Heinrich von Veldeke und Ovid [Reprint 2013 ed.] 3484150718, 9783484150713

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Heinrich von Veldeke und Ovid [Reprint 2013 ed.]
 3484150718, 9783484150713

Table of contents :
Verzeichnis der verwendeten Siglen und Abkürzungen
A. Zielsetzung
B. Das 12. Jahrhundert als aetas Ovidiana
I. Die Entwicklung der Ovidstudien
II. Die Stellung von Ovids Werken im lateinischen 12. Jahrhundert
III. Ovid in der Volkssprache
C. Ovid und der Eneasroman des Heinrich von Veldeke
I. Die Erforschung der Ovidrezeption in der deutschen Literatur des Mittelalters
II. Heinrich von Veldeke und Ovid
III. Die stofflichen Erweiterungen in den Eneasromanen
1. Quellen antiker Mythologie im Mittelalter
2. Das Parisurteil
3. Die Katabasis
4. Die Waffen des Aeneas
5. Ovidische Stoffe im Kontext der Eneasromane
IV. Ovids Einfluß auf die Minnedarstellung im ›Roman d’Eneas‹ und bei Heinrich von Veldeke
1. Die beiden Minneepisoden
2. Ovidische Elemente in der Minnedarstellung
V. Zum Wesen der Minneauffassung
1. Die Ambivalenz der Liebe bei Ovid: Liebe als ars und impetus
2. Wesentliche Merkmale der Minneauffassung in den Eneasromanen
3. Zur »Psychologie« der Eneasromane
4. Bewertungskategorien der Minne
D. Heinrich von Veldeke als Dichter der aetas Ovidiana
I. Quellenkenntnisse und Quellenbenutzung
II. Abgrenzung des deutschen Eneasromans vom französischen ›Roman d’Eneas‹
E. Verzeichnis der verwendeten Literatur
I. Quellen
1. Griechische Texte
2. Lateinische Texte
3. Altfranzösische Texte
4. Alt- und mittelhochdeutsche Texte
II. Sekundärliteratur

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM UND HANS-JOACHIM MAHL

BAND 71

RENATE KISTLER

Heinrich von Veldeke und Ovid

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1993

D 19 Philosophische Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft II

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kistler, Renate: Heinrich von Veldeke und Ovid / Renate Kistler. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Hermaea ; N.F., Bd. 71) NE: GT ISBN 3-484-15071 -8

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der verwendeten Siglen und Abkürzungen

VIII

A. Zielsetzung

ι

B. Das 12. Jahrhundert als aetas Ovidiana

4

I. Die Entwicklung der Ovidstudien

4

II. Die Stellung von Ovids Werken im lateinischen 12.Jahrhundert

14

III. Ovid in der Volkssprache

18

C. Ovid und der Eneasroman des Heinrich von Veldeke

26

I. Die Erforschung der Ovidrezeption in der deutschen Literatur des Mittelalters

26

II. Heinrich von Veldeke und Ovid

29

III. Die stofflichen Erweiterungen in den Eneasromanen

32

ι. Quellen antiker Mythologie im Mittelalter

32

2. Das Parisurteil

34

3. DieKatabasis a. Phocus / Hercules b. Orpheus c. Cerberus d. Die Begegnung mit den gefallenen Helden e. Die Büßer im Tartarus a. Tantalus β. Die Giganten und Tityus 4. Die Waffen des Aeneas a. Die Erzählung vom Ehebruch zwischen Venus und Mars . . . b. Der Wettstreit zwischen Pallas und Arachne c. Der Zusammenhang der beiden Ovidepisoden 5. Ovidische Stoffe im Kontext der Eneasromane

38 38 44 49 54 65 65 72 77 77 81 87 93 V

IV. Ovids Einfluß auf die Minnedarstellung im >Romand'Eneas< und bei Heinrich von Veldeke

97

ι. Die beiden Minneepisoden a. Die Liebe der Dido a. Dido und Aeneas bei Vergil β. Die Darstellung im >Roman d'Eneas< und bei Veldeke . . . b. Die Liebe der Lavinia

97 97 97 99 in

2. Ovidische Elemente in der Minnedarstellung

114

a. Die Entstehung: Ovids Amor mit dem Gold- und dem Bleipfeil b. Die Situation: Ovids Scyllaerzählung als Modell der Laviniaminne c. Liebessprache und Waffenmetaphorik d. Die Minneakzidentien α. Schlaflosigkeit ß. Liebe als Krankheit e. Dulce malum: Das Minneparadox α. Verwundung durch die Minne ß. Heilung von der Minnekrankheit: Amor als Arzt zwischen Ovidischer Metaphorik und arabischer Medizin . . . V. Zum Wesen der Minneauffassung ι. Die Ambivalenz der Liebe bei Ovid: Liebe als ars und impetus

122 124 129 129 134 143 143 148 166 166

2. Wesentliche Merkmale der Minneauffassung in den Eneasromanen a. Wehrlosigkeit und passives Erleiden b. Maßlosigkeit und Todesnähe c. Minne als Vollzug: Der Monolog d. Lehren und Lernen in der Liebe: wîsbeit und tumpheit α. Liebeslehren bei Ovid ß. Veldekes Liebeslehren im Unterschied zum >Roman d'Eneas
Roman d'Eneas
Ars Amandi< Vergil, >Aeneis< O v i d , >Amores< Anmerkung

ANRW

Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und K u l tur R o m s im Spiegel der neueren Forschung

Arcadia Archiv ATB AU Aufl. Bd. bearb. bes. c. cf. CIB

Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Altdeutsche Textbibliothek D e r altsprachliche Unterricht Auflage Band bearbeitet besonders carmen confer The classical Bulletin

C o n s . Pil. CPh CSA Diss. DVjs

Boethius, >Consolatio Philosophiae< Classical Philology California Studies in Classical Antiquity Dissertation Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

e.a. EH Einl., eingeh En.

et alii O v i d , >Epistulae Heroidum< Einleitung, eingeleitet Heinrich v o n Veldeke, Eneasroman

eri. Euphorion Fast. FEW

erläutert Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte O v i d , >Fasten< Französisches etymologisches Wörterbuch, hg. von W. v. Wartburg, Tübingen 1948

F E W 1969

H g . , hg. Hs(s). HSPh Jh.

Französisches etymologisches Wörterbuch v o n E. Gamillscheg. 1. A u f l . Heidelberg 1969 Festschrift Griechisches etymologisches Wörterbuch v o n Hjalmar Frisk Hermathena. A series of papers b y members of Trinity College, Dublin Herausgeber, herausgegeben Handschrift(en) Harvard Studies in Classical Philology Jahrhundert

Komm., komm.

Kommentar, kommentiert

FS GEW Hermathena

VIII

Kluge/Mitzka Lanzelet LEW LIMC LMA LvT M A . , ma. Met. MF MGH MLatJb Monatshefte Moriz N.F. o.J. Parz. PBB Philologus PL RdE RdTh RE rev. RFIC RhM RHT Roscher S. sc. Sp. Speculum Sudhoffs Archiv T. TAPhA Übers., übers. Vergilius vs(s). VL WdF WS ZfdA ZfdPh ZfromPh

Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache von F. Kluge und W. Mitzka Ulrich von Zatzikhoven, >Lanzelet< Lateinisches etymologisches Wörterbuch von A.Walde und J . B . Hofmann Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae Lexikon des Mittelalters Herbort von Fritslar, >Liet von Troie< Mittelalter, mittelalterlich Ovid, »Metamorphosen« »Minnesangs Frühlings hg. von Moser/Tervooren Monumenta Germaniae Histórica Mittellateinisches Jahrbuch Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur >Moriz von Craûn< (anonym) N e u e Folge ohne Jahresangabe Wolfram von Eschenbach, >Parzival< Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, begründet von W. Braune, H.Paul, E.Sievers Philologus. Zeitschrift für klassische Philologie Patrologiae latinae cursus completus, Migne >Roman d'Eneas< (anonym) >Roman de Thèbes< (anonym) Paulys Real-Enzyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neu bearb. von Georg Wissowa revidiert Rivista di filologia e d'istruzione classica Rheinisches Museum Revue d'histoire des textes Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie in sechs Bänden, hg. von H . W. Roscher Seite scilicet Spalte Speculum. Journal of medieval studies Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin Tomus Transactions and proceedings of the American philological association Übersetzung, übersetzt Vergilius. The Vergilian society of America Vers(e) Verfasserlexikon Wege der Forschung Wiener Studien. Zeitschrift für klassische Philologie und Patristik Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für romanische Philologie

