bei der Qualität Abstriche machen sollte (natürlich ohne dies ehrlicherweise gegenüber Pizza Hut zuzugeben), um dann einen niedrigeren Preis angeben zu können. Man entschied sich für das Produkt und für Ehrlichkeit. Damit war man zunächst der Dumme, konnte dann aber beobachten, dass Lügen kurze Beine haben („runny pizza“) und ehrlich wohl doch am längsten währt – jedenfalls in diesem Fall. Dieses Happy End konnte Hunt‘s aber nicht wirklich voraussehen. (Ich nenne diese Ungewissheit die „moralökonomische Kontingenz“ der Transaktionen; siehe dazu Abschnitt 4). (5) Schließlich zeigt das Fallbeispiel auch die verschiedenen Aspekte einer unternehmerischen „SustainAbility“, indem es die Herausforderungen eines nachhaltigen Transaktionsmanagements, also die Polydimensionalität der „moralökonomischen Kontingenz“ der Transaktionen (mit den Dimensionen: betriebswirtschaftlich, sozial und ökologisch) in ihrem inneren Zusammenhang mit der „zeitlichen Kontingenz“ der Transaktionsnetzwerke (der Frage: „auch morgen noch?“) verbindet. Das Problem für ein Unternehmen hier und jetzt besteht nämlich in dieser doppelten Kontingenz: es ist zum einen ungewiss, ob sich Ethik auszahlt oder nicht („moralökonomische Kontingenz“), und zum anderen weiß man nicht, welches Verhalten dazu führt, dass das Unternehmen „auch morgen noch“ existiert („zeitliche Kontingenz“).

4

„Business Metaphysics“

Als Jürgen Habermas im Jahr 1988 verkündete, dass wir im Zeitalter eines „nachmetaphysischen Denkens“ lebten (Habermas 1988; Habermas 2012), schien das Schicksal der Metaphysik besiegelt. Meines Erachtens jedoch ist die These von einem „nachmetaphysischen Denken“ in (fast) jeder Hinsicht ein Fehler. Ich glaube im Gegenteil, dass „Metaphysik“ gerade in modernen Zeiten – also in Zeiten der Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Subsystemen und den Ausdifferenzierungen des wissenschaftlichen Denkens – zweckmäßiger denn je ist. Deswegen bin ich auch der Auffassung, dass wir eine „Metaphysik der modernen Wirtschaft“

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brauchen, eine „Business Metaphysics“, wobei dieses aktuelle Forschungsprogramm in meinem Fall die Anregungen der Prozessmetaphysik Alfred North Whiteheads mit Blick auf wirtschaftliche Zusammenhänge ausarbeitet.7

4.1

Metaphysik

Anders als der bereits erwähnte Jürgen Habermas, der „Metaphysik“ von vornherein als eine vormoderne Matrix des Denkens erachtet, als totalitäre und veraltete Weltsicht, in der selbsternannte „Metaphysiker“, die für sich eine privilegierte Einsicht in „die“ (allumfassende) Wahrheit von Gott und Welt reklamieren, verwende ich den Begriff „Metaphysik“ in einem strikt wissenschaftstheoretischen Sinn. Was ich mit „Metaphysik“ meine, hat Alan Greenspan, der frühere Chef der US-amerikanischen Notenbank, mit dem (natürlich nicht ganz unproblematischen) Terminus „Ideologie“ umschrieben: „Well, remember that what an ideology is. It’s a conceptual framework with the way people deal with reality. Everyone has one. […] To exist, you need an ideology. The question is whether it is accurate or not. And what I’m saying to you is, yes, I’ve found a flaw [...] in the model that I perceived is the critical functioning structure that defines how the world works, so to speak“ (Alan Greenspan im Jahr 2008 nach dem Ausbruch der Finanzkrise. http://www.pbs.org/newshour/bb/businessjuly-dec08-crisishearing_10-23/).

Nun ist der Begriff der „Ideologie“ im allgemeinen Sprachgebrauch negativ besetzt (im Sinne eines bornierten Festhaltens an einem falschen oder fragwürdigen Weltbild). Wenn wir daher in Greenspans Zitat den Terminus „Ideologie“ durch den Begriff „Metaphysik“ ersetzen, erhalten wir eine erste brauchbare Definition dessen, was „Metaphysik“ hier bedeuten soll: 

 

7

Wir können erstens sagen, dass sich Metaphysik mit dem mentalen Rahmenwerk befasst, mit dem wir die Wirklichkeit sehen („how the world works“) und in der Konsequenz mit ihr umgehen. Zweitens wird erklärt, dass Metaphysik unausweichlich ist. Drittens müssen wir uns stets fragen, ob die jeweilige metaphysische Weltsicht vernünftig oder zutreffend ist oder nicht.

Es gibt einige Konzeptionen, die Whitehead im Blick auf die ökonomische oder Organisationstheorie heranziehen (zum Beispiel Wieland 2018; Wieland 2016; Ims et al. 2015; Ims/Jakobsen 2010; Hernes 2008/2009).

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Zu einem wissenschaftstheoretisch zweckmäßigen Begriff der „Metaphysik“ hat der Wissenschaftstheoretiker Karl R. Popper zwar weniger bekannte, aber nichtsdestotrotz sehr hilfreiche Unterscheidungen vorgenommen.8 Dabei hat Popper immer betont, dass metaphysische Theorien äußerst wichtig sind: „[M]etaphysische Hypothesen sind zumindest auf zweierlei Art für die Wissenschaft wichtig. Erstens brauchen wir metaphysische Hypothesen für ein allgemeines Weltbild. Zweitens werden wir beim praktischen Vorbereiten unseres Forschens von dem geleitet, was ich ‚metaphysische Forschungsprogramme‘ genannt habe“ (Popper in Popper/Eccles 1977/1987: 524).

Das durch „metaphysische Hypothesen“ gelieferte „allgemeine Weltbild“ befasst sich also mit dem ganz grundsätzlichen Problem, „how the world works (in general)“, „wie die Welt (im Prinzip) funktioniert“. Dabei haben die grundlegenden metaphysischen Hintergrundüberzeugungen zur „Natur“ der Dinge enorme Auswirkungen in Theorie und Praxis. Insofern ist es wichtig, sich über diese oft unreflektierten Ideen möglichst klar zu werden. Die Relevanz von (Hintergrund)Ideen hatte bekanntlich bereits der Ökonom John Maynard Keynes in einer berühmten Passage am Ende seiner „General Theory“ hervorgehoben (Keynes 1936/2000: 323-324). In Anlehnung an diese Passage lässt sich die Relevanz metaphysischer Ideen folgendermaßen (re)formulieren: Die metaphysischen Ideen sind einflussreicher als gewöhnlich angenommen wird. Tatsächlich wird die Welt durch kaum etwas anderes beherrscht. Ökonomen und Wirtschaftsethiker, die die sich völlig frei von ideologischen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Metaphysikers. Wenn dem erstens so ist, und wenn zweitens metaphysische Paradigmen auch falsch sein können, dann ist es ratsam, diese Hintergrundmetaphysiken so weit als möglich kritisch zu diskutieren. Mit dem Philosophen Charles Sanders Peirce lässt sich sowohl die Unausweichlichkeit der Metaphysik als auch die Notwendigkeit einer ständigen kritischen Erörterung folgendermaßen formulieren (man beachte die Ähnlichkeit zwischen diesem Zitat von Peirce und demjenigen von Greenspan): „Every man of us has a metaphysics, and has to have one; and it will influence his life greatly. Far better, then, that that metaphysics should be criticized and not be allowed to run loose“ (Peirce 1931/1974: 52).

8

Er unterscheidet nämlich drei Theorietypen: „Wir können für unsere Zwecke drei Arten von Theorien unterscheiden: erstens logisch-mathematische Theorien, zweitens empirisch-wissenschaftliche Theorien, drittens philosophische oder metaphysische Theorien.“ (Popper 1963, 2000: 287). Näher zu dieser Differenzierung: Schramm 2016: 314-315.

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Es geht also darum herauszufinden, welche Metaphysik der Wahrheit (vermutlich) am nächsten kommt. Meines Erachtens hat nun in einer kritischen Diskussion möglicher Metaphysiken die Kosmologie Alfred North Whiteheads die besten Karten – er nennt sie selbst meist „Philosophy of Organism“, mittlerweile ist sie aber eher als „Prozessphilosophie“ bekannt. Aus Platzgründen benenne ich nur drei Punkte dieser kosmologischen Metaphysik: 1.

2.

3.

Unter Rückgriff auf die Quantenphysik geht Whitehead zunächst mikroanalytisch von der Existenz kleinster „Bausteine“ der Wirklichkeit aus, von kleinsten Energieprozessen, die er „events“, „actual entities“ oder „actual occasions“ nennt: „[…]‚Wirkliche Einzelwesenʻ – auch ‚wirkliche Ereignisseʻ genannt – sind die letzten realen Dinge, aus denen die Welt zusammengesetzt ist“ (Whitehead 1929/1984: 57). Auf der Mikroebene besteht das Universum Whitehead zufolge also aus solchen Prozesströpfchen. Alle größeren Gebilde – wie etwa Atome, Wassertropfen, Ameisen, Steine, Bäume, Menschen oder Planeten – sind dauerhaftere Dinge. Diese dauerhafteren Dinge, die aus „actual occasions“ bestehen, welche gewissermaßen enger „kooperieren“ und dabei eine gewisse Strukturstabilität erreichen, nennt Whitehead „Gesellschaften“ („societies“): „Die wirklichen Dinge, die von Dauer sind, sind ausnahmslos Gesellschaften, nicht aber einzelne Vorgänge (actual occasions)“ (Whitehead 1933, 1971: 367). „Gesellschaften“ sind also komplexe Gebilde, die sich in einem evolutiven „Lebens“-Prozess jeden Tag neu reproduzieren (müssen). Weiters werden in Whiteheads Kosmologie alle Dinge – die „actual occasions“ auf der Mikroebene, die „Gesellschaften“ auf der Mesoebene und schließlich das gesamte Universum auf der Makroebene – als evolutiv dynamische „Organismen“ gesehen: „Die Wissenschaft [...] wird zur Untersuchung von Organismen. Die Biologie erforscht die größeren Organismen, während die Physik mit den kleineren zu tun hat“ (Whitehead 1925/1984: 125).

Nichts in der Natur gleicht einer statischen Maschine. Sogar das gesamte Universum wächst. Und alle Dinge innerhalb des Universums wachsen, verändern ihre Form, altern, sterben. Daher nannte Whitehead sein metaphysisches Konzept die „Philosophie des Organismus“ („Philosophy of Organism“). Wirklichkeit ist ein organisches Netzwerk aus unzähligen Ereignissen oder Prozessen. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat – in ganz anderem Zusammenhang – eine Metapher vorgeschlagen, die dieses organische Wachsen der Wirklichkeit gut zum Ausdruck bringt:

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„ ... wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgendeine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen“ (Wittgenstein 1989: 278, § 67).

Abbildung 1: „Faden“ aus „Fasern“

So wie der „Faden“ aus dem „Spinnen“ und dem „Übergreifen vieler Fasern“ evolutiv entsteht, so wird auch der Faden etwa eines menschlichen Lebens aus der Unzahl von einzelnen Ereignissen gewoben. Der Faden des Lebens muss sich jeden Tag neu reproduzieren. Das fortwährende Weiterspinnen repräsentiert dabei die abgegrenzte Identität dieser Person von ihrer Zeugung bis zu ihrem Tod, wobei allerdings nichts „Substanzielles“ gleich bleibt, sondern sich dieser Mensch – diese menschliche „Gesellschaft“ von „Ereignissen“ – im Verlauf seines Lebens ständig verändert: er wächst, gewinnt an Erfahrungen, die Haare werden grau und irgendwann löst sich diese menschliche „Gesellschaft“ auf. Den gleichen „organischen“ Charakter besitzen alle Dinge im Universum – vom Atom bis zu einer Galaxie. Und wenn man Whitehead mit Blick auf die Wirtschaft weiterdenkt, dann ist etwa auch ein Wirtschaftsunternehmen eine solche „Gesellschaft“ aus einzelnen Ereignissen („Transaktionen“).

4.2

Wirtschaftsmetaphysik

So wie aus meiner Sicht die Philosophie Alfred North Whiteheads die angemessenste (kosmologische) „Metaphysik“ darstellt, um die Frage zu erörtern, „how the world works (in general)“, so kann man meines Erachtens das Ökonomikkonzept von John R. Commons – einer der frühen Pioniere der modernen Institutionenökonomik, zugleich aber auch ein Abweichler vom neoklassischen Mainstream – für

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die Entwicklung einer „Business Metaphysics“ heranziehen, um sich grundsätzlich zu überlegen, „how the business world works (in general)“. Parallel zu den eben genannten drei Punkten zu Whitehead kann man unter Rückgriff auf Commons die folgenden drei wirtschaftsmetaphysischen Thesen formulieren. Die letzten realen Dinge, aus denen die Welt der Wirtschaft besteht, sind Transaktionen. Diese erste These der Wirtschaftsmetaphysik ist zuvörderst eine Aussage darüber, was in der Welt der Wirtschaft real (wirklich) ist – und was (als solches noch) abstrakt. Erinnern wir uns an das Illustrationsbeispiel der Ampel (Abschnitt 1.2): So wie die für sich selber noch abstrakte Ordnungsregel „Stop bei Rot!“ erst und nur dann konkrete Realität gewinnt, wenn sich die Leute in ihrem konkreten Verhalten tatsächlich daran halten und sich das Stehenbleiben tatsächlich zur Gewohnheit machen, so sind auch die Ordnungsregeln der Wirtschaft als solche bloß abstrakt und gewinnen nur dann konkrete Realität, wenn es sich die wirtschaftlichen Akteure (Unternehmen, Konsumenten usw.) zur Gewohnheit machen, sich an diese Systemregeln zu halten und sie auf diese Weise die Regeln in ihren konkreten „Transaktionen“ allererst realisieren. Genau in diesem Sinn hat John R. Commons die konkrete „Transaktion“ zum mikroanalytischen Zentrum seiner Institutionenökonomik gemacht: „Thus the ultimate unit of activity [...] is a Transaction. A transaction [...] is the smallest unit of institutional economics“ (Commons 1934/2009: 58). Dabei beruft er sich explizit auf die Metaphysik Whiteheads: „These [...] transactions are to economics what Whitehead’s [...] ‚event[s]‘ are to physics“ (Commons 1934/2009: 60). Transaktionen sind die letzten realen Dinge, aus denen die Welt der Wirtschaft aufgebaut ist. Metaphysisch ist hier der Punkt von Bedeutung, dass in der Welt der Wirtschaft allein diese Transaktionen wirklich sind. Wirtschaftliche „Gesetze“ oder „Spielregeln“ existieren konkret nur in entsprechenden Transaktionen, die diesen an sich nur abstrakten „Gesetzen“ reales Leben einhauchen. Ergebnis dieser Überlegung ist die These 1 (siehe oben). Weiters sind wirtschaftliche Transaktionen bei Commons keine Vorkommnisse einer rein ökonomischen, also abstrakten Modell-Logik. Vielmehr diagnostiziert er in der konkreten Wirklichkeit einer einzelnen Transaktion (mindestens) drei Dimensionen: „Thus the ultimate unit of activity which correlates law, economics and ethics [...] is a transaction“ (Commons 1934/2009: 58). Genau diese Korrelation differenter Dimensionen war ja das Ausgangsproblem des klassischen Aufsatzes von 1932, denn sein Titel lautete: „The Problem of Correlating Law, Economics, and Ethics“. Die an sich nur abstrakte Welt des Codes

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des Wirtschaftssystems („Zahlen oder Nichtzahlen“; „ Zahlen“9) weist exklusiv nur die ökonomische Dimension auf, hat also monodimensionalen Charakter. Diese abstrakte Monodimensionalität gilt aber gerade nicht für konkrete Transaktionen. Nehmen wir zur Illustration der Argumentation von Commons einmal das schlichte Beispiel eines Einkaufs an der Supermarktkasse. Schon eine einfache Analyse eines solchen Zahlungsvorgangs10 zeigt zumindest folgende Dimensionen: 





Stichwort „Wirtschaft“: Die konkrete Transaktion dieser Zahlung an der Supermarktkasse ist ein ökonomischer Vorgang (im engeren Sinne), denn sein Medium ist das Geld und das konkrete Zahlungsereignis aktualisiert den Code des Wirtschaftssystems („ Zahlen“). Stichwort „Gesetz“: Die konkrete Transaktion dieser Zahlung an der Supermarktkasse weist aber auch eine juristische Dimension auf. Denn man ist per Gesetz verpflichtet, an der Supermarktkasse zu bezahlen, wenn man einen Joghurt mit nach Hause nehmen möchte. Falls man das nicht glaubt, wird man alsbald vom Supermarktbesitzer darüber aufgeklärt und mit der unschönen Aussicht konfrontiert, dass für den Fall, dass man nicht zahlt, die Polizei verständigt werden wird. Stichwort „Ethik“: Schließlich weist unsere banale Supermarktsituation aber auch eine ethische Dimension auf. Denn wenn ich versuchen sollte, den Joghurt vor der Kassiererin zu verbergen und unbemerkt an der Kasse vorbei zu schmuggeln, dann wird ein anderer Kunde, der das beobachtet, moralisch darüber entrüstet sein, was sich hier Widerwärtiges abspielt.

Die konkreten Transaktionen sind eben „Ereignisse“, in denen (mindestens) drei an sich abstrakte und in sich monodimensionale Dimensionen zusammenkommen und dann erst konkret (wirklich) werden. Die konkrete Wirklichkeit gesellschaftlicher Transaktionen ist als solche immer polydimensional. Nur abstrakte Modelle können von dieser realen Polydimensionalität abstrahieren und monodimensional arbeiten. Es ergibt sich These 2: Auch Wirtschaftsakteure existieren wirtschaftlich nur in ihren Transaktionen. Das gilt sowohl für individuelle (Manager, Konsumenten) als auch für korporative Wirtschaftsakteure. Ein Wirtschaftsunternehmen, das man in Anlehnung an Whitehead als eine „Gesellschaft“ von „Transaktionen“ ansehen kann, reproduziert sich real nur in seinen konkreten Transaktionen. Commons spricht hier von einem „wirtschaftlichen laufenden Geschäft“, einem „going concern“:

9 10

„Zahlen oder Nichtzahlen – das ist [...] die Seinsfrage der Wirtschaft“ (Luhmann 1990: 104). Searle (1995/2011: 11-12), bemerkt zu einem ganz ähnlichen Zahlungsvorgang: „Eine harmlose Szene, aber ihre metaphysische Komplexität ist wahrhaft erschütternd.“

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„[A] corporation which hitherto had only a legal existence in the state of its incorporation, because it was an invisible legal entity existing only in contemplation of law, now became an economic going concern existing in its transactions“ (Commons 1934/2009: 53). „These going concerns and transactions are to economics what Whitehead’s ‘organic mechanism’ [later called: “society” or “organism”; M.S.] and ‘event’ are to physics“ (Commons 1934/2009: 96). „[T]ransactions [...] are functionally interdependent, and their interdependence constitutes the whole which, following American usage, we name a going concern. [...] This going concern is itself a larger unit, and is analogous to that which in biology is an ‘organism,’ or in physics a ‘mechanism.’ But its components are not living cells, nor electrons, nor atoms – they are transactions“ (Commons 1932/1996: 454).

Auch ein Unternehmen ist (wie in Wittgensteins Bild, siehe Abbildung 1) ein „Faden“, ein sich evolutiv fortschreibendes Netzwerk aus unzähligen „Fasern“, nämlich Transaktionen – ein Netzwerk, das wachsen, aber auch schrumpfen und „sterben“ kann. Daraus resultiert die Firmentheorie der These 3. Commons sieht wie Whitehead alle „Dinge“ als „Ereignisse“ oder dynamische „Organismen“: „Whitehead has observed that the Eighteenth Century method of science had no notion of the organic unity of the whole in a changing relation of the parts to the whole. […] But the mechanism [of an ‘organic unity’ or an ‘going concern’] itself is ‘organic’ in that it is a kind of prolonged interweaving of changing events [or ‘transactions’], having, as Whitehead says, a past, a present realization, and a future life in its present events“ (COMMONS 1934/2009: 619).

Dieser „organische“ Charakter prägt alle möglichen Dinge auf Erden. So wie Menschen geboren werden, wachsen, altern und sterben, so können etwa auch Unternehmen (Commons’ „going concerns“) „geboren” werden (entstehen), sie können wachsen, sie können schrumpfen oder „sterben“. Organisationen sind eben nicht „einfach legale Fiktionen“ (Jensen/Meckling 1976: 310). Sie sind nicht unsichtbare juristische Entitäten, die nur im Angesicht des Gesetzes existieren. Vielmehr ist eine Firma ein „wirtschaftliches laufendes Geschäft [„going concern“], das in seinen Transaktionen existiert“ (Commons 1934/2009: 53). Sieht man sie als Wirklichkeiten, dann sind Organisationen – um Wittgensteins oben zitierte Metapher zu verwenden – „Fäden“ oder Netzwerke, die durch das fortwährende „Spinnen“ von „Fasern“ („Transaktionen“) existieren.

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Nachhaltiges Transaktionsmanagement

Was folgt nun aus der wirtschaftsmetaphysischen Grundlegung generell für das Management? Grundsätzlich begründet der eben dargelegte wirtschaftsmetaphysische Ansatz einen mikroanalytischen Zugriff, in dem die Transaktion zur ultimativen Einheit wirtschaftlicher Aktivitäten wird. Von daher muss sich das Management konsequent als das Management von realen, d.h. polydimensionalen Transaktionen verstehen, was angesichts der Thesen 1 bis 3 Konsequenzen hat. Anders als die Business Metaphysics hat Milton Friedman das Wesen einer Firma als „artificial legal structure“ definiert (Friedman 2003). Auf Grundlage der – meines Erachtens metaphysischen – Wesensbestimmung der Natur einer Firma bestreitet er grundsätzlich jedwede Möglichkeit einer „Corporate Social Responsibility“ (CSR).11 Lynn Sharp Paine (2003: 87) hat hierzu notiert (mit ironischem Unterton): „According to this line of reasoning, advocates of corporate social responsibility are guilty of a grave mistake of metaphysics.“12 Wenn hingegen der Vorschlag der Business Metaphysics, die Firma als ein „organisch“ evolvierendes Netzwerk anzusehen, das in seinen realen, also polydimensionalen Transaktionen existiert, dann fällt Friedmans Argument gegen die Möglichkeit von CSR in sich zusammen. CSR ist möglich, allerdings auch eine schwierige Angelegenheit, deren Erfolg keineswegs immer gewährleistet ist. Es gibt schlicht und ergreifend weder eine klare empirische Evidenz dafür, dass sich Moral immer auszahlt noch dafür, dass Moral immer kostet. Von der „Kontingenz“ moralischer Vorleistungen, also der Ungewissheit der Effekte von Moral, weiß auch der deutsche Volksmund: „Der Ehrliche ist der Dumme!“ versus „Lügen haben kurze Beine!“ bzw. „Ehrlich währt am längsten!“ Zur Frage, ob es einen „business case“ für die moralische Tugend gibt, schreibt David Vogel: „Unfortunately, a review of the evidence [...] of the relationship between profitability and responsibility […], finds little support for the claim that more responsible firms are more profitable“ (Vogel 2005/ 2006: 45).

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„Can a building have moral opinions? Can a building have social responsibility? If a building can’t have social responsibility, what does it mean to say that a corporation can? A corporation is simply a artificial legal structure“ (Friedman 2003). Allerdings versucht sie dann, Friedmans Unterscheidungen als bloße „metaphysical niceties“ zu entwerten und die Frage der Möglichkeit von CSR als „a purely pragmatic matter“ einzustufen, doch unterschätzt sie damit das meines Erachtens in der Tat das metaphysische Problem, worin nämlich die „nature of the firm“ besteht und worin nicht.

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Von daher sind Spannungen zwischen der betriebswirtschaftlichen Dimension einerseits und der moralischen (sozialen wie ökologischen) Dimension andererseits eine fortwährende Herausforderung für das Management. Es bleibt kontingent, inwieweit sie in den lokalen Entscheidungssituationen und Transaktionen bewältigt werden kann oder nicht. Lynn Sharp Paine (2000: 325-326) notiert hierzu: „The supposed alliance between ethics and economy is highly contingent. […] It is naïve to think that ethics pays any time and any place”. Das bedeutet jedoch nicht, dass man Profit und Moral nicht unter einen Hut bringen könnte. So setzt Paine ihre eben zitierten Ausführungen zur „Kontingenz“ der „Allianz zwischen Ethik und Wirtschaft“ folgendermaßen fort: „It is also naïve to suppose that the two cannot be brought into a closer alignment“. Ich bezeichne diese Ungewissheit, ob sich (öko)moralische Vorleistungen eines Unternehmens betriebswirtschaftlich auszahlen oder nicht, als die „moralökonomischen Kontingenz“ der Transaktionen des Managements.13 Eine Wirtschaftsethik, die von einer prozessphilosophischen „Business Metaphysics“ herkommt, betrachtet das Universum der Wirtschaft nicht durch eine rosarote Brille.14 Mit der „messiness“ der „moralökonomischen Kontingenz“ wird man leben müssen. Zusammengefasst werden diese Überlegungen in der These 4. Das Leitbild der „SustainAbility“ schließlich benennt die umfassende Herausforderung, indem indem es die „moralökonomische Kontingenz“ der Transaktionen mit der „zeitlichen Kontingenz“ der Transaktionsnetzwerke (der Frage: „auch morgen noch?“) verbindet. Dieses Leitbild löst noch nicht die konkreten Managementprobleme des Alltagsgeschäfts, benennt aber die Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement. Sie werden in der These 5 formuliert. Es muss ein polydimensional angelegtes Management realer Transaktionen sein, das auf die konkreten Transaktionszusammenhänge abstellt. Da wir in genau einer Welt leben und alle Ereignisse Geschehnisse dieser einen Welt sind, bestehen reale Wechselwirkungen, die für die Zukunftsfähigkeit („SustainAbility“) unserer modernen Wirtschaft und Gesellschaft wesentlich sind.

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14

Man kann das Problem der „moralökonomischen Kontingenz“ natürlich auch einfach ignorieren. Das geschieht etwa im umjubelten Konzept des „Creating Shared Value“ von Porter und Kramer (2011). Hier wird die „compliance with the law and ethical standards“ (Porter/Kramer 2011: 75) einfach vorausgesetzt (auch Porter und Kramer (2014: 150): „legal compliance and a narrow sense of social responsibility are prerequisites to creating shared value“). Das aber ist nichts weiter als ein Taschenspielertrick, um sich die schmutzigen Probleme, die mit der moralökonomischen Kontingenz verbunden sind, vom Hals zu halten und den – wie sich Porter ausdrückt – Typen aus dem „the CSR bucket“ (Porter 2012) zu überlassen. Näher hierzu: Schramm (2017b). In diesem Sinn auch Palazzo (2010).

92

Michael Schramm

Der wirtschaftsmetaphysische Zugang zur SustainAbility löst nicht die pragmatischen Probleme des konkreten nachhaltigen Transaktionsmanagements, sagt aber hoffentlich etwas Relevantes zur Frage, wie es generell funktioniert.

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Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes Georg Müller-Christ und Sabine Sohn



Einladung in den Erfahrungsraum ............................................................... 98 



Die Wirkungskraft des Raumes für neue Erfahrungen ................................ 99  2.1  2.2 



Grundsätzliche Überlegungen .......................................................... 99  Über das Lernen von Führungskräften ........................................... 100 

Die sieben Phänomene im Sustainable Business Development Space ...... 102  3.1 

3.2 

3.3 

3.4 

3.5 

3.6 

Die Eingangsschleuse: Nachhaltigkeit verstehen ........................... 103  3.1.1  Das ressourcenorientierte Nachhaltigkeitsverständnis ..... 103  3.1.2  Entwurf eines Exponats .................................................... 105  Den logischen Entwicklungsweg überschauen: Spiral Dynamics .. 105  3.2.1  Das Konzept ..................................................................... 105  3.2.2  Entwurf eines Exponats .................................................... 108  Den Wandlungsprozess in der Tiefe aushalten: Theorie U ............ 108  3.3.1  Das Konzept ..................................................................... 108  3.3.2  Entwurf eines Exponats .................................................... 110  Komplexe Systeme und Prozesse lesen: Intuition in Systemaufstellungen ...................................................................... 111  3.4.1  Das Konzept ..................................................................... 111  3.4.2  Entwurf eines Exponats .................................................... 112  Systemisches Wissen entwickeln und Dilemmata aushalten: Trade-off-Kompetenz..................................................................... 113  3.5.1  Das Konzept ..................................................................... 113  3.5.2  Entwurf eines Exponats .................................................... 114  Alles gleichzeitig überblicken: die integrale Perspektive .............. 115  3.6.1  Das Konzept ..................................................................... 115  3.6.2  Entwurf eines Exponats .................................................... 118 



Ausgangsschleuse: Geschäftsmodelle integrativ und nachhaltig entwickeln ................................................................................................. 118 



Erfahrungen im Sustainable Business Development Space machen ......... 122 

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_6

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1

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Einladung in den Erfahrungsraum

Alle Transformationswilligen sind willkommen! Unserer Beobachtung nach gibt es immer mehr Menschen, die in Unternehmen und anderen sozialen Systemen spüren, dass ein Wandel ansteht, der nicht nach dem Nächstanstehenden fragt (noch ein paar Anreize mehr?), sondern nach einem evolutionären Sprung, um Unternehmen und andere soziale Systeme gesünder, nachhaltiger und outputfähiger zu gestalten (Laloux 2017). Gefühlt gab es noch nie so viel praxisnahe Literatur, die sich mit dem Wandel beschäftigt, der immer häufiger als Transformation bezeichnet wird. Eine weitere Beobachtung zeigt uns, dass es mehr braucht, als die Transformationsnotwendigkeit einzuklagen und das Transformationssetting zu beschreiben. Der evolutionäre Sprung wird nicht durch neue Tools und kreative Techniken allein möglich. Wir gehen davon aus, dass jede Art von Transformation eine Neuerzählung der Systeme und Individuen braucht, die eine innere Bewegung voraussetzt, eine körperliche Art, eine nachhaltigere und humanere Welt in sich aufzunehmen als allein durch den Kopf. Wir setzen in unserem Beitrag voraus, dass Nachhaltigkeit eine andere Rationalität darstellt als sparsam mit Ressourcen umzugehen. Und wir gehen davon aus, dass die Entwicklung von Geschäftsmodellen, die die Essenz von Nachhaltigkeit berücksichtigen, nicht als Ableitung oder logische Schlussfolgerung am grünen Tisch passieren kann. Auf Grundlage unserer Erfahrungen zeigen wir auf, dass die Integration von Nachhaltigkeit in die Tiefe eines Geschäftsmodells eher auf Basis einer körperlichen Erfahrung von Unternehmer/innen und Führungskräfte erfolgt, mit der sie die gesamte Komplexität der Aufgabe ganzheitlich aufnehmen – und nicht allein über den Kopf gestalten. Um solche Erfahrungen zu ermöglichen, haben wir das Konzept eines Sustainable Business Development Space (SBDS) entwickelt. Wir nutzen den Raum nicht nur als Metapher, sondern bieten tatsächlich die Idee an, Geschäftsprozessentwicklung als eine Durchwanderung eines Raumes zu verstehen, in dem unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden können. Die Suchenden betreten den Raum durch die Nachhaltigkeitsschleuse, in der sie die Essenz von Nachhaltigkeit aufnehmen: materielle und immaterielle Ressourcenreproduktion integrieren und Nebenwirkungen der Geschäftstätigkeit auf Mensch und Natur vermeiden, reduzieren oder ausgleichen. Im Raum selbst begegnen ihnen Exponate und Experimentierecken, die je nach Wahl und Anziehungskraft besucht werden können. Die Suchenden erfahren die Komplexität der Geschäftsmodellentwicklung in der Dreidimensionalität des Raumes und nehmen mit dem ganzen Körper Informationen darüber auf, wie sie komplexe Systeme in

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

99

Aufstellungen lesen können, wie sie die Bewusstseinsentwicklungsstufen nach Spiral Dynamics aufnehmen können oder wie sie einem Weg durch das U des Wandels durchschreiten können. Ziel des Weges durch den SBDS ist es, die vorhandenen mentalen Karten der Suchenden durch Irritation aufzubrechen, innerliche Freiräume für ganz neue Ideen zu schaffen und eine körperliche Sicherheit zu vermitteln, dass die Komplexität eines nachhaltigkeitsintegrierenden und damit integralen Geschäftsmodells bewältigbar ist. Um einen solchen Raum zu gestalten, haben wir selbst angefangen, neue Erfahrungen zu machen. Wir stellen diese gerne zur Verfügung. Konkret haben wir an der Universität Bremen mit Studierenden im Masterstudiengang Wirtschaftspsychologie im Wintersemester 2018/2019 in der Veranstaltung „Moderne Unternehmensführung“ erste Exponate für den Raum entwickelt und diesen Raum mit Unternehmer/innen und Berater/innen erprobt. Das Ergebnis ist naheliegend: Es braucht noch einige Durchläufe, um einen Sustainable Business Development Space so zu gestalten, dass Unternehmer/innen und Führungskräfte in einem sicheren Rahmen ganz neue Erfahrungen darüber machen können, was Nachhaltigkeit voraussetzt. Gleichwohl wollen wir unsere Idee und unsere Erfahrungen schon einmal zur Diskussion stellen, um vielleicht von der kollektiven Intelligenz zu profitieren, die die Transformation mitgestaltet.

2 2.1

Die Wirkungskraft des Raumes für neue Erfahrungen Grundsätzliche Überlegungen

Das Denken in Räumen ist Ausdruck unserer Zeit. Vielleicht liegt es daran, dass wir einen Raum füllen können mit Phänomen vielfältiger Art. Der Raum stellt dann eine Hülle dar, in der diese Phänomene nebeneinander sein dürfen, ohne dass sie interagieren oder in ihrer Beziehung kausal erklärt werden. Wir leben in einer vollen Welt und die Metapher des Raumes hilft uns, hüllenartige Unterscheidungen zu machen, Container zu packen und diese in die Welt zu schicken. Raumkonzepte haben eine ähnliche Qualität wie Narrationskonzepte, weil sie nicht nur Hüllen darstellen, sondern auch die Möglichkeiten bieten, dynamische Beziehungen in einen Rahmen zu bringen. Der reale Raum ist der, in dem wir uns körperlich bewegen und der in seiner Materialität dreidimensional ist. Tiefe, Breite und Höhe sind die Linien des Raumes, die fest in unsere Gesichtsfeldorientierung verankert sind. Wir sehen stets nur

100

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Formen im Raum, was letztlich bedeutet, dass ein Raum ohne Formen für uns nicht erkennbar ist: Raum ist durch Formen unterbrochenes Nichts und alles, was keine Form hat, ist für unser Auge nicht zu erkennen. Wir erkennen den Raum durch seine Zwischenräume, mithin durch das Nichts zwischen den Objekten. Ihre Nähe und Distanz und ihre Positionierung zueinander geben dem Raum seine Gestalt, die dann aber wiederum davon abhängt, von wo der Beobachter oder die Beobachterin den Raum betrachtet. Weil auch wir als Menschen aus Materie bestehen und damit eine Form haben, müssen wir uns in die Räume hinein oder zumindest an ihre Ränder begeben, um sie betrachten zu können und bleiben dann in der Perspektive unser Gesichtsfeldorientierung. Die Konzepte von Narrativen und Räumen antworten auf einen fundamentalen Wandel der Bedingungen von Wahrnehmung, Erkenntnis und Kommunikation in einer komplexen Welt, die sich aus der Notwendigkeit der Gleichzeitigkeit ergeben. Während vor allem durch die räumliche Trennung der Kulturen in früheren Zeiten die Entwicklungen entweder an unterschiedlichen Orten oder aber zu unterschiedlichen Zeiten im Sinne von nacheinander stattfanden, lassen die Globalisierung und die Technisierung nun unterschiedliche Entwicklungen zur selben Zeit am selben Ort stattfinden. Und weil diese Entwicklungen in allen Qualitäten stattfinden können (kulturell, sozial, psychologisch, ökonomisch, juristisch, ästhetisch, technisch, organisatorisch u.a.m), brauchen wir neue Begriffe, die uns Hüllen für diese Gleichzeitigkeit anbieten, um sie in neuer Kombination zu kontextualisieren. Erzählungen und Narrative füllen die metaphorischen Hüllen mit stofflosen Formen und erlauben damit Positionierungen verschiedener Narrative und die Kreation von Zwischenräumen und Unterschieden in der Form. Weil diese Formen aber stofflos sind, müssen sie für die Besucher/innen des Raumes erst wieder entstehen, d.h. eben immer wieder erzählt werden. Dieses immer wieder Erzählen kann mündlich erfolgen, schriftlich in der Form von Texten, grafisch in der Form von Bildern und Symbolen oder plastisch durch ein Exponat. Wenn die Erzählung verstofflicht ist, findet das „immer wieder“ im Prozess des immer wieder Wahrnehmens der Besucher/innen des Raumes statt (Koschorke 2012). In diesem Sinne ist unser Erfahrungsraum gestaltet.

2.2

Über das Lernen von Führungskräften

Führungskräfte und Expert/innen insgesamt zeigen ein besonderes Lernverhalten. Dies hängt damit zusammen, dass sie durch langjähriges Lernen und die dadurch gewonnene Kompetenz an ihre Position gekommen sind, in der im Wesentlichen das vorhandene Expertenwissen abgefragt wird.

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

101

Lernen verstehen wir als einen Prozess, in dem neue Erfahrungen zu langfristigen Veränderungen im Verhaltenspotenzial umgearbeitet werden. Neue Erfahrungen wiederum entstehen, wenn Menschen Situationen erleben, zu deren Bewältigung das vorhandene Wissen nicht ausreicht, neues Wissen aufgenommen und als handlungsrelevant erlebt wird. Aus einer konstruktivistischen Perspektive müssen Führungskräfte einen Prozess der Dekonstruktion und Neukonstruktion von inneren Mustern durchlaufen, ein Prozess, der zahlreiche Voraussetzungen hat. Neurologisch sind die Erfolgsmuster, die einen Menschen in eine leitende Funktion gebracht haben, sehr fest im Gehirn repräsentiert. Die meisten Führungskräfte und Unternehmer/innen auf einer orangen, leistungsbetonten und rational-analytischen Problemlösungsstufe (siehe zu dieser Umschreibung das Kapitel über Spiral Dynamics) konstruieren ihre Führungswelt aus einer Kosten-Nutzen-Perspektive und einer Win-Win-Denkhaltung. In Unternehmen steht die Gewinnerzielung im Vordergrund und damit werden alle Entscheidungen vor allem anhand der Entscheidungsprämisse Effizienz getroffen: Lassen sich Kosten senken oder Erträge steigern durch die Maßnahme? Komplexere Abwägungen werden zumeist eher getroffen, um rechtliche und funktionelle Kriterien zu berücksichtigen. Vor allem mit Jetzt-für-dann-für-alle-Entscheidungen (MüllerChrist 2014), wie es beispielsweise Klimaschutz darstellt, tun sich Entscheidungsträger/innen in dieser orangen Problemlösungsstufe schwer. Die konstruktivistische Lerntheorie entscheidet sich deutlich von anderen Lerntheorien durch die Grundannahme, dass Lernen nicht von außen vermittelbar ist, sondern individuell von innen heraus konstruiert werden muss. Man kann niemanden belehren, sondern nur über neue Erfahrungen anregen, die vorhandenen Konstruktionen weiterzuentwickeln (von Glaserfeld 1997). Menschen besitzen die Fähigkeit, ihre Handlungen und sich selbst zu überdenken und durch diese Selbstreflexion Informationen über sich selbst zurückgespiegelt zu bekommen. Diese Technik eröffnet Menschen den Zugang zu höheren Formen des Lernens, welche die bewusste Gestaltung und Veränderung des eigenen Handelns ermöglichen (Schulte Steinberg 2014). Lernen meint demnach Unterscheidungen in den Beobachtungen des Selbst zu differenzieren (Siebert 2008). Um anhaltend zu lernen, wird Selbstlernkompetenz benötigt. Dies impliziert die Planung, Steuerung und Kontrolle des eigenen Lernprozesses. Selbstbestimmtes Lernen ist bedingt durch die Annahme, dass die Lernenden grundlegend selbstständig und durch eigene Entscheidungen lernen können und wollen. Um diese Selbstständigkeit im Lernprozess zu ermöglichen, wird ein neues Lehr/Lernarrangement benötigt. Schulte Steinberg (2014: 82f.) definiert acht Rahmenbedingungen für dieses neue Setting, die wir versuchen, in unserem SBDS umzusetzen (siehe hierzu Tabelle 1).

102

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Transformationsschritte Voraussetzungen selbständiger LernUmsetzung im Sustainable Business prozesse nach Schulte und Steinberg (2014) Development Space 1. Lernen kann überall stattfinden.

… eben auch in transdisziplinären Lernräumen mit Berater/innen und Studierenden.

2. Der zeitliche Ablauf des Lernens ist durch die Lernenden selbst plan- und steuerbar, der Handlungsorientierung wird große Beachtung geschenkt.

… die Gleichzeitigkeit aller Exponate im SBDS lässt die Lernenden selbst wählen, welche handlungsorientierte Erfahrungen sie in welcher Reihenfolge machen wollen.

3. Der Prozess an sich erfordert stabile Rahmenbedingungen.

… an jedem Exponat findet Begegnung mit dem Thema, (körperliche) Erfahrung, Reflexion und Explikation des Gelernten statt.

4. Bei höheren Anforderungen ergibt sich auch ein erhöhter Planungs-, Durchführungs- und Nachbereitungsaufwand.

… ein anderes Paradigma zu lernen, setzt auch den SBDS voraus, dass die Lernenden gut vorbereitet und der Lernprozess nachbereitet wird.

5. Die Anforderungen an die Kompetenz des Lehrenden wandeln sich in Beratungs-, Moderations- und Konfliktlösungskompetenzen.

… die Berater/innen im SDBS verstehen sich genau in diesem Sinne als Moderator/innen eines individuellen Lernprozesses.

6. Unerlässlich ist dabei auch eine kompetente individuelle Lernberatung, die Reflexion arbeitsalltäglicher Prozesse mit Unterstützung der Führungskräfte.

… in der Ausgangsschleuse werden erste Übertragungen auf die eigenen vorhandenen Geschäftsmodelle von den Führungskräften erwartet und dokumentiert.

7. Die Lernmöglichkeiten müssen allen bekannt sein, evaluiert werden und deren Nutzen muss kommuniziert werden.

… die Lernerfolge im SDBS werden dokumentiert und für die nachfolgenden Besucher/innen visualisiert.

8. Lernen darf aus Fehlern und Erfolgen stattfinden.

… in Erfahrungsräumen gibt es keine Fehler, sondern nur angemessene und nützliche Lernerfolge oder weniger hilfreiche Interpretationen.

3

Die sieben Phänomene im Sustainable Business Development Space

Wir können in dieser Skizze die Phänomene, die wir im SBDS für wirkungsvoll erachten, nur sehr kurz andeuten. Wir laden die Leser/innen ein, mithilfe der angegebenen Literatur sich in diese Phänomene zu vertiefen und dann nachzuvollziehen, warum wir diese für nützlich erachten, neuartige Erfahrungen auf dem Weg zu einem integralen Geschäftsmodell zu machen. Unsere Erfahrungen stammen aus fünf Jahren Vermittlung moderner Managementtheorien auch mithilfe von systemischen Methoden an Studierende und Praktiker/innen (Müller-Christ/Pijetlovic 2018).

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

3.1

103

Die Eingangsschleuse: Nachhaltigkeit verstehen

Wir meinen, dass Schleuse eine passende Metapher ist für den Eingangsbereich unseres SBDS und dies im doppelten Sinne. Zum einen geht es darum, wie im Schiffsverkehr durch eine Schleuse Menschen auf einen höheren Wissensstand zu heben. Für uns ist es wichtig, dass zu Beginn ein klares Nachhaltigkeitsverständnis vorhanden sein muss und wir heben Führungskräfte und Unternehmer/innen mit dem ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsverständnis auf ein Unterscheidungsniveau, welches ausgesprochen anschlussfähig ist an wirtschaftliches Entscheidungsverhalten. Zum anderen ist die Schleuse auch eine Metapher, die wir aus der Raumfahrt entliehen haben. Mithilfe einer Schleuse docken Raumschiffe an und ermöglichen eine atmosphärische Anpassung. Genau darum geht es auch in der Eingangsschleuse und in der Ausgangsschleuse: erst ankommen und andocken, auf einen höheren Wissensstand gehoben werden, dann Erfahrungen machen und diese in der Ausgangsschleuse wieder atmosphärisch an die Realitäten andocken und auf das Machbare runterfahren durch eine neues Geschäftsmodell. 3.1.1

Das ressourcenorientierte Nachhaltigkeitsverständnis

Wir gehen davon aus, dass sich das Wesen oder der Kern des Nachhaltigkeitsverständnisses klar umreißen lässt als eine Herausforderung, die zwar nicht neu, aber unter den heutigen Bedingungen neuartig ist. Dies in wenigen Sätzen zu umreißen, ist sicherlich mutig. In unserer Perspektive wird der Begriff der Nachhaltigkeit für die Lösung zweier sehr unterschiedlicher, aber eng miteinander verbundener Probleme verwendet (Müller-Christ 2014). Das Ressourcenproblem Die materiellen und immateriellen Ressourcen der Welt sind absolut knapp. Damit wir Menschen dauerhaft unsere Bedürfnisse befriedigen können, dürfen wir nicht mehr verbrauchen als die Erde und die Gesellschaftssysteme an materiellen und immateriellen Ressourcen produzieren können. Die ökologische Tragfähigkeit der Erde ist dabei genauso eine Ressource wie die soziale Belastbarkeit der Gesellschaft und wie die ökonomische Entwicklungsfähigkeit der Wirtschaft. Aus dieser Ressourcenperspektive lebt eine Gesellschaft dann nachhaltig, wenn alle ressourcenverbrauchenden Systeme sich haushaltsökonomisch verhalten: Sie erhalten die Substanz, aus der heraus sie wirtschaften oder – anders ausgedrückt – sie pflegen die Ressourcenquellen, von denen sie leben und verbrauchen nicht mehr als nachkommt. Im Übrigen ist dies auch die Essenz des englischen Begriffs Sustainable Development; eine erhaltende Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Substanz erhält und sich mit dem Vorhandenen beständig qualitativ weiterentwickelt. Mit

104

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Öko-Effizienz, mithin mit einem immer sparsameren Einsatz von Ressourcen pro Produkt- und Nutzeneinheit, lässt sich diese Entwicklung nicht erreichen. Denn Öko-Effizienz verlangsamt nur den Anstieg des Ressourcenverbrauchs und führt nicht dazu, dass auch nur eine Einheit Ressource regeneriert wird. Gleichwohl reduziert ein sparsamer Einsatz von Ressourcen deren Reproduktionsnotwendigkeit, so dass Öko-Effizienz eine wichtige Bedeutung hat. Wir verstehen Nachhaltigkeit im engeren Sinne als Substanzerhaltung oder die Erhaltung der Ressourcenbasis, so wie es der Erfinder des Begriffs Carl von Carlowitz auch formuliert hat: Schlage nicht mehr Holz aus dem Wald als nachwächst! Mit anderen haushälterischen Worten: Verbrauche nicht mehr Ressourcen als im überschauten Zeitraum sich regenerieren können und pflege die Ressourcenquellen, um deren Produktivität zu erhalten. Das Nebenwirkungsproblem In vielen Diskussionen wird Nachhaltigkeit mit Verantwortung gleichgesetzt und Corporate Social Responsibility (CSR) wird als Begriff wahrscheinlich häufiger verwendet als nachhaltiges Management. Der Verantwortungsbegriff verweist deutlich auf das zu lösende Problem: Alle wirtschaftenden Einheiten sollen auf die Haupt- und Nebenwirkungen ihres Handelns angemessen antworten. In einer vollen Gesellschaft, in der sehr viele Institutionen und Unternehmen ihre Zwecke (ihre beabsichtigten Hauptwirkungen) erreichen wollen, potenzieren sich die Nebenwirkungen auf Mensch und Natur. Menschliche Gesundheit und Klimaschutz sind in diesem Kontext die großen Themen. Schwieriger, aber ähnlich gravierend, ist die Problematik der unbeabsichtigten Umverteilung von Kapital und Vermögen. Die jetzige Logik der erwerbswirtschaftlichen Wirtschaftsweise führt dazu, dass große Kapitalbestände überproportional auf Kosten kleiner Bestände wachsen und damit immer weniger Menschen übermäßig reich werden. Die Lösung des Verantwortungsproblems liegt vielfach in einer veränderten moralischen Haltung, in der Menschen und Institutionen bereit sind, die Nebenwirkungen ihres Handelns zu reparieren oder auszugleichen – bis hin zu der Haltung, auf Hauptwirkungen zu verzichten, die nicht ohne erhebliche Nebenwirkungen zu erzielen wären. Während es in der Ressourcenperspektive um einen rationalen, substanzerhaltenden Umgang mit materiellen und immateriellen Ressourcen geht, geht es in der Nebenwirkungsperspektive um einen normativen Ansatz: Menschen auf allen Ebenen von Gesellschaft müssen sich Normen dafür setzen, welche Haupt- und welche Nebenwirkungen sie mit ihren Handlungen akzeptieren möchten. Diese Aufgabe ist nicht neu und war auch schon vor der Einführung des Nachhaltigkeitsbegriffs hoch relevant. An sich ist es das Hauptthema der Gesellschaftsentwicklung: Wie schaffen wir es, eine lebenswerte Gesellschaft zu gestalten, in der nicht Einzelne

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

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ihre Hauptwirkungen (Geld, Macht, Zugänge) auf Kosten von Nebenwirkungen auf andere erzielen können? In einer modernen Industriegesellschaft mit ihrer Tendenz, Kapital, Arbeit und gesunde Lebensverhältnisse ungerecht zu verteilen, sind die Abarbeitung der Nebenfolgen auf Mensch, Gesellschaft und Natur der Normalfall geworden. Die Themen, die heute unter Corporate Social Responsibility - oder offener - unter Verantwortung diskutiert werden, sind genau diese Nebenwirkungen einer intensivierten erwerbswirtschaftlichen Logik. Durch diese normative Debatte über Verteilung werden aber die Ressourcenthemen einer Nachhaltigkeitsrationalität stärker in den Hintergrund gestellt. 3.1.2

Entwurf eines Exponats

Das Exponat soll den Unterschied von Ressourcenverbrauch und Ressourcennachschub erfahrbar machen. Dazu wird eine Wippe im Raum symbolisiert und die Besucher/innen des Exponats aufgefordert, die materiellen und immateriellen Ressourcen zu benennen, die durch ihre Institution verbraucht werden. Passende Karten mit konkreten Ressourcen liegen bereit. Diese legen sie auf die Seite der Wippe, die den Ressourcenverbrauch umfasst. Dann sollen den Besucher/innen die Ressourcen benennen, für deren Reproduktion sich die Organisation aktiv einsetzt. Diese werden auf die andere Seite der Wippe gesammelt. Für fast alle Institutionen gilt, dass sie wesentlich mehr Ressourcen verbrauchen als regenerieren. Diese Schieflage soll durch die Wippe visualisiert werden, um die Abhängigkeit von Ressourcen zu erfahren.

3.2

Den logischen Entwicklungsweg überschauen: Spiral Dynamics

3.2.1

Das Konzept

Der Entwicklungspsychologe Clare Graves hat in den 60er und 70er Jahren mit Bezug auf vorhandene Entwicklungstheorien ein erfahrungsgeleitetes System von aufeinander folgenden Entwicklungsstufen von Menschen und Systemen beschrieben. Dieses Graves-Value-System wurde dann von Beck und Cowan (1996) zum Konzept der Spiral Dynamics weiterentwickelt. Es geht von der empirischen Beobachtung aus, dass Systeme, Institutionen und Menschen ein vorrangiges Wertesystem oder einen Problemlösungsmodus haben, welches bzw. welcher stimmig zur Komplexität des Kontextes ist oder einmal gewesen ist. Ändert sich die Komplexität des Kontextes oder des Umfeldes, werden Menschen, Institutionen und Systeme angeregt, sich auf die nächste Stufe von Wertsystemen oder Problemlösungsmodi zu bewegen. Wandel bedeutet in diesem Konzept, dass entweder inner-

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Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

wir

halb eines Problemlösungsmodus (horizontal) nach neuen Verfahrensweisen gesucht wird oder aber vertikal auf der nächsthöheren Stufe. Zudem sind Rückgriffe auf ältere Stufen möglich, was je nach Perspektive als Wiederherstellung der Tradition oder als kultureller Rückschritt wahrgenommen werden kann. Eine wesentliche Beobachtung der Stufenfolge ist die Erkenntnis, dass es nicht gute oder schlechte Stufen gibt, sondern nur zur jeweiligen Situation stimmige oder weniger stimmige Problemlösungsmodi. Um zu verhindern, dass das Modell zu hierarchisch interpretiert wird im Sinne einer Entwicklung von fehlender Stimmigkeit zu höchster Stimmigkeit, wurden die einzelnen Phasen oder Stufen mit Farben belegt. Da schwarz-weiß-Drucke hier keine Spielräume lassen, sind die Farben in Abbildung 1 in Schriftform angegeben.

ich

2. Rang

wir

ich

wir

ich

wir

1. Rang

ich

Türkis

Orange

Rot

Beige

Grün

Blau

Purpur

Gelb

Integral-holistische Stufe in der Vernetzung Systemisch-integrative Stufe der Gleichzeitigkeit

Relativistische Stufe der sozialen Verbundenheit Rationale Stufe des Strebens und Forschens

Absolutistische Stufe der Wahrheit und Werte Egozentrische Stufe der Machtgötter und Machtkämpfer

Magisch-animistische Stufe: Ahnengeister Archaische Stufe: Überleben

Abbildung 1: Entwicklungsebenen nach Spiral Dynamics (eigene Darstellung in Anlehnung an Beck/Cowan 2013)

Aus Platzgründen skizzieren wir im Weiteren nur die vier Stufen (siehe Tabelle 2), die wir für unsere Unterscheidungen für relevant halten und illustrieren das zu diesen vier Wertesystemen passenden Ausrichtungen des Nachhaltigkeitsmanagements. Die ersten drei Stufen, die archaische, die magisch-animistische und die egozentrische Stufe sind zwar in Unternehmen noch vorhanden, kommen jedoch in der rational-analytischen Wirtschaftswelt kaum zum Tragen. Die holistische Stufe wird von so wenigen Unternehmen erreicht, dass wir für diese noch kaum Vorstellungen eines nachhaltigen Managements 5.0 entwickeln können. Relevant für die Betrachtung von heutigen Unternehmen sind die absolutistische (blaue), die rationale (rationale), die relativistische (grüne) und die systemisch-integrative (gelbe) Stufe.

107

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

Spiral Dynamics und Nachhaltiges Management (Quelle: Müller-Christ/Giesenbauer (2019) Nachhaltiges Nachhaltiges Nachhaltiges Nachhaltiges Management 1.0 Management 2.0 Management 3.0 Management 4.0 Gesellschaftliche Einordnung

traditionell

modern

post-modern

integral

Spiral Dynamics Farbcode

Blau

orange

grün

gelb

Ordnungsdenken

Erfolgsdenken

Rücksichtsdenken

Systemisches Denken

Loyales Unternehmen

Strategisches Unternehmen

Soziales Netzwerk

Generatives Gefüge

Logik des Denkens Organisationsart

Nachhaltigkeits- Compliance mit bezogene Schutzgesetzen, Schwerpunkte soziale Gemeinschaft pflegen

Wirksamkeit, EiÖko-Effizienz, Ar- Rücksicht auf beitsfähigkeit er- Mensch und Na- genverantwortung halten tur, Erhalt von Kul- erleichtern tur und Ressourcen

Typische Handlungsfelder

Energie und Ressourcen sparen, marketingwirksame Benefits

Familienfreundlichkeit, partizipative Prozesse, Fair Trade, Bio, Quoten

Selbstorganisation, systemischer Ausgleich, globale Vernetzung

Nachhaltigkeits- Verantwortungs- Öko-Effizienz und Aushandlung von logiken übernahme nach Win-Win-Logik, Ef- Verantwortungsfizienzrationalität übernahme in StaGesetzes- oder keholderdialogen, Normenvorgaben erste Investitionen in die Substanzerhaltung

Volle Widersprüchlichkeit von Verantwortung und Substanzerhaltung versus Effizienzorientierung

Hauptwirkungen (Profitorientierung) wird intensiviert, zusätzliche Nebenwirkungsvermeidungen werden durch Lobbyismus mit Verweis auf Wettbewerbsverzerrungen verhindert

Hauptwirkungen werden reflektierbar, es beginnt eine „Purpose-Debatte“

Hauptwirkungen stehen zur Disposition, Nebenwirkungen sind unvermeidbar und müssen bewältigt werden

Nachhaltigkeits- Wir halten uns an Der Konsument narrativ die Gesetze und muss NachhaltigNormen! keit wollen, damit der Wettbewerb sie aufnimmt!

Wir sind gesprächsbereit und sehen uns als Dialogpartner auf Augenhöhe mit NGO!

Trade-offs sind der Normalfall, die wir konstruktiv bewältigen

Umgang mit Haupt- und Nebenwirkungen

Umweltschutz, Arbeitsschutz, Schwerbehindertenreglungen, Betriebsrenten

Hauptwirkungen (Profitorientierung) werden als gesetzt gesehen, Nebenwirkungen nur dann wahrgenommen, wenn deren Bewältigung gesetzlich geregelt ist

108 3.2.2

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Entwurf eines Exponats

Auf dem Boden des Erfahrungsraums werden mit farblich passenden Seilen die vier betrachteten Phasen als Räume visualisiert. Die Besucher/innen werden eingeladen, den blauen Raum (1.0) zu betreten. Sie bekommen Fragen zum Thema Management gestellt, die sie als stimmig zu dieser Bewusstseinsstufe einordnen oder verwerfen können. Dabei werden sie immer wieder aufgefordert, die Informationen des blauen Raumes auch körperlich wahrzunehmen (ähnlich wie bei den im Weiteren dargestellten Systemaufstellungen). Auf diese Art und Weise werden die Besucher/innen durch alle Phasen geführt; sie können dabei erkennen und erfahren, welches die typischen Problemlösungsmuster dieser Phasen sind und welche Phase für sie als Person gerade die stimmigste ist. Dabei kommen auch systemische Fragen zum Einsatz, die zu einer Außenwahrnehmung auf des eigenen Systems einladen.

3.3

Den Wandlungsprozess in der Tiefe aushalten: Theorie U

3.3.1

Das Konzept

Die Theorie U von Claus Otto Scharmer (2009) ist ein Ansatz für den Wandel von Unternehmen, der in der Beratungsszene schon wesentlich mehr Anwendung findet als die geringe Rezeption in der Managementlehre es vermuten lässt. Scharmer unterscheidet zwischen zwei grundsätzlichen Lernquellen für Wandel. Innerhalb disruptiver Veränderungen können wir erstarrt zum Status-Quo der Vergangenheit zurückkehren oder uns in hingeben in die entstehende Zukunft (Scharmer/Käufer 2014). Damit bietet er als Lernquelle für Wandel die Vergegenwärtigung der „imEntstehen-begriffenen“ (emergenten) Zukunft an. Für die Annäherung an diese Lernquelle führt Scharmer „Presencing“ ein, ein künstlicher Begriff, der sich aus den Wörtern sensing (spüren) und presence (Gegenwart) zusammensetzt. Presencing bedeutet, sich mit der Quelle des höchsten Zukunftspotenzials zu verbinden und diese durch den Weg des „Hineinspürens“ ins jetzt zu bringen Dieser transformative Prozess setzt den Hebel an der Quelle unseres Handelns an. Gemeint ist die Aufmerksamkeitsstruktur, unsere innere Verfassung, von wo aus wir wahrnehmen, sich unseren Intentionen, Haltungen und Identitäten bilden, mit denen wir in Beziehung mit anderen treten. Aus der Verschiebung dieses Quellortes von der Ich-Perspektive zur Wir-Perspektive entsteht die Kraft für transformativen Wandel von dem entstehenden Ganzen her.

109

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

Downloading Muster der Vergangenheit

Performing In die Welt bringen

innehalten verkörpern

Seeing Mit neuen Augen sehen

umwenden

Öffnung des Denkens Prototyping Erproben

Öffnung des Fühlens

ausführen

Crystalizing Sensing Verdichten der Vision Andere wahrnehmen Öffnung des Willens

loslassen

kommen lassen Presencing Mit der Quelle Verbinden

Abbildung 2: Der U-Prozess nach Scharmer (In Anlehnung an Scharmer 2009: 68ff.)

Die Grundskizze als U-Kurve beschreibt den Weg, wie Unternehmen zu einer neuen Identität finden können. Innerhalb dieses Modells differenziert Scharmer zwischen vier grundsätzlich verschiedenen Verschiebungen des Quellortes, aus denen Entwicklungsprozesse entstehen (vgl. Abbildung 2): 1.

„Downloading“ bezeichnet die erste Verschiebung: ein Zustand, aus dem keine neuen Impulse das Innen und Außen überschreiten und der Bezugsrahmen die Summe der Vergangenheit bleibt. Jede Handlungsoption oder hervorgebrachte Lösung ist aus der Summe der Vergangenheit abgeleitet und agiert aus der Ego-Perspektive. Benannt wird dieser Zustand als; „Erstarren im eigenen Ego“. Den Wendepunkt zur zweiten Verschiebung beschreibt Scharmer als „innehalten.“

110 2.

3.

4.

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Die zweite Verschiebung benennt Scharmer als „seeing.“ Hier verschiebt sich der Quellort der Wahrnehmung zur Grenze zwischen Unternehmen und Umwelt, was Folgendes bewirkt: Das Unternehmen differenziert sich selbst als ungleich der Umwelt und setzt sich in eine Subjekt-Objekt-Beziehung zu dieser. Aus diesem Lösungsmodus entstehen Externalitäten wie bspw. Verteilungsprobleme von Ressourcen oder Umweltschäden. Der Übergang zur dritten Verschiebung ist das Umwenden, der Beginn des empathischen Zuhörens. Innerhalb dieser „Sensing“ Verschiebung nehmen Unternehmen sich selbst zur Gesellschaft und Umwelt wahr und Gesellschaft sich selbst und zum Unternehmen. Quellort von Wandel aus dem Wir-Raum erzeugt Lösungen aus der gemeinsamen Schnittstelle aller Teile im Ganzen. Die Machtgeometrie im „Sensing“ liegt zwischen den organisationalen Grenzen, im Netzwerk der Beziehung und überschreitet traditionelle Grenzen. Das „Presencing“ stellt die vierte Verschiebung da und wird erreicht über den Wendepunkt des Loslassens und des Hineingebens in das emergierende Neue. Es beschreibt eine Wahrnehmungsqualität des „entstehenden Ganzen“. Der organisationale Blick ist grenzübergreifend und integrativ in den gemeinsamen Kontext des Ganzen. Scharmer ist der Ansicht, dass Wandel aus dieser Qualität sich auf dem gemeinsamen Verständnis von Zweck, Intention und Arbeitsprinzipien gründet. Lösungen werden von dem Potenzial des Ganzen her generiert und realisiert.

3.3.2

Entwurf eines Exponats

Besucher/innen des SBDS können tatsächlich den U-Prozess durchschreiten. Das U mit seinen unterschiedlichen Stationen wird auf dem Boden – beispielweise mit einem langen Seil – visualisiert und die einzelnen Stationen mit Karten markiert. Der Erfahrungsweg vom downloading über das seeing, sensing hin zum presensing wird mit Reflexionsfragen begleitet, die entweder schriftlich oder mündlich beantwortet werden. Die Erfahrung an diesem Exponat kann bis zu 4h dauern, da es im Wesentlich darum geht, von SBDS-Coach an den meditativen Presencing-Punkt geführt zu werden, an dem der mentale Raum für das Neue geöffnet wird. Ziel des Prozesses ist es, den Quellpunkt der Aufmerksamkeit weg vom vorhandenen eigenen Geschäftsmodell hin zum Zukunftspotenzial eines neuen Geschäftsmodells zu lenken. Dabei wird das Zukunftspotenzial nicht aus der Vergangenheit abgeleitet, sondern aus der emergierenden Zukunft herausgehört. Eine solche Erfahrung des emergierenden Hörens stellt sich zumeist erst nach intensiven Prozessen des Loslassens bekannter Denkmuster ein. Hier wird eine Erfahrung gemacht, die sich dann an der Ausgangsschleuse fortsetzt, wenn Prototypen nachhaltiger Geschäftsmodelle entwickelt werden.

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

3.4

Komplexe Systeme und Prozesse lesen: Intuition in Systemaufstellungen

3.4.1

Das Konzept

111

Der Weg von Ich-Raum in den Wir-Raum ist bereits metaphorisch als Bewegung im Raum umschrieben. Mental macht es einen großen Unterschied, ob Erkenntnisse zweidimensional in linearer Abfolge von Text, Wort oder Bild angeboten werden (so wie das Lesen dieses Textes hier) oder dreidimensional. Die Visualisierung von Systemen im Raum erleichtert es Menschen sehr, Komplexität zu erfassen und den Möglichkeitsraum von Anschlusshandlungen deutlich zu vergrößern. Eine sehr wirkungsvolle Methode hierfür sind Systemaufstellungen (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3: Beispiel einer Systemaufstellung

Mit einem sehr wertschätzenden Blick auf die häufig zitierte Aussage von Kurt Lewin „You cannot understand a system until you try to change it“ sehen wir den Nutzen der Methode der Systemaufstellung. Sie kann das mühsame und zeitaufwändige

112

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

„Mitleben“ in einem System ersetzen durch die erstaunliche Eigenschaft, Systeme in hoher Raum-Zeit-Verdichtung in einem Raum sichtbar und sprechfähig machen sowie Veränderungen im System simulieren zu können. Durch das Miterleben einer Systemaufstellung entsteht eine subjektive Systemkenntnis, die letztlich immer nur von Beobachtenden selbst als nützlich oder viabel eingeschätzt wird. Systemaufstellungen lassen sich ganz allgemein als ein Erkenntnisinstrument bezeichnen, welches neben therapeutischen und beraterischen Anwendungsfeldern nun auch in der Wissenschaft zur Anwendung kommt (Müller-Christ/Pijetlovic 2018). Die Methode der Systemaufstellung hat inzwischen eine Reife erlangt, die sie auch zu einem interessanten Instrument der modernen Managementforschung macht. Mit einem Brückenschlag zwischen der Selbsterfahrung der Beobachter/innen sowie Repräsentant/innen in der Aufstellungsszene und der wissenschaftlich distanzierten Forschung kann letztere neben der Erforschung der Kausalitäten der Methode vor allem die immer wieder auftauchenden Beziehungsmuster clustern und zu neuen Hypothesen über Systemzusammenhänge verdichten. Dabei hilft jede Systemaufstellung, die Grammatik des systemischen Funktionierens besser zu verstehen, greift dabei auf die Prinzipien systemischer Ordnung zurück und ermöglicht zugleich, auf Basis dieser Prinzipien unterschiedliche Lösungen auszuprobieren. Am Ende steht zwar nicht die konkrete Handlungsempfehlung, aber ein klarerer und vertiefter Einblick in das aufgestellte System in der Form von neuen Hypothesen, die Anschlusshandeln angemessener ausfallen lässt. Systemaufstellungen sind daher eine sehr wirkungsvolle Methode, um beispielsweise die systemischen Spannungen von Eigennutz versus Gemeinwohl und von Effizienz versus Nachhaltigkeit erfahrbar zu machen, um innere Landkarten anzureichern mit weiteren wichtigen, aber bislang übersehenen Elementen wie Akteuren, Institutionen und Prinzipien und damit vor allem um Komplexität zu verstehen. 3.4.2

Entwurf eines Exponats

Für dieses Exponat werden weitere Menschen als Stellvertreter/innen benötigt. Besucher/innen des SBDS werden aufgefordert, ein Bild im Raum von ihrem Geschäftsmodell zu visualisieren. Hier bietet der SBDS-Coach, geschult in der Leitung von Aufstellungen, verschiedene Formate an. Die Erfahrungen, die Führungskräfte mit Systemaufstellungen machen, sind zum einen das neue größere Bild auf das Geschäftsmodell wie auch das Ausprobieren neuer Optionen durch Verschiebungen der Stellvertreter/innen. Die meisten Erkenntnisse entstehen durch die repräsentierende Wahrnehmung der Stellvertreter/innen, eine Art Intuition, die erstaunlich genau die Befindlichkeiten des repräsentierten Elements wiedergeben können.

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

3.5

Systemisches Wissen entwickeln und Dilemmata aushalten: Trade-off-Kompetenz

3.5.1

Das Konzept

113

Aus den vielen Vorschlägen, was Führungskräfte können müssen, um mehr Komplexität zu bewältigen, erscheint uns gerade aus der Nachhaltigkeitsperspektive, wie sie in der Eingangsschleuse vermittelt wird, die Trade-off-Kompetenz oder auch Dilemmakompetenz als der wesentliche Unterschied zur bewährten Führungskompetenz. Gerade Nachhaltigkeit lässt sich nicht als Win-Win-Aspekt zur Gewinnlogik hinzufügen, sie produziert vielmehr logische Widersprüche, deren Bewältigung zu Trade-offs führen: zu einem Preis, der für das Nichtzuerreichende zu bezahlen ist (ausführlicher in Müller-Christ 2014). Was sind nun die Bestandteile einer Dilemma- oder Trade-off-Kompetenz? Wird nach Fachfähigkeit, methodischer Fähigkeit und Abstraktionsfähigkeit unterschieden, lässt sich die kognitive Disposition für eine konstruktive Widerspruchsbewältigung wie in Tabelle 3 skizzieren. Managementdispositionen für Widerspruchsbewältigung (Quelle: Müller-Christ

Fachfähigkeiten Methodische Fähigkeiten Abstraktionsfähigkeiten

Managementdispositionen Widerspruchsbewältigung

2014: 443) Stufe 1: Kennen

Widersprüche in Entscheidungskontexte von Konflikten und komplexen Auswahlprozessen unterscheiden können.

Stufe 2: Verstehen

Den Unterschied der Bewältigungsformen für Widersprüche und für Konflikte begreifen.

Stufe 3: Anwenden

Die Bewältigungsformen für Widersprüche situationsangemessen verwenden können.

Stufe 4 Analysieren

Den Trade-off, der durch jede Dilemmaentscheidung entsteht, erkennen, in Bezug auf die Hauptwirkung der Entscheidung abwägen und legitimieren können.

Stufe 5 In einem Entscheidungsmonitoring die Verteilung der Synthetisieren Trade-offs vergangener Entscheidungen beobachten und Ungleichgewichte in der Lastenverteilung erkennen können. Stufe 6: Beurteilen

Das Grunddilemma von Zwecken und Mitteln durch eine Reintegration von Zwecken und Mitteln auf höherer Ebene aufheben können, indem die Zwecke des wirtschaftlichen Handelns ganz neu bewertet werden.

114 3.5.2

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Entwurf eines Exponats

Spannungsfelder lassen sich sehr schön im Raum visualisieren. Der Raum, der zwischen zwei Stühlen oder zwischen zwei Menschen sichtbar gemacht wird, stellt die Gestaltungsfläche für die Bewältigung von Widersprüchen dar. Systemaufstellungen wie in Punkt 3.4 beschrieben, machen diese Spannungsräume dann auch körperlich erfahrbar. Für den Erkenntnisprozess stehen drei prototypische Dilemmata an dem Exponat zur Verfügung. Wünschenswerter wäre es allerdings, wenn die Besucher/innen des Raumes mit einem Dilemma aus ihrem beruflichen Umfeld arbeiten könnten. Wenn es unklar bleibt, ob es sich dabei um ein komplexes Auswahlproblem handelt oder um ein Dilemma, ist auch das Tetralemma ein wirkungsvolles Aufstellungsformat, indem zu den beiden Polaritäten (das Eine, das Andere) die Elemente „Beides“ oder „Keines“ im Raum visualisiert werden (Varga von Kibed/Sparrer 2005). Die Herausforderung liegt darin, den Trade-off der gewählten Entscheidung zu erkennen und als Element im Raum zu positionieren. Hilfreich hierfür ist die Methode WIPOLOG, ein Phasenschema zur Bewältigung von Widersprüchen und zum Umgang mit Trade-offs. Das Schema ist in der nachfolgenden Abbildung visualisiert (siehe Abbildung 4). Die angestrebte Erfahrung, die den Besucher/innen ermöglicht werden soll, ist die gleichzeitige Sichtbarkeit von Polaritäten und ihren Trade-offs auszuhalten. Geschult werden soll die Ambiguitätstoleranz, die Fähigkeit in den Unvereinbarkeiten der Spannungsfelder zu stehen, die Spannung auszuhalten und trotzdem handlungsfähig bleiben zu können.

Akzeptiere den Widerspruch

Spannungen sind der Normalfall

Benenne die Pole

Die Widersprüche liegen in der Sache

Identifiziere die logischen Möglichkeiten

Konstruktive Bewältigungsformen sind gestaltbar

Ermittle den Trade-off

Es wird immer ein Preis bezahlt

Definiere das Minimum

Wann ist es definitiv zu wenig?

Hole die Legitimation

Wer gibt das ok für zu wenig?

Würdige das Manko

Dem NichtErreichten einen guten Platz geben

Abbildung 4: Phasenkonzept zur Bewältigung von Trade-offs (Quelle: Müller-Christ 2014: 439)

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

3.6

Alles gleichzeitig überblicken: die integrale Perspektive

3.6.1

Das Konzept

115

Nach unserer Auffassung bespielen die in Kapitel 3.3. erwähnten Stufen 3.0 und besonders 4.0 den Möglichkeitsraum, der über den klassischen Wirklichkeitsraum der Mainstream-Betriebswirtschaftslehre hinausgeht. Um das Nachhaltigkeitsmanagement 4.0 nun weiter greifbar werden zu lassen, soll an dieser Stelle das Erklärungsmodell von Spiral Dynamics durch das Vier-Quadranten-Modell (auch AQAL genannt, „all quadrants, all lines“) aus der integralen Theorie von Ken Wilber (2001) vertieft werden und auf den Umgang mit Ressourcen bezogen werden (siehe Abbildung 5 und ausführlicher dazu Müller-Christ/Giesenbauer 2019).

Verhalten Körper & Gehirn Tatkraft & Leistung Kompetenzen & Fähigkeiten

Kultur & Weltsicht Geteilte Werte & Moral Resonanz & Intersubjektivität Charakter einer Gemeinschaft

System Strukturen & Prozesse Umweltbedingungen Vorgaben, Gesetze & Ziele

Wir

INNEN

INDIVIDUELL

Erfahrung & Erleben Denken, Fühlen & Kreativität Motivation & Commitment Persönliche Werte & Überzeugungen

AUSSEN

Es

KOLLEKTIV

AUSSEN

INDIVIDUELL

INNEN

KOLLEKTIV

Ich

Sie

Abbildung 5: Das Vier-Quadranten-Modell (Quelle: Müller-Christ/Giesenbauer 2019)

In diesem Modell werden alle Entwicklungszusammenhänge innerhalb von vier Quadranten dargestellt: Alles, was sich entwickelt, entwickelt sich sowohl im Innen als auch im Außen, sowohl im Individuum als auch im Kollektiv (Wilber 2007). Jede Entwicklung hat demnach eine Entsprechung in den Bereichen individuelle Erfahrung, Verhalten, Kultur sowie in den Rahmenbedingungen von Systemen.

116

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Alle vier Bereiche müssen gemeinsam berücksichtigt werden, um eine stabile Transformation zu einer nachhaltigeren Gesellschaft zu ermöglichen, da die vier Quadranten in wechselseitiger Beziehung stehen. Der Schwerpunkt der Nachhaltigkeitsdiskussion liegt bislang auf dem Systemquadranten kollektiv/außen und am meisten vernachlässigt wird der Erfahrungsquadrant individuell/innen – wie sich auch deutlich in einer Literaturanalyse von Brown (2007) zeigt. Alle Quadranten sind jedoch gleichermaßen nötig für systemischen Wandel. Jeder Quadrant kann nur durch seine ihm eigene Sichtweise voll verstanden werden – die Sicht von anderen Quadranten aus kann zu Verzerrungen führen. Aus dieser Erkenntnis heraus wäre es daher unstimmig, den Nachhaltigkeitsbegriff den drei weniger stark bespielten Quadranten überzustülpen. Vielmehr gilt es, die jeweilige Eigenlogik herauszuarbeiten. Die Unterscheidung des Vier-Quadranten-Modells hilft uns dabei, die unterschiedlichen Bühnen der ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsherausforderung präziser herauszuarbeiten und in ein nachhaltigeres Geschäftsmodell zu transformieren. Ein nachhaltiger Umgang mit materiellen und immateriellen Ressourcen erfordert daher folgende Bedingungen (siehe ergänzend Abbildung 6): 1.

2.

3.

Quadrant kollektiv/außen: Nachhaltigkeit heißt Regeln für die Reproduktion von Ressourcen zu schaffen: Die Einflussfaktoren von Tragfähigkeit und Produktivkraft natürlicher und sozialer Systeme werden in den Regeln von Wirtschaft und Gesellschaft berücksichtigt. Die Eigengesetzlichkeiten der materiellen (Natur, Finanzen) Ressourcenquelle sind genauso bekannt wie die der immateriellen (Vertrauen, Legitimation, Bildung, Rechtssicherheit u.a.m.) und in den Normen und Gesetzen berücksichtigt. Insbesondere die Abstimmungen zwischen den widersprüchlichen Anforderungen von Rücksicht der verschiedenen Ressourcenquellen finden in intelligenten Dialogprozessen statt. Eine Kreislaufwirtschaft auf der Basis von Solarenergie ist weitgehend realisiert. Quadrant kollektiv/innen: Bewusstsein über das Verhältnis von Geist und Materie: Sinn, Werte (Geist) und Ressourcenverwendung (Materie) werden zu einem großen Narrativ verbunden: Knappe Ressourcen werden für sinnvolle Zwecke eingesetzt, über die die Gemeinschaft entscheidet. Die Widersprüchlichkeit einer einzelnutzenorientierten Gemeinwohlökonomie ist als ständiges moralisches Dilemma im Wertesystem der Gesellschaft verankert. Quadrant individuell/außen: Kohärenz zur Ressourcenmenge: Menschen und Institutionen können die Widersprüchlichkeit in der Gestaltung gesunder Geld- und der Ressourcenströme durch geeignete Tools und Bewertungsver-

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

fahren für alle sichtbar auf effiziente und professionelle Weise bewältigen. Informationen über die Relevanz von Konsum und Produktion für die vorhandene materielle und immaterielle Ressourcenmenge ermöglichen ein kohärentes Verhalten aller Beteiligten Quadrant individuell/innen: Bewusstsein für einen haushälterischen Ressourceneinsatz: Menschen und Institutionen haben das Bewusstsein dafür, dass sie als Ganzheit zugleich ein Teil eines größeren Ganzen sind, dessen Gesundheit von den Beiträgen seiner Teile abhängt und auf diese zurückwirkt. Ambiguitätstoleranz, Weltzentrik (im Gegensatz zur Egozentrik) und Spiritualität sind die Voraussetzung von Bewusstseinsstufen zweiter Ordnung (Stufe 4.0 und mögliche weitere Stufen), die einen haushälterischen Ressourceneinsatz auf allen Ebenen ermöglicht.

INNEN

AUSSEN

Bewusstsein über das Verhältnis von Geist und Materie

Nachhaltigkeitsregeln zur Ressourcenproduktion

Wir

INNEN

AUSSEN

Kohärenz zur Ressourcenmenge

KOLLEKTIV

Bewusstsein für einen haushälterischen Ressourceneinsatz

Es

INDIVIDUELL

INDIVIDUELL

Ich

KOLLEKTIV

4.

117

Sie

Abbildung 6: Ressourcenorientierte, integrale Perspektive (Müller-Christ/Giesenbauer 2019b)

Diese vier Bühnen eines integralen Nachhaltigkeitsmanagements sind an dieser Stelle mit ihrem Zielbegriff benannt. In der gelebten Praxis gibt es in jedem Quadranten mehrere Entwicklungslinien, die unterschiedlich weit entwickelt sein können (Wilber 2007). Die Dialektik der Spiralentwicklung gilt somit für alle vier Aspekte

118

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

und die Herausforderung des integralen Nachhaltigkeitsmanagements besteht zu einem großen Teil darin, auf allen vier Bühnen den Nährboden für eine schrittweise Weiterentwicklung zu schaffen, damit schließlich ein systemisch ganzheitliches Management der materiellen und immateriellen Ressourcen möglich wird. 3.6.2

Entwurf eines Exponats

Wir gehen davon aus, dass Führungskräfte vor allem eine Entwicklung im Quadranten individuell/innen nachholen müssen, um Nachhaltigkeit in der Außenwelt neu in Geschäftsmodellen abzubilden. Es geht also folglich darum, Erfahrungen im haushälterischen Umgang mit den eigenen Ressourcen zu machen und das Bewusstsein für die Regeneration der psychischen, physischen und spirituellen Ressourcen der eigenen Person zu steigern. Haushälterischer Umgang bedeutet dann, dass nicht mehr Ressourcen verwendet werden als sich im selben Zeitraum regenerieren können. Dieser Ausgleich wird als Waage im Raum visualisiert, indem zwei Räume auf dem Boden abgegrenzt werden. In dem eigenen Raum sammeln die Besucher/innen des Raumes die persönlichen Ressourcen, die sie für ihre Arbeit und ihr Leben einsetzen, in dem anderen Raum bilden sie die Ressourcenquellen für die Regeneration dieser Ressourcen ab. Dieses Bild dient dann als Betrachtungsgrundlage für eigene innere Reflektion der Haltung zur Balance der beiden Felder. Da vermutlich die meisten Besucher/innen mehr Ressourcen verbrauchen als selbst zu regenerieren, wird die Reflexion zumeist auf die Frage gelenkt, in welcher Haltung sich die Führungskraft dem Trade-off zuwendet: Wer produziert die persönlichen Ressourcen, die die Führungskraft im Unternehmen investiert?

4

Ausgangsschleuse: Geschäftsmodelle integrativ und nachhaltig entwickeln

Im SBDS arbeiten die Führungskräfte nicht direkt an neuen Geschäftsmodellen. Vielmehr laden wir sie ein, die DNA innovativer Pioniere zu entwickeln, um dann anschließend mit dieser neuen Haltung integrative und nachhaltige Geschäftsmodelle zu designen, die gleichzeitig innovativ, ressourcenbewusst und erfolgreich sind. An der SBDS-Ausgangsschleuse werden die Erfahrungen der Besucher/innen in einem persönlichen Gespräch mit den SBDS-Coachs gesammelt, verdichtet und strukturiert. Um die Ergebnisse gezielt in die Geschäftsmodellentwicklung einfließen zu lassen, nutzen wir den Success Loop (Sohn/Conzelmann 2017). Der Success Loop eröffnet mit den sechs virtuellen Räumen (Spaces) kreative Gestaltungsräume,

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

119

die in einem klar strukturierten und dennoch kreativen Prozess eine intensive Auseinandersetzung mit den Phasen der Geschäftsmodellentwicklung und Umsetzung ermöglichen. Das Modell des Success Loops (siehe Abbildung 7) folgt einer ähnlichen Idee wie die Logik des SBDS: die einzelnen Spaces sind alle relevant für die Geschäftsmodellentwicklung, sie können in unterschiedlicher Intensität besucht werden und tragen gleichwohl alle gleichermaßen zur Entwicklung eines Geschäftsmodells bei. Während bislang alle Räume dazu dienten, eine bewusste und umfassendere Haltung und Kompetenz zur Bewältigung komplexer Probleme zu gewinnen, werden diese nun in der Ausgangsschleuse ganz konkret auf Geschäftsmodellentwicklung angewendet.

Abbildung 7: Die sechs Räume des Success Loops (Sohn/Conzelmann 2017: 51)

Die sechs geschilderten SBDS - Erfahrungsräume können den Spaces der Geschäftsmodellentwicklung zugeordnet werden, sie vertiefen und ergänzen. Der Success Loop folgt einem bestimmten Rhythmus. Mit der Wahl der Exponate wählen die SBDS Besucher/innen auch einen Success Loop Space. Sie vertiefen den Aspekt der Geschäftsmodellentwicklung bzw. Umsetzung, der für sie persönlich oder das Unternehmen gerade vorrangig und relevant ist (ausführlicher in Sohn/Conzelmann 2017: 52ff).

120

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Zen Space (Inspiration) + Spiral Dynamics Mit dem Zen Space startet die Geschäftsmodellentwicklung. Er dient der Inspiration. In diesem Raum sind Führungskräfte eingeladen, sich mit den Veränderungen im Kontext ihres Unternehmens auseinandersetzen. Die Erkenntnisse aus der Begegnung mit Spiral Dynamics (Kap. 3.2) unterstützen diesen Prozess, indem sie helfen, das Unternehmen auf der Spirale zu verorten und so unternehmenstypische Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zu identifizieren. Mit diesen Kenntnissen gelingt es deutlich leichter, funktionierende Schnittstellen zwischen den veränderten Umweltanforderungen und den Reaktionsmöglichkeiten des Unternehmens herzustellen und notwendige Entwicklungen aufzuzeigen.

Delphi Space (Status Quo Analyse) + Systemische Wissen entwickeln und Dilemmata aushalten: Trade-off-Kompetenz Im Delphi Space richtet sich der Fokus der Führungskräfte auf ihr eigenes Unternehmen, auf die Intention ihres derzeitiges Geschäftsmodells, auf die Art und Weise, wie sie dieses betreiben und die Alleinstellungsmerkmale, die ihnen ihre Marktberechtigung schenken. Aus unserer Sicht werden system-logische Perspektiven bei der Analyse oft vernachlässigt, obwohl sie einen grundlegenden Einfluss auf den Erfolg von Geschäftsmodellen haben. Die Ergebnisse am Exponat des ‚systemischen Wissens‘ ergänzen also die klassischen Analysen und helfen die Logik des eigenen Unternehmens bzw. Geschäftsmodells zu erkennen, Spannungsfelder, Dilemma und Trade-offs wahrzunehmen, zuzuordnen, zu bewerten und bei der weiteren Geschäftsmodell-Entwicklung zu berücksichtigen und auszugleichen.

DaVinci Space (Kreativität) + Komplexe Systeme und Prozesse lesen: Intuition in Systemaufstellungen Das Ziel des DaVinci Space ist die Entwicklung innovativer Ideen. Systemaufstellungen ergänzen klassische Kreativtechniken durch die Möglichkeit, Beziehungen innerhalb eines Systems (beispielweise Kunden, Produkte und Kontextvariablen) zu visualisieren und sprechfähig zu machen, indem durch die Repräsentant/innen wichtige Informationen ausgesprochen werden. Zusätzlich können Veränderungen (beispielsweise zukünftige Entwicklungsimpulse) simuliert und getestet werden. Im SBDS werden unterschiedliche Systemaufstellungsformate genutzt. Diese liefern a) Informationen, die anschlussfähig interpretiert werden müssen und b) Irritationen, die zu wertvollen Impulsen für neue GM werden können.

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

121

Rubikon Space (Entscheidung) + Nachhaltigkeit + Nebenwirkungen Im Rubikon Space sind Führungskräfte eingeladen, die diversen GeschäftsmodellMöglichkeiten zu überprüfen und die Idee auszuwählen, die den höchsten Kundennutzen mit der besten Rentabilität fürs Unternehmen verbindet. Wenn es gelingt, Führungskräfte im SBDS für die oben beschriebenen Aspekt der Nachhaltigkeit zu sensibilisieren, kann davon ausgegangen werden, dass immer häufiger Entscheidungen auch für das Gemeinwohl statt allein für das Eigenwohl getroffen werden. Denn es werden (neben Rentabilität und Kundennutzen) die Auswirkungen auf die Umwelt, der Einsatz materieller und immaterieller Ressourcen und die zu erwartenden Nebenwirkungen zu handlungsleitenden Entscheidungskriterien. Der Einfluss dieser Kriterien kann im extremen Fall dazu führen, dass vermeintlich lukrativ erscheinende Geschäftsmodelle verworfen werden, weil die Nebenwirkungen bzw. der Ressourceneinsatz unverhältnismäßig hoch sind.

Laboro Space (Umsetzung) + Integrale Perspektive Unserer Erfahrung nach investieren Führungskräfte viel Energie in die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Die anschließende Umsetzung wird oft stiefmütterlicher behandelt, obwohl es sich in den meisten Fällen um eine Herkulesaufgabe handelt, die neben der richtigen Auswahl entscheidend für den Erfolg des Geschäftsmodells ist. Im Laboro Space finden Führungskräften Anregungen, um diese Aufgabe zu meistern. Das vier Quadranten Modell von Wilber kann als Matrix der Veränderung betrachtet werden. Die Erfahrungen aus dem SBDS können für Führungskräfte quasi zum Erkenntnisboden werden, auf dem sie alle Entscheidungen bezüglich der Umsetzung der Geschäftsmodelle treffen werden.

Salomon Space + Theorie U Mit dem Salomon Space endet ein Loop. Er dient der Reflexion der vorangegangenen Spaces und lädt Führungskräfte ein, wichtige Erkenntnisse zu sammeln und auszuwerten. Die Erfahrungen, die die Besucher/innen auf der Themeninsel Theorie U machen können, unterstützen und ergänzen diesen Prozess optimal. Im Idealfall erkennen die Führungskräfte den gravierenden, qualitativen Erkenntnisunterschied in den verschiedenen Phasen des U-Prozesses. Additiv bietet sich ihnen die Möglichkeit, Hinweise auf eine sich entwickelnde Zukunft zu erhalten, die dem neuen Loop zugrunde liegen könnte.

122

5

Georg Müller-Christ und Sabine Sohn

Erfahrungen im Sustainable Business Development Space machen

An die Exponate im SBDS stellen wir mehrere Anforderungen. Sie müssen die Besucher/innen in die Lage versetzen, in relativ kurzer Zeit grundlegende theoretische Hintergründe der Themeninsel zu erfassen, ohne zu komplex und ermüdend zu sein. Und sie müssen Erfahrungen ermöglichen, die die mentalen Karten der Besucher/innen, irritieren und erweitern ohne zu verstören. Die Student/innen der Universität Bremen haben in einem Semester in mehreren Intervallen an den Exponaten gearbeitet. Es wurde spürbar deutlich, dass der SBDS Entwicklungsprozess zugleich ein Entwicklungsprozess für alle beteiligten Personen ist. Uns wurde klar, dass die Gestalter/innen des SBDS a) ein Thema in der Tiefe verstanden und b) eigene Erfahrungen mit dem Thema gesammelt haben müssen, um Exponate zu entwickeln, die die beiden gestellten Kriterien erfüllen. Zusätzlich wurde deutlich, welchen gravierenden Einfluss die innere Haltung der Student/innen, quasi die Brille, mit der sie ein Thema betrachten, auf die Ergebnisse haben. Fehlt die integrale Sicht bzw. Erfahrung, bleibt das Exponat quasi in einer Vorstufe stecken. Dennoch sind in der Auseinandersetzung mit den angebotenen Exponaten Ideen entstanden, die in weiteren Runden ergänzt und konkretisiert werden möchten. Genauso wie die Gestalter/innen der Exponate müssen auch die Wegbegleiter/innen, die wir SBDS-Coaches nennen, die zugrundeliegenden Theorien zutiefst verstanden und die integrale Sicht verinnerlicht haben. Erst dann können sie ihre Katalysatoren ähnliche Funktion erfüllen und die Besucher/innen sicher durch den SBDS führen und sie anleiten, neues Wissen zu sammeln und tiefgreifende Erfahrungen zu machen. Der Sustainable Business Development Coach folgt in diesem Sinne derselben Entwicklungslogik wie der Success Loop für Geschäftsmodelle – mit der Entwicklung der Haltung und Kompetenz der Coaches und der Besucher/innen wird der Raum angereichert mit positiven Erfahrungen und Energien, die komplexere Bewältigungsstrategien ermöglichen. Daran werden wir arbeiten.

Literaturverzeichnis Brown, B.C. (2007): The Four Worlds of Sustainability. Integral Sustainability Center. Glasersfeld, E. von (1997): Radikaler Konstruktivismus – Ideen, Ergebnisse, Probleme. Suhrkamp.

Sustainable Business Development Space – Skizze eines integralen Erfahrungsraumes

123

Greif, S. (2008): Coaching und ergebnisorientierte Selbstreflexion: Theorie, Forschung und Praxis des Einzel- und Gruppencoachings. Hogrefe. Kiesel, A./ Koch, I. (2012): Lernen. Grundlagen der Lernpsychologie. SpringerVS. Koschorke, A. (2012): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Auflage. S. Fischer. Laloux, F. (2017): Reinventing Organizations. Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen. Müller, M. (2002): Lernhandeln von Führungskräften zur Rekonstruktion spezifischer Lernbegründungen. http://ebooks-fachzeitungen-de.ciando.com/img/ books/extract/3832448942_lp.pdf [2019-02-21]. Müller-Christ, G. (2014): Nachhaltiges Management. Widersprüchliche Managementrationalitäten und ihre Bewältigung. 2. Auflage. UTB-Verlag. Müller-Christ, G./Giesenbauer, B. (2018): Konturen eines integralen Nachhaltigkeitsmanagements. In: Englert/Ternès (Hrsg.): Nachhaltiges Management. Springer Gabler (in Druck). Müller-Christ, G./Pijetlovic, D. (2018): Komplexe Systeme lesen. Die Potenziale von Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis. Springer Gabler. Scharmer, C.O. (2011): Theorie U. 2. Auflage. Carl-Auer Verlag. Scharmer, C.O./Käufer, K. (2014): Von der Zukunft her führen. Theorie U in der Praxis. Carl-Auer Verlag. Schulte Steinberg, A. (2014): Nachhaltigkeit von Führungskräfte-Coaching: Eine Studie zur langfristigen Sicherung von Lernerfahrungen, die durch ein modernes Personalentwicklungsinstrument vermittelt werden. Verlag Dr. Kovač. Siebert, H. (2008): Konstruktivistisch lehren und lernen (Grundlagen der Weiterbildung). Ziel Verlag. Sohn, S./Conzelmann, D. (2016): Mit dem SUCCESS LOOP in sechs Schritten zum erfolgreichen Industrie 4.0 Geschäftsmodell. EHP-Verlag. Bergisch-Gladbach 2017. Varga von Kibéd, M./Sparrer, I. (2005): Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grund-formen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Carl-Auer Verlag. Wilber, K. (2007): The Integral Vision. Shambhala.

Das Trolley-Paradoxon: Über die Ethik der digitalen Welt Michael Garmer



Künstliche Intelligenz – das Zentrum der digitalen Welt .......................... 125 



Ethische Dimension der künstlichen Intelligenz ....................................... 127 



Entscheidungsverhalten in kritischen Situationen und das TrolleyParadoxon .................................................................................................. 129 



Entscheidungsverhalten aufgrund großer Datensammlung: Big Data und Social Scoring ........................................................................................... 133 



Neurotechnologien .................................................................................... 134 



Roboter mit Bewusstsein – auf dem Weg zum vollwertigen Menschen? . 135 



Digitalisierung der öffentlichen Meinung ................................................. 136 



Das bedingungslose Grundeinkommen ..................................................... 137 



Die Blockchain .......................................................................................... 138 

10 

Wie entsteht eine nachhaltige Ethik der digitalen Welt? ........................... 139 

11 

Fazit ........................................................................................................... 140 

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Künstliche Intelligenz – das Zentrum der digitalen Welt

Künstliche Intelligenz ist derzeit in Wissenschaft und Praxis eines der meistdiskutierten Themen (Keese 2014). Kaum ein Bereich, in dem nicht über die Möglichkeiten und Grenzen der lernfähigen Maschinen gesprochen wird. Dabei ist das Thema als solches nicht neu: Bereits im Barock erfreuten sich die Menschen (soweit sie es sich leisten konnten) an mechanischen Puppen, die Mensch und Tier in vielerlei © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_7

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Hinsicht nachahmten. Das erste künstliche neuronale Netz wurde 1958 von Frank Rosenblatt entwickelt („Perceptron“), stellte allerdings noch kein lernfähiges System im heutigen Sinn dar (Rosenblatt 1962). Damals reichten aber weder die zugrunde gelegten mathematischen Modelle noch die Rechner- bzw. Speicherleistung für Leistungen, die auch nur annähernd an die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns heranreichten. Erst die Fortschritte in der Mathematik und der Rechnertechnologie erlaubten den Aufschwung der neuronalen Netze in den 1990er Jahren, beispielsweise mit der Erkennung von Handschriften auf Briefumschlägen. Insbesondere der Übergang vom einlagigen Perceptron (das mathematisch einen einfachen „linearen Klassifikator“ darstellte) zu mehrlagigen neuronalen Netzen mit inneren Strukturen brachte einen erheblichen Zuwachs an Leistung. Wegen der heutzutage oft „tiefen“ Staffelung an Neuronenschichten nennt man die Tätigkeit dieser Systeme oft „deep learning“. Im Gegensatz zum Rosenblatt-Modell, das fest verdrahtet war, stellen heutige neuronale Netze Softwarelösungen dar und sind allein deswegen deutlich schneller und leistungsfähiger. Die wichtigste vorbereitende Tätigkeit für ein neuronales Netz, das bestimmte Muster erkennen soll, stellt das Lernen oder Trainieren dar. Für das Trainieren von Gesichtserkennung benötigt ein neuronales Netz Tausende Fotos. Erst durch das Internet und die dort erfolgte massenhafte Verbreitung von Fotos und anderen Informationen können die lernfähigen Systeme ihre volle Wirkung entfalten. Von der künstlichen Intelligenz versprechen sich die Forscher insbesondere schnellere und bessere Entscheidungen aller Art. Was ist aber, wenn Computer schwerwiegende Entscheidungen treffen, die vom Menschen nicht mehr hinterfragt werden können, weil keine transparente „if … then … else“ Logik mehr vorliegt, sondern ein Algorithmus nach selbsterstellten und nicht mehr im einzelnen durchschaubaren Regeln entschieden hat? Ein weiterer Aspekt ist „Big Data“: wenn private oder staatliche Stellen „alles“ über die Bürger wissen und dieses Wissen zur Grundlage ihres Verhaltens, ihrer Entscheidungen gegenüber dem Einzelnen machen, was bedeutet das? Welche Entscheidungen werden getroffen? Werden die Entscheidungen tatsächlich von der Maschine getroffen? Wird es noch eine Plausibilitätskontrolle durch den Menschen geben? Und wie können Rechtsmittel gegen solche Entscheidungen eingelegt und durchgesetzt werden? Welche „Langzeitstabilität“ haben solche Entscheidungen? Klar: auch menschliche Entscheidungen sind oft umstritten. Auch Gerichtsentscheidungen haben nur solange Bestand, bis sie von einer höheren Instanz wieder aufgehoben werden. In der analogen Welt können aber alle Entscheidungsgründe einzeln und gegeneinander gewogen werden. Bei KI-Entscheidungen ist das anders: die Maschinen lernen permanent weiter und die gleichen Eingangsparameter können somit zu unterschiedlichen Zeiten zu unterschiedlichen

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Ergebnissen führen, ohne dass die Entscheidungsgründe im Einzelnen nachvollzogen werden können. Insbesondere kann ein plötzlicher „Sinneswandel“ der Maschine nicht nachvollzogen werden, ein Element der – zumindest gefühlten – Willkür gelangt in den Entscheidungsprozess. All diese Fragen sind nicht nebensächlich. Beispielsweise beim autonomen Fahren können Algorithmen in kritischen Situationen buchstäblich über Leben und Tod entscheiden. Grund genug, einmal die Grundlagen der Ethik der digitalen Welt zu beleuchten sowie Möglichkeiten und Grenzen der nachhaltigen Formulierung von normativen Festlegungen zu diskutieren. Allein schon die Digitalisierung, auch ohne Einsatz lernfähiger Maschinen, führt nämlich dazu, dass viele Gewissheiten und Regeln der analogen Welt nicht mehr gelten. Beispielsweise ist derzeit rechtlich umstritten, ob Livestream-Angebote im Internet zulassungspflichtigen Rundfunk oder zulassungsfreie Medien der neuen digitalen Welt darstellen (Huber 2019).

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Ethische Dimension der künstlichen Intelligenz

Entscheidungen über Wohl und Wehe von Menschen sind Gegenstand der Ethik. Die normative Ethik befasst sich mit dem Aufstellen von Regeln, wie Menschen in bestimmten Situationen handeln sollen, abgeleitet von einem moralischen Prinzip. Hierbei stehen weniger die eindeutigen Entscheidungen zwischen Gut und Böse im Vordergrund, sondern die häufig auftretenden sogenannten Dilemmata, d.h. Entscheidungssituation zwischen zwei verschiedenen Übeln, von denen sich mindestens eines in keinem Fall verhindern lässt. Weichensteller-Dilemma Eines der seit langer Zeit bekanntesten Dilemmata, das aufgrund der Anwendung im Bereich des autonomen Fahrens unverhofft wieder Aufmerksamkeit erfährt, ist das sog. Weichensteller-Problem (engl. trolley problem): Eine führerlose Straßenbahn fährt ungebremst auf eine Gruppe von auf den Gleisen spielender Kinder zu. Zwischen der Bahn und den Kindern befindet sich eine Weiche, die der Protagonist der Geschichte umstellen könnte, so dass die Bahn auf ein Nebengleis geleitet würde, auf dem ein einzelner Arbeiter mit Reparaturarbeiten beschäftigt ist. Dem Protagonisten stehen keine Möglichkeiten zur Verfügung, die Kinder oder den Arbeiter zu warnen, ihm bleibt nur die Entscheidung, die Bahn fahren zu lassen, oder die Weiche umzulegen, eine Entscheidung zwischen zwei Übeln (Bak 2014).

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Bislang war das Trolley-Dilemma im Wesentlichen ein reines Gedankenexperiment, denn in der Praxis gibt es in vergleichbaren Situationen zumeist doch die Möglichkeit, eine Warnung abzusetzen oder auf anderen Wegen dem Dilemma zu entgehen. Doch mit vollautonomen Fahrzeugen auf der Straße entsteht die Notwendigkeit, für eine Situation, bei der Personen innerhalb und außerhalb des Fahrzeugs gefährdet sein können, entsprechende Vorkehrungen in die Software einzubauen und bestimmte Grundentscheidungen vorsorglich bereits zu treffen. Datenökonomie Ein weiterer großer Fragenkomplex bezieht sich auf Eigentumsrechte verschiedener Art: wem gehören die Daten, die wir durch unser Leben, Arbeiten, Fortbewegen, Konsumverhalten etc. pausenlos erzeugen und den großen (meist privaten) Datensammelstellen weitgehend kostenlos und oft unwissentlich zur Verfügung stellen? Daten sind das neue Gold – das Bewusstsein für den ökonomischen Wert ist aber bei den „Lieferanten“ noch gering ausgebildet. Anders bei den Plattformen: die Daten werden in hocheffizienter Weise als Grundlage märchenhafter Gewinne genutzt. Hierdurch entsteht Marktmacht, die auf die analoge Welt abstrahlt, wenn beispielsweise Internetunternehmer Zeitungen kaufen. Werden digitale Datenmonopole zu umfassenden Meinungsmonopolen? Entstehen neben wirtschaftlichen Verwerfungen auch politische Probleme? (Haucap 2018). Eine weitere im Rahmen der Datenökonomie aktuelle Frage betrifft das Urheberrecht: kaum ein „User“, kaum eine Plattform hat sich bislang große Gedanken darum gemacht, wer eigentlich die Rechte an dem „Content“ hat, der millionenfach pro Minute hochgeladen oder „gefunden“ wird, sei es Text, seien es Bilder. Seitdem Bücher, Musikstücke und Kinofilme mit relativ geringem Aufwand digitalisiert werden können, hat im Internet eine Gratiskultur um sich gegriffen, die es Kreativen aller Gattungen immer schwerer macht, von ihrer Arbeit zu leben. Aber auch das Internet kann kein rechtsfreier Raum sein. Problem erkannt? Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur hat in der 18. Wahlperiode eine Kommission eingerichtet, die die ethischen Fragen des autonomen Fahrens beleuchten soll. Die Kommission hat im Juni 2017 einen Bericht zu dieser Frage vorgelegt. Auch die EU-Kommission hat eine Gruppe von Experten aus Industrie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft eingerichtet, um die ethische Relevanz von Künstlicher Intelligenz zu ermitteln und eine Art „Ethikkodex“ für den Umgang mit KI zu entwickeln. Auch hier liegt inzwischen ein Bericht vor.

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Moralisches Prinzip Nimmt man in der normativen Ethik als moralisches Prinzip die von Habermas und Apel entwickelte Diskursethik zur Grundlage, bietet sich die Möglichkeit, ethische Probleme, auch Dilemmata, als Interessenausgleichsaufgabe zu betrachten und auf diese Weise zu lösen (Apel 1976; Habermas 1983). Mit diesem Ansatz kann versucht werden, die aktuellen Aufgaben des autonomen Fahrens, der Personalauswahl und des Social Scoring zu lösen. Allerdings lehren die betrachteten Beispiele, dass immer auch rote Linien zu beachten sind: nie dürfen Leben und körperliche Unversehrtheit von Menschen als Mittel zum Zweck verwendet werden. Insbesondere utilitaristische Betrachtungen werden von den meisten Wissenschaftlern und Kommissionen strikt abgelehnt.

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Entscheidungsverhalten in kritischen Situationen und das Trolley-Paradoxon

Künstliche Intelligenz soll für Entscheidungen aller Art eingesetzt werden, da ihre Algorithmen zum einen schneller arbeiten als das menschliche Gehirn, zum anderen eine viel größere Datenmenge zur Grundlage machen und damit bessere Entscheidungen treffen können. Die Defizite menschlichen Entscheidungsverhaltens Künstliche Intelligenz legt gnadenlos die Unzulänglichkeiten des Menschen offen. Insbesondere betrifft dies sein Entscheidungsverhalten. Das menschliche Entscheidungsverhalten ist durch Einflüsse gekennzeichnet, deren bewussten Teil der Mensch bei sich selbst als „Erfahrung“ und bei anderen als „Vorurteile“ wahrnimmt. Als neutraler Oberbegriff wird das englische Wort bias verwendet. Der Mensch kann somit in Bezug auf sein Entscheidungsverhalten etwas überspitzt als die Summe seiner biases beschrieben werden. Diese biases bei Entscheidungen aller Art können durch die Nutzung künstlicher Intelligenz zumindest theoretisch ausgeschaltet werden. Beispielsweise können bei Personalentscheidungen über die zum Trainieren der KI verwendeten Beispiele genauso viele entsprechend qualifizierte Frauen wie Männer berücksichtigt werden, so dass auch die KI hier keinen Unterschied mehr macht und wie gewünscht allein nach fachlicher Qualifikation entscheidet. Die Schattenseite besteht allerdings darin, dass nur der „kleinste gemeinsame Nenner“, der gesellschaftliche Konsens, dem Entscheidungsverhalten der KI zugrunde gelegt werden kann, beispielsweise die reine ökonomische Rationalität.

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Phänomene wie Nächstenliebe, Güte etc. bleiben unberücksichtigt. Ein Unternehmer, der einen Mitarbeiter nicht entlässt, obwohl er ihn nicht mehr benötigt. Eine Ärztin, die einen Obdachlosen kostenlos behandelt, weil sie weiß, dass er weder über finanzielle Mittel noch über eine Krankenversicherung verfügt. Ein Pensionär, der Kindern aus bildungsfernen Familien Geschichten vorliest, um ihre Bildung zu unterstützen. Aus Sicht der reinen ökonomischen Rationalität sind dies unzulängliche Entscheidungen. Und erst recht die großen Lebensentscheidungen, wie Berufswahl oder Partnerwahl: wie „vernünftig“ trifft der Mensch diese Entscheidungen? Und wie vernünftig würde eine KI diese Entscheidungen treffen? Etwa nach den Kriterien, nach denen früher die Familie über Eheschließungen oder totalitäre Staaten über die Berufswahl entschieden? Mögliche Defizite der KI Aber sollen diese Entscheidungen überhaupt der KI überlassen werden? Ist die KI fehlerfrei? In Analogie zur Statistik lassen sich Fehler 1. Ordnung (oder alpha-Fehler) definieren als eine fehlerhafte Entscheidung der KI, die vom Menschen übernommen wird, sei es, dass er auf die KI vertraut, sei es, dass ihm die Möglichkeit zum Eingreifen gar nicht mehr gegeben ist. Bei den vollständig autonomen Fahrzeugen beispielsweise kann der Mensch nicht mehr eingreifen. Wenn die KI fälschlicherweise einen Menschen auf der Fahrbahn identifiziert und das Fahrzeug gegen den nächsten Baum lenkt, wäre dies ein alpha-Fehler. Ein Fehler 2. Ordnung (beta-Fehler) liegt vor, wenn der Mensch fälschlicherweise das Ergebnis der KI zurückweist und anders entscheidet. Beim Flugzeugunglück von Überlingen 2002 haben die beiden Navigationssysteme der Flugzeuge richtig reagiert, nur durch den tragischen Eingriff des Menschen ist es zu dem Unglück gekommen. Ein anderer denkbarer Fall wäre, dass eine Diagnostik-KI dem Arzt eine bestimmte Diagnose nahelegt, er diese aber fälschlicherweise für unwahrscheinlich hält und eine entsprechende Behandlung unterlässt. Grundsätzlich sind beide Fehler möglich. Wenn der Mensch nicht mehr eingreifen kann, ist nur noch der Fehler 1. Ordnung möglich. Menschliches Entscheidungsverhalten ist also gekennzeichnet durch Defizite, der Computer soll es besser machen. Hier sollen beispielhaft zwei Anwendungsfälle diskutiert: autonomes Fahren und Personalentscheidungen. Entscheidungsverhalten im Straßenverkehr Die Fahrzeuge auf unseren Straßen enthalten zunehmend sog. Assistenzsysteme, die den Fahrer mit dem Ziel einer guten und vor allem sicheren Fahrt unterstützen sollen. Im Serienbetrieb sind derzeit aber nur teilautonome Systeme im Einsatz, bei

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denen der Fahrer immer noch (gezwungenermaßen) die letzte Entscheidung hat. In Vorbereitung sind aber vollautonome Systeme, bei denen der Fahrer keinen unmittelbaren und im Extremfall überhaupt keinen Einfluss mehr hat. In Analogie zum Weichensteller-Problem muss die KI, die ein autonomes Fahrzeug steuert, darauf trainiert sein, im Falle eines nicht mehr vermeidbaren Unfalls mit drohendem Personenschaden zu entscheiden, wer im Zweifel einen höheren Schutzbedarf hat. Die Ethik-Kommission hat festgelegt, dass „Unbeteiligte“, also zunächst einmal alle Menschen außerhalb des Fahrzeugs, primär schutzbedürftig sind. Was aber ist, wenn die unvermeidliche Wahl zwischen zwei Unbeteiligten getroffen werden muss? Kein Autofahrer muss dieses Problem vor Antritt einer Fahrt für sich entschieden haben. Die meisten Menschen verdrängen diese Möglichkeit eines Unfalls schlicht und einfach, und kommen in der Regel damit durch. Im Falle einer plötzlich eintretenden kritischen Situation werden sie intuitiv entscheiden. Eine ausführliche Analyse des Trolley-Dilemmas und eine nachvollziehbare Entscheidung finden in der „Schrecksekunde“ eines Unfalls naheliegenderweise nicht statt. Vielleicht ist das der Vorteil des Menschen: er kann unangenehme Entscheidungen verdrängen, und im Falle eines Falles hilft ihm die Intuition. Der KI steht dieser Ausweg nicht offen: sie muss anhand von Beispielen auf diese Fälle hintrainiert werden. Der Programmierer muss sich entscheiden und rote Linien klar benennen. Das Trolley-Paradoxon Die Ethik-Kommission hat beschlossen, dass die Einführung autonomer Systeme ethisch nur dann vertretbar ist, wenn die Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr hierdurch substanziell verringert werden kann. Beim autonomen Fahren wird es nach einhelliger Auffassung der Experten weniger Tote geben als derzeit, weil einfach die häufigsten Unfallursachen (Unaufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit und Alkohol am Steuer) ausgeschaltet sind. Aber es werden andere Tote sein. Dies widerspricht eigentlich der Regel Nr. 9 der Ethik-Kommission. Zwar konzediert die Kommission: „Eine allgemeine Programmierung auf eine Minderung der Zahl von Personenschäden kann ethisch vertretbar sein.“ Aber sie setzt auf kategorisch fest: „Eine Aufrechnung von Opfern ist untersagt.“ (BMVI 2017) Hierdurch entsteht nun die paradoxe Situation, dass die autonomen Systeme im operativen Betrieb keine „Aufrechnung“ von Opferzahlen im Sinne des Weichensteller-Dilemmas durchführen dürfen, eine solche Aufrechnung in Bezug auf die Gesamtopferzahlen aber von der Ethik-Kommission gerade zur ethischen Rechtfertigung der Einführung von autonomen Systemen erhoben wird. Das WeichenstellerDilemma wird nicht gelöst, es wird lediglich auf eine höhere Ebene perpetuiert. Nur

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durch unser Nichtwissen über die konkreten „anderen Toten“ hat das neue System eine Chance. Denn wenn z. B. durch Simulationen oder erste repräsentative Opferstatistiken der „Schleier des Nichtwissens“ zerrissen wird und sich herausstellen würde, dass es beim autonomen Fahren zwar deutlich weniger Tote unter den Fahrzeuginsassen geben würde, aber beispielsweise deutlich mehr unter den Radfahrern, wäre das neue System ethisch und politisch nicht vertretbar. Eine andere Frage ist, ob Menschen zur Nutzung autonomer Systeme gezwungen werden können, zumal wenn klar ist, dass das Fahrzeug eher vor einen Baum gelenkt wird, als dass ein Fußgänger oder Radfahrer angefahren wird. Die eigene menschliche Unzulänglichkeit als Fahrer und die weiteren Risiken des Straßenverkehrs sind derzeit gesellschaftlich weitgehend akzeptiert, die Unzulänglichkeit der KI und die damit für die Fahrzeuginsassen entstehenden Risiken werden möglicherweise nicht akzeptiert werden. Entscheidungsverhalten bei Personalentscheidungen Personalentscheidungen gehören zu den schwierigsten Entscheidungen überhaupt. Führungskräfte können sich bei ehrlicher Gewissenserforschung kaum davon freisprechen, neben objektivierbaren fachlichen Kriterien bzw. Leistungskriterien („Anschläge pro Minute“) auch persönliche Motive wie Sympathie bzw. Antipathie in eine Personalentscheidung einfließen zu lassen. Oft wird das begründet damit, ob jemand „mit seiner Art ins Team passt“. Das ist oft nicht falsch, aber auch nicht vollständig objektivierbar. Aber wie entscheiden Maschinen? Berühmt ist der Algorithmus, der darauf trainiert wurde, Schiffe zu erkennen. Nach mehreren Fehlentscheidungen stellte sich heraus, dass der Algorithmus jedes Objekt, das vom Wasser umschlossen war, als Schiff identifiziert hat, da dies das gemeinsame Merkmal aller Trainingssituationen war. Künstlicher Intelligenz fehlt eine Art Plausibilitätskontrolle. Ähnliches kann bei Personalentscheidungen passieren. Wenn beim Trainieren der KI die Entscheidungen immer nur unter „weißen Männern“ gefallen sind, wird der Algorithmus dieses Kriterium möglicherweise als zwingend ansehen und Bewerbungen von Frauen oder Menschen mit dunkler Hautfarbe auch bei guter Qualifikation nicht akzeptieren. Das Problem ist erkannt. Die Mitgliedsfirmen des „Bundesverbandes KI“ haben ein KI-Gütesiegel eingeführt, mit dem sichergestellt werden soll, dass zum Trainieren von KI verwendete Datenbasen keine Voreingenommenheiten enthalten (Kargul 2019). Möglicherweise wird auch die Rechtsprechung die Entscheidungen der KI mangels alternativer Kriterien anhand der Trainingsfälle beurteilen. Aus dem politischen Raum sind schon Forderungen laut geworden, dass gesetzlich sichergestellt werden müsse, dass Diskriminierung bei der Nutzung von KI ausgeschlossen ist.

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Entscheidungsverhalten aufgrund großer Datensammlung: Big Data und Social Scoring

Die Beurteilung des voraussichtlichen zukünftigen Verhaltens von Menschen aufgrund ihres Verhaltens in der Vergangenheit ist grundsätzlich gesellschaftlich akzeptiert. Wer sich um eine Anstellung bewirbt, legt Zeugnisse vor und nennt Referenzgeber, um dem Personal-entscheider hinreichende Sicherheit für seine Entscheidung zu geben. Eine mehr passiv geduldete als aktiv betriebene Beurteilung liegt bei den Wirtschaftsauskunfteien (z. B. „Schufa“ oder „Creditreform“) in Gestalt eines ScoringWertes vor, der über eine Analyse des Verhaltens in der Vergangenheit sowie fortwährender Lebensumstände die Wahrscheinlichkeit dafür angibt, dass die betreffende Person zukünftig entstehenden Zahlungsverpflichtungen pünktlich und vollständig nachkommt („Bonität“). Hier liegt bereits ein Ausnahmefall aus der analogen Welt vor: der betreffenden Person selbst und auch der Öffentlichkeit wird nicht gesagt, nach welchem Algorithmus aus der Kredithistorie sowie persönlichen Daten wie Alter, Wohnsitz, Familienstand, Beruf und ggf. weiteren Daten die Bonität beurteilt wird. Jedermann hat zwar ein Recht darauf, zu erfahren, welche einzelnen Daten die Auskunftei über ihn gespeichert hat, nicht aber auf eine Offenlegung des Algorithmus. Der Unterschied zur KI besteht allerdings darin, dass es diesen Algorithmus in der analogen Welt tatsächlich gibt, er ist nachvollziehbar und den Mitarbeitern der Auskunftei bekannt. D.h. bei unveränderter Anwendung werden ähnliche Personen auch ähnlich taxiert, auch wenn zwischen den Ereignissen einige Monate vergehen. Eine KI dagegen ist permanent im Lernmodus und niemand wird nachvollziehen können, warum die KI bei vergleichbaren Personen heute so und morgen anders entscheidet. Mit Big Data könnte sich die Situation dramatisch verschärfen: alle digitalisierbaren Informationen über eine Person könnten, sofern das jeweilige Datenrecht es zulässt, zusammengeführt werden und ein umfassendes Bild über eine Person ergeben, das weit über seine finanzielle Bonität hinausgeht und beispielsweise politische oder sexuelle Präferenzen einschließt. In China beispielsweise ist ein „Social Scoring System“ in Vorbereitung, das bis zum Jahr 2020 für jeden chinesischen Staatsbürger einen Wert liefert, der seine soziale Angepasstheit, d.h. Finanzkraft, Medienverhalten und Umgang mit Freunden beschreibt. Gerd Gigerenzer vom Max Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin beschreibt die Konsequenzen eines solchen Systems mit drastischen Wor-

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ten: „Wenn Sie sich nicht sozial konform verhalten, wenn Sie die falschen Websiten aufsuchen, zu viele Videospiele kaufen, bei Rot über die Ampel gehen oder gar Freunde mit niedrigem Score haben, dann sinkt Ihr Score. Wenn der Score zu niedrig ist, dürfen Sie nicht mehr fliegen, Ihr Haus nicht renovieren, Ihre Kinder dürfen nicht mehr auf die besten Schulen gehen, und viele andere Einschränkungen. Ein solches Programm führt zur Selbstkontrolle innerhalb der Familie. Es wird dadurch zum Selbstläufer“ (Gigerenzer 2018). Zu den Grenzen der KI führt der Bildungsforscher weiter aus: „Die künstliche Intelligenz wird überschätzt. Sie funktioniert bei Spielen wie Schach oder Go, oder anderen wohldefinierten Situationen. Aber bei Vorhersagen in der wirklichen Welt, in der es Ungewissheiten gibt, sieht das anders aus.“ (Gigerenzer 2018) Auch dann, wenn „Big Data“ ein umfassendes Bild aller verfügbaren Daten eines Menschen zusammengetragen hat, bleiben für die Vorhersage zukünftiger Verhaltensweisen Unsicherheiten zurück. Diese Unsicherheiten gehen dann möglicherweise zu Lasten der betreffenden Person: staatliche und private Stellen fällen negative Entscheidungen, ohne dass diese nachvollzogen werden können, ohne dass ggf. der Rechtsweg offensteht.

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Neurotechnologien

Eine der Technologien, die das Potential für ein tiefes Eindringen in das Wesen der menschlichen Existenz hat, ist die Neurotechnologie. Gemeint ist das Messen von Hirnströmen und das darauf aufbauende Erfassen von menschlichen Gedanken und auch umgekehrt das Beeinflussen menschlicher Gedanken von außen. Auch dies ist keine reine Zukunftsmusik, Facebook forscht seit einigen Jahren an einer sogenannten „Gehirn-Computer-Schnittstelle“. „Brain Hacking“ konnte von einigen Forschergruppen bereits nachgewiesen werden. In Berkeley fand eine Forschergruppe heraus, welche Filmausschnitte Probanden zuvor gesehen hatten. Hierzu nutzten sie technisch aufwendige sogenannte „Brainscans“. „… Forscher der Universität Oxford hacken 2012 ein EEG mit einem günstigen Neuroheadset, wie es die Firmen Emotiv und NeuroSky für Computerspiele vermarkten. Damit verschafften sich die Wissenschaftler Zugang zu den Gehirnsignalen eines Probanden und zogen mit manipulierten Gehirnstimuli Rückschlüsse auf Passwörter, bekannte Orte und Geburtsdaten. Andere US-Forscher platzieren … Bilder in Apps und zogen aus den gemessenen Reaktionen Rückschlüsse auf sexuelle Orientierung und religiöse Einstellungen der Versuchsteilnehmer“ (Schulzki-Haddouti 2017).

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Die ethische Relevanz ist evident: in seiner Gedankenwelt ist der Mensch bislang völlig frei, er allein entscheidet, welche Gedanken er anderen mitteilen möchte, welche nicht. Natürlich gibt es Ansätze, die Gedanken fremder Menschen zu erraten schon seit es Menschen gibt, z. B. über das Interpretieren der Körpersprache. Die mit der Neurotechnologie mögliche neue Quantität sorgt aber für eine neue Qualität, denn neben dem umfangreichen Erfassen menschlicher Gedanken gerät auch umgekehrt die Möglichkeit der Beeinflussung dieser Gedanken von außen in das Blickfeld. Da solche Möglichkeiten früher undenkbar waren, gibt es bislang auch keine ethischen oder rechtlichen Regeln für den Umgang mit solchen Instrumenten. Schweizer Wissenschaftler haben daher neue Grundrechte für den Umgang mit Neurotechnologien formuliert (Schulzki-Haddouti 2017):    

Recht auf kognitive Freiheit: Der Mensch soll sich frei für oder gegen die Nutzung solcher Techniken entscheiden dürfen. Recht auf mentale Privatsphäre: Es soll verhindert werden, dass die Gedanken eines Menschen ohne dessen Zustimmung gelesen werden. Recht auf physische und psychische Unversehrtheit: Es soll vor Brainhacking schützen, also dass jemand Implantate fernsteuert. Recht auf psychologische Kontinuität: Es soll vor Übergriffen schützen, die den Sinn für die persönliche Identität gefährden.

Wie bei Bewegungs-, Konsum- und sonstigen Daten stellt sich auch hier die Frage nach dem Eigentum und ggf. zusätzlichen Nutzungsrechten an den Daten. Hochinteressant dürften diese Daten für Marketingzwecke sein, denn für die Verkaufspsychologen geht es hier nicht nur darum, Vermutungen über die Präferenzen ihrer Kunden aus dem sonstigen Verhalten abzuleiten, sondern hier können sie direkt die Präferenzen „lesen“, ein Zugriff von unschätzbarem Wert. Auch für politische Zwecke (siehe unten) wären diese Daten hochinteressant; spätestens seit dem Skandal um das britische Beratungsunternehmen Cambridge Analytica weiß auch die Öffentlichkeit, dass es einen Markt nicht nur für Konsumentendaten, sondern auch für politikbezogene persönliche Daten und entsprechende Auswertemöglichkeiten gibt (siehe Kapitel 7).

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Roboter mit Bewusstsein – auf dem Weg zum vollwertigen Menschen?

Seit den mechanischen Puppen des Barock, denen Jacques Offenbach in „Hoffmanns Erzählungen“ ein bleibendes musikalisches Denkmal gesetzt hat, faszinieren humanoide Roboter die Menschen. Anthropomorphe Interfaces haben heute

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einen Stand erreicht, der manche Zeitgenossen das Gruseln lehrt, obwohl sie wissen, dass es sich doch „nur“ um eine Maschine handelt. Solange es sich um „schwache“ künstliche Intelligenz handelt, also lediglich um die Simulation menschlicher Intelligenz, wird es bei einem leichten Gruseln bleiben. Eine andere Qualität wird diese Frage bekommen, wenn die Roboter ein Selbstbewusstsein oder „Selbstmodell“ (Metzinger 2017) erhalten sollten, was den Übergang zur starken künstlichen Intelligenz markieren würde. Was ist, wenn, wie oft beschrieben wird, die starke künstliche Intelligenz zu dem Ergebnis käme, dass der Mensch ein suboptimales Wesen sei und durch Roboter ersetzt werden sollte, um eine „harmonischere“ Erde zu schaffen? Es ist nicht auszuschließen, dass durch die Programmierung starker künstlicher Intelligenz gescheiterte Utopien vergangener Jahrhunderte zu neuem „Leben“ erwachen. Ein echtes Bewusstsein für Roboter, wie das des Menschen, wird von den meisten Wissenschaftlern derzeit noch ausgeschlossen. Letztlich kann jedoch niemand voraussagen, welche Möglichkeiten sich bei nochmals deutlich verbesserten Rechenleistungen und mathematischen Modellen ergeben werden. Berichte in populären Medien über zwei „Bots“, künstliche Intelligenzen von Facebook, die während der Kommunikation miteinander eine eigene, dem Menschen nicht mehr zugängliche Sprache entwickelten und daher von den nervös gewordenen Programmierern abgeschaltet worden sind, lassen die mögliche Tragweite zukünftiger Entwicklungen erahnen.

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Digitalisierung der öffentlichen Meinung

Ein gesellschaftlich sehr bedeutsames Feld ist die Funktionsweise von öffentlicher Meinungsbildung. In der früheren analogen Welt waren es vor allem die gedruckten Zeitungen, die die öffentliche Meinung bestimmt haben. Nach dem Missbrauch des damals neuen Mediums Rundfunk durch die Nationalsozialisten wurden nach dem Krieg unter Aufsicht der Alliierten die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender gegründet, um die Zuhörer und Zuschauer für die Demokratie einzunehmen. Doch von Anfang an waren die Sender Objekte der politischen Auseinandersetzung. Rundfunk und Fernsehen waren Kanzler Adenauer zu „links“, was schließlich zur Gründung des ZDF führte. Von Anfang an standen die elektronischen Medien in der Kritik einer zu großen Staatsnähe. Dass diese Kritik nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, machte 2014 das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Umfang des Einflusses der Politik in den Gremien des ZDF wieder deutlich. In den letzten Jahren, insbesondere im Umfeld der Flüchtlingsdebatte von 2015, wurde diese Kritik auf eine Vielzahl von Printmedien ausgedehnt und kulminierte im Vorwurf der „Lügenpresse“.

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Insofern verwundert es nicht, dass die digitalen Medien (aufgrund seiner Verbreitung vor allem Facebook, neuerdings auch Instagram und in geringerer Verbreitung auch Twitter) aufgrund ihrer Bedeutung für die öffentliche Meinung von Anfang an von staatlichen Stellen und den politischen Parteien kritisch beäugt wurden. Bei den inzwischen verfügten staatlichen Maßnahmen vermischen sich wieder, wie beim Start des Rundfunks vor über 70 Jahren, gutgemeinte Absichten wie der Schutz vor „hate speech“ und vor „fake news“ mit Machtkalkülen der politischen Parteien und staatlichen Stellen.

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Das bedingungslose Grundeinkommen

Durch viele Studien ist belegt, dass die Arbeitswelt sich durch Robotereinsatz und künstliche Intelligenz in den nächsten Jahren erheblich verändern wird. Pessimisten befürchten den ersatzlosen Wegfall von Millionen Arbeitsplätzen und Massenverelendung, Optimisten sehen das Entstehen neuer Bedarfe und verweisen auf den Strukturwandel im Rahmen der ersten industriellen Revolution, bei der die in der Landwirtschaft wegfallenden Arbeitsplätze in der Industrie neu entstanden (Ford 2016). Letztlich kann seriös niemand sagen, wie der Saldo der wegfallenden und neuentstehenden Arbeitsplätze mittel- bis langfristig sein wird. Neben rein technologischen Aspekten werden hier immer auch konjunkturelle und strukturelle Aspekte der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung eine Rolle spielen. Solange Länder wie China oder Indien einen erheblichen konsumtiven Nachholbedarf haben, wird eine exportstarke Nation wie Deutschland bei einigermaßen freiem und fairem Welthandel vermutlich weniger Probleme haben als Staaten mit einer (export-)schwachen und gegen Strukturwandel kaum gewappneten Industrie. Für den Fall von massenhaft wegfallenden Arbeitsplätze ohne entsprechenden Neuaufwuchs von Stellen bzw. für Arbeitnehmer, für die eine Umschulung aus welchen Gründen auch immer nicht mehr in Frage kommt, wird als sozialethisches Instrument ein sogenanntes „bedingungsloses Grundeinkommen“ propagiert, um den Menschen die Sorge für ihren Lebensunterhalt zu nehmen. Für die Finanzierung eines solchen Modells soll u.a. auf eine „Digitalsteuer“ oder „Robotersteuer“ zurückgegriffen werden. Kritiker fürchten, dass der Anreiz für die Aufnahme einer Arbeit für Arbeitslose weiter zurückgehen wird und das Modell unfinanzierbar wird. Es wird auch angeführt, dass diesem Modell ein Moment der Resignation innewohnt: das Fordern und Fördern werden aufgegeben, die Menschen werden, abgesehen von der Finanzierung der Grundbedürfnisse, sich selbst überlassen.

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Die Blockchain

Das Auf und Ab des Bitcoin-Kurses hat die dahinterliegende Technologie der Blockchain in Verruf gebracht. Es ist aber zweifelhaft, ob das die weitere Entwicklung dieser Technologie nachhaltig behindert. Die Blockchain ist ein Programm zur Abwicklung von Transaktionen, bei dem die Informationen in verschlüsselter Weise auf Hunderten verschiedener Rechner parallel gespeichert und ständig miteinander verglichen werden. Der Versuch einer Fälschung der Daten durch einen Teilnehmer würde sofort bemerkt und der Teilnehmer ausgeschlossen werden. Auf diese Weise können z. B. Finanztransaktionen (Überweisungen) zwischen Fremden abgewickelt werden, die vorher keine Gelegenheit hatten, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen: die Blockchain ersetzt das Vertrauen. Auf diese Weise können z. B. Hilfsgelder in Krisengebiete überbracht werden, ohne dass nichtexistente oder korrupte Finanzintermediäre dabei stören würden. Übermäßige Erwartungen, dass die Blockchain nun die Welt revolutionieren würde, sind dennoch unrealistisch. Zum einen funktioniert die Wirtschaft insgesamt nicht ohne ein Minimum an Vertrauen. „Denn wenn überhaupt, dann schafft die Blockchain das Prinzip Vertrauen ab. Und das könnte der Menschheit mehr schaden, als ihr die Blockchain nützen wird.“ (Borchardt 2019). Die Blockchain, so die Kritik, ersetze das Prinzip Vertrauen durch das Prinzip Kontrolle. Und dies könne nicht als allgemeines Prinzip des Wirtschaftens funktionieren. Ein weiterer Aspekt ist rein technischer Natur: die Blockchain verursacht aufgrund der aufwendigen Berechnungen vergleichsweise hohe Stromkosten, so dass einer raschen großflächigen Ausdehnung zunächst einmal Grenzen gesetzt sind. Gleichwohl birgt die Blockchain das Potential, der einen oder anderen heute mächtigen Plattform das Geschäftsmodell zu entziehen. Kritisch zu sehen ist, wie bei allen digitalen Verschlüsselungs- und analogen Datenschutzmechanismen, die mögliche Nutzung dieser Systeme durch die Organisierte Kriminalität. Staatliche Stellen werden ein Interesse daran haben, dass die durchgeführten Transaktionen, an welcher Stelle auch immer, durch autorisierte Stellen bei Bedarf geprüft werden können. Einem System, hinter dem die Organisierte Kriminalität sich erfolgreich vollständig verstecken kann, wird von staatlichen Stellen vermutlich entgegengewirkt werden.

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10 Wie entsteht eine nachhaltige Ethik der digitalen Welt? In der digitalen Welt entstehen nicht nur neue technische und darauf aufbauende ethische Fragstellungen, sondern auch viele Gewissheiten der analogen Welt („Die Gedanken sind frei!“, siehe oben) werden in Frage gestellt. Oftmals erscheinen die Herausforderungen durch neue technische Möglichkeiten als so drängend, dass die Politik Handlungsbedarf für neue gesetzliche Regelungen sieht und sogenannte „Ethik-Kommissionen“ damit beauftragt, die ethischen Grundlagen solcher Gesetze zu erarbeiten. Beispiele für solche Kommissionen sind zum Teil schon genannt worden: 





Die „Datenethikkommission“ der Bundesregierung, eingesetzt im Juli 2018, die im September 2018 ihre Arbeit aufgenommen hat. Die Mitglieder dieser Kommission kommen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Nichtregierungsorganisationen. Die Ethikkommission zum automatisierten Fahren, die vom Bundesverkehrsminister eingesetzt worden war und bereits im Juni 2017 ihren Abschlussbericht mit Empfehlungen veröffentlicht hat. Im Juni 2018 hat die Bundesregierung zudem die „Enquetekommission Künstliche Intelligenz“ eingesetzt, die bis Mitte 2020 Auswirkungen der KI auf die Gesellschaft beleuchten und Handlungsempfehlungen für die Politik geben soll.

Ethikkommissionen gibt es seit langem z. B. in Krankenhäusern bzw. in übergeordneten Gremien des Gesundheitswesens zwecks Entscheidung über die Zulassung von Medikamenten und Medikamentenstudien. Auch große Organisationen haben sich gelegentlich, oft nach entsprechenden Skandalen, Ethik-Kommissionen gegeben, deren Bedeutung, „Durchschlagskraft“ und somit Nachhaltigkeit von Beobachtern aber oft in Zweifel gezogen werden. Auch bei den Ethikkommissionen zur digitalen Welt, insbesondere zum Umgang mit der Künstlichen Intelligenz, gibt es kritische Stimmen. Kritisiert wird beispielsweise, dass der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, gleichzeitig einem Beratungsgremium von Facebook angehört (Alvarez 2019). Da es sich aber kaum vermeiden lässt, dass Wissenschaftler mit den wirtschaftlichen Akteuren, also den Objekten ihrer Forschung, in den Austausch treten (geschweige denn, ob dies überhaupt wünschenswert ist), bietet nur die Transparenz über den institutionalisierten Austausch und mögliche finanzielle Transfers gemeinsam mit der offenen Debatte in der Wissenschaftsgemeinde die Gewähr für objektive und neutrale Grundsätze und Empfehlungen in den Abschlussberichten der entsprechenden Kommissionen. Der Nachhaltigkeitsaspekt besteht hier darin,

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dass für eine grundlegende technologische Innovation, wie die künstliche Intelligenz sie darstellt, mit einer unübersehbaren Zahl von Anwendungen in den verschiedensten Branchen derzeit ethische Weichen gestellt werden, die vermutlich für lange Zeit auch den gesetzlichen Rahmen prägen werden. Auf nachhaltige Akzeptanz bei wirtschaftlichen und politischen Akteuren werden die ethischen und gesetzlichen Regeln aber nur dann stoßen, wenn sie weder zu kurz springen, indem sie beispielsweise einzelne schutzwürdige Interessen ignorieren, noch zu detailliert und prohibitiv die technologische Entwicklung behindern. Letzteres könnte dazu führen, dass die technologische Entwicklung noch stärker außerhalb von Deutschland bzw. Europa stattfindet, die Anwendung solcher Systeme, die dann nach völlig fremden ethischen bzw. kulturellen Vorstellungen programmiert worden wären, in einer globalisierten Welt hierzulande aber nicht vollständig verhindert werden kann.

11 Fazit Die Ethik der digitalen Welt führt unter anderem auf die Frage, wann der Computer entscheidet und wann der Mensch entscheidet (wenn auch auf Basis eines Entscheidungsvorschlags der KI). Oder anders gefragt: in welchen Fällen wird dem Menschen noch ein Eingriffsrecht eingeräumt, in welchen Fällen nicht? Eine Kaskade der Freiheitsberaubung könnte dann folgende Gestalt haben:       

Der Mensch entscheidet nach freiem Ermessen. Der Mensch entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen auf Basis eines Satzes von transparenten und gesellschaftlich akzeptierten Regeln. Der Mensch entscheidet auf Basis eines Entscheidungsvorschlags der KI. Die KI entscheidet, benötigt aber zur Umsetzung eine Autorisierung durch den Menschen. Die KI entscheidet, der Mensch hat aber ein Eingriffsrecht (er muss dazu aktiv werden, ansonsten läuft die Entscheidung der KI automatisiert durch). Die KI entscheidet, der Mensch kann nur noch zusehen. Die KI entscheidet, es ist kein Mensch mehr zugegen, um zuzusehen.

Zusätzlich geht es um die Frage, wie mit Fehlern erster und zweiter Ordnung umzugehen ist, insbesondere wer die Haftung für diese Fehler übernimmt. In stark verrechtlichten politischen Systemen ist es zwingend, dass diese Fragen geklärt sind, bevor beispielsweise das erste vollständig autonome Fahrzeug auf die Straße darf. Hier hat es der analoge Mensch einfacher: er fährt einfach los, macht sich in

Das Trolley-Paradoxon: Über die Ethik der digitalen Welt

141

der Regel keine Gedanken, und wenn doch etwas passiert, verlässt er sich auf seine Intuition, die objektiv unzulänglich sein mag, subjektiv aber als Freiheit wahrgenommen und entsprechend verteidigt wird. Insgesamt bezieht sich die Frage, wie Menschen mit ihrer Freiheit umgehen, immer auch auf eine Fülle von Unzulänglichkeiten: gefährliche Sportarten, übermäßiger Tabak-, Alkohol- und TV-Konsum, Bewegungsmangel, falsche Ernährung, schlechte oder keine Literatur etc. Aber würde seitens staatlicher Stellen versucht werden, all die aus der jeweils herrschenden politischen Perspektive negativen Begleiterscheinungen der menschlichen Freiheit abzuschaffen, würde die Freiheit selbst abgeschafft werden. Alle Utopien sind auf diese Weise früher oder später gescheitert. Die entscheidende Frage einer nachhaltigen Ethik der digitalen Welt ist also die Frage nach den Grenzen der menschlichen Freiheit und damit die Frage nach der Freiheit selbst.

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142

Michael Garmer

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Der deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) als Instrument zur Erfüllung des CSR-RichtlinieUmsetzungsgesetzes (CSR-RUG) Wolfgang Schuster



Rechtliche Rahmenbedingungen ............................................................... 143  1.1  1.2  1.3  1.4  1.5  1.6 

Adressatenkreis .............................................................................. 144  Inhalte ............................................................................................ 145  Berichtsprinzipien .......................................................................... 146  Prüfpflicht ...................................................................................... 147  Veröffentlichung der nicht finanziellen Erklärung ........................ 147  Sanktionen bei Nichteinhaltung ..................................................... 148 



Prozess zur Erstellung eines Nachhaltigkeitsberichts i.S.d. CSR-RUG .... 148 



Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex .......................................................... 150  3.1  3.2  3.3  3.4 

Strategie ......................................................................................... 150  Prozessmanagement ....................................................................... 153  Umweltbelange .............................................................................. 157  Soziale Nachhaltigkeit ................................................................... 160 



Ausblick .................................................................................................... 165 

1

Rechtliche Rahmenbedingungen

Im Dezember 2014 hat die EU-Kommission eine Richtlinie zur Erweiterung der finanziellen Berichterstattung um nichtfinanzielle und die Diversität betreffende Aspekte verabschiedet (2014/95/EU). Im März 2017 wurde diese Richtlinie mit dem CSR-RUG ins deutsche Recht überführt. Die Berichtspflicht trifft ausgewählte Unternehmen und Konzerne und gilt für alle nach dem 31. Dezember 2016 beginnenden Berichtsjahre. Die berichtspflichtigen Unternehmen sind dem zufolge verpflichtet, künftig zu jedem Geschäftsjahr im Kontext der Lageberichterstattung © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_8

144

Wolfgang Schuster

eine nichtfinanzielle (Konzern-)Erklärung (als Teil des Lageberichts) bzw. einen nichtfinanziellen (Konzern-)Bericht (als separates Dokument) abzugeben, in welchem über wesentliche nichtfinanzielle Belange berichtet wird. Für die Erstellung der nicht finanziellen (Konzern-)Erklärung bzw. eines nichtfinanziellen (Konzern-)Berichts in Erfüllung des CSR-RUG kann der DNK genutzt werden. Der DNK wurde vom Rat für Nachhaltige Entwicklung mit Experten zusammen entwickelt (Rat für Nachhaltige Entwicklung, 2017). Zur besseren Anwendbarkeit hat der Rat für Nachhaltige Entwicklung mit der Bertelsmann Stiftung den Leitfaden zum Deutschen Nachhaltigkeitskodex erarbeitet (Rat für Nachhaltige Entwicklung; Bertelsmann Stiftung, 2013) und ergänzend gibt es einen Orientierungsrahmen, der die Anforderungen des CSR-RUG mit dem Nachhaltigkeitskodex vergleicht (Rat für Nachhaltige Entwicklung, 2018). Der nachfolgende Text orientiert sich an den o.g. Publikationen.

1.1

Adressatenkreis

Zur Abgabe einer nichtfinanziellen Erklärung bzw. eines nichtfinanziellen Berichts sind nach dem CSR-RUG Kapitalgesellschaften, ihnen gleichgestellte haftungsbeschränkte Personenhandelsgesellschaften und Genossenschaften verpflichtet (§ 289b Abs. 1 HGB), sofern sie 1. 2. 3.

als groß i. S. v. § 267 Abs. 3 Satz 1 HGB eingestuft werden und kapitalmarktorientiert i. S. v. § 264d HGB sind sowie im Jahresdurchschnitt mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigen.