IX

Α . Zielsetzung

Die vorliegende Arbeit versteht sich als Ergänzung zu Edmond Farals >Recherches sur les sources des contes et romans courtoisRoman d'Eneas< gekannt hatte und wo sich stoffliche oder technische Anlehnungen an Ovid nachweisen lassen. Die Fülle des Materials brachte es mit sich, daß Farai oft nur auf Ubereinstimmungen hinweis, ohne sie genauer zu prüfen, daß er sich zu sehr auf Ovid beschränkte und folglich in der Einschätzung dessen, was der Dichter des >Roman d'Eneas< Ovid verdankte, oft allzu optimistisch vorging. Doch war sich Farai durchaus bewußt, daß er lediglich Anstöße gegeben hatte, die näherer Untersuchung bedurften. Er wollte mit seinen >Recherches< den Anstoß zu weiteren und vor allem genaueren Forschungen geben, deren Aufgabe er folgendermaßen umriß:

ι

ce serait [...] dresser la liste de ceux qui viennent d ' O v i d e ; et ce serait ensuite compléter cette liste: car il ne conviendrait pas seulement de noter, entre les différentes oeuvres, les ressemblances matérielles qui tiennent aux choses , à la mention de certains faits, au retour de certaines idées, au goût de telle forme d'expression ou même de tel thème ou lieu commun: il faudrait en outre tenir compte de toutes les analogies de style, qu'engendre l'application d'une même formule littéraire (S. 155-156).

Farals >Recherches< sind allerdings bis heute maßgeblich geblieben, und das nicht nur für die romanistische Forschung. Auch für den deutschen Ubersetzer des >Roman d'EneasRoman d'Eneas< auf Veldekes Eneasroman zu applizieren. Er schrieb in einem völlig anderen Umfeld als der Franzose. Auch muß man die Ovidrezeption bei ihm ganz anders beurteilen, wenn er sie bereits in seiner französischen Vorlage vorfand. Die Frage, ob Heinrich von Veldeke die antiken Quellen seiner französischen Vorlage selbst kannte oder ob er lediglich die Vorgaben des Franzosen übernahm, ist auch unterschiedlich beurteilt worden. So befindet man sich bei Heinrich von Veldeke in der merkwürdigen Situation, daß er einerseits als Dichter der aetas Ovidiana und einer an Ovid inspirierten Minneauffassung gilt, daß aber andererseits der Nachweis, wie sein wirkliches Verhältnis zu Ovid steht, noch nicht grundlegend behandelt worden ist. Ziel der Untersuchung soll es deshalb sein, das Umfeld abzustecken, in dem Heinrich von Veldeke schrieb, um festzustellen, ob eine Ovidrezeption im 12. Jahrhundert in Deutschland in gleicher Weise möglich war wie in Frankreich. Dann werden alle Stellen diskutiert, die man bei Heinrich von Veldeke mit Ovid in Verbindung gebracht hat, und, wo nötig, ergänzt. Man hat dies in zwei Bereichen getan, denn Anleihen aus Ovid finden sich einerseits im Bereich der Erzählstoffe, wo es im wesentlichen um die Rezeption der >Metamorphosen< geht, dann aber auch im gesamten Bereich der Minnehandlung, wo Farai vor allem einen Einfluß von Ovids carmina amatoria sehen wollte. Der ständige Vergleich mit dem >Roman d'Eneas< ist dabei unumgänglich, um Veldekes eigene Leistung abschätzen, aber auch um einen Einblick in die Arbeitsweise geben zu können, d.h. daß vor allem geklärt werden soll, ob es bei ihm nachweislich Rückgriffe auf die antiken Quellen unabhängig vom >Roman d'Eneas< gibt. Auch wenn die Beziehung des deutschen Eneasromans zu Ovid im Mittelpunkt steht, muß die Quellen2

läge im weitesten Sinn berücksichtigt werden, was vor allem im Bereich der Stoffe eine Rolle spielt. Zur Diskussion steht dabei auch immer, ob und wo Farals Untersuchungen zum >Roman d'Eneas< hinsichtlich Veldeke ihre Berechtigung und ihre Grenzen haben. Im Mittelpunkt steht somit letztlich nicht nur die Frage, was die Charakterisierung des deutschen Eneasromans als >ovidisch< wirklich leistet, sondern auch eine klare Abgrenzung des Dichters Heinrich von Veldeke gegenüber dem >Roman d'Eneas< und seiner Stellung als Dichter der aetas Ovidana. Die Untersuchung wurde im März 1991 abgeschlossen. Danach erschienene Literatur ist nicht berücksichtigt.

3

Β. Das 12. Jahrhundert als aetas Ovidiana

I.

Die Entwicklung der Ovidstudien

In der Blüte der antiken Studien während des 12. Jahrhunderts ist die besondere Wertschätzung Ovids umso auffälliger, als er über Jahrhunderte nahezu vergessen war. Ludwig Traubes Bezeichnung vom 12. Jahrhundert als der aetas Ovidiana ist mittlerweile schon zum geflügelten Wort geworden, so daß man leicht vergißt, in welch eingeschränktem Sinn Traube sie ursprünglich prägte, nämlich nur bezogen auf die lateinische Dichtung der Zeit und das von ihr bevorzugte Metrum, das elegische Distichon im Stile Ovids. 1 Heute wird in der Forschung der Begriff von der aetas Ovidiana längst nicht mehr in diesen engen Grenzen gebraucht, sondern Untersuchungen über die Rezeption Ovids im 12. und 13. Jahrhundert haben seine formale wie inhaltliche Vorbildlichkeit gezeigt, seinen Einfluß nicht nur auf die lateinische, sondern auch auf die volkssprachliche Literatur, so daß diese Zeit mit Recht als das Zeitalter Ovids gelten darf. Allerdings werden unter dem Stichwort aetas Ovidiana ganz unterschiedliche Phänomene gefaßt, die auch zeitlich nicht zusammenfallen.2 Man beschreibt damit die gesteigerte Beschäftigung mit Ovids Werken ebenso wie sein Eindringen in den Kanon der Schulautoren, seine Anführung in Florilegien und Schulbüchern. Aber auch die Sekundärrezeption bei lateinischen und volks1

»Es ist das Zeitalter, das ich die aetas Ovidiana nennen möchte, die Zeit, die der aetas Vergiliana, dem 8. und 9. Jahrhundert, und der aetas Horatiana, dem 10. und 11. Jahrhundert folgt. Denn so könnte man ungefähr die Jahrhunderte abgrenzen nach den Dichtern, die ihnen die nachahmenswertesten schienen. In der ersten Zeit herrscht das heroische Vermaß und man besingt die Heiligen, im zweiten Zeitalter neigt man in Anlehnung an Horaz zur Satire und Epistel, und im dritten Abschnitt schlägt das elegische Distichon, in dem man sogar Komödien schreibt, alle Gegner zu Boden«. Ludwig Traube, Einleitung in die lateinische Philologie des Mittelalters. In: Traube, Vorlesungen und Abhandlungen. Hg. von Franz Boll. Bd. II. München 1 9 1 1 , S. 1 1 3 .