Gleiches gilt für Kreditinstitute (§ 340a HGB) und Versicherungen (§ 341a HGB), die die Kriterien 1 und 3 erfüllen. Für Sparkassen gelten teils gesonderte Regelungen. Eine entsprechende Pflicht zur Abgabe einer nichtfinanziellen Konzernerklärung bzw. eines nichtfinanziellen Konzernberichts trifft Mutterunternehmen in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft (§ 315b HGB), einer gleichgestellten haftungsbeschränkten Personenhandelsgesellschaft oder Genossenschaft, sofern sie kapitalmarktorientiert i. S. v. § 264d HGB sind und die in den Konzernabschluss einzubeziehenden Unternehmen nicht die Voraussetzungen für eine größenabhängige Befreiung nach § 293 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 HGB erfüllen und die in den Konzernabschluss einzubeziehenden Unternehmen insgesamt im Jahresdurchschnitt mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigten. Die gleiche Pflicht trifft Mutterunternehmen, die Kreditinstitute (§ 340i Abs. 5 HGB) oder Versicherungen (§ 341 Abs. 5 HGB) sind und bei denen die Kriterien 2 und 3 erfüllt sind. Im Falle einer Konzernerklärung bzw. eines Konzernberichts sind in den Fällen des § 315b HGB einbezogene Tochtergesellschaften von der Berichtspflicht befreit.

Der deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK)

1.2

145

Inhalte

Das CSR-RUG fordert die Offenlegung von Angaben zu nichtfinanziellen Aspekten, zumindest zu Umweltbelangen, Arbeitnehmer- und Sozialbelangen, zur Achtung der Menschenrechte zur Bekämpfung von Korruption und Bestechung (§ 289c HGB). Hierbei sind zu den einzelnen nicht finanziellen Aspekten diejenigen Angaben zu machen, die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses und der Lage der Gesellschaft sowie der Auswirkungen ihrer Tätigkeiten auf die nichtfinanziellen Aspekte erforderlich sind. Zu den wesentlichen Angaben zu den einzelnen nichtfinanziellen Aspekten sollen gemäß § 289c Abs. 3 Nr. 1 bis 6 HGB folgende Informationen gehören: 







Beschreibung des jeweiligen Konzepts, inkl. angewandter Due-Diligence-Prozesse, sowie die Ergebnisse des Konzepts mit der Darstellung, welche Strategien ein Unternehmen in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit insgesamt und/oder einzelne Nachhaltigkeitsaspekte verfolgt, welche Maßnahmen es dazu in welchem Zeitraum treffen will, wie die Unternehmensführung in diese Maßnahmen eingebunden ist und welche Prozesse sie durchführen will, etwa zur Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und anderen Stakeholdern; was die jeweiligen internen Prüfprozesse (Due-Diligence-Prozesse) diesbezüglich sind. Darstellung der wesentlichen Risiken, die mit der Geschäftstätigkeit verknüpft sind und die sehr wahrscheinlich schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Aspekte haben oder haben werden, und die Handhabung dieser Risiken. Darstellung der wesentlichen Risiken, die mit Geschäftsbeziehungen, Produkten und Dienstleistungen verknüpft sind und die sehr wahrscheinlich negative Auswirkungen auf die Aspekte haben oder haben werden, soweit die Angaben von Bedeutung sind und die Berichterstattung über diese Risiken verhältnismäßig ist, und die Handhabung dieser Risiken, Darstellung der bedeutsamsten nichtfinanziellen Leistungsindikatoren, die für die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft von Bedeutung sind, und soweit für das Verständnis erforderlich, Hinweise auf im Lagebericht enthaltene Beiträge und zusätzliche Erläuterungen hierzu.

Zusätzlich zu den Angaben zu den nichtfinanziellen Erklärungen muss das Geschäftsmodell des berichtspflichtigen Unternehmens bzw. Konzerns kurz dargestellt werden.

146

1.3

Wolfgang Schuster

Berichtsprinzipien

Für die inhaltlichen Angaben gelten die Berichtsprinzipien „comply or explain“ und „safe harbour“. Das berichtspflichtige Unternehmen hat dabei nur über ein bestehendes Konzept und die wesentlichen Risiken sowie die bedeutsamsten nicht finanziellen Leistungsindikatoren zu berichten und andernfalls zu erläutern, warum kein Konzept vorliegt (comply or explain). Das heißt, dass durch das CSR-RUG kein Leistungsstand in Sachen Nachhaltigkeit vorgegeben wird, den es zu erreichen gilt. Die Berichtspflicht zielt auf Transparenz, das heißt auf die Offenlegung des Status Quo. Verfolgt das berichtspflichtige Unternehmen in Bezug auf einzelne Nachhaltigkeitsaspekte kein Konzept, so hat es dies anstelle der Darstellung des Konzepts und der Ergebnisse zu erläutern („comply or explain“; § 289c Abs. 4 HGB). Unternehmen können das Prinzip „comply or explain“ in folgender Weise anwenden: Sie machen zu den einzelnen Kriterien Angaben nach dem Wesentlichkeitsmaßstab oder begründen die Abweichung, z. B. wenn Daten noch nicht erhoben werden. Somit muss kein berichtspflichtiges Unternehmen seinen Leistungsstand in Sachen Nachhaltigkeitsmanagement verbessern, um gesetzeskonform sein. Das CSR-RUG zielt in erster Linie auf Transparenz, nicht auf Leistung. Entsprechenserklärungen sind im Sinne des DNK und auch des CSR-RUG auch dann vollwertig, wenn sie mehrere Explain-Angaben aufweisen, denn sie ermöglichen Nutzern der Erklärungen eine Einschätzung, an welchem Punkt hin zu einem vollständigen und integrierten Nachhaltigkeitsmanagement ein Unternehmen, eine Organisation steht. Berichtende Unternehmen sollten in diesem Fall offenlegen, wann geplant ist, fehlende Informationen zu veröffentlichen. Informationen über die fundamentalen Berichtsparameter wie z. B. Konsolidierungskreis, wesentliche Annahmen und Schätzungen, verwendete Definitionen sowie eine Beschreibung des Geschäftsfeldes werden in den allgemeinen Angaben erläutert. Berichtspflichtige Unternehmen sollten berücksichtigen, dass sie im Zuge einer nichtfinanziellen Erklärung bei der Anwendung von „comply or explain“ nicht länger auf externe Quellen verweisen können, da die nichtfinanzielle Erklärung ein in sich geschlossenes Dokument sein muss. Ein Unternehmen kann nachteilige Angaben weglassen (unter den Voraussetzungen des § 289e HGB „safe harbour“). Die Voraussetzung für das Weglassen von Informationen ist erfüllt, wenn die Offenlegung dieser Angaben  

zukünftige Entwicklungen betreffen, die noch in Verhandlung sind; einen erheblichen Nachteil für das Unternehmen nach sich ziehen könnte. Diese Angaben sind allerdings nachzuholen, wenn der erhebliche Nachteil nicht mehr droht.

Der deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK)

1.4

147

Prüfpflicht

Das CSR-RUG sieht keine gesonderte inhaltliche Prüfpflicht für die nichtfinanzielle Erklärung vor. Der Abschlussprüfer hat lediglich formal das Vorhandensein der nichtfinanziellen Erklärung zu prüfen. Der Aufsichtsrat hat durch das CSR-RUG jedoch erweiterte Prüfpflichten und muss im Zuge der Prüfung der Finanzberichterstattung, die ihm der Vorstand vorlegt, auch die nichtfinanzielle Erklärung bzw. den nichtfinanziellen Bericht prüfen. Das Aktiengesetz wurde entsprechend erweitert (§ 170 Abs. 1 S. 2 AktG). Die inhaltliche Prüfung obliegt somit dem Aufsichtsrat, der das Ergebnis dieser Prüfung schriftlich an die Hauptversammlung zu berichten hat. Vorstände und Aufsichtsräte werden sich parallel zur Finanzberichterstattung und Vorbereitung der Hauptversammlung auch mit den nichtfinanziellen Erklärungen und Berichten befassen müssen. Die Aktionäre wiederum haben in der Hauptversammlung Auskunftsrechte zum Inhalt der Erklärungen und Berichte. Ob und inwieweit fehlerhafte Erklärungen und Berichte auch die Anfechtung von Entlastungsbeschlüssen rechtfertigen können, ist derzeit noch umstritten. Es zeichnet sich jedoch bereits jetzt deutlich ab, dass das CSR-RUG zu einer intensiveren Beschäftigung mit nichtfinanziellen Informationen auf Ebene der Leitungsgremien von Unternehmen führt. Laut Bundesregierung ist genau dies das Anliegen des Gesetzes: einen Dialogprozess in den Unternehmen sowie der Unternehmen mit externen Stakeholdern zu stärken.

1.5

Veröffentlichung der nicht finanziellen Erklärung

Für jedes Geschäftsjahr muss eine nichtfinanzielle (Konzern-)Erklärung bzw. ein nichtfinanzieller (Konzern-)Bericht abgegeben werden. Berichtspflichtige Unternehmen und Kreditinstitute können die nicht finanziellen Angaben gemäß § 289b HGB in drei verschiedenen Varianten veröffentlichen:  



Das berichtspflichtige Unternehmen kann die nichtfinanzielle (Konzern-)Erklärung in den Lagebericht aufnehmen, das berichtspflichtige Unternehmen kann einen gesonderten nichtfinanziellen (Konzern-) Bericht erstellen und zeitgleich mit dem (Konzern-)Lagebericht nach § 325 HGB im Bundesanzeiger offenlegen oder das berichtspflichtige Unternehmen kann einen gesonderten nichtfinanziellen (Konzern-)Bericht erstellen und auf seiner Internetseite veröffentlichen, wenn hierauf im (Konzern-)Lagebericht Bezug genommen wird. Auch in diesem Fall muss das Unternehmen eine Frist von vier Monaten ab dem Abschlussstichtag für die Veröffentlichung einhalten und den Bericht mindestens für eine Dauer von zehn Jahren auf der Internetseite verfügbar halten.

148

1.6

Wolfgang Schuster

Sanktionen bei Nichteinhaltung

Die nichtfinanzielle Erklärung wird von den Sanktionsvorschriften des HGB erfasst. In diesem Zuge wurde der Bußgeldrahmen deutlich erhöht: Bei Verstößen drohen Bußgelder in Höhe von bis zu zehn Mio. Euro, fünf Prozent des Jahresumsatzes, des Doppelten des durch die Nichteinhaltung entstandenen Gewinns oder vermiedenen Verlusts. Entscheidend ist der jeweils höchste Betrag. Damit werden die Sanktionen für die Nichteinhaltung der Berichtspflicht zu nichtfinanziellen Informationen den Bußgeldhöhen angepasst, die bereits für Offenlegungsverstöße im (Konzern-)Abschluss bzw. (Konzern-)Lagebericht gelten.

2

Prozess zur Erstellung eines Nachhaltigkeitsberichts i.S.d. CSR-RUG

Um den Anforderungen des CSR-Richtlinie Umsetzungsgesetzes zu entsprechen, gibt es geeignete Rahmenwerke. Dazu gehört der Deutsche Nachhaltigkeitskodex, der vom Rat für Nachhaltige Entwicklung erarbeitet wurde (Rat für Nachhaltige Entwicklung, 2017). Er hat dabei vielfältige Standards der Berichtserstattung über nachhaltiges Wirtschaften mitberücksichtigt. Zu den internationalen Standards, die Grundsätze für nachhaltiges Wirtschaften definieren, gehören:  

  

 

Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO (Internationale Arbeitsorganisation, 2012) Leitsätze für internationale Unternehmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 2011) 10 Prinzipien des Global Compact der Vereinten Nationen (UN Global Compact) (Vereinte Nationen, 2018) Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen (Vereinte Nationen, 2011) Management Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen der Internationalen Organisation für Normung (ISO 26000) (International Organization for Standardization, 2010) Leitlinien zur Nachhaltigkeitsberichterstattung der Global Reporting Initiative (GRI) (Global Reporting Initiative, 2018) Leitlinien der Europäischen Vereinigung von Finanzanalysten (European Federation of Financial Analysts Societies (EFFAS) (European Federation of Financial Analysts Societies, 2011)

Der deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK)

149

Da es vor allem den KMUs nicht möglich ist, unter Beachtung dieser verschiedenen internationalen Standards einen Nachhaltigkeitsbericht zu erstellen, der zugleich den Anforderungen des CSR-RUG entspricht, stellt der Deutsche Nachhaltigkeitskodex ein geeignetes Instrument zur Erfüllung der gesetzlichen Pflichten zur Verfügung. Auch wenn in Deutschland direkt nur 6.000 Unternehmen zur Berichterstattung verpflichtet sind, so werden doch tausende von kleineren und mittleren Unternehmen aufgrund ihrer Zulieferfunktion zu Großunternehmen gezwungen sein, einen Nachhaltigkeitsbericht zu erstellen. Zugleich war es dem Rat für Nachhaltige Entwicklung wichtig, mit dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex durch die 20 Kriterien eine Vergleichbarkeit und Transparenz herzustellen. Indem sich alle Unternehmen auf die gleichen 20 Kriterien beziehen, lassen sich die Unterschiede schnell und mühelos erkennen. Das macht die Berichterstattung nicht nur transparenter, sondern auch glaubwürdiger. In Kooperation mit Branchenverbänden sind – basierend auf dem allgemeinen DNK-Leitfaden – bislang folgende branchenspezifischen Ergänzungen entstanden:      

Branchenspezifische Ergänzung für Sparkassen Orientierungshilfe des Bundesverbands deutscher Banken Leitfaden für die Wohnungswirtschaft Leitfaden für die Ernährungsindustrie Leitfaden für die Abfallwirtschaft und Stadtreinigung Hochschulspezifischer DNK

Die Leitfäden bieten konkrete Orientierung für die branchenspezifische Ausgestaltung des DNK-Entsprechenserklärung. Zugleich kann sich ein Unternehmen in der DNK-Datenbank registrieren. Das DNK-Team prüft dann ihre Entsprechenserklärung. Jedes Unternehmen sollte prüfen, inwieweit der bisherige Geschäftsbericht nicht nur um Elemente der Nachhaltigkeitsberichterstattung ergänzt werden soll, sondern inwieweit beide, die finanziellen und nichtfinanziellen Daten, zu einem einheitlichen Nachhaltigkeitsbericht zusammengefasst werden können. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung hat in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung einen Leitfaden entwickelt, der die Berichterstattung erleichtert (Rat für Nachhaltige Entwicklung; Bertelsmann Stiftung, 2013). Entsprechend diesem Leitfaden können die nachfolgenden 20 Kriterien des Deutschen Nachhaltigkeitskodexes bearbeitet und damit die rechtlichen Anforderungen des CSR-RUG grundsätzlich erfüllt werden.

150

3

Wolfgang Schuster

Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex

Wesentlichkeit

Kriterium 3:

Ziele

Kriterium 4:

Tiefe der Wertschöpfungskette

Kriterium 5:

Verantwortung

Kriterium 6:

Regeln und Prozesse

Kriterium 7:

Kontrolle

Kriterium 8:

Anreizsysteme

Kriterium 9:

Beteiligung von Anspruchsgruppen

Konzeption

Strategische Analyse und Maßnahmen

Kriterium 2:

Prozessmanagement

Kriterium 1:

Strategie

Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) umfasst vier Bereiche. Die Kriterien 1 bis 10 befassen sich mit der Nachhaltigkeitskonzeption. Die Kriterien 1 bis 4 gelten der Strategie, die Kriterien fünf bis zehn dem Prozessmanagement. Bei den Kriterien 11 bis 20 geht es um die konkrete Umsetzung: Die Kriterien 11 bis 13 vertiefen die Umweltbelange, die Kriterien 14 bis 20 beschäftigen sich mit der sozialen Nachhaltigkeit (siehe ergänzend Abbildung 1).

Kriterium 12: Ressourcenmanagement Kriterium 13: Klimarelevante Emissionen

Kriterium 15: Chancengerechtigkeit Kriterium 16: Qualifizierung Kriterium 17: Menschenrechte Kriterium 18: Gemeinwesen Kriterium 19: Politische Einflussnahme

Soziale Nachhaltigkeit

Kriterium 14: Arbeitnehmerrechte

Umsetzung

Kriterium 11: Inanspruchnahme von natürlichen Ressourcen

Umweltbelange

Kriterium 10: Innovations- und Produktmanagement

Kriterium 20: Gesetzes- und richtlinienkonformes Verhalten

Abbildung 1: Die 20 Kriterien des DNK

3.1

Strategie

Die Kriterien dieses Kapitels sind die Grundlagen des Deutschen Nachhaltigkeitskodexes (DNK). Sie richten sich an die Verantwortlichen des Unternehmens, da es hierbei um die Basis des nachhaltigen Wirtschaftens geht: Kennen die Verantwort-

Der deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK)

151

lichen die Herausforderungen, Chancen und Risiken, die mit ihren zentralen Aktivitäten in Bezug auf Nachhaltigkeit verknüpft sind und denen sich Ihr Unternehmen stellen sollte? Haben sie einen Plan, wie sie mittel- und langfristig damit umgehen wollen? Hat sich ihr Unternehmen – davon abgeleitet – klare Ziele gesetzt, um soziale und ökologische Herausforderungen proaktiv anzugehen? Und haben die Verantwortlichen bereits die gesamte Wertschöpfungskette – von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung – im Blick? Indem sie zu den folgenden vier Kriterien gründlich berichten, legen sie den Grundstock, um den DNK zu erfüllen und bereiten den Boden dafür, alle weiteren Themen zu bearbeiten. Strategische Analyse und Maßnahmen Das Unternehmen legt offen, wie es für seine wesentlichen Aktivitäten die Chancen und Risiken im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung analysiert. Das Unternehmen erläutert, welche konkreten Maßnahmen es ergreift, um im Einklang mit den wesentlichen und anerkannten branchenspezifischen, nationalen und internationalen Standards zu operieren. Die Aussage „wesentliche Aktivitäten“ bezieht sich dabei immer auf das Kerngeschäft des Unternehmens, also denjenigen Teil der Unternehmenstätigkeit, in dem das Unternehmen hauptsächlich seine Leistungen erbringt. Was im Einzelnen für ein Unternehmen wesentlich ist, muss dieses selbst festlegen. Es hat damit die Chance, einen Fokus auf das wirklich Wichtige zu legen, statt große, vollständige, aber oft auch recht bedeutungsleere Datenlisten abzuarbeiten. Für Nachhaltigkeit bedeutsam sind vor allem die Auswirkungen der Tätigkeit des Unternehmens auf die Gesellschaft. Hierzu zählen alle ökologischen und sozialen Belange wie natürliche Ressourcen, Mitarbeiter oder das Gemeinwesen. Wesentlichkeit Das Unternehmen legt offen, welche Aspekte der Nachhaltigkeit einen wesentlichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit haben und wie es diese in der Strategie berücksichtigt und systematisch adressiert. Viele Unternehmen engagieren sich für eine nachhaltige Entwicklung. Oft stehen die verschiedenen Aktivitäten aber unverbunden nebeneinander und ergeben kein Gesamtbild, wohin das Unternehmen sich bewegen will. In Kriterium 1 werden die wesentlichen Aktivitäten des Unternehmens und deren Bezug zu sozialen und ökologischen Fragen beschrieben. Nun geht es darum, wie das Unternehmen diese wesentlichen Aktivitäten hin zu einer nachhaltigen Entwicklung systematisch fördert und betreibt. Eine Nachhaltigkeitsstrategie ist ein Gesamtbild aller Aktivitäten mit Zielen und messbaren Maßstäben – idealerweise untereinander abgestimmt und mit einer Stoßrichtung. Ein Null-Abfall-Un-

152

Wolfgang Schuster

ternehmen kann eine Vision sein, auch fünf zentrale Kernziele können ein Zukunftsbild vermitteln, auf das ein Unternehmen gemeinsam mit seinen Mitarbeitern hinarbeiten kann. Hier kommt es vor allem auf mittel- und längerfristige Ziele an und nicht nur auf Maßnahmen, die gestern für morgen beschlossen wurden. KMU machen oft zu wenig deutlich, in welche Richtung sie sich entwickeln wollen und welche Ziele sie sich dafür setzen. Allerdings ist bei vielen ein strategischer Gesamtrahmen durchaus erkennbar, denn jedes erfolgreiche Unternehmen hat zumindest implizit eine Strategie. Ziele Das Unternehmen legt offen, welche qualitativen und/oder quantitativen sowie zeitlich definierten Nachhaltigkeitsziele gesetzt und operationalisiert werden und wie deren Erreichungsgrad kontrolliert wird. Eine gute Strategie, wie in Kriterium 2 beschrieben, braucht anspruchsvolle Ziele und eine klare Kommunikation: Was will das Unternehmen bis wann und in welchem Bereich erreicht haben? Dabei geht es um die Ziele für die unter Kriterium 1 genannten „wesentlichen Aktivitäten“. Also, beispielsweise um Ziele für die Verbesserung der ökologischen Effizienz von Produkten, Reduktionsziele für Treibhausgase, Ressourceneinsatz oder Abfallreduktion in der Produktion; aber auch um Ziele für die Weiterbildung und Förderung von Mitarbeitern, die Verringerung von Unfallzahlen etc. Quantitative Ziele sind, beispielsweise die Reduktion des Energieverbrauchs um 20 Prozent. Ein qualitatives Ziel ist beispielsweise eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Für solche Ziele sollten Maßnahmen benannt sein und wie diese erreicht werden sollen, z. B. durch einen Betriebskindergarten oder ein Eltern-Kind-Büro. Sowohl bei quantitativen als auch bei qualitativen Zielen muss ein Zeitpunkt benannt sein, bis wann sie erreicht werden sollen, um deren Erreichung mess- und überprüfbar zu machen. Tiefe der Wertschöpfungskette Das Unternehmen gibt an, welche Bedeutung Aspekte der Nachhaltigkeit für die Wertschöpfung haben und bis zu welcher Tiefe seiner Wertschöpfungskette Nachhaltigkeitskriterien überprüft werden. Analysieren, was in puncto Nachhaltigkeit für das Unternehmen wesentlich ist, darauf aufbauend eine Strategie entwickeln und Ziele formulieren − das sind die Inhalte der drei ersten Kriterien. Nun geht es darum zu zeigen, ob und wie dabei die gesamte Wertschöpfungskette einbezogen wird. Je nach Geschäftsfeld ist die Wertschöpfungskette unterschiedlich lang beziehungsweise verzweigt: In der Textilindustrie z. B. gibt es viele Stufen zwischen Baumwollanbau, Spinnerei, Weberei über Design und Näherei bis hin zum Handel und der Altkleiderentsorgung. Besonders hier sind die immensen ökologischen (z. B. im

Der deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK)

153

Anbau der Baumwolle) und die sozialen Herausforderungen (z. B. die Arbeitsbedingungen in Nähereien) öffentlich geworden. Teilweise ähnlich herausfordernde Bedingungen finden sich in der IT- und Elektronikindustrie. Mit der „Tiefe“ beschreibt das Unternehmen also die Stufen seiner Wertschöpfungskette: Rohstoffbeschaffung, Vorfertigung, Veredelung, Vertrieb, Logistik sowie den Lebenszyklus seiner Produkte, der noch darüber hinausreicht: Gebrauch der Produkte bei den Kunden sowie Recycling und Entsorgung. Da die Wertschöpfungskette nicht an den Unternehmensgrenzen aufhört, sondern die verschiedenen Zulieferer und auch deren Zulieferer mit einbezieht, sollten sich die Unternehmen aller Branchen ihre Wertschöpfungskette genau anschauen. Viele Unternehmen wissen oft nicht, wie ihre Rohstoffe oder Vorprodukte hergestellt werden. Als Unternehmen gilt es, Mitverantwortung zu erkennen und zu übernehmen. Damit verringern sich auch die Risiken für das Unternehmen. Zum Beispiel könnten schadstoffhaltige oder fehlerhafte Vorprodukte dazu führen, dass ein Produkt zurückgerufen werden muss. Wird bekannt, dass Produkte von Kinderhand oder unter unsozialen Arbeitsbedingungen gefertigt wurden, schadet das dem Ruf des Unternehmens. Solche und anderen sozialen und ökologischen Risiken kann ein Unternehmen entgegenwirken, wenn es genauer über die eigene Liefer- und Wertschöpfungskette Bescheid weiß.

3.2

Prozessmanagement

Mit den folgenden sechs Kriterien beschreiben die Verantwortlichen im Unternehmen, wie Nachhaltigkeit in ihrem Unternehmen effizient und systematisch gemanagt wird. Dies reicht von den Fragen: Wer ist verantwortlich? Gibt es Regeln und Prozesse, mit denen die Arbeit gesteuert wird? Gibt es Kennzahlen, anhand derer Fortschritte und Entwicklungen erkennbar gemacht werden? Existieren Anreize, materiell oder nicht materiell, die Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motivieren, die Ziele der Nachhaltigkeit engagiert zu verfolgen? Kümmert sich ein Unternehmen auch um die Meinung von Gruppen außerhalb des Unternehmens, die erkennbare Interessen an seiner Entwicklung haben? Hat ein Unternehmen bei der Verbesserung der Produkte oder Dienstleistungen die Anforderungen der Nachhaltigkeit im Blick? Verantwortung Die Verantwortlichkeiten in der Unternehmensführung für Nachhaltigkeit werden offengelegt. Nachhaltigkeit ist Teil des Kerngeschäfts und damit Chefsache. Nur wenn die Führung tatsächlich hinter der Nachhaltigkeitsstrategie steht, diese mitträgt und gegebenenfalls auch verteidigt, wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert,

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kann die Umsetzung gelingen. Daher sollte in der Geschäftsführung beziehungsweise im Vorstand eine Person für das Thema verantwortlich zeichnen und sicherstellen, dass Nachhaltigkeit bei strategischen Unternehmensentscheidungen berücksichtigt wird. Diese Person kann dann eine verantwortliche Stelle dafür einrichten oder jemanden damit betrauen, die Aufgaben im Alltagsgeschäft wahrzunehmen. So gibt es in vielen Unternehmen eine(n) Beauftragte(n) für Nachhaltigkeit oder CSR (Corporate Social Responsibility, gesellschaftliche Unternehmensverantwortung). Sie/Er unterstützt die Geschäftsführung beziehungsweise den Vorstand dabei, die Nachhaltigkeitsstrategie weiterzuentwickeln, berichtet regelmäßig über den Status, schlägt Projekte und Maßnahmen vor und koordiniert die Umsetzung. Regeln und Prozesse Das Unternehmen legt offen, wie die Nachhaltigkeitsstrategie durch Regeln und Prozesse im operativen Geschäft implementiert wird. Um die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie zu erreichen, müssen Unternehmensabläufe überprüft und gegebenenfalls Managementprozesse verändert werden. Das hat in der Regel Auswirkungen auf alle Bereiche des Unternehmens. Ein neues Leitbild kann ein wichtiger Schritt sein, ebenso neue Einkaufsrichtlinien oder Leitlinien für Forschung und Entwicklung, die darauf hinwirken, Umweltaspekte zu berücksichtigen, oder ein Verhaltenskodex für alle Mitarbeiter. Vor allem aber geht es darum, wie diese Regeln im Unternehmen umgesetzt, sprich im Alltag gelebt werden. „Implementiert“ heißt, dass Nachhaltigkeitsaspekte über die genannten Regeln so in die Geschäftsprozesse integriert sind, dass sie mittel bis langfristig zu einem selbstverständlichen Bestandteil des unternehmerischen Handelns werden. Dies lässt sich am besten anhand der Auswirkungen darstellen, die die Regeln und Prozesse auf die verschiedenen Arbeitsfelder des Unternehmens haben. Kontrolle Das Unternehmen legt offen, wie und welche Leistungsindikatoren zur Nachhaltigkeit in der regelmäßigen internen Planung und Kontrolle genutzt werden. Es legt dar, wie geeignete Prozesse Zuverlässigkeit, Vergleichbarkeit und Konsistenz der Daten zur internen Steuerung und externen Kommunikation sichern. Die meisten Unternehmen haben finanzielle Kennzahlen definiert, nach denen sie steuern: Umsatzrendite, Umsatz je Kunde oder Gewinn je Unternehmenssparte. Diese ermöglichen einen genauen Überblick, wo das Unternehmen bei der Erreichung seiner finanziellen Ziele steht. Dasselbe Prinzip sollte auf Nachhaltigkeit angewendet werden: Das heißt, für die Nachhaltigkeitsziele klare Größen festzulegen und die

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Fortschritte anhand von Leistungsindikatoren zu messen. Das können beispielsweise sein: Energieverbrauch je Tonne eines hergestellten Produkts oder Papierverbrauch je Mitarbeiter, Weiterbildungsstunden je Mitarbeiter oder der Anteil von Frauen im oberen Management. Solche Leistungsindikatoren zeigen Fortschritte oder auch Rückschritte auf und helfen dem Unternehmen, „auf Kurs zu bleiben“. Sie sollten insbesondere für die wesentlichen Aktivitäten, die das Unternehmen für sich definiert hat (siehe Kriterium 1), benannt werden. Damit Nachhaltigkeitsaktivitäten in einem Unternehmen mithilfe der Leistungsindikatoren tatsächlich gesteuert werden können, ist es empfehlenswert, sie alle regelmäßig wieder auf derselben Grundlage zu erfassen, damit sie über den Zeitverlauf vergleichbar sind. Konsistenz heißt hier beispielsweise: Vermeiden, dass in einem Jahr die befristet Angestellten in die Mitarbeiterzahl eingerechnet werden und ein anderes Mal nicht. Zuverlässigkeit steht beispielsweise dafür, dass die Daten an allen Unternehmensstandorten gemäß derselben Bemessungsgrundlage erhoben und auch auf Plausibilität geprüft werden. Beispiel Mitarbeitererfassung: Es soll nicht sein, dass ein Standort hier nur die fest angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meldet, während ein anderer auch befristete Mitarbeiter und Auszubildende angibt. Zur Plausibilität: Wenn der Energieverbrauch in einem Jahr beispielsweise um die Hälfte sank, während in den Vorjahren jeweils nur Senkungen von wenigen Prozentpunkten zu verzeichnen waren, muss dies intern begründet werden können. Anreizsysteme Das Unternehmen legt offen, wie sich die Zielvereinbarungen und Vergütungen für Führungskräfte und Mitarbeiter auch am Erreichen von Nachhaltigkeitszielen und an der langfristigen Wertschöpfung orientieren. Es wird offengelegt, inwiefern die Erreichung dieser Ziele Teil der Evaluation der obersten Führungsebene (Vorstand/Geschäftsführung) durch das Kontrollorgan (Aufsichtsrat/Beirat) ist. In den meisten Unternehmen gibt es heute Vergütungs- und Entlohnungsmodelle, die zumindest für Führungskräfte, oft aber auch für alle Mitarbeiter, einen Bonus vorsehen, wenn Unternehmensziele, die zum Beispiel Umsatz, Gewinn oder Marktanteile betreffen, erreicht werden. Damit setzen die Unternehmen einen Anreiz, Ziele konsequent zu verfolgen. Damit Nachhaltigkeit ähnlich konsequent verfolgt wird, ist es hilfreich, diesbezügliche soziale und ökologische Ziele – wie im Kriterium 3 beispielhaft beschrieben – in die Zielvereinbarungen aufzunehmen. Ein Unternehmen, das seine Nachhaltigkeitsziele erreicht, erkennt häufig auch, dass es Kosten senken kann, vor allem mit Effizienzmaßnahmen. Die Ziele der Nachhaltigkeit geraten aber mitunter mit anderen Zielen des Unternehmens in Konflikt. Will ein Fi-

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nanzdienstleister beispielsweise darauf achten, dass er nur Geschäfte mit verantwortungsbewusst wirtschaftenden Unternehmen macht, so kann das zu Konflikten mit dem Umsatz- bzw. Gewinnziel führen und konkret mit den Kollegen, die für die Vertragsabschlüsse zuständig sind. Weil Nachhaltigkeit oft einen längeren Weg nehmen muss, bis sie im Unternehmen verankert ist, sind – vor allem finanzielle − Anreizmodelle für Führungskräfte und Mitarbeiter ein starker Hebel. So können Personalmanager oder die Geschäftsführung beispielsweise auch daran gemessen werden, ob die Mitarbeiterzufriedenheit steigt oder die Unfallquote sinkt. Nachhaltigkeit ist langfristig ausgerichtet und verträgt sich daher oft nicht mit kurzfristigen Gewinnerwartungen, durchaus aber mit der langfristigen Wertsteigerung des Unternehmens. Die Erfahrungen mit der Finanzkrise führten dazu, dass Vorstände, Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer inzwischen vielfach einen Teil ihres vertraglichen Bonus erst ausbezahlt bekommen, wenn der Erfolg des Unternehmens über drei Jahre hinweg nachweisbar ist. Anlass dafür ist das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), das 2009 in Kraft trat und eine „Orientierung am nachhaltigen und langfristigen Unternehmenserfolg vorsieht. Beteiligung von Anspruchsgruppen Das Unternehmen legt offen, wie gesellschaftliche und wirtschaftlich relevante Anspruchsgruppen identifiziert und in den Nachhaltigkeitsprozess integriert werden. Es legt offen, ob und wie ein kontinuierlicher Dialog mit ihnen gepflegt und seine Ergebnisse in den Nachhaltigkeitsprozess integriert werden. Etliche Branchen der Wirtschaft stehen unter genauer Beobachtung von Stakeholdern, das heißt gesellschaftlichen Anspruchsgruppen wie Politik, Medien und vor allem zivilgesellschaftlichen Organisationen, z. B. Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, Kirchen oder Gewerkschaften. Und in vielen dieser Branchen sind KMU stark vertreten. Das gilt für die Automobil- und Chemieindustrie, die Finanzdienstleister, vor allem aber für die Lebensmittelwirtschaft. Viele Großunternehmen waren bereits mit Kampagnen gegen sich konfrontiert. Die meisten KMU müssen so etwas eher nicht befürchten. Konflikte zu entschärfen ist also in der Regel nicht das vorrangige Motiv, um mit Anspruchsgruppen ins Gespräch zu kommen. Seinen guten Ruf als Unternehmen, das in der Region verankert ist, zu wahren und als guter Arbeitgeber zu gelten, ist dagegen schon heute ein Grund, sich mit der öffentlichen Meinung differenziert auseinanderzusetzen. So sollten auch KMU eine klare Vorstellung über die wachsenden Ansprüche von Kunden, Konsumenten, Mitarbeitern, Nachwuchs, Gesellschaft und Politik an sie haben und ihre Nachhaltigkeitsstrategie aufgrund dieser Erkenntnisse passgenauer ausarbeiten. Oft kann die Expertise von Anspruchsgruppen auch genutzt werden, um für offene Fragen Lösungen zu

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finden. Zudem kann es sinnvoll sein, bereits die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie mit den Vorstellungen gesellschaftlicher Anspruchsgruppen abzugleichen, z. B. bei der Entwicklung von nachhaltigen Produkten oder beim Engagement für soziale Belange (z. B. Ausbildungsplätze). Innovations- und Produktmanagement Das Unternehmen legt offen, wie es durch geeignete Prozesse dazu beiträgt, dass Innovationen bei Produkten und Dienstleistungen die Nachhaltigkeit bei der eigenen Ressourcennutzung und bei Nutzern verbessern. Ebenso wird für die wesentlichen Produkte und Dienstleistungen dargelegt, ob und wie deren aktuelle und zukünftige Wirkung in der Wertschöpfungskette und im Produktlebenszyklus bewertet wird. Unternehmen müssen innovativ sein und bleiben, um sich am Markt zu behaupten. Das gilt umso mehr, wenn sie im starken Wettbewerb stehen. Wichtige Impulse dazu können von den Themen der Nachhaltigkeit ausgehen. Denn für Nachhaltigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft braucht es Innovationen auf verschiedenen Ebenen. Insbesondere der Klimawandel, zunehmend knappere und damit teurere natürliche Ressourcen sowie eine älter werdende Gesellschaft verlangen nach neuen ökologischen und sozialen Lösungen. Unternehmen, die gesellschaftliche Trends genau beobachten und sich offen zeigen für die Erwartungen der Gesellschaft, sind in der Regel innovationsfreudiger und erfolgreicher. Oft sind es KMU, die hier vorangehen. Sie haben schon viele Innovationen, die für eine nachhaltige Entwicklung wichtig sind, hervorgebracht. Das gilt für viele Neuerungen im Bereich der regenerativen Energien, der Heiz- und Klimatechnik oder den Einkauf und die Verarbeitung fair oder ökologisch hergestellter Rohstoffe. Innovationen für Nachhaltigkeit brauchen nicht nur den äußeren Druck durch Gesetze und Kundennachfragen, sondern auch interne Voraussetzungen wie eine vorausschauende und experimentierfreudige Firmenleitung, die Mitarbeiter motiviert, ihre Ideen zu äußern und umzusetzen – und die auch einmal Fehler verzeiht.

3.3

Umweltbelange

Die Fragen in diesem Kapitel konzentrieren sich auf die ökologischen Aspekte der Nachhaltigkeit: Haben die Verantwortlichen im Unternehmen einen guten Überblick, welche natürlichen Ressourcen sie in welchem Umfang beanspruchen? Haben sie sich Ziele zur Reduzierung dieser Verbräuche gesetzt und wie wollen sie diese erreichen? Können sie die Treibhausgase bilanzieren und haben sie Ziele zu deren Verminderung formuliert? Die folgenden drei Kriterien behandeln die wesentlichen Themen im betrieblichen Umweltschutz.

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Inanspruchnahme von natürlichen Ressourcen Das Unternehmen legt offen, in welchem Umfang natürliche Ressourcen für die Geschäftstätigkeit in Anspruch genommen werden. Infrage kommen hier Materialien sowie der Input und Output von Wasser, Boden, Abfall, Energie, Fläche, Biodiversität sowie Emissionen für den Lebenszyklus von Produkten und Dienstleistungen. Jedes Unternehmen – ob produzierendes oder Dienstleister – nimmt natürliche Ressourcen für die Unternehmenstätigkeit in Anspruch. Welche und in welchem Umfang, ist je nach Branche sehr unterschiedlich. Unter Kriterium 1 hat das Unternehmen bei den wesentlichen Aktivitäten schon ökologische Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit genannt. Hier geht es nun noch spezifischer und detaillierter um dieses Thema. Mit einer Input-Output-Bilanz können Unternehmen erfassen und zeigen, welche Ressourcen in welchem Umfang in ihre Geschäftstätigkeit eingehen und welche Emissionen daraus resultieren. Auch Dienstleister sollten genau prüfen, wo sie ihre „wunden Punkte“ haben. Denn der Energieverbrauch in Büros ist aufgrund umfangreicher Technik und Klimaanlagen unerheblich. Ein noch relativ neues Thema für alle Unternehmen ist die Artenvielfalt. Hier gilt es zu prüfen, inwiefern die Unternehmensaktivitäten die Artenvielfalt beeinflussen. Dies kann in sehr verschiedener Weise der Fall sein, z. B. beim Ab- oder Anbau der Rohstoffe oder durch die Inanspruchnahme von Flächen – ein Thema, das beispielsweise die Immobilien- oder Mineralölbranchen sowie die Agrarwirtschaft besonders betrifft. Ressourcenmanagement Das Unternehmen legt offen, welche qualitativen und quantitativen Ziele es sich für seine Ressourceneffizienz, den Einsatz erneuerbarer Energien, die Steigerung der Rohstoffproduktivität und die Verringerung der Inanspruchnahme von Ökosystemen gesetzt hat und wie diese erfüllt wurden bzw. in Zukunft erfüllt werden sollen. Klare, messbare und auch anspruchsvolle Ziele sind essenziell für die Nachhaltigkeitsstrategie eines Unternehmens, wie unter Kriterium 3 dargelegt. Auf Grundlage der Analyse, die unter Kriterium 11 beschrieben wurde, sollten Effizienz- beziehungsweise Einsparziele für die wichtigsten Ressourcen festgelegt werden. So kann sich das Unternehmen vornehmen, den Stromverbrauch pro Jahr um 10 Prozent zu verringern und die dafür erforderlichen Schritte zu beschließen – beispielsweise durch Effizienzmaßnahmen in der Produktion. In der Verwaltung sollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sensibilisiert werden, mit Energie sparsamer umzugehen. Oder: Durch die Umstellung von Produktionsverfahren werden weniger Rohstoffe verbraucht und weniger Ausschussware und Abfall erzeugt. Ein qualitatives Ziel kann zum Beispiel sein, eine eigene Solaranlage zu installieren.

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Klimaschutz, Ressourcen- und Flächenverbrauch, Abfälle – das sind Themen für jedes Unternehmen. Es liegt jedoch an jedem Unternehmen, aufgrund seiner besonderen Situation den eigenen ökologischen Schwerpunkt zu definieren. Um seine Ziele zu erreichen, müssen in der Regel mehrere Abteilungen des Unternehmens Hand in Hand arbeiten, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind dabei aktiv miteinzubinden. Klimarelevante Emissionen Das Unternehmen legt die Treibhausgas-Emissionen entsprechend dem Greenhouse Gas Protocol oder darauf basierenden Standards offen und gibt seine selbst gesetzten Ziele zur Reduktion der Emissionen an. Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen, weil er nicht nur das globale ökologische Gefüge in Schieflage bringen kann, sondern damit auch das soziale: Naturkatastrophen, Bodenerosion und Wüstenbildung führen zu Nahrungsmittel- und Wasserknappheit und kriegerischen Auseinandersetzungen, die Millionen von Menschen zur Flucht zwingen. Auch die Überschwemmung küstennaher Gebiete durch den Anstieg des Meeresspiegels kann Millionen Menschen die Lebensgrundlage entziehen und vermehrte Flüchtlingsströme zur Folge haben – um nur die wesentlichen Wirkungen der Erderwärmung zu nennen. Die Treibhausgasemissionen zu verringern ist deshalb eines der wichtigsten Nachhaltigkeitsziele, zu dem die Unternehmen beitragen sollen und können. Um dafür Ziele bemessen zu können, müssen die Treibhausgasemissionen erfasst werden, die das Unternehmen verursacht. Hier hat das Greenhouse Gas Protocol den Standard gesetzt. Es wurde vom World Resources Institute (WRI) und der Unternehmensinitiative World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) ausgearbeitet. Viele Unternehmen richten sich bereits danach und auch fast alle branchenspezifischen Standards werden davon abgeleitet. Jedes Unternehmen sollte sich vornehmen, eine solche CO2-Bilanz (auch CO2-Fußabdruck, Carbon Footprint) zu erstellen. Die Stiftung GHG Protocol bietet umfassende Werkzeuge und Hilfestellungen, um auch für die anderen Anwendungsbereiche mit vertretbarem Aufwand Zahlen liefern zu können. Da es neben CO2 noch andere Klimagase gibt, wie z. B. Methan, werden diese, um sie besser vergleichen zu können, entsprechend ihrem globalen Erwärmungspotenzial in CO2-Äquivalente umgerechnet (CO2 = 1). Entscheidend ist für ein Unternehmen zunächst, den eigenen Verbrauch von fossilen Energien exakt zu beziffern und diesen signifikant zu senken. Denn neben der Reduzierung des Verbrauchs kann ein Unternehmen auch seine Energieversorgung – zumindest zum Teil – auf regenerative Energiequellen umstellen. Der nächste Schritt ist dann, die verursachten Treibhausgasemissionen – wie im GHG Protocol beschrieben – zu ermitteln.

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3.4

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Soziale Nachhaltigkeit

Die sieben Kriterien dieses Kapitels behandeln die sozialen Themen der Nachhaltigkeit, die für das Unternehmen bedeutsam sind: Achtet das Unternehmen grundlegende Arbeitnehmerrechte? Wie geht es mit Themen Chancengerechtigkeit, Gesundheit oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf um? Wie hilft es angesichts demographischer Veränderungen mit, dass die Belegschaft beschäftigungsfähig ist und bleibt? Sind Menschenrechte in der Lieferkette bedeutsam? Welche Rolle hat das Unternehmen in der Region? Ob und wie wird versucht, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen? Was macht das Unternehmen gegen Bestechung? Arbeitnehmerrechte Das Unternehmen berichtet, wie es national und international anerkannte Standards zu Arbeitnehmerrechten einhält sowie die Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Nachhaltigkeitsmanagement des Unternehmens fördert. In Deutschland sind viele Arbeitnehmerrechte gesetzlich und über Tarifverträge festgelegt. Wesentliche Themen sind hier eine faire Bezahlung, Kündigungsschutz, transparente Disziplinar- und Entlassungspraktiken sowie das Einhalten der Vereinbarungen zu Arbeitszeit, Urlaub und Mutterschutz. Des Weiteren sind die Mitbestimmungsrechte oder die Aus- und Weiterbildung geregelt. Diese Regeln zu achten ist für die überwältigende Mehrheit der in Deutschland ansässigen Unternehmen eine Selbstverständlichkeit und damit ein strategischer Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten. Kritisch diskutiert wird jedoch derzeit vor allem, dass Unternehmen immer mehr Leiharbeiter einsetzen, wie diese bezahlt sind und welche Rechte sie haben. Das Unternehmen sollte auch darstellen, wie es sich jenseits von gesetzlichen Bestimmungen, Vorschriften und anerkannten deutschen Standards um die Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmert: Beteiligt es sie beispielsweise finanziell am Unternehmenserfolg? Gibt es einen Betriebsrat? Und wenn ja: Wie arbeitet die Geschäftsleitung mit diesem zusammen? Welche Möglichkeiten der Mitwirkung und Mitgestaltung gewährt es den Beschäftigten – beispielsweise über Mitarbeiterbefragungen? Wichtig sind zudem die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation, und zwar besonders für Unternehmen, die ausländische Lieferanten haben, beziehungsweise solche, die in Ländern produzieren, wo es immer wieder zu Verstößen gegen Arbeitnehmerrechte kommt. So sollten Unternehmen mit Zulieferern oder Geschäftspartnern in Ländern mit schwachem gesetzlichem Arbeitnehmerschutz darüber informieren, ob diese die internationalen Standards zu Arbeitnehmerrechten einhalten, z. B. indem sie einen einsprechenden Verhaltenskodex unterzeichnen. Noch besser ist es, wenn das Un-

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ternehmen – sofern es sich dies leisten kann – die Einhaltung des Kodex durch externe Audits prüfen lässt oder – im optimalen Falle – sich selbst vor Ort ein Bild von der Situation macht. Chancengerechtigkeit Das Unternehmen legt offen, wie es national und international Prozesse implementiert und welche Ziele es hat, um Chancengerechtigkeit und Vielfalt (Diversity), Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, Integration von Migranten und Menschen mit Behinderung, angemessene Bezahlung, sowie Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern. Verantwortliche Unternehmensführung bedeutet, auch Menschen mit geringerer Schulbildung oder Ungelernten ebenso wie Migranten und Behinderten eine Chance auf Beschäftigung zu geben. Wird nach Tarifverträgen bezahlt beziehungsweise gibt es auch übertarifliche Vereinbarungen oder sonstige außertarifliche Leistungen? Bekommen Frauen und Männer für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn? Was macht das Unternehmen dafür, dass die Beschäftigten Privatund Arbeitsleben besser vereinbaren können? Schützt das Unternehmen die Gesundheit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Können diese an Maßnahmen zur Weiterbildung teilnehmen? Was unternimmt das Unternehmen, damit die Regeln auch gelebte Praxis werden, das heißt in den Köpfen und Herzen der Mitarbeiter verankert sind und zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Unternehmenskultur werden? Alle diese Aspekte gelten sowohl für die Standorte in Deutschland als auch für die Niederlassungen im Ausland. Insbesondere in Ländern mit schwachem gesetzlichem Arbeitnehmerschutz müssen die Unternehmen darauf achten, dass ihre einheimischen Führungskräfte sich dort ebenfalls um die oben genannten Themen kümmern. Mindestens die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sollten eingehalten werden (siehe Kriterium 14). Qualifizierung Das Unternehmen legt offen, welche Ziele es gesetzt und welche Maßnahmen es ergriffen hat, um die Beschäftigungsfähigkeit, d.h. die Fähigkeit zur Teilhabe an der Arbeits- und Berufswelt aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zu fördern und im Hinblick auf die demographische Entwicklung anzupassen. Die Struktur der Bevölkerung verändert sich in Deutschland: Wir werden weniger und älter, wie in den meisten Industrienationen. Mit dem demographischen Wandel verändert sich auch in vielen Unternehmen die Altersstruktur, der Anteil älterer Beschäftigter steigt. Darauf müssen sich Unternehmen einstellen. Unter Beschäftigungsfähigkeit, auch Arbeitsmarktfähigkeit genannt, versteht man die Fähigkeit eines Menschen, am Arbeits- und Berufsleben teilzunehmen. Eine Voraussetzung dafür ist,

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dass seine fachlichen und sozialen Kompetenzen mit denen übereinstimmen, die in der Arbeitswelt gefordert sind. Eine weitere Voraussetzung ist, dass er dazu auch gesundheitlich in der Lage ist. Besonders KMU, die drei Viertel der Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze stellen, leiden darunter, dass es immer schwieriger wird, geeignete Fachkräfte zu finden. Da weniger junge, gut qualifizierte Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, wird dieser Effekt noch stärker. Unternehmen sind daher gefordert, vermehrt die Aus- und Weiterbildung in den Blick zu nehmen. Und sie müssen darauf achten, dass besonders ihre älteren, erfahrenen Beschäftigten in der Lage sind, ihre Leistungen optimal im Unternehmen einzubringen. Dazu gehören zum Beispiel altersgerechte Arbeitsplätze, Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit, sowie Überlegungen, wie sich die unterschiedlichen fachlichen und sozialen Kompetenzen junger und älterer Beschäftigter miteinander verknüpfen lassen. Menschenrechte Das Unternehmen legt offen, welche Maßnahmen für die Lieferkette ergriffen werden, um zu erreichen, dass Menschenrechte weltweit geachtet und Zwangs- und Kinderarbeit sowie jegliche Form der Ausbeutung verhindert werden. Eigentlich müssen sich Regierungen darum kümmern, dass grundlegende Menschenrechte beachtet werden. Doch indem die Wirtschaft globaler und Unternehmen für die gesellschaftliche Entwicklung bedeutsamer werden, können und müssen international tätige Unternehmen zur Einhaltung der Menschenrechte beitragen. Aber auch KMU, die ausschließlich mit deutschen Lieferanten zusammenarbeiten, sollten dafür Sorge tragen, dass auch diese die Menschenrechte achten, die über das Grundgesetz und die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen verankert sind. Dazu gehören unter anderem: Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, das Recht auf Sicherheit, Arbeit und freie Berufswahl, gerechte Arbeitsbedingungen, das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit sowie der Schutz vor Diskriminierung, zum Beispiel bei der Einstellung, aufgrund des Geschlechts, der Religion oder der Herkunft. Unternehmen, die Zulieferer und/oder Partner in Ländern außerhalb der EU haben, stehen grundsätzlich in der Gefahr, dass diese – insbesondere in Ländern mit schwachen gesetzlichen Schutzbestimmungen – grundlegende Menschenrechte missachten. Dies wird dann in der Regel dem Unternehmen angekreidet, das für das Endprodukt verantwortlich ist. Ein Unternehmen, das also international einkauft beziehungsweise produzieren lässt, sollte unbedingt darauf achten, dass sich seine Geschäftspartner an gültige internationale Regeln zu Menschenrechten halten. Das ist angesichts komplexer Lieferketten schwierig, doch

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darf Komplexität keine Entschuldigung sein. Das Unternehmen sollte seine Zulieferer einen entsprechenden Verhaltenskodex zu Menschenrechten unterzeichnen lassen. Noch besser wäre – sofern das Unternehmen dazu in der Lage ist – wenn es die Einhaltung des Kodex durch externe Audits prüfen lässt, und optimal, wenn es sich zusätzlich vor Ort selbst ein Bild von der Situation macht. Hat das Unternehmen ausschließlich nationale beziehungsweise europäische Lieferanten, so sollte es seine Beschaffung an den Vorgaben des nationalen beziehungsweise EU-weiten Vergaberechts orientieren, mit dem Deutschland und die EU die Vergabe von öffentlichen Aufträgen regeln. Zu diesen Richtlinien zählen neben Transparenz und Antidiskriminierung auch ökologische und soziale Aspekte. Gemeinwesen Das Unternehmen legt offen, wie es zum Gemeinwesen in den Regionen beiträgt, in denen es wesentliche Geschäftstätigkeiten ausübt. Unternehmen zahlen Steuern, bieten Arbeitsplätze und helfen mit ihren Produkten oder Dienstleistungen unmittelbar, Bedürfnisse der Menschen vor Ort zu befriedigen. Sie nutzen zugleich die Infrastruktur der Kommune und der Region, in der sie tätig sind, profitieren von guten Verkehrswegen, gut ausgebildeten Mitarbeitern, der kulturellen Vielfalt oder auch davon, dass die öffentliche Sicherheit gewährleistet ist. Da viele Unternehmen aber wissen, dass sie mittel- und langfristig nur in einem qualifizierten Umfeld weiterhin erfolgreich sein können und die kommunalen Mittel oft knapp werden, engagieren sie sich über ihr Kerngeschäft hinaus für soziale und ökologische Belange vor Ort. Dieses Engagement, das über den eigentlichen Unternehmenszweck hinausgeht, entspringt dem Verständnis, dass Unternehmen auch eine gesellschaftliche Verantwortung haben (Corporate Social Responsibility, CSR, siehe auch Kriterium 5). Politische Einflussnahme Alle wesentlichen Eingaben bei Gesetzgebungsverfahren, alle Einträge in Lobbylisten, alle wesentlichen Zahlungen von Mitgliedsbeiträgen, alle Zuwendungen an Regierungen sowie alle Spenden an Parteien und Politiker sollen nach Ländern differenziert offengelegt werden. Viele Unternehmen beziehungsweise ihre Branchenverbände engagieren sich auf nationaler und auf europäischer Ebene bei Gesetzgebungsverfahren, die ihre Branchen betreffen. Große Unternehmen unterhalten meist eigene Büros in Brüssel und/oder Berlin, um vor Ort zu sein, Kontakte zu knüpfen, ein Netzwerk zu pflegen und darüber Einfluss zu nehmen. Auch in den Ländern und den Kommunen nehmen Unternehmen Einfluss auf Entscheidungen

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und Entwicklungen, die vorteilhafte Auswirkungen auf ihre Geschäftstätigkeit haben können. Das geschieht oft über die Industrie- und Handelskammern, Einzelhandelsverbände, regionale Branchenverbände oder anlassbezogene Unternehmensinitiativen. Eigene Interessen zu vertreten ist legitim, wenn es offen und transparent erfolgt und deutlich erkennbar ist, wer welche Ziele mit welchen Mitteln verfolgt. Unternehmen sollen deshalb ihre Positionen offen darlegen, ihre Mitgliedschaften und auch die Zahlungen, die sie im Rahmen ihrer Interessenvertretung leisten: an Parteien, Politiker und/oder Organisationen. Politische Einflussnahme muss nicht heißen, staatliche Vorgaben und gesellschaftliche Anforderungen abzuwehren; so haben beispielsweise viele Unternehmen gemeinnützige Organisationen und Stiftungen gegründet, um Nachhaltigkeitsziele zu fördern. Gesetzes- und richtlinienkonformes Verhalten Das Unternehmen legt offen, welche Maßnahmen, Standards, Systeme und Prozesse zur Vermeidung von rechtswidrigem Verhalten und insbesondere von Korruption existieren und wie sie geprüft werden. Es stellt dar, wie Korruption und andere Gesetzesverstöße im Unternehmen verhindert, aufgedeckt und sanktioniert werden. Zahlreiche Korruptionsskandale haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass die Einhaltung von Recht und Gesetz so selbstverständlich nicht ist. KMU gerieten bislang zwar nicht in den Fokus des öffentlichen Interesses, doch sind sie genauso von diesem Thema betroffen wie international tätige Großkonzerne. Bestechlichkeit beziehungsweise Missbrauch von Machtpositionen von Amtsträgern zum privaten Vorteil ist ein Straftatbestand (§ 334 Strafgesetzbuch, StGB). Auch geschäftliche Tätigkeiten sollen mit § 299 StGB vor Korruption geschützt werden. Bestechlichkeit oder Bestechung von Unternehmensvertretern können demnach ebenfalls bestraft werden. Korruption ist nicht nur strafbar, sondern schadet auch dem Unternehmen: Um Korruption im eigenen Unternehmen zu verhindern, bedarf es klarer Richtlinien und der Überprüfung, ob sie eingehalten werden. Viele Unternehmen haben inzwischen einen eigenen Verhaltenskodex, der allen Mitarbeitern Regeln für das rechtssichere Verhalten vorgibt. Häufig beziehen sich Unternehmen auch auf die Grundsätze des Global Compact der Vereinten Nationen (Vereinte Nationen, 2018). In Märkten, in denen Korruption an der Tagesordnung ist, müssen Unternehmen die potenziellen Konflikte analysieren und Mitarbeiter fördern, die sich an die Richtlinien halten. Das Thema muss tief in die Führungskultur integriert sein.

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Ausblick

Die Anwendung des CSR Richtlinien Umsetzungsgesetzes sollte mehr sein als die formale Beachtung von gesetzlichen Vorschriften. Das Gesetz fordert auch mehr als die Einhaltung der Corporate Governance- und Compliance-Regeln. Das Gesetz bedeutet zwar einen erhöhten bürokratischen Aufwand. Deshalb hat der Rat für Nachhaltige Entwicklung den Deutschen Nachhaltigkeitskodex verbunden mit dem Leitfaden und konkreten guten Beispielen sowie die Orientierungshilfe für die Anwendung des CSR-RUG erarbeitet, um die Anwendung nicht nur zu erleichtern, sondern möglichst zum Nutzen des Unternehmens zu gestalten. Denn das Gesetz eröffnet vielfältige Chancen für eine positive Unternehmensentwicklung. Die Verantwortlichen der Geschäftsführung sowie die Mitarbeiter sind gefordert, über eine nachhaltige Entwicklung des Unternehmens vertieft nachzudenken, gemeinsam Konzepte zu erarbeiten und sich über mögliche Zielkonflikte klar zu werden. Bei diesem Prozess können viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beteiligt werden und aktiv gestaltend mitwirken. Zugleich zeigt das Unternehmen, dass es werteorientiert handelt, langfristig Ziele formuliert und anstrebt und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrem Wirken wichtig nimmt. Die vertieften Einblicke in das eigene Unternehmen helfen nicht nur bei der Unternehmensstrategie, sondern schaffen auch Vertrauen bei den Geschäftspartnern, Mitarbeitern und der Öffentlichkeit. Insoweit schafft die Anwendung des Deutschen Nachhaltigkeitskodex als geeignetes Instrument für die Erfüllung der gesetzlichen Pflicht praktische Vorteile sowohl innerhalb des Unternehmens wie in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit und der Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen. Da eine große Zahl von Betrieben über die nationalen Grenzen hinaus tätig ist, ist es anzustreben, eine Vergleichbarkeit bei der Umsetzung der Europäischen Richtlinie in den EU-Ländern zu erreichen. Dazu notwendig wäre eine übergeordnete Plattform, die die einzelnen nationalen Regelungen zusammenfasst und auf diese Art faktisch einen europäischen Nachhaltigkeitscodex schafft. Bislang gibt es neben dem deutschen Nachhaltigkeitskodex einen vergleichbaren Kodex nur in Griechenland. Der RNE bemüht sich darum, auch unter dem Gesichtspunkt, das europäische Verständnis von sozialer Marktwirtschaft zu stärken. Denn die Anwendung des Deutschen Nachhaltigkeitskodexes ist ein wichtiger Beitrag zur konkreten Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft. Als eines der exportstärksten Länder und damit Gewinner der Globalisierung müssen wir der besonderen Verantwortung für die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen gerecht werden. Zur Erfüllung dieser Nachhaltigkeitsziele bedarf

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es eines langfristigen Engagements aller Unternehmen. Sie können – wie in den 20 Kriterien des DNK dargestellt – in unterschiedlicher Weise zu einer nachhaltigen Entwicklung lokal, regional, national oder international beitragen. Nachhaltigkeit bedeutet Wohlstand für alle, aber weder auf Kosten anderer Länder, anderer Menschen und künftiger Generationen noch zulasten der natürlichen Umwelt. Nachhaltig wirtschaften bedeutet deshalb unternehmerisches Handeln nicht auf Kosten von morgen und nicht auf Kosten von anderswo. Nachhaltig wirtschaften heißt demnach, in einer langfristigen Strategie soziale, ökologische und ökonomische Ziele auszutarieren und umzusetzen, damit sowohl Unternehmen als auch unsere Gesellschaft zukunftsfähig bleiben werden.

Literaturverzeichnis European Federation of Financial Analysts Societies (EFFAS) (2011): Principles of Ethical Conduct. https://effas.net/pdf/EFFAS_PoEC_June2011.pdf [201809-17]. Global Reporting Initiative (GRI) (2018): The Power of Sustainabilty Reporting. https://www.globalreporting.org/information/about-gri/Pages/default.aspx [2018-09-17]. International Organization for Standardization (ISO) (2010): ISO 26000:2010(en), Guidance on social responsibility. https://www.iso.org/obp/ui/#iso:std:iso: 26000: ed-1:v1:en [2018-09-17]. Internationale Arbeitsorganisation (ILO) (2012): International Labour Standards and Guiding Principles on Labour Administration and Labour Inspection. https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_dialogue/---lab_admin/documents/publication/wcms_194389.pdf [2018-09-17] [Bearbeitet von Casale, G.; Fasani, M.]. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) (2011): OECD Guidelines for Multinational Enterprises, 2011 Edition. http:// www.oecd.org/daf/inv/mne/48004323.pdf [2018-09-17]. Rat für Nachhaltige Entwicklung (2017): Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex – Maßstab für nachhaltiges Wirtschaften 4. aktualisierte Fassung. Rat für Nachhaltige Entwicklung (2018): Der DNK im Sinne des CSR-RichtlinieUmsetzungsgesetzes (CSR-RUG). Eine Orientierungshilfe für Anwender. 3. Fassung, 8. Mai 2018.

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Rat für Nachhaltige Entwicklung; Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2013). Leitfaden zum Deutschen Nachhaltigkeitskodex – Orientierungshilfe für mittelständische Unternehmen. Vereinte Nationen (UN) (2011): The UN Guiding Principles on Business and Human Rights. An Introduction. https://www.unglobalcompact.org/docs/issues_ doc/human_rights/Resources/IntroToGPs.pdf [2018-09-17]. Vereinte Nationen (UN) (2018): Global Compact der Vereinten Nationen. https://www.unglobalcompact.org [2018-09-17].

3 Strategische und umsetzungsbezogene Aspekte

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie: Das Prosumer-Phänomen als Externalität im Konsum Hermann Knödler und Swantje Martach



Nachhaltigkeit durch Einbindung von Konsumenten als Trend? .............. 172 



Prosumer und Prosumenten: Begriffsbestimmung und Nachhaltigkeitsbezug ................................................................................ 173  2.1  2.2  2.3  2.4  2.5 



Das Phänomen „Prosumer“ als Externalität im Konsum: Alter Wein in neuen Schläuchen? .................................................................................... 184  3.1  3.2  3.3  3.4 



Klassifikation externer Effekte ...................................................... 184  Einordnung des Prosumers als Externalitäten-Phänomen .............. 185  Nachhaltigkeit durch positive Externalitäten im Konsum.............. 187  Exkurs: Der Zusammenhang zwischen externen Effekten und ökonomischen Phänomenen ........................................................... 189 

Mehr Nachhaltigkeit für Unternehmen durch Prosumer?.......................... 190  4.1  4.2 



Zum Begriff „Prosumer“ bzw. „Prosument“.................................. 173  Prosumer in den Bereichen Bekleidungsindustrie und Energieerzeugung........................................................................... 176  Prosumer und Nachhaltigkeit ......................................................... 178  Haushaltsperspektive: Theoretische Erklärungsansätze zur Emergenz des Prosumers ............................................................... 180  Unternehmensperspektive: Theoretische Wirkungen des Prosumers auf den nachhaltigen Unternehmenserfolg ................... 182 

Methodische Überlegungen zur Prüfung relativer Nachhaltigkeit durch Prosumer .............................................................................. 190  Empirische Anhaltspunkte für die Bekleidungsindustrie: Der Beitrag der Prosumer zur Nachhaltigkeit ....................................... 191 

Fazit ........................................................................................................... 193 

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_9

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1

Hermann Knödler und Swantje Martach

Nachhaltigkeit durch Einbindung von Konsumenten als Trend?

Der Begriff „Prosumer“ hat in den vergangenen Jahren eine wachsende Beachtung als Gegenstand der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften erfahren (Hellmann 2009) und vereint „Production“ und „Consumer“, d.h. er weicht die strenge Trennung zwischen Produktion durch Unternehmen einerseits und Konsum durch Haushalte andererseits auf. Eine inhaltliche Abgrenzung des Begriffs zeigt, dass dem „Prosumer“ ein sehr breites Spektrum von ökonomischen Aktivitäten zugeschrieben wird: Zunächst werden Haushalte in einem engeren Sinne als Prosumer bezeichnet, wenn sie in die Erstellung betrieblicher Leistungen eingebunden werden, beispielsweise in die Gestaltung von Bekleidung oder bei Events hinsichtlich des Veranstaltungsprogramms. In einem weiteren Sinne werden als Prosumer auch Haushalte bezeichnet, die ihrerseits eine Leistung produzieren und am Markt verkaufen. Dies können beispielsweise Haushalte sein, die selbst Energie erzeugen und den Stadtwerken durch Stromeinspeisung ins öffentliche Netz verkaufen. Gerade der Prosumer im weiteren Sinne spielt in der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte eine gewisse Rolle. Betrachtet man die Titel von Buchpublikationen als Trendindikatoren, dann lässt sich der Prosumer allerdings im Vergleich zur Nachhaltigkeit nicht zwingend als Trendbegriff erkennen: Eine Abfrage des Online-Katalogs der Deutschen Nationalbibliothek vom März 2019 ergab, dass sich der Begriff „Prosumer“ in den dort nachweisbaren Publikationen – jedenfalls als Bestandteil von Buchtiteln – seit 1985 kaum niederschlägt. Geradezu inflationär mutet dagegen die wachsende Verbreitung des Begriffs „Nachhaltigkeit“ an, wenn man die in der Deutschen Nationalbibliothek gelisteten Publikationen zugrunde legt: Tauchte „Nachhaltigkeit“ im Veröffentlichungsjahr 1995 noch bei 11 Publikationen im Titel auf, waren es im Jahr 2000 bereits 76 und in den Jahren 2005 beziehungsweise 2015 bereits 132 beziehungsweise 228 Publikationen. Dieser empirische Befund liegt natürlich unter anderem darin begründet, dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ wesentlich breiter angelegt ist als der doch etwas speziellere Begriff „Prosumer“. Augenblicklich ist der Prosumer also weder für sich allein noch im Kontext der Nachhaltigkeit als Trend zu bezeichnen. Im vorliegenden Beitrag werden grundsätzliche Überlegungen zum Phänomen des Prosumers und zu dessen möglichem Beitrag zur „Nachhaltigkeit“ angestellt und die Ergebnisse jener Überlegungen beispielhaft an der Bekleidungsindustrie dargestellt.

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie

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Hinsichtlich einer ökonomisch nachhaltigen Unternehmensentwicklung könnten Prosumer im engeren Sinne dann von Bedeutung sein, wenn sie durch die Einbindung von Haushalten in die Leistungserstellung dazu beitragen, die Haushalte als Kunden zu binden und den Unternehmen dadurch langfristig Wettbewerbsvorteile im Sinne einer ökonomischen Nachhaltigkeit sichern. Im Sinne einer ressourcenorientierten Nachhaltigkeit könnten Prosumer im engeren Sinne dann interessant sein, wenn die durch Haushalte „mitproduzierten“ Güter länger genutzt werden als Güter, die im klassischen Sinne industriell und ohne Einbeziehung des Kunden hergestellt werden. Durch die längere Nutzung von Gütern lassen sich auf lange Sicht vermutlich Ressourcen einsparen. Die Begriffe „Haushalte“ beziehungsweise „Kunden“ beziehen sich im vorliegenden Beitrag auf private Haushalte im Sinne von Endverbrauchern und werden hier synonym verwendet. Der Begriff „Bekleidungsindustrie“ umfasst sowohl die industrielle Herstellung von Bekleidung einschließlich des Designs durch Herstellerfirmen sowie den Verkauf von Bekleidung, sofern er von Herstellern direkt an Endverbraucher stattfindet.

2

2.1

Prosumer und Prosumenten: Begriffsbestimmung und Nachhaltigkeitsbezug Zum Begriff „Prosumer“ bzw. „Prosument“

Alvin Toffler war es, der den Begriff “Prosumer“ in den 1980er Jahren konzipierte und in die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt hat (Toffler 1980). In den „klassischen“ und eher nationalökonomisch orientierten Wirtschaftswissenschaften werden Produktionsprozesse definitionsgemäß von Unternehmen erbracht, während die Leistungserstellung durch Haushalte eine Nebenrolle spielt, beispielsweise bei den sogenannten haushaltsnahen Dienstleistungen oder bei der Fertigung von Waren zum Eigenver- und -gebrauch. Diese Produktion durch Haushalte ist allerdings nicht marktbestimmt, denn die wirtschaftliche Hauptfunktion der privaten Haushalte besteht im Arbeitsangebot und im Konsum von Gütern. Der aus dem Englischen stammende Kunstbegriff „Prosumer“ hat inzwischen mit dem „Prosumenten“ eine deutsche Entsprechung gefunden. In den folgenden Ausführungen wird jedoch aus Vereinfachungsgründen der ältere und auch etwas geläufigere englische Begriff verwendet.

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Hermann Knödler und Swantje Martach

In den „klassischen“ Wirtschaftswissenschaften umfasst der Begriff der betrieblichen Güterproduktion die gesamte Nutzung von Inputs zur betrieblichen Leistungserstellung, d.h. der schöpferische Bereich des Entwerfens, des Entwickelns und des Gestaltens von Waren und Dienstleistungen ist inhaltlich in die Güterproduktion einbezogen. Im industriell-technischen Bereich wird dieser schöpferische Teil oft als „Forschung und Entwicklung“ bezeichnet, bei Konsumgütern wie beispielsweise Bekleidung treffen es die Begriffe „Design“ beziehungsweise „Gestaltung“ eher. Die zunehmende Verbreitung des Begriffs „Prosumer“ auch im nicht primär wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum hat dazu geführt, dass der Begriff inhaltlich etwas angereichert wurde. Im vorliegenden Beitrag wird daher folgende definitorische Abgrenzung getroffen: Beim Prosumer i.e.S. handelt es sich um einen privaten Haushalt, der an der Produktion des von ihm gewünschten Gutes mitwirkt, wogegen der Prosumer i.w.S. einen privaten Haushalt bezeichnet, der marktbestimmt Leistungen verkauft, die er erzeugt, aber aktuell nicht benötigt oder die er hervorbringt, um bestehende Kapazitäten auszulasten. Die Mitwirkung des Prosumers i.e.S. an der Leistungserstellung kann sich sowohl auf Design als auch auf Produktion im Sinne des Fertigens oder Zusammensetzens beziehen. Wenn Unternehmen beabsichtigen, die Haushalte in Produktionsprozesse zu involvieren, dann kann dies also grundsätzlich dadurch geschehen, dass (1) die Haushalte ein Produkt selbst zusammensetzen, beispielsweise bei Modellbausätzen oder Möbeln (Montage durch Kunden), oder dass (2) die Haushalte ihre speziellen Wünsche an das Unternehmen kommunizieren, so dass im Unternehmen diese Wünsche im Produktionsprozess umgesetzt werden, beispielsweise durch lieferbare Extras beim Automobilbau oder durch ein selbsterstelltes Design bei Waren von Bekleidungsherstellern. Schließlich lassen sich die Varianten (1) und (2) auch miteinander kombinieren. In der Praxis ergibt sich damit ein breites Kontinuum von Möglichkeiten, Haushalte bei der Gestaltung oder Fertigung von Gütern einzubeziehen. Die beiden Extrempositionen liegen bei der Eigenfertigung durch Haushalte einerseits und bei der rein „industriellen“ Fertigung durch Unternehmen ohne unmittelbare Kundenbeteiligung andererseits. Dieser Sachverhalt zur Abgrenzung des Phänomens „Prosumer“ ist in Abbildung 1 dargestellt. Eine ausschließliche Eigenfertigung und Gestaltung von Gütern durch Haushalte für den Eigenbedarf führt nicht zu Markttransaktionen und stellt letztlich einen Fall von Autarkie dar.