2

Berechtigte Kritik an dem sehr undifferenzierten Gebrauch übt R. Hexter: »It is not enough to recognize Ovid's popularity in the aetas Ovidiana·. one must atomize it. One must attempt to distinguish between various forms of popularity of an influence«. Ralph J . Hexter, Medieval school commentaries on Ovid's >Ars Amatoria«, >Epistulae ex PontoEpistulae HeroidumCarmina amatoria< verfolgt bis zum Ii. Jahrhundert. Diss. Tübingen 1910; Félix Péeters, Les >Fastes< d'Ovide. Histoire du texte. Bruxelles 1939; Hilda Buttenwieser, Manuscripts of Ovid's >FastiDisticha Catonis< und Fabeln Avians sowie Vergils konnten jedoch bis jetzt nicht in den Kanon hineinwachsen«. '"Zitiert nach: Poetae Latini aevi Carolini. Bd. I. Hg. von Ernst Dümmler. Berlin 1881. Thedodulfs Gedichte dort S. 437-581.

6

Diese Art von Exegese wird auf Ovid allerdings erst mehr als drei Jahrhunderte später in dem allegorischen Kommentar zu den »Metamorphos e n durch Arnulf von Orléans angewandt: Für die Karolingerzeit, in der die >Klassiker< üblicherweise nur als formale Muster betrachtet werden, ist dies noch etwas ganz Ungewöhnliches; sie nimmt jenes positive Verhältnis zur Profanantike voraus, das man häufig erst im 12. Jahrhundert antrifft und in der Folgezeit fast die Regel ist, wenn man beim Studium der auctores die integumenta abzulösen sucht, um den wahren, den eigentlichen Sinn des Werkes zu erkennen. 1 1

Neben dem Karolingerkreis finden sich Spuren von der Beschäftigung mit Ovid auch noch im 9. Jahrhundert in England, wo mit dem sogenannten >Classbook of St. Dunstan< ein außergewöhnlich frühes Beispiel für die Verwendung Ovids in der Schule, seine Kommentierung und volkssprachliche Glossierung vorliegt, denn das erste Buch der >Ars amatoria< wurde neben lateinischen auch mit einigen altwalisischen Glossen versehen. 1 2 Die Tatsache, daß ausgerechnet die >Ars amatoria< als Ovids erstes in der Schule gelesenes Werk erscheint, 13 wirft ein Licht auf die Art der Ovidstudien dieser Zeit, die sich darin nicht vom Studium anderer Autoren unterscheiden, insofern es um die sprachlich formale Schulung, nicht aber um die inhaltliche Auseinandersetzung geht: In the actual commentaries on the A A , Ovid becomes not merely a praeceptor amoris (small >a< intended), but a praeceptor grammaticae. That the poets were used in even elementary instruction was classical practice. 1 4

Im Schulunterricht wird in erster Linie die grammatische Belehrung praktiziert, die Lektüre paganer Autoren kann noch durch den moralischen Gewinn verteidigt werden, den man aus ihren Werken zieht. Dieselbe Haltung zeigt sich, wenn Theodulf die Dichter Vergil und Ovid in einem Atemzug mit den Grammatikern nennt 15 oder wenn Ovids Dich-

11

Franz Brunhölzl, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Bd. I: Von Cassiodor bis zum Ausgang der karolingischen Erneuerung. München 1975, S. 292. 12 Cf. Tafel, Uberlieferungsgeschichte, S. 43-44. Eine Beschreibung der Handschrift aus der zweiten Hälfte des 9. Jh. gibt Robertson Ellis, De artis amatoriae codice Oxoniense. Hermes 15 (1880), S.425-432. Zur inhaltlichen Besprechung cf. Hexter, School commentaries, S. 37-52. 13 Hexter, School commentaries, S. 37: »It may come as a surprise that the earliest significantly glossed text is the AA«. 14 Hexter, School commentaries, S. 3 5. "Theodulf, c. 45, vs. 17—18: Et modo Pompeium, modo te, Donate, legebamJEt modo Virgilium, te modo, Naso loquax. Dazu Tafel, Uberlieferungsgeschichte, S. 53: »Vergil und Ovid sind unter den Grammatikern nach den christlichen Dichtern genannt«.

7

tungen in Sammelhandschriften mit grammatischer Literatur 16 oder typischen Schulbüchern wie den >Disticha Catonis< kombiniert sind. 1 7 Auch daß beim >Classbook of St. Dunstan< nur Auszüge oder Teile eines Werkes gelesen wurden, erweckt den Eindruck, daß in der Schule nur ein sehr eingeschränktes Bild vom Charakter des Originalwerkes vermittelt wurde: If the glosses represent ninth century insular classroom practice, they indicate, that the presumably elementary students read only a portion of one book of the AA.18

Ein Blick auf die deutsche Glossierungstätigkeit zu Ovid zeigt, daß er wohl nicht von Anfang an zu den bekannten oder bevorzugten Autoren gehörte, denn Ovidglossen sind bisher nicht vor dem ιo.Jahrhundert nachweisbar, und im Gegensatz zu Vergil, Boethius oder wichtigen christlichen Schriftstellern gibt es kaum deutsche Glossen zu Ovid. Steinmeyer-Sievers verzeichnen nur drei Handschriften, die ausschließlich die >Metamorphosen< betreffen. 19 Die ältesten deutschen Glossen stehen in einer Sammelhandschrift aus dem 12. Jahrhundert, wobei sich die deutschen Glossen auf die Verse 285 bis 549 des ersten Buches der >Metamorphosen< beschränken. 20 Aus dem 12.Jahrhundert stammen auch zwei 16

Cf. Tafel, Uberlieferungsgeschichte, S. 52. Cf. Eva Matthews Sandford, The use of Latin authors in the >libri manualesSS< mit Bandangabe. Als Verzeichnis für Handschriften bis zum 12. Jh. liegt außerdem die Zusammenstellung vor von Birger Münk Olsen, L'étude des auteurs classiques latins au X l e et X l l e siècle. Catalogue des manuscrits classiques latins copiés du I X e au X l l e siècle. B d . I : Apicius-Juvénal. Paris 1982. Ovidhandschriften sind auch verzeichnet in Band II. Paris 1985, S. 1 1 1 - 1 7 4 , außerdem Handschriften mit Accessus und Kommentaren zu Ovid S. 1 7 4 - 1 8 1 . 20 D i e Glossen lauten: aequora-mere (Met. I, 282); spaciata-spercipenonte (Met. I, 285); uineta-vvinstete (Met. I, 298); deformes-vn uualihun (Met. I, 300); phoce-merecovie (Met. I, 300); incursant-anastozent (Met. I, 300); agitata-getribenen (Met. I, 303); robora-bouma (Met. I, 303); apro-eber (Met. I, 305); immensa licentia-deun mous (Met. I, 309); libro, cortice-rinta (Met. I, 549). Zitiert nach SS IV, S. 341. Eine Beschreibung der Handschrift (Codex Londiniensis Harl. 2610, saec. X ) findet sich bei SS IV, S. 479, und bei Olsen, L'étude II, S. 145 [B 67]. Die deutschen Glossen über dem lateinischen Text des Codex Londiniensis Harl. 2610 sind gut erkennbar auf zwei Photographien bei William S. Anderson, O n the Tegernsee MS of Ovid's >Metamorphoses< (Munich elm 29007). C S A π (1978), S. 1 - 1 9 , auf Plate 3 und Plate 5. 17

8

Handschriften mit jeweils einer Glosse. In einer bruchstückhaften Tegernseer Ovidhandschrift findet sich zu incursant (Met. I, 303) die deutsche Glosse anastozent.21 Und in einer Handschrift aus dem Kloster Heiligenkreuz wurde in dem Teil mit Florilegien aus lateinischen Dichtern mit buchin22 zu fagineus (Met. VIII, 65) die einzige deutsche Glosse des gesamten Kodex geschrieben. Diese deutschen Glossen zu den >Metamorphosen< in der Sammlung von Steinmeyer und Sievers können jetzt noch durch einige Glossen zu den >Heroiden< ergänzt werden, die von R. Hexter verzeichnet und besprochen worden sind. Die Glossen wurden in einer Tegernseer Handschrift des 12. Jahrhunderts in einen Kommentar zu den >Heroiden< eingetragen, 23 der betitelt ist >glose Ovidii epistularumArs amatorias >Epistulae heroidum< und >Epistulae ex Ponto< cf. Hexter, School commentaries; z u den >Fasten< cf. Ε. H . A l t o n , T h e mediaeval commentators on O v i d ' s >FastiMetamorphosen< dürfte der v o n Κ . Meiser herausgegebene K o m m e n t a r im elm 4610-II das älteste Beispiel sein (s. A n m . 28). Meiser datiert den Kommentar auf das 11. Jh., w o g e g e n O l s e n , L'étude II, S. 176 [ C c 10], ihn in das beginnende 12. Jh. rückt. Für bis zum 12. Jh. verfaßte, kommentierte und glossierte Handschriften z u O v i d cf. die Zusammenstellung bei Olsen, L'étude II, S. 1 7 4 - 1 8 1 .

35

Hexter, School commentaries, S. 53: »If the availability of texts of O v i d made it possible

II

die entsprechend mehr Möglichkeiten der Auslegung boten. Inhaltlich läßt sich eine Ausrichtung von den eher sprachlich-grammatischen frühen Kommentaren 36 zur allegorischen Interpretation feststellen. Fast vier Jahrhunderte, nachdem der karolingische Dichter Theodulf neben Vergil auch Ovid unter dem Deckmantel poetischer Fiktion tiefere Wahrheit zugestanden hatte, 37 versuchte im 12. Jahrhundert Arnulf von Orleans die >Metamorphosen< Ovids allegorisch zu deuten. Damit wurde auf ein Werk Ovids ein exegetisches Verfahren angewandt, das für die Apologie paganer Autoren eine große Rolle spielte, und wenn dies in demselben Jahrhundert geschah, in dem auch der integumentale Kommentar zu den ersten sechs Büchern der Vergilischen >Aeneis< entstand, der unter dem Namen des Bernardus Silvestris läuft, 38 so zeigt dies, welchen Rang sich Ovid neben Vergil erobert hatte. Arnulf, der als Ovidkenner nicht nur die >MetamorphosenArs AmandiRemedia Amoris< und >Epistulae ex Ponto< mit Kommentaren versehen hatte, 39 setzt bei seiner Auslegung aber nicht so direkt an Ovids >Metamorphosen< an, wie dies der Titel >Arnulfi Aurelianensis Allegoriae super Ovidii Metamorp h o s i s vermuten läßt. Er bedient sich vielmehr der Zusammenfassungen in Prosa, der >ArgumentaMetamorphosen< verbunden sind und unter der Bezeichnung >Narrationes fabularum Ovidianarum< laufen. 40 Die Zuweisung an den Statiusscholiasten Lactantius Placidus als deren Verfasser taucht erst im 15. Jahrhundert auf und ist sicher falsch. 41 Diese >NarrationesAeneid< of Vergil commonly attributed to Bernardus Silvestris. A new critical edition by Julian Ward Jones and Elizabeth Frances Jones. Lincoln and London 1977. C f . die Untersuchung des Hg. Julian Ward Jones, A twelfth-century interpretation of Vergil. Vergilius 28 (1982), S. 5 1 - 5 7 . 39

40

41

Arnolfo d'Orléans. Un cultore di Ovidio nel secolo X I I . Hg. von Fausto Ghisalberti. Milano 1932. Der Kommentar zu den>Fasten< dort S. 161—2.66, die Anmerkungen zu >Ars amatorias >Remedia amoris< und >Epistulae ex Ponto< S. 1 6 6 - 1 7 6 ; die >Narrationes< dort S. 6 2 5 - 7 2 1 . Die >Argumenta< sind ediert mit dem Ovidtext in der Ausgabe: P. Ovidii Metamorphoseon libri X V ; Lactantii Placidi qui dicitur narrationes fabularum Ovidianarum. Hg. von Hugo Magnus. Berlin 1914; die >Narrationes< dort S. 6 2 5 - 7 2 1 . Grundlegende Darstellungen zum sog. Lactantius Placidus bei Wessner. In: R E 12,1 (1924), Sp. 360—361; Edgar Martini, Einleitungen zu Ovid, Brünn 1933, S. 40 und vor allem Brooks Otis, The >Argumenta< of the so-called Lactantius. HSPh 47 (1936),

12

den Rand oder an das Ende eines jeden Buches der >Metamorphosen< geschrieben,42 geben zuerst eine Auflistung der in dem jeweiligen Buch behandelten Verwandlungen, dann folgen die argumenta der einzelnen Fabeln.43 Arnulf übernahm diese Aufteilung und läßt auch erst nach der Aufzählung der Verwandlungen seine allegorischen Deutungen folgen, die er an die in Prosa verfaßten >Narrationes< des sogenannten Lactantius Placidus knüpft: Percio nulla più che una trama dovette apparire ai posteri l'elegans breviatio di Lattanzio Placido, e Arnolfo credette forse di fare cosa utile e desiderata quando si adopero a riempirne l'ordito, ricavando dalle favole il loro senso recondito.44

Allerdings legt Arnulf nicht alle Sagen der >Metamorphosen< aus, und die von ihm behandelten deutet er auch nicht alle auf dieselbe Weise, sondern modo quasdam allegorice, quasdam moraliter [...], quasdam historice:45 Quanto alle narrazione, egli intende fare un lavoro nuovo, contrapponendo al riassunto lattanziano, una parallela interpretazione allegorica. Anzi la narrazione del mito e ristretta a poche righe, e per le favole minori manca affatto, quasi que Arnolfo presupponesse un lavoro que aveva già assolto questo compito.46

Ovid wird Vergil im 12. Jahrhundert nicht nur in der Anwendung der integumentalen Deutung auf eines seiner Werke vergleichbar, sondern auch in der Entwicklung, die seine Lebensbeschreibung nimmt.47 Gleich den Kommentaren hat die vita Ovidiana keine antike Tradition, sondern wurde erst allmählich erarbeitet. Abgesehen von den knappen Andeutungen zur Person des Dichters in den Accessus findet sich die erste wirkliche vita Ovids bei jenem »most complete commentator of Ovid«48 des S. 1 3 1 - 1 6 3 . Zur Unterscheidung vom Statiusscholiasten cf. Franz Bretzigheimer, Studien zu Lactantius Placidus und dem Verfasser der >Narrationes fabularum OvidianarumNarrationes< cf. Otis, >ArgumentaNarrationes< enthalten, in der Ovidausgabe von Magnus, S. 627-630. 43 So z.B. zu Met. I: »I Chaos in species; II Terra in varias personas; III Mundus in saecula quattuor, aureum, argenteum, aereum et ferreum« usw; zitiert nach der Ovidausgabe von Magnus, S. 631. 44 Ghisalberti, Arnolfo, S. 193. 45 Arnulf einleitend zu seinem Kommentar der Metamorphosen; zitiert nach Ghisalberti, Arnolfo, S. 201. 46 Ghisalberti, Arnolfo, S. 193. 47 Zusammengestellt und besprochen bei Fausto Ghisalberti, Medieval biographies of Ovid. Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 9 (1945), S. 10-59. Ghisalberti bringt S. 44-45 einen Anhang mit mittelalterlichen Ovidviten. 48 Ghisalberti, Medieval biographies, S. 18.