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Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie

Bereich des „Prosumers i.e.S.“

Eigenfertigung und Gestaltung durch Haushalte

1

2

3

4

5

Rein „industrielle“ Fertigung und Gestaltung durch Unternehmen

Bereich des „Prosumers i.w.S.“ Fertigung und Gestaltung durch Haushalte für den Eigenbedarf

Fertigung und Gestaltung durch Unternehmen

Fertigung durch Haushalte für marktbestimmten Verkauf

Abbildung 1: Fertigung und Gestaltung: Prosumer und rein industrielle Produktion

Aus Abbildung 1 wird deutlich, dass der Begriff des „Prosumers i.e.S.“ graduell abgegrenzt werden kann. Dies sei an einem fiktiven Beispiel aus der Bekleidungsindustrie für die in der Abbildung bezeichneten fünf Bereiche 1 bis 5 hinsichtlich des Prosumers i.e.S. erläutert: 









Bereich 1: Fertigung und Lieferung der vom Haushalt entworfenen Stoffe, Applikationen und Schnittmusterbögen durch ein Unternehmen; der Haushalt schneidet die Stoffteile aus und näht Stoffe und Applikationen selbst zum gewünschten Bekleidungsstück zusammen. Bereich 2: Der Haushalt bestellt die von ihm entworfenen und vom Unternehmen zurechtgeschnittenen Stoffe mit bereits angebrachten Applikationen und näht die Einzelteile zum Bekleidungsstück zusammen. Bereich 3: Der Haushalt wählt aus den vom Unternehmen angebotenen und teils gestaltbaren Mustern, Farben und Applikationen eine gewünschte Kombination des fertigen Bekleidungsstücks aus. Bereich 4: Der Haushalt wählt aus den vom Unternehmen angebotenen vorgegebenen Mustern und Farben eine gewünschte Kombination des fertigen Bekleidungsstücks aus. Bereich 5: Der Haushalt wählt aus wenigen angebotenen Farben und Mustern sein Bekleidungsstück aus, das vom Unternehmen hergestellt wird.

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Der Prosumer i.e.S. übt seinen Konsum im vorigen Beispiel also nicht nur durch Kauf und Nutzung eines fertigen Bekleidungsstücks aus, sondern bringt sich in unterschiedlichem Umfang auch in Gestaltung bzw. Fertigung als Teil des Konsumerlebnisses ein. Damit übernimmt der Prosumer einen Teil der Aufgaben, die in den „klassischen“ Wirtschaftswissenschaften typischerweise auf Seiten der Unternehmen verortet werden.

2.2

Prosumer in den Bereichen Bekleidungsindustrie und Energieerzeugung

In diesem Abschnitt werden die Begriffe „Prosumer i.e.S.“ anhand der Bekleidungsindustrie sowie „Prosumer i.w.S.“ anhand der Energieerzeugung durch ausgewählte Beispiele illustriert. Allgemein betrachtet bedeutet das Prosumer-Phänomen für die Bekleidungsindustrie eine Verwischung der hierarchischen Grenzen zwischen Designer, Produzent und Konsument (Clark 2008: 329). Der Designer versteht sich bei der Trennung von Produktion und Konsum als Erschaffer der Ware, der sie erdenkt und formt, sie aus allen ihm zur Verfügung stehenden Inspirationen und Materialien konzipiert. Der Produzent ist das ausführende Organ und der Konsument der bestenfalls freudig-dankbare Empfänger und Verbraucher des Gutes. Bildlich gesprochen kann dieses Modell auch als menschlicher Organismus aufgefasst werden, wobei der Designer den (er)denkenden Kopf darstellt, der Produzent die den Organismus am Laufen haltenden Organe bildet und der Konsument für den alsbald erwartenden, empfangenden und verbrauchenden Magen steht. Im Hinblick auf die Bekleidungsindustrie kam es allerdings hinsichtlich des Modedesigns kurz vor der Jahrtausendwende zu einem Umdenken, bei dem die soeben beschriebene Hierarchie aufgehoben und der Fokus weg vom Designer als Schaffensgenie auf den nicht mehr nur gelenkt werdenden, sondern selbst mitlenkenden Konsumenten gelegt wurde (Clark 2008: 444). Der Prosumer stellt hierbei eine Steigerung des Konsumenten-Fokus dar, da hier im am stärksten ausgeprägtesten Fall (siehe Abbildung 1) Designer, Produzent und Konsument dieselbe Person sind, weshalb Clark ebenfalls von einer “De-Professionalisierung“ des Designs spricht (Clark 2008: 435). Gleiches könnte aber auch affirmativer als eine Konsumenten-Professionalisierung, also ein Zutrauen des professionellen beziehungsweise entwerfenden Handelns von Konsumenten, ausgedrückt werden. In neutralem Sinne bezeugt der Prosumer ein Ineinanderfließen von Produktion und Konsum.

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie

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Als bemerkenswertes Beispiel aus der Praxis ist hier das Londoner Mode-Label Junky Styling zu nennen, das 1997-2012 von den Designern Annika Sanders und Kerry Seager betrieben wurde. Die Idee von Junky Styling war, dass Kunden ihre möglicherweise einst sehr geschätzten, nun aber ungern getragenen Kleidungsstücke zu den beiden Designerinnen bringen, um dann gemeinsam mit ihnen in ihrem Studio, das aus Transparenzgründen mit großen Schaufenstern auf Laden-Ebene residierte, das Kleidungsstück umzuwandeln, neu und anders zu entwerfen, allerdings ohne in großem Maße Stoffe (und wenn, dann nur die Überbleibsel der Projekte mit anderen Kunden) hinzuzufügen. Mit dem Eintreten des Konsumenten durch die Ladentür wird er hier zum Teil der Produktion, doch wird er nicht mit der unendlichen Fülle an Umgestaltungsmöglichkeiten alleine gelassen, sondern professionell durch die Designer angeleitet, seinem Kleidungsstück ein neues, zweites oder gar drittes Leben einzuhauchen. So erfahren alte Kleider ein Revival durch die Kollaboration von Designer und Konsument, wobei die Grenzen zwischen beiden verschwimmen. Dieses Modell erreichte damals so große Popularität, dass auch Prominente wie Gwen Stefani und Kate Moss Kundinnen von Junky Styling wurden (Clark 2008: 438). Heute ist von diesem auf Nachhaltigkeit angelegten Prosumer-Projekt allein ein Buch mit dem Titel „Junky Styling - Wardrobe Surgery“ übrig, das von den beiden Designerinnen mit Hinweisen und Anregungen zu diversen Umgestaltungsmöglichkeiten für gebrauchte Bekleidung geschrieben und veröffentlicht wurde (Sanders/Seager 2009). Im Fall der Bekleidungsindustrie mag ein weiterer Aspekt eine Rolle dafür spielen, dass sich die Einbeziehung von Kunden in Produktion und Gestaltung einer gewissen Popularität erfreut: Die Branche hat immer wieder mit einem negativen Image zu kämpfen, wenn es zu Katastrophen bei der Fertigung in Billiglohnländern kommt, beispielsweise wie im Fall des Rana Plaza Unglücks 2013, wo beim Einsturz einer Kleiderfabrik in Bangladesch mehr als tausend Näherinnen ums Leben kamen. So könnte die eventuelle Nichteinhaltung von Produktionsstandards im Ausland durch Nutzung der Prosumer-Idee das Image der Branche in den westlichen Industrieländern etwas verbessern. Dies mag zumindest marginal davon ablenken, wie giftig die verwendeten Farben für Mensch und Umwelt sein können, die bei der Herstellung eines Prosumer-individualisierten Paars Sportschuhe neu zusammengestellt werden müssen, oder unter welchen Umständen das selbsterdachte Sprüche-T-Shirt bedruckt wurde. Gemeinhin ignorieren viele Haushalte, unter welchen Bedingungen jenes T-Shirt oder Paar Schuhe hergestellt, bedruckt und wie es zum Prosumer nach Hause gebracht wurde. Die Bewegung der Fashion Revolution, initiiert insbesondere von Orsola de Castro, hat sich zur Aufgabe gemacht, solche definitiv nicht ökologisch nachhaltigen Produktionsumstände aktiv zu bekämpfen (Fashion Revolution Foundation 2019).

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Der Fall des Prosumers i.w.S. liegt vor, wenn Haushalte bestimmte Leistungen zunächst für den Eigenverbrauch erstellen und diese durch die Möglichkeit zur Mehrproduktion zumindest teilweise marktbestimmt verkaufen. Dies ist typischerweise der Fall, wenn Maschinen beziehungsweise Anlagen angeschafft werden, die mehr als den benötigten Eigenbedarf liefern können. In diesem Fall wird der „Prosumer“ eigentlich zum „Producer“, so dass es strenggenommen nicht mehr um Konsum geht und mithin der Begriff „Prosumer“ nicht im engeren Sinne gebraucht wird. Gerade im Bereich der Energieerzeugung kommt dem Prosumer i.w.S. beziehungsweise den sogenannten „Prosumer-Haushalten“ durch Produktion und Einsparung von Energie eine wichtige Rolle zu (Gährs et al. 2016). Es gibt sogar EU-geförderte Projekte, die Prosumer-Haushalte stärken sollen, beispielsweise PROSEU (ICLEI European Secretariat GmbH 2018). Zum Phänomen der Prosumer i.w.S. zählen auch Projekte, bei denen Mieter sich zu energieproduzierenden Genossenschaften zusammenschließen („Mieterstrom“), sofern der überschüssige Strom weiterverkauft wird (Flieger et al. 2018). Ein Bereich außerhalb der Energieerzeugung, in dem Prosumer i.w.S. ebenfalls eine Rolle spielen, betrifft die landwirtschaftliche Eigenproduktion durch Selbstversorger, wenn die produzierten Mengen, die nicht für den Eigenverbrauch benötigt werden, entgeltlich verkauft werden. Dies könnte beispielsweise die Herstellung von Honig, Milch oder Konserven in ländlichen Regionen betreffen, wo sich entlang der Landstraßen immer wieder Verkaufsstände mit Preiszetteln und Büchsen für die Bezahlung finden. Im vorliegenden Beitrag steht der Prosumer i.e.S. im Mittelpunkt der Betrachtung, da der Prosumer i.w.S. funktional der unternehmerischen Tätigkeit zuzurechnen ist. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher auf den Prosumer i.e.S.

2.3

Prosumer und Nachhaltigkeit

Unternehmen betonen gerne, dass durch die Einbindung von Kunden als Prosumer quasi eine langfristig erfolgreiche und damit nachhaltige Bindung des Kunden an das Unternehmen, d.h. eine Umwandlung der Kunden-Produkt-Beziehung von „transitorisch“ zu „dauerhaft“ erreicht werden kann, die laut Clark schon allein dadurch realisiert wird, dass der Kunde das Produkt kennt und wertschätzt. Und wodurch sollte das im stärkeren Maße gegeben sein, als wenn der Kunde in die Entstehung und Fertigung der Ware involviert ist? (Clark 2008: 440). Tatsächlich kann die Einbindung von Kunden aber nicht nur zu einem „Mehr an Nachhaltigkeit“ durch Kundenbindung führen, sondern führt auch zu einer Entlastung bei der Gestaltung von Produkten und damit letztlich zu Kostensenkungen bei Unternehmen:

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie

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Ein Teil der Produktgestaltung wird unentgeltlich auf die Kundenebene ausgelagert, sofern man annimmt, dass der Kunde keinen Preisnachlass im Umfang der von ihm erbrachten Inputs erhält. Dies führt uns zur Bedeutung der Motivation seitens des Konsumenten, als Prosumer zu agieren. Wie bereits angedeutet besteht diese Motivation einerseits oft darin, dass immer mehr Unternehmen das Selbst- beziehungsweise Mitgestalten von Produkten ohne jeglichen Aufpreis anbieten. War es bis vor wenigen Jahren noch so, dass Individualisierung stets einen höheren finanziellen Aufwand bedeutete, etwa bei der Gravur oder farblichen Mitgestaltung von teuren Handtaschen (insbesondere Louis Vuitton gilt hier als klassisches Beispiel), so trifft der Konsument heute auf eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich als Prosumer kostenfrei zu betätigen, wie beispielsweise bei der Entscheidung über die farbliche Zusammensetzung von Turnschuhen der Marke Nike, die inzwischen als Teil des Services des Unternehmens erachtet und als Normalität empfunden wird. Außer der Beteiligung an Design und Fertigung treffen Konsumenten die freiwillige Wahl des Prosumer-Daseins aufgrund eines Sich-Versprechens von höherer Qualität zum kleinsten Preis. In diesem Sinne ist beispielsweise der Kauf eines fertig zusammengestellten und bereits vorgeschnittenen Näh-Sets zu verstehen, aus dem werdende Mütter eine Krabbeldecke für ihren Nachwuchs fertigen, ebenso wie der Konsum hochwertiger Merino-Wolle zum Stricken eines Pullovers. Bedeutet der Erwerb eines hochwertigen Produktes traditionell auch hohe Kosten, d.h. Hochpreisigkeit wird durch Handfertigung gerechtfertigt (als typisches Beispiel im Modesektor gilt hier die Handtasche “Kelly“ der französischen Marke Hèrmes, die darüber hinaus auch jahrelange Wartezeiten mit sich bringt), so sehen Prosumer ihren Einsatz teilweise vom Finanziellen ins Zeitliche verlagert. Dies gilt als Methode, auch mit einem begrenzten Geldbeutel hochwertige und langanhaltende Produkte besitzen zu können. Zudem hat Handgemachtes den Ruf von Authentizität (Clark 2008: 434) und einem besonderen ästhetischen Reiz (Clark 2008: 440). Ist dieses Handgemachte dann gar teils selbst von Hand gefertigt, so steigert sich dadurch sicherlich der Status des finalen Produkts noch um ein Vielfaches (Mikerina 2016: 7). Insbesondere, jedoch nicht nur im Bereich der Mode, gilt die aktive Betätigung als Prosumer außerdem als bewährtes Mittel, seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber den Mandaten und Diktaten der Fashion-Industrie mit ihren Trends zu behaupten, sowie den eigenen so geübten Blick und so gewählten Geschmack im Umgang mit Formen, Farben und Textilien zur Schau zu tragen (siehe Clark 2008: 444).

180

2.4

Hermann Knödler und Swantje Martach

Haushaltsperspektive: Theoretische Erklärungsansätze zur Emergenz des Prosumers

Aus Perspektive der Neurowissenschaften können sowohl die aktive Einbindung in Produktionsprozesse als auch die Partizipation an der Produktgestaltung zu emotionalen Wirkungen beim Konsum führen. Folgende Effekte spielen dabei eine Rolle: Wenn Konsumenten an Produktion und Gestaltung mitwirken, dann besteht (1) eine höhere Deckungsgleichheit zwischen Präferenzen und Produkt durch Individualisierung, denn das Produkt ist mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht nur so wie erwünscht, sondern gar so wie aktiv erdacht. (2) Zweitens wird dadurch das Gefühl hervorgerufen, kreativ und produktiv zu sein (wie etwa bei der oben erwähnten Krabbeldecke, die jedoch bereits vom Unternehmen in farblich kohärenten Sets zum Verkauf angeboten wird). Mikroökonomisch kann man dies als Teil des Nutzens auffassen, quasi eine Art Vorfreude auf ein Gut, in dessen Erstellung man involviert ist – eine Art vorweggenommener Nutzen. (3) Außerdem führt die aktive Mitgestaltung an der Erstellung eines Gutes zu höherer Erfahrungsintensität, d.h. die emotionale Bindung an das Gut fällt tendenziell höher aus als bei einem rein industriell gefertigten Gut. Es ist offensichtlich, dass nicht alle Produkte für die Beteiligung der Haushalte an der Produktion gleichermaßen geeignet sind: 

Je wichtiger Konsumentscheidungen für Haushalte sind, desto eher werden sich Haushalte dazu entschließen, eine Beteiligung an der Fertigung eines Konsumgutes in Erwägung zu ziehen. Diese Wichtigkeit aus Haushaltsperspektive kann unter ökonomischen Aspekten unter anderem am Preis des betreffenden Gutes festgemacht werden: Je größer der Anteil der Ausgaben für ein Produkt am verfügbaren Einkommen eines Haushalts ist, desto größer ist vermutlich die Bereitschaft zur Beteiligung an Fertigungsprozessen. Ausnahmen bestätigen die Regel – so sind beispielsweise Kaffeetassen oder Schlüsselanhänger schon lange personalisiert verfügbar, d.h. bei diesen relativ billigen Produkten gibt es das Phänomen Prosumer schon lange. Auch der Entscheidungs- und insbesondere der Verwendungskontext ist von Bedeutung: Wird beispielsweise ein Schlüsselanhänger für den Geräteschuppen im Garten angeschafft, dann wird vermutlich nur wenig Zeit für Überlegungen zur Gestaltung des Anhängers aufgewandt. Soll derselbe Schlüsselanhänger als Geschenk genutzt werden, dann empfinden Haushalte die Wichtigkeit einer individuellen Gestaltung respektive Beteiligung an der Fertigung als größer. So spielen auch nichtökonomische Aspekte eine Rolle bei der Entscheidung, ob und wie intensiv sich Haushalte an der Fertigung in Form von Produktgestaltung beteiligen.

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie



181

Außerdem spielen Gütereigenschaften eine Rolle für den Umfang der Beteiligung an Fertigungsprozessen durch Haushalte: Festgelegte technische Standards (z.B. Motorenbau), rechtliche Bestimmungen (z.B. Gestaltung eines Autokennzeichens), Gütereigenschaften (z.B. Modellierbarkeit von Material) oder besondere Fähigkeiten als Voraussetzung (z.B. Goldschmiedekenntnisse) engen die Möglichkeiten der Haushalte ein, sich an der Fertigung zu beteiligen.

Das Produkt „Bekleidung“ ist daher ein besonders geeigneter Anwendungsbereich für Prosumer. Auch wenn es hierbei sicherlich Abstufungen gibt (z.B. Kleidung für die Gartenarbeit oder für den Sonntag auf dem Sofa versus Kleidung für die Oper, die Präsentation im Job oder für das Rendezvous), ist Kleidung generell als ein Gut einzustufen, das mehr Menschen mit Bedacht auswählen als etwa Büroartikel oder Kaffeetassen. Der Grund dafür liegt deutlich in der Tatsache, dass Kleidung das Ding ist, (1) mit dem wir Menschen so ausdauernd und kontinuierlich interagieren wie mit keinem anderen Ding, und (2) das wir so nahe bei uns tragen wie kein anderes Konsumgut. Von Kleidung fühlen wir uns körperlich immens betroffen. Tragen wir ein Kleid am Körper, das juckt, zwickt oder buchstäblich die Luft abschnürt, so können wir etwa ein Dinner nicht genießen oder uns nicht auf eine Präsentation konzentrieren. Und fühlen wir uns in einem Kleid nicht wohl, d.h. erachten wir es als unsere Identität nicht adäquat vertretend (so wie wir wahrgenommen werden wollen), werden wir es bald aussortieren. Daher birgt die Bekleidungsindustrie eine Fülle an Potenzialen zur Ausschöpfung unterschiedlicher Spielarten des Prosumers. Die Rolle als Prosumer werden Haushalte also umso eher einnehmen, je wichtiger die Beteiligung an Gestaltung beziehungsweise Fertigung eingeschätzt wird und je geeigneter die Gütereigenschaften hierfür sind. Dieser Sachverhalt wird durch Abbildung 2 illustriert. In den Quadranten I und III werden Haushalte am ehesten die Rolle eines Prosumers beziehungsweise eines Consumers einnehmen. In den Quadranten II und IV hängt die Entscheidung eines Haushalts primär von der jeweiligen Situation ab: So ist beispielsweise denkbar, dass bei hoher Wichtigkeit für ein mitgestaltetes, individualisiertes Gut mehr Aufwand betrieben wird, trotz geringer Produkteignung dennoch mitgestalten zu können (Quadrant II). Umgekehrt kann bei einem weniger wichtigen Gut wegen der hohen Eignung zur Mitgestaltung relativ einfach individuell gestaltet werden (Quadrant IV). Ganz „umsonst“ ist die Beteiligung von Haushalten an Fertigungsprozessen allerdings nicht: Es fallen zwar keine monetären Zahlungen für die geleistete Arbeit (z.B. Gestaltung, Montage) an, doch entstehen für die aufgewendete Zeit zwingend Opportunitätskosten. Aus Sicht eines Haushalts wird dieser zeitliche Einsatz unter der Annahme sinkender Grenzerträge aus mikroökonomischer Perspektive ausgedehnt, bis die Bedingung „Grenznutzen gleich Grenzkosten“ erfüllt ist.

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gering

groß

hoch

IV

I

Produkteignung

Prosumer

II

III

gering

Consumer

Produktwichtigkeit

Abbildung 2: Prosumer, Produkteigenschaften und Produktwichtigkeit

Abbildung 2 illustriert nochmals, weshalb gerade die Bekleidungsindustrie vielfältige Möglichkeiten zur Nutzung des Prosumer-Phänomens aufweist: Kleidung ist für viele Konsumenten relativ wichtig und gleichzeitig relativ gut zur Bearbeitung im Sinne von Mitproduktion beziehungsweise Mitgestaltung geeignet und daher typischerweise in Quadrant I zu verorten.

2.5

Unternehmensperspektive: Theoretische Wirkungen des Prosumers auf den nachhaltigen Unternehmenserfolg

Aus der Perspektive eines Unternehmens tragen Prosumer auf unterschiedliche Weise zum Unternehmenserfolg bei. Hierbei lassen sich zwei große Wirkungsbereiche zusammenfassen:

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie





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Zu den umsatzseitigen Wirkungen rechnen unternehmensspezifische Wettbewerbsvorteile, weil die Einbeziehung von Haushalten als Produktinnovation aufgefasst werden kann. Außerdem können dadurch die Präferenzen von Haushalten effektiver berücksichtigt werden, wenn die Haushalte an der konkreten Produktgestaltung beteiligt werden. Langfristig kann die Einbeziehung von Haushalten zu einer stärkeren Kundenbindung führen. Innovative Produkte und Zielgruppen-Adäquanz hinsichtlich der Präferenzen führen ceteris paribus zu Umsatzsteigerungen. Zu den kostenseitigen Wirkungen rechnet die Entlastung bei der Produktgestaltung beziehungsweise der Fertigung, d.h. anstelle der unternehmenseigenen Leistungserstellung wird ein Teil der Produktion einschließlich der Gestaltung auf die Haushaltsebene ausgelagert, wodurch ceteris paribus der Ressourcenverbrauch des Unternehmens sinkt und damit Kostensenkungen induziert werden. 

Unterstellt man die Marktform der vollkommenen Konkurrenz, dann lässt sich relativ einfach begründen, wie die „optimale Mischung“ aus dem Einsatz unternehmensinterner Kapazitäten und die Nutzung von Konsumentenressourcen gestaltet werden soll: In Anlehnung an ein Zwei-Faktoren-Modell mit substitutionaler Produktionsfunktion ergibt sich die optimale Mischung der beiden Inputs aus dem Tangentialpunkt einer Isokostenlinie und einer Isoquante. Da reale Produktionsprozesse nur in Ausnahmefällen den Annahmen vollkommener Konkurrenz entsprechen, ist in der Realität je nach Produkteigenschaften und Marktbedingungen abzuwägen, wie stark die Haushalte in Fertigungsprozesse eingebunden werden können. Im Ergebnis führen die beiden obengenannten Wirkungsbereiche aus theoretischer Perspektive tendenziell zu höheren Gewinnen und tragen dadurch zur wirtschaftlichen Nachhaltigkeit von Unternehmen bei. Ein gegenläufiger Effekt könnte dadurch bewirkt werden, dass Produkte mit einer hohen Produktionsbeteiligung des Haushalts dazu führen, dass ein auf diese Weise vom Prosumer nachgefragtes Produkt insgesamt länger genutzt und letztlich weniger oft gekauft wird. Dies trägt zur ressourcenorientierten Nachhaltigkeit bei, weil ceteris paribus der Ressourcenverbrauch langfristig im Vergleich zur rein industriellen Fertigung gesenkt wird. Für den Bereich der Mode erstellte Hazel Clark bereits 2008: 434-345) eine Drei-Punkte-Liste zur Steigerung der Nachhaltigkeit für Unternehmen. Interessant ist, dass alle drei von Clark aufgelisteten Aspekte mit dem Prosumer-Phänomen resonieren. Um dies kurz zu erläutern, schreibt Clark als ersten Punkt, dass (1) die Produktion der Ware so nah am Verbraucher wie möglich stattfinden sollte. Dies ist beim Prosumer evident der Fall, wenn zumindest ein Teil der Produktion vom Konsumenten selbst zuhause ausgeführt wird. (2) Zweitens führt eine beidseitige

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Transparenz zwischen Produzent und Konsument laut Clark zu mehr unternehmerischer Nachhaltigkeit. Das bedeutet einerseits ein Offenlegen und Miteinbeziehen des Kunden in Produktionsbedingungen, andererseits jedoch auch ein Kennen, Verstehen und Eingehen auf Kundenpräferenzen vonseiten des Unternehmens. Beides findet wohl seinen Gipfel im oben beschriebenen Fallbeispiel von Junky Styling. (3) Und drittens gilt es laut Clark, sensorisch möglichst ansprechende Produkte zu fertigen. Auch dies ist im Fall des Prosumers zu einer gesteigerten Wahrscheinlichkeit gegeben, da hier Gefallen und Bindung durch Einbeziehung in die Entscheidungsprozesse evoziert werden.

3

3.1

Das Phänomen „Prosumer“ als Externalität im Konsum: Alter Wein in neuen Schläuchen? Klassifikation externer Effekte

Unter externen Effekten werden Wirkungen durch Konsum und Produktion von Gütern auf das Nutzenniveau von Haushalten oder die Produktion anderer Güter verstanden, die in den Marktpreis von Transaktionen nicht eingehen. Solche externen Effekte können entweder positiv oder negativ auf andere Wirtschaftssubjekte wirken. Häufig genannte Beispiele sind der Konsum von Zigaretten, bei dem auch die in der Nähe eines Rauchers befindlichen Personen geschädigt werden, oder die Produktion von Papier in Verbindung mit der Einleitung von Abwässern einer Papierfabrik in einen nahegelegenen Fluss. In den gezahlten Marktpreisen für Zigaretten bzw. Papier werden diese Externalitäten nicht berücksichtigt. Eine Systematisierung externer Effekte kann den Ursprung der Externalität (Produktion oder Konsum) sowie den betroffenen Bereich (Produktion oder Konsum) und die Art der Wirkung (positiv oder negativ) berücksichtigen. Damit gelangt man zunächst zu der in der untenstehenden Abbildung 3 dargestellten Klassifikation der externen Effekte A, B, C und D, die jeweils positiv oder negativ auf die Wohlfahrt anderer Haushalte bzw. auf die Produktion anderer Güter wirken können. Damit ergeben sich insgesamt acht unterschiedliche Typen externer Effekte, die allerdings das Phänomen des Prosumers noch nicht abbilden: Da externe Effekte sich üblicherweise auf Wirtschaftssubjekte beziehen, die nicht unmittelbar an einer konkreten Transaktion beteiligt sind, stellt der Prosumer von daher einen anderen Fall dar. Schließlich geht der Haushalt einen Vertrag mit dem Hersteller eines Gutes ein, in dessen Rahmen die Möglichkeit zur Mitwirkung bei der Leistungserstellung geregelt ist. Es ist also zu prüfen, ob sich die Produzenten-Konsumenten-Relation des

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Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie

Prosumers sinnvoll für ein bestimmtes Produkt in die Systematik externer Effekte einfügen lässt. Hierzu sind die Wirkungen aus dem Konsumbereich in den Produktionsbereich desselben Gutes zu berücksichtigen.

3.2

Einordnung des Prosumers als Externalitäten-Phänomen

Die Einbeziehung von Prosumer-Haushalten in die ökonomische Modellbildung kann mit Hilfe des Konzepts der externen Effekte erfolgen, ohne klassische Marktmodelle und Produktionstheorie vollkommen aus der Ökonomie zu verbannen. Eine Einordnung des Phänomens „Prosumer“ in die Systematik externer Effekte, wie sie aus der Finanzwissenschaft bekannt ist, wird in Abbildung 3 vorgenommen, wobei die Arten der externen Effekte durch die Pfeile dargestellt sind. Nutzen des Haushalts B

A Produktion des Gutes j durch Unternehmen 1

F

Markt für Gut j

B

Produktion des Gutes k durch Unternehmen 2

E

Nutzen des Haushalts C

C Konsum des Gutes j durch Haushalt A

D

Produktion des Gutes i durch Unternehmen 3

Abbildung 3: Einordnung des Prosumers als externer Effekt

Während die in Abbildung 3 dargestellten Externalitäten A, B, C und D die typischerweise untersuchten Fälle externer Effekte darstellen, bei denen die betroffenen Unternehmen beziehungsweise Haushalte nicht Vertragspartei sind, werden die Fälle E und F seltener thematisiert. Im Fall E wirkt eine Externalität des hergestellten Gutes j auf den Konsumenten respektive unmittelbaren Käufer des Gutes j

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(Haushalt A), der das Gut bei Unternehmen 1 erwirbt. Dabei könnte es sich also um den Raucher handeln, dessen Tabakrauch nicht nur die umstehenden Personen tangiert (Fall C), sondern der sich durch den Tabakkonsum auch selbst schädigt (Fall E). Im Fall F wirkt eine Externalität des Konsumenten (Haushalt A) beim Konsum des Gutes j auf den Hersteller des Gutes j zurück. Wenn nun Haushalt A in die Leistungserstellung des Gutes j durch Unternehmen 1 eingebunden ist, liegt der Prosumer-Fall als Externalität vor – allerdings mit der Besonderheit, dass diese Externalität ihre Wirkung zwischen zwei Vertragsparteien entfaltet. Aus wirtschaftstheoretischer Perspektive handelt es sich mit Blick auf den Prosumer nicht um ein völlig neues Phänomen, sondern um einen Spezialfall externer Effekte. Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, die wohlfahrtsökonomischen Optimalbedingungen für den Prosumer-Fall formal herzuleiten. Hingewiesen sei nur auf eine wichtige Implikation: Ohne die Internalisierung externer Effekte liegt kein Wohlfahrtsoptimum vor, d.h. der Prosumer müsste aus wohlfahrtsökonomischer Perspektive für seinen Beitrag zur Leistungserstellung kompensiert werden. Dies könnte durch eine indirekte Vergütung im Rahmen eines Preisnachlasses geschehen oder müsste durch einen Wohlfahrtsgewinn des Haushalts aus der persönlichen Beteiligung an der Leistungserstellung erfolgen. Ein Eingreifen des Staates als Folge eines Marktversagens, wie dies bei Externalitäten in den Fällen A, B, C und D gefordert werden könnte, greift beim Prosumer nicht, da er den entsprechenden Kaufvertrag respektive seinen Beitrag zur Leistungserstellung mit dem Hersteller des Gutes quasi freiwillig vereinbart. In Anlehnung an sogenannte „unreine Kollektivgüter“, die ja die Kollektivgut-Eigenschaften nicht streng erfüllen, könnten die externen Effekte beim Prosumer-Phänomen als „unreine Externalitäten“ bezeichnet werden. Die vorigen Überlegungen verdeutlichen einerseits, dass es sich beim Prosumer prinzipiell – zumindest aus wirtschaftstheoretischer Perspektive – um „alten Wein in neuen Schläuchen“ handelt, wenngleich jener Wein etwas modifiziert wurde. Andererseits erkennt man, dass eventuelle Überprüfungen der Wohlfahrtseffekte des Prosumer-Phänomens aus Abweichungen vom Marktgleichgewicht unter Einbeziehung der Externalität auf erhebliche methodische Probleme stoßen werden, weil Nutzenmessung und Preiskalkulation zu berücksichtigen wären. Würde also der Marktmechanismus in der Bekleidungsindustrie tatsächlich greifen und wohlfahrtstheoretisch zu optimalen Ergebnissen führen, dann müssten (1) Anbieter mit Einbindung von Prosumern zu geringeren Preisen anbieten als Anbieter mit rein industrieller Fertigung oder (2) die Prosumer-Haushalte aus der Beteiligung an der Leistungserstellung einen Wohlfahrtsgewinn erfahren, der ceteris paribus zu höherer Zahlungsbereitschaft respektive Marktpreisen führt.

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Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie

3.3

Nachhaltigkeit durch positive Externalitäten im Konsum

Die vorigen Ausführungen führen zu der Vermutung, dass Unternehmen durch Einbeziehung von Kunden in Form des Prosumers eine höhere Kundenbindung erreichen können (vgl. Abschnitt 2.3), wodurch der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens im Vergleich zu einer Referenzsituation nachhaltiger gesichert beziehungsweise nachhaltiger gesteigert werden kann. Durch eine stärkere Bindung der Haushalte an „Prosumer-Produkte“ (vgl. Typ F in Abbildung 3) wird möglicherweise auch eine Ressourceneinsparung unter ökologischen Aspekten realisiert, da die entsprechenden Produkte länger genutzt werden als klassische Industrieprodukte. Dieser Zusammenhang ist in Abbildung 4 veranschaulicht. Mit Blick auf den Prosumer ist es im Rahmen des vorliegenden Beitrags zweckmäßig, zwischen absoluter und relativer Nachhaltigkeit zu unterscheiden: Da sich der Prosumer nicht primär aus Gründen der Nachhaltigkeit, sondern zwecks Verfolgung seiner Präferenzen bei der Produktion beziehungsweise der Gestaltung eines Gutes einbringt, tritt Nachhaltigkeit als Nebeneffekt auf, d.h. es liegt relative Nachhaltigkeit in dem Sinne vor, dass sich durch Prosumer eine unter Ressourcenaspekten vorzuziehende Situation im Vergleich zur Situation ohne Prosumer einstellt. Diese Definition hat den Vorteil, Nachhaltigkeit nicht durch absolute Zielwerte im Sinne einer absoluten Nachhaltigkeit festlegen zu müssen. Vermutete Nachhaltigkeitswirkung

Betroffene Säule der Nachhaltigkeit

„Ort“ der vermuteten Wirkung

Minderverbrauch an Ressourcen

Ökologische Nachhaltigkeit

Umwelt, Gesamtwirtschaft

Kundenbindung, Kostensenkung, ggf. Umsatzsteigerung

Wirtschaftliche Nachhaltigkeit

Konsumenten, Unternehmen

Peer-Wohlfahrtseffekt durch Berücksichtigung individ. Präferenzen

Soziale Nachhaltigkeit

Bezugsgruppen von Konsumenten

Prosumer

Beteiligung an Produktion und Gestaltung, Emotionalität

Abbildung 4: Wirkung der Prosumer auf die relative Nachhaltigkeit

Unter dem Begriff der Nachhaltigkeit werden in Abbildung 4 drei zentralen Teilaspekte wirtschaftliche, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit des sogenannten Dreisäulenmodells der Nachhaltigkeit berücksichtigt. Die drei Säulen der Nachhaltigkeit sind unter dem Blickwinkel des Prosumers simultan, aber vermutlich nicht in gleichem Ausmaß betroffen. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass die

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bessere Berücksichtigung individueller Präferenzen durch das Phänomen Prosumer in allen drei Wirkungsbereichen der Nachhaltigkeit eine Rolle spielt, in erster Linie aber durch Kundenbindung (wirtschaftliche Nachhaltigkeit) und Minderverbrauch von Ressourcen (ökologische Nachhaltigkeit) wirken dürfte. Während sich die vermuteten Wirkungen der Prosumer auf die ökologische und die wirtschaftliche Nachhaltigkeit relativ einfach beschreiben lassen, scheinen die Wirkungen auf die soziale Nachhaltigkeit eher diffus, was nicht zuletzt an der definitorischen Bandbreite sozialer Nachhaltigkeit liegt: Hierunter werden in der aktuellen Diskussion unter anderem die Bildung von Humankapital im Unternehmen, die Umsetzung von Corporate Social Responsibility, die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Gerechtigkeitsaspekten bis hin zur Schaffung von Ausbildungsplätzen verstanden. Oft lassen sich soziale und ökologische Nachhaltigkeit nur schwer voneinander trennen. Als Beispiele aus der Modebranche können hier die Unternehmen Oxfam Deutschland Shops gGmbH und HUMANA Second Hand Kleidung GmbH genannt werden. Beide haben Ladengeschäfte, in denen man seine abgetragenen Kleidungsstücke abgeben kann. Dort werden sie gewaschen, gebügelt, gegebenenfalls repariert und dann zu günstigen Preisen weiterverkauft. Dies führt einerseits zu geringerem Ressourcenverbrauch, andererseits zum Angebot günstiger Bekleidung und mithin zur Umsetzung sozial nachhaltiger Ziele. Im vorliegenden Kontext lässt sich für den Bereich der sozialen Nachhaltigkeit auch vermuten, dass das Phänomen Prosumer die Möglichkeiten zur Berücksichtigung individueller Präferenzen von Konsumenten beziehungsweise Konsumentengruppen erweitert und dadurch Wohlfahrtseffekte sowohl auf individueller Konsumentenebene als auch auf kollektiver Ebene durch eine breitere Nutzungsbasis (Peer-Wohlfahrtseffekt) entstehen. Für die Modebranche beziehungsweise die Bekleidungsindustrie mag dies eine Rolle spielen, wenn beispielsweise die Kombinierbarkeit eines Kleidungsstücks dadurch erhöht wird, dass innerhalb einer sozialen Bezugsgruppe einzelne Kleidungsstücke leichter weitergegeben respektive weitergenutzt werden können. Für den Bereich der Bekleidungsfertigung stellt das Label “Keep & Share“ der britischen Designerin Amy Twigger Holroyd ein Beispiel dar. Ihr geht es darum, insbesondere Pullover aus so guter Qualität und in so neutralen Formen zu designen, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit weitergereicht werden können, z.B. vom Vater zur Tochter oder zwischen Lebenspartnern (Keep/Share 2014). Insbesondere die ökologische und die soziale Nachhaltigkeit weisen einen starken Bezug zu ethischen Aspekten des Wirtschaftens auf und machen deutlich, dass auch die Frage des Zeithorizonts bei der Beurteilung des Prosumers unter Nachhaltigkeitsaspekten eine wichtige Rolle spielt. Gerade die Analyse wirtschaftsethi-

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie

189

scher Fragestellungen setzt voraus, dass man sich für einen zweckmäßigen Untersuchungszeitraum entscheidet: Soll die mögliche Ressourceneinsparung über den Zeithorizont einer Generation hinausreichen – und wenn ja: Über welchen Zeitraum? Bereits an dieser Stelle wird erkennbar, dass eine quantitative Analyse der Nachhaltigkeitswirkungen des Phänomens Prosumer methodisch eine komplexe Herausforderung darstellt. Für den vorliegenden Beitrag stehen daher qualitative Überlegungen im Mittelpunkt.

3.4

Exkurs: Der Zusammenhang zwischen externen Effekten und ökonomischen Phänomenen

Wenn sich das Phänomen des Prosumers als externer Effekt interpretieren lässt, dann könnte dies auch auf andere ökonomische Phänomene zutreffen, die die Interaktion von Wirtschaftssubjekten berücksichtigen und die ökonomische Diskussion befeuert haben. Diese Überlegungen sind in Abbildung 5 veranschaulicht. Während die Begriffe „Coopetition“ (1990er Jahre), „Prosumer“ (2000er Jahre) und „Sharing Economy“ (2010er Jahre) recht modern anmuten, lässt sich der „Consumer“, dessen Wohlfahrt durch Produktion tangiert wird, eher den klassischen Wirtschaftswissenschaften zurechnen, zumal diese Art der Externalität bereits in den 1920er Jahren thematisiert wurde. Externalitäten-Typ

Ökonomisches Phänomen

„von Produktion auf Konsum“

„Consumer“

„von Konsum auf Produktion“

„Prosumer“

„von Produktion auf Produktion“

„Coopetition“

„von Konsum auf Konsum“

„Sharing Economy“

Abbildung 5: Externalitäten-Typen und Entsprechungen ökonomischer Phänomene

Es scheint also nicht ungewöhnlich, dass sich jüngere ökonomische Begrifflichkeiten auf die Grundlagen der klassischen Wirtschaftswissenschaften zurückführen lassen. Für die Nachhaltigkeitsdebatte sind diese begrifflichen Auffrischungen des altbekannten Externalitätenproblems vermutlich kein Nachteil, zumal sie den Blick für aktuelle Herausforderungen schärfen können.

190

4 4.1

Hermann Knödler und Swantje Martach

Mehr Nachhaltigkeit für Unternehmen durch Prosumer? Methodische Überlegungen zur Prüfung relativer Nachhaltigkeit durch Prosumer

Eine empirische Bestimmung der durch Prosumer induzierten Nachhaltigkeitswirkungen setzt ein Mindestmaß an definitorischer Klarheit bezüglich der einzelnen Ursache-Wirkungsbeziehungen voraus. Da im Folgenden die Perspektive von Unternehmen im Mittelpunkt steht, werden mögliche methodische Ansätze skizziert, mit denen die Wirkung von Prosumern auf die wirtschaftliche Nachhaltigkeit für Unternehmen untersucht werden könnten. 









Konsumentenbefragungen können Hinweise darauf geben, ob die Bindung an das betreffende Unternehmen steigt, wenn Kunden in die Leistungserstellung einbezogen werden. Problematisch dabei ist, dass zukünftige Kaufabsichten zu einem Zeitpunkt erfragt werden, zu dem deren spätere Verhaltenswirksamkeit offenbleibt. Unternehmensbefragungen zur Kundenbindung durch Einbeziehung von Kunden in die Leistungserstellung wären sicher nützlich, weil auf Erfahrungen über längere Zeiträume respektive Geschäftsjahre zurückgegriffen werden könnte. Die Bereitschaft von Unternehmen, solche wertvollen Informationen preiszugeben, dürfte eher gering sein. Konsumentenpanels bieten einen Ansatzpunkt, einen konstanten Berichtskreis über einen längeren Zeitraum zum Konsumverhalten hinsichtlich der Rolle als Prosumer zu befragen. Dadurch könnten die zeitlich gestreckten Wirkungen bezüglich der Kundenbindung besser als bei einmaligen Befragungen erfasst werden. Problematisch könnte bei der Durchführung solcher Erhebungen die Panelsterblichkeit sein. Metastudien sind dann sinnvoll, wenn eine hinreichend große Zahl von Studien zum Thema „Prosumer und Nachhaltigkeit“ für die interessierende Branche verfügbar ist, um die Studien systematisch auszuwerten. Je enger die Fragestellung gefasst wird (z.B. Untersuchung einer einzelnen Branche), desto unwahrscheinlicher ist die Existenz von verwertbaren Studien. Studien zur Kundenbindung außerhalb einer interessierenden Branche liefern Erkenntnisse, die darauf überprüft werden können, ob es Parallelen zur Entstehung von Kundenbindung durch Prosumer in der interessierenden Branche gibt. Damit ergeben sich zumindest Anhaltspunkte dafür, ob mit Auswirkungen von Prosumern auf die wirtschaftliche Nachhaltigkeit zu rechnen ist.

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie

191

Für alle obengenannten methodischen Ansätze kann die Heterogenität der Produkte und der damit verbundenen Produktionsprozesse problematisch sein, denn idealerweise sollten die in Befragungen, Studien etc. erfassten Produkte einen gewissen Grad an Vergleichbarkeit aufweisen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass auf einzelwirtschaftlicher Ebene mit anderen Ergebnissen zur wirtschaftlichen Nachhaltigkeit als auf Ebene einer Branche oder gar der Gesamtwirtschaft zu rechnen ist. Schließlich spielt gerade bei Untersuchungen zur Nachhaltigkeit der Faktor Zeit eine besondere Rolle, d.h. je nach Untersuchungszeitraum können die Wirkungen von Prosumern auf wirtschaftliche Nachhaltigkeit unterschiedlich ausfallen. Dies betrifft die Überlegung, dass Prosumer sich einerseits an ein Unternehmen gebunden fühlen, andererseits die „miterstellten“ Güter vermutlich länger nutzen. Kurzfristig kann es also sein, dass trotz höherer Kundenbindung geringere Stückzahlen abgesetzt werden, mithin also Unternehmensgewinne sinken und dadurch die (einzel-)wirtschaftliche Nachhaltigkeit eher geschwächt wird. Langfristig kann die Einbeziehung von Kunden in die Leistungserstellung aber einen Wettbewerbsvorteil darstellen, der durch Neukunden oder Mehrkonsum der Altkunden zu mehr (einzel-)wirtschaftlicher Nachhaltigkeit führt. Die vorigen Überlegungen zeigen erneut, dass zur empirischen Bestimmung des Beitrags von Prosumern zu wirtschaftlicher Nachhaltigkeit erhebliche methodische Herausforderungen bestehen, die sich auch in der Beschaffung notwendiger Daten niederschlagen würden.

4.2

Empirische Anhaltspunkte für die Bekleidungsindustrie: Der Beitrag der Prosumer zur Nachhaltigkeit

Die im vorigen Abschnitt skizzierten methodischen Herausforderungen treffen auch für den Fall von Prosumern in der Bekleidungsindustrie zu. Hier ist zunächst festzustellen, dass der Einfluss der Bekleidungsindustrie auf die gesamtwirtschaftliche Nachhaltigkeit am Standort Deutschland durch den Beitrag dieser Branche zur inländischen Wertschöpfung begrenzt wird. Für das Berichtsjahr 2016 (Deutschland) betrug die Bruttowertschöpfung zu Faktorkosten in der Bekleidungsindustrie rund 2,2 Milliarden Euro bei einem Bruttoinlandsprodukt in Höhe von rund 3144 Milliarden Euro für Deutschland insgesamt (Statistisches Bundesamt 2018: 331, 522). Mit einem Anteil von unter 0,1% am Bruttoinlandsprodukt kann der gesamtwirtschaftliche Beitrag des ProsumerPhänomens durch die Bekleidungsindustrie vernachlässigt werden – der Beitrag ist auf gesamtwirtschaftlicher Ebene allenfalls als marginal zu bezeichnen. Mit Blick auf die Bekleidungsindustrie als Branche kann der Beitrag zur Nachhaltigkeit durch Prosumer nur dann wirklich spürbar sein, wenn innerhalb der

192

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Branche in einem gewissen Mindestumfang auf die Konsumentenbeteiligung in Form von Prosumern zurückgegriffen wird. Für einzelne Unternehmen wiederum ist der Nachhaltigkeitseffekt durch Prosumer umso größer, je stärker Prosumer in die Leistungserstellung eingebunden werden und je größer die dadurch induzierte Kundenbindung wird. Diese branchenbezogenen beziehungsweise einzelwirtschaftlichen Effekte tragen allerdings nur zur wirtschaftlichen Nachhaltigkeit bei, sofern der Minderumsatz durch längere Nutzung von Bekleidung den Mehrumsatz von Altkunden sowie durch Neukunden nicht dominiert (vgl. Abschnitt 4.1). Für die Branche als solche kann die Neukundengewinnung nur durch Umschichtung der Konsumausgaben oder durch Exporte erfolgen. Die vorigen Ausführungen sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Nachhaltigkeitseffekte durch Prosumer in der Bekleidungsindustrie (0 = kein Effekt zu erwarten; + = geringer positiver Effekt möglich; ++ = positiver Effekt wahrscheinlich) Wirtschaftliche Nachhaltigkeit (Unternehmensperspektive)

Umweltbezogene Nachhaltigkeit (Ressourcenperspektive)

Gesamtwirtschaftlich (Deutschland)

0

0

Branchenebene (Bekleidungsbranche)

+

0

Einzelwirtschaftlich (Einzelunternehmen bei Prosumer-Strategie)

++

+

Damit wird klar, dass mit spürbaren Nachhaltigkeitseffekten durch Einbindung von Haushalten in die Leistungserstellung in der Bekleidungsindustrie wohl allenfalls auf einzelwirtschaftlicher Ebene zu rechnen ist. Wegen der Heterogenität der Bekleidungsindustrie lassen sich die durch Prosumer auf Unternehmensebene zu erwartenden positiven Wirkungen auf die wirtschaftliche Nachhaltigkeit schwer verallgemeinern, denn schließlich reicht das Spektrum der Unternehmen von der industriellen Massenproduktion (Fast Fashion) über die Fertigung hochwertiger Markenware (Prêt-à-porter) bis hin zur Haute Couture. Ein weiterer Aspekt darf nicht unerwähnt bleiben: Wenn einzelne Unternehmen im Sinne von Produkt- beziehungsweise Prozessinnovationen verstärkt auf den Prosumer setzen, lassen sich dadurch sicher individuelle Wettbewerbsvorteile und damit mehr wirtschaftliche Nachhaltigkeit realisieren. Dieser Effekt schwächt sich aber umso mehr ab, je mehr Wettbewerber diese Strategie verfolgen.

Nachhaltigkeit durch Kunden(ein)bindung in der Bekleidungsindustrie

5

193

Fazit

Das Phänomen des Prosumers kann als Spezialfall externer Effekte aufgefasst werden, bei dem der Konsum auf Seiten der Haushalte beziehungsweise Kunden positiv in die Produktionssphäre der Unternehmen hineinwirkt. Für diese spezielle Art externer Effekte kann die Bezeichnung „unreine Externalität“ herangezogen werden, da es sich um Wirkungen im Rahmen von geschlossenen Verträgen zwischen Herstellern und Haushalten handelt. Mögliche Nachhaltigkeitswirkungen des Prosumers ergeben sich für die Bekleidungsindustrie in erster Linie über zwei Transmissionskanäle, nämlich (1) Kundenbindung und (2) Ressourceneinsparung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Diskussion um Nachhaltigkeit auch in der Bekleidungsindustrie von Bedeutung ist, dass aber durch die Einbeziehung von Kunden in die Leistungserstellung und mithin durch den Prosumer kurz- bis mittelfristig nicht mit spürbaren Nachhaltigkeitseffekten auf breiter Front zu rechnen ist. Für die Modebranche als Teil der Bekleidungsindustrie gilt, dass der ProsumerAnsatz insgesamt einen verstärkten Fokus auf die Materialität von Kleidung mit sich bringt, was ihrer bisher immens ausgeprägten Bild-Verhaftetheit, die ihren Niederschlag in erster Linie in Medien wie Zeitschriften, Fernsehen, Postern und Plakaten sowie insbesondere auch Blogs, entgegenwirken (siehe hierzu auch Clark 2008: 444) und somit durch Entzauberung der glamourösen Traumwelt und Bezauberung des materiellen Guts an sich zu mehr Nachhaltigkeit führen kann. Inwieweit sich die vorigen Überlegungen auf andere Wirtschaftszweige übertragen lassen, muss an dieser Stelle offenbleiben. Um unter Wohlfahrtsaspekten ein Optimum zu gewährleisten, gilt branchenübergreifend, dass die in die Leistungserstellung einbezogenen Haushalte für ihren Produktionsbeitrag kompensiert werden müssen, sei es durch geringere Güterpreise oder einen Wohlfahrtsgewinn aus dem subjektiv empfundenen „Mehrwert durch Beteiligung“.

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Hermann Knödler und Swantje Martach

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Global Business Models and the Social Responsibility of Multinational Enterprises: Challenges and Solutions Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert



Introduction ............................................................................................... 195 



Multinational Enterprises and Global Value Creation............................... 197 



The Architecture of Value Creation as Part of Global Business Models .. 201 



Key Partners .............................................................................................. 204  4.1  4.2 



Key Resources ........................................................................................... 207  5.1  5.2 



Challenges ...................................................................................... 205  Solutions ........................................................................................ 206 

Challenges ...................................................................................... 208  Solutions ........................................................................................ 210 

Key Activities............................................................................................ 211  6.1  6.2 

Challenges ...................................................................................... 211  Solutions ........................................................................................ 213 



Discussion and Conclusion ....................................................................... 215 

1

Introduction

Global value creation connects multinational enterprises (MNEs) with a variety of suppliers from developing countries. Despite the fact that these suppliers are mostly legally independent firms, multinational buyers often put extensive pressure on them (Gereffi et al. 2005). Due to the globalized architecture of value creation, as part of MNEs’ business models, dependencies arise bringing about unintended negative effects for suppliers and workers employed with these suppliers (Barrientos © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_10

196

Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert

2013; Scherer/Palazzo 2011, 2007). Bad working conditions and wages below the poverty line are examples for such negative effects, complemented by various other social and environmental challenges. In the recent past, non-governmental organizations (NGOs) and other stakeholders have increasingly demanded for MNEs to take responsibility for such challenges and problematic issues along their global value chains (GVCs) (Seuring/Müller 2008: 1699). Many MNEs have started developing solutions in order to meet these new responsibilities through sustainability management or corporate social responsibility (CSR) measures. This chapter attempts to map out and categorize important types of challenges arising with global business models and point to their matching solutions. Therefore, we aim to answer the following research question: What types of challenges and solutions regarding social responsibility result from MNEs’ global business models? In this chapter, we focus on the social responsibility of MNEs, not denying the severity of environmental issues arising with global business conduct. These social issues often arise not for MNEs’ own employees or their downstream customers, but for workers employed with independent suppliers along MNEs’ upstream GVCs. The literature on business models refers to these upstream GVCs as the ‘architecture of value creation’ (Teece 2010; Osterwalder/Pigneur 2010). The architecture of value creation is a crucial part of business models and constitutes the precondition for marketable products and services (Teece 2010; Kreikebaum et al. 2018). The literature on business models defines the architecture of value creation as consisting of three building blocks: key partners, key resources, and key activities (Kreikebaum et al. 2018; Osterwalder/Pigneur 2010). Together, these three building blocks of business models result in large parts of the costs a firm has to face and thus constitute one important side of the business model (Osterwalder/Pigneur 2010). This chapter focuses on the architecture of value creation as a sub-aspect of business models and examines the social responsibility of MNEs resulting from a globalized architecture of value creation. We map out challenges and solutions, name practical examples, and consider context-specific conditions. While in some industries, such as the automotive or the airline industry, global business models have only marginally led to a detonation of wages and working conditions for workers, in other industries precarious circumstances for workers are everyday reality. In this chapter, we focus on the latter industries, where socalled ‘captive chains’ are common (Gereffi et al. 2005). Captive chains describe circumstances of severe power imbalance between buyers and suppliers along GVCs. Examples include GVCs in the textile, shoe, toys, and electronics industries (Gereffi et al. 2005). In order to deliver a focused and detailed account and illustration of the challenges and solutions arising with MNEs’ global architecture of value creation, we draw on examples from the textile industry, which in the past

Global Business Models and the Social Responsibility of Multinational Enterprises

197

has been subject to an intensive debate on social responsibility of MNEs. Therefore, this particular industry offers a rich variety of practical examples of MNEs facing social challenges and implementing solutions and thus serves as an illustration of our analysis. Our chapter comes with two main contributions: First, we are able to map out the types of challenges and solutions that arise with MNEs’ global business models. We show that the architecture of value creation in captive chains comes with structural challenges that demand initiative by MNEs in order to be solved. That way, we contribute to (social) sustainability management by indicating a categorization of social challenges in global business models and pointing to practical ways of solving them. It is not the objective of this chapter, however, to give a full account of the manifold challenges arising in different contexts of countries and industries. Instead, we aim to illustrate more generally different important types of social challenges and solutions that arise from a globalized architecture of value creation naming practical examples from the textile industry. Second, we contribute to the literature by showing how to better integrate social responsibility in global business models. We indicate that MNEs often rely their global business models on (human) key resources outside their organizations without taking responsibility for these workers. We argue that global business models have to be able to shoulder the social costs they create instead of outsourcing them to suppliers in developing countries. The remainder of this chapter is structured as follows: First, we introduce the term of MNEs and review relevant literature on MNEs and their global value creation. Second, we give an overview of business models in general before we discuss in more detail the architecture of value creation as crucial part of business models. Third, we elaborate on key challenges and solutions for MNEs and their social responsibility resulting from a globalized architecture of value creation, i.e. key partners, key resources, and key activities, drawing on practical examples from the textile industry. We close the chapter with an integrated discussion and conclusion.

2

Multinational Enterprises and Global Value Creation

With the globalization of trade, also corporate structures have globalized, transforming national corporations to MNEs. Today, MNEs represent the driving force of global economy. According to the United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), in 2015, there were 320,000 MNEs in the world (UNCTAD 2016: 134). MNEs control about 70 percent of world trade through their GVCs (OECD et al. 2014). In the literature, MNEs have been referred to under

198

Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert

various different terms, for instance ‘global enterprises’, ‘international enterprises’, or ‘transnational enterprises’ (Bartlett/Ghoshal 1999). In this chapter, we use the term MNE and define those firms as organizations that comprise entities in two or more countries, which are linked through common policies and strategy. While these policies and strategies are determined by one or more decision-making centers, binding the subunits by ownership or otherwise, the legal form, the activity field of the subunits, or the size of the corporation are not relevant for the classification as MNE (Ghoshal/Westney 1993: 4). That way, MNEs are enterprises with the ability to control and manage operations in foreign countries, often without owning these operations (Dicken 2003: 198). Internationalization strategies of MNEs changed over the years (Chandler 1989). While before the world wars, MNEs mostly conducted foreign direct investment (FDI) abroad only in order to exploit natural resources, after world war II, they started establishing own production facilities in foreign countries. Internalization theory, as an important theory from the international business (IB) literature that is grounded in Coase’s (1937) transaction cost theory, states that a firm will only internalize activities, i.e. establish own production facilities abroad, if internal transactions come at lower cost than externalizing the activities (Teece 1981). With advancing globalization, for MNEs in many industries perceived risks and transaction costs of external international activities became lower over time. In the 1960s, MNEs started collaborating with international suppliers and outsourcing parts of their production to low wage countries (‘subcontracting’). Cost motives were the main driver for this type of internationalization (Scherer 2003: 97) enabling profit maximization by picking cheap production locations and shifting risks to independent suppliers (Helpman 1984: 452). Throughout the next decades, internationalization strategies of MNEs became even more complex. Today, many MNEs are involved in several different countries, through ownership and subcontracting, resulting into complex types of organization structures, rather resembling networks than hierarchies. Earlier studies on internationalization assumed that foreign firms had a disadvantage when entering a new market (see Zaheer (1995) on the ‘liability of foreignness’). Today, we assume that MNEs through their size and power rather have a competitive advantage in global competition, outshining most not internationally organized corporations in terms of know-how and economies of scale and scope (Scherer 2003: 96). For this reason, the growing number of MNEs over the last decades was paralleled by concerns to find ways of regulating their impacts on social and environmental issues. This has become especially important as the influence of MNEs stretches beyond the reach of national governments (Nolan 2014). From the different internationalization strategies of MNEs, different architectures of global value creation emerged. Often, the literature has discussed such a

199

Global Business Models and the Social Responsibility of Multinational Enterprises

global architecture of value creation under the names of GVCs or global supply chains. GVCs constitute networks of MNEs and their suppliers, who interactively coordinate global production. Value chains are defined as including all steps of value creation of a product or service (Kaplinsky/Morris 2000: 4) and spanning two or more continents (Sturgeon 2001: 14). In the IB literature, GVCs have been looked at with regards to their institutional and cultural contexts (see, e.g., the CAGE framework by Ghemawat 2001, 2007; Hofstede 1980), the motifs of firms to join GVCs (see, e.g. Hymer 1976), their theoretical background (i.e. internationalization theory) (see, e.g., Bartlett/Ghoshal 1999; Hymer 1976; Teece 1981; Williamson 1975, 2008), and the internationalization strategies of firms (i.e. market entry strategies of how firms join GVCs or timing strategies of when they join GVCs) (see, e.g. Johanson/Vahlne 1977, 2009; Johanson/Wiedersheim‐Paul 1975). Recently, it has been named as one of the great challenges of IB research to “explore the growth, causes, consequences of offshoring and the disaggregation of GVCs” (Buckley et al. 2017: 1048). Based on transaction cost theory (Coase 1937) and the market-hierarchy paradigm from economic theory (Williamson 1975), Gereffi et al. (2005) describe five different types of GVCs: Between the two extreme types of ‘markets’ and ‘hierarchies’, they identify three more hybrid types of GVCs, namely ‘modular chains’, ‘relational chains’, and ‘captive chains’. While for markets only a small amount of resources are shifted from MNEs to their foreign suppliers, for hierarchies international activities are internalized (i.e. market entry mode of FDI). Along this continuum, Gereffi et al. (2005) distinguish between different levels of power asymmetry of buyers and suppliers and explicit coordination executed by the buyer as well as differences in complexity of transaction, ability to codify transactions, and capabilities of suppliers. Figure 1 gives an overview of the five GVC types. Complexity of transaction

Ability to codify transactions

Capabilities in the supply-base

Degree of explicit coordination and power asymmetry

Market

low

high

high

low

Modular chain

high

high

high

Relational chain

high

low

high

Captive chain

high

high

low

Hierarchy

high

low

low

GVC type

high

Five types of GVCs (based on Gereffi et al. 2005 and Dicken 2007: 158)

200

Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert

Whereas in markets and hierarchies GVC governance is mostly coordinated through the mechanisms of the price (market) or legal ownership and power (hierarchy), hybrid types demand more complex and costly governance structures, such as contracts, informal agreements, and trust (Williamson 1975, 1985). The market chain is characterized by mostly transitory relationships; however, some transactions can be repetitive. Costs of switching are low for both parties and power relations are at ‘arms-length’. Hierarchies are vertically integrated organizations within which both buyer and supplier operate. Maximum managerial control is executed from headquarters to subsidiaries through legal ownership (Gereffi et al. 2005: 85). Modular and relational chains are typically characterized by relative power symmetry between buyers and suppliers achieved through standardization of products and processes (modular chain) or close collaboration and trust (relational chain). Modular value chains are chains, where suppliers typically customize their products to certain buyers. In some cases, they provide ‘turn-key services’ and take full product responsibility. In relational value chains, interactions between buyers and suppliers are complex. Long-term relationships are managed by trust and reputation. However, the captive value chain is characterized by large differences in size and power of buyers and suppliers. Typically, smaller suppliers are dependent on much larger buyers facing significant switching costs, monitoring, and control (Gereffi et al. 2005: 84). Other authors also refer to this captive type of value chain as ‘quasi-hierarchies’ (Humphrey/Schmitz 2002: 1023) as they come with all characteristics of a hierarchy except legal ownership, which leads to complicated answers to the question of who is responsible for workers’ well-being. In this chapter, mostly this last type of GVCs, the captive chains, are of interest as they come with the most difficulties when solving concerns of social responsibility. According to the literature on business ethics and CSR, MNEs as powerful actors in such captive industries have a more urgent responsibility for social challenges along their GVCs than in other industries, where power imbalances are not as severe (see, e.g., Scherer/Palazzo 2011, 2007; Young 2004). In captive chains, MNEs are focal actors and structurally connected to issues regarding wages and working conditions. Therefore, they have to take responsibility to develop solutions to these issues. The global textile industry constitutes a typical example of an industry, where captive chains are common (Gereffi/Frederick 2010; Gereffi et al. 2005) and thus serves as an illustration of our analysis.

201

Global Business Models and the Social Responsibility of Multinational Enterprises

3

The Architecture of Value Creation as Part of Global Business Models

In the recent past, scientific literature has increasingly become interested in the subject of business models (Perkmann/Spicer 2010). According to Teece (2010: 179), a business model describes the manner by which an enterprise creates and delivers value, responds to customer needs, pays for their operations, and is able to convert products and services into profit. Business models in their essence tell the story of how a business works, connecting actors through a certain narrative (Magretta 2002). In general, the literature agrees that business models consist of four parts: The value proposition to their customers, these customers’ needs, the financial structure of a business model, and – most important for this chapter – the architecture of value creation (Kreikebaum et al. 2018; Johnson 2010). Innovative business models have disrupted many industries within the last decades (see especially the business model type of the ‘platform’ characteristic for firms like Amazon, Facebook, or Google (Parker et al. 2016)). Against this background, it is surprising that many managers often only have implicit knowledge of their business models (Gilbert 2011). The literature on business models therefore has developed many instruments and methods to analyze and further develop them. One often-applied method to describe and analyze business models is Osterwalder and Pigneur’s (2010) ‘business model canvas’ (see figure 2). The business model canvas provides a structure that enables to depict and analyze a business model in one page. It consists of nine distinct building blocks describing the logic according to which businesses work. Together, these building blocks answer the questions of what value a business model offers to whom and how this value is generated. Key partners

Key activities

Key resources

Cost structure

Value proposition

Customer relationships

Customer segments

Channels

Revenue streams

The architecture of value creation as part of the business model canvas (based on Osterwalder/Pigneur 2010)

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Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert

At the heart of the business model canvas, there is the value proposition of a business model. What value does a business offer their customers? The value proposition refers to the value added by a business from a customer’s perspective (Osterwalder/Pigneur 2010: 22). It does not only refer to the product or service itself being sold, but also to how it is sold and how it contributes to the satisfaction of the customers’ needs or to solving the customers’ problems (Kreikebaum et al. 2018). The value proposition refers to the reason why a customer chooses the offer of one business over the offer of another (Osterwalder/Pigneur 2010: 22). H&M for instance offers their customers the value of affordable fashion that is up-to-date with the newest trends, i.e. ‘fast fashion’. On the right-hand side of the value proposition, the business models canvas answers the questions of to whom the proposed value is offered, i.e. who are the downstream customers of a business model. This part of the canvas is split in three building blocks: customer segments, customer relationships, and channels. A business model serves one or more customer segments. It can be directed towards the mass market, i.e. a large number of customers with similar needs (e.g. for fashion retailers such as C&A, H&M, or Primark), or towards niche markets, i.e. specific customer segments with distinct needs (often in business-to-business (B2B) markets, e.g. for producers of uniforms and service clothing). It can also serve several customer segments at once that differ in their needs (e.g. business and private customers) (Osterwalder/Pigneur 2010: 20). Customer relationships refer to the types of relationships a business enters with their different customer segments. These relationships can for instance be personal (e.g. key account managers in B2B markets) or automatized (e.g. services of many online platforms such as online retailers like Amazon Fashion and Zalando) (Osterwalder/Pigneur 2010: 28). Businesses tend to their customer relationships through different channels. These channels can be own channels (e.g. own stores) or offered through partners (e.g. retailers) (Osterwalder/Pigneur 2010: 27). The left-hand part of the business model canvas is dedicated to the question of how the proposed value is generated, i.e. the architecture of value creation. According to the literature on business models, the architecture of value creation, which details on the upstream GVC of a business model and is of special interest for this chapter, is split in another three building blocks: key partners, key resources, and key activities (Kreikebaum et al. 2018; Osterwalder/Pigneur 2010). Key partners refer to the network surrounding the business model that are crucial for its success. Key partners in the sense of Osterwalder and Pigneur (2010: 38) are other businesses a company has strategic alliances with in order to share risks (e.g. Zara entered the Indian market in a joint venture with their key partner Trent Ltd., a Tata Group company) or suppliers and buyers a company collaborates with along their

Global Business Models and the Social Responsibility of Multinational Enterprises

203

value chain (e.g. Gore-Tex is a key partner for outdoor brands supplying waterproof materials). Key resources are crucial resources a firm relies on in order to fulfill their value proposition. Key resources can be tangible, such as real estate, machines, hardware, or distribution networks (e.g. stores in highly reputable locations for Louis Vuitton); intangible, such as brands, licenses, or patents (e.g. Tommy Hilfiger’s brand); or human, such as highly knowledgeable and connected employees (e.g. sports marketing managers at Nike) (Osterwalder/Pigneur 2010: 35). Businesses combine their key resources into a sustained competitive advantage by applying key activities (in the literature often also referred to as ‘core competencies’, see e.g. Barney 1991; Barney/Hesterly 2006; Prahalad/Hamel 1990). Key activities are the most important activities a firm conducts in order to successfully run their business model, i.e. retain relationships with customers and key partners, reduce costs, and make a profit. According to Osterwalder and Pigneur (2010: 37), key activities are often production related (e.g. economies of scale) or related to problem solving (e.g. creating brand awareness). The two final building blocks of the business model canvas are situated below the value proposition and sum up the financial structure of a business. The financial structure according to Osterwalder and Pigneur (2010) is divided into the revenue streams and the cost structure of a firm. Revenue streams sum up how a business transforms customer relationships, customer segments, and channels into profit. Revenue streams can result e.g. from selling products, membership fees, rental fees, or licenses (Osterwalder/Pigneur 2010: 31). The cost structure of a firm sums up the costs resulting from a business model’s architecture of value creation, i.e. from tending to key activities, combining key resources, and dealing with key partners. These can be variable (e.g. material costs) and fixed costs (e.g. rent for real estate). While some business models rely on minimizing costs (e.g. the retailer ALDI has a so-called ‘low-cost business model’), others have a differentiation strategy (e.g. Hugo Boss or Porsche Design). However, for every business model a balanced financial structure is important (Osterwalder/Pigneur 2010: 40). In the recent past, the literature on business models has experienced expansions in different directions. That way, some authors have stressed the social and environmental responsibilities of firms when detailing the term of the ‘sustainable business model’ (see, e.g. Joyce and Paquin’s (2016) ‘triple layered business model canvas’ or Upward and Jones’s (2016) notion of ‘strongly sustainable business models’). For this chapter, some thoughts from this literature on sustainable business models are interesting with regards to the social responsibility of firms, for instance the fact that business models come with social impacts and benefits for their stakeholders (Joyce/Paquin 2016).