Ii

12. Jahrhunderts, bei Arnulf von Orléans.49 Vergil genoß schon zu seinen Lebzeiten große Verehrung und wurde nach seinem Tod zum großen Weisen oder gar Magier gemacht,50 doch auch die Ovidviten entwickelten eine Ausweitung ins Phantastische bis hin zur Bekehrung des Dichters zum Christentum.51 Arnulf leitete mit seiner Lebensbeschreibung des Dichters und mit seinem Kommentar die Entwicklung der kommenden Jahrhunderte ein. Der Hang zur Allegorie in der Auslegung führt zu den Kommentaren des Johannes Garlandia und Giovanni del Virgilio bis hin zum voluminösen französischen >Ovid moraliséArs amatoria< und >Remedia amorisArs amatoria« und >Remedia amoris< und Nachträge. MLatJb 9 (1974), S. 248-268. 72 Grundlegende Darstellung bei Hennig Brinkmann, Geschichte der lateinischen Liebesdichtung im Mittelalter. Halle a.S. 1925, und bei Wilfried Offermans, Die Wirkung Ovids auf die lateinische Liebesdichtung des 11. und 12. Jahrhunderts. Wuppertal 1970.

17

ger Kanonissen waren Ovids Liebesdichtungen das Vorbild, 7 3 wie ein Brief an den Magister zeigt: 7 4 Te non castorum miles decipit amorum, Ovidius qui te suasit carnem amare, Quo subvertuntur miseri, non erudiuntur.

I I I . O v i d in der V o l k s s p r a c h e Eher als in der deutschen Literatur wird in Frankreich auch die Umsetzung antiker Vorlagen in die Volkssprache versucht, und zwar neben ihrer partiellen Benutzung für die Lyrik und Epik ebenso in direkten Ubersetzungen, die seit ca. 1160 auch von Ovidischen Werken entstehen. Die Gedichte >PhilomenaPiramus et Thisbé< und >Narcisus< gehen auf die >Metamorphosen< 75 zurück, als Ubersetzer Ovids rühmt sich Chrétien de Troyes 7 6 im Prolog zu seinem >CligésArts d'aimer< 77 ein, die im 13.Jahrhundert dann entstehen. Vergleichbar mit diesen französischen Ovidübertragungen ist nur die Verdeutschung der Metamorphosen durch

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Die Metamorphosenerklärung aus dem clm 19488, saec. X I I , auf S. 6 9 3 - 7 0 1 , und der Briefwechsel aus dem clm 17142, Scheft. 142, saec. X I I , auf S. 7 1 4 - 7 3 4 bei Wilhelm Wattenbach, Zwei Handschriften der k. H o f - und Staatsbibliothek. Sitzungsberichte der k. b. Akademie der Wissenschaften, philologisch-philosophische Classe. Bd. III. München 1873, S. 685—747. Der Briefwechsel gehört, wie aus Anspielungen hervorgeht, noch in das 1 1 . Jh.

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Aus einem Gedicht an den Lütticher Magister, Wattenbach, Handschriften, 8.725, Z. 22-24. Ausgaben : Philomena. Conte raconté d'après Ovide par Chrétien de Troyes. Hg. von C . de Boer. Paris 1909. Piramus etThisbé. Hg. von F. Branciforti. Firenze 1959. Narcisus. Poème du X l l e siècle. Hg. von M. M. Pelan und Ν . C . W. Spence. Paris 1964. Zitiert nach der Ausgabe: Kristian von Troyes, Cligés. Textausgabe mit Einleitung und Glossar. Hg. von Wendelin Foerster. Halle a. S. 1888. Zur Deutung von Chrétiens Angaben cf. Foerster im Vorwort, S. V I : »es ist entweder die >ars amatorias oder wenn das erste >comendemant< ein eigenes Werk bezeichnen sollte, sind noch die >remedia< gemeint«.

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Ausgabe: Maître Elie's Überarbeitung der ältesten französischen Übertragung von Ovid's >Ars amatorias Hg. von Heinrich Kühne und E. Stengel. Marburg 1886. 18

Albrecht von Halberstadt, die aber erst Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts entstand. 78 Die zeitliche Verzögerung ist nicht so sehr auf die Unkenntnis der antiken Quellen bei den deutschen Dichtern zurückzuführen, sondern auf die Orientierung an der französischen Literatur, die eher als die antike nachgeahmt wird. Auf der Suche nach der ersten feststellbaren Ovidübertragung in deutscher Literatur ging Karl Bartsch immerhin zurück bis auf Notker den Deutschen, in dessen rhetorischer Lehrschrift er eine Ovidübertragung erkennen wollte: Daß auch Ovid in St. Gallen gelesen wurde, lehrt dieselbe Rhetorik, in der ein paar Reimzeilen (Wackernagel 112, 3) eine Stelle aus dem achten Buch der >Metamorphosen< nachahmen:79 Sicut teutonice de apro: Imo sintfûoze fûodermâze, imo sínt bürste ében hô forste, únde zéne sine zuuélifélnîge. Vorbild dieser Verse über den riesigen Eber, die neben anderen kleinen deutschen Einschüben in die lateinische Rhetorik eingelegt sind, war nach Bartsch die Beschreibung des kalydonischen Ebers in Ovids >Metamorphosenc 8 0 sanguine et igne micant oculi, riget hórrida cervix, et saetae similes rigidis hastilibus horrent, [stantque velut vallum, velut alta hastilia saetae.] fervida cum rauco latos stridore per armos spuma fluit, dentes aequantur dentibus Indis; fulmén ab ore venit, frondes adflatibus ardent. Met. VIII, 284-289 78

Vor Albrecht von Halberstadt hatte vielleicht schon Bligger von Steinach Ovid bearbeitet, hinter dessen >umbehanc< H. Kolb den Philomenastoff vermutete; cf. Herbert Kolb, Uber den Epiker Bligger von Steinach. DVjs 36 (1962), S. 507-520. E r wäre dann nach Kolb, S. 520, der »erste Nachdichter Ovids in deutscher Sprache, von dem wir Kunde haben«. 79 Bartsch, Albrecht, S. II. Notkers Rhetorik wurde ediert von Wilhelm Wackernagel, Die Sanctgallische Rhetorik. Z f d A 4 (1844), S. 463-478. Die Stellenangabe »Wackernagel 112, 3« bei Bartsch bezieht sich auf einen früheren Teildruck in Wilhelm Wackernagels >Altdeutschem Lesebuchs 2. Aufl. Basel 1839, w o S. 112, z. 3ff., die deutschen Verse vom Eber wiedergegeben sind, die sich in der Edition der gesamten Rhetorik in Z f d A 4 auf S. 471 finden. 80

D i e Metamorphosen werden zitiert nach der Ausgabe: P. Ovidii Nasonis Metamorphoses. Hg. von William S. Anderson Leipzig 1977. l

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Die Gemeinsamkeiten der beiden Beschreibungen reduzieren sich allerdings auf die Erwähnung der Zähne und der Borsten, wobei nach einer Übersetzung nur die Verse imo sint bürste / ében hô forste und stantque velut vallum, velut alta hastilia saetaeai klingen. Aus diesen geringen Ubereinstimmungen auf eine Ovidimitation zu schließen scheint bedenklich, und die Eberverse Notkers haben noch ganz andere Deutungen erfahren, die gegen Bartsch gerade nicht von der Benutzung eines klassischen Vorbildes, sondern von volkstümlichen Wurzeln ausgehen. 82 Für die Bekanntheit Ovids in St. Gallen gibt es andere Hinweise als diese deutschen Verse. Regional spricht dafür, daß der Bodenseeraum und das alemannische Gebiet die frühesten Bezeugungen von Ovidhandschriften durch Bibliothekskataloge aufweisen können. Notker selbst nennt Ovid sogar einmal namentlich im Rahmen seiner Erläuterungen der >Consolatio Philosophiae< des Boethius. Als Boethius im siebten Metrum des vierten Buches unter den Taten des Herakles die Tötung der stymphalischen Vögel erwähnt (fixit et certis volucres sagittis)83, merkt Notker dazu an: Aber ouidius héizet sie stiphalidas. a stiphalo fluvio.s4 Aus einer singulären Berufung auf wirkliche Kenntnisse oder selbständige Einsicht der genannten Quelle zu schließen ist nicht unproblematisch, da Notker hier selbst einen Kommentar oder eine Glosse verwendet haben könnte. Daß Ovid immerhin zu den in St. Gallen gelesenen Schulautoren gehörte und 81