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Other authors have expanded the literature on business models in the direction of the ‘global business model’. Pedersen et al. (2013) conceptualize the global business model as a “flexible, agile, dynamic, sustainable business model that creates, captures, delivers and consumes value, which allows for continuous […] innovation by exploiting and using the entirety of the global network […].” Driven by the limited number of articles at the intersection of the literature on IB and the literature on business models, Rask (2014) details on how both the upstream (i.e. the architecture of value creation) and the downstream (i.e. the customer side) activities of business models are subject to globalization. Globalization of the downstream customer side of the business model leads to new market areas, which are reached through market entry modes such as exports, foreign agents, or sales subsidiaries. Globalization of the downstream architecture of value creation of a business model leads international production through import, contract manufacturing, out-sourcing, or production subsidiaries (Rask 2014: 153). In the following, we will mainly focus on the upstream architecture of value creation of global business models. While we are aware that both up- and downstream sides of business models have been subject to globalization (Rask 2014), most often violations of human rights such as bad working conditions and low wages take place during upstream production and manufacturing of a product. Often, the upstream side of a global business model is stretched out along (captive) GVCs connecting Western MNEs with developing country suppliers. Power imbalances between MNEs and their suppliers and lacking legal regulation in developing countries put MNEs in a position of enhanced social responsibility for problematic issues regarding wages and working conditions for workers employed with their upstream suppliers (Scherer/Palazzo 2007, 2011). Therefore, in the following we focus on the social responsibility of MNEs with a global architecture of value creation. We structure our analysis along the three building blocks of global key partners, key resources, and key activities. In the following, we attempt to map out challenges and solutions; not giving an inclusive account but highlighting important types of challenges and how they can be addressed. As all components of a business model are interrelated (Osterwalder/Pigneur 2010), also the challenges and solutions we point to in this chapter relate to one another.

4

Key Partners

Key partners are organizations a company has relations with that are important to keep their value proposition. Businesses and their key partners share risks and col-

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laborate e.g. horizontally in strategic alliances or vertically along GVCs (Osterwalder/Pigneur 2010: 38). The globalization of business models has led to different challenges regarding key partners. MNEs have reacted to these challenges with a variety of solutions. In the following, we illustrate both.

4.1

Challenges

With an increasing globalization of economy and trade, global business models and GVCs have changed their characteristics. Along captive GVCs, MNEs source more and more globally from a variety of small suppliers not only from other industrial countries, but also from developing economies. The architecture of value creation in captive chains comes with structural challenges. We specify two core challenges, which we label as suppliers in hostage conditions of captive chains and workers’ wages and working conditions as a matter of competition Suppliers in hostage conditions of captive chains: Different internationalization strategies of MNEs have led to different modes of collaboration with suppliers along GVCs and thus also different levels of social responsibility taken for workers’ wages and working conditions. While for GVCs that are characterized as ‘markets’, collaboration and negotiations between buyer and supplier take place on a level playing field, each bearing their own responsibilities, for ‘hierarchies’ MNEs have legal responsibility for wages and working conditions as they own the production facilities abroad (Gereffi et al. 2005). However, as stated above most commonly today’s GVCs in many industries are neither pure markets nor hierarchies, but rather constitute hybrid forms of coordination. MNEs have outsourced their production to independent supplier firms in order to externalize transaction costs, which often results in principle-agent issues (Teece 1981). In many industries, we find conditions of captive chains (Gereffi et al. 2005), where MNEs overpower their suppliers in every dimension but do not have to take legal responsibility for low wages and bad working conditions of their suppliers’ employees. The power imbalance that is characteristic for captive chains leads to suppliers being largely dependent on their multinational buyers. Their situation is characterized by incomplete contracts in favor of the buyer’s will, incomplete information and knowledge sharing between buyer and supplier, and often opportunistic purchasing practices of the buyer (e.g. short order lead terms and price squeezing) – all in all resulting in hostage conditions for suppliers (Bensaou 1999). The textile industry offers an example of an industry, where powerful MNEs rely their production on a large number of small developing country suppliers. For instance, H&M sources globally from about 750 suppliers, which in total operate about 1,500 factories (H&M 2017).

206

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Workers’ wages and working conditions as a matter of competition: In many of such captive chains, wages and working conditions of workers have eroded under pressures of global competition. Governments in attempts to underbid other countries deliberately aim for low legal minimum wages in order to attract foreign investment. For that reason, for example in Mexico, Sierra Leone, and Bangladesh legal minimum wages are on a level below the international poverty line as set by the World Bank (FLA 2016). Many MNEs as global buyers have built their business models based on these cheap labor costs. For instance, Inditex, H&M and Primark have disrupted the fashion industry with their fast-fashion business models. Relying on cheap labor costs, such global buyers have moved from one supplying country to the next, anti-cyclically with economic development, taking advantage of low wages and working conditions in the least developed countries of the world.

4.2

Solutions

Globalization of value creation has led to less and less partnership-like relations along captive GVCs. In response to the above-named challenges regarding key partners, MNEs have taken a variety of measures as solutions to establish more partnership-like GVCs. We propose particularly two solutions to improve the collaboration with key partners in GVCs: sharing risks with suppliers as key partners and collaborating with competitors as new key partners. Sharing risks with suppliers as key partners: In order to address the challenges coming with the architecture of value creation in captive chains, MNEs have taken on modes of value chain coordination, where they share more risks with their key partners instead of outsourcing risks to their suppliers. That way, they are able to improve hostage conditions of suppliers in captive chains. According to Osterwalder and Pigneur (2010), key partners in a business model per definition are those firms a company shares risks with. By sharing a larger part of business risks (e.g. long-term investments), MNEs treat their suppliers more like the key partners they really are. Based on the distinction of GVC types discussed above, this means that MNEs have the opportunity to change the relationships with their key partners and either move from captive chains to (1) hierarchies or (2) relational chains. Turning captive chains into (1) hierarchies, MNEs take on more internalized modes of production, where they go back to sourcing larger parts of their products from their home countries. For instance, Adidas in 2017 has opened the doors of a highly technologized shoe-manufacturing factory close to their Bavarian headquarters in Herzogenaurach, Germany. As part of their hierarchies, MNEs do not only have direct control and influence on their factories, but also take legal responsibility for

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207

wages and working conditions. Turning captive chains into (2) relational chains, some MNEs have taken steps to reduce the number of their suppliers. That way, they are able to establish closer and relational ties with a small number of key suppliers and offer more long-term contracts and order security. For instance, the German retailer Tchibo as part of their ‘Social and Environmental Code of Conduct’ has reduced their supplier portfolio constantly over the last years in favor of more socially responsible conditions for workers and reliable contracts with their suppliers. Having moved in the direction of more relational ties with suppliers, such MNEs are able to share costs for larger investments and build trust with suppliers as value chain partners. Collaborating with competitors as new key partners: In addition to more partnership-like conditions with their suppliers, MNEs with global business models gain entirely new actors as key partners. As part of multi-stakeholder initiatives (MSIs), they engage in dialog not only with NGOs, trade unions, governments, and international organizations, but also with their own competitors in order to address global governance gaps. By collaborating with their competitors, MNEs are better able to meet the challenge of wages and working conditions eroding under pressures of global competition. For instance, within the Bangladesh Accord on Fire and Building Safety (Accord), competitors from the global textile industry, such as H&M and Inditex, collaborate with one another and with local manufacturers and trade unions in order to jointly find solutions for lacking building safety regulation of the Bangladeshi government. After the disaster of the collapse of the Rana Plaza factory building in 2013, where more than 1,100 workers let their lives, a large number of the major players of the industry started teaming up in order to improve the working conditions under which they operate their global business models. As part of the Action Collaboration Transformation (ACT) initiative, competitors from the textile industry collaborate such as Primark, H&M, and Tchibo in order to improve wages of workers in their GVCs by establishing mechanisms of collective bargaining with help of the global union IndustriALL. From the examples it gets clear that by collaborating with their competitors as part of MSIs, MNEs are better able to exclude wages and working conditions from the pressures of global competition. They set voluntary minimum standards for their industry every competitor commits to.

5

Key Resources

Key resources are tangible, intangible, and human resources business model rely on in order to fulfill their value proposition (Osterwalder/Pigneur 2010). Similar to key partners, with an ongoing globalization manifold challenges arise for MNEs

208

Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert

with global key resources, which they meet with a variety of solutions. In the following, we give an overview of the most important challenges and solutions arising with global key resources.

5.1

Challenges

Different internationalization strategies of MNEs lead to different amounts of resources shifted from home to host countries (Teece 1981). For more internalized forms of international production, i.e. when conducting FDI and establishing own production sites abroad, MNEs shift considerable amounts of tangible (e.g. machines), intangible (e.g. know-how), and human (e.g. production managers) key resources to foreign countries. This results in more easily controllable foreign operations and less reputational risks (Kreikebaum et al. 2018: 318). However, as stated above, in the recent years MNEs have increasingly refrained from establishing internalized production sites abroad but have more and more relied on outsourcing their production to independent supplier firms in foreign countries without owning these operations. When outsourcing production to foreign firms instead of conducting FDI, considerably less resources and knowledge are shifted from home to host country and the other way around. This limited exchange of resources along GVCs results in three important challenges: First, tangible key resources are sourced from non-transparent GVCs; second, valuable intangible key resources (such as brands and know-how) are only limitedly exchanged with suppliers; and third, MNEs depend their business models on human key resources outside their own organizations. Tangible key resources sourced from non-transparent GVCs: In many industries, tangible resources such as raw materials and product parts are increasingly sourced globally. Most producing industries are dependent on materials sourced from developing countries. For instance, the fashion industry relies their supply of cotton heavily on countries such as Uzbekistan, India, or Ethiopia. After MNEs significantly increasing the outsourcing of their production processes, many GVCs have become so complex that MNEs often do not know where exactly their raw materials come from. GVCs often resemble highly fragmented and opaque networks of independent actors stretched out over several continents (Henderson et al. 2002; Sturgeon 2001). Exchange of knowledge and information in both directions along these complex networks is challenging and often limited. MNEs at the one end of these GVCs despite being economically powerful actors often cannot trace their resources back to their original source or control their non-transparent production networks. That way, MNEs often cannot rule out that violations of labor regulation and human rights are taking place during production of their tangible key resources.

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Intangible key resources not exchanged with suppliers: Paralleled by the globalization of business models, intangible resources such as brands, patents, and know-how have become increasingly important. When analyzing where in GVCs value is added to the product, it interestingly mostly does not happen during the actual steps of the production process (which often take place with small independent supplier firms from developing countries), but through marketing measures and finishing processes at the very end of the GVC with MNEs (Kaplinsky/Morris 2000). For instance, in the fashion industry the largest part of the margin for selling a t-shirt sticks with brands and retailers such as H&M or Nike, who generally do not own their production sites (Gereffi 1999). This leads to the conclusion that in terms of adding value to the product, brands and know-how are key resources. These most precious and value-adding intangible resources, MNEs do not pass on to their suppliers in developing countries. That way, the suppliers only get a small share of the margin of selling finished products and never obtain the know-how for applying finishing processes to their raw materials themselves. MNEs monopolistically keeping valuable intangible resources from their value chain partners hinders supplying countries from development and poses another key challenge arising with global business models. Human key resources outside own organization: Many global business models of MNEs are dependent on human resources, who are not part of MNEs’ own organizations. Often, these human resources are not internalized in order to reduce transaction costs (Coase 1937). In many industries, MNEs have established lowcost business models through relying on outsourced manual labor. This cheap manual labor is crucial to maintaining these MNEs’ value propositions and can thus be defined as key resource. For instance, international retail chains such as Aldi, Lidl, Walmart, and Carrefour source their textile products worldwide from a large variety of suppliers. In order to squeeze prices, the retailers put systemic pressure on their suppliers from developing countries such as Bangladesh, Cambodia, or Ethiopia. Given their size, they source large quantities of seasonal products, encouraging their suppliers to outbid one another, heavily relying their business models on cheap labor costs of workers employed with these suppliers. For MNEs such as the above-named companies, in order to keep their market positions as cost leaders, cheap labor in their GVCs is a key resource. However, they do not have any legal responsibility or control of the human resources they base their low-cost business models on as they do not legally own or control their producing operations. As cheap labor naturally comes with chances for wages below a living wage level and violations of other labor regulation, these conditions pose a considerable challenge coming with global business models. In the past, NGOs like the Clean Clothes Campaign (CCC) pointed out such flawed labor conditions to the public.

210

5.2

Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert

Solutions

MNEs source tangible key resources from non-transparent value chains, monopolistically keep highly valuable intangible key resources such as brands and knowhow from their suppliers and rely their global business models on human key resources and cheap labor they have no legal responsibility for. In order to address these challenges, MNEs have found a variety of solutions, which we label as certified tangible key resources, exchange of intangible key resources with suppliers to build capacities, and voluntary commitment to human key resources in GVCs. Certified tangible key resources: Concerning tangible key resources that are sourced from non-transparent GVCs, where the original sources of raw materials and components are hard to trace for MNEs, one solution many MNEs have implemented is certification. For instance, the Fair-Trade certification for raw products such as cotton offers a guarantee for global buyers that farmers planting and harvesting the crops get a fair share of the overall GVC’s margin and obtain at least a living income securing survival and development for them and their families. MNEs such as the UK clothing brand Asos or the sustainable fashion brand Armed Angels rely part of their raw materials on Fairtrade certified plantations. Exchange of intangible key resources with suppliers to build capacities: MNEs often do not share their most valuable intangible resources, such as brands and know-how, with their suppliers. A solution to this challenge some MNEs have taken on to is to collaborate with a smaller number of key suppliers (as suggested above) and foster their capacities and capabilities through trainings and exchanging knowledge. With more internalized production processes and closer collaboration, such exchange of knowledge along GVCs is beneficial for both MNEs as global buyers and developing country suppliers. Collaboratively, buyers and suppliers can obtain a higher quality of products and services and more smooth and efficient processes along value chains. They can foster innovation and technological improvement. Developing supplier capabilities offers a promising way to increase workers’ wages and boost developing country economies (Locke et al. 2007). A successful example for such collaborative thinking are trainings conducted by the British consultancy Impactt. Impactt offers workshops improving productivity in factories supplying to clothing brands like Burberry, Decathlon, and Gap Inc. In the past, these trainings have yielded pay increases for workers up to 45% (Miller/ Williams, 2009: 111). Voluntary commitment to human key resources in GVCs: Many MNEs rely their low-cost business models on cheap labor delivered by human resources, who are not legally part of their organizations. In order to meet this challenge and take social responsibility for wages and working conditions of human resources along

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their GVCs, many MNEs have established standards they voluntarily comply with in order to actively commit themselves to better wages and working conditions for workers in their GVCs. Such standards can be individual solutions or industry spanning initiatives. A common individually set voluntary standard is a supplier code of conduct, where certain wage levels, e.g. the legal minimum wage or a living wage threshold, and working conditions are set as thresholds and preconditions for collaboration. For example, in the code of conduct established by Tchibo, the firm defines legal compliance, compliance with human rights, and environmental protection as preconditions for collaboration. As part of MSIs, MNEs jointly with competitors have developed overall industry standards. For instance, members of the Fair Wear Foundation (FWF) agree to pay a living wage to workers in their GVCs, guarantee freedom of association and non-discrimination. MNEs such as the outdoor brands Vaude and Schöffel and sustainable fashion brand Hessnatur are members of the FWF and comply with this ambitious industry standard.

6

Key Activities

Key activities are those activities a company engages in that are crucial to keep up their business model’s value proposition (Osterwalder/Pigneur 2010). Through the globalization of business models, challenges arise for MNEs, which also concern their key activities. Some of MNEs’ traditional key activities such as their purchasing activities pose new challenges for the firms when practiced on a global scale. In addition, global key partners and key resources lead to challenges, which demand MNEs to conduct entirely new key activities in order to find practical solutions to these challenges. In the following, we elaborate on the most relevant traditional key activities, which pose challenges when conducted on a global scale, and new key activities, which offer potential solutions to the challenges arising with global business models.

6.1

Challenges

Some of MNEs’ traditional key activities lead to challenges when combined with a globalized architecture of value creation, especially in captive chains. We specify two challenges, which we label as inadequate purchasing practices and taking advantage of governance gaps. Inadequate purchasing practices: Combining their key resources, MNEs conduct a set of key activities. In global business models, amongst the most important key activities are those relating to how MNEs interact with their GVC partners.

212

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Concerning these key activities, one challenge lies with the oftentimes inadequate purchasing practices of MNEs as global buyers. Commonly, in many industries MNEs do not align order lead times and quantities to small developing country suppliers’ capacities. Instead, MNEs’ global business models are “driven by unfair buying practice trends toward tough lead times and squeezing prices” (Jiang 2009: 88). Aiming for cost leadership (but also for brands aiming for differentiation that source through captive chains), MNEs such as the above-named retail chains, Primark, or H&M solely steer their GVCs by targeting the lowest unit price, without considering their suppliers’ capacities or fixed costs as part of their calculation. At the other end of GVCs, under pressure from their MNE counterparts, suppliers tend to pass on the strain to their employees. This typically results in overtime and declining wages of workers in developing countries, i.e. overall downgrading of their working conditions (Barrientos et al. 2011). As a global study by the International Labor Organization (ILO) (2017) found, out of 1,454 surveyed suppliers 39% were taking on orders below their regular production costs (including materials and wages) due to flawed and often unfair purchasing practices of their buyers. That way, MNEs’ lacking intelligence and knowledge of their suppliers’ capacities and capabilities endangers labor conditions of workers in their GVCs. Regularly, these flawed purchasing practices are embedded in a broader picture of flawed overall cost calculation. Instead of calculating total product cost including variable production cost and overall fixed cost, purchasing departments often only take into account unit prices. For instance, retail and marketing cost are not included in calculations. For example, when considering the costs composing the end price of a t-shirt, only 12% account for material costs and 0.6% for labor costs in production in developing countries (variable costs), while 59% are retail costs and another 12% are marketing costs (often fixed costs) and margin of the brand (FWF 2012). Steering their GVCs concerning the sole performance indicator of the lowest unit price, MNEs put suppliers’ labor and material costs under pressure. Considering a more holistic picture of the overall costs of a product, especially labor costs only making up for 0.6% of overall costs, it can be assumed that low cost business models might also be obtained by efficiently steering other costs, such as marketing and retail costs, absorbing higher labor costs enabling suppliers to offer decent wages and working conditions. According to the CCC, one year of H&M’s annual advertising budget would pay a living wage to Cambodian workers for 6.5 years (CCC 2017a). Taking advantage of governance gaps: Squeezing prices and taking advantage of power imbalances in captive chains, MNEs as global buyers often rely their business models on governance gaps in developing countries. In many of these devel-

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213

oping countries, legal regulation, execution of this regulation, social security for workers, and infrastructure leave immense governance gaps (Scherer/ Palazzo 2007, 2011). For instance, in the Bangladeshi garment industry, NGOs criticize that legal minimum wages have been in a downward spiral for decades and workers are faced with often abysmal working conditions regarding not only their health and safety but also discrimination, freedom of association, and collective bargaining (CCC 2017b). When moving their production from one country to the next, whenever labor costs rise, MNEs do not only take advantage of such governance gaps, but even rely their low-cost business models on such gaps. That way, they discourage governments from improving living conditions for their population in fear of a decrease in foreign investment. Reasoned in the fact that MNEs in captive chains rely their business models on regulatory gaps, we define ‘taking advantage of governance gaps’ as another challenging key activity of MNEs with a (captive) global architecture of value creation.

6.2

Solutions

Global business models result in challenges regarding traditional key activities of MNEs. We find that in order to cope with the challenges, MNEs are engaging in entirely new key activities that are of rising importance in the context of global value creation. In this part of the chapter, we name two of these new key activities, which we refer to as managing relations with value chain partners and other stakeholders and self-regulation. Managing relations as a key activity refers to MNEs conducting good cooperation management with value chain partners and with stakeholders in general. Managing relations with value chain partners: Instead of limiting their interaction with suppliers to purchasing processes, which are not aligned to supplier capabilities, managing relations as a key activity involves a more holistic picture of buyer-supplier relations. Rather than steering GVCs along the sole target of reducing unit prices, in the recent past, many MNEs have found that consideration of fixed costs in addition to trust and long-term partnership with their suppliers can lead to inter-organizational competitive advantage (Dyer/Singh 1998). In the business ethics literature, there has been a growing consensus that, contrary to simply dictating prices and standards, MNEs as global buyers have a social responsibility to enter more developmental modes of collaboration with their GVC partners through dialog and negotiation on a level playing field, i.e. supplier capacity building (Locke et al. 2009). Through offering long-term contracts, investment and knowledge sharing, aligning purchasing practices to their suppliers’ capabilities

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and offering trainings in order to enhance capabilities, unequal power relations of captive chains outbalance. A practical example is H&M, who in 2014 set themselves the goal to improve paid wages at 550 suppliers through long-term strategic partnership and improved purchasing practices. Managing relations with other stakeholders: Instead of taking advantage of governance gaps, many MNEs have started ‘managing relations’ also with other stakeholders than suppliers in order to address governance gaps in their producing host countries. As mentioned above, in global business models MNEs’ key partners have changed their characteristics. Facing global governance gaps, key suppliers and competitors often become MNEs’ partners in MSIs. In addition, as members of MSIs, also other external stakeholders such as NGOs, trade unions, governments, and international organizations have become important non-business partners of MNEs. The business ethics literature has elaborated on the responsibility of MNEs to engage in deliberation with these stakeholders (see, e.g., Scherer et al. 2007; Scherer/Palazzo 2011; Gilbert/Rasche 2007). Deliberation is “a process through which participants address their conflicts, share information, exchange arguments and make decisions” (Palazzo/Scherer 2006: 80). It consists of “debate and discussion aimed at producing reasonable, well-informed opinions in which participants are willing to revise preferences in light of discussion, new information, and claims made by fellow participants” (Chambers 2003: 309). Through deliberation, MNEs manage their relations with these stakeholders. They learn their expectations and jointly develop solutions to deliberately address governance gaps. A practical example for such deliberation is the sports brand Puma and their “talks at Banz”. Ever since 2013, Puma managers hold yearly meetings with stakeholders like consumers, suppliers, universities, and NGOs. From these dialogs they develop new ideas and measures to close governance gaps along their GVCs (BaumannPauly et al. 2016). Self-regulation: Another key activity MNEs are increasingly engaging in when facing global challenges and governance gaps is self-regulation. Self-regulation refers to businesses setting themselves voluntary standards and complying with softlaw regulation in response to lacking regulation by the traditionally responsible local and national governments (Scherer/Palazzo 2007, 2011; Scherer et al. 2016). As mentioned above, confronted with global governance gaps MNEs increasingly have engaged in developing individual standards, such as Tchibo’s supplier code of conduct, the industry standards on wages and working conditions of the Accord or the FWF. Additionally, MNEs voluntarily comply with international soft-law regulation as provided by the United Nations Guiding Principles on Business and Human Rights or the Organization for Economic Cooperation and Development’s

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215

(OECD) Guidelines for MNEs. In order to address governance gaps in developing countries instead of taking advantage of them, self-regulation has become a key activity of MNEs with global business models.

7

Discussion and Conclusion

It gets clear that global business models, and in particular the global architecture of value creation as part of global business models, confront MNEs with a number of new challenges. Especially in captive chains, many of these challenges are social issues, leaving MNEs with new responsibilities. In response to these challenges, many MNEs have developed a variety of solutions. Figure 3 gives an overview of the discussed challenges and solutions arising with MNEs’ global architecture of value creation. Challenges

Key partners

Key resources

Key activities

Suppliers in hostage conditions of captive chains

Solutions Sharing risks with suppliers as key partners

Workers’ wages and working Collaborating with competitors as conditions as a matter of competition new key partners Tangible key resources sourced from non-transparent GVCs

Certified tangible key resources

Intangible key resources not exchanged with suppliers

Exchange of intangible key resources with suppliers to build capacities

Human key resources outside own organization

Voluntary commitment to human key resources in GVCs

Inadequate purchasing practices

Managing relations with - value chain partners - stakeholders

Taking advantage of governance gaps

Self-regulation

Challenges and solutions arising with MNEs' global architecture of value creation in captive chains

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Stephanie Schrage and Dirk Ulrich Gilbert

In this chapter, we mapped out relevant challenges and solutions arising with global key partners, key resources, and key activities. We indicate that structural issues in the architecture of value creation in captive chains such as power imbalances and lacking supplier competence lead to eroding wages and working conditions along GVCs. It was not the objective of this chapter to give a full account of all challenges and solutions in different contexts of countries and industries. Instead, we aimed to illustrate more generally what types of social challenges emerge for MNEs when engaging in global business models and how MNEs solve them in practice. Tying our analysis back to Osterwalder and Pigneur’s (2010) business model canvas, we are now able to critically evaluate the canvas as a tool for analyzing global business models. Based on our findings, we want to emphasize three points: First, we see that the canvas is a helpful tool to show that the different building blocks of a business model are interrelated. Many of the challenges and solutions we name for the different building blocks are entangled. For instance, while we define suppliers as key partners, we view the workers employed with suppliers as key human resources. Our analysis also shows that certain value propositions, such as the value proposition of delivering fast and affordable fashion, lead to an architecture of value creation that poses risks for wages and working conditions of workers in GVCs. Yet, as captive chains also exist for brands that position themselves as differentiators, we do not mean to indicate that only cost leadership strategies lead to such challenges. Second, we can criticize the business model canvas concerning its lacking normative assumptions. Osterwalder and Pigneur (2010) in line with the general stance of the literature on business models do not make any underlying assumptions on the social responsibility of firms. For instance, when defining ‘key partners’ they simply presuppose a partnership-like relationship between organizations. As we can see from the literature on different types of GVCs (Gereffi et al. 2005), however, such relations are not always partnership-like and come with significant challenges, especially in captive chains. We propose that MNEs have a social responsibility to engage in key activities that help to change the conditions of captive chains into other types of GVCs, i.e. hierarchies or relational chains. We make the normative assumption that business models have to be able to shoulder the (social) costs they create themselves, instead of outsourcing them to ‘partners’. Third, when specifying the business model canvas for global business models, our analysis shows that on a global scale MNEs often rely their business models on key resources outside their own organizations, such as cheap labor. This is curious as it not in line with Osterwalder and Pigneur’s (2010) definition of key resources and indicates that MNEs have taken outsourcing too far when externalizing control of resources, they rely their business models on. It thus

Global Business Models and the Social Responsibility of Multinational Enterprises

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confronts MNEs with social challenges when facing NGO demands to take responsibility for working conditions of workers, who are not legally part of their organizations but crucially contribute to their value proposition. Against this background, our chapter provides some valuable insights for sustainability management, indicating challenges arising with the globalization of business models and showing how sustainability management can cope with them.

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Prinzipienorientierte Einbettung als Beitrag der Unternehmen zu nachhaltigem und inklusivem Wachstum Isabelle Schluep



Einführung................................................................................................. 223 



Einbettung: Eine neue (alte) Idee .............................................................. 227  2.1  2.2 



Was ist eine „prinzipienorientierte“ Einbettung? ........................... 227  Eine kurze Entstehungsgeschichte der Einbettung ......................... 228 

Bedeutung von Auslandsinvestitionen für Entwicklungsländer ................ 230  3.1  3.2 

Auslandinvestitionen und Einbettung von Unternehmen sind unabdingbar für nachhaltiges und inklusives Wachstum ............... 230  MNU sind unter Druck .................................................................. 231 



Was haben CSR und CSV mit Einbettung zu tun? .................................... 232 



Messung der Einbettung in Feldstudien .................................................... 236  5.1  5.2  5.3  5.4 

Methoden-Mix-Ansatz ................................................................... 236  Einbettungsdimensionen ................................................................ 238  Firmenbeispiel: Nestlé Philippinen ................................................ 240  Firmenbeispiel: Nestlé Indonesien ................................................. 243 



Schlussbemerkungen ................................................................................. 243 

1

Einführung

Multinationale Unternehmen (MNU) sind exponiert. Regelmäßig sorgen sie für Schlagzeilen und werden zu Recht oder zu Unrecht für die Übel in dieser Welt – wie Kinderarbeit, Umweltverschmutzung, Verletzung der Menschenrechte – verantwortlich gemacht. Dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass Unternehmen nur auf den Profit für die Firma und dessen Besitzer (z. B. Aktionäre) aus sind, und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_11

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Isabelle Schluep

dies auf Kosten der Umwelt und der Menschenrechte. Den Motiven der Firmen, die in Entwicklungsländern investieren, wird daher misstraut (Aerni 2017). Globalisierungskritiker spielen zudem das identitätsstiftende Nationale oder Lokale gegen das identitätsgefährdende Globale, also die weltweit tätigen MNU, aus (Aerni 2018). Die pauschale Verurteilung der MNU ist ein jahrzehntealtes weltweites Phänomen (Yavas et al. 1984). Unternehmen, die gegenüber der Gesellschaft und der Umwelt skrupellos agieren, müssen aber im Zeitalter des Internets und sozialer Medien mit einem erheblichen Reputationsschaden rechnen (Schluep 2017). MNU hingegen, die im Ausland langfristig investieren und aus Eigeninteresse am Wohlergehen der lokalen Bevölkerung und einer intakten Umwelt interessiert sind, schaffen es aber praktisch nie in die Schlagzeilen. Dass das Misstrauen gegenüber MNU nicht abnimmt, wenn sie in Entwicklungsländern tatsächlich eine positive Wirkung in der Armutsreduktion erzielen, hängt mit dem „Silodenken“ an vielen Universitäten zusammen, die kaum noch interdisziplinäre und praxisorientierte Feldforschung unterstützen. Ausserdem ist es auch für Journalisten einfacher, Informationen zu MNU und deren Wirkung in Entwicklungsländern über Nichtregierungsorganisationen (NGO) einzuholen, die eine andere Perspektive einnehmen, als Betroffene vor Ort. Stattdessen erhofft man sich von der Regulierung der Unternehmen mehr Moral (Schluep 2017). Eine „Wächtermoral“ (der Begriff wurde von Jacobs (1994) geprägt), die streng auf die Erfüllung von Werten, Normen, und Regeln achtet, soll „die treibenden Kräfte des Wandels in Schach halten und diejenigen, die sich nicht daran halten, sollen entsprechend bestraft werden“ (Aerni 2015: 27). „Dadurch wird die in der Privatwirtschaft bestehende risikofreudige Unternehmermoral“ oder „Händlermoral“, die sich durch gegenseitige Wertschätzung, Offenheit, Toleranz, Kompromissbereitschaft, Zuverlässigkeit, und dem Willen zur Selbstverbesserung auszeichnet (Tilly 1995), durch eine risikoaverse Wächtermoral ersetzt, die sich vermehrt auf die Verwaltung des Erreichten und weniger auf Schaffung von Neuem konzentriert (Aerni 2015). Dies ist problematisch, denn nur der tugendhafte Unternehmer, der im Wandel die notwendige Chance der Erneuerung durch Handel und Innovation sieht, trägt langfristig zur Lösung der Nachhaltigkeitsprobleme bei (Aerni 2016). Dass langfristiges Profitstreben und moralische Verantwortung miteinander im Einklang stehen können, erkannten bereits die Humanisten im 15. Jahrhundert und die Philosophen und Soziologen der Aufklärung (Hirschman 1992). Unternehmermoral ist jedoch wenig fassbar und nicht normativ, und wird deshalb oft ignoriert (Schluep 2017). Die Äußerung des Bankiers David Rockefeller bringt es auf den Punkt: „A moral foundation is imperative in a free society that affords each individual the latitude for independent thought and action. Without ethical values a free society would become a jungle…Ethical principles

Prinzipienorientierte Einbettung

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are the glue that holds a business system of free enterprise together. Business runs on mutual trust and confidence that others will live up to their word. The marketplace which is the heart of a human society, could not exist without it” (Field 1984: 686).

Seinerzeit wurde er dafür belächelt, unter anderem auch vom späteren (1992) Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker. Paul Romer, der Wirtschaftsnobelpreisträger von 2018, rehabilitierte die Rolle der Unternehmer in der Ökonomen-Zunft wie vor ihm schon Joseph Schumpeter. Letzterer wies nicht nur auf die positiven externen Effekte von Unternehmen hin, sondern auch auf die moralischen Seiten des Unternehmers (z. B. verantwortungsvoll) (Schumpeter 1942). Romer konnte theoretisch beweisen, dass Unternehmer essenziell zur Lösung von Knappheitsproblemen beitragen, indem sie die nicht-knappe und nicht-rivalisierende Ressource „Wissen“ nutzen, um Innovationen zu generieren, die es erlauben, mit weniger Ressourcen mehr und nachhaltiger zu produzieren (Romer 1994). Erst dieses Zusammenspiel ermöglicht den nachhaltigen Wandel und bringt Lösungen für Nachhaltigkeitsprobleme (Aerni 2018). Romer (1994) konnte aufzeigen, dass die aus der Innovation entstehenden neuen Produkte nach Deckung der Fixkosten nicht nur Profite für die Firma abwerfen können, sondern Wohlfahrtseffekte für die ganze Gesellschaft generieren. Das gilt auch für die Auslandsinvestitionen von MNU, die neuen Märkte in Entwicklungsländer schaffen, die eine der wichtigsten Quellen für neue wirtschaftliche Aktivitäten darstellen (Romer 1994). Die Erkenntnisse von Romer (1994) sind noch nicht Mainstream. Dies zeigt sich auch bei den 2015 von den vereinten Nationen verabschiedeten 17 Nachhaltigkeitszielen (Sustainability Development Goals, SDG). Die SDG sollen von allen Mitgliedstaaten global umgesetzt werden und dabei Wohlstand für alle schaffen, eine friedfertige Gesellschaft hervorbringen und Sorge tragen zu den natürlichen Ressourcen und zum Klima. Bei der Umsetzung der Ziele müsste dem Unternehmertum eine zentrale Rolle zukommen. Das Wort Unternehmertum kommt jedoch gerade mal an zwei Stellen vor: Im Unterziel 4.4 in Zusammenhang mit Berufsbildung und im Unterziel 8.3 in Bezug auf Innovation, Formalisierung und Wachstum von Unternehmen und Zugang zu Finanzdienstleistungen. Aerni (2015) führt dies darauf zurück, dass viele Regierungen und Organisationen in der Zivilgesellschaft den Privatsektor als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung sehen. Sie glauben, dass die Profite per se ohne soziale Verantwortung erwirtschaftet werden. Im Ziel 17 „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“ der SDG sind Unternehmen implizit inkludiert. Im Fortschrittsbericht 2018 der Vereinten Nationen wird Unternehmertum im Nachwort im Zusammenhang mit Städtebau und Migration erwähnt, unter den Zielen 4 und 8 jedoch gar nicht. Unter Ziel 12 „Für nachhaltige

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Isabelle Schluep

Konsum- und Produktionsmuster sorgen“ wird auf die „Umgestaltung der unternehmerischen Praxis entlang globaler Wertschöpfungsketten“ hingewiesen, die es brauche für einen nachhaltigeren Konsum, sowie Nachhaltigkeitsberichte, gerade auch von kleineren Firmen. Methodisch müsste einiges getan werden, um die unternehmerische Nachhaltigkeit mit vergleichbaren und verlässlichen Indikatoren zu erfassen. Dies verdeutlicht, dass auch im Jahr 2018 das Profitstreben der privaten Unternehmen bei den Vereinten Nationen nach wie vor als etwas Amoralisches angesehen wird, das es beispielsweise durch einen Nachhaltigkeitsbericht zu kompensieren gilt, der die sozialen und ökologischen Zusatzleistungen der Unternehmen herausstreicht (Aerni 2015). Veränderungen, die es gerade auch in Entwicklungsländern brauchen würde, um nachhaltiges und inklusives Wachstum zu fördern, können aber weder über Entwicklungshilfe noch über Subventionen erreicht werden. Das können nur Unternehmer leisten. Mit der wirtschaftlichen Ermächtigung tragen diese auch zur politischen Emanzipation bei (Aerni 2015). Zu dieser Einsicht bekannten sich 2005 alle OECD Staaten in der Paris-Deklaration über die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit (Paris Declaration on Aid Effectiveness) (Aerni 2015). Dabei sollen die Bedürfnisse und Prioritäten der Entwicklungsländer (Empfänger) und nicht die der Geberländer im Fokus stehen. Bis heute ist dieses Bekenntnis jedoch noch nicht in der Realität angekommen. Dieses Kapitel stellt die pauschal gegen MNU gerichtete Kritik in Frage. Es zeigt die Leistungen der MNU auf, insbesondere in Zusammenhang mit Auslandinvestitionen in Entwicklungsländern, und welche Rolle die Einbettung der MNU in die lokale Wirtschaft spielt. Dabei baut der interdisziplinäre Ansatz der „prinzipienorientierten“ Einbettung (embeddedness) auf Erkenntnissen der Wirtschaftssoziologie und der Wirtschaftsforschung auf (Aerni 2018). Er zeigt, wie MNU die sich zur lokalen Einbettung bekennen, unter bestimmten institutionellen Rahmenbedingungen langfristig für die Regionen, wo sie tätig sind, eher eine Chance als ein Risiko für nachhaltiges und inklusives Wachstum darstellen (Aerni 2018). Denn, Unternehmen, die sich nicht an die lokale Wirtschaft ankoppeln, sondern als „Offshore“-Inseln agieren, haben früher oder später ein Legitimationsproblem. Anhand von Resultaten aus Feldstudien werden die verschiedenen Einbettungsdimensionen beleuchtet. Ferner geht das Kapitel darauf ein, wie sich die prinzipienorientierte Einbettung von Corporate Social Responsibility (CSR) und Creating Shared Value (CSV) Ansätzen unterscheidet.

Prinzipienorientierte Einbettung

2 2.1

227

Einbettung: Eine neue (alte) Idee Was ist eine „prinzipienorientierte“ Einbettung?

Eine prinzipienorientierte Einbettung ist ein Bekenntnis der MNU, sich strikt und unabhängig vom Ort der Tätigkeit an selbst auferlegte Regeln zu halten, und sich gleichzeitig lokal einzubetten. MNU, die sich zur prinzipienorientierten Einbettung bekennen, befolgen zwingend die unternehmensintern festgelegten Unternehmensverantwortungs-Leitlinien (Corporate Governance), Verhaltensregeln (Codes of Conduct) und strikte Nachhaltigkeitsstandards. Dies geht über die vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Gesetze hinaus, deren Einhaltung unabdingbar ist, und in jedem Fall vorausgesetzt wird. Zugleich sind MNU bereit, sich lokal zu engagieren, und lokale Zulieferer, Händler, Konsuminteressen, Menschenrechte, Umweltbelange oder die Kultur in ihr Geschäftsmodell zu integrieren. Ein Bekenntnis der MNU zur prinzipienorientierten Einbettung in Entwicklungsländern kann ihnen helfen, Bedenken über die Einhaltung der Prinzipien für verantwortungsvolle Investitionen, die in Wohlstandsländern und anderswo geäußert werden, anzusprechen und der lokalen Besorgnis über inklusives Wachstum Rechnung zu tragen (Aerni 2018) und weniger als Risiko denn als Chance wahrgenommen zu werden (Taglioni/Winkler 2014). Ein Zitat von Christine Lagarde, der Direktorin des Internationalen Währungsfonds illustriert, was inklusives Wachstum bedeutet: „We need increased growth, but it must be better balanced, more sustainable, and inclusive so as to benefit all people” (Ch. Lagarde, am G20 Gipfel in Hangzhou, China, 2016).

Durch die Ankoppelung der MNU an die lokale Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt und Kultur kann inklusives Wachstum entstehen. MNU können über ihre vertiefte Einbindung in den internationalen Handel, ihr globales Netzwerk, ihr Wissen und Kapital das lokale Wirtschaftswachstum ankurbeln und die lokale Wirtschaft zugleich nachhaltiger gestalten, weil für die Integration in globale Lieferketten zunehmend Nachhaltigkeitsstandards erforderlich sind. Sie schaffen dadurch eine größere Arbeitsteilung, mehr Spezialisierung durch Aneignung von spezifischen Kompetenzen und damit einhergehende skalierbare Innovationen, die der Gesellschaft in ihrer Breite dienen. Die lokale Einbettung eines globalen Unternehmens ist jedoch zuerst einmal risikoreich (Aerni 2018). Kulturelle Missverständnisse, wirtschaftliche Risiken wie hohe Fixkosten für den Aufbau des Geschäfts, rechtliche und andere Unsicherheiten wie ungenügender Investitionsschutz können zu Hürden werden für langfristige

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Isabelle Schluep

Investitionen in Entwicklungsländern. Um das Geschäft lokal zu verankern, können substanzielle Investitionen nötig werden. Beispielsweise müssen MNU lokale Arbeitskräfte, Zulieferer oder Händler zuerst durch Ausbildung fit machen für die Zusammenarbeit. Operiert die Firma in einem Randgebiet, braucht es allenfalls Investitionen in die lokale Infrastruktur wie neue Zufahrtstrassen, elektrische Versorgung oder ein Telekommunikationsnetz. Eine weitere Schwierigkeit kann darin bestehen, lokale Geschäftsusanzen mit den Regeln eines global agierenden Unternehmens in Einklang zu bringen (Aerni 2018). So gesehen können die Herausforderungen für MNU mannigfaltig sein, und sie können solche Unterfangen oft auch nicht alleine stemmen. Es braucht Allianzen mit lokalen Partnern, die entsprechendes Wissen, Mittel und Kompetenzen mitbringen, um den MNU zu helfen, sich lokal einzubetten (Frei/Schluep 2017). Kompetente lokale Partner aus der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft und staatliche Stellen können einen beträchtlichen Anteil zum gesellschaftlichen Nutzen der „eingebetteten“ Auslandinvestitionen beitragen (Aerni 2018). Damit es zu einer langfristigen Win-Win Situation und inklusivem Wachstum kommt, braucht es langfristig auch institutionelle Rahmenbedingungen, die es Investoren ermöglichen, mit Firmen im Gastland geschäftliche Verbindungen aufzubauen, und diese kontinuierlich zu vertiefen. Nur so kann ein Technologie- und Wissenstransfer und langfristig eine steigende Wertschöpfung im Empfängerland stattfinden (Schluep 2017).

2.2

Eine kurze Entstehungsgeschichte der Einbettung

Die globalisierungskritische Haltung beim breiten Publikum gegenüber MNU ist tief verwurzelt. Einige Detailhandelsfirmen tragen das ihre dazu bei, dass dies so bleibt. Auch Teile der Wissenschaft inklusive Nobelpreisträger weisen immer wieder auf die Gefahren der Globalisierung hin. Aerni (2018) macht für die fortwährende Attraktivität der Globalisierungskritik die implizite Annahme verantwortlich, dass internationaler Handel ein Nullsummenspiel sei, oder nur minimale Effizienzgewinne durch Handel ohne Rücksicht auf negative soziale und ökologische Auswirkungen generieren würde. Diese Annahme würde vielen Menschen als intuitiv richtig erscheinen. Ironischerweise prägte der ungarisch-österreichische Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi, der „Vater“ der heutigen Globalisierungskritiker, die den „entfesselten Kapitalismus“ für die Verwerfungen in der Welt verantwortlich machen, das Konzept der „Einbettung“ (Hank 2014). Sein Buch The Great Transformation erschien 1944. Die beiden Weltkriege, Faschismus oder Kommunismus waren für

Prinzipienorientierte Einbettung

229

ihn die Folgen der vorausgegangenen Wirtschaftskrisen, die auf der „Verselbständigung“ der Ökonomie beruhten (Polanyi 2001). Der Kapitalismus sei nicht mehr in die Gesellschaft eingebettet, so wie das in früheren Wirtschaftsformen in der Geschichte immer der Fall gewesen wäre, sondern das Verhältnis hätte sich umgekehrt, so Polanyi. „Während ursprünglich soziale Motive wirtschaftliches Handeln determinierten, und die potentiell gefährlichen Kräfte der „radikalen Utopie einer freien Marktwirtschaft“ im Zaum hielten, habe sich im Zuge der Durchsetzung des Kapitalismus dieses Verhältnis umgekehrt: Mittlerweile sei die Wirtschaft nicht mehr in die Gesellschaft eingebettet, sondern die Gesellschaft durch die Ökonomie determiniert, lautet seine bekannte Diagnose“ (Hofstätter 2001: 3). Für Polanyi (2001) beruhte der Güteraustausch im Urzustand der Menschheit primär auf freiwilligen Geschenken sowie guter Haushaltsführung. Gemäß Polanyi (2001) gab es in diesem Urzustand noch keinen Markt und keine Profitgier. In der schwersten Rezession der Nachkriegszeit, die mit der Wirtschaftskrise 2007/2008 begann, hatten Debatten in der Wissenschaft und der Politik zum sogenannten „Finanzmarktkapitalismus“ Hochkonjunktur (Windolf 2005). Dabei wird vom „losgelösten“ und „entfesselten“ Finanzmarkt gesprochen. Es wird argumentiert, dass die Finanzwirtschaft wie die Wirtschaft als Ganzes nicht mehr der Gesellschaft diene (Hofstätter 2011). Stattdessen würden sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden, und die benötigten staatlichen Rettungsprogramme zeigten, dass private Profite auf Kosten der Gesellschaft gingen, die ihrerseits den Handlungsspielraum der Staaten einschränken würden. Dieses immer wiederkehrende Denkmuster zu durchbrechen, ist noch nicht gelungen. Mark Granovetter, ein Wirtschaftssoziologe, kritisiert, dass ökonomische Theorien der Einbettung der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht würden. Informelle, soziale Beziehungen seien nämlich formellen Wirtschaftsbeziehungen immer vorgelagert. Auch Marktgesellschaften seien daher immer in gesellschaftliche Netzwerke eingebunden. Soziale Netzwerke stellten sicher, dass das Ausmaß der „Entbettung“ durch soziale Nähe reduziert würde (Granovetter 1985). Brian Uzzi (1997), Soziologe und Industrieökonom, hebt ebenfalls hervor, dass das dadurch generierte soziale Kapital essentiell sei für das gegenseitige Vertrauen in Wirtschaftsbeziehungen. Philipp Aerni (2018) unterzieht die implizite Globalisierungskritik von Polanyi in seinem Buch Global Business in Local Culture einer eingehenden Überprüfung. Die These von Polanyi, dass das Globale das Lokale untergraben würde, hält einer näheren Prüfung nicht stand (Aerni 2018). Wirtschaftshistoriker wie Braudel (1982) können aufzeigen, dass Polanyi in seiner historischen Analyse grobe Fehler unterlaufen sind, die zu einer Fehlinterpretation der Faktenlage führten. Dazu kommt, dass chauvinistische Argumente der Globalisierungskritiker, wie sie auch

230

Isabelle Schluep

von manchen global tätigen Detailhändlern und Regierungen vorgebracht werden, dass im Inland (in der Region) produzierte Waren nachhaltiger und damit automatisch qualitativ besser seien, als importierte Waren, dem Protektionismus Vorschub leisten und mächtige etalierte Produzenten im Inland schützen (Aerni 2018). Dieser Typus einer „eingebetteten“ Volkswirtschaft, verstanden als ein hoch reguliertes System, welches die lokale Wirtschaft gegen disruptive wirtschaftliche Kräfte, die durch Unternehmertum und Innovation getrieben sind, schützt (Aerni 2018), führt jedoch nicht zu inklusivem, sondern zu exklusivem Wachstum. Inländische und ausländische Akteure, die nicht über die politischen Verbindungen und das soziale Netzwerk verfügen wie die Platzhirsche, bleiben in einem solchen korporatistischen System, das durch Vetternwirtschaft geprägt ist, außen vor (Schluep/Aerni 2016). Unternehmerisch geprägte außenstehende Akteure sehen deshalb in der Globalisierung, die sich durch internationalen Handel und Arbeitsteilung auszeichnet, vor allem eine Chance, verkrustete Strukturen aufzubrechen, und Raum zu schaffen für die Wirtschaftsfreiheit (Aerni 2018). Werden solche „Triebkräfte des Wandels“ (z. B. Informationstechnologie-Firmen) erfolgreich und groß, schlägt das Pendel in der öffentlichen Wahrnehmung oft wieder auf Angst um, und neue Regulierungen werden eingefordert (Aerni 2018).

3

3.1

Bedeutung von Auslandsinvestitionen für Entwicklungsländer Auslandinvestitionen und Einbettung von Unternehmen sind unabdingbar für nachhaltiges und inklusives Wachstum

Wertschöpfungsketten sind zunehmend global organisiert und nahtlos integriert. Die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) schätzt, dass mittlerweile rund 80 Prozent des globalen Handels innerhalb der internationalen Produktionsnetzwerke multinationaler Unternehmen (MNU) stattfindet (UNCTAD 2013). Internationaler Handel zeichnet sich in steigendem Mass durch Handel von Vorleistungsgütern aus. Dabei sind die ausländischen Direktinvestitionen der Unternehmen eine wichtige Triebfeder weltweiter Handelsflüsse. Ausländische Direktinvestitionen sind per Saldo nicht nur positiv für den investierenden Staat, sondern auch für das Empfängerland. Verschiedenste Forschungsergebnisse zeigen die positive Wirkung von Direktinvestitionen auf das Wirtschaftswachstum (Lasbrey et al. 2018). Gemäss dem World Investment Report der UNCTAD machten Auslandsinvestitionen zwischen 2013 und 2017 39 Prozent

Prinzipienorientierte Einbettung

231

der externen Finanzquellen der Entwicklungsländer aus (UNCTAD 2018). Für die am wenigsten entwickelten Länder bleibt die öffentliche Entwicklungshilfe mit 36 Prozent die wichtigste externe Finanzquelle gegenüber Auslandsinvestitionen mit 21 Prozent (UNCTAD 2018). MNUs, die in Entwicklungsländern investieren, profitieren von einem besseren Marktzugang, billigeren und vielfältigeren Vorleistungsgütern, was auch zu signifikanten Produktivitätssteigerungen führen kann. Von diesen profitiert auch die lokale Bevölkerung im Gastland in Form von ansteigenden Pro-Kopf-Einkommen (Schluep 2017). Die Investitionen in die Fertigung gehen zudem einher mit einem Wissens- und Technologietransfer, die ein endogenes Wachstum durch lokales Unternehmertum und Innovation ermöglichen. Damit nachhaltiges und inklusives Wachstum entstehen kann, muss auch die Gesellschaft teilhaben können, beispielsweise durch besseren Zugang zu Produkten und Dienstleistungen, die zuvor nicht verfügbar waren, durch neue Absatzmöglichkeiten für eigene Erzeugnisse, bessere Ausbildungsmöglichkeiten, bessere Aufstiegs- und Integrationschancen in die formale Wirtschaft sowie der Teilhabe an einer neuen Unternehmerkultur, die hilft, auch lokale Probleme besser in der Griff zu bekommen (Schluep 2017). Können MNU kleine und mittlere Betriebe (KMU), die oftmals im informellen Sektor tätig sind und keine formalen Standards erfüllen, als Zulieferer oder Dienstleister in ihre Wertschöpfungsketten integrieren, sind die KMU gezwungen, ihre Standards und die Produktivität zu verbessern. Sie profitieren dabei von Investitionen in den Kapazitätsaufbau und Know-How Transfer durch die MNU, wodurch auch die KMU nachhaltiger im Umgang mit knappen Ressourcen werden. Verbessern sich die Absatzchancen der eigenen Produkte der KMU, sind diese motiviert, vermehrt in die Zukunft der eigenen Unternehmen zu investieren. Sie werden dadurch lernbereiter und erneuerungsfähiger und können den Strukturwandel besser meistern.

3.2

MNU sind unter Druck

MNU sind wie andere Unternehmen einem grossen Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Sie müssen ihre Profitabilität laufend verbessern. Sonst laufen sie Gefahr, aus dem Markt gedrängt zu werden. Die MNU erlebten ihre „Boomjahre“ in den 1990er Jahren, als sich China und die Staaten der früheren Sowjetunion öffneten und sich die EU weiter integrierte (Economist 2017). Subramanian und Kessler (2013) zeigen, dass 85 Prozent der Auslandinvestitionen nach 1990 geschaffen wurden. Die MNU konnten ihre Grössenvorteile (Skaleneffekte), Effizienz und überlegene Wettbewerbsfähigkeit ausnutzen (Economist 2017). Diese Vorteile verleiteten In-

232

Isabelle Schluep

vestoren dazu zu glauben, dass globale Firmen schneller wachsen würden und profitabler wären als alle anderen. Die Datenlage zeigt jedoch für die 700 grössten MNU, dass die Rendite der Auslandsinvestitionen zwischen 2010 und 2015 um 25 Prozent gesunken ist, während gleichzeitig die Rendite lokaler Firmen um zwei Prozent zugenommen hat (Economist 2017). Daten aus den Zahlungsbilanzstatistiken einzelner Länder und der OECD zu Firmen aller Größenklassen bestätigen diesen Trend. Die Rendite von Auslandsinvestitionen der EU-28 Länder ausserhalb dieser Zone betrug 2015 gerade 4.4 Prozent (Eurostat). The Economist sieht die Probleme bei MNU bei hohen Fixkosten, bei komplexen Lieferketten, die hohe Lagerbestände und -kosten nach sich ziehen, oder bei weitgefächerten Organisationsstrukturen, die schwierig zu führen sind, oder frühere Vorsprünge bei der Managementorganisation oder bei Innovationen, die sich teilweise verflüchtigt haben. Die Rahmenbedingungen für global tätige Firmen sind rauer geworden, insbesondere nach der Finanzkrise 2007/2008 sind MNU vermehrt als „Agenten der Ungleichheit“ wahrgenommen worden. Internationale Steuerregeln, Geldwäscherei-, Rechnungslegungs- oder Kartellrechtsvorschriften sind in der Folge verschärft worden. Im Zuge der letzten Jahre sind protektionistische Massnahmen wie Handelsbarrieren (z. B. US-Chinesischer Handelskrieg) oder Vorgaben für lokale Wertschöpfungsanteile (local content) in den Fokus getreten. Die Kostenfolgen für die Firmen sind nicht ausgeblieben, und die Vorteile aus der Arbitrage nehmen ab (steigende Löhne in Tieflohnländern wie China). Vielversprechend entwickeln sich immer noch MNU, die sich lokal anpassen und integrieren bei gleichzeitig grösstmöglicher Dezentralisierung, wo die Tochtergesellschaften im Ausland weitgehend autonom und unabhängig von der Muttergesellschaft handeln (Brock/Siscovick 2007). Gooderham und Svein Ulset (2016) verweisen ebenfalls auf lokale Präsenz und Bürgernähe als Voraussetzungen, um auch die Konsumenten an der Basis der Einkommenspyramide bedienen zu können.

4

Was haben CSR und CSV mit Einbettung zu tun?

Die Bestrebungen der MNUs gingen bisher in Richtung Selbstregulierung, um mögliche negative Nachhaltigkeitseffekte gerade in weniger entwickelten Ländern zu vermeiden, um dadurch weniger angreifbar zu werden. Hauptsächlich mit sozialen Unternehmensverantwortungs-Standards (Corporate Social Responsibi-lity, CSR) wird versucht, dem Vertrauensschwund in der Gesellschaft entgegenzuwirken (Schluep 2017). Im Fokus steht der Abbau von Firmenrisiken, indem negative

Prinzipienorientierte Einbettung

233

Auswirkungen auf die Belegschaft, die Gesellschaft oder die Umwelt reduziert werden. Es geht um die „do no harm“ Leitlinie der Vereinten Nationen für Unternehmen und Menschenrechte (UN Guiding Principles on Business and Human Rights). International anerkannte soziale CSR Standards sind das UN Global Compact oder die die Leitsätze für MNU der OECD. Die Chancen und die positiven Nachhaltigkeitseffekte, die von MNU in Entwicklungsländern ausgehen können, bleiben dabei unberücksichtigt. Dass soziales Engagement über CSR zu finanziellem Erfolg führt, lässt sich nicht bestätigen (Rost/Ehrmann 2015). Im Gegenteil, es gibt Firmen, die objektiv gesehen eine sehr gute CSR Performance haben und kontinuierlich in eine verantwortliche Unternehmensführung investierten, am Markt dafür aber nicht belohnt wurden. Gerade im Konsumgüterbereich zählen bei den Detailhändlern angebliche Motive mehr als tatsächliche Performance (Schluep 2017). Die Firma Chiquita bekennt sich nicht nur zur prinzipienorientierten Einbettung, sondern lebt diese auch. Ihr Einsatz für die Nachhaltigkeit wurde jedoch vom nachgelagerten Detailhandel nicht honoriert (Bartel/Soldati 2017). Die Firma verfolgt trotzdem unbeirrt ihre Nachhaltigkeitsziele: „Als Firma in Privatbesitz mit einer langfristigen Vision möchten wir ein starkes Unternehmen aufbauen, das sowohl mit den Zyklen der Obstbranche als auch mit der Unvorhersehbarkeit von Mutter Natur fertig wird. Um dies zu erreichen, müssen wir Teil einer gesunden und wettbewerbsorientierten Branche sein. Wir müssen über längere Zeit beständige Gewinne erzielen, um in die Zukunft investieren zu können. Dazu brauchen wir ein wirklich nachhaltiges und verantwortungsvolles Geschäftsmodell. Wir möchten unsere natürlichen Ressourcen achten und schützen. Wir möchten die Gemeinden, in denen wir arbeiten unterstützen und vor allem unsere qualifizierten Mitarbeiter ins Zentrum all unseres Tuns stellen. Darum haben wir uns der Einstellung verschrieben, etwas an die Gesellschaft zurückzugeben“ (Chiquita 2019).

In der Schweiz bei der Migros und ebenso bei einem Detaillisten in Deutschland wurde Chiquita ausgelistet und durch angeblich nachhaltiger produzierte Bananen ersetzt, die das WWF Label tragen. Bei einer näheren Prüfung bleibt der Verdacht von reinem Wohlfühlmarketing (Foppa 2019). Neue Raster für die Beurteilung der Nachhaltigkeitsleistungen wären nötig, um prinzipienorientierte Einbettung von MNU sichtbar zu machen, und um Scheinnachhaltigkeit zu entlarven (Schluep 2017). Einige europäische Detailhändler geben vor, Produkte aus dem Süden nach besonders hohen Nachhaltigkeitsstandards zu beschaffen. Tatsache ist, dass viele

234

Isabelle Schluep

Betriebe im Süden, die für den europäischen Detailhandel beispielsweise nach fair trade Richtlinien oder Vorschriften für den biologischen Landbau produzieren, strikt von aussen kontrolliert werden. Es besteht auch kaum eine Möglichkeit, die angeblichen Nachhaltigkeitsverbesserungen mit den bereits existierenden Nachhaltigkeitsstandards in der Agroindustrie (Business to Business Standards im Vergleich zu Business to Consumer Standards) zu überprüfen, und zu vergleichen. Den Konsumenten in den Wohlstandsländern wird diese Form der Produktion im Süden als moralisch überlegen verkauft (Aerni 2018). Dies ist auch der Fall bei Migros und der Auslistung von Chiquita (Foppa 2019). Das Problem ist, dass durch die Produktion auf solchen „Nachhaltigkeitsinseln“ in Entwicklungsländern, die von der lokalen Wirtschaft abgekoppelt sind, der nötige Strukturwandel für inklusives Wachstum nicht stattfindet, sondern, dass nicht-nachhaltige Strukturen zementiert werden (Aerni 2018). Im Unterschied zu CSR ist „Creating Shared Value“ (CSV) – ein von Porter und Kramer (2009) propagiertes Managementkonzept, mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. CSV ist integraler Bestandteil der Firmenaktivitäten, des Firmenbudgets und der Gewinnmaximierungsfunktion – und soll gleichzeitig wirtschaftlichen und sozialen Wert für die Firma und die Gesellschaft schaffen. Nestlé, Novo Nordisk oder Novartis verfolgen CSV aktiv. Tabelle 1 stellt die wichtigsten Merkmale von CSR, CSV und der Einbettung zusammen. Nestlé würdigt in der CSV Schrift zum 150-jährigen Bestehen der Firma 2015 die Gebrüder Page von der Anglo-Swiss Condensed Milk Company, die in Cham (Schweiz) die erste Kondensmilchfabrik Europas eröffneten. Die von Henry Nestlé gegründete Firma fusionierte mit Anglo-Swiss im Jahr 1905. Henry Nestlé hatte 1867 eine Säuglingsnahrung entwickelt, um Neugeborene zu ernähren, welche nicht gestillt werden können. Das war sein Beitrag, um die damals sehr hohe Kindersterblichkeit zu bekämpfen. Heute werden solche Produkte von Nestlé „products with a purpose“ genannt, was nichts anderes bedeutet, als dass bei neuen Produkten neben privaten Profiten für die Firma Wohlfahrtseffekte für die ganze Gesellschaft entstehen. Von Anglo-Swiss lernte Nestlé eng mit Schweizer Milchproduzenten zusammenzuarbeiten, und führte zum Aufbau der „Milchbezirksmodelle“ auf der ganzen Welt und zur Zusammenarbeit mit Hunderttausenden von Milch-, Kaffee- und Kakaobauern. Diesen stellt die Firma technische Unterstützung und Beratung zur Verfügung.

235

Prinzipienorientierte Einbettung

Tabelle 1: Merkmale von CSR, CSV und Einbettung Merkmal

CSR

CSV

Einbettung

Maxime

Soziale Aktivitäten führen zu wirtschaftlichem Erfolg, losgelöst vom Gewinnziel

Gewinnziel wird abgelöst durch CSV – gleichzeitige Steigerung von Gemeinwohl und wirtschaftlichem Erfolg

Gewinnziel / profitorientierte Investitionen schaffen positive externe Effekte für die lokale Gesellschaft und Umwelt, und tragen zu inklusivem Wachstum bei

Motivation

Marketinginstrument, Reputationsmanagement TradeOff-Mentalität

Marketinginstrument, Reputationsmanagement, WinWin

Wirtschaftliches Eigeninteresse, um die Betriebslizenz (licence to operate) zu behalten, Win-Win

Leitgedanke

Gute Taten (doing good), Risikofokus

Nur ein sozial verantwortungsvoll agierendes Unternehmen kann auf Dauer prosperieren

Prinzipienorientierte Einbettung ist verbunden mit Innovation und Unternehmergeist für langfristigen Erfolg

Unternehmens- Separate Aktivitäten Verantwortungsvolorganisation (philanthropisch, so- les Handeln Teil des zial, umweltbezoKerngeschäfts gen) separates Budget

Eingebaut in die langfristige Geschäftsstrategie und – geprägt von der Unternehmensmaxime „Umsicht“

Basis

Einhalten der Gesetze, Geschäftsgrundsätze, ethische Prinzipien und Verhaltenskodex; keinerlei Schaden anrichten (no harm)

Beispiel

Swatch Group, Fair Nestlé Nespresso Trade Programme, Novo Nordisk Eco-Textilien Migros

Nestlé Philippinen Chiquita, Syngenta, Bühler Group, Cemex

Wirkung

Abhängig vom Budget und Unternehmens-Fussabdruck

Empirische Ergebnisse fehlen

„Wirtschaftliches Ökosystem“ entsteht, ist sichtbar. Negativer Fussabdruck wird gegen positiven Handabdruck abgewogen

Messbarkeit, Berichterstattung

CSR-Bericht, Indikatoren

Ziele werden überprüft und gemessen, z. B. Nestlé CSV Report: Geschichten & Indikatoren

Integriert in den Jahresbericht; Indikatoren (z. B. Key Embeddedness Indicators, Wahrnehmung, im Aufbau)

Quelle

Carroll 2016

Porter/Kramer 2011

Aerni 2018

236

Isabelle Schluep

hoch

Mehrwert für die Gesellschaft / Umwelt

Einbettung durch Partnerschaften Unternehmertum

Philanthropie

CSV

Marketing Vorzeigeprojekt

tief

CSR Fördermittel

Technologietransfer Innovation Netzwerk „Ökosystem“

Wirtschaftlicher Mehrwert für die Firma

hoch

Abbildung 1: Vielschichtiger Mehrwert der Einbettung, CSV und CSR

Abbildung 1 stellt bildlich dar, wie die prinzipienorientierte Einbettung durch Partnerschaften, Unternehmertum, Technologietransfer, Innovation oder den Aufbau eines lokalen wirtschaftlichen Ökosystems nicht nur Mehrwert schafft für die Firma, sondern auch für die Umwelt und die Gesellschaft als Ganzes. Die Einbettung mag auch Aktivitäten der eher klassischen Konzepte von CSR und CSV umfassen, geht aber zugleich über sie hinaus und hat den Vorteil der Skalierbarkeit.

5 5.1

Messung der Einbettung in Feldstudien Methoden-Mix-Ansatz

Von 2015 bis Ende 2017 untersuchte das Zentrum für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit (CCRS) an der Universität Zürich die Einbettung von Tochterunternehmen von in der Schweiz ansässigen multinationalen Unternehmen in Entwicklungsländern. Das Projekt wurde von der Schweizer Kommission für Technologie und Innovation (KTI) gutgeheissen und unterstützt. Es wurde ein MethodenMix-Ansatz (mixed method approach) gewählt, der qualitative und quantitative

Prinzipienorientierte Einbettung

237

Methoden kombiniert. Dabei geht es darum, die Einbettung der Firmen aus verschiedenen Perspektiven zu validieren. Dafür wird auch der Begriff „Triangulation“ verwendet (Kuckartz 2014). Es handelt sich um einen pragmatischen Ansatz, bei dem die Forschungsfragen sowie die dahinterstehenden sozialen und gesellschaftlichen Probleme in den Fokus rücken (Kuckartz 2014). Im KTI-Projekt werden auch die wirtschaftlichen Aspekte und die Umweltkomponente mitberücksichtig. Es handelt sich um eine ganzheitliche Betrachtung, wo die qualitative Forschung die Kontextualisierung der quantitativen Forschungsergebnisse erlaubt und zu einem besseren Verständnis des untersuchten Problems beiträgt (Kuckartz 2014). Mit dem KTI-Projekt betraten wir Neuland. Feldstudien, die die Einbettung von MNU in Entwicklungsländern untersuchen, sind spärlich und betreffen meist nur eine Einbettungskomponente. Zusammen mit Studenten der ETH Zürich wurde der Untersuchungsraster für die Feldstudien und die Einbettungsdimensionen entwickelt. In den Ländern, wo die Feldstudien durchgeführt wurden (Chiquita in Guatemala, Costa Rica und Panama; Syngenta in Kolumbien und Kenia; Nestlé auf den Philippinen und in Indonesien) waren die Studenten in Forschungsinstitutionen eingebettet. Diese unterstützten sie, sich lokal zu vernetzen. Sie stellten auch Hilfspersonal bereit bei der Durchführung einer Umfrage mit lokalen Interessenvertretern zur Wahrnehmung der Einbettung und der Nachhaltigkeit der MNU in der Region. Die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Firmen war unabdingbar für die Erhebung der Fakten zur Einbettung und zur Identifikation der Wahrnehmungslücke zwischen den Interessenvertretern in der Region und der MNU. Die Firmenbefragung hatte zum Ziel, konkrete Daten und Angaben aus Sicht der Firma zu deren Grad und Qualität der Einbettung zu erheben. Dabei wurden auch die Mitarbeiter in den Firmen befragt. In der Umfrage mit Interessenvertretern in der Region waren die lokalen Kleinbauern die wichtigste Anspruchsgruppe (Stakeholder) im Fall von Syngenta und Nestlé. Dabei wurden konkrete demographische Merkmale, Angaben zur Familien- und Wohnsituation, zu den Arbeitsbedingungen, Ausbildungsmöglichkeiten oder zum Einkommen abgefragt, aber auch ihre Wahrnehmung ermittelt, wie die Firma den Lebensstandard, die Gesellschaft im Allgemeinen oder die Umwelt (z. B. Boden, Luft, Wasser) über die Zeit hinweg direkt oder indirekt beeinflusst hat. Eine weitere Befragung zur Wahrnehmung der jeweiligen Firmen und Branchen wurde für Experten entwickelt. Bei diesen handelt es sich um Personen, die die jeweilige Branche (z. B. Bananen, Pflanzenschutzmittel, Kaffee, Kakao) bestens kennen, aber nicht direkt involviert sind. Anhand von Schlüsselpersonen (key informants) wurden Expertenpanels zusammengestellt.

238

Isabelle Schluep

Dabei wurden Experten aus der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und aus staatlichen Behörden berücksichtigt. Diese gaben nicht nur darüber Auskunft, wie sie die Arbeiten der Firmen in den verschiedenen Bereichen wahrnehmen, sondern wie diese im Vergleich zu ihren Konkurrenten stehen.

5.2

Einbettungsdimensionen

Im Rahmen der KTI Studien wird unter sozialer Einbettung verstanden, wie und wie stark sich eine MNU lokal engagiert. Unter anderem gehört dazu, wie gross die Prozentanteile der Einkäufe und Verkäufe sind, die lokal getätigt werden; ob die MNU ihre Zulieferer beziehungsweise Abnehmer unterstützen in ihren Anstrengungen, geforderte Industrie- und Regulierungsstandards zu erfüllen, oder lokale Nachhaltigkeitsprobleme in den Griff zu bekommen, zum Beispiel indem Mitarbeiter geschult werden. Ebenso interessiert, was ein MNU in Bereichen wie Gesundheit, Erziehung oder Ernährung für die Mitarbeitenden und die lokale Bevölkerung unternimmt, und zwar im Eigeninteresse. Denn, nur gesunde und gebildete lokale Partner sind auch produktiv und innovativ. Der lokale Kontext spielt bei der Art und Weise der Einbettung immer mit. Für die weiteren Einbettungsdimensionen orientierten wir uns an der Publikation von Halinen und Törnroos (1998), die neben der sozialen auch eine technologische, eine wirtschaftliche, eine räumliche, eine zeitliche und eine politische Einbettung beschreiben. Die wirtschaftliche Einbettung betrifft die Art und Weise, wie eine Firma durch ihr Kerngeschäft die lokale Wirtschaft beeinflusst. Beispielsweise, ob das Unternehmertum (z. B. neue Absatzchancen für lokale KMU) gefördert wird, oder ob ein neues wirtschaftliches „Ökosystem“ aus der Präsenz und den Tätigkeiten der MNU hervorgeht wie Transport-, Verpflegungs- oder Gesundheitsdienstleistungen oder neue Verarbeitungsbetriebe. Eine prinzipienorientierte MNU, die ihre Standards (inklusive Antikorruptionsrichtlinie und ethische Grundsätze), Managementmethoden, die auf der Höhe der Zeit sind, und bewährte Produktionsverfahren (best practices) ihren Geschäftspartnern in den Entwicklungsländern weitergibt, kann zu einer Verbesserung des Geschäftsklimas (z. B. mehr Transparenz und weniger Korruption, verbesserte Arbeitnehmerrechte) oder der Ermächtigung lokaler Unternehmen beitragen, indem diese formalisiert und beispielsweise in das Sozialversicherungssystem eingebunden werden. Die Einbettung im Umweltbereich hat nicht nur die Aktionen im Fokus, die eine Firma unternimmt, um die Auswirkungen auf die Umwelt (Boden, Luft, Klima, Wasser) und die Artenvielfalt zu minimieren. Sie betrifft auch Massnahmen, die

Prinzipienorientierte Einbettung

239

die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen im lokalen Privatsektor oder Initiativen des MNU fördert, oder die beschädigten lokalen natürlichen Ressourcen rehabilitiert, um die Lebensqualität zu erhöhen. Wir orientieren uns dabei am Kapitel 6.5 zur Umwelt im ISO 26000 Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung (BMUB 2014). Die technologische Einbettungsdimension betrifft die Zusammenarbeit der MNU mit der lokalen Privatwirtschaft und öffentlichen Entitäten wie Forschungsinstituten und die Möglichkeiten, Innovationen auszulösen. Innovationen, die beispielsweise lokal angepasste Technologien hervorbringen und den Wissenstransfer fördern (Andersson et al. 2001). Formen der Zusammenarbeit umfassen beispielsweise Joint-Venture-Unternehmen mit lokalen Firmen oder öffentlich-private Partnerschaften (public private partnership - PPP) sei es mit Regierungsstellen oder mit Nichtregierungsorganisationen. PPP können je nachdem dazu beitragen, staatliche Dienstleistungen (z. B. Forschung, Gesundheitswesen) zu verbessern, oder soziale und Umweltprobleme in den Griff zu bekommen. Firmeneinbettung in Bezug auf die Infrastruktur kann sehr unterschiedlich sein. Hat ein Land eine voll ausgebaute Infrastruktur, besteht für die Unternehmen kein besonderer Einbettungsbedarf. Sind hingegen Anstrengungen nötig, um überhaupt tätig zu werden, können sich diese positiv auf die lokale Wirtschaft und Gesellschaft auswirken (z. B. Wasserversorgung, Abwasser, Abfallentsorgung, Stromversorgung, Strassen, Unterkünfte, Kommunikationseinrichtungen). Sie schaffen „Spillovers“ oder sogenannte positive externe Effekte. Die beziehungsorientierte Einbettung (relational embeddedness) befasst sich mit der Qualität des Netzwerks der MNU (Moran 2005), dessen Stabilität und Wichtigkeit im Kontext der lokalen Netzwerke. Es geht unter anderem darum, wieviel Vertrauen in den verschiedenen Netzwerkbeziehungen steckt. Demgegenüber bezieht sich die strukturelle Einbettung auf die Dichte und Reichweite der „Netzwerkarchitektur“ (Uzzi 1997), die MNU mit lokalen Partnern und Institutionen entwickelt haben. Politische Einbettung steht im Zusammenhang mit den politischen Rahmenbedingungen für die MNU im Gastland. Respektieren die MNU die lokalen politischen Institutionen, gibt es eine Zusammenarbeit mit der Politik und wenn ja, wie stark sind die Beziehungen? Diese Dimension kann wichtig sein bei Fragen zu Lobbying oder Korruption. Inwieweit eine übereingebettete MNU korrupter wäre, ist offen (Evans 1995). Eine MNU kann jedoch auch mithelfen, die lokalen Rahmenbedingungen zu verbessern, indem sie die Regierung auf die Hindernisse hinweist, die eine grössere prinzipienorientierte Einbettung verhindern.

240

Isabelle Schluep

Die zeitliche Einbettung hilft, beispielsweise anhand der Geschichte einer MNU die Entwicklung derer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Netzwerke an Ort besser zu verstehen, und zukünftige Entwicklungen besser einschätzen zu können.

5.3

Firmenbeispiel: Nestlé Philippinen

In der KTI-finanzierten Studie wird die Einbettung von Tochterfirmen von Nestlé auf den Philippinen und in Indonesien und insbesondere deren Kaffee- respektive Kakaowertschöpfungsketten untersucht. Die verschiedenen Stakeholder wurden identifiziert, und es wurde ein Raster für den Grad der Einbettung entworfen, das nicht nur das Ausmaß der Einbettung, sondern auch dessen Qualität erfasst. Die Hypothesen waren: das Ausmaß und die Qualität der Einbettung als Konzept können Mithilfe von Indikatoren gemessen werden; Einbettung führt zu nachhaltigem und inklusivem Wachstum; und die Firma kann dadurch ihre Reputation verbessern und eine höhere Wertschöpfung erwirtschaften. Auf den Philippinen ist Nestlé erstmals 1911 in den Markt eingetreten. 1960 ging Nestlé eine Kooperation mit einer lokalen Lebensmittelfirma ein. Seit 1998 ist Nestlé Philippines Inc. (NPI) ein hundertprozentiges Tochterunternehmen von Nestlé SA. NPI produziert auf den Philippinen Nescafé für einen einheimischen Markt von 100 Millionen Einwohnern. Kaffee wird lokal eingekauft. Die Firma wird als einheimisches (philippinisches) Unternehmen wahrgenommen. Die Kaffeewertschöpfungskette wird anhand des Firmenfragebogens und offiziellen Statistiken analysiert. Die Umfrage bei den Kaffeebauern dient dazu, die Nachhaltigkeitseffekte der Zusammenarbeit von NPI mit den Kaffeebauern, mit lokalen Akteuren und Gemeinschaften zu erörtern, und die Nachhaltigkeitseffekte für die Umwelt und die Wirtschaft zu erfassen. Die Wahrnehmung von NPI und ihrer Kooperationen wird in einer Expertenumfrage erfasst (Schmidli 2016). Tabelle 2 zeigt eine Zusammenstellung positiver Nachhaltigkeitseffekte für die Kleinbauern, die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Umwelt. Beim überwiegenden Teil der Nachhaltigkeitseffekte gibt es zwischen den Perspektiven der Firma, der Kaffeebauern und der Experten Übereinstimmung. Dort, wo es keinen Konsens gibt, ist der Punkt mit dem Symbol (┼) gekennzeichnet. NPI interagiert direkt mit den Kaffeebauern und ist stark in die Kaffeewertschöpfungskette eingebettet. Formale Verträge mit den Bauern gibt es nicht. Die Beziehung beruht auf gegenseitigem Vertrauen (Schmidli 2016). NPI hat zudem starke und intensive Beziehungen zu staatlichen Stellen, Nichtregierungsorganisa-

Prinzipienorientierte Einbettung

241

tionen und Zulieferern. Dies ist für NPI essenziell für eine zuverlässige und konstante Versorgung mit Kaffee (Schmidli 2016). Weil die Kaffeeproduktion seit Jahrzehnten rückläufig ist, unternimmt NPI einiges, um die Kaffeebauern zu schulen, damit sie aus ihrem Betrieb ein Geschäft machen können (Schmidli 2016). Das sogenannte 4C (The Common Code for the Coffee Community) Programm beinhaltet Schulungen, um die Produktivität, Rückverfolgbarkeit und die Qualität des Kaffees zu steigern. Ebenso werden sichere und umweltfreundliche Praktiken (Agroforstwirtschaft, Bodenschutzmassnahmen, ressourcenschonende Methoden) für den Kaffeeanbau gefördert. Die Anstrengungen zahlen sich aus. NPI hat dadurch einen Wettbewerbsvorteil und geniesst einen sicheren und exklusiven Zugang zu qualitativ gutem Kaffee (Schmidli 2016). Mithilfe staatlicher Programme gelangt NPI in abgelegene Gebiete, was für Kaffeebauern und ländliche Gemeinden neue Möglichkeiten eröffnet. NPI wird dafür gepriesen, dass es regelmässig neue Arbeitsplätze schafft (Schmidli 2016). NPI generiert Einkommen, was die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bauern und der Gemeinden erhöht. Dadurch verbessern sich auch die Lebensumstände, wie die Ernährung oder die Bildung für die ganze Dorfgemeinschaft. Dies fördert wiederum die gute Beziehung mit dem Unternehmen und stärkt das gegenseitige Vertrauen zwischen NPI und den Bauern. Weitere positive Effekte für die Kaffeebauern sind der verbesserte Marktzugang, und Zugang zu Marktinformationen via Text Connect, einem firmeneigenen Programm (Schmidli 2016). NPI nimmt eine wichtige Rolle ein, indem die Firma die Bauern mit staatlichen Programmen kurzschliesst (oder auch mit NGO), die Dienstleistungen (z. B. im Finanzbereich) anbieten. Schmidli (2016) kommt zum Schluss, dass Nestlé in seiner CSV Strategie viele Elemente der Einbettung eingebaut hat und macht Vorschläge für eine vertiefte Einbettung. Dazu gehören mehr Allianzen, um mehr Kaffeebauern erreichen zu können. Die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft müsste ebenfalls verbessert werden, um Hochertragssorten, die auf die lokalen Verhältnisse angepasst sind, zu fördern.

Politik

Relational & Struktural

Infrastruktur

Umwelt

Technologie

Wirtschaft

Sozial

Einbettung Dimension

Neue lokal angepasste Kaffeesorten Kooperation mit Universitäten PPPs Verbesserte Produktivität

- Staatliche Fördermittel für Kaffeeprojekte

- Keine Vertragslandwirtschaft

- Vielseitige Beziehungen - Viele & starke Bindungen - Tägliche Kontakte

- Nachernte Anlagen

- PPP Kaffee-Aufzucht

- Organischer Dünger

- Agroforstwirtschaft - Nachhaltige Ressourcennutzug

- Nachernte Anlagen

-

- Transparente Geschäfte

- Internationale Standards - Abgabe von Kaffeesetzlingen

- Schulungen - Gemeindeentwicklung - Farmer als Unternehmer

Firmenfragebogen

Anreize für Qualität & 4C Abgabe v. Kaffeesetzlingen Transparente Preise Schaffung v. Arbeitsplätzen Einbinden in Finanzsystem

- Dank staatlichen Projekten NPI in abgelegenen Gebieten

- Schulungen von Regierungsstellen und Nestlé - Nestlé wie Teil der Familie - Hohes Maß an Vertrauen

- Allwetter-Trockner für Kaffee

- Quellsanierung

- Agroforstwirtschaft - Management von Wassereinzugsgebiet - Organischer Dünger

- Gemeinsame Schulung - Verbesserte Produktivität - Nachernte Anlagen

-

- Schulungen zu Gesundheit und Sicheheit - Anbindung an staatliche Programme, Buchführung

Umfrage bei Kaffeebauern

- NPI löst staatl. Investitionen aus

- Text Connect

- Agroforstwirtschaft - Quellsanierung

- Nachernte Anlagen

- Neue Kaffeesorten sind nicht geeignet (┼) - Gemeinsame Schulung - Verbesserte Qualität

- Anreize für Qualität & 4C - Ausgezeichneter Arbeitgeber

- Gesundheit und Bildung sind große Probleme (┼)

Expertenumfrage

242 Isabelle Schluep

Tabelle 2: Positive Effekte der lokalen Einbettung von Nestlé Philippines Inc. NPI (Schmidli 2016)

Prinzipienorientierte Einbettung

5.4

243

Firmenbeispiel: Nestlé Indonesien

In der Studie zur Kakaowertschöpfungskette von Nestlé in Indonesien präsentiert sich das Ergebnis weniger positiv als auf den Philippinen. Da Nestlé das erste Glied in der Wertschöpfungskette, den direkten Einkauf der Kakaobohnen bei den Kleinbauern verkauft hat, und dieses Geschäft somit einer Handelsfirma überlässt, kennen die Kakaobauern Nestlé kaum mehr (Bartel 2017). Über einen Drittanbieter (Swisscontact) lässt Nestlé den Bauern zwar Schulungen zukommen, um die Produktivität der Kakaoproduktion zu steigern. Bauern assoziieren dieses (ausgelagerte) Engagement aber nicht mit Nestlé. Das über verschiedene Quellen alimentierte Ausbildungsprogramm hat zudem grosse Mühe mit der Skalierbarkeit und der gewünschten Wirkung (höhere Erträge). Das höchste Mass an Einbettung erreicht Nestlé in der technologischen Dimension, wo die Firma mit dem Indonesian Coffee & Cocoa Research Institute (ICCRI) zusammenarbeitet. Dadurch konnten die höchsten Nachhaltigkeitseffekte erzielt werden wie höhere Produktivität, besserer Marktzugang, und ein besseres Leben auf dem Land (Bartel 2017). Ansätze, die eine Diversifizierung der Wirtschaft fördern würden und zu einem (positiven) Strukturwandel in den ländlichen Gebieten beitragen könnten, fehlen jedoch. Das ebenfalls untersuchte Einbettungsmodell der Firma Mars, die direkt über eine Kooperative bei den Kakaobauern einkauft, welche auch Finanzierungsinstrumente anbietet, scheint ein vielversprechenderer Ansatz zu sein, weil dadurch die nachhaltige Einbettung der ausländischen Firma nicht gehemmt, sondern eher gefördert wird (Bartel 2017).

6

Schlussbemerkungen

Ein inklusives Wachstum bedeutet, dass die Erträge aus einem wirtschaftlichen Aufschwung bei möglichst allen Menschen ankommen müssen. Das kann in Form von Löhnen und Beschäftigung passieren bis hin zu gesellschaftlicher und sozialer Teilhabe in einem weiteren Sinne. Damit dies geschieht, braucht es tugendhafte Unternehmer in Tochterfirmen von MNU wie auch in lokalen Unternehmen, für welche die moralische Verantwortung im langfristigen Eigeninteresse ist, und die den grössten gesellschaftlichen Nutzen dadurch erbringen, dass sie auf neue Risiken und Knappheiten mit neuen Ideen und Innovationen reagieren (Aerni 2016). Es braucht aber auch Regierungen, die Rahmenbedingungen schaffen, die eine prinzipienorientierte und nachhaltige Einbettung von MNU ermutigen. Die Entfaltung globaler Märkte und globaler/lokaler Wertschöpfungsketten durch MNU können daher auch eine enorme Ermächtigungswirkung für die lokale Wirtschaft und Gesellschaft haben in den Regionen, in denen sie investieren. Um

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einen Beitrag zur Verbesserung der lokalen Umwelt zu stiften, braucht es eine Zusammenarbeit zwischen multinationalen und lokalen Unternehmen, die durch innovative Lösungen eine effizientere Nutzung der natürlichen Ressourcen oder die Substitution von ökologisch bedenklichen Produkten vorantreiben (Aerni 2015). Prinzipienorientierte Einbettung ist aber nur erfolgreich, wenn die lokale Gesellschaft eine selektive „Hybridisierung“ globaler Unternehmen mit lokaler Kultur unterstützt (Aerni 2018). Wie aber kann der Beitrag für nachhaltiges und inklusives Wachstum erfasst werden, und bis zu welchem Grad reflektiert Einbettung lokale politische und industriespezifische Aspekte? Welches sind die relevanten Indikatoren für die Einbettung? Wie kann die Einbettungsleistung eines MNU besser und schneller gemessen werden, und wie vergleicht sie sich mit den Leistungen gleichrangiger Unternehmen? Diese offenen Fragen hoffen wir, in einem neuen Projekt lösen zu können. Das neue Instrument (Key Embeddedness Indicators mit industriespezifischen Benchmarks, Targets und No-goes) würde dazu beitragen, prinzipienorientierte Einbettung zu belohnen, und Scheinnachhaltigkeit aufzudecken. RatingAgenturen sollten bei der Beurteilung der Nachhaltigkeit von Unternehmen solche neuen Kennzahlen verwenden, und ihre Narrativen anpassen.

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Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels BlockchainTechnologie Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann und Florian Anderhuber



Einleitung .................................................................................................. 250  1.1  1.2 



Eigenschaften, Chancen und Anwendung einer Blockchain ..................... 251  2.1  2.2  2.3 



Nachhaltigkeit, Globalisierung und Digitalisierung ....................... 258  Nachhaltigkeit in Wertschöpfungsketten ....................................... 258  Multi-Metall-Wertschöpfungskette und -Zertifizierung................. 260 

Einsatz der Blockchain in der Multi-Metall-Zertifizierung ....................... 264  4.1  4.2  4.3 



Eigenschaften der Blockchain gegenüber klassischer IT ............... 251  Chancen und Herausforderungen ................................................... 252  Bewertungsmatrix für idealtypische Anwendungsfälle.................. 255 

Nachhaltige Wertschöpfungsketten in Bezug auf Metalle ........................ 257  3.1  3.2  3.3 



Aufgabe der Multimetall-Zertifizierung......................................... 250  Herangehensweise der Untersuchung ............................................ 250 

Material-Identifikation in den Wertschöpfungsschritten................ 264  Schritte und Transaktionen im Soll-Prozesss ................................. 266  Expertenbefragung zu Nutzen und Anwendbarkeit ....................... 274 

Fazit ........................................................................................................... 280  5.1  5.2 

Gesamtbewertung .......................................................................... 280  Ausblick auf die Umsetzung .......................................................... 281 

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_12

250

1 1.1

Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann und Florian Anderhuber

Einleitung Aufgabe der Multimetall-Zertifizierung

Nachhaltigkeit ist in Zeiten von Umweltverschmutzung wie Schadstoffemissionen oder Mikroplastik ein Begriff, der unseren Zeitgeist prägt. Mit zunehmendem Druck von Endverbrauchern, Non-Profit-Organisationen und neuen regulatorischen Anforderungen gewinnt die Thematik auch in der Metall-Industrie zunehmend an Bedeutung. Aktuell werden Metalle mittels verschiedenen international bindenden und nicht bindenden Zertifizierungsverfahren auf ihre nachhaltige Herkunft geprüft. Bestehende Zertifizierungsprogramme, wie z. B. die Responsible Cobalt Initiative für Kobaltmetalle (Yangfan 2016: 1-2), sind jedoch nur an einzelne Metalle geknüpft und definieren jeweils verschiedene Anforderungen an das Nachhaltigkeitsmanagement. Aufgrund dessen sind die in der Wertschöpfungskette involvierten Akteure (Förderstätten, Minengesellschaften, Händler, Schmelzen, Verarbeiter und Recycling-Betriebe) nicht optimal befähigt, Förderung, Handel, Produktion, Verarbeitung und Vertrieb einheitlich auf Nachhaltigkeit auszurichten. Es fehlt an einem übergreifenden System, dass eine Anerkennung auf Nachhaltigkeit über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg vom Rohmaterial beginnend, bis hin zu daraus erzeugten multiplen Metallen und Produkten ermöglicht und die dazu erforderlichen Prozesse durch Digitalisierung verschlankt. Von der Blockchain-Technologie wird angenommen, dass sie Zertifizierungsaufgaben von der bloßen Zurechnung von Eigentumsverhältnissen bis hin zu komplexen Smart-Contract-Strukturen sicherer und mittlerweile auch in ähnlicher oder gar höherer Effizienz als bestehende IT-Systeme leisten kann (Kütt 2018: 1). Die Daten auf der Blockchain sind dabei nicht nur sicher und dokumentenfest, sondern zugleich allen Teilnehmern im Netzwerk verfügbar. Daher scheint die Blockchain-Technologie geeignet, die vorliegende Aufgabe der Metall-Zertifizierung zu lösen. Der folgende Buchbeitrag soll entsprechend die Einsatzpotenziale der Blockchain-Technologie in der Multi-Metall-Zertifizierung in Hinblick auf die konkrete Umsetzung diskutieren und bewerten.

1.2

Herangehensweise der Untersuchung

In Kapitel 2 werden zunächst die Eigenschaften sowie Vorteile und Herausforderungen der Blockchain-Technologie im Vergleich zu klassischen IT-Systemen aufgezeigt. Daraus wird ein Bewertungsschema entwickelt, das für die Blockchain-

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

251

Technologie potenziell idealtypische Anwendungsfälle identifizierbar macht. Anhand dessen wird die Multi-Metall-Zertifizierung betrachtet. In Kapitel 3 wird die Aufgabe der Nachhaltigkeit im Kontext von globalisierten Wertschöpfungsketten definiert. Darauf aufbauend wird der spezielle Anwendungsfall der Multi-MetallWertschöpfungskette und -Zertifizierung im Kontext der Nachhaltigkeit erläutert. Kapitel 4 stellt eine Synthese der Kapitel 2 und 3 dar. Hier wird der konkrete Einsatz einer Blockchain in der Multi-Metall-Zertifizierung dargestellt. Zunächst erfolgt eine End-to-End-Prozessbeschreibung der Multi-Metall-Zertifizierung auf einer Blockchain. Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihres Nutzens und ihrer Anwendbarkeit sowohl quantitativ als auch qualitativ bewertet. Hierzu wird jeweils ein mit der Thematik vertrauter Experte eines Metall-Verbandes, eines Metall-Unternehmens, sowie der OECD befragt. Ziel ist es, den Anwendungsfall sowohl normativ zu bewerten, als auch explorativ noch offene Herausforderungen und Erfordernisse als nächste Schritte der Umsetzung zu identifizieren. Kapitel 5 liefert abschließend eine Gesamtbewertung des Einsatzpotenzials der Blockchain-Technologie in der Multi-Metall-Zertifizierung sowie einen Ausblick auf die nächsten Schritte in Hinblick auf die Umsetzung.

2

Eigenschaften, Chancen und Anwendung einer Blockchain

Die Blockchain-Technologie als Innovation im Bereich der Datenbanksysteme gilt mit ihrer dezentralen Speicherung von Daten vielen Protagonisten als revolutionäre Disruption in der Informationstechnologie (Bosch et al. 2018: 39).

2.1

Eigenschaften der Blockchain gegenüber klassischer IT

Für die Blockchain-Technologie, die wie auch in diesem Buchbeitrag meist synonym zum Begriff der Distributed-Ledger-Technologie (DLT) verwendet wird, gilt DLT als formeller Oberbegriff. Die DLT als sogenanntes verteiltes Register beinhaltet neben einer Blockchain (Kette von Blöcken, welche Transaktionen in der entsprechend durchgeführten Reihenfolge enthält) weitere technische Komponenten: Private und öffentliche Schlüssel (Private- und Public-Keys) für Zugriffrechte und Adressierbarkeit von Stakeholdern, kryptografische Verschlüsselungsverfahren, digitale Signaturen, Zuordnung und Komprimierung von Transaktionen durch sogenannte Hash-Funktionen, Konsensalgorithmen zur Bestätigung der Authentizität von Transaktionen

252

Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann und Florian Anderhuber

sowie die Automatisierung von Geschäftsprozessen mittels Smart-Contract-Funktionen (Mitschele 2018: 1). Die optimale Ausprägung der genannten technischen Komponenten der DLT ist dabei jeweils von dem zu betrachtenden Anwendungsfall abhängig. Die wesentliche Funktion der DLT ist die eines digitalen Registers, das alle Transaktionsdaten unter den Nutzern manipulationssicher aufzeichnet und einsehbar abgespeichert. Abhängig von der jeweiligen technischen Umsetzung des Systems, haben entweder alle oder auch nur eine bestimmte Untergruppe des Netzwerks Lese- oder Schreibrechte für bestimmte Inhalte. Das verteilte Register genießt dabei (verglichen mit zentralen IT-Systemen) eine besonders hohe Datenintegrität, die sich durch die dezentrale Abspeicherung der Transaktionsinformationen auszeichnet, die wiederum im Nachhinein nur schwierig bis unmöglich verändert werden können. Ökonomisch betrachtet entspricht dies dem Prinzip des öffentlichen Statements, bei dem ein einmal veröffentlichtes Statement nicht mehr zurückgenommen werden kann, da alle Mitglieder der adressierten Gemeinschaft über die Information verfügen, Unternehmen oder auch Privatpersonen können sich somit auf die Wahrhaftigkeit, bzw. die Dokumentenfestigkeit, der im Register hinterlegten gemeinsamen Daten als Single-Point-ofTruth verlassen. Die in der DLT integrierte Datenredundanz schützt dabei zudem alle Teilnehmer bei Systemausfällen vor Datenverlust. Das Besondere an einer Blockchain ist, dass ihre sehr dokumentenfesten Daten zugleich allen Netzwerkteilnehmern in Echtzeit zur Verfügung stehen, also auch in höchstem Maße transferierbar, liquide, bzw. verfügbar sind (Bosch et al. 2018: 39).

2.2

Chancen und Herausforderungen

Im Vergleich zu herkömmlichen zentralen IT-Systemen ergeben sich für die Blockchain als verteiltes Register spezifische Chancen und Herausforderungen, die es zu adressieren gilt. Chancen einer Blockchain Klare Vorteile eines verteilten Registers liegen in der Transparenz und in der Dezentralisierung der in der Datenbank hinterlegten Daten. So kann die Blockchain anders als klassische IT-Systemen sowohl Dokumentenfestigkeit bzw. Manipulationssicherheit, als auch maximale Übertragbarkeit und Verfügbarkeit von Daten ermöglichen. Zur Manipulationssicherheit der Blockchain gehört im Kern die Lösung des Double-Spending-Problems (Sixt 2017: 10), also das Daten nicht mehr beliebig vervielfältigbar sind.

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

253

Herkömmliche Geschäftsmodelle in der Digitalökonomie basieren meist auf einem Client-Server-Modell. Hier werden Informationen auf Servern abgespeichert und zentralisiert von einem Administrator verwaltet. Clients haben, abhängig von ihren jeweiligen Lese- und Schreibrechten, Zugriff auf diese Daten, ohne die Informationen selbst abspeichern zu müssen. Facebook, Amazon oder Google sind klassische Beispiele für ein solches Modell. Das Unternehmen selbst speichert und verwaltet alle Informationen, bzw. Daten des Netzwerks während Nutzer mit dem Netzwerk mittels Schreib- oder Leserechten miteinander interagieren können. Dieses Modell verleiht den jeweiligen Netzwerkadministratoren allerdings auch aufgrund der enormen Netzwerkeffekte nahezu den alleinigen Einfluss über die Daten. Monopolartige Marktstrukturen sind die Folge, die es Unternehmen wie Facebook, Amazon oder Google ermöglichen, den Großteil des monetären Werts dieser Daten zu absorbieren. Gleichzeitig können sie ihre Marktposition dahingehend nutzen, um Anwendern zu verschweigen, ob Ihre Daten missbraucht, gestohlen oder manipuliert wurden (Bosch et al 2018: 39). Ein verteiltes Register kann solche Praktiken unterbinden. Da die Daten dezentral gespeichert sind und von den Anwendern selbst verwaltet werden, kann der Wert dieser Daten von denselben selbst erschlossen werden. Der Interessenkonflikt zwischen Daten-Owner (als Prinzipal) und Daten-Verarbeiter (als Agent), dem digitale Geschäftsmodelle unterliegen (Gehrke 2004: 149), ist durch die Blockchain grundsätzlich gelöst. Denn hier findet der Datenaustausch „peer-to-peer“ zwischen den Prinzipalen statt, womit keine Informationsasymmetrien und Prinzipal-AgentKonflikte vorliegen können. Darüber hinaus ergeben sich die Vorteile eines verlässlichen Single-Point-ofTruth bei der gemeinsam durch die Blockchain genutzten Datengrundlage (McKendrick 2018: 1). Dies ermöglicht bei gemeinsamer Nutzung (z. B. innerhalb einer Branche) eine einheitliche Qualität authentischer Daten, Freiheit von Medieneinbrüchen und Nutzbarkeit der Daten in Echtzeit. Wenn zusätzlich mittels von Smart-Contract-Strukturen Geschäftsprozesse abgebildet werden, ist eine lückenlose und authentische Dokumentation und Automatisierbarkeit von Geschäftsprozessen gewährleistet (McKendrick 2018: 1). Durch die Sicherstellung von Authentizität und maximaler Verfügbarkeit der Datenebene ohne zentrale Intermediäre, fungiert die Blockchain-Technologie dabei auch als entscheidender „Enabler“ des Internet-of-Things (IoT). Durch das Eintragen von realen Gütern in ein verteiltes Register können Menschen und Maschinen diese Güter transparenter wahrnehmen, darauf reagieren und mit ihnen kommunizieren. Vermögensgegenstände sind somit von selbst auffindbar, verwendbar und verfügbar (Tapscott 2016: 205).

254

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Herausforderungen einer Blockchain Die Blockchain ist als verteiltes Register jedoch auch mit verschiedenen Herausforderungen verbunden. Die Datenredundanz und der mit dem Konsensalgorithmus verbundene Aufwand zur Authentifizierung und Verifizierung von Transaktionen führen zu erhöhtem Speicher-, Rechen- und Kommunikationsaufwand und somit ggf. zu Geschwindigkeitseinbußen und finanziellen Mehraufwänden gegenüber herkömmlichen zentralen IT-Systemen. Die Effizienz kann jedoch drastisch erhöht und herkömmlichen IT-Systemen nahezu angeglichen werden, wenn z. B. ergänzend oder anstelle des Proof-of-Work-Verfahrens (Beweis durch bloße Einbringung von Rechenleistung) das Proof-of-Stake-Verfahren (Beweis durch hohen Anteil am Netzwerk) oder Proof-of-Authority-Verfahren (Beweis durch Autorität, wie z. B. bei einem Notar) eingesetzt wird, oder die Blockchain nicht als Public-, sondern als Private-Blockchain mit eingeschränktem Nutzerkreis betrieben wird (Kaltofen 2017: 1-3). Auch kann die hohe Transparenz einer Blockchain bei nicht anwendungsgemäßer Ausgestaltung zu Problemen führen, wenn es sich z. B. um sehr vertrauliche Informationen handelt: Im Fall von Geschäftsgeheimnissen, liegt es schließlich nicht im Interesse aller Geschäftspartner, private Transaktionen mit allen Netzwerkteilnehmern zu teilen (Bosch et al 2018: 39). Der eigentliche Sachinhalt der Transaktion kann jedoch auf einer Blockchain verschlüsselt werden, sodass er nur für Berechtigte einsehbar ist (Bärligea 2018: 1). Die dazu erforderlichen ZeroKnowlege-Verfahren, wie z. B. zk-Snarks in öffentlichen Blockchain-Lösungen sind allerdings mit einem zusätzlichen Rechen- und Kostenaufwand verbunden. Private Blockchain-Lösungen können ohne diese Aufwände auskommen, da hier von vornherein nur autorisierte Personen Zugang erhalten. Während für alle technischen Herausforderungen bereits tragfähige Lösungen durch den technischen Fortschritt abzusehen sind, muss sich ein Marktstandard (z. B. auch Standardschnittstellen über sogenannte Inter-Blockchains zwischen verschiedenen Blockchain-Lösungen zur Sicherstellung von Interoperabilität) noch herauskristallisieren. Im Geschäftsbereich haben sich für den Blockchain-Betrieb Ethereum Business, Hyper Ledger und R3 Corda in erster Linie drei wesentliche Standards etabliert (Fersht 2018: 1). Abschließend bleibt zu erwähnen, dass mehrere regulatorische Fragen, wie z. B. die Kategorisierung und damit auch Besteuerung von Tokens auf einer Blockchain oder Haftung und datenschutzrechtlichen Behandlung noch zu klären sind (Schäffler et al 2018: 1-4).

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

255

Bezug der Daten- zur Realebene als generelle Herausforderung Auf einer Blockchain bereits eigetragene Daten sind im Vergleich zu herkömmlichen zentralen IT-Systemen wesentlich manipulationssicherer und verfügbarer. Wie bei herkömmlichen zentralen IT-Systemen auch, kann jedoch auch bei einer Blockchain nicht durch die Informationstechnologie selbst sichergestellt werden, dass der Urheber der Daten auch tatsächlich authentische Daten in das System eingibt. Diese Herausforderung kommt gerade im Fall einer auf einer Blockchain dokumentierten Wertschöpfungskette besonders zum Tragen. Beispielsweise könnte der Strichcode eines Pakets an den verschiedenen Stationen in einer Lieferkette registriert und entsprechend seines Status auf einer Blockchain eingebucht werden. Die Daten darüber selbst wären zwar auf der Blockchain im Nachhinein nicht mehr manipulierbar, jedoch gewährleistet dies nicht automatisch die Unveränderbarkeit des Paketinhalts. Das heißt, der Bezug der Daten zur tatsächlichen Realität bleibt auch im Falle einer Blockchain eine zu lösende Herausforderung. Ein Natural-Identifier, also ein eindeutiges Identifikationsmerkmale des realen Gegenstandes selbst, könnte den Bezug der Daten- zur Realebene sicherstellen. Im gewählten Beispiel könnte dies z. B. ein eindeutiges Verhältnis von Gewicht und Größe des Paketes sein.

2.3

Bewertungsmatrix für idealtypische Anwendungsfälle

Je nach Anwendungsfall kommen die zuvor dargestellten Chancen der BlockchainTechnologie mehr oder weniger zum Tragen. Anwendungsfälle, die Chancen dieser Technologie möglichst weit nutzbar machen, könnten für den Einsatz einer Blockchain-Technologie als idealtypisch gesehen werden. Je höher der Nutzen, desto eher können auch die mit der Implementierung einhergehenden Aufwände einer Blockchain-Lösung bewältigt werden. Zusammengefasst lassen sich basierend auf Kapitel 2.2 zwei große Chancen einer Blockchain gegenüber herkömmlichen zentralen IT-Systemen erkennen: 

Es ist kein Vertrauen in einen zentralen Anbieter erforderlich, da die Blockchain dezentral ohne einen zentralen Anbieter operiert und somit PrinzipalAgent-Konflikte aufhebt. Daher eignet sich die Blockchain-Technologie besonders dann, wenn Vertrauen in einen zentralen IT-Anbieter, bzw. Datenverantwortlichen schwierig oder gar nicht etablierbar ist. Beispiele hierfür sind die mangelnde Akzeptanz und Nutzung des digitalen Personalausweises (Nagel 2018: 1) oder die öffentliche Kritik an der elektronischen Gesundheitskarte (Mihm 2018: 1).

256 

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Die Blockchain ermöglicht sowohl höchste Dokumentenfestigkeit, als auch höchste Verfügbarkeit, bzw. Übertragbarkeit von Daten. Dies war bisher ein Widerspruch, bzw. ein Trade-off in der Informationstechnik: Entweder eine Information war besonders manipulationssicher, wie z. B. die Eintragung über Immobilieneigentum bei einem Grundbuchamt oder besonders leicht übertragbar dann jedoch leicht manipulierbar, wie z. B. eine E-Mail. Daher eignet sich die Blockchain besonders für Anwendungsfälle, bei denen sowohl Dokumentenfestigkeit, als auch Verfügbarkeit von Daten erforderlich sind.

Vertrauen in einen zentralen Verantwortlichen ist schwer oder nicht etablierbar

Vertrauen in einen zentralen Verantwortlichen ist leicht etablierbar

Allgemein gilt für die Blockchain, wie für alle IT-Lösungen auch, dass die Anwendbarkeit umso besser einzustufen ist, je klarer definierbar die Datengrundlage und falls erforderlich deren Bezug zur Realebene definierbar ist. Dies gilt für die Blockchain sogar verstärkt, da sie, sofern sie einmal im öffentlichen Betrieb ist, nicht mehr wie klassische Software durch ihren Urheber ohne Weiteres mittels Updates verändert werden kann, sondern wegen ihres dezentralen Betriebes auf die Zustimmung aller Nutzer zur Änderung angewiesen ist. Die folgende Bewertungsmatrix (Abbildung 1) fasst zusammen, wie anhand der zwei grundlegenden Chancen der Blockchain-Technologie sowie dem Kriterium einer klar definierbaren Datengrundlage verschiedene Anwendungsfälle hinsichtlich des Einsatzpotenzials der Blockchain-Technologie zu bewerten sind. Entweder Dokumentenfestigkeit oder Verfügbarkeit von Daten sind gefordert

Sowohl Dokumentenfestigkeit, als auch Verfügbarkeit von Daten sind gefordert

Schlechtester Anwendungsfall

Legende

z. B. innerbetriebliche Office-Dokumente

Datenbasis schwer, bzw. gut definiert- und verfügbar

Idealtypischer Anwendungsfall z. B. Digitale Identität, internationaler Zahlungsverkehr

Abbildung 1: Bewertungsmatrix für das Blockchain-Technologie-Einsatzpotenzial

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

257

Überall dort, wo sich herkömmliche zentrale IT-Systeme noch nicht durchsetzen konnten oder wo zentrale IT-Systeme auf Grund ihrer Einschränkungen stark kritisiert werden, liegt eine starke Indikation vor, dass die Voraussetzungen aus der dargestellten Bewertungsmatrix für einen idealtypischen Blockchain-Anwendungsfall vermutlich gegeben sind. Für solche Fälle, wie auch den hier behandelten Fall der Multi-Metall-Zertifizierung, für den es noch keine zentrale IT-Lösung gibt, kann eine genauere Untersuchung entsprechend lohnend sein. So ist, ähnlich wie im Fall der internationalen Seecontainerschifffahrt, zu deren Abwicklung sich ebenfalls noch keine zentrale IT-Lösung etablieren konnte, zu vermuten, dass es für global verteilte Metallbetriebe schwer ist, soweit Vertrauen in einen zentralen IT-Anbieter fassen zu können, dass sie diesem alle Daten über ihre Ware zur Verfügung stellen würden. Einerseits sind Geschäftsgeheimnisse betroffen, andererseits würden sich Betriebe in einem souveränen Rechtsraum ungern von einer zentralen IT-Plattform abhängig machen, für die ein anderes konkurrierendes Recht gilt, um nicht Opfer überraschender Regeländerungen und Sanktionen zu werden. Genau solche unvorhersehbaren Regeländerungen sind bei der Blockchain als verteiltes Register nicht möglich. Da im Fall der Multi-Metall-Zertifizierung sowohl Dokumentenfestigkeit, als auch Verfügbarkeit der Daten erforderlich sind, erscheint eine Blockchain-Lösung besonders interessant. Die Definition der Datengrundlage für die Multi-Metall-Zertifizierung erscheint im Vergleich z. B. zu der einfachen Anwendungsform von Zahlungsverkehr auf der Blockchain komplex. Entsprechend wäre der Fall der Multi-Metall-Zertifizierung in Bezug auf Nachhaltigkeit in der oben eingeführten Bewertungsmatrix in der linken oberen Hälfte des Quadranten rechts unten anzuordnen.

3

Nachhaltige Wertschöpfungsketten in Bezug auf Metalle

In diesem Kapitel wird der Begriff der Nachhaltigkeit in Bezug auf globale und digitalisierte Wertschöpfungsketten mit Fokus auf die Multi-Metall-Wertschöpfungskette- und Zertifizierung behandelt.

258

3.1

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Nachhaltigkeit, Globalisierung und Digitalisierung

Nachhaltigkeit beschreibt ein Handlungsprinzip zur Ressourcen-Nutzung, bei dem die Bewahrung der wesentlichen Eigenschaften, der Stabilität und der natürlichen Regenerationsfähigkeit eines Systems im Vordergrund steht. Im gesellschaftlichen Kontext ermöglicht nachhaltiges Handeln die Bedürfnisse unserer Gegenwart zu befriedigen, ohne dabei nachkommenden Generationen eben diese Möglichkeit zu verwehren. Vor dem Hintergrund steigender Schadstoffemissionen, Ausbeutung von Rohstoffen und Umweltverschmutzung gilt der Begriff „Nachhaltigkeit“ vermehrt als gesellschaftlich-politisches und normatives Leitbild für eine bessere Zukunft (Grunwald/Kopfmüller 2012: 11). Zusätzlich kommt es auf makroökonomischer Ebene durch den Einfluss von Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu Verhaltensänderungen von Investoren und Nachfrage-Kriterien seitens der Kunden. Ein konkretes Beispiel ist die Shared-Economy. Durch die geteilte Nutzung von Produkten wie Autos bieten sich ökologische Vorteile in Hinblick auf z. B. Schadstoffemissionen (Kröhling 2017: 23). Durch die verstärkte Vernetzung, schnellere Nachrichtenzyklen und schnelleren Informationszugang wird Nachhaltigkeit noch weiter aufgewertet, wenn es um Entscheidungen für Produkte oder für Unternehmen geht (Seele/Lock 2017: 183-184). Auf nationaler Ebene zwingt zudem die Globalisierung in Bezug auf Nachhaltigkeit bereits heute Staaten zum Handeln. Aufgrund der Verflechtung von Nachhaltigkeit, Nachfrage und Wertschöpfung, tragen Umweltschutzpolicen und Arbeiterrechte viel zur Standortattraktivität eines Landes bei und fördertet somit die Ansiedlung global agierender nachhaltiger Unternehmen. Durch positive Anreize („eine Firma die nachhaltig wirtschaftet wird belohnt“), kann die die Politik darüber hinaus ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit fördern (Petschow 1997: 14). Nachhaltigkeit bedeutet zusammengefasst langfristigen und ganzheitlichen Kapitalerhalt oder Kapitalausbau (inkl. Sozial-, Human- und Umweltkapital) und Wirtschaften nach dem Win-Win-Prinzip ohne negative externe Effekte auf unbeteiligte Dritte inklusive kommender Generationen im Einklang zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialwesen.

3.2

Nachhaltigkeit in Wertschöpfungsketten

Ein effektives, zeitgemäßes Supply-Chain-Management (SCM) muss daher als interne Integration die Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens abbilden und sich in der Unternehmenskommunikation und -strategie zeigen. Letzteres kann Vorgaben für den Einkauf beinhalten, wie z. B. eine möglichst lückenlose Dokumenta-

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

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tion, die sicherstellt, dass Materialien (höchstwahrscheinlich) aus sozialen, umweltbezogenen oder politisch konfliktfreien Regionen bezogen werden. Über die jeweils bilaterale Beziehung zu Lieferanten und Abnehmern besitzen Unternehmen die Möglichkeit, Umwelt- und Sozialstandards zu steuern. Dies nicht nur in der Rolle als Erzeuger, sondern auch, wenn sie als Zwischenglied entlang einer komplexeren Wertschöpfungskette stehen (Wolf 2011: 221). Globale Wertschöpfungsketten müssen nicht nur den Zugang zu Rohstoffen sicherstellen, sondern auch negative Externalitäten wirtschaftlicher Aktivitäten vermeiden. Mit einem immer größeren öffentlichen Bewusstsein für Nachhaltigkeit, wachsen Risiken für Unternehmen, die unmenschliche Arbeitsbedingungen, z. B. Kinderarbeit, oder Umweltschäden in Ihren Wertschöpfungsketten aufweisen. Dies veranlasst Unternehmen sich verstärkt für bessere Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards einzusetzen und Governance-Systeme zur Nachhaltigkeitssteuerung zu konzipieren und dem Verbraucher zu kommunizieren. Gleichzeitig haben Kunden durch die Digitalisierung einen größeren Informationszugang und können Nachhaltigkeitsstrategien von Unternehmen mit Berichten über tatsächliche Situationen vor Ort abgleichen. Hieraus resultiert ein sich selbst verstärkender Zyklus hin zu mehr Nachhaltigkeit, da Unternehmen, die ihrer Sorgfaltspflicht für Nachhaltigkeit nicht nachkommen, von nachhaltig agierenden Unternehmen, welche durch die Endabnehmer bevorzugt werden, zunehmend im Wettbewerb unterliegen, bzw. ersetzt werden (Thorlakson et al. 2018: 2072-2073). Die lückenlose Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in das Management der Wertschöpfungskette gestaltet sich jedoch oftmals schwierig, da es sich dabei sowohl um ein horizontales Thema handelt, mit dem sich Einkaufs-, Rechts-, Qualitätssicherungs- und Kommunikationsabteilungen auseinandersetzen müssen, als auch um ein vertikales Thema, welches Prozesse von Anfang bis Ende, also von der Beschaffung bis hin zum Absatz betrifft. Alle diese Bereiche müssen unternehmensübergreifend auf die zu setzenden Nachhaltigkeitsziele abgestimmt werden (Berzau 2017: 3-4). Eine Wertschöpfungskette, bzw. Supply- oder Value-Chain skizziert die Stufen der Produktion von Produkten oder Dienstleistungen als eine chronologische aneinander Reihung von wirtschaftlichen Aktivitäten. Diese Tätigkeiten schöpfen Wert, verbrauchen Ressourcen und sind über Firmengrenzen hinweg in Prozessen miteinander verbunden. In der Metallindustrie wird die Wertschöpfungskette in Upstream- (Rohstoffschöpfung, Zulieferer, Endproduktehersteller, im Englischen Original Equipment Manufacturer/OEM) und Downstream-Aktivitäten (Distributoren, Endkunden, Recycling) unterteilt. Der Upstream wird in der Regel in mehreren Stufen dargestellt. Die direkte Zulieferung von Werkstoffen wird als „Tier 1“

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der Lieferanten bezeichnet. Eine vorhergehende Rohstoffschöpfung und -verarbeitung ist als „Tier 2“ markiert. Abbildung 2 gibt einen Überblick einer ganzheitlichen Wertschöpfungskette in der industriellen Produktion. Distribution Information

Zulieferung Tier 2

OEM

Zulieferung Tier 1

Fertigung

Handel

Kunde

Recycling

Abbildung 2: Wertschöpfungskette in der industriellen Produktion

Trotz großer Investitionen in Kommunikationsnetzwerke und Technologien wie digitale Versandhinweise und der Radio-Frequency-Identification (RFID), die die Wertschöpfungskette bestmöglich darstellen und verifizieren sollen, besteht für Unternehmen weiterhin eine große Herausforderung darin zu kontrollieren, was mit den Produkten auf der Wertschöpfungskette passiert. Denn der digitale Versandhinweis kann bspw. zwar den Standort und die Versendungsadresse eines Produkts anhand der Sendungsnummer ermitteln, ist jedoch nicht in der Lage genau zu spezifizieren, was sich in einer Ladung befindet oder ob sie bereits geöffnet, bzw. verändert wurde. Im Laufe der letzten Jahre hat sich das SCM gewandelt. Traditionelle Netzwerke der OEM und ihre Zulieferer, bzw. Händler wandeln sich zu gesamten organisatorischen „Ökosystemen“ und Produktlebenszyklen werden zunehmend kurzlebiger. Damit einhergehend sind wachsende Datenquellen und -mengen sowie Anforderungen an maßgeschneiderte Schnittstellenlösungen. Agile Steuerungsmechanismen für Wertschöpfungsketten und einheitliche Datenmodelle werden somit benötigt, um der steigernden Dynamik gerecht zu werden und Daten über das gesamte digitale Ökosystem verfügbar und lesbar zu machen (Bosch et al. 2018: S. 3).

3.3

Multi-Metall-Wertschöpfungskette und -Zertifizierung

Oft stammen Rohmaterialien wie Metallerze und -konzentrate aus Regionen, deren Umwelt- und Sozialstandards und politische Steuerungsmechanismen nicht denen der EU oder Deutschlands entsprechen, oder wo entsprechende Standards gar nicht

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

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erst vorhanden sind. Da über den grundsätzlichen Zweck der Sicherstellung des Zugangs zu Ressourcen hinaus das SCM auch immer mehr durch Nachhaltigkeitspraktiken erweitert wird (Wolf 2011: 221), ergibt sich die Notwendigkeit branchenspezifische und grenzübergreifende Standards festzulegen und diese zu kontrollieren. Hier haben sich bindende, wie die EU Konfliktmineralien-Regulierung (EU-Verordnung 2017/821) und nicht bindende, wie die „5 Steps Due Diligence Guidelines“ (OECD 2016: 1) regulatorische Anforderungen durchgesetzt. Die Kernproblematik der Wertschöpfungsketten in der Metallindustrie liegt in ihrer enormen Komplexität: Sie erstrecken sich über den gesamten Globus und beziehen ein weites Spektrum an Akteuren ein. So besitzen Minengesellschaften verschiedene Förderstätten, die alle jeweils einzeln bewertet werden müssen, um eine nachhaltige Rohstoffgewinnung zu gewährleisten. Im weiteren Handel und der Verarbeitung von Zwischenprodukten, wie Konzentraten, werden die Erze, bzw. Rohmaterialen aus verschiedenen Minen weiter zusammengemischt und in ein neues Produkt überführt. Dabei ist der Anteil der einzelnen Erze aus den unterschiedlichen Förderstätten oft nicht mehr eindeutig physisch festzustellen und man muss sich auf die Dokumentation von Minengesellschaften und Händlern verlassen. Diese Zwischenprodukte von unterschiedlichen Erzeugern werden in Schmelzbetrieben zu Reinmetallen verarbeitet, die sie an sogenannte „Halbzeughersteller“, also verarbeitende Betriebe weiterverkaufen. Die Schmelzbetriebe erzeugen dabei oft mehr als nur ein Metall aus dem von ihnen bezogenen Rohmaterial. So ist Kobalt auch in Kupferkonzentraten enthalten, oder Gold auch in Kobaltkonzentraten. Schmelzbetriebe werden somit zum Flaschenhals von Metallwertschöpfungsketten: Sie bündeln nicht nur Konzentrat-Ströme aus unterschiedlichen Herkunftsländern auf der Input-Seite, sondern sie vervielfachen auch die Metalllieferkette um die mitproduzierten Nebenmetalle auf der Output-Seite. Wegen dieser Rolle als „Bottleneck“ obliegt es diesen Betrieben, festzustellen, ob Rohstoffe auch nachhaltig geschürft, gehandelt und vorverarbeitet wurden. Die von den Schmelzbetrieben angewandten Mechanismen zur Prüfung von Nachhaltigkeitskriterien und Zertifizierungsmöglichkeiten sollten demnach im Idealfall eine nahezu konfliktfreie Metallherstellung in Europa garantieren (Eslava 2018: 11-16; Bucher et al. 2017: 148). So erfolgt die Feststellung, ob Sozial- und Umweltschutzstandards eingehalten werden über die Zusammenfassung mehrerer Proxy-Parameter bezogen auf die Herkunftsländer, so z. B.: Gesetzeslage und Regulierung von Umweltstandards, Korruptions- und Menschenrechtsindizes, arbeitsrechtliche Vorgaben, Einschätzungen zur politischen Steuerungsfähigkeit, sowie Berichte von internationalen Organisationen und Menschenrechtsorganisationen.

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Es obliegt den Unternehmen, sich auf Basis dieser Informationen ein Bild zu machen und nur mit als entsprechend nachhaltig eingestuften Geschäftspartnern in Verbindung zu treten, bzw. Rohmaterialen nur aus entsprechend nachhaltig eingestuften Regionen zu beziehen (Kampfmeyer 2017: 10-11). Bisherige digitale Lösungsansätze geraten hier wegen der Komplexität von Lieferketten und Prüfkriterien an ihre Grenzen. Die Wertschöpfungskette beginnend mit vielen unterschiedlichen Minengesellschaften, die unterschiedliche Erze, bzw. Rohmaterialen hervorbringen, die gemischt und aus denen verschiedene Konzentrate und Zwischenprodukte erzeugt werden, bis das Metall raffiniert wird, macht die Nachverfolgbarkeit besonders schwierig. Da die Minen sich zusätzlich auch noch in Ländern konzentrieren, in denen Infrastruktur und administrative Steuerungsmechanismen nicht stark genug ausgeprägt sind, ist es ohne Menschen vor Ort, die die Zertifizierungen vornehmen und Konfliktfreiheit bestätigen, kaum möglich über rein digitale Technologien die Nachhaltigkeit der Lieferkette zu bestätigen (Williams 2018; Eslava 2018: 11). Aus diesem Grund haben sich Zertifizierungsmechanismen von Drittanbietern als derzeit probatestes Mittel erwiesen, um einzelne Metalle auf ihre Nachhaltigkeit zu prüfen, um Wertschöpfungsketten von Firmen zu bewerten. Mit der Durchsetzung des OECD „5 Steps Due Diligence Schemes“ (anwendbar für alle Metalle und viele Rohstoffe) und der Umsetzung in EU-Recht durch die Konfliktmineralienverordnung (in einem ersten Schritt nur anzuwenden auf die Herkunft von Konfliktmineralien als meistbetroffene Rohstoffe) sind eine Vielzahl an Zertifizierungsmöglichkeiten aufgekommen. Diese Zertifizierungen schließen z. B. Schemata durch Drittanbieter, freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie, oder verbandsbezogene Standards ein. Beispiele für Drittanbieter sind die Goldund Silberzertifizierungen des London Bullion Markets (LBMA 2018: 1). Verbandsbezogene Standards können beispielhaft an der Aluminium Stewardship Initiative demonstriert werden und freiwillige Selbstverpflichtungen umschließen Maßnahmen wie die Chain of Custody Certification des Responsible Jewellery Councils (RJC 2018: 1) und das Conflict Free Smelter Program (CFSI 2016: 1). Zwar orientieren sich all diese Zertifizierungsmöglichkeiten und die EU Konfliktmineralienverordnung in ihren Vorgaben und Konditionen an der OECD „5 Steps Due Diligence“, dennoch sind die verschiedenen Zertifizierungsprogramme metallspezifisch, z. B. bezogen auf Aluminium, Gold oder Kobalt. Um der Mannigfaltigkeit Herr zu werden und die Qualität dieser oft kostenpflichtigen Programme sicherzustellen, prüft die OECD sie auf Kongruenz mit ihren eigenen Vorgaben und führt ein sogenanntes „Alignment-Assessment“ durch, das die Ver-

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gleichbarkeit zwischen den Programmen und die Abdeckung der Anforderungen der fünf Schritte sicherstellen soll. Bisher deckt kein Zertifizierungsprogramm die OECD-Vorgaben vollumfänglich ab und unterschiedliche Standards gestalten eine Vergleichbarkeit schwierig (OECD 2018: Part II). Wertschöpfungsketten für Kobalt oder für die 3TG-Konfliktmineralien Zinn, Wolfram, Tantal und Gold (StMUV 2017: 1) können, wie bereits beschrieben, Gebiete durchqueren, wo eine genaue Dokumentation schwierig ist und die Redlichkeit der an den zahlreichen Zwischenschritten beteiligten Unternehmen und Händler somit oft nicht vollständig nachprüfbar ist. Aktuell ist Kobalt zwar nicht auf der Liste der Konfliktmineralien eingestuft, aber aufgrund der ähnlichen Risikobedingungen des Abbaus von Kobalt in der Demokratischen Republik Kongo, unterliegt dieses Element auch einer erhöhten Überwachung. Diverse Industrievereinigungen und Unternehmen fordern darum die OECD-Leitsätze zusätzlich auch für Kobalt zu übernehmen und damit eine besondere Sorgfalt beim Abbau und der Förderung zu beachten (Al Barazi et al. 2017: 5). Da für einzelne Unternehmen eine solche Überprüfung sehr aufwändig ist, gibt es Datenbanken, Initiativen und Zertifizierungsmöglichkeiten zur Reduktion von möglichen Nachhaltigkeitsrisiken in der Lieferkette, die aber oft sehr spezifisch auf einzelne Lieferketten, Probleme und Branchen zugeschnitten sind (OECD 2018: 26-27). Die jeweilige Zertifizierung gibt bspw. an, dass die unternehmenseigenen Überprüfungsmechanismen der Wertschöpfungskette ausreichend sind, um Risiken zu erkennen und zu minimieren. Schmelzbetriebe in Europa gelten wegen dieser Mechanismen bereits nahezu konfliktfrei. Um aber in Einzelfällen die Konfliktfreiheit zu überprüfen, bedarf es Einzelprüfungen der Lieferanten. So ist z. B. für 3TG-Metalle eine derartige Zertifizierung von Vorteil, schützt aber nicht vor dem Erfordernis tiefergehender Prüfungen der Wertschöpfungskette, sobald gewisse Frühwarnindikatoren auftreten. Für andere Metalle ist die Zertifizierung und eine vertiefte Prüfung der MetallHerkunft zwar noch ein freiwilliger Standard, allerdings macht das immer stärker werdende Einfordern von NGOs und Downstream-Verarbeitern sie zu wichtigen Signalen der Ernsthaftigkeit der Nachhaltigkeitsbestrebungen eines Unternehmens. Schmelzbetriebe, die mehrere Metalle aus Erzen und Konzentraten fördern, haben durch solche Zertifizierungsmöglichkeiten zwar den Vorteil, dass eine solche Zertifizierung sicherstellt, dass Risiken bestmöglich minimiert werden, jedoch den Nachteil, dass für die Produktion mehrerer Metalle innerhalb eines Unternehmens auch mehrere Zertifizierungen notwendig sind (LBMA/RCR 2017: 1). Hinzu kommt, dass sich derzeitige Überprüfungsmechanismen auf eine gute, wenn möglich lückenlose Dokumentation im Herkunftsland verlassen müssen. Diese Überprüfungsmechanismen bewerten von Europa aus, auf noch von der Eu-

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ropäischen Kommission festzulegende Frühwarnindikatoren basierend, die Möglichkeiten, Materialien konkret auf einzelne Minen und Umschlagplätze zurückzuverfolgen und lokale Gegebenheiten in jeweiligen Herkunftsregionen. Der Dokumentationsaufwand für ein Siegel über nachhaltige Praktiken in der Wertschöpfungskette ist deshalb oft sehr groß und multipliziert sich, sobald mehrere Metalle im Spiel sind. Da gegenseitige Anerkennungsmöglichkeiten oft begrenzt sind, ist es theoretisch auch möglich, ein und dasselbe Metall mehrfach zertifizieren lassen zu müssen, um mit gewissen Geschäftspartnern handeln zu können.

4

Einsatz der Blockchain in der MultiMetall-Zertifizierung

Wie in Kapitel 3.3 dargestellt, bestehen zwar Zertifizierungsverfahren für einzelne Reinmetalle (z. B. Gold oder Kobald) jedoch greift die Produktion dieser Reinmetalle auf teils gleiches, teils kombiniertes, teils unterschiedliches Rohmaterial zurück, das aus verschiedenen Förderstätten stammen kann. Dies verursacht Kosten, Fehlerrisiken sowie mangelnde Transparenz und Vergleichbarkeit. Das hier vorgeschlagene Modell zum Einsatz der Blockchain in der Multi-Metall-Zertifizierung soll im Gegensatz dazu direkt an der Förderstätte die Nachhaltigkeit des Rohmaterials zertifizieren und anschließend die Wertschöpfungskette von dieser Quelle an lückenlos in einem einheitlichen Datenmodell auf der Blockchain dokumentieren. Alle aus dem zertifizierten Rohmaterial hergestellten Reinmetalle und Produkte können dann abgeleitet ebenfalls als nachhaltig gelten. Voraussetzung hierfür wäre ein gemeinsamer Nachhaltigkeitsbegriff, der im Folgenden – da für das vorgestellte Daten- und Prozessmodell technisch nicht unmittelbar relevant – als gegeben vorausgesetzt und durch die Klassifikation in entweder „Nachhaltig“ oder „Nicht-Nachhaltig“ abstrahiert wird. In Kapitel 4.1 werden zunächst Identifikationsmöglichkeiten des verarbeiteten Materials in der Wertschöpfungskette aufgezeigt. Kapitel 4.2 erläutert anschließend die einzelnen Prozessschritte der Wertschöpfungskette und deren Dokumentation durch Transaktionen auf einer Blockchain. Kapitel 4.3 diskutiert abschließend drei unterschiedliche Experten-Meinungen anhand der erarbeiteten Prozessschritte.

4.1

Material-Identifikation in den Wertschöpfungsschritten

Die Identifikation des Materials in der Metall-Wertschöpfungskette ist die Grundvoraussetzung für die Verbindung der auf der Blockchain dokumentierten Datenebene mit der Ebene der realen Welt, über die Aussagen hinsichtlich der Nachhal-

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265

tigkeit getroffen werden sollen. Das Material durchläuft in direkter Abfolge über verschiedene Akteure insgesamt fünf Transformationsschritte, bei der es seine äußere Form und mit ihr auch sein Identifikationsmerkmal verändert (siehe hierzu Tabelle 1). Transformationsschritte Schritt Transformation 1

„Rohmaterial“ gefördert von „Förderstätten“

2

„Rohmaterialmischungen“ erzeugt von u. a. „Händlern“

3

„Reinmetalle“ erzeugt durch „Schmelzen“

4

„Produkte“ erzeugt durch „Verarbeiter“

5

„Recycling-Rohmaterial“ erzeugt durch „Recycling-Betriebe“

In Schritt 1 baut eine Förderstätte Rohmaterial aus genau einem Flöz ab (1:1 Beziehung). Ein Flöz ist eine Gesteinsschicht mit einem individuellen geologischen Fingerabdruck in Form eines eineindeutigen Kohlenstoffgehaltes. Dieser stellt ein natürliches, fest mit dem Rohmaterial verbundenes Identifikationsmerkmal dar. Anhand dieses Natural-Identifiers kann Rohmaterial im späteren Verlauf der Wertschöpfungskette physisch auf seine exakte Förderstätte und damit nachhaltige Herkunft zurückgeführt und überprüft werden. An der Förderstätte werden sogenannte Erze gefördert und anschließend zu Konzentraten mit höherer Qualität verdichtet. Da sich hierbei jedoch nicht der Kohlenstoffgehalt verändert, wird einheitlich von Rohmaterial gesprochen. In Schritt 2 kommt es routinemäßig vor, dass Minengesellschaften, Händler oder Schmelzen das Rohmaterial der verschiedenen Förderstätten vermischen, um handelsübliche, bzw. weiterverarbeitungsgerechte Qualitäten und Quantitäten an Rohmaterial zu erhalten. Der Kohlenstoffgehalt einer Rohmaterialmischung ergibt sich physikalisch als Summe des Kohlenstoffgehalts der Rohmaterialmischungsanteile, gewichtet mit ihrem jeweiligen Anteil an der Gesamtmischung. Das natürliche Identifikationsmerkmal in Form des Kohlenstoffgehaltes bleibt also auch für beliebige Rohmaterialmischungen erhalten und nachvollziehbar. Dies setzt voraus, dass Ursprung des Rohmaterials je Förderstätte und dessen Mischungsverhältnisse bekannt und dokumentiert sind.

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In Schritt 3 geht mit der Weiterverarbeitung von Rohmaterial, bzw. von Rohmaterialmischungen durch das Schmelzen das natürliche Identifikationsmerkmal in Form des Kohlenstoffgehaltes verloren. Ab hier greifen andere Identifikationsverfahren. Reinmetalle können durch minimale Verunreinigungen ohne Einfluss auf die Qualität seitens der Schmelze unwiderruflich physisch gekennzeichnet werden. Dies kann sowohl bewusst, als auch durch den gegebenen individuellen Schmelzprozess der Schmelze geschehen. In Schritt 4 können diese Reinmetalle, die durch den Verarbeiter zu konkreten (Zwischen-)Produkten weiterverarbeitet wurden, theoretisch immer noch anhand des Markers der Schmelzen identifiziert werden, was jedoch umständlich und im Falle von Kleinst- und Verbundprodukten schwer ist. Darum ist es sinnvoll und bereits üblich, dass Verarbeiter von Reinmetallen ihre Produkte durch physisch fest verbundene Seriennummer (z. B. Fahrgestellnummer) eineindeutig kennzeichnen. In Schritt 5 werden ausgediente Produkte von Recycling-Betrieben eingesammelt und wieder zu Recycling-Rohmaterial (z. B. Metall-Schrott) umgewandelt. Dieses Material kann rein mengenmäßig verbucht werden, etwa mit individuellem Gewicht je Volumentranche. Von Rohmaterial aus einer Förderstätte ist es rein äußerlich zudem offensichtlich unterscheidbar. Die Herausforderung des Bezugs der Daten zur Realebene (vgl. Kapitel 2.2) könnte demnach durch das Vorhandensein physisch fest verbundener Identifikationsmerkmale innerhalb der gesamten Wertschöpfungskette als lösbar betrachtet werden. Die dargestellten Natural-Identifier könnten korrespondierend auf ITEbene als eineindeutige Kennungen verwendet werden. Nicht nur die mit der Blockchain verbundene Manipulationssicherheit auf Datenebene wäre gegeben (vgl. Kapitel 2.3), sondern auch die durch diese Daten referenzierten realen Objekte in der Metall-Wertschöpfungskette scheinen damit als relativ manipulationssicher betrachtet werden zu können.

4.2

Schritte und Transaktionen im Soll-Prozesss

Um eine lückenlose Rückverfolgbarkeit der nachhaltigen Herkunft zu gewährleisten, ist jeder der in Kapitel 4.1 dargestellten Schritte 1 bis 5 über die gesamte Metall-Wertschöpfungskette hinweg vollumfänglich durch einzelne Transaktionen auf der Blockchain zu dokumentieren.

Schmelze n

Händler 2

Händler n

Schmelze 1

n:

(Rohwaren) Händler 1

Schritt 3

n:

Verarbeiter n

n:

End- oder Zwischenproduktehändler

n:

Verarbeiter 1

n:

Schritt 4

Endkunde n

Endkunde 2

Endkunde 1

n:

Verarbeitung und Verwendung der Vermischung des Rohmaterials Schmelzen Reinmetalle in zu handelsüblichen Qualitäten des Rohmaterials konkreten Produkten und Quantitäten zu Reinmetallen

n:

Schritt 2



Förderung des Rohmaterials je Förderstätte

Minengesellschaft n

Minengesellschaft 1

Förderstätte Flöz n

n:



Förderstätte Flöz 2

Förderstätte Flöz 1

Schritt 1

Recycling

Recycling Betrieb n

Recycling Betrieb 2

Recycling Betrieb 1

Schritt 5

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

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Abbildung 3: Schritte, Akteure und Beziehungen der Multi-Metall-Wertschöpfungskette

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In der Realität kann die Wertschöpfungskette in komplexere Schritte untergliedert sein, als bisher in Kapitel 4.1 dargestellt. So könnten z. B. in Schritt 2 mehrere Händler hintereinandergeschaltet sein und jeweils unterschiedliche Rohmaterialmischungen vornehmen. Oder in Schritt 4 könnten mehrere Verarbeiter hintereinandergeschaltet als Hersteller von mehreren aufeinander aufbauenden Zwischenprodukten bis hin zum Endprodukt agieren. Innerhalb eines Schrittes findet jedoch auch bei steigender Komplexität keine grundlegend andere oder gar keine Transformation des Ausgangsmaterials statt. Insofern ändern sich die zu tätigenden Transaktionen innerhalb eines Schrittes durch die steigende Komplexität auch nicht grundlegend, bzw. es findet lediglich eine Weitergabe des Materials von einem an den nächsten Akteur statt. Auch kann ein Schritt von unterschiedlichen Akteuren vorgenommen werden. So können Rohmaterialmischungen in Schritt 2 von Minengesellschaften, Händlern oder auch erst bei den Schmelzen vorgenommen werden. Auch ist diesem Fall, fänden jedoch keine grundlegend anderen Transaktionen je Schritt statt, nur weil dieser von unterschiedlichen Akteuren durchgeführt wird. Auf eine entsprechende Detaildarstellung wird daher mangels zusätzlichen Erkenntnisgewinns und zu Gunsten der Anschaulichkeit verzichtet. Abbildung 3 veranschaulicht die fünf Schritte der Metallwertschöpfungskette sowie ihrer Akteure und deren Beziehungen und fasst die Erkenntnisse aus Kapitel 3.3 und 4.1 als Grundlage für die weitere Betrachtung zusammen. Die Transaktionen der Metallwertschöpfungskette werden im Folgenden je Schritt 1 bis 5 inkl. sich anbietenden Kontrollmöglichkeiten besprochen. Schritt 1 In Schritt 1 müsste die Förderstätte die Menge des geförderten Rohmaterials (mit dem individuellen Kohlenstoffgehalt als Natural-Identifer) in laufenden Fördermengeneinheiten als Transaktion (1.1) auf der Blockchain verbuchen. Unabhängige und anerkannte Prüfer, z. B. von der OECD, könnten in regelmäßigen Abständen den jeweiligen Förderstätten per Transaktion (1.2) auf der Blockchain bestätigen, ob sie nachhaltig wirtschaften. Sobald die Förderstätte von ihr gefördertes und als nachhaltig zertifiziertes Rohmaterial an eine Lagerstätte ihrer Minengesellschaft weitergibt, wird diese Weitergabe in der erfolgten Menge als Transaktion (1.3) von der Förderstätte auf der Blockchain gebucht und entsprechend von der Minengesellschaft bestätigt. Für Händler und Schmelzen gälte beim Rohmaterial-Bezug die Transaktion in gleicher Weise. Ergebnis wäre, dass das gesamte von einer entsprechend als nachhaltig gekennzeichneten Förderstätte produzierte und auf der Blockchain gebuchte Rohmaterial durch den Schritt 1.2 als nachhaltig zertifiziert wäre.

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Minengesellschaften, Händler und Schmelzen, die per Schritt 1.3 ausschließlich Rohmaterial aus nachhaltigen Förderstätten verwenden, könnten ebenso als nachhaltig gelten. Kontrollmöglichkeit: Das bei den Förderstätten und der Minengesellschaft tatsächlich vorliegende Rohmaterial (mit entsprechendem Natural Identifier) kann mit dem auf der Blockchain eingebuchten Rohmaterial abgeglichen werden. Wird bei einem Teilnehmer der Wertschöpfungskette Rohmaterial gefunden, dessen Kohlenstoffgehalt bzw. Natural-Identifier keiner als nachhaltig gekennzeichneten Förderstätte zuordenbar ist, wäre dies ein Hinweis auf die Verwendung nicht nachhaltigen Materials. Stimmen die tatsächlich vorgefundenen Mengen an Rohmaterial nicht mit den auf der Blockchain eingebuchten Mengen überein, könnte eine unsaubere Buchführung oder ein möglicher Betrugsversuch indiziert werden. Schritt 2 In Schritt 2 können sowohl Minengesellschaften, als auch Händler oder Schmelzen Rohmaterial aus verschiedenen Förderstätten mischen, um handels-, bzw. weiterverarbeitungsgerechte Qualitäten und Quantitäten zu erhalten. Zunächst müssten die Lieferanten des Rohmaterials einen entsprechenden Abgang des in Schritt 1 verbuchten Materials und die Empfänger, die die Mischungen vornehmen, einen entsprechenden Zugang in einer Transaktion (2.1) auf der Blockchain verbuchen. Für jede Mischung muss anschließend, von demjenigen, der die Mischung vornimmt, eine Transaktion (2.2) auf der Blockchain verbucht werden, bei der vermerkt wird, welche der in Schritt 1 bis 2.1 gebuchten Rohmaterialen je zugeordneter Förderstätte in welcher Menge verwendet wurden. Ergebnis wäre, dass Mischungen, die aus nachhaltigen Rohmaterialien stammen, somit ebenfalls als nachhaltig gelten könnten. Minengesellschaften, Händler und Schmelzen, die neben unvermischtem Rohmaterial aus nachhaltigen Quellen (vgl. Schritt 1) über Mischungen verfügen, die sich ausschließlich aus nachhaltigen Quellen zusammensetzen, gälten insgesamt ebenfalls als nachhaltig. Kontrollmöglichkeit: Falls der sich rechnerisch aus den auf der Blockchain dokumentierten Mischungsanteilen zwingend ergebende Kohlenstoffgehalt als natürliches Identifikationsmerkmal (vgl. Kapitel 4.1) nicht mit dem Kohlenstoffgehalt der tatsächlich vorliegenden Mischungen bei der Minengesellschaft, beim Händler oder bei der Schmelze übereinstimmt, wäre dies ein Indiz für die Verwendung nicht rein nachhaltigen Materials. Stimmen die tatsächlich vorgefundenen Mengen an Mischungen nicht mit den auf der Blockchain eingebuchten überein, könnte eine unsaubere Buchführung oder ein möglicher Betrugsversuch vorliegen.