Erschwerend kommt dazu, daß gerade die Verse 285—286 für Ovid nicht gesichert sind, sondern als Interpolation einer Glosse gelten. Falls Notker die Stelle übersetzt hat, müßte er eine Handschrift mit diesen Versen vor sich gehabt haben. Zur Diskussion cf. Luck, Untersuchungen, S. 67—68. 82 Die Deutungen gehen von volkstümlicher Dichtung der Karolingerzeit (so Helmut de Boor, Geschichte der deutschen Literatur. Bd. I. 9. Aufl. München 1979, S. 86) über ein Gedicht auf Jagden, die auch in den >Casus St. Galli< berichtet werden (cf. Johannes Stosch, Die Verse vom Eber in der Sangaller Rhetorik. ZfdA 33 (1899), S. 437-439) bis hin zu gemeineuropäischem Sagengut bei Hans Naumann, Der große Eber. PBB 45 (1921), S. 273-277, der sich auf S.476 auch gegen eine direkte Ubersetzung aus Ovid ausspricht: »Unser St. Galler Eber besitzt zwar nicht die direkte* Verwandtschaft mit dem kalydonischen, die einst Wackernagel vermutet hatte, aber insofern ist er doch mit ihm verwandt, als beide im volkstümlichen Dämonenglauben wurzeln«. 83

Zitiert nach: Anicius Manlius Severinus Boethius, Consolationis Philosophiae libri quinqué. Hg. von Karl Büchner. 2. Aufl. Heidelberg i960; cf. Joachim Gruber, Kommentar zu Boethius >De consolatione Philosophiaeder sin leit zu sere richit, her machit sich selben schuldic.< bis an dineme zorne geduldic.

vs. 661-668

Die ursprüngliche Fassung von Wernhers Vorlage, das >Moralium dogma philosophorum< des Wilhelm von Conches,88 ist sehr sparsam mit namentlichen Erwähnungen von Quellen, und Ovid erscheint kein einziges Mal. Erst in den jüngeren Redaktionen, wie z.B. im codex patavianus 101 aus dem 13.Jahrhundert, 89 wurden Ovidzitate interpoliert, ein Phäno85

Ekkehart in seinem Gedicht >Notkero pro pace et solito scolarium otio in die post Epiphaniass S. 355, in der Ausgabe: Der >liber benedictionum< Ekkeharts IV. nebst kleineren Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393. Hg. von Johannes Egli. St. Gallen 1909. Außerdem nennt Ekkehart unter den Sangaller Schulautoren noch Persius, Vergil, Lucan, Statius und Juvenal; cf. Manitius, Geschichte II, S. 567, Anm. 2. 86 Bartsch, Albrecht, S . X I I I : »Die älteste Erwähnung Ovids in der Literatur des 12. Jahrhunderts ist meines Wissens bei Wernher von Elmendorf«. 87 Zitiert nach: Wernher von Elmendorf. Hg. von Joachim Bumke. Tübingen 1974. 88 Eine kritische Ausgabe, die der ursprünglichen nahekommt, versuchte Johan Holmberg zu erstellen: Das >Moralium dogma philosophorum< des Guillaume de Conches. Lateinisch, altfranzösisch, niederfränkisch. Uppsala 1929. Er wies die Schrift entgegen der früheren Zuteilung an Hildebert von Tours (so auch bei Migne in P L 1 7 1 , Sp. 1005—1050) dem Wilhelm von Conches zu; cf. das Kapitel »Der Verfasser und das Werk«, S. 5—11, bei Holmberg. 89

Allein nach dem codex patavianus 101 ist das >Moralium dogma philosophorum< unter

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men, das aus der Beliebtheit Ovids in der aetas Ovidiana zu erklären ist und, wie gesehen, auch bei den Florilegien auftritt. Zwar zeigt Wernher von Elmendorf, »daß der Name [sc. Ovids] bereits um 1170 in den Handschriften«90 zu finden war, doch in keiner der erhaltenen Handschriften zeigt sich im Absatz über die Rache ein Ovidzitat, sondern nur eine Abfolge aus Seneca, Publilius Syrus und Sallust: 91 Aliud officium ultionem non quaerere. Ridiculum enim est odio nocentis innocentiam perdere. Ñeque umquam scelus scelere vindicandum est. Multos pessumdedit quod iniurias suas acerbius ulcisci voluerunt.

Die Ubereinstimmung in der Formulierung zwischen iniurias suas acerbius ulcisci und Wernhers Vers, der sin leit zu sere richit (vs. 666), zeigt, daß er hier kein Ovidzitat erhalten hat, das vielleicht in seiner unmittelbaren Vorlage interpoliert war. Wernher führt vielmehr unter Ovids Namen das Sallustzitat an, das aus dem >Bellum Jugurthinum< in das >Moralium dogma philosophorum< eingereiht war: 92 quae res plerumque magnas civitates pessum dedit, dum alteri alteros vincere quovis modo et victos acerbius ulcisci voluerunt.93

Das Zitat erscheint in dem Moraltraktat in abgewandelter Form, 94 aber Wernhers Zuweisung, Ovidius sprichit (vs. 665), wäre eigentlich in Sallustius sprichit zu ändern. Sollte der Fehler in Wernhers unmittelbarer Vorlage oder durch ihn selbst in den Text gekommen sein und nicht erst

der Verfasserschaft des Hildebert von Tours in P L 171 (1884), Sp. 1005-1050 von Vincent de Vit ediert worden. Holmberg hat diese Handschrift gering bewertet und zahlreiche Zitate daraus, z . B . auch die Ovidzitate, in seiner Ausgabe als Interpolation einer jüngeren Redaktion getilgt; cf. Holmberg S.9, Anm. 3. In dieser Handschrift erscheinen drei Ovidzitate: A A II, 13 (Sp. 1023 C ed. de Vit), Fast. I, 303 (Sp. 1042 Β ed. de Vit) und A m . I, 8,43 (Sp. 1043 A ed. de Vit), aber keines an der Stelle, auf die Wernher von Elmendorf bei seiner Berufung auf Ovid sich stützt. 90

Bumke im Vorwort seiner Ausgabe, S. X X X I I I . Dort bespricht er auch falsche Autorenzuweisungen bei Wernher, das Ovidzitat ist bei Bumke aber nicht erfaßt. 91 Zitiert nach der Ausgabe von Holmberg, S. 25-26; genaue Auflösung aller Zitate dort im Apparat. 92 Z u demselben Ergebnis kommt Anton E. Schönbach, S.64, in seinem Aufsatz: Die Quellen Wernhers von Elmendorf. Z f d A 34 (1890), S. 55-75, der ebenfalls die Ovidberufung auf die Ubersetzung des Sallustzitates bezieht: »zu disem citat wird wol das falsche »Ovidius« W. 667 gehören«. Schönbach zitiert das >Moralium dogma< nach der Ausgabe von de Vit und gibt deshalb »Hildebert 1023 A « als Vorlage für Wernhers Zitat an. 93 Bellum Jugurthinum 42,2. Zitiert nach: C . Sallusti Crispí Catilina. Jugurtha. Fragmenta ampliora. Hg. von Alfons Kurfess. 3. Aufl. Leipzig 1957. 94 Dazu Holmberg, S.27, in seiner Ausgabe: »Die classischen Zitate erscheinen in unserem Texte häufig stark geändert und gekürzt«.

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bei der Abschrift seines Gedichtes, 95 so zeigte dies, daß Wernher über die Quellen des >Moralium dogma philosophorum< nicht immer sicher Bescheid wußte. Zu revidieren wäre dann auch Bartschs Urteil, daß »Wernher in der römischen Literatur bewandert war« und daß er »eine für seine Zeit ungewöhnliche Belesenheit« 96 besaß. Bartsch geht ohnehin noch davon aus, daß Wernher selbst die genannten Autoren exzerpiert hatte, obwohl er sie doch, wie Schönbach nachwies, schon in seiner Vorlage vorfand. Eine Berufung des Dichters auf seine Quelle reicht somit nicht aus, um auf seine wahren Kenntnisse zu schließen. Die Verhältnisse können dadurch sogar verstellt werden, worauf Ullman im Zusammenhang mit dem im Mittelalter beliebten Autorenstudium aus Florilegien hinwies : Scholars have often been misled into supposing that a certain mediaeval writer was acquainted with the work of a given classical author when his only knowledge of that work may have been derived from a few brief quotations in a >florilegiumKaiserchronikArs amatoria< vgl. noch: Ulrich Müller, Ovids >Amores< - alba - tageliet. T y p und Gegentyp des >Tagelieds< in der Liebesdichtung der Antike und des Mittelalters. In: Der deutsche Minnesang. 2. Bd. Hg. von Hans Fromm. Darmstadt 1985, S. 362-400. 12 Dieselbe Tendenz in der Hinwendung von der Quellenkunde zu Fragen der Interpretation stellt Raymond J.Cormier, The present state of studies on the >Roman d'EneasAeneis< ins Französische übertrug, wählte er damit einen Dichter zum Vorbild, der nie aus dem Kanon gefallen war. Die christliche Interpretation der vierten Eklo14 15

Hexter, School commentaries, S.9. Die große Zahl der vor dem 9. Jahrhundert einsetzenden Vergilhandschriften bis zum 12.Jahrhundert sind verzeichnet bei Olsen, Manuscrits, 8.673-826. Zur Bedeutung Vergils cf. die Aufsatzsammlung: Présence de Virgile. Hg. von J . - Y . Tilliette. Rom 198 j , darin bes. Birger Münk Olsen, Virgile et la Renaissance du X l l e siècle, S. 3 1 - 4 8 . 2

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ge, in der Vergil das Kommen eines göttlichen Knaben ankündigte, sah in ihm eine anima naturaliter Christiana,16 und in dem integumentalen Kommentar des 12. Jahrhunderts werden entsprechend der Auffassung, daß Vergil poeta et philosophas zugleich sei, die ersten sechs Bücher der >Aeneis< nicht nur als Dichtung, sondern als Sinnnbild menschlicher Existenz interpretiert. Zudem schuf Vergil mit der >Aeneis< die poetisch mustergültige Fassung des Aeneasstoffes mit der Begründung des Römischen Reiches, auf das auch mittelalterlicher Herrschaftsanspruch sich gründete. 17 Das maßgeblich Neue am >Roman d'Eneas< lag an der Verbindung von Vergil und Ovid, den beiden Autoritäten des 12. Jahrhunderts, wodurch er aus der >Aeneis< einen Liebesroman machte. Heinrich von Veldeke folgt darin weitgehend seiner französischen Vorlage, und in der Vermittlung der antiken Anteile durch den >Roman d'Eneas< liegt es begründet, daß Veldeke hinsichtlich seiner antiken Quellen nicht die Beachtung fand wie sein Vorgänger. 18 Auch für Veldeke wurde trotz der völlig anderen Ausgangslage Farals Standardwerk zum >Roman d'Eneas< für alle Fragen der antiken Quellen, vor allem Ovids, herangezogen. Den deutschen Eneasroman maß man weniger an seinen antiken Vorgängern als an dem französischen Eneasdichter, und so liegt für Heinrich von Veldeke als umfangreichere Quellenstudie auch nur das Werk von M.-L. Dittrich zu Vergil vor. 1 9 Sie zeichnet allerdings das Bild eines selbständig über seine antike und französische Vorlage verfügenden Dichters, der über den >Roman d'Eneas< hinaus zu einer eigenständigen interpretatio Christiana gelangt. Daß Veldeke für diesen Umgang mit der >Aeneis< das Epos selbst gekannt haben muß, wird kaum angezweifelt und ist aus der Bedeutung Vergils im Kanon auch mit Sicherheit abzuleiten. Ob Veldeke allerdings auch Ovid 16

Cf. Stephen Benko, Virgil's fourth eclogue in Christian interpretation. In: A N R W II 3 1 , ι. Hg. von Wolfgang Haase. Berlin/New York 1980, S. 646-705. 17 Testimonien zur Rezeption der >Aeneis< sind gesammelt bei Pierre Courcelle, Lecteurs paiens et lecteurs chrétiens de l'Eneide. Bd. I: Témoignages littéraires. Paris 1984. Für das Mittelalter beschränkt sich die Sammlung allerdings auf lateinisch schreibende Autoren. 18 Die wichtigsten Informationen zu Uberlieferung, Sprache, Stil, zur Quellenbenutzung und zum gesellschaftlichen Umfeld des deutschen Eneasromans bietet der Aufsatz von Hans Fromm, Der Eneasroman Heinrichs von Veldeke. In: Fromm, Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 80-100. 19 Marie-Luise Dittrich, Die >Eneide< Heinrichs von Veldeke. Wiesbaden 1966. Wertvolle Hinweise auf Veldekes antike Quellen gibt Otto Behaghel im Vorwort seiner Ausgabe des Eneasromans. Heilbronn 1882, S. C L X X V I - C L X X V I I I . Weitgehend auf Äußerlichkeiten im Vergleich mit dem >Roman d'Eneas< beschränken sich die Untersuchungen: Barker Fairley, Die >Eneide< Heinrichs von Veldeke und der »Roman d'EneasEneide< Heinrichs von Veldeke und der >Roman d'EneasRoman d'Eneas< mehrmals auf Vergil als den eigentlichen Gewährsmann des Aeneasstoffes beruft und auch selbst die Abfolge der verschiedenen Versionen deutlich macht: 2 0 daz is genügen kuntlich, als ez dà tihte Heinrich, derz üzer welschen buchen las, da ez von latine getihtet was al nach der wârheide. En. 354, 16-20 Namentliche Berufungen - hier sei noch einmal auf das angebliche Ovidzitat bei Wernher von Elmendorf verwiesen - sagen nichts über tatsächliche Kenntnisse aus, sondern markieren auch die Unterstützung durch eine Autorität. Bei Veldeke scheint sich die Vergilberufung in erster Linie auf den Gewährsmann für den Stoff zu beziehen, für den über den >Roman d'Eneas< hinaus Vergil verantwortlich ist und der als Schulautor großes Ansehen besitzt. Nebenquellen, zu denen hier auch Ovid zu rechnen ist, sind in diesem globalen Sinn unbedeutend und werden auch nicht erwähnt. Anders als bei Vergil kann man zu der Zeit, zu der Veldeke seinen Eneasroman schrieb, noch nicht mit entsprechend verbreiteten Ovidkenntnissen im deutschen Sprachraum rechnen. Nach den Handschriftenkatalogen ist Ovid zunächst in Süddeutschland verbreitet, was sich neben den lateinischen Dichtungen vor allem in der deutschen >Kaiserchronik< niederschlägt. Heinrichs von Veldeke Eneasroman gehört neben der >Kaiserchronik< zu den frühesten Belegen einer deutschen Ovidrezeption, die sich aber in Anlehnung an eine französische Vorlage regional ganz abseits von dem süddeutschen Werk vollzieht. In der Forschung wird allerdings kaum unterschieden zwischen einer auf selbständigen Ovidkenntnissen beruhenden oder nur durch den >Roman d'Eneas< vermittelten Rezeption, das Attribut >ovidisch< dient oftmals dazu, beides zu bezeichnen. Für eine richtige Einschätzung von Veldekes eigener Leistung in Hinblick auf seine französische Vorlage ist es wichtig, ob man bei ihm mit wirklichen Ovidkenntnissen zu rechnen hat oder ob er die 20

Der Eneasroman des Heinrich von Veldeke wird zitiert nach Spalten und Zeilen der Ausgabe von Ludwig Ettmüller, Leipzig 1852. Vergleichend werden noch herangezogen die Ausgaben von Behaghel, Heilbronn 1882, und von Theodor Frings und Gabriele Schieb, Henric van Veldeken, Eneide. Band I : Einleitung, Text. Berlin 1964.