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Schritt 3 In Schritt 3 verarbeiten Schmelzen Rohmaterial(-mischungen) durch den Schmelzprozess zu Reinmetallen weiter. Zunächst müssten dabei verwendete von vorherigen Teilnehmern der Wertschöpfungskette bezogene Rohmaterialien, bzw. deren Mischungen in einer Transaktion (3.1) als bezogen und vom Lieferanten korrespondierend als geliefert auf der Blockchain deklariert werden. Die Schmelze müsste den Schmelzvorgang anschließend in einer Transaktion (3.2) auf der Blockchain verbuchen. Dieser Vorgang stellt den Lagerbestandsabbau an Rohmaterial oder Rohmaterialmischungen, sowie den dazu korrespondierenden Lagerbestandsaufbau an Reinmetallen dar. Ergebnis wäre, dass Reinmetalle, die ausschließlich aus Rohmaterial und Rohmaterialmischungen aus nachhaltiger Herkunft erzeugt wurden, ebenfalls als nachhaltig gelten könnten. Schmelzen, die ausschließlich über Input- und Output-Material aus nachhaltiger Herkunft verfügen, könnten insgesamt als nachhaltig gelten. Kontrollmöglichkeit: Die Qualitäten des Rohmaterials aus den einzelnen Förderstätten sind geologisch bekannt. Aus diesen Qualitäten ergibt sich ein zu erwartender Output an Reinmetallen. Übersteigt der tatsächliche Lagerbestand an Reinmetallen bei einer Schmelze den zu erwartenden Output an Reinmetallen, läge ein Indiz für die Verwendung nicht nachhaltigen Materials vor; bei Unterschreiten ein Indiz für unsaubere Buchführung. Der Lagerbestand an Rohmaterial kann analog Schritt 1 oder 2 überprüft werden. Auch müssten die bei einer Schmelze vorliegenden Reinmetalle ausschließlich und vollständig mit dem physischen Identifier der jeweiligen Schmelze (vgl. Kapitel 4.1) gekennzeichnet sein, da sonst ein Handel mit fremden und damit nicht als nachhaltig zertifizierten Reinmetallen nicht ausgeschlossen werden könnte. Schritt 4 In Schritt 4 werden Reinmetalle zu konkreten Produkten verarbeitet. Das können Zwischen- oder Endprodukte sein. Zunächst müsste eine Transaktion (4.1) auf der Blockchain stattfinden, die den Abgang des Reinmetalls bei der Schmelze und den korrespondierenden Zugang beim Verarbeiter dokumentiert. Die Transaktion muss entsprechend von beiden Vertragsparteien bestätigt werden, um in die Blockchain eingebucht zu werden. In einer zweiten Transaktion (4.2) bucht der Verarbeiter den Abbau seines Lagerbestandes an Reinmetallen und den entsprechenden Aufbau an daraus erzeugten Produkten. An Endkunden verkaufte Produkte erhalten eine physisch mit dem Produkt fest verbundene Seriennummer und werden als Transaktion (4.3) auf der Blockchain entsprechend aus dem eigenen Lagerbestand ausgebucht.

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Da Endkunden keine professionelle Teilnahme über eine eigene Identität auf der verwendeten Blockchain zugemutet werden kann, müssen diese den Erhalt der Ware nicht korrespondierend auf der Blockchain bestätigen. Denkbar wäre dies jedoch analog der zuvor dargestellten Schritte ebenfalls möglich. Für den Endkunden könnte dies weitere Vorteile mit sich bringen, wie z. B. die Dokumentation des Erwerbszeitpunktes zum Nachweis für den Garantiezeitraum des erworbenen Endproduktes, oder die Möglichkeit, die nachhaltige Herkunft des Produktes selbständig auf der Blockchain überprüfen zu können. Ergebnis wäre, dass Produkte, die ausschließlich aus Reinmetallen aus entsprechend nachhaltiger Herkunft (vgl. Schritt 1-4) hergestellt wurden, ebenfalls als nachhaltig gelten könnten und mit ihnen ihre Hersteller, sofern sie ausschließlich nachhaltige Produkte erzeugt haben. Wird ein Produkt aus Zwischenprodukten hergestellt, gilt der Verarbeiter als nachhaltig, wenn seine vorgelagerten Lieferanten bereits als entsprechend nachhaltig eingestuft werden können. Kontrollmöglichkeit: Die beim Verarbeiter vorliegende tatsächliche Menge an Produkten muss der Menge entsprechen, die aus den zuvor bezogenen, verarbeiteten und verbuchten Reinmetallen aus nachhaltiger Herkunft auch herstellbar ist. Zudem müssen die bei den Verarbeitern im Lagerbestand vorliegenden Reinmetalle hinsichtlich Menge und Identifier dem auf der Blockchain eingebuchten Bestand entsprechen. Bei Abweichungen läge ein Indiz für unsaubere Buchführung oder die Verwendung nicht nachhaltigen Materials vor. Schritt 5 Der Recyclingprozess in Schritt 5 stellt eine besondere Herausforderung dar. Angesichts ökologischer Gesichtspunkte liegt es grundsätzlich nahe, recyceltes Material als nachhaltig zu klassifizieren. Problematisch wäre jedoch, wenn Rohmaterial aus nicht nachhaltigen Quellen getarnt als recyceltes Material in die Wertschöpfungskette gebracht werden könnte. Ein Recycling-Betrieb ist darum analog zu einer Förderstätte durch einen unabhängigen Prüfer vor Ort zu prüfen. Findet wirklich nur Recycling oder ggf. der Weiterverkauf von Rohmaterial aus nicht nachhaltiger Herkunft statt? Das vom Recycling-Betrieb erzeugte Material müsste auf der Blockchain je erzeugter Mengeneinheit in einer Transaktion (5.1) eingebucht werden. Die Glaubwürdigkeit des Recycling-Betriebs und dessen Buchungen würde durch einen unabhängigen Prüfer per Transaktion (5.2) bestätigt. Der Weiterverkauf des entsprechend gekennzeichneten Materials an eine Schmelze würde in einer weiteren Transaktion (5.3) durch den Recycling-Betrieb und korrespondierend die Schmelze eben-

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falls auf der Blockchain verbucht werden. Denkbar wäre auch, dass Recycling-Betriebe wiederverwerte Produkte mit auf der Blockchain bereits registrierten Seriennummern als recycelt auf die Blockchain einbuchen. Dies kann jedoch nur statistischen Zwecken dienen, um z. B. die Recycling-Quote der Wertschöpfungskette zu schätzen. Es kann aber keine Kontrollmöglichkeit durch einen Mengen- bzw. Input-Output-Abgleich (wie in den Schritten 1-4) bieten, da ein Reycling-Betrieb auch Schrott von außerhalb der auf der Blockchain dokumentierten Wertschöpfungskette verarbeiten kann. Ergebnis wäre, dass ein Recycling-Betrieb, der entsprechend Schritt 5 an der Wertschöpfungskette und Dokumentation auf der Blockchain partizipiert sowie sein Material, bei korrekter Abwicklung als nachhaltig gelten könnte. Schmelzen, die von solchen Recycling-Betrieben Material bezögen, wären in ihrer Nachhaltigkeit dadurch bestätigt und nicht negativ beeinflusst. Kontrollmöglichkeit: Das bei den Recycling-Betrieben tatsächlich vorliegende recycelte Material, kann mit dem auf der Blockchain eingebuchten Material abgeglichen werden. Bei Abweichungen läge ein Indiz für eine unsaubere Buchführung oder ein Indiz für einen Manipulationsversuch vor. Schritt 1 bis 5 übergreifende Fragestellungen Jeder Akteur der Wertschöpfungskette (Förderstätten, Minengesellschaften, Händler, Schmelzen, Verarbeiter und Recycling-Betriebe) hätte auf der Blockchain eine eigene Kennung (Public- und Private-Key), die sicherstellt, dass nur er selbst im eigenen Namen Transaktionen im Rahmen der für ihn relevanten Schritte 1 bis 5 einbuchen kann. Entsprechende Transaktionen wären den Akteuren damit auch eindeutig zuordenbar. Bei durch die jeweiligen Kontrollmöglichkeiten in den Schritten 1 bis 5 zu Tage tretenden Unregelmäßigkeiten könnte eine Sonderprüfung des Betroffenen erfolgen. Bei Bestätigung der Nicht-Nachhaltigkeit wäre die Konsequenz der Entzug des Nachhaltigkeitszertifikats für den Betroffenen und damit sein Ausschluss aus der gesamten Wertschöpfungskette denkbar. Dies kann für den Betroffenen erhebliche wirtschaftliche Nachteile mit sich ziehen und würde somit eine sehr wirksame Sanktion darstellen. Die Buchungen der betroffenen Teilnehmer der Wertschöpfungskette auf der Blockchain können zusätzlich mit deren handels- und steuerrechtlich bindenden Buchhaltung abgeglichen werden. Dies stellt sowohl eine zusätzliche Kontrollmöglichkeit dar, als auch eine Erleichterung zur Beschaffung der erforderlichen Datenbasis dar.

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

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Dadurch, dass die Buchungen immer durch zwei Gegenparteien, bzw. durch zwei gegenprüfbare Lagerbestandszunahmen und abnahmen korrespondierend bestätigt werden müssen und entsprechend doppelt überprüfbar sind, ergibt sich eine gegenseitige Kontrolle aller Akteure, bzw. Teilnehmer der Wertschöpfungskette. Fehlangaben hinsichtlich Menge und Herkunft in nachgelagerten Schritten der Wertschöpfungskette werden, sofern sie nicht zu den zuvor auf der Blockchain eingebuchten Mengen (Volume-based-Verification-Approach) passen, von vornherein nicht zugelassen, was Fehlermöglichkeiten minimiert. Sofern alle Teilnehmer der Wertschöpfungskette freiwillig an der Dokumentation auf der Blockchain teilnehmen, um bessere Absatzchancen gegenüber Endkunden oder rechtlichen Zugang zu bestimmten Märkten zu erhalten, ist von einer Mitwirkung im eigenen Interesse auszugehen, was bewusste oder fahrlässige Manipulation zusätzlich unwahrscheinlich macht. Da über die Blockchain ein Mengenabgleich und somit eine Plausibilitätsprüfung über die gesamte Wertschöpfungskette möglich ist, aber diesen Überblick kein einzelner Teilnehmer der Wertschöpfungskette erlangen kann, setzt sich ein einzelner Akteur zudem durch einen individuellen Manipulationsversuch einem enormen, für ihn selbst unüberschaubaren Risiko aus, was den Anreiz für bewusste oder fahrlässige Manipulationsversuche ebenfalls senkt. Auf der Blockchain als verteiltes Register ist es möglich, Inhalte zwar allgemein zugänglich für alle Netzwerkteilnehmer zu speichern, jedoch in verschlüsselter Form und nur einsehbar für entsprechend autorisierter Teilnehmer mittels deren Private-Key (Bärligea 2018: 1). Dadurch können z. B. Geschäftsgeheimnisse zwischen zwei Handelspartnern gewahrt bleiben. Eine Offenlegung der Geschäfte gegenüber einer Aufsichtsbehörde könnte regelbasiert per Smart-Contract und SmartOracles z. B. im Fall eines durch eine Kontrolle hervorgerufenen Verdachtsmoments entsprechend anlassbezogen erfolgen. Die entsprechenden Regeln wären vor der Implementierung der BlockchainLösung zu definieren und könnten nach der Implementierung ohne erneuten Konsens nicht mehr verändern werden, womit ein hohes Maß an Rechts- und Datensicherheit gewährleistet wäre und das Vertrauen potenzieller Teilnehmer leichter gewonnen werden könnte (vgl. Kapitel 2.3).

274

4.3

Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann und Florian Anderhuber

Expertenbefragung zu Nutzen und Anwendbarkeit

Der Einsatz der Blockchain in der Multi-Metall-Zertifizierung, wird im Folgenden durch Experten aus der Metall-Industrie, die sich bereits mit der Blockchain-Technologie beschäftigt haben, evaluiert. Die Befragungsmethodik orientiert sich dabei an der Erhebungsweise aus der Software-Entwicklung über sogenannte User-Stories/Story-Cards. Die Inhalte und Anzahl der fünf Story-Cards sind durch die fünf bereits entwickelten Schritte zur Multi-Metall-Zertifizierung auf der Blockchain bereits vordefiniert. Zu jedem Schritt wurde jeweils eine Frage zu der Nützlichkeit (Bewertung auf einer Skala von 1 bis 5 mit Begründung) und zu der Anwendbarkeit des entsprechenden Schrittes (Bewertung auf einer Skala von 1 bis 5 mit Begründung) gestellt. Hierdurch wird sowohl das normative Forschungsziel verfolgt, das entwickelte Modell zur Multi-Metall-Zertifizierung auf der Blockchain (vgl. Kapitel 4.1 und 4.2) je Schritt quantitativ zu bewerten, als auch das explorative Forschungsziel, Verbesserungspotenziale qualitativ aufzudecken (vgl. Kapitel 1). Einleitend wurde den Interview-Partnern die Grafik mit den fünf Prozessschritten der Wertschöpfungskette zur Veranschaulichung des Gesamtprozesses dargestellt und, wie in Kapitel 4, erläutert. Die Experten bejahten einheitlich, die Vollständigkeit der vorgestellten Metall-Wertschöpfungskette auf der dargestellten Abstraktionsebene. Die einzelnen Schritte, so wie in Kapitel 4.2 dargestellt, wurden den Experten der Reihe nach schriftlich und mündlich vorgestellt. Die Inhalte aus Kapitel 4.1 wurden angesprochen und waren den Experten bereits bekannt. Die Interviewpartner waren: 





Nicole Hanson, Sustainable Development Analyst von der International Copper Association Ltd (ICA) mit dem Interviewzeitraum von 16:00 bis 17:00 Uhr am 15.11.2018 in englischer Sprache Stefan Grüll, Managing Director Steel-Distribution und Member of Executive Board der König Stahl Holding B.V. und Gründer der Blockchain-Lösung STEEL but SMART(R) (SBS) mit dem Interviewzeitraum von 13:30 bis 14:30 Uhr am 19.11.2018 in deutscher Sprache, sowie Louis Maréchal, Political Analyst bei der OECD mit dem Interviewzeitraum von 08:30 bis 09:30 Uhr am 27.11.2018 in englischer Sprache.

Im Folgenden werden die Interview-Ergebnisse je Schritt der Metall-Wertschöpfungskette tabellarisch für alle Interview-Partner gesammelt mit einem Zwischenfazit dargestellt. Die Ergebnisse fließen dann im Fazit in Kapitel 5 in die Gesamtbewertung und den Ausblick ein.

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

275

Interview-Ergebnisse zu Schritt 1 – Förderung von Rohmaterial (Anmerkung: IP = Interviewpartner, N = Nutzen, A = Anwendbarkeit) N

Begründung

A

Begründung

5

Die vielen verschiedenen Nachhaltigkeitsschemata würden durch die Nachhaltigkeitsbewertung der Quelle der Metalle gestützt und könnten somit einheitlich ersetzt werden. scheint „eine Art Traum“ zu sein, so etwas zu haben, sehr nützlich, aber auch sehr schwierig umsetzbar, siehe Anwendbarkeit.

1

Es mangelt auf dieser Ebene bisher an der Einigung auf eine einheitliche Nachhaltigkeitsdefinition. Es wird schwer werden, die großen umgeschlagenen Volumina an Rohmaterial laufend zu erfassen. Minengesellschaften haben viele verschiedene IT-Systeme; daher wird es schwer werden, diese auf ein gemeinsames System zu bringen.

5

Dieser Schritt bildet die Basis zur Nachvollziehbarkeit der Nachhaltigkeit aller weiteren Schritte und zudem eine Verbindung zum physischen Produkt direkt an der Entstehungsquelle.

3

Es ist noch festzulegen, wer etwaige Prüfungen durchführt und Nachhaltigkeitskriterien festlegt. Es wird schwierig werden, eine gemeinsame Datenstruktur zu finden. Die technische Implementierung auf der Blockchain selbst, ist wenig komplex.

5

Sehr positiv scheint die granulare Informationsgrundlage von der Quelle beginnend und zudem die hohe Datenqualität. Der „Pinpoint“ wäre exakt rückverfolgbar, die „Traceability“ sehr gut gegeben.

3

Für industrielle Minenbetreiber, mit leichtem Zugang den erforderlichen Informationen, ist die Methode leichter umsetzbar, als für kleine und handwerklich betriebene Mienen. Ziel kann es nicht ein, letztere durch komplexe Systeme aus dem Markt zu drängen.

Louis Maréchal (OECD)

Stefan Grüll (SBS)

Nicole Hanson (ICA)

IP

Mittelwert

5,0 von 5 max. Punkten

2,3 von 5 max. Punkten

Zwischenfazit Es wird einstimmig ein sehr hoher Nutzen gesehen, auf Grund der Daten-Erfassung direkt an der Quelle. Die Anwendbarkeit wird jedoch insgesamt als schwer bis mittelmäßig umsetzbar eingestuft, da die erforderliche Datengrundlage als schwierig zu erheben und festzulegen gesehen wird.

276

Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann und Florian Anderhuber

Interview-Ergebnisse zu Schritt 2 – Mischung von Rohmaterial (Anmerkung: IP = Interviewpartner, N = Nutzen, A = Anwendbarkeit) N

Begründung

N

Begründung

5

„Dieselben Gründe wie bei Schritt 1“.

1

Die Daten, die man für die Zertifizierung bräuchte, liegen nicht vor und die Daten für den Schritt an sich, sind zudem sehr komplex.

5

Der Nutzen ist sehr hoch. Alle weiteren Prozessschritte für eine lockenlose Rückverfolgbarkeit bauen darauf auf.

3

Die Herausforderung besteht in der Beschaffung der Daten und die Definition einer einheitlichen Datenstruktur, sowie die Festlegung, wer die Einhaltung wie überprüft (Gouvernance).

5

Der hier verwendete eindeutige „Mass-Balance-Approach“ wäre viel akkurater als bestehende uneinheitliche und heuristische Ansätze.

2

Man müsste hier zunächst genug Händler finden, die sich an dem System beteiligen, um eine kritische Masse zu erreichen. Unterschiede zw. kleinen u. größeren Händlern (vgl. Schritt 1) sind hier jedoch nicht so entscheidend.

Louis Maréchal (OECD)

Stefan Grüll (SBS)

Nicole Hanson (ICA)

IP

Mittelwert

5,0 von 5 max. Punkten

2,0 von 5 max. Punkten

Zwischenfazit Auch hier wird wie in Schritt 1 einstimmig ein sehr hoher Nutzen gesehen, da die eineindeutige Rückverfolgbarkeit des Materials basierend auf Schritt 1 auch in Schritt 2 gewährleistet wäre. Die Anwendbarkeit wird hier jedoch allerdings als schwierig und damit etwas schwieriger als in Schritt 1 gesehen, da die Datengrundlage ebenfalls schwierig zu erheben ist und zudem für die zu dokumentierenden Mischungsverhältnisse bei gleichzeitig zahlreichen Händlern komplexer ist als in Schritt 1.

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

277

Interview-Ergebnisse zu Schritt 3 – Verschmelzung zu Reinmetallen (Anmerkung: IP = Interviewpartner, N = Nutzen, A = Anwendbarkeit) N

Begründung

A

Begründung

3

Dieser Schritt ist nicht so nützlich, wie die bisherigen, da auf dieser Ebene bereits existierende Lösungen brauchbar sind. Selbst wenn man die vorangehenden Schritte nicht nachvollziehen kann, vertraut man den Schmelzen einfach bei ihrer Einschätzung der Nachhaltigkeit, die sie aktuell schon per Desk-Research vornehmen.

3

Die Daten-Infrastruktur ist hier wesentlich leichter zu erhalten. Oft muss aber eine Schmelze zusätzlich aus nicht nachhaltigen Quellen Material beziehen, um bei voller Kapazität zu laufen, sodass erst einmal sichergestellt werden müsste, dass über das einzuführende System genug nachhaltiges Material geliefert werden kann. Die Kosten des Stillstehens einer Schmelze auf Grund mangelnden nachhaltigen Materials, können nicht zielführend sein.

5

Ein sehr hoher Nutzen liegt vor, da alle vorgelagerten Schritte bis zum Reinmettal miterfasst wurden.

5

Dieser Schritt erscheint umsetzbar, indem Bestandsänderungen ebenfalls über die Blockchain abgebildet werden.

5

Der Nutzen wäre sehr hoch, weil alle Umstände und jeder Schritt rückverfolgbar gemacht werden könnten. Die Nachhaltigkeitskriterien könnten zudem für alle Schritte im „slow progressive change over time“ sukzessive verbessert werden.

4

Der Schritt scheint einfach, wenn alle vorherigen Schritte wie geplant auf der Blockchain registriert wären. Ohne eine vorherige bereits implementierte Blockchain-Abbildung, ist dieser Schritt schwer, weil alles über Desk-Research läuft.

Louis Maréchal (OECD)

Stefan Grüll (SBS)

Nicole Hanson (ICA)

IP

Mittelwert

4,3 von 5 max. Punkten

4,0 von 5 max. Punkten

Zwischenfazit Der Nutzen wird aus ähnlichen Gründen wie in Schritt 1 und 2 als hoch bis sehr hoch eingestuft. Die Anwendbarkeit wird als gut eingestuft, da die Datengrundlage auf Ebene der Schmelzen wesentlich besser vorliegt.

278

Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann und Florian Anderhuber

Interview-Ergebnisse zu Schritt 4 – Verarbeitung zu Produkten (Anmerkung: IP = Interviewpartner, N = Nutzen, A = Anwendbarkeit) N

Begründung

A

Begründung

3

Die gleichen Gründe wie bei Schritt 3.

3

Ich bin mir nicht sicher, ob physische Marker an Metallen bei sehr kleinen Produkten (z. B. in Mikrochips) noch erkennbar sind und sich vielleicht negativ auf die Produktqualität auswirken würden.

3

Die Nachhaltigkeit ist hier meist ohnehin über Verträge mit den Zulieferern dokumentiert und gewährleistet. Wenn man jedoch auch aus anderen Quellen bezöge, wäre die Blockchain-Abbildung nützlich.

4

Die Verbindung zur physischen Welt ist unklar, wer z. B. für ein Audit verantwortlich wäre. Die Blockchain Implementierung selbst, ließe sich leicht umzusetzen.

5

Nur über die Nachvollziehbarkeit der Nachhaltigkeit bis hin zum Endkunden und Hersteller, kann der Druck der Nachfrager nach Nachhaltigkeit auch auf Schmelzen und Minen übertragen werden.

5

Auf dieser letzten Stufe der Wertschöpfungskette, sind die Prozesse meist ohnehin formeller, industrialisierter und basieren auf regulärer und legaler Buchhaltung, sodass die Umsetzung hier sehr leicht scheint.

Louis Maréchal (OECD)

Stefan Grüll (SBS)

Nicole Hanson (ICA)

IP

Mittelwert

3,7 von 5 max. Punkten

4,0 von 5 max. Punkten

Zwischenfazit Der Nutzen wird hier insgesamt als mittelmäßig bis hoch eingestuft und damit geringer als in Schritt 1 bis 3. Grund ist, dass es innereuropäisch ab Ebene der Schmelzen bereits bestehende und gute Dokumentationsverfahren gibt. Eine davon abweichende Antwort gibt Louis Maréchal (siehe seine Begründung in Tabelle 5). Die Anwendbarkeit wird wie in Schritt 4 als gut gesehen, da auch hier in der Wertschöpfungskette ab Ebene der Schmelzen (Downstream) eine wesentlich bessere Datengrundlage vorliegt, als auf Ebene der Minen und Händler bis zur Ebene der Schmelzen.

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

279

Interview-Ergebnisse zu Schritt 5 – Recycling (Anmerkung: IP = Interviewpartner, N = Nutzen, A = Anwendbarkeit) N

Begründung

A

Begründung

5

Für den hypothetischen Fall, dass der Schritt wie dargestellt, gelöst werden könnte, wäre er tatsächlich sehr nützlich.

1

Afrika z. B. hat sehr viel elektronischen Abfall und man muss wirklich „sehr weit zurückgehen“, um das Recycling hier nachvollziehen zu können. Ggf. sollte man sich am Anfang auf Wertschöpfungsketten konzentrieren, die gar kein recyceltes Material nutzen, um das Entwickelte Modell anwenden zu können.

5

Ein anderer Schritt als Schritt 1 mit anderem physischen Identifier, aber als Quelle genauso wichtig.

4

Gleiche Begründung wie bei Schritt 4. Die Datenstruktur scheint hier zudem besonders herausfordernd.

5

Ein sehr hoher Nutzen ergäbe sich, da nur durch eine komplette Betrachtung inkl. dem Recycling die Nachhaltigkeit lückenlos dokumentiert werden kann.

4

Das Rohmaterial von recycelten Stoffen ist einfach anhand des Aussehens unterscheidbar. Außerdem fällt eine mengenmäßige Erfassung grundsätzlich nicht schwer.

Louis Maréchal (OECD)

Stefan Grüll (SBS)

Nicole Hanson (ICA)

IP

Mittelwert

5,0 von 5 max. Punkten

3,0 von 5 max. Punkten

Zwischenfazit Der Nutzen wird hier genauso und aus ähnlichen Gründen wie für Schritt 1 einstimmig als sehr hoch eingestuft, da das Recycling ebenso wie Schritt 1 als eine Art Förderung von Rohmaterial betrachtet werden kann. Die Anwendbarkeit wird als mittelmäßig gesehen, und damit schlechter als in Schritt 3 bis 4 innerhalb von Europa, aber etwas besser als in Schritt 1 bis 2. Dies liegt daran, dass das Recycling zwar ebenfalls wie Schritt 1 bis 2 in Entwicklungsländern mit unklarer Datengrundlage stattfindet, jedoch die Daten für Recycling-Material insgesamt weniger komplex sind als für Rohmaterial von Metallen.

280

5 5.1

Robert Bosch, Ralph Bärligea, Cristina Gagiu, Kai Baumann und Florian Anderhuber

Fazit Gesamtbewertung

Betrachtet man alle fünf dargestellten Schritte der Wertschöpfungskette von Metallen bei gleicher Gewichtung, ergibt sich für die Multi-Metall-Zertifizierung auf Basis der Blockchain-Technologie ein insgesamt sehr hoher Nutzen für den Nachweis der Nachhaltigkeit (Wert: 4,6 auf einer Skala von 1 bis 5) aus Sicht der drei befragten Experten. Die Anwendbarkeit wird im Gegensatz dazu als insgesamt mäßig eingestuft (Wert 3 auf einer Skala von 1 bis 5), jedoch auch nicht als schwierig, sehr schwierig oder gar unmöglich. Nutzen und Implementierungsaufwand erscheinen damit in einem insgesamt lohnenden Verhältnis zu stehen. Der sehr hohe Nutzen wird auf Grund der durchgängig lückenlosen, einheitlichen und manipulationssicheren Dokumentation der nachhaltigen Herkunft gesehen, welche mit aktuell bestehenden Verfahren bisher nicht geleistet wird und vermutlich auch nicht geleistet werden könnte. Als Grund für die mäßige Anwendbarkeit wird nicht die Blockchain-Technologie als solche gesehen, sondern die sowohl schwer zu erhebende, als auch komplexe erforderliche Datengrundlage aus der realen Wertschöpfungskette. Ferner werden zu generierende Netzwerkeffekte als Herausforderung genannt. Es ergibt sich damit auch aus Sicht der Experten, das in der Bewertungsmatrix aus Kapitel 2.3 dargestellte Bild. Die Multi-Metall-Zertifizierung ist zwar ein idealtypischer Anwendungsfall für die Blockchain-Technologie, jedoch mit der Einschränkung mäßig guter Umsetzbarkeit auf Grund einer teils schwierig zu beschaffenden sowie komplexen Datengrundlage. Hierzu kann festgestellt werden, dass die Anwendbarkeit der Wertschöpfungskette in den Schritten 1 bis 3 von Förderstätte bis Schmelze sowie im Recycling in Schritt 5 wegen der schwierigeren Datengrundlage in Entwicklungsländern als besonders herausfordernd angesehen wird. Allerdings ist hier auch der Nutzen besonders hoch. Umgekehrt ist zwar die Anwendbarkeit in den Schritten 3 bis 4 von der Schmelze bis zum Endkunden wegen der besseren Datenbeschaffbarkeit durch die Verortung innerhalb der EU als gut und damit leicht einzustufen. Allerdings ist hier der Nutzen auf Grund des Vertrauens in bereits funktionierende Systeme auch nicht so hoch. Beide Effekte gleichen sich also über den Verlauf der Wertschöpfungskette aus. Darum erscheint die Umsetzung der vorgestellten Zertifizierungslösung durchweg gleich lohnend über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Nur durch eine Gesamtbetrachtung kann zudem Transparenz und damit Nachfragedruck für nachhaltige Metalle bis hin zum Endkunden erreicht werden.

Multi-Metall-Zertifizierung in der globalen Wertschöpfungskette mittels Blockchain-Technologie

5.2

281

Ausblick auf die Umsetzung

Die hier dargestellte Sicht bietet einen ersten Einstieg in das Thema Multi-MetallZertifizierung auf Basis der Blockchain-Technologie. Bewusst wurde dabei ausschließlich die Aufgabe des Nachhaltigkeitsnachweises betrachtet. Mit den vorgestellten Verfahren könnte jedoch auch ein Qualitätsnachweis für Metalle erbracht werden. Dieser Aspekt sollte ebenso betrachtet und in die vorgestellte Lösung mit eingebaut werden. Denn dies brächte für die Abnehmer von Metallen einen zusätzlichen Nutzen, was die Akzeptanz der hier vorgestellten Lösung zusätzlich verbessern und deren Einführung erleichtern würde. Bei den drei befragten Experten (vgl. Kapitel 4.3) handelt es sich um zwei Repräsentanten mit Gesamtblick auf die Wertschöpfungskette (ICA und OECD), sowie einen Händler für Metallprodukte (König Stahl Holding). Um ein vollständigeres sowie repräsentativeres Bild zu erlangen, wäre es erforderlich auch Vertreter von Minengesellschaften, Rohmaterialhändlern, Metall-Verarbeitern sowie Verbraucherschutzorganisationen zu befragen und in die Entwicklung miteinzubeziehen. Basierend darauf könnte ein finales Fach- und Datenverarbeitungskonzept erstellt, getestet und in den laufenden Betrieb übernommen werden. Der Aufbau der hier vorgestellten Lösung muss dabei vom Beginn der Wertschöpfungskette an erfolgen, da ab Beginn alle Schritte aufeinander aufbauen. Zudem empfiehlt es sich, bei der Implementierung mit einer geschlossenen Gruppe aus Minengesellschaften, Händlern, Schmelzen und Verarbeitern zu starten, sodass Netzwerkeffekte von Beginn an erzielt werden können und ausreichend vorhanden sind. Absicht der Autoren ist es, die Umsetzung der hier vorgestellten Multi-MetallZertifizierung auf Basis der Blockchain-Technologie gemeinsam mit den hier interviewten Partnern sowie zusätzlichen Partnern weiter voranzutreiben.

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Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten aus Sicht der Leistungstheorie Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer



Einleitende Überlegungen ......................................................................... 285 



Leistungstheorie ........................................................................................ 288  2.1  2.2  2.3 



Abgrenzung zur Produktionstheorie............................................... 288  Integrativität und Immaterialität .................................................... 290  Potenzialintegration ....................................................................... 292 

Management von Nachhaltigkeit: Ein analytischer Betrachtungsversuch. 293  3.1  3.2  3.3 

Leistungserstellung ........................................................................ 293  Nutzung .......................................................................................... 295  Zur Bewertungs- und Messproblematik ......................................... 297 



Schlussfolgerungen ................................................................................... 299 

1

Einleitende Überlegungen

Nachhaltigkeit, verstanden als zeitlich stabiles Gleichgewicht, das den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation Rechnung trägt, ohne die Möglichkeit zukünftiger Generationen einzuschränken, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen (Brundtland 1987: Kapitel 2), ist in den zurückliegenden Dekaden zu einem quasi allgegenwärtigen Phänomen avanciert, das sowohl die Wirtschaftsethik und die Gesellschaftspolitik, als auch die praktische Betriebswirtschaftslehre maßgeblich prägt und wahrscheinlich auch zukünftig erheblichen Einfluss ausüben wird (Wang et al. 2019). Neben zahlreichen, schillernden, normativ-philosophisch aufgeladenen, vage definierten und vermarktungstaktisch leicht instrumentalisierbaren Begriffen wie Corporate Social Responsibility, Corporate Governance, Corporate Citzenship © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_13

286

Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer

oder Triple-Bottom-Line (Beschorner 2005; Beschorner/Schmidt 2008), wird auch dem historischen Kern der Problematik ein hohes Maß an Relevanz zugesprochen – namentlich Fragen zur nachhaltigen Produktion und zum nachhaltigen Ge- und Verbrauch bzw. Konsum von Wirtschaftsgütern (Veleva et al. 2001a, 2001b; Krajnc/ Glavič 2003; Cohen 2004; Chapman/Shigetomi 2018). Erste Gedanken zu den damit einhergehenden Herausforderungen, speziell zum Einsatz von Produktionsfaktoren (Inputs, Ressourcen, Leistungspotenzialen), finden sich bereits bei von Carlowitz, der schon im 18. Jahrhundert einen schonenden Umgang mit der Ressource Holz forderte: „Wird derhalben die größte Kunst / Wissenschaft/Fleiß / und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen / wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen / daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weiln es eine unentberliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag“ (von Carlowitz 1732: 105f.).

Der normativ-volkswirtschaftlich inspirierte Diskurs zu den Ursachen und Wirkungen des zweifelsfrei auch gegenwärtig nicht adäquat ausbalancierten Ressourcenverbrauchs ist hingegen auf eine Studie des Club of Rome aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zurückzuführen (Meadows et al. 1972). Auf der politischen Ebene findet sich dessen Fortsetzung in dem bereits referenzierten Brundtland Report, zahlreichen Klimaschutzkonferenzen und Anforderungskatalogen (exemplarisch Schuster 2019), die zwar nicht nur, aber vornehmlich verhaltenssteuernde Leitlinien und Regelungen für Unternehmen bereitstellen. Begleitend liefert die Betriebswirtschaftslehre seit mehr als 30 Jahren Überlegungen zur Ausgestaltung des Unternehmens-Zielsystems, im Besonderen zur Frage, ob die nachhaltige Befriedigung der Renditeerwartung der Kapitalgeber (Shareholderansatz, exemplarisch Rappaport 1986; Sundaram/Inkpen 2004a und 2004b) oder eine breiter angelegte Ausrichtung auf mehrere Anspruchsgruppen (Stakeholderansatz, exemplarisch Freeman et al. 2004) als Steuerungsmechanismus fungieren soll. Scheinbar im Einklang mit den skizzierten Denkrichtungen werden von zahlreichen Autoren Überlegungen zum nachhaltigen Einsatz von Inputs und zur nachhaltigen Nutzung von Outputs (Absatzobjekte, Leistungsergebnisse) angestellt, wobei typischerweise der Anbieterseite die maßgebliche Verantwortung zugeschrieben wird, Leistungserstellungsprozesse möglichst ressourcenneutral durchzuführen (sustainable production). Die Nachfragerseite soll wiederum ressourcenschonend konsumieren (sustainable consumption), also ihre Bedürfnisse befriedigen, ohne dabei die Bedürfnisbefriedigungsvoraussetzungen folgender Generatio-

Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten

287

nen zu gefährden und ohne die Ressourcenausstattung der Erde zu zerstören (Hertwich 2005). Überdeutlich wird diese Sicht bei Veleva und Ellenbecker, die behaupten: „While sustainable consumption targets consumers, sustainable production is related to companies and organizations that make products or offer services” (2001: 519). Dieser distinkt anmutenden Aufgabenzuordnung steht die Sicht der Leistungstheorie entgegen, die postuliert, dass nicht nur Anbieter, sondern auch Nachfrager de facto immer Inputs (Leistungspotenziale) zur Leistungserstellung liefern (Engelhardt et al. 1993) und dass Anbieter nicht nur in die Nutzungsprozesse der Nachfrager eingreifen können, sondern daran sogar ein vitales Interesse haben – beispielsweise im Rahmen des Customer Experience Managements (Bruhn/Hadwich 2012; Reckenfelderbäumer/Arnold 2012). Verschärft wird die Problematik der oben skizzierten Überlegungen durch die im Titel des vorliegenden Bandes angedeuteten Trends zur Digitalisierung, zur Globalisierung und zur Geschäftsmodelltransformation: Die zunehmende Digitalisierung ermöglicht der Anbieterseite nicht nur ubiquitäre Eingriffsmöglichkeiten in Nutzungsprozesse (Rust/Huang 2014; Arnold/Heuer 2017). In Kombination mit der anhaltenden Globalisierungstendenz zwingt sie Anbieter schon deswegen zu stärker interaktionsund beziehungsbasierten Geschäftsmodellen, weil letztendlich nur eine starke Wettbewerbsposition die Überlebensfähigkeit des Unternehmens sichert, was in aller Regel mittels zunehmender Serviceorientierung und Individualisierung des Leistungsprogramms umgesetzt wird (Reckenfelderbäumer/Arnold 2016). Mit anderen Worten, sowohl die möglichst ressourcenneutrale Erstellung, als auch die ressourcenschonende Nutzung von Absatzobjekten sind Aufgaben, die in den gemeinsamen Verantwortungsbereich von Anbieter und Nachfrager verortet werden müssen. Steigende Integrativität (siehe hierzu Kapitel 2) durch Digitalisierung, Globalisierung und die damit einhergehende Geschäftsmodelltransformation verstärkt zusätzlich die Notwendigkeit des Denkens in Kategorien geteilter Verantwortung. Es drängen sich daher folgende Fragen auf:  

Was ist unter nachhaltiger Erstellung und nachhaltiger Nutzung von Absatzobjekten aus Sicht der Leistungstheorie zu verstehen? Welche Aufgaben hat das Nachhaltigkeitsmanagement im Zuge der Leistungserstellung und Leistungsnutzung?

Zur Erhellung des Problemfelds erfolgen in Kapitel 2 geboten kurze Erläuterungen produktions- und leistungstheoretischer Grundüberlegungen, einschließlich einer Diskussion der Facetten des leistungstheoretischen Begriffs der Integrativität (es sei darauf hingewiesen, dass sich die terminologische Aufbereitung in ähnlicher Form bei Arnold 2015; Reckenfelderbäumer/Arnold 2016 und Arnold/Heuer 2017

288

Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer

findet). Kapitel 3 widmet sich der analytischen Betrachtung der nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten aus der Perspektive der zugrunde gelegten Theorie. Der Beitrag endet mit einigen Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die Theorie und Praxis (Kapitel 4).

2 2.1

Leistungstheorie Abgrenzung zur Produktionstheorie

Die Leistungstheorie knüpft an die produktionstheoretisch geprägten Ausarbeitungen von Gutenberg (1958) an, der die anbieterseitig koordinierte und durchgeführte Produktion in das Zentrum seiner Überlegungen stellt. Die Produktion ist hierbei durch Kombination von Produktionsfaktoren (Faktoreinsatz) und deren Überführung in marktfähige Leistungen (Faktorertrag) gekennzeichnet. Dieser Vorgang wird als wertschöpfend im Sinne des Tauschwertkonzepts (Smith 1804; Vargo/Lusch 2008; Weiber/Hörstrup 2009) betrachtet. Dem Kunden obliegt die Verwendung des Faktorertrags, was mit dem Verzehr des geschöpften Werts einhergeht (Dyckhoff 2006; Corsten/Gössinger 2012). In Abbildung 1 findet sich eine grafische Darstellung dieser produktionstheoretischen Grundüberlegungen.

Nachfrager

Anbieter

Wertschöpfung

Produktionsfaktoren (Input)

Faktorkombination (Throughput)

Faktorertrag (Output)

Gebrauch

Wertvernichtung

Abbildung 1: Produktionstheoretische Basisüberlegungen (in Anlehnung an Arnold 2015)

Die klassischen Beiträge zur Leistungstheorie betonen ebenfalls die Bedeutung der Tauschwertschöpfung im Zuge der Leistungserstellung (exemplarisch Engelhardt 1966; Engelhardt et al. 1993), grenzen sich jedoch von der oben grob skizzierten

Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten

289

Produktionstheorie ab, da sie ausdrücklich berücksichtigen, dass Nachfrager mittels „Faktoren auf die Leistungserstellungsprozesse von Anbietern einwirken und [dass] einzelbetriebliche Wertschöpfungsprozesse nicht an den Unternehmensgrenzen enden“ (Kleinaltenkamp 1997a: 108). Die Leistungstheorie ist somit erstens weniger stark auf Anbieter fixiert (Weiber/Forster 2015; Benkenstein 2016), womit sie „den realen Verhältnissen in den meisten heutigen Unternehmen besser gerecht [werden kann]“ (Kleinaltenkamp 1997a: 108). Zweitens ist der leistungstheoretische Begriff der Leistungserstellung weiter gefasst, als der produktionstheoretische Begriff der Produktion. Der Nachfrager bringt aus Sicht der Leistungstheorie de facto immer (Engelhardt et al. 1993; Kleinaltenkamp 1997b) irgendwelche Leistungspotenziale (Produktionsfaktoren) in die Leistungserstellung ein, die der Anbieter in seinen Dispositionsbereich überführen muss (Faktorintegration). Die Erstellung von Absatzobjekten erfolgt somit obligatorischer Weise mit dem und nicht für den Nachfrager (Kleinaltenkamp/Haase 1999; Haase 2008). Die Leistungserstellung im Sinne der Leistungstheorie umfasst außerdem nicht nur den Vorgang der oftmals eng verstandenen Produktion (Faktorkombination im Sinne der Produktionstheorie), sondern auch horizontal und vertikal arrangierte Prozesse wie Vermarktungsaktivitäten und den Austausch von Verfügungsrechten (Engelhardt et al. 1993; Freiling/ Reckenfelderbäumer 2010). Abbildung 2 verdeutlicht diese Grundlogik und die Verknüpfung der Begriffe Leistungspotenzial, Leistungserstellung und Leistungsergebnis, denen die folgenden Bedeutungen zugeschrieben werden (Kleinaltenkamp 1997a, 1997b; Haase 2008; Kleinaltenkamp et al. 2009; Freiling/Reckenfelderbäumer 2010): 





Das Leistungspotenzial (Input) setzt sich aus den kontextspezifisch verfügbaren materiellen und/oder immateriellen Ressourcen des Anbieters und des Nachfragers zusammen, die sowohl Potenzial-, als auch Verbrauchsfaktoren umfassen können. Beispiele sind eingekaufte Vorleistungen, finanzielle Mittel, Wissen und Patente. Die Leistungserstellung (Throughput) ist diejenige Tätigkeit, in deren Rahmen die Ressourcen des Anbieters und des Nachfragers zusammengeführt (Faktorintegration) und zweckgerichtet kombiniert werden. Das Leistungsergebnis (Output) ist das Resultat der Leistungserstellung, das ein Bündel potenziell nutzenstiftender Eigenschaften umfasst und das Absatzobjekt beinhaltet (vertiefend Kapitel 3.1).

290

Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer

Anbieter

Wertschöpfung

Leistungspotenzial (Input)

Leistungserstellung (Throughput)

Leistungsergebnis (Output)

Nachfrager

Faktorintegration Leistungspotenzial (Input)

Nutzung (Geoder Verbrauch)

Wertschöpfung

Wertvernichtung

Abbildung 2: Leistungstheoretische Basisüberlegungen (in Anlehnung an Arnold 2015)

Festzuhalten ist: Im Zentrum der Leistungstheorie steht der Gedanke, dass der Leistungserstellungsprozess weder ohne anbieterseitige, noch ohne nachfragerseitige Leistungspotenziale durchgeführt werden kann. Dies ist schon deswegen der Fall, da zur Leistungserstellung von beiden Seiten mindestens diejenigen Potenzialfaktoren einzubringen sind, die Kompetenzen und damit „wiederholbare, auf der Nutzung von Wissen beruhende, durch Regeln geleitete […] Handlungspotenziale“ (Freiling et al. 2006: 57) darstellen. Jedes Leistungsergebnis ist somit das Resultat einer integrativen Leistungserstellung (Engelhardt et al. 1993; Kleinaltenkamp 1997a), das gemeinsam mit dem Nachfrager erstellt wird (Haase 2008). Eine leistungstheoretische Leistungserstellungsfunktion (definitorisch nicht identisch mit einer Produktionsfunktion im Sinne der Produktionstheorie) Y muss daher die Leistungspotenziale des Anbieters xA und die Leistungspotenziale des Nachfragers xN als Funktionsargumente berücksichtigen: Y(xA, xN).

2.2

Integrativität und Immaterialität

Der Begriff Integrativität bezeichnet den Integrationsgrad (Engelhardt et al. 1993) des Nachfragers in den anbieterseitig koordinierten Leistungserstellungsprozess und ist somit ein Maß für die Intensität der Ko-Produktion. Die Bestimmung der Integrativität erweist sich allerdings als problematisch, da erstens unklar bleibt, ob lediglich die Anzahl der eingebrachten Leistungspotenziale berücksichtigt werden müssen oder ob irgendwelche Gewichtungen (bspw. mittels monetärer Bewertung) notwendig sind. Zweitens bleibt unklar, ob Integrativität tatsächlich über die eingebrachten (ggf. gewichteten) Leistungspotenziale oder über die Teilprozesse der Leistungserstellung bestimmt werden kann. Im letztgenannten Fall wäre zumindest

Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten

291

Prozessdimension (Integrativität)

die Relevanz der tatsächlich angewendeten Leistungspotenziale für die einzelnen Teilprozesse der Leistungserstellung zu bewerten. Versucht man dennoch eine Quantifizierung, ist zu berücksichtigen, dass die Integrativität aufgrund der in Kapitel 2.1 entfalteten Logik nur Werte größer null und kleiner eins annehmen kann (null: vollständig autonome Leistungserstellung des Anbieters und eins: vollständig autonome Leistungserstellung des Nachfragers). Eine ähnliche Problematik findet sich bei der Bestimmung des Immaterialitätsgrades, da hierfür das Leistungsergebnis in materielle und immaterielle Komponenten aufgespaltet werden müsste. Dies stellt nicht nur eine definitorische Hürde dar (Reckenfelderbäumer/Arnold 2016), zusätzlich ist die Relevanz der Komponenten eine subjektive Wahrnehmung der Anbieter- und/oder Nachfragerseite und zumindest im letztgenannten Fall erst nach Ge- oder Verbrauch bestimmbar. Die Leistungstheorie betont dennoch die Existenz eines Immatrialitätssockels (Engelhardt et al. 1993), womit für jeden Quantifizierungsversuch gelten muss: Der Immaterialitätsgrad ist zwingend größer als null und kleiner oder gleich eins (null: vollständig materiell und eins: vollständig immateriell). Zur Verdeutlichung der Begriffe Integrativität und Immaterialität eignet sich die Integrativitäts-Immaterialitäts-Typologie (siehe hierzu Abbildung 3), mit deren Hilfe beliebige Leistungen in einem zweidimensionalen Raum verortet werden können. Die vertikale Achse (Prozessdimension) repräsentiert den mehr oder weniger integrativen Leistungserstellungsprozess, die horizontale Achse (Ergebnisdimension) das mehr oder weniger immaterielle Leistungsergebnis (Engelhardt et al. 1993). integrativ Sondermaschine

Managementconsulting immateriell

materiell Datenbankdienst

Vorproduziertes Teil autonom

Ergebnisdimension (Immaterialität)

Abbildung 3: Integrativitäts-Immaterialitäts-Typologie (in Anlehnung an Engelhardt et al. 1993: 417)

292

2.3

Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer

Potenzialintegration

Zumindest die Bochumer Schule der Leistungstheorie betont die Existenz integrativer Prozesse im Zuge der Leistungspotenzialgestaltung, die sich dann vollziehen, wenn der Anbieter Ressourcen des Nachfragers (bspw. Informationen) zur Anpassung eigener Leistungspotenziale integriert, um so in der Lage zu sein, Individualbedarfe besser befriedigen zu können (Engelhardt/Freiling 1995). Dieser als Potenzialintegration bezeichnete Vorgang gestattet die Erstellung von Leistungsergebnissen mit höherem Problem-Fit (Reckenfelderbäumer/Arnold 2016), weswegen Engelhardt und Freiling (1995: 40) konstatieren: „Der Anbieter verschafft sich [mittels Potenzialintegration] einen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten, die über kundenspezifische [Potenziale] nicht [in gleichem Umfang] verfügen und somit schlechtere Voraussetzungen aufweisen, den individuellen [Bedarfen] des Nachfragers zu entsprechen“. Grundsätzlich sind leistungstheoretische Überlegungen zur Faktorintegration (im Zusammenhang mit der Einführung des Begriffs Potenzialintegration auch als Prozessintegration bezeichnet) und zur Potenzialintegration auf unterschiedlichen Aggregationsebenen anwendbar. Freiling und Reckenfelderbäumer (1996) diskutieren in diesem Zusammenhang die Gesamtmarkt-, die Marktsegment-, die Geschäftsbeziehungs- und die Einzeltransaktionsebene. Reckenfelderbäumer und Arnold analysieren die Potenzialintegration hingegen aus einer geschäftsprozessorientierten Perspektive und interpretieren diese als eine Form der Leistungserstellung mit leistungspotenzialveränderndem Charakter, deren „Ergebnis in der Sphäre des Anbieters bleibt und […] die Fähigkeit zur Durchführung der integrativen Kern-Leistungserstellungsprozesse erhöht“ (2016: 492). Eine weitere Konkretisierung findet sich bei Arnold und Heuer (2017), die zwischen anbieterseitiger und nachfragerseitiger Potenzialintegration unterscheiden (vergleiche Abbildung 4): 

Anbieterseitige Potenzialintegration findet statt, wenn Teile des Leistungsergebnisses der Leistungserstellung in der Sphäre des Anbieters verbleiben und als Leistungspotenziale zur Durchführung von weiteren Leistungserstellungsprozessen zur Verfügung stehen. Beispiele sind die mit der Leistungserstellung einhergehende Ausdehnung des anbieterseitigen Wissens (sei es implizit oder explizit) oder die mit dem Bezahlvorgang verbundene Änderung der finanziellen Ausstattung.

293

Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten

Nachfrageseitige Potenzialintegration bezeichnet die Überführung von Leistungsergebniskomponenten in die Sphäre des Nachfragers, die dort als Leistungspotenziale für weitere Leistungserstellungsprozesse verfügbar sind. Beispiele sind neue Erfahrungen mit dem Anbieter und das Absatzobjekt (siehe hierzu vertiefend Kapitel 3.2). Auch der Konsum wird hier als eine Form der Leistungserstellung betrachtet, der zwar prinzipiell ohne Integration des Anbieters, nicht aber ohne Integration anderer Leistungspotenziale erfolgen kann.



Anbieter

Leistungspotenzial (Input)

Nachfrager

Potenzialintegration des Anbieters

Leistungspotenzial (Input)

Leistungserstellung (Throughput)

Leistungsergebnis (Output)

Prozessintegration

Potenzialintegration des Nachfragers

Abbildung 4: Prozess- und Leistungspotenzialintegration (in Anlehnung an Arnold/Heuer 2017: 100)

3

3.1

Management von Nachhaltigkeit: Ein analytischer Betrachtungsversuch Leistungserstellung

Die Diskussion der zu erörternden Problematik bedingt eine Konkretisierung der in Punkt 2 besprochenen Annahmen der Leistungstheorie. Erstens fließen in die Leistungserstellung nicht nur Leistungspotenziale des Anbieters und des Nachfragers ein, sondern auch von scheinbar unbeteiligter Seite. Zu denken ist hier beispielsweise an die Integration freier Güter wie Sauerstoff oder Wasser. Zweitens ist der Begriff des Leistungsergebnisses in älteren Ausarbeitungen (exemplarisch Engelhardt et al. 1993; Haase 2008) für die Analyse der vorliegenden Problemstel-

294

Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer

lung zu eng gefasst und bezieht sich offenbar nur auf das fokale Phänomen Absatzobjekt, das wiederum nur über irgendeine Form der Konsensvorstellung zwischen Anbieter und Nachfrager beschreibbar ist. So mögen sich Anbieter und Nachfrager auf einen PKW als Absatzobjekt einigen. Dennoch werden schon durch die Anlieferung von Bauteilen diverse Nebenprodukte wie zusätzliches Wissen, neue Erfahrungen oder CO2 erzeugt (Nieuwenhuis et al. 2012a, 2012b), die ebenfalls Bestandteile des Leistungsergebnisses sind und entweder in das Leistungspotenzial des Anbieters, in das Leistungspotenzial des Nachfragers oder in die Sphäre der Umwelt übergehen. Die Begriffe Absatzobjekt und Leistungsergebnis sind daher nicht als Synonyme zu verstehen;1 die Nachhaltigkeit der Erstellung von Absatzobjekten ist aber dennoch nur evaluierbar, wenn alle Komponenten des Leistungsergebnisses berücksichtigt werden. Eine Leistungserstellungsfunktion Y, die den oben genannten Aspekten Rechnung trägt, muss somit alle Bestandteile des Leistungsergebnisses (yA, yN und yU) umfassen und eine korrekte Zuordnung zur Sphäre des Anbieters, des Nachfragers oder der Umwelt ermöglichen. Y repräsentiert somit nicht nur das Absatzobjekt, sondern ist als Vektor zu verstehen, der alle Leistungsergebnisse umschließt, die in die Sphäre des Anbieters yA, des Nachfragers yN und der Umwelt yU übergehen. Als Funktionsargumente sind nicht nur die Leistungspotenziale zu berücksichtigen, die dem Anbieter xA und dem Nachfrager xN zuzuordnen sind, sondern auch die in den Leistungserstellungsprozess integrierten Leistungspotenziale der Umwelt xU und somit formal: Y(xA, xN, xU). Neben der mengenmäßigen Zuordnung von Leistungsergebniskomponenten zur Sphäre des Anbieters, des Nachfragers oder der Umwelt ist eine monetäre oder zumindest einheitlich skalierte Bewertung der Wertschöpfung V notwendig: g 𝑦 ∗ - h(𝑥 ∗ ) 𝑣 ∗ g 𝑦 ∗ , h(𝑥 ∗ ) ∗ ∗ ∗ V = 𝑣 g 𝑦 , h(𝑥 ) = g 𝑦 ∗ - h(𝑥 ∗ ) 𝑣 ∗ g 𝑦 ∗ , h(𝑥 ∗ ) g 𝑦 ∗ - h(𝑥 ∗ )

(1)

Die Funktionen g bzw. h sind nicht parametrisierte, also ohne konkrete Rechenvorschriften versehene Bewertungsregeln (Elwert 2013) der Leistungsergebniskomponenten bzw. der ge- und/oder verbrauchten Leistungspotenziale (es sei darauf hingewiesen, dass keinerlei Aussagen zu den Funktionswerten getroffen werden, sie mögen größer, kleiner oder gleich null sein). Der Vektor V beinhaltet quantifizierte Aussagen zur Nettowertschöpfung für den Anbieter (vA), für den Nachfrager (vN) und für die Umwelt (vU). Die totale Wertschöpfung der Leistungserstellung ist folglich die Summe aus vA, vN und vU. 1

Anders bei Haase (2008: 204), die das Leistungsergebnis als ein am Markt veräußerbares Phänomen interpretiert.

Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten

3.2

295

Nutzung

Zwar mag die Nutzung eines Absatzobjekts – sowohl im konsumtiven, als auch im produktiven Bereich – eine Form der Leistungserstellung darstellen (Arnold/Heuer 2017), dennoch sind damit einige Besonderheiten verbunden, die zu beleuchten sind. Grundsätzlich kann der Nachfrager ein Absatzobjekt ohne Zuhilfenahme zusätzlicher Leistungspotenziale des Anbieters ge- oder verbrauchen (Grönroos/ Voima 2013). Ohne Integration anderer Leistungspotenziale (sei es aus dem eigenen oder aus dem Potenzialvorrat der Umwelt) ist die Nutzung (verstanden als Leistungserstellung) allerdings nicht durchführbar. Da eine Leistungserstellung ohne Leistungsergebnis nicht möglich ist, entstehen auf jeden Fall Leistungsergebniskomponenten, die in der Sphäre des Nachfragers verbleiben und/oder in die Sphäre der Umwelt übergehen. Dies sei mithilfe des bereits in Punkt 3.1 verwendeten Beispiels verdeutlicht: Die Nutzung eines PKW für private oder andere Zwecke bedingt die Integration weiterer Leistungspotenziale wie Treibstoff und geht mit Leistungsergebniskomponenten wie CO2 (Potenzialintegration Umwelt) oder Zugewinn an Erfahrung (Potenzialintegration Nachfrager) einher. Dies gilt auch für scheinbar triviale Nutzungsprozesse wie das Kochen von Nudeln oder das Rauchen einer Zigarette, und es gilt auch für die Nutzung immaterieller Leistungsergebnisse. Die obigen Ausführungen scheinen anzudeuten, dass die verantwortungsvolle Nutzung von Absatzobjekten im Sinne von Brundtland (1987) eine Aufgabe darstellt, die ausschließlich dem Nachfrager obliegt. Dies ist aber sowohl aus verantwortungsethischer, als auch aus funktional-ökonomischer Sicht zu kurz gedacht. Die Verantwortungsethik postuliert, dass „man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“ (Weber 1926: 58). Für den Anbieter ist die Absatzobjektnutzung eine offensichtlich voraussehbare Folge der Leistungserstellung. Außerdem weiß er, dass die Nutzung nur möglich ist, wenn zusätzliche Leistungspotenziale verwendet werden und er weiß auch, dass weitere Leistungsergebnisse anfallen, die in die eigene Sphäre, in die Sphäre des Nachfragers und/oder der Umwelt übergehen. Leistungstheoretisch interpretiert stellt Verantwortung eine Leistungsergebniskomponente dar, die im Zuge der gemeinsamen Leistungserstellung emergiert und in das Leistungspotenzial des Anbieters und des Nachfragers übergeht. Die Integration dieses Leistungspotenzials im Zuge der Nutzung des Absatzobjekts ist aus verantwortungsethischer Sicht nicht fakultativ, sondern obligatorisch und zwar sowohl für den Anbieter, als auch für den Nachfrager. Die vollumfängliche Integration der Verantwortung in die Sphäre des Nachfragers im Zuge des Austauschs von Verfügungsrechten wäre ein opportunistischer Vorgang des Anbieters mit Ablassbrief-Charakter, der auch aus funktional-ökonomischer Sicht kri-

296

Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer

tisch zu sehen ist und zwar selbst dann, wenn ethisches Verhalten nur als „Schmiermittel“ (Ulrich 2007: 32) fungiert. Die Vermarktungsaktivitäten des Anbieters werden nämlich nur dann erfolgreich sein, wenn er dem Nachfrager im Vorhinein – also vor der Nutzung des Absatzobjekts – relevante Wertversprechen gibt (Grönroos 2006). Eine positive Kundenbeziehung mittels Kundenbindung wird er nur aufbauen, wenn er die gegebenen Wertversprechen einhält (Grönroos 2009, 2011). Sobald die Nachfragerseite Nachhaltigkeit wertschätzt, der Anbieter dies erkennt und in sein Wertversprechen aufnimmt, ist Nachhaltigkeitsmanagement nicht mehr auf Verantwortung im Sinne der Verantwortungsethik angewiesen,2 sondern im ureigensten funktional-ökonomischen Interesse des Anbieters, der nunmehr gut beraten ist, Nachhaltigkeitsmanagement als eine Form des Customer Experience Managements zu verstehen und auf Nutzungsprozesse auszudehnen. Hierfür stehen ihm zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, im Besonderen Technologien, die in den Gebrauch aktiv eingreifen können (Rust/Huang 2014) und After-Sales Services, die er dem Nachfrager bedarfs- und kontextgerecht anbieten kann. Auch dies sei am Beispiel des PKW verdeutlicht: Ist der Nachfrager nicht nur an Mobilität, Erlebnis, Selbstdarstellung, usw., sondern auch an nachhaltiger Absatzobjektnutzung interessiert, dann wird der Anbieter schon aus Gründen der Differenzierung bemüht sein, geeignete Wertversprechen zu entwickeln, zu geben und aus Gründen der Kundenbindung (Grönroos 2006, 2011; Arnold 2015) mittels verbrauchsarmer Motorisierung, leistungssteuernder Technologien und mithilfe von weiteren Services einzuhalten. Festzuhalten bleibt: Die Verantwortung für die nachhaltige (möglichst ressourcenschonende) Nutzung ist schon deswegen nicht auf die Nachfragerseite beschränkt, weil der Anbieter das Absatzobjekt mittels Gebrauchswertversprechen vermarktet und weiß, dass das Wertversprechen nur einlösbar ist, wenn das Absatzobjekt genutzt wird, was mit der Verwendung weiterer Leistungspotenziale und mit der Erstellung weiterer Leistungsergebnisse einhergeht. Aus verantwortungsethischer Sicht ist die nachhaltige Nutzung nicht vollumfänglich an den Nachfrager delegierbar, aus der funktional-ökonomischen Perspektive handelt es sich um eine Differenzierungsmöglichkeit mit Wettbewerbsvorteils- und Geschäftsgenerierungspotenzial. Da die Nutzung des Absatzobjekts als eine spezielle Form der Leistungserstellung verstanden werden kann, wird auf die folgende Notation zurückgegriffen: Y*(𝑥 ∗ , 𝑥 ∗ , 𝑥 ∗ ). Entsprechendes gilt für die Wertschöpfung, die sich im Rahmen der Nutzung vollzieht: 2

Das bedeutet nicht, dass verantwortungsethisches Handeln irrelevant ist. Es wird lediglich herausgearbeitet, dass Nachhaltigkeitsmanagement auch aus einer funktional-ökonomischen Logik sinnvoll sein kann und zwar dann, wenn der Nachfrager Nachhaltigkeit wertschätzt und Marktmacht ausübt.

Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten

g 𝑦 ∗ - h(𝑥 ∗ ) 𝑣 ∗ g 𝑦 ∗ , h(𝑥 ∗ ) ∗ ∗ ∗ V = 𝑣 g 𝑦 , h(𝑥 ) = g 𝑦 ∗ - h(𝑥 ∗ ) 𝑣 ∗ g 𝑦 ∗ , h(𝑥 ∗ ) g 𝑦 ∗ - h(𝑥 ∗ ) *

297

(2)

Die totale Wertschöpfung der Leistungserstellung und -nutzung ist demnach die Summe der Zeilensummen von V und V*.

3.3

Zur Bewertungs- und Messproblematik

Bewertung Nachhaltigkeit ist ein normatives Konzept; ob und inwieweit die Erstellung und Nutzung eines Absatzobjekts als nachhaltig bezeichnet werden kann, ist eine Frage von Kriterien, deren Festlegung ebenfalls einen normativen Charakter aufweist. Aus funktional-ökonomischer Perspektive mag behauptet werden, dass sich die Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten nur dann als sinnvoll erweisen, wenn weder die Wertschöpfung des Anbieters, noch die Wertschöpfung des Nachfragers kleiner null ist: 



Anbieter, die einen negativen Wert schöpfen (also Wert vernichten), sind langfristig nicht überlebensfähig. Funktionales Nachhaltigkeitsmanagement ist demnach nur möglich, wenn gilt: 𝑣 𝑣 ∗ 0. Nicht funktionales Nachhaltigkeitsmanagement ist nicht nachhaltig und konterkariert sich selbst. Nachfrager werden sich für Absatzobjekte anderer Anbieter entscheiden oder 𝑣 ∗ 0 eintritt. Nachhalauf den Ge- oder Verbrauch verzichten, wenn 𝑣 tigkeitsmanagement ist somit nur dann funktional, wenn es von dem Nachfrager als wertschöpfend wahrgenommen wird, oder wenn es zur Reduktion der Wertvernichtung durch Ge- oder Verbrauch von Leistungspotenzialen im Zuge der Absatzobjektnutzung beiträgt.

Geht man davon aus, dass die Anbieter-Nachfrager-Beziehung in ein marktwirtschaftlich koordiniertes System eingebettet ist, dann muss Wertschöpfung (sei es Tausch- oder Gebrauchswert) für beide Seiten als Grundvoraussetzung für nachhaltiges Handeln angesehen werden. Nachhaltigkeit liegt vor, wenn der Anbieter und der Nachfrager im Zuge der Leistungserstellung und -nutzung Wert schöpfen und das Leistungspotenzial der Umwelt nicht beeinträchtigt wird (Brundtland 1987). 𝑣 ∗ 0. DaAufgrund der letztgenannten Einlassung muss zusätzlich gelten: 𝑣 mit ergibt sich der folgende Zielvektor für ein als funktional zu betrachtendes Nachhaltigkeitsmanagement:

298

Christian Arnold und Martin Reckenfelderbäumer

𝑣 𝑉= 𝑣 𝑣

𝑣∗ ≥0 𝑣∗ = ≥ 0 𝑣∗ 0

(3)

Die entfaltete Logik gestattet die Spezifizierung der Aufgaben des Nachhaltigkeitsmanagements aus Sicht der Leistungstheorie: Nachhaltigkeitsmanagement ermöglicht erstens eine positive Wertschöpfung für den Anbieter und für den Nachfrager im Zuge der Leistungserstellung und -nutzung und stellt zweitens sicher, dass das Leistungspotenzial der Umwelt nicht geschädigt wird. Es schafft eine Balance zwischen den legitimen Wertschöpfungsinteressen der beteiligten Akteure und der Umwelt. Es ist im Verantwortungsbereich von Anbieter und Nachfrager zu verorten. Zu bedenken ist hierbei freilich, dass die marktwirtschaftlich koordinierte Erstellung und Nutzung von Leistungen mit einer ebenfalls legitimen und risikoadäquaten Renditeerwartung der Kapitalgeber einhergeht (Rappaport 1986; Sundaram/Inkpen 2004a, 2004b). Verortet man die Kapitalgeber in die Sphäre der Umwelt, bleibt die entfaltete Logik zwar konsistent, steht aber – zumindest auf den ersten Blick – in Konflikt mit der Logik des Nachhaltigkeitsgedankens im Sinne von Carlowitz (1732), da dessen Argumentation auf die Ressourcenausstattung der Natur und nicht auf die Ressourcenausstattung anderer Stakeholdergruppen (hier: Investoren) zielt. Dies ist aber keine Frage der entfalteten Logik, sondern lediglich eine Frage der Bewertung des Leistungspotenzials, das an die Kapitalgeber oder an andere – hier nicht diskutierte – Stakeholder abfließt. Folgt man dem Expectancy-Disconfirmation Paradigma, dann sind Nachfrager zufrieden, wenn das Wertversprechen mindestens eingehalten wird (Yüksel/Yüksel 2001). Obwohl paradox anmutend, liegt es durchaus im Interesse des Anbieters, die Erwartungen des Nachfragers zu übertreffen und zwar dann, wenn er annehmen kann, dass dadurch die Kundenbindung steigt und sich die Geschäftsbeziehung nachhaltig stabilisiert (Grönroos 2009). So verstandene Nachhaltigkeit impliziert eine ausgewogen verteilte, also übervorteilungsfreie Wertschöpfung zwischen den 𝑣∗ ≈ 𝑣 𝑣 ∗ mit 𝑣 𝑣 ∗ ≥ 0, 𝑣 𝑣 ∗ ≥ 0 und Marktpartnern und damit 𝑣 ∗ 𝑣 𝑣 ≈ 0. Betrachtet man eine konkrete Erstellung und Nutzung eines Absatzobjekts, stellt sich nicht nur die Frage ob, sondern auch in inwieweit Nachhaltigkeit vorliegt. Zur Messung der Distanz zwischen der tatsächlich realisierten Wertschöpfung und der als ideal betrachteten Wertschöpfung mag als intuitive Abstandsmessung auf die euklidische Distanz zurückgegriffen werden (Eckey et al. 2002: 207) oder auf eine Reihe weiterer Distanzmaße, die aber aufgrund des vorliegenden Erkenntnisinteresses an dieser Stelle nicht adäquat zu erörtern sind. Es sei in diesem Zusammenhang bspw. auf Singh et al. (2013) verwiesen.

Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten

299

Messproblematik Die entfaltete Logik unterstellt die Identifizierbarkeit, Zuordenbarkeit, Messbarkeit und Bewertbarkeit zahlreicher Variablen (ge- und verbrauchte Leistungspotenziale und erstellte Leistungsergebniskomponenten). Dies ist in der Praxis schwerlich umzusetzen. Versteht man den diskutierten theoretischen Ansatz als Rahmenkonzept und leitet die mit der nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten einhergehenden Konsequenzen ab, ergeben sich sowohl Indikatoren zur Lösung der Messproblematik, als auch Ansatzpunkte zur Ableitung von Distanzen und damit zur Bewertung der Effektivität des Nachhaltigkeitsmanagements: 1. 2. 3.

Auf der Anbieterseite ist zu evaluieren, ob sie in der Lage ist, die risikoadäquate Renditeerwartung der Kapitalgeber nachhaltig zu befriedigen. Auf der Nachfragerseite ist zu evaluieren, ob sie mit der Leistung des Anbieters zufrieden ist und ob bzw. inwieweit Kundenbindung vorliegt. Auf der Umweltseite ist zu evaluieren, ob sich die Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten ressourcenschonend vollzieht.

Die beiden ersten Punkte sind mit keinen erkennbaren Hürden verbunden und seit vielen Jahren Bestandteil der betriebswirtschaftlichen Forschung. Soweit es die Messung der ressourcenschonenden Leistungserstellung betrifft, finden sich in der Literatur zahlreiche Messinstrumente und Bewertungskataloge, die auch auf Nutzungsprozesse ausdehnbar sind (exemplarisch Veleva et al. 2001a, 2001b; Veleva/Ellenbecker 2001; Krajnc 2003; Samuel et al. 2013; Dendler 2014).

4

Schlussfolgerungen

Folgt man den Grundannahmen der Leistungstheorie, dann ist die Leistungserstellung immer ein gemeinsamer Akt zwischen Anbieter und Nachfrager, der die Kombination von Leistungspotenzialen (Inputs, Ressourcen) des Anbieters, des Nachfragers und der Umwelt umfasst. Das Leistungsergebnis besteht aus dem Absatzobjekt und anderen Komponenten, die entweder in die Sphäre des Anbieters, des Nachfragers oder der Umwelt übergehen. Im Zuge der Nutzung des Absatzobjekts werden weitere Leistungspotenziale eingesetzt und es entstehen weitere Leistungspotenzialveränderungen aufseiten des Nachfragers, aufseiten der Umwelt und möglicherweise auch aufseiten des Anbieters. Letztgenannte werden in aller Regel ein vitales Interesse haben, in den Nutzungsprozess des Nachfragers einzugreifen, sei es, weil sie zusätzliche Geschäftsgenerierungspotenziale nutzen wollen oder weil sie die Kundenbeziehung stärken möchten. Für die Anbieterseite ist es daher

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erwägenswert, das Nachhaltigkeitsmanagement nicht nur als produktionstechnische Leitlinie zu verstehen, sondern zusätzlich in das Customer Experience Management zu integrieren. Im Rahmen der Erstellung und Nutzung eines Absatzobjekts wird Wert für den Anbieter und für den Nachfrager geschöpft. Geht dies mit der Vernichtung von Wert aufseiten der Umwelt einher, ist zu folgern, dass es sich um eine nicht nachhaltige Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten handelt. Die konkrete Feststellung ist aber aus mehreren Gründen problematisch:  

Die lückenlose Identifikation der integrierten Leistungspotenziale in die Leistungserstellungs- und Nutzungsprozesse ist faktisch nicht durchführbar. Die Bewertung der Leistungsergebniskomponenten ist ebenfalls kaum möglich und im Zweifel eine nicht konsensfähige subjektive Einschätzung vonseiten des Anbieters, des Nachfragers oder vonseiten irgendwelcher Institutionen, die die Aufgabe übernehmen, die Sphäre der Umwelt zu evaluieren.

Auch wenn die vorgetragenen Überlegungen abstrakt erscheinen mögen, fungieren sie dennoch als Orientierung zur Beantwortung der in Kapitel 1 formulierten Forschungsfragen. Nachhaltige Erstellung und nachhaltige Nutzung von Absatzobjekten aus Sicht der Leistungstheorie liegen dann vor, wenn der Anbieter eine risikoadäquate Rendite erwirtschaftet und die Wertschöpfung zwischen Anbieter und Nachfrager ausbalanciert ist, also keine der beiden Parteien übervorteilt wird. Dies darf aber nicht unter Inkaufnahme von Wertvernichtung in der Sphäre der Umwelt erfolgen und zwar weder bei der Erstellung, noch bei der Nutzung von Absatzobjekten. Anbieter und Nachfrager müssen Leistungserstellungs- und Nutzungsprozesse gemeinsam ausgestalten und Verantwortung für Nachhaltigkeit gegenüber den natürlichen Ressourcen als Leistungspotenzial verstehen, dessen Integration obligatorisch ist. Nachhaltigkeitsmanagement ist eine gemeinsame Aufgabe der Anbieter- und Nachfrageseite. Es hat die Aufgabe, eine Balance zwischen den legitimen Wertschöpfungsinteressen der beteiligten Akteure und der Umwelt, im Besonderen der Natur, herzustellen und zu erhalten.