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Vorgaben seiner Quelle einfach übernahm. Dies gilt umso mehr, als Veldeke zusammen mit der >Kaiserchronik< geradezu als der Vertreter einer an Ovid inspirierten Minneauffassung gewertet wird. Die Untersuchung von Veldekes Verhältnis zu dem lateinischen Dichter soll klären, was die Charakterisierung des deutschen Eneasromans im Vergleich mit seiner französischen Vorlage als ovidisch wirklich leistet. Für beide Eneasromane hat man die ovidischen Anteile vor allem in zwei Themenbereichen gesehen, bei den mythologischen Texteinlagen und in der Darstellung der Minnehandlung. Nach diesen Bereichen getrennt soll die Untersuchung auch durchgeführt werden, auch wenn eine strenge Trennung nicht immer möglich ist.

I I I . Die stofflichen Erweiterungen in den Eneasromanen ι.

Quellen antiker Mythologie im Mittelalter

Die Auseinandersetzung des christlichen Mittelalters mit antiker Mythologie ist in der Forschung verschiedentlich erörtert worden. 21 Trotz kirchlicher Polemik gegen antike Vielgötterei haben exegetische Verfahren wie der Euhemerismus, die kosmologisch-naturwissenschaftliche Auslegung und die Allegorese das Überleben des Mythos gesichert, indem sie ihm entweder eine tiefere Bedeutung absprachen oder ihn als poetisches Stilmittel deuteten, das eine tiefere Wahrheit einhüllen sollte. Abgesehen von der kritischen Auseinandersetzung mit dem Inhalt der antiken Mythen blieb ihre Kenntnis unerläßliches Rüstzeug für ein adäquates Verständnis der auctores, das im Sinne von Mythographie, d. h. als philologisch-wissenschaftliche Sammlertätigkeit, wohl in erster Linie für den Schulbetrieb gepflegt wurde. Auch Ovids >Metamorphosen< stellen ein reiches Kompendium antiker Mythen dar. Ihre Beliebtheit im Mittelalter spiegelt sich in der großen Zahl der Handschriften wie auch in ihrem frühen Erscheinen wider, 22 so 21

Hervorgehoben seien: Otto Gruppe, Geschichte der klassischen Mythologie und Religionsgeschichte während des Mittelalters im Abendland und in der Neuzeit. Leipzig 1921; Hans Liebeschütz, Fulgentius Metaforalis. Ein Beitrag zur Geschichte der antiken Mythologie im Mittelalter. Leipzig/Berlin 1926, bes. S. 1 - 4 3 ; Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. von Manfred Fuhrmann. München 1971 ; Paule Demats, Fabula. Trois études de mythographie antique et médiévale. Genf 1973.

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Einen Katalog der Handschriften bietet Franco Munari in seinen Arbeiten: Catalogue of the MSS of Ovid's Metamorphoses (Nr. 1—390). London 1957; Supplemento al catalogo dei >Metamorphosi< ovidiane (Nr. 391-396). R F I C 93 (1965), S. 288—297; Secondo supplemento al catalogo dei manoscritti delle >Metamorphosi< ovidiane (Nr. 397—404). Rom

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daß die Tradierung antiker Mythologie eng verbunden ist mit der Rezeptionsgeschichte der >MetamorphosenMetamorphosen< unrecht, wollte man ihre Beliebtheit auf diesen Handbuchcharakter reduzieren, sie bildeten vielmehr »ein Muster der Erzählkunst und des Stiles, ein Lehrbuch der Moral und Lebensweisheit, ein Schatzhaus gelehrten Wissens. Dies waren nicht minder maßgebende Gründe für ihre Rezeption«.24 Für Informationen über Götter- und Heldengenealogien oder Abrisse einzelner Mythen muß man mit einer ganzen Reihe von vermittelnden Texten rechnen, die neben den auctores herangezogen wurden und in erster Linie aus Kommentaren und Scholien ihr Wissen bezogen. Viel benutzt waren im Mittelalter die spätantiken Sammlungen von Hygin und Fulgentius, aber auch die Vergilexegese, vor allem der Kommentar des Servius, bot reiches Material.25 Für Zusammenstellungen des Mittelalters, die ihr Material im wesentlichen aus diesen Quellen bezogen, können die sogenannten >Mythographi Vaticani stehen.26 Eine wirkliche genetische Rückführung der ins Mittelalter überlieferten mythographischen Masse ist nicht immer möglich, doch hat sich dabei auch mancher Fehler eingeschlichen oder entlegene Gelehrsamkeit erhalten.27 Die Kurzfassungen

23 24 25

1970. Auch im deutschen Sprachraum zählen die >Metamorphosen< neben der >Ars amatoria< zu den frühesten Nachweisen eines Ovidischen Werkes durch die Katalogeintragung auf der Reichenau; cf. Tafel, Uberlieferungsgeschichte, S. 60. Meiser, Uber einen Kommentar, S. 5 0 - 5 1 . Guthmüller, Ovidio metamorphoseos vulgare, S. 13. »In die grammatische Literatur der Römer ist die mythographische Überlieferungsmasse besonders durch einen gelehrten Vergilkommentar früher Zeit überliefert worden, von dem sie zu Aelius Donatus (dem Urheber der Daniel-Zusätze), Macrobius, dem sog. Philargyrius, Lactantius Placidus (dem Scholiasten der >Thebais< des Statius), Servius und schließlich Isidorus von Sevilla und den sog. Mythographi Vaticani gelangte«. Carl Wendel, »Myelographie«. R E X V I (1935), Sp. 1373.

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Die sog. >Mythographi Vaticani< wurden hg. von Georg Heinrich Bode, Scriptores rerum mythicarum latini tres Romae nuper reperti. Celle 1834; zu deren Quellen cf. Richard Schulz, De mythographi Vaticani primi fontibus. Diss. Halle 1905, und Ferdinand Keseling, De mythographi Vaticani secundi fontibus. Diss. Halle 1908. 27 Skeptisch beurteilt Brooks Otis, The >ArgumentaMetamorphosen< in den >Narrationes fabularum OvidianarumMetamorphosen< Ovids doch mehr waren als eine bloße Mythensammlung. Das früh einsetzende und lebhafte Interesse an den >Metamorphosen< vor allen anderen Werken Ovids hat Forscher wie Bartsch und Farai sicher nicht zu Unrecht vor allem mit deren Einfluß rechnen lassen. Allerdings verfiel man dadurch in den Fehler, alles Mythologische aus der Benutzung der >Metamorphosen< erklären zu wollen. Vor allem die französischen Übertragungen aus den >Metamorphosen< brachten Farai wohl dazu, die mythologischen Erweiterungen, die der französische Eneasdichter in den Text des Vergil einflocht, in erster Linie dessen gesteigertem Interesse an den >Metamorphosen< zuzurechnen. Aber auch bei Heinrich von Veldeke hat man entscheidende Textveränderungen aus dem Griff in das reichhaltige Mythenrepertoire der >Metamorphosen< erklären wollen. Manches ist aber dadurch in der Quellenlage falsch gesehen oder zu einem Problem der Ovidrezeption geworden, was eigentlich ein Problem der Textkritik ist. Eine Untersuchung der stofflichen Erweiterungen, die bei den beiden Eneasdichtern gegenüber Vergil festzustellen sind, soll nicht