Literaturverzeichnis Arnold, C. (2015): Serviceparadigmen und Implikationen für die Vermarktung. Springer. Arnold, C./Heuer, C. (2017): Kritisch-konstruktive Anmerkungen zum Big Data Diskurs aus leistungstheoretischer Sicht. In: ZIFP 2017(1): 97-106.

Anmerkungen zur nachhaltigen Erstellung und Nutzung von Absatzobjekten

301

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Nachhaltigkeit im Personalmanagement Bernd Walzer und Michael Müller-Camen



Einleitung .................................................................................................. 306 



Was bedeutet Nachhaltigkeit im HRM? .................................................... 307 



Forschungsgegenstand .............................................................................. 308  3.1  3.2 

Geschichtlicher Abriss ................................................................... 308  Wandel der Organisationsform ...................................................... 309 



Methoden der Entscheidungsfindung ........................................................ 312 



Bereiche eines sustainable HRM ............................................................... 313  5.1  5.2  5.3  5.4 



Wesentliche Ziele des nachhaltigen Personalmanagements ...................... 317  6.1  6.2  6.3 



Gleichbehandlung .......................................................................... 317  Entwicklung und well being der Mitarbeiter.................................. 317  Unterstützung einer umweltfreundlichen Geschäftstätigkeit ......... 318 

Neue wesentliche Elemente....................................................................... 319  7.1  7.2 



Führung .......................................................................................... 313  Personalrekrutierung und Personalentwicklung ............................. 314  Bezahlung ...................................................................................... 316  Beschäftigungsschaffung und Arbeitszeit ...................................... 316 

Personalwirtschaftliche Entscheidungen außerhalb der Organisationsgrenzen – Mitarbeiter der Lieferkette....................... 319  Mitarbeiterführung und Partizipation ............................................. 320 

Fazit ........................................................................................................... 320 

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_14

306

1

Bernd Walzer und Michael Müller-Camen

Einleitung

Der vorliegende Beitrag veranschaulicht, wie es in der Unternehmenspraxis möglich ist, den Gedanken der Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit in Einklang zu bringen. Als Beispiel dient die TELE HAASE Steuergeräte Ges.m.b.H., im weiteren als TELE bezeichnet, mit Sitz und Produktionsstandort in Wien. Es handelt sich dabei um ein mittelständisches Unternehmen der Elektronikbranche in Familienbesitz, das seit etwa 50 Jahren besteht. Die Unternehmung umfasst rund 85 Mitarbeiter/innen, die zur Hälfte in der Produktion beschäftigt sind. Bis zum Jahr 2013 folgte die Organisation der Firma nach streng hierarchischen Kriterien mit einem klassischen, pyramidalen Aufbau. Ab diesem Zeitpunkt war eine schrittweise Übergabe innerhalb der Eigentümerfamilie geplant. Dieser Generationenwechsel war gleichzeitig der Startschuss zur organisatorischen Neuorientierung. Es erfolgte ab Mitte des Jahres die Umstrukturierung hin zu einer demokratischen Organisationsform. Vorangetrieben wurde diese Entwicklung zusätzlich durch einen neuen Geschäftsführer. Zunehmend wurde die Funktionsweise der hierarchischen Organisationsstruktur und der langfristige wirtschaftliche Erfolg des bestehenden Systems in Frage gestellt. Die Neuorientierung drückt sich im Wesentlichen durch einen möglichst weitgehenden Hierarchieabbau und die Überführung zu einer möglichst vollständigen Selbstorganisation der Mitarbeiter/innen aus. Dort wo der völlige Verzicht auf hierarchische Strukturen gegenwärtig nicht möglich ist, werden diese durch die Beschäftigten selbst bestimmt und implementiert. Dies betreffen vor allem die Weisungsbefugnisse innerhalb von Arbeitsbereichen. Um Ungerechtigkeiten durch Bevorzugung von einzelnen Weisungsempfängern entgegenzuwirken, existiert eine strenge Trennung von fachbezogener und personeller Autorität. Diese Autoritäten sind kein Teil der Tätigkeit der Mitarbeiter/innen, sondern vielmehr eine „Zusatzfunktion“, für die man durch die Organisation auf Zeit gewählt wird. Unternehmensentscheidungen werden nicht von einzelnen Führungskräften getroffen. Die Entscheidungsbefugnis und damit auch die Verantwortung für die Folgen liegt beim Kollektiv, das durch Gruppen aus gewählten Vertreter/innen, so genannten Gremien, vertreten wird. Da es sich bei dem Unternehmen um eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach österreichischem Recht handelt, unterliegt es der betreffenden Gesetzgebung einer juristischen Person. Deshalb kann formal nicht auf eine Geschäftsführung verzichtet werden. Diese Funktion wird, wie bereits oben erwähnt, vom Treiber des Change-Prozesses eingenommen, dessen Bestellung durch die Eigentümer erfolgte. Dieser hat sich ein Vetorecht vorbehalten. Dieses wird nach eigenen Angaben ausschließlich eingesetzt, um Unternehmensentscheidungen zu verhindern, die für ihn rechtlich negative Konsequenzen bedeuten könnten.

Nachhaltigkeit im Personalmanagement

307

In Folge dieser drastischen Umgestaltung kam es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den bestehenden Geschäftsfeldern. Die Elektronikbranche befindet sich in einem starken Wandel hin zur Digitalisierung. Als Schlagworte seien an dieser Stelle „Industrie 4.0“ und „Internet-of-Things“ genannt. Die Herausforderung für den produzierenden Betrieb liegt darin, den sich verändernden Anforderungen gerecht zu werden, ohne das Kerngeschäft, die Produktion und Vermarktung von relativ einfachen, jedoch qualitativ hochwertigen Zeit- und Überwachungsrelais zu vernachlässigen. Um diesen Ansprüchen Rechnung zu tragen, wurden Startups eingeladen, sich im Firmengebäude auf Zeit anzusiedeln. Diese können die Ressourcen des Unternehmens zu äußerst günstigen Konditionen nutzen. In einem sehr geringen monatlichen Pauschalbetrag für einen Arbeitsplatz ist es sogar möglich, Produktionskapazitäten für Erstserien zu nutzen. Dies fördert das Diffundieren von neuen Ideen in die alteingesessene Firmenlandschaft. Im Ausgleich dazu wird den Jungunternehmer/innen die Möglichkeit gegeben, vom jahrzehntelangen Knowhow in der automatisierten Fertigung zu profitieren. Die vorliegende Arbeit beschreibt anhand der definierten Standardmerkmale des nachhaltigen Personalmanagements, der Führung, Personalauswahl und -entwicklung, Bezahlung, sowie Beschäftigungsschaffung und Arbeitszeit (MüllerCamen et al. 2018), wie diese im vorliegenden Beispielbetrieb umgesetzt werden und zugleich der betriebswirtschaftliche Erfolg sichergestellt wird. Es werden also neben der ökonomischen Komponente ebenfalls soziale und ökologische Faktoren in die Betrachtung eines nachhaltigen Personalmanagements einbezogen (Maurer/Müller-Camen 2016).

2

Was bedeutet Nachhaltigkeit im HRM?

Was die ökonomische Komponente betrifft, agieren Unternehmen dann nachhaltig, wenn ihre wirtschaftliche Tätigkeit auf stabiles Wachstum und langfristiges Aufrechterhalten ihrer Marktpräsenz ausgerichtet sind. Dies erfordert einen hohen Innovationsgrad, da es in der heutigen Umwelt nicht mehr möglich ist, langfristig auf den Märkten zu agieren, wenn keine ständige Überprüfung und Weiterentwicklung des bestehenden Produktportfolios erfolgt. Um dem Kriterium der Nachhaltigkeit zu entsprechen, genügt diese einseitige Betrachtungsweise nicht. Die Betriebe müssen neben dem wirtschaftlichen Umfeld ebenfalls im sozialen und im ökologischen Bereich nachhaltig agieren (Ehnert et al. 2016)

308

3 3.1

Bernd Walzer und Michael Müller-Camen

Forschungsgegenstand Geschichtlicher Abriss

Die Firma TELE Haase wurde im Jahr 1963 zu Beginn als Handelsunternehmen von Günther Haase gegründet. Bereits nach vier Jahren erfolgte der Aufbau eines Produktionsunternehmens am Standort in Wien. Der Fokus lag schon zu Beginn auf der Produktion von Zeit- und Überwachungsrelais. Als sich die Produktion und der Vertriebsbereich ausweiteten, erfolgte im Jahre 1973 die Gründung einer zweiten Firma, der TELE Steuergeräte in München, die sechs Jahre später mit der österreichischen Muttergesellschaft fusionierte und seitdem als TELE Haase Steuergeräte GesmbH firmiert (TELE Haase Steuergeräte GesmbH 2016). Nachdem der Firmengründer im Jahr 1975 verunglückte, ging die Firma an dessen Ehefrau Heidemarie Haase über. Diese setzte in weitere Folge mehrere Geschäftsführer ein, um die Firmenagenden zu leiten und dem Unternehmen einen konstanten wirtschaftlichen Kurs zu ermöglichen. Im Jahre 2002 wurde der Standort aus dem urbanen Raum im 15. Bezirk von Wien an den südlichen Stadtrand verlegt, wo sich sowohl die Produktion als auch die Verwaltung noch heute befinden. Ab 2011 war eine familieninterne Übergabe an den Sohn Christoph Haase geplant. Als 2013 die TELE HAASE ihr 50jähriges Firmenjubiläum verzeichnete, war dieser Übergabeprozess gerade in vollem Gange. In diesen Zeitraum fällt auch der Anfang des Transformationsprozesses in organisatorischer Hinsicht. Laut Markus Stelzmann, dem offiziellen Geschäftsführer der TELE, der sich selbst in der Rolle als Regisseur sieht, spielte sich der Beginn des Transformationsprozesses folgendermaßen ab (Reiniger et al. 2017): Christoph Haase bemerkte, dass die Mitarbeiter/innen, obwohl es sein Wunsch war, diese an firmeninternen Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machten. Zwar signalisierte das Managements die Bereitschaft, Strukturen zu schaffen, die den Mitarbeiter/innen mehr Anteilnahme an den organisatorischen und betriebswirtschaftlichen Belangen der Firma ermöglichen, jedoch war keinerlei Umsetzung dieses Vorhabens zu bemerken. Dieser Umstand führte dazu, dass sich Christoph Haase desillusioniert und freudlos von der Organisation abwenden wollte. Zu diesem Zeitpunkt lernte er Markus Stelzmann kennen, der nach einer Auszeit eine neue Herausforderung suchte. Gemeinsam beschlossen sie, die TELE völlig neu zu organisieren. Ihr Plan war es, eine Organisationsform zu schaffen, die den Mitarbeiter/innen eine größtmögliche Partizipation an der strategischen Unternehmensführung bietet und somit zu einer höheren Sinnfindung in der eigenen beruflichen Tätigkeit führt. Dazu sollte das bestehende klassisch hierarchische Abteilungssystem durch eine prozessorientierte Aufbauorganisation abgelöst werden. In einem ersten Schritt wurde in

Nachhaltigkeit im Personalmanagement

309

Kooperation mit dem bestehenden Management ein Entwurf von Sollprozessen erstellt, der als Armageddon Masterplan der Belegschaft vorgestellt wurde. Um den prozessualen Ablauf in der IT-Infrastruktur des Unternehmens abbilden zu können, wurde in der Folge eine moderne ERP-Software angeschafft, die das bestehende System ablöste. Es stellte sich schnell heraus, dass relativ viele Mitarbeiter/innen – insbesondere aus dem ehemals mittleren Management – die Veränderungen nicht mittragen konnten und wollten. Dies führte zu einer sehr hohen Fluktuation in den ersten beiden Jahren des Wandlungsprozesses. Es verließen in diesem Zeitraum in etwa ein Drittel der Mitarbeiter/innen das Unternehmen sowohl aus eigenem Antrieb als auch durch Trennung von Seiten des Arbeitgebers. Seit 2014 weist TELE einen konstanten Mitarbeiterstand von etwa 85 Personen auf, wobei auch Leihpersonal eingerechnet wird, da dieses in der Regel nach einer entsprechenden Einarbeitungszeit ein unbefristetes Dienstverhältnis erhält.

3.2

Wandel der Organisationsform

TELE HAASE zeichnet sich als Forschungsobjekt besonders dadurch aus, dass der Change-Prozess von den beiden Hauptakteuren ohne das Hinzuziehen von spezialisierten Beratungsunternehmen initiiert und durchgeführt wurde. Außerdem erfolgte im Vorfeld nach eigenen Angaben keinerlei Literaturstudium, um sich an bereits bestehenden, demokratischen Organisationsmodellen zu orientieren. Gekennzeichnet ist die Aufbauorganisation durch einen weitgehenden Verzicht auf hierarchische Strukturen. Es wurden elf Prozesse identifiziert, die die korrekten Abläufe innerhalb der Firma sicherstellen. Jene drei Prozesse, die unmittelbar an der Wertschöpfung beteiligt sind, werden als Hauptprozesse bezeichnet. Es handelt sich dabei um den Verkauf, die Innovation und die Produktion. Alle anderen Prozesse sind sogenannte Unterstützungsprozesse, da sie Leistungen für die drei erstgenannten erbringen. Bemerkenswert ist, dass die Geschäftsführung, bei TELE als Regie bezeichnet, ebenfalls als Unterstützungsprozess definiert wurde. Juristisch ist es in Österreich nicht möglich eine Firma ohne Geschäftsführung zu betreiben, weshalb auf dieses Hierarchie-Kennzeichen nicht verzichtet werden kann. Markus Stelzmann bezeichnet sich selbst jedoch als Regisseur, der Rahmenbedingungen schaffen möchte und den Akteuren/innen ermöglicht, ihre Kreativität und somit Kompetenzen zur Problemlösung zu entwickeln. Um seinen rechtlichen Verpflichtungen und der Haftungsfrage seiner Position als Geschäftsführer Rechnung zu tragen, hat er sich ein Vetorecht ausbedungen. Von diesem wird Gebrauch gemacht, falls eine im Unternehmen getroffene Entscheidung zu negativen rechtlichen Konsequenzen führen kann.

Abbildung 1: Haupt- und Unterstützungsprozesse



Überwachungsprozess

Finanzbuchhaltung

SALES SALES (SM) (SM)

CustomerService

REGIE (R)

FINANCE MANAGEMENT (FM)

Zielbildung

Controlling

Debitorenbuchhaltung

Kreditorenbuchhaltung

Direktvertrieb

Branchenman.ment

Brandlabel

Finanzpartner

EGH

Exportpartner

Mobilität

HUMAN RESOURCE (HR)

Personalrecruiting

OFFICEMANAGEMENT (OM)

Facility Management

Event & Hospitability

Welcomemanagement

Personalverwaltung

Personalcontrolling

Personalhonorierung

Personalentwicklung

(INNO)

INNOVATION

Ideenmanagement

Kommissionierung

PURCHASING & LOGISTICS (PUL)

Versand



Support

INFORMATIONSTECHNOLOGIE (IT)

Lagerführung

Auftragsbestätigung Eigentum des Kunden

Zentraleinkauf

Planung

System-/ Netzwerkadmin

Backup

UNTERSTÜTZUNGSPROZESSE

Forschung &Entwicklung

Projektmanagement

HAUPTPROZESSE

Produktionstechnologie & Automat.

Umweltplanung

Qualitätsplanung

Verkaufsförderung

QUALITY MANAGEMENT (QM)

Qualitätssicherung & -kontrolle

MARKETING (MT)

Kundenreklamat.

Kennzahlen KPI

Laufende KZA

Produktmarketing

(PROD)

PRODUCTION

Kommunikation

Endfertigung

Produktionsunterstützung

Produktionsplanung & -steuerung

Beschaffung SMT & THT

310 Bernd Walzer und Michael Müller-Camen

Nachhaltigkeit im Personalmanagement

311

Ein Organigramm in klassischem Sinn existiert nicht. Die Darstellung des Unternehmens erfolgt durch Kreise, die von den Mitarbeiter/innen als „bubbles“ bezeichnet werden (siehe ergänzend Abbildung 1). Innerhalb dieser finden sich die Teilprozesse, die die innerprozessuale Aufteilung visualisiert. Die Verantwortung für den reibungslosen Ablauf eines Prozesses liegt beim bzw. bei der Prozessverantwortlichen. Dies bedingt, dass diese(r) ebenfalls über eine fachliche Weisungskompetenz gegenüber den Prozessmitarbeiter/innen verfügt. Der Aufgabenbereich aller Mitarbeiter/innen ist bei TELE über eine Rollenbeschreibung geregelt. Jeder/jedem Mitarbeiter/in ist eine Grundfunktion zugewiesen, die Auskunft darüber gibt, welche Tätigkeiten als Prozessmitarbeiter/in ausgeübt werden. Diese Grundfunktion umfasst mindestens 70 Prozent der beruflichen Aufgaben und kann nicht zu Gunsten anderer Tätigkeiten zurückgelegt werden. Zusätzlich können diverse Zusatzfunktionen wahrgenommen werden. Eine Weiterentwicklung in diese Richtung ist ausdrücklich erwünscht. Die definierten Zusatzfunktionen werden im Folgenden kurz beschrieben. Die Eigenschaften der so genannten Prozessverantwortung wurden zuvor bereits genannt. Als nächstes ist die Personalverantwortung zu nennen. Bei TELE sind die fachliche und personelle Kompetenz strikt getrennt. Dadurch wird sichergestellt, dass es zu keinen Begünstigungen oder Benachteiligungen von Mitarbeiter/innen durch die/den Prozessverantwortliche(n) auf Grund von subjektiven Vorlieben kommt. Die/der Personalverantwortliche darf jenem Prozess nicht angehören, für dessen Mitarbeiter/innen er verantwortlich ist. Dies stellt die geforderte organisatorische Trennung sicher. Als wesentliche Teile dieser Zusatzverantwortung sind das Führen von Mitarbeitergesprächen, aktive Teilnahme an der Rekrutierung neuen Personals, sowie bei der Auflösung von Dienstverhältnissen. Diese Aufgaben stellen die Schnittstelle zum HR-Prozess und den Personalverantwortlichen dar und erfordern eine konstruktive Zusammenarbeit. Die bedeutendste Aufgabe kommt jedoch der Funktion der Vertrauensperson zu. Bei Problemen mit dem Prozessverantwortlichen ist es den Mitarbeiter/innen möglich, diese mit den Personalverantwortlichen zu besprechen und sich dieser als Vermittler zu bedienen. Für die Zusatzfunktionen Prozessverantwortliche(r) und Personalverantwortliche(r) sind 20 Prozent der Arbeitszeit vorgesehen. Die Position der/des Gremienverantwortlichen ist ebenfalls als Zusatzfunktion definiert. Die Tätigkeiten dafür umfassen die Organisation, Verwaltung der Agenden und Protokolle und sonstige administrative Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Durchführung von Gremien. Dazu kommen die Erhebung und Aufbereitung von den betreffenden Themen für das jeweilige Gremium. Die Erläuterung der Gremienlandschaft bei TELE erfolgt in weiterer Folge dieses Artikels.

312

Bernd Walzer und Michael Müller-Camen

Um die Akkumulation von zu vielen Machtpositionen in Form von Zusatzfunktionen zu verhindern, wurden diesen die bereits genannten prozentualen Werte zugewiesen. So ist es nicht möglich zur gleichen Zeit Personalverantwortliche(r) und Prozessverantwortliche(r) zu sein, da den beiden Aufgabenbereichen jeweils 20 Prozent der Arbeitszeit zugewiesen sind. Zusammen mit der Grundfunktion ist dies nicht möglich, da diese mindestens 70 Prozent der Arbeitszeit einnimmt. Eine Gremienverantwortung zusätzlich zu einer anderen Zusatzfunktion ist jedoch möglich – das Hauptaugenmerk liegt jedoch stets auf der Grundfunktion. Wird diese nicht zufriedenstellend erfüllt, darf ebenfalls keine Zusatzaufgabe angenommen werden. Die Übernahme von Verantwortung wird über ein von Mitarbeiter/innen erarbeitetes Entlohnungssystem abgegolten.

4

Methoden der Entscheidungsfindung

TELE nutzt Gremien um Entscheidungen zu treffen. Zur Zeit der Erstellung dieses Beitrags existierten zwei Institutionen, das Gremium Organisation und das Gremium Geschäftsplan. Gremien dienen ausschließlich der Entscheidungsfindung und zur Überwachung von Prozessen. Alle Prozesse sind in dem Gremium vertreten. Dabei wird jeweils ein(e) Mitarbeiter/in entsandt. Diese(r) ist in Regel nicht die/der Prozessverantwortliche, wobei dies natürlich auch möglich ist. Welche Person den Prozess im Gremium vertritt, wird von den Angehörigen des korrespondierenden Prozesses bestimmt. Wie der Name vermuten lässt, dient das Gremium Geschäftsplan dazu, betriebswirtschaftliche Entscheidungen zu treffen. Dies umfasst Themen wie die Budgeterstellung oder Investitionsentscheidungen. Das Gremium Organisation wiederum soll das Funktionieren der Aufbauorganisation sicherstellen und ist für die Unternehmensstrategie zuständig. Die behandelten Themen können von jedem Unternehmensangehörigen mittels Einreichung eines Agendapunkts in das Gremium eingebracht werden. Entscheidungen werden dort mittels Mehrheitsbeschlusses getroffen. Dabei muss sichergestellt werden, dass jedes Gremiumsmitglied in der Lage ist, die Thematik ausreichend zu beurteilen. Sollte dies nicht gegeben sein, kann vom Gremium eine Arbeitsgruppe gegründet und beauftragt werden. Deren Aufgabe ist das Aufarbeiten des unklaren Themas, bis eine Entscheidungsreife erreicht ist. Arbeitsgruppen sind zeitlich terminiert. Arbeitsgruppenverantwortliche sind verpflichtet, regelmäßig über den Fortschritt der Tätigkeiten im Gremium Bericht zu erstatten.

Nachhaltigkeit im Personalmanagement

313

Die Koordination zwischen den Prozessen wird durch Jour fixes sichergestellt. Dies sind regelmäßig stattfindende Zusammenkünfte, deren Teilnehmer/innen sich aus jenen Prozessen rekrutieren, die gemeinsame Schnittstellen aufweisen. In einem Jour fixe getroffene Entscheidungen betreffen in der Regel die Koordination der Ablauforganisation. TELE hat sich der vollständigen Transparenz gegenüber allen Mitarbeiter/innen verschrieben. Daher müssen bei allen Besprechungen der oben genannten Institutionen Agenden und Protokolle verfasst werden und diese im hauseigenen Intranet, bei TELE Infonet genannt, veröffentlicht werden. Allen Mitarbeiter/innen den Zugang zu allen Informationen zu ermöglichen, die die Firma betreffen, ist ein wesentlicher Teil der Unternehmenskultur. Auch hier kommt es lediglich durch das bestehende Rechtssystem zu Restriktionen. So ist es zum Beispiel nicht gestattet, personenbezogene Informationen, wie etwa Einkommensdaten, zu publizieren. Eine solche Offenheit stellt die Organisation jedoch auch vor große Herausforderungen, da moderne ERP-Systeme und IT-Strukturen nicht darauf ausgerichtet sind, jedem User alle Benutzerrechte zu übertragen.

5 5.1

Bereiche eines sustainable HRM Führung

Dass ein gewisses Maß an Führung in jeder Organisation nötig ist, ist unumstritten. Ein Merkmal von alternativen Unternehmensformen ist es jedoch, dass neue Wege gewählt werden, um diese Verantwortung und die damit verbundenen Machtpositionen den Akteuren/innen zuzuweisen. Der Schwerpunkt wird dabei vor allem auf die Verteilung von Verantwortlichkeiten gelegt. Bei TELE wird dieser Aspekt auf den unterschiedlichsten Ebenen der Organisation berücksichtigt. Wie bereits erwähnt, erfolgt auf Prozessebene eine klare Trennung von Verantwortung in Personal und Prozessangelegenheiten über die Schaffung der Zusatzfunktionen Prozessund Personalverantwortliche(r). Es soll jede Benachteiligung von Mitarbeiter/innen auf Grund von persönlichen Vorlieben oder Animositäten verhindert werden. Die Beurteilung eines Prozessmitgliedes soll ausschließlich über dessen Leistung erfolgen. Gleichzeitig soll es Vorgesetzten unmöglich gemacht werden zu verhindern, dass ein(e) Weisungsgebundene(r) sich über eine nicht korrekt wahrgenommene Führungsverantwortung äußert. Beides wird durch diese strikte Trennung

314

Bernd Walzer und Michael Müller-Camen

gewährleistet. Dazu muss abermals die Tatsache betont werden, dass ein(e) Personalverantwortliche(r) niemals Angehörige(r) des Prozesses sein darf, den sie/er vertritt und außerdem keine andere Prozessverantwortung innehaben kann. Betrachtet man jene Ebene, auf der die unternehmensrelevanten Entscheidungen getroffen werden, erkennt man, dass auch dort dem Prinzip der Verantwortungstrennung klar gefolgt wird. Indem organisatorische und finanzielle Entscheidungen getroffen werden, die bindend umzusetzen sind, repräsentiert die Gremienlandschaft den Personenkreis, der in hierarchisch geführten Unternehmen der Vorstandsebene oder der Geschäftsführung angehört. Bei TELE rekrutiert sich dieser Kreis aus Mitarbeiter/innen, die aus allen Unternehmensbereichen entsandt werden. Diese tragen für das Unternehmen essentielle Themen in ihre Prozesse und stimmen sich dort ab. Stehen Entscheidungen an, ist es unumgänglich, dass die Gremienmitglieder im Diskurs eine gemeinsame Linie finden. Die Entscheidungen werden in einer offenen Abstimmung mit einfacher Mehrheit getroffen. Die Mitglieder der Gremien fluktuieren ständig. Die Zusammensetzung ist in beiden Gremien unterschiedlich. Durch diese Vorgehensweise wird sichergestellt, dass die Meinungen aller Mitarbeiter des Unternehmens in den Entscheidungsprozess einfließen. Diesem Umstand wird auch dadurch Rechnung getragen, dass Strategiefindung und Ressourcenverwaltung durch die Schaffung von zwei Gremien von unterschiedlichen Entscheidungsträger/innen betrachtet werden. Diese Geschäftsbereiche sind in herkömmlichen Organisationsstrukturen in der Hand weniger Mitglieder eines elitären Führungskreises vereint. Bei der Beurteilung von nachhaltigem Personalmanagement wird neben der Streuung von Führungsaufgaben vor allem der temporäre Aspekt der Übertragung dieser Verantwortungen betont. Zusatzfunktionen können bei TELE Haase nicht auf Dauer ausgeübt werden. Durch das Gremium Organisation wurde ein Zeitraum von zwei Jahren festgesetzt, nach dessen Ablauf die Funktion neu vergeben werden muss. Auf die Details dieser Neuvergabe wird in der Folge noch eingegangen.

5.2

Personalrekrutierung und Personalentwicklung

Bevor eine neue Position bei TELE extern ausgeschrieben wird, findet in der Regel vorerst eine interne Stellenausschreibung statt. Der Ablauf bei der internen Rekrutierung läuft stets gleich ab. Das Inserat wird im firmeneigenen Intranet veröffentlicht. Danach beginnt eine vier Wochen andauernde Frist, innerhalb derer die Bewerber/innen ihren Lebenslauf und ein Motivationsschreiben an den HR Prozess übermitteln können. Bei diesen Bewerbungsunterlagen handelt es sich demnach um dieselben Papiere, die auch von externen Bewerbern eingereicht werden. Diese

Nachhaltigkeit im Personalmanagement

315

Informationen werden den Prozessverantwortlichen übergeben, die sich mit den Prozessmitarbeiter/innen abstimmen. Dies bedeutet, dass die Mitarbeiter/innen sich gemeinsam für die/den gewünschten Kandidat/in entscheiden. Nach Ablauf der Vorlaufzeit findet eine offene Wahl statt, an der die Prozessverantwortlichen teilnehmen. Sie vertreten den Beschluss der jeweiligen Prozessmitarbeiter/in. Bevor nun eine Entscheidung getroffen wird, präsentiert jede(r) Bewerber/in noch einmal kurz sich und ihre/seine Vorstellungen und erhält darauf Rückmeldung von den anwesenden Stimmberechtigten. Im Anschluss daran erfolgt die offene Wahl. Bei der externen Personalauswahl wird anders vorgegangen. Da für TELE die Sozialkompetenzen der Mitarbeiter/innen von sehr hoher Bedeutung sind, wird diesen auch im Recruiting-Prozess eine hohe Bedeutung beigemessen. Mittels einer elektronischen Umfrage, die auf einem psychologischen Fragebogen beruht, werden jene Mitarbeiter/innen befragt, die mit den zukünftigen Mitarbeiter/innen direkt zusammenarbeiten werden. Es werden dabei die gewünschten Persönlichkeitsmerkmale gesammelt. Von den Prozessmitarbeiter/innen werden die erforderlichen fachlichen Kompetenzen der zukünftigen Kollegen abgefragt. Auf Basis dieser Umfragen wird das Stelleninserat erstellt. Jene Bewerber/innen, die in die engere Auswahl kommen, beantworten ebenfalls einen Fragebogen, in dem die Sozialkompetenzen ermittelt und mit den Anforderungen der Mitarbeiter/innen verglichen werden. Die Entscheidung für eine(n) Bewerber/in erfolgt in Abstimmung von der/dem Personalverantwortlichen, der/dem Prozessverantwortlichen und der/dem Verantwortlichen des HR-Prozesses, wobei es jedem Organisationsmitglied freisteht am Vorstellungsgespräch teilzunehmen. Beim jährlich stattfindenden Mitarbeitergespräch zwischen dem Prozessmitglied und seiner/seinem Personalverantwortlichen werden neben den persönlichen Zielen und Wünschen auch vorhandene Kompetenzdefizite abgefragt. Daraus werden notwendige Maßnahmen abgeleitet. Diese Erhebungen fließen in das Schulungsbudget ein, das im HR-Prozess erarbeitet wird. Bei der Budgeterstellung wird zwischen unbedingt notwendigen und weniger dringlichen Schulungsmaßnahmen unterschieden. Ein Teil der finanziellen Mittel wird über einen Schlüssel an die Prozesse verteilt. Dieser Anteil kann beliebig in die Personalentwicklung investiert werden. Somit ist es möglich auch in die Erweiterung von sozialen Kompetenzen zu investieren. Auf vom Budget unabhängige Weiterentwicklungsmöglichkeiten wurde bereits bei der Beschreibung der Zusatzverantwortungen verwiesen.

316

5.3

Bernd Walzer und Michael Müller-Camen

Bezahlung

In Österreich ist die Mindesthöhe von Lohn- und Gehaltszahlungen durch Kollektivverträge zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen gesetzlich vorgegeben (Müller 2000). Diesen Bestimmungen ist bei der Schaffung von besonderen Entlohnungssystem Rechnung zu tragen. Durch die Mitarbeiter/innen wurde bei TELE ein Entlohnungssystem geschaffen, welches das Engagement für das Unternehmen in den Gehältern berücksichtigt. Für die Übernahme von Verantwortung in Form von Zusatzfunktionen erfolgen Funktionszulagen. Die Höhe einer solchen Zahlung richtet sich nach dem Bruttoeinkommen der Mitarbeiter. Je niedriger dieses ist, desto höher fällt diese Zahlung aus. Ab einem bestimmten Jahreseinkommen, das mit dem Gehalt einer/eines Angehörigen des mittleren Managements vergleichbar ist, findet eine Zusatzfunktion keine Berücksichtigung mehr. Diese Grenze wird damit erklärt, dass bei Gehältern dieser Größenordnung von der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, ausgegangen werden kann.

5.4

Beschäftigungsschaffung und Arbeitszeit

Die aktive Schaffung von Beschäftigung war bis dato nicht im Focus der Organisation. Es wird von Seiten der Eigentümer immer wieder betont, dass es der absolute Wille ist, weiterhin am Standort Wien zu produzieren und daher die Arbeitsplätze gesichert sind. Aktive Beschäftigungsschaffung im Sinne einer Social Enterprise (Battilana et al. 2015) findet jedoch nicht statt und kann auch nicht das Ziel einer auf Gewinn ausgerichteten, im internationalen Konkurrenzkampf stehenden Unternehmung sein. Die Anzahl der Beschäftigten ist zum Großteil von der Auftragslage abhängig und hat sich zwischen 80 und 90 Personen eingependelt. In der Produktion werden neben dem Stammpersonal ständig einige Leiharbeiter/innen beschäftigt, die bei guter Geschäftsentwicklung übernommen werden. Bei TELE wurde eine Gleitzeitregelung in üblichem Umfang etabliert. Innerhalb der Kernzeit ist eine Anwesenheit erforderlich. Darüber hinaus wird sehr viel Aufmerksamkeit daraufgelegt, dass es nicht zu Überschreitungen der gesetzlichen Arbeitszeitregelungen kommt. Über diese Regelung hinaus wird den Mitarbeiter/innen die Möglichkeit geboten, bis zu zwei Tage pro Woche außerhalb des Firmengebäudes zu arbeiten. Es wurden Auflagen erarbeitet, unter denen diese mobile Telearbeit in Anspruch genommen werden darf. So darf die Art der Tätigkeit die Anwesenheit am Standort nicht erforderlich machen und es ist nicht möglich, direkt nach der Konsumation von Urlaubstagen abwesend zu sein.

Nachhaltigkeit im Personalmanagement

6

6.1

317

Wesentliche Ziele des nachhaltigen Personalmanagements Gleichbehandlung

Die Gleichbehandlung aller Mitarbeiter/innen ist eine wesentliche Eigenschaft eines nachhaltigen Personalmanagements. Hierbei liegt der Fokus vor allem auf einem ausgeglichenem Geschlechterverhältnis der Mitarbeiter und der gleichen Vergütung für beide Geschlechter. Bei TELE arbeiten zurzeit 35 Mitarbeiterinnen. Die Frauenquote beträgt rund 47 Prozent, da der Personalstand exklusive Leiharbeiter/innen 74 Personen beträgt. Es erfolgt keine Bevorzugung von Frauen bei gleicher Qualifikation. Dies ist auf Grund des zuvor beschriebenen Rekrutierungsprozesses nicht möglich. Hier wird bei mehreren Bewerbern mittels eines Wahlsystems die Position vergeben. Hier findet also bei der Stellenvergabe eine direkte Begründung der Entscheidung statt. Erstaunlich ist, dass sich unter den Prozessverantwortlichen ein nahezu ausgeglichenes Geschlechtsverhältnis eingestellt hat. Für fünf der elf beschriebenen Prozesse tragen Frauen die Verantwortung. Bei den Personalverantwortlichen ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Das durch die Mitarbeiter entwickelte Gehaltssystem ist geschlechtsneutral formuliert. Es wurde bei der Aufarbeitung des Themas in der Arbeitsgruppe lediglich der gesetzlich vorgeschriebene Kollektivvertrag berücksichtigt. Dieser sieht ausdrücklich vor, dass bei der Bezahlung kein Unterschied zwischen Frauen und Männern bestehen darf. Ebenso gilt das beschriebene Funktionszulagensystem für jede Person in gleicher Weise.

6.2

Entwicklung und well being der Mitarbeiter

Ein Teil des Wohlbefindens von Menschen ist die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Bei TELE können sich Mitarbeiter/innen auf unterschiedliche Art und Weise weiterentwickeln. Es steht allen Mitarbeiter/innen frei, sich für alle ausgeschriebenen Zusatzfunktionen zu bewerben. Es ist ebenfalls möglich, sich innerhalb des eigenen Prozesses als Abgesandte/r in ein Gremium entsenden zu lassen. In beiden Fällen wird der/dem Mitarbeiter/in die Möglichkeit eingeräumt, Kompetenzdefizite auszuräumen. So wurden den Personalverantwortlichen in der Vergangenheit ein Workshop mit einem auf Arbeitsrecht spezialisierten Anwalt geboten. Hiermit sollte erreicht werden, dass auch jene Inhaber/innen dieser Zusatzfunktion einen besseren Zugang zu dieser Materie erhalten, die in ihrem bisherigen Berufsleben nicht mit dem Thema „Personal“ konfrontiert wurden. Es wurde hier eine Argumentationsgrundlage für Personalgespräche vermittelt. Außerdem wurde das

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Bernd Walzer und Michael Müller-Camen

Schulungsbudget so gestaltet, dass dieses in unterschiedliche Budgettöpfe aufgeteilt ist. Ein Teil der Mittel ist fest für Schulungsmaßnahmen verplant, die maßgeblich für das Weiterbestehen des Unternehmens sind. Beispielhaft kann an dieser Stelle eine Ausbildung zum Brandschutzbeauftragten genannt werden, dessen Position in jedem Betrieb gesetzlich vorgeschrieben ist. Das zweite Budgetpaket ist für jene Ausbildungen reserviert, die eine Verbesserung der Arbeitsqualität innerhalb der bisherigen Funktionsbereiche ermöglichen. Aus diesem Topf werden auch Schulungen finanziert, die die Mitarbeiter/innen dabei unterstützen, innerhalb ihres Prozesses weitere Aufgabenbereiche zu übernehmen. Der verbleibende Teil des Schulungsbudgets wird zwar auch auf Prozessebene verwaltet, ist jedoch nicht zweckgebunden. Über diese finanziellen Ressourcen können die Prozessmitarbeiter/innen frei verfügen. Bei der Auswahl der Weiterentwicklungsmaßnahme muss lediglich ein nachvollziehbarer Nutzen für die Organisation argumentier- und erkennbar sein. Vorstellbar sind an dieser Stelle Ausbildungen im Bereich der Weiterentwicklung von Sozialkompetenzen, Sprachkurse, oder Aneignungen von neuen Projektmanagementansätzen. Es ist also kein direkter Bezug zur direkten Grundfunktion oder zum Prozess erforderlich. Vielmehr soll die persönliche Weiterentwicklung der Mitarbeiter/innen im Vordergrund stehen. Es liegt hierbei der Gedanke zu Grunde, dass Mitarbeiter/innen, die sich ein breites Wissensspektrum aneignen, diese Fähigkeiten zum Wohle des Unternehmens einbringen, selbst wenn sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der direkten beruflichen Tätigkeit stehen. Bei TELE wird versucht, auch außerhalb der Arbeitszeit das well being der Mitarbeiter/innen zu steigern. So werden die Kosten für die Teilnahme an Sportveranstaltungen übernommen.

6.3

Unterstützung einer umweltfreundlichen Geschäftstätigkeit

Das Unternehmen ist im Rahmen eines integrierten Managementsystems nach den Normen ISO 9001:205 und 14001:2015 zertifiziert. Es weist neben dem in der Branche üblichen Qualitätsmanagementsystem ebenfalls ein Umweltmanagement auf, das jährlich durch eine neutrale, qualifizierte Auditierungsstelle überprüft wird. Firmen, die ein Umweltmanagementsystem aus eigenen Stücken implementieren, setzen ein klares Bekenntnis zur ökologischen Nachhaltigkeit. Diese Absicht wird noch durch den Werbeslogan „Make the world a better place“ unterstrichen, mit dem TELE auf dem Markt auftritt. Das gesamte Marketingkonzept präsentiert den Relaishersteller als zukunftsorientiertes Unternehmen, das sich dem grünen Gedanken verschrieben hat. Nicht umsonst werden die Produkte in grüner Farbe produziert. Es wird explizit darauf hingewiesen, dass Lösungen nur für Branchen angeboten werden, die den ethischen Kriterien entsprechen, denen man sich

Nachhaltigkeit im Personalmanagement

319

verschrieben hat. So wird betont, dass eine aktive Zusammenarbeit mit der Atomindustrie nicht in Frage kommt. Jedoch werden zum Beispiel Geräte entwickelt, die für den Betrieb von Windkraftanlagen erforderlich sind. Nicht zuletzt ist das Unternehmen seit fast zwei Jahrzehnten Teilnehmer am Umweltprogramm der Stadt Wien. Diese Teilnahme verpflichtet die Akteure zum jährlichen Nachweis erbrachter Umweltleistungen. Es herrscht also offensichtlich die eindeutige Bereitschaft vor, sich des Themas anzunehmen und es umzusetzen.

7 7.1

Neue wesentliche Elemente Personalwirtschaftliche Entscheidungen außerhalb der Organisationsgrenzen – Mitarbeiter der Lieferkette

Zunehmend wird Unternehmen eine Verantwortung übertragen, die nicht ausschließlich den Umgang mit den eigenen Mitarbeiter/innen in die Betrachtung einbezieht, sondern auch den Fokus auf personalwirtschaftliche Gegebenheiten außerhalb dieses stark eingegrenzten Bereiches legt. So wird gefordert, dass die Produktionsbedingungen im Hinblick auf die dort beschäftigten Mitarbeiter/innen innerhalb der umfassenden globalen Wertschöpfungskette genauso in die Lieferantenauswahl einfließen wie etwa Qualitäts- oder Preiskriterien. Das Sicherstellen von geeigneten Sicherheitsmaßnahmen, Arbeitszeitregelungen nach westlichem Standard oder der Ausschluss von Kinderarbeit sind hier beispielhaft zu nennen. Die Elektronikbranche bezieht weltweit einen Großteil der für die Produktion benötigten Bauteile aus Fernost. An der Spitze der Lieferanten stehen Firmen aus der Volksrepublik China. Es ist kaum möglich, hier eine uneingeschränkte Nachvollziehbarkeit der zuvor genannten Faktoren zu sichern. Auf der Ebene der Rohstoffe wird von TELE durch regelmäßige Nachfragen bei den Lieferanten sichergestellt, dass diese nicht aus der Republik Kongo stammen, wo zum einen Kinderarbeit vorherrscht und zum anderen durch den Rohstoffhandel militärische Konflikte finanziert werden. Gewährleistet wird dies durch den standardisierten Fragebogen der Conflict-Free Sourcing Initiative, der jeweils in der aktuellen Version ausgesandt wird. Die Kundschaft für die hergestellten Relais stammt zum größten Teil aus der europäischen Union, wo sich die Standards für den Arbeitnehmerschutz generell auf einem sehr hohen Niveau befinden und davon ausgegangen werden kann, dass es zu keinen eklatanten Verletzungen des umfassenden Regelwerks kommt.

320

7.2

Bernd Walzer und Michael Müller-Camen

Mitarbeiterführung und Partizipation

TELE bildet Lehrkräfte im Beruf der Industriekauffrau/des Industriekaufmanns aus. Diese Ausbildung erstreckt sich über drei Jahre. Im Unternehmen werden jeweils in jedem Lehrjahr ein(e) Jugendliche(r) auf die Arbeitswelt vorbereitet. Der Umweltgedanke, für den das Unternehmen steht, wird bereits bei der Ausbildung berücksichtigt. Es wurde dazu ein Projekt ins Leben gerufen, bei dem den Lehrlingen die Aufgabe zugewiesen wurde, umweltrelevante Themen zu identifizieren und im Sinne der Organisation aufzuarbeiten. Es wurde unter anderem auf dem Firmengelände ein Hochbeet errichtet, von dem die Mitarbeiter/innen mit Biogemüse versorgt werden. Bei einer weiteren Gelegenheit wurden unachtsame Computernutzer/innen mittels charmant formulierter Kärtchen daran erinnert, dass PCs nach Beendigung der Arbeit abgeschaltet werden sollten. Durch die Teilnahme an diesem Projekt werden auf der einen Seite die Jugendlichen bereits für Umweltthemen sensibilisiert, auf der anderen Seite werden auch die Mitarbeiter/innen laufend auf diese Aspekte hingewiesen. Diese Lehrlingsinitiative kam auch in der Öffentlichkeit sehr gut an. Es wurde 2016 für den Umweltpreis der Stadt Wien nominiert und konnte sich unter den besten acht Anwärtern platzieren. TELE bietet jedoch über das betriebliche Vorschlagswesen in Koordination mit dem Verantwortlichen für das Umweltmanagement allen Mitarbeiter/innen die Möglichkeit ihre Umweltanliegen in die Organisation einzubringen und so den Grad des Umweltbewusstseins zu erhöhen. Es hat sich herausgestellt, dass diese Möglichkeit relativ geringen Zuspruch findet und die meisten Umweltthemen über das Umweltmanagementsystem und das Lehrlingsprojekt abgedeckt werden.

8

Fazit

Der vorliegende Artikel beleuchtet an Hand des Fallbeispiels der Wiener Firma TELE HAASE Steuergeräte Ges.m.b.H., wie das Konzept eines nachhaltigen Personalmanagements in einem produzierenden Unternehmen, das den marktwirtschaftlichen Gegebenheiten unterliegt, umgesetzt werden kann. Bemerkenswert ist TELE aus mehreren Gründen. Es handelt sich um einen der wenigen in Europa produzierenden Betrieben von elektronischen Steuergeräten, der in direkter Konkurrenz mit Unternehmen in Fernost steht. Vor mehr als fünf Jahren wurde damit begonnen, das Familienunternehmen mit einer mehr als 50jährigen Tradition völlig neu zu organisieren. Dabei erfolgte die völlige Abkehr von einer streng hierarchischen Führung zu einer demokratischen Organisationsform. Der Change-Prozess

Nachhaltigkeit im Personalmanagement

321

ging dabei vom Firmeninhaber und dessen Geschäftsführer, der sich selbst als Regisseur bezeichnet, aus. Die Transformation wurde ohne die Inanspruchnahme externer Berater und dem Studium bereits vorhanden Literatur zum Thema Entwicklung demokratischer beziehungsweise hierarchieloser Organisationskonzepte initiiert. Diese Eigenschaften qualifizieren TELE zum idealen Beobachtungsobjekt, wie sich die Einbindung der Mitarbeiter/innen in die Organisationsentwicklung und Übergabe klassischer Personalmanagementaufgaben auf die Unternehmensgestaltung auswirkt. Die direkte Führung der Mitarbeiter/innen erfolgt nach einem System der Trennung von personellen und fachlichen Führungsbefugnissen durch das Zusammenspiel von Personal- und Prozessverantwortlichen. Hier wird eine möglichst weitreichende Objektivierung der Personalangelegenheiten angestrebt, indem die fachlichen und personellen Vorgesetzten niemals aus demselben Arbeitsbereich stammen. Für die Arbeitnehmer wird so sichergestellt, dass ihre Anliegen stets zumindest unter sechs Augen behandelt werden und Probleme auf einer sachlichen Ebene gelöst werden. Auf Unternehmensebene erfolgt ebenfalls eine Trennung von Verantwortung. Dies wird durch die Entscheidungsfindung in Gremien, deren Mitglieder sich jeweils aus allen Prozessen rekrutieren, gewährleistet. Bei der Personalrekrutierung und Personalauswahl werden neben den Prozessund Personalverantwortlichen ebenfalls alle Mitarbeiter/innen einbezogen. Interne Bewerbungen für neue oder Zusatzfunktionen werden durch die Prozessverantwortlichen an diese weitergetragen. Entscheidungen über die Vergabe dieser Positionen werden nach der Diskussion innerhalb der Prozesse in offenen Abstimmungen durch die Prozessverantwortlichen getroffen. Bei der externen Besetzung von Funktionen werden die Mitarbeiter/innen ebenfalls in den Aufnahmeprozess involviert. Hier werden im Wesentlichen die gewünschten Sozialkompetenzen abgefragt und berücksichtigt. Um eine gerechte Bezahlung zu erwirken, wurde in einer Arbeitsgruppe ein Entlohnungssystem erarbeitet. Dabei wird basierend auf den gesetzlich vorgeschriebenen Kollektivverträgen die Übernahme von Zusatzfunktionen im Unternehmen extra berücksichtigt. Man erhält eine Funktionszulage, solange man eine entsprechende Zusatzverantwortung übernommen hat. Die Höhe dieser Zulage orientiert sich am Grundgehalt und verschwindet ab einem höheren Jahreseinkommen gänzlich. Die Regelung der Arbeitszeiten erfolgt flexibel über ein weitreichendes Gleitzeitmodell. Zusätzlich ist es den Arbeitnehmer/innen möglich, an zwei Tagen in der Woche außerhalb der Firmenräumlichkeiten zu arbeiten. Diese Form der mobilen Telearbeit wird ausdrücklich unterstützt, solange definierte Regeln eingehal-

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Bernd Walzer und Michael Müller-Camen

ten werden. Dabei handelt es sich etwa um die ständige Erreichbarkeit und die fehlende Notwendigkeit der physischen Anwesenheit am Standort. So genannte all in Verträge, die eine Pauschale für Mehrarbeitsstunden vorsehen, wurden weitgehend abgeschafft. Es wird auf eine Einhaltung der in den Arbeitsverträgen vereinbarten Arbeitszeiten Wert gelegt. Aus der Beschreibung der relevanten Bereiche des nachhaltigen Personalmanagements leiten sich wesentliche Ziele ab. Unter diesen steht die Gleichbehandlung aller Mitarbeiter an erster Stelle. Obwohl ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis nicht explizit angestrebt wird, findet sich dieses in allen Arbeitsbereichen des Unternehmens. Bemerkenswert ist, dass vor allen bei den Zusatzfunktionen, also den höheren Positionen, eine ausgewogene Verteilung beobachtet werden kann. Über das von den Mitarbeiter/innen entwickelte Lohn- und Gehaltssystem, welches die Höhe der Zulagen für Zusatzfunktionen vom Basisbezug abhängig macht, werden geschlechterspezifische Einkommensunterschiede auf Grund geringerer Vordienstzeiten, welche etwa durch Kindererziehung entstanden sind, zumindest teilweise ausgeglichen. Die Mitarbeiterentwicklung soll durch die Aufteilung des Schulungsbudgets auf unterschiedliche Töpfe erreicht werden. Es wird so die Möglichkeit geschaffen, Kompetenzen zu entwickeln, die nicht unmittelbar zur Erfüllung der stellenbezogenen Tätigkeiten erforderlich sind. Die Maßnahmen, welche das Wohlbefinden der Mitarbeiter/innen während und außerhalb der regulären Arbeitszeit verbessern sollen, unterscheiden sich kaum von jenen, welche auch in konservativ geführten Unternehmen ermöglicht werden. Eine der wesentlichen Säulen der Corporate Identity von TELE ist das konsequente Festhalten am Nachhaltigkeitsgedanken. Dazu verpflichtet man sich ebenfalls durch die regelmäßige Zertifizierung nach der Umweltnorm ISO 14001:2015 und der Teilnahme am Ökoprofitprogramm der Stadt Wien. Seit kurzem finden neue Elemente Einzug als Beurteilungskriterien für ein nachhaltiges Personalmanagement. Das Augenmerk wird dabei zum einen nicht mehr ausschließlich auf die Aufgabenbereiche innerhalb der betreffenden Organisation gelegt. Vielmehr fällt der Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter innerhalb der gesamten Lieferkette eine steigende Bedeutung zu. Das definierte Ziel ist die Sicherstellung von Mindeststandards nach westlichem Vorbild für Zulieferfirmen, Lohnfertigungsunternehmen, aber nicht zuletzt auch auf der Kundenseite. Diesen Anforderungen wird von TELE im Rahmen der Kundenansprüche entsprochen. Die Branche hat sich auf die Nachfrage nach dem Ursprung der Rohstoffe für die Produktion und den damit verbundenen Förderungsbedingungen entschieden. Die neuesten wesentlichen Elemente, die die Einbeziehung von Arbeitnehmer/innen der gesamten Wertschöpfungskette vorsehen, werden zu diesem Zeitpunkt sicherlich noch nicht umfangreich berücksichtigt. Hier

Nachhaltigkeit im Personalmanagement

323

wird auf gesetzliche Vorgaben oder die Erwartungen der Kunden reagiert. Die Empfehlung lautet, sich in Zukunft verstärkt dieser Themen und deren Umsetzung anzunehmen, um weiterhin eine Vorreiterrolle bei der Umsetzung eines nachhaltigen HRM einzunehmen.

Literaturverzeichnis Battilana, J./Sengul, M./Pache, A./Model, J. (2015): Harnessing Productive tensions in hybrid organizations: The case of work integration social enterprises. In: Academy of Management Journal 58(8): 1658-1685. Ehnert, I./Parsa, S./Roper, I./Wagner, M./Müller-Camen, M. (2016): Reporting on sustainability and HRM: a cooperative study of sustainability reporting practices by the world largest companies. In: The International Journal of Human Resource Management 27:88-108. Maurer, I./Müller-Camen, M. (2016): Nachhaltiges Personalmanagement. In Doyé (Hrsg.): CSR und Human Ressource Management. Springer Gabler: 17-30. Müller, M. (2000): Employee Representation and Pay in Austria, Germany, and Sweden. In: Int. Studies of Mit. & Org. 29(4): 67-83. Müller-Camen, M./Weibler, J./Mathews, B./Ries, C. (2018): Transformationen im Personalmanagement: Die Beispiele Sonnentor und Tele Haase. Luke (Hrsg.), Transformationen. Springer (in Druck). Reiniger, B./Stelzmann, M. (2017): TELE Haase Steuergeräte: Mit gesundem Menschenverstand zum Unternehmen der Zukunft. In: Bartz/Gnesta/Schmutzer (Hrsg.): Unternehmen der nächsten Generation. Springer Gabler: 395-408. TELE Haase Steuergeräte GesmbH (2016). T-BoK. TELE Book of Knowledge [unveröffentlicht]. Zdrakovis D./Müller-Carmen M. (2013): Green HR - Wie das Personalmanagement ökologische Nachhaltigkeit in Unternehmen fördern kann. In: Personal Manager 4: 28-30.

Promise Management als Konzept für ein nachhaltiges Nachhaltigkeitsmanagement Christian Arnold



Einleitung .................................................................................................. 325 



Management von Wertversprechen ........................................................... 328 



Implikationen für das Nachhaltigkeitsmanagement .................................. 329 



Schlussfolgerungen ................................................................................... 331 

1

Einleitung

Nachhaltigkeit ist ein gerne verwendeter, oft normativ aufgeladener, in der Regel positiv attribuierter und mit unterschiedlichsten Bedeutungsinhalten belegter Begriff. Zieht man den Duden zurate, handelt es sich um eine längere Zeit anhaltende Wirkung oder alternativ um ein forstwirtschaftliches bzw. um ein ökologisches Prinzip, das eine ausbalancierte Ressourcenproduktion und Ressourcennutzung fordert. Letztgenannte Begriffsbestimmung wird in der Regel auf von Carlowitz (1732) zurückgeführt. Betrachtet man Nachhaltigkeit im betriebswirtschaftlichen Kontext und versteht den Begriff im Sinne der erstgenannten Definition, also als längere Zeit anhaltende Konsequenz irgendwelcher Ursachen, muss festgestellt werden, dass der Nachhaltigkeitsgedanke schon viele Jahrzehnte in zahlreichen der einflussreichen und in der Praxis etablierten Management- oder Unternehmensziel-Konzeptionen verwurzelt ist. Beispiele hierfür sind die Folgenden:   

Customer Relationship Management fordert den Auf- und Ausbau langfristiger Geschäftsbeziehungen (Nieschlag et al. 2002). Marktorientierte Unternehmensführung strebt nach echten (dauerhaft zu verteidigenden) Wettbewerbsvorteilen (Freiling/Reckenfelderbäumer 2010). Der Shareholder Value Ansatz zielt auf die langfristige (und möglichst kontinuierliche) Steigerung des Unternehmenswerts (Rappaport 1986).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1_15

326

Christian Arnold

Letztendlich ist auf Grundlage dieser Begriffsbelegung jede Form des Managements mit strategischem Charakter auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Selbst MissManagement, im Besonderen radikales Miss-Management, kann einen nachhaltigen Charakter aufweisen, was leicht am Beispiel der Investmentbank Lehman Brothers aufzuzeigen ist, deren Insolvenz mit einer langanhaltenden, starken und negativen Wirkung einherging (de Haas/van Horen 2012). Offenkundig ist freilich, dass so verstandene Nachhaltigkeit eine Floskel bleiben muss und keinerlei Relevanz entfalten kann, die über die so oder so bekannte Bedeutung langfristiger Konsequenzen hinausgeht. Versteht man Nachhaltigkeit im Sinne der zweiten Definitionsvariante, sind die Kernaufgaben des Nachhaltigkeitsmanagements leichter erschließbar; nämlich die ressourcenschonende Durchführung der betrieblichen Leistungserstellung und die ressourcenschonende Nutzung von Leistungen. Davon abzugrenzen sind systempolitisch motivierte, dogmatisch anmutende Nachhaltigkeitsphilosophien mit ideologischem Charakter, die auf de facto Sozialisierung des Wirtschaftssystems zielen und den Nachhaltigkeitsgedanken als Schmiermittel missbrauchen: Zerstören, um zu erhalten ist zumindest dann keine vernünftige Verhaltensmaxime, wenn vordergründig Nachhaltigkeit verlangt wird und im Hintergrund Absichten stehen, deren Sinnhaftigkeit – schon aus historischen Gründen – kaum nachvollziehbar sind. Diese Form des Sustainismus (sustainism, siehe Schwarz/Elffers 2010, dort inhaltlich anders belegt), gekennzeichnet durch sozialistisch angehauchte Deutungshoheitsansprüche und deren Durchsetzungsversuche mittels vordefinierter „Bilanzen“ entziehen sich dem Erkenntnisbereich der vorliegenden Arbeit (als Beispiel mag die in Tabelle 1 dargestellte Gemeinwohl Matrix fungieren). Vielmehr wird angenommen, dass dezentral koordinierte Wirtschaftssysteme über ein höheres Maß an Adaptionsfähigkeit verfügen, als zentral koordinierte oder überregulierte Varianten (von Hayek 1944) und das losgelöst von den konkreten Vorstellungen und Zielsetzungen zentraler Planungseinheiten. Zusätzlich wird behauptet, dass nachhaltiges Wirtschaften eine legitime und an Bedeutung zunehmende Forderung der Gesellschaft an Einzelwirtschaften darstellt, die auf die Wettbewerbsposition einwirkt. Unterstellt man, dass diese Annahmen zutreffen, dann ist die Frage zu stellen, wie Einzelwirtschaften den Fit zur Umwelt erhalten können bzw. wie die Beziehungen zu den Stakeholdern so gestalten werden können, dass sie von letztgenannten als positiv beurteilt werden. Im Folgenden wird in gebotener Kürze das im Marketing und Customer Relationship Management verwurzelte Konzept des Promise Managements vorgestellt und ein Versuch unternommen, die zentralen Gedanken auf die vorliegende Problematik zu übertragen. Der Beitrag endet mit einige Schlussfolgerungen.

B3 Sozial-ökologische Investitionen und Mittelverwendung

C2 Ausgestaltung der Ar- C3 Förderung des ökolo- C4 Innerbetriebliche Mitbeitsverträge gischen Verhaltens entscheidung und der Mitarbeitenden Transparenz

D2 Kooperation und D3 Ökologische Auswir- D4 Kundenmitwirkung Solidarität mit Mitunkung durch Nutzung und Transparenz ternehmen und Entsorgung von Produkten und Dienstleistungen

C1 Menschenwürde am Arbeitsplatz

D1 Etische Kundenbeziehung

E2 Beitrag zum Gemein- E3 Reduktion ökologiE4 Transparenz und E1 Sinn und gesellwesen scher Auswirkungen gesellschaftliche schaftliche Wirkung Mitentscheidung der Produkte und Dienstleistungen

C Mitarbeiter

D Kunden und Mitunternehmen

E Gesellschaftliches Umfeld

B4 Eigentum und Mitentscheidung

A4 Transparenz und Mitentscheidung in der Zulieferkette

B2 Soziale Haltung im Umgang mit Geldmitteln

Transparenz und Mitentscheidung

B1 Ethische Haltung im Umgang mit Geldmitteln

4

B Kapitalgeber

Ökologische Nachhaltigkeit

A3 Ökologische Nachhaltigkeit in der Zulieferkette

3

A2 Solidarität und Gerechtigkeit in der Zulieferkette

Solidarität und Gerechtigkeit

A1 Menschenwürde in der Zulieferkette

2

A Lieferanten

Menschenwürde

1

Berührungspunkt

Promise Management als Konzept für ein nachhaltiges Nachhaltigkeitsmanagement

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Gemeinwohl Matrix (Quelle: Blachfellner et al. 2017: 8)

328

2

Christian Arnold

Management von Wertversprechen

Ausgangspunkt des Promise Managements bzw. des Managements von Wertversprechen ist der von Calonius (2006) propagierte Ansatz zur Erklärung von Marktverhalten, der auf den folgenden Thesen beruht:     



Marktlicher Austausch umfasst mindestens zwei Parteien. Jede Partei verfügt über spezifische Ressourcen, die die Grundlage für Wertversprechen bilden. Die Parteien kommunizieren ihre Wertversprechen an den Marktpartner. Die Wertversprechen werden von den Marktpartnern mithilfe ihrer Erfahrungen interpretiert und in Erwartungshaltungen transformiert. Im Zuge des Ressourcenverwendung beurteilen die Marktpartner, ob und inwieweit die Versprechungen erfüllt werden und wie schwer es ist, die eigenen Wertversprechen einzuhalten. Die Marktpartner erweitern ihre Erfahrungen, die das zukünftig zu gebende Wertversprechen, die Interpretation zukünftig erhaltener Wertversprechen und die Erwartungen an den Marktpartner beeinflussen.

Grönroos greift diese Überlegungen in mehreren Ausarbeitungen auf und destilliert ein – aus seiner Sicht – neues Marketingverständnis, das er als Promise Management bezeichnet. Marketing, wird aus dieser Sicht verstanden als „a customer focus that permeates organizational functions and processes and is geared towards making promises through value proposition, enabling the fulfilment of individual expectations created by such promises and fulfilling such expectations through support to customers’ value-generating processes, thereby supporting value creation in the firm’s as well as its customers’ and other stakeholders’ processes” (Grönroos 2006: 407). Promise Management kann somit als beziehungsorientiert-prozessuales Vermarktungskonzept charakterisieren werden, das die Teilprozesse   

ermöglichen (enable), geben (make) und halten (fulfill)

von Wertversprechen umschließt (Grönroos 2010). Das theoretische Fundament des Promise Managements ist an zahlreichen Stellen eng mit der Service-Dominant Logic (Vargo/ Lusch 2004, 2006, 2008, 2016) verknüpft. Beide Denkrichtungen beruhen auf der Behauptung, dass Wert ausschließlich im Zuge der Ressourcennutzung entsteht und nicht in Ressourcen eingebettet werden kann (Lusch et al. 2008). Vielmehr können Einzelwirtschaften nur Wertversprechen geben und Erwartungen mithilfe geeigneter Marketinginstrumente wecken (Grönroos 2009).

Promise Management als Konzept für ein nachhaltiges Nachhaltigkeitsmanagement

329

Das Halten von Wertversprechen erweist sich allerdings als problembehaftet, da nicht die Versprechen selbst, sondern diejenigen Erwartungen zu erfüllen sind, die durch die gegebenen Wertversprechen entstehen (Calonius 2006; Grönroos 2006). Erfolgreiches Promise Management muss tief und breit in den Strukturen und Systemen der Einzelwirtschaft verankert sein, weswegen der Unternehmensführung die obligatorische Aufgabe zukommt, diejenigen anbieterinternen Voraussetzungen zu schaffen, die es ermöglichen, Wertversprechen zielgerichtet zu geben und zu halten. Eine grafische Repräsentation der vorgetragenen Gedankengänge findet sich in Abbildung 1.

Unternehmensführung

Wertversprechen halten

Abbildung 1: Prozesse und Funktionen des Promise Managements (in Anlehnung an Arnold 2015)

3

Implikationen für das Nachhaltigkeitsmanagement

Promise Management ist ein langfristig ausgerichteter Ansatz, der konsistentes Verhalten aufseiten der Einzelwirtschaft postuliert und dazu dient, Vertrauen und Bindung auf- und auszubauen. Wendet man die bereits skizzierten Überlegungen nicht nur auf die Anbieter-Nachfrager Beziehung an, sondern auf die Beziehung von Einzelwirtschaften mit allen Stakeholdern, dann ergeben sich Ansatzpunkte zur Ausgestaltung eines langfristig funktionalen Nachhaltigkeitsmanagements (siehe auch Abbildung 2):

330 



Wertversprechen ermöglichen: Einzelwirtschaften verfügen über spezifische Ressourcen, die sie anwenden können, um das Geschäftsmodell, Geschäftsprozesse und Verhaltensweisen so anzupassen bzw. auszugestalten, dass sie den Erwartungen der Stakeholder entsprechen. Dies setzt voraus, dass im Vorhinein definiert wird, welche Erwartungen als legitim betrachtet werden können und welche Erwartungen nicht legitim sind. Die damit verbundene Problematik und die damit einhergehenden Zielkonflikte können an dieser Stelle nicht vollumfänglich diskutiert werden, es sei daher auf das zweite Kapitel dieses Buches verwiesen. Wertversprechen geben: Interaktion mit den Stakeholdern ist essentiell. Sie ermöglicht es der Einzelwirtschaft, ihre Nachhaltigkeitsbemühungen zu kommunizieren und darzulegen. Für Stakeholder sind gegebene Wertversprechen prüfbare Zielsetzungen, die eine Evaluierung ermöglichen und die Erwartung auf diese Zielsetzung ausrichten. Wertversprechen halten: Gebrochene Wertversprechen führen zu Misstrauen und werden in irgendeiner Form sanktioniert werden. Kunden mögen sich für die Leistungen anderer Einzelwirtschaften entscheiden. Mitarbeiter werden weniger motiviert sein oder einen anderen Arbeitgeber bevorzugen. Lieferanten werden vorsichtiger agieren. Die Gesellschaft wird Reglementierungen fordern. Das Einhalten von Wertversprechen wird hingegen positiv vonseiten der Stakeholder erlebt. Vertrauen und positive Erfahrungen stellen sich ein.

Einzelwirtschaft

Stakeholder



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Erwartung

Versprechen ermöglichen

Erlebnis

Versprechen geben

Abbildung 2: Stakeholder und Einzelwirtschaft

Versprechen halten

Erfahrung

Erfahrung

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4

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Schlussfolgerungen

Der Nachhaltigkeitsgedanke erfährt eine stetig zunehmende Bedeutung im politischen, ökonomischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Diskurs. Einzelwirtschaften agieren nicht losgelöst von diesen Systemen und bleiben nur dann wettbewerbsfähig, wenn sie über die Kompetenzen zur Adaption an geänderte Umweltbedingungen verfügen. Nachhaltige Ressourcennutzung zur Erstellung neuer Ressourcen kann als Wertversprechen an die Stakeholder verstanden werden und bedarf einem aktiven Management. Wertversprechen entwickeln, Wertversprechen geben und Wertversprechen halten konstituieren die elementaren Berührungspunkte von Einzelwirtschaften mit ihren Stakeholdern und sichern dann die Überlebensfähigkeit in einer sich verändernden Umwelt, wenn sie in Einklang mit den Erwartungen der Stakeholder stehen. Der vorliegende Beitrag mag kritisiert werden, vielleicht sogar in heftiger Form; scheint er doch im Geiste von Friedman (2007) verfasst, der die Verantwortung von Einzelwirtschaften auf Gewinnerzielung reduziert und alle anderen Verantwortungsbereiche an die Gesellschaft delegiert. Dies entspricht nicht den vorgetragenen Gedankengängen. Die Erwartungen der Stakeholder entstehen vor dem Hintergrund von Erfahrungen, die wiederum aus Erlebnissen hervorgehen. Wer Wertversprechen gibt und aktives Erlebnis- und Erfahrungsmanagement betreibt, kann diesen Prozess beeinflussen und trägt Verantwortung, die nicht auf die Grenzen der Einzelwirtschaft beschränkbar ist.

Literaturverzeichnis Arnold (2015): Serviceparadigmen und Implikationen für die Vermarktung. Springer Gabler. Blachfellner et al. (2017): Arbeitsbuch zur Gemeinwohlbilanz 5.0 – Vollbilanz. Calonius, H. (2006): Contemporary Research in Marketing: A Market Behaviour Framework. In Marketing Theory 6(4): 419-428. de Haas, R./van Horen, N. (2012): International Shock Transmission after the Lehman Brothers Collapse: Evidence from Syndicated Lending. In: American Economic Review 102(3): 231-237.

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Christian Arnold

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Promise Management als Konzept für ein nachhaltiges Nachhaltigkeitsmanagement

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Autoren Prof. Dr. Christian Arnold ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur am Standort Baden-Baden. Dipl. Volkswirt Ralph Bärligea ist Senior Business Consultant bei BearingPoint. Kai Baumann ist Senior Business Consultant bei BearingPoint. Dr. Robert Bosch ist Partner bei BearingPoint. Dr. Klaus Gabriel ist Sozial- und Wirtschaftsethiker, Unternehmensberater, Geschäftsführer des Corporate Responsibility Interface Center in Frankfurt am Main und war 2017 bis 2018 Gastprofessor für Wirtschafts- und Unternehmensethik am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Kassel. Christina Gagiu ist Manager bei BearingPoint. Prof. Dr. Michael Garmer ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur am Standort Berlin. Prof. Dr. Dirk Ulrich Gilbert ist Professur für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensethik an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Sonja Keppler ist Professorin für Entrepreneurship und Innovationsmanagement an der Allensbach Hochschule. Prof. Dr. Dr. Hermann Knödler ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Allgemeine Betriebswirtschafslehre an der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur am Standort Berlin. Swantje Martach, M.A. ist Doktorandin an der Autonomen Universität Barcelona und Gastforscherin am London College of Fashion. Prof. Dr. Michael Müller-Camen absolvierte den Master in Arbeitsbeziehungen und Personalmanagement an der London School of Economics und den Ph.D an der University of London. Er ist Vorstand des Instituts für Personalmanagement und hat an mehreren Universitäten in Deutschland, England und Österreich gelehrt und geforscht. Prof. Müller-Camen leitet die spezielle Betriebswirtschaftslehre „Personalmanagement“. Prof. Dr. Georg Müller-Christ ist Professor für Nachhaltiges Management an der Universität Bremen und zertifizierter Systemaufsteller.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Arnold et al. (Hrsg.), Herausforderungen für das Nachhaltigkeitsmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27729-1

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Autoren

Prof. Dr. Martin Reckenfelderbäumer ist Rektor und Inhaber der Professur für Allgemeine BWL/Marketing an der Allensbach Hochschule. Dr. Isabelle Schluep Head of Sustainable Impact. Center for Corporate Responsibility and Sustainability CCRS at the University of Zurich. Stephanie Schrage ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Michael Schramm ist Inhaber des Lehrstuhls für Katholische Theologie und Wirtschaftsethik an der Universität Hohenheim. Prof. Dr. Wolfgang Schuster ist Präsident der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur. Sabine Sohn ist Organisationspsychologin, Kommunikationsexpertin und Coach für Geschäftsmodellintegration in bestehende Strukturen. Prof. Dr. Andreas Suchanek ist Inhaber des Dr. Werner Jackstädt-Lehrstuhls für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der HHL – Leipzig Graduate School of Management und Vorstandsmitglied im Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik. Bernd Walzer ist Doktorand am Institut für Personalmanagement der Wirtschaftsuniversität Wien und beschäftigt sich dort mit alternativen Organisationsformen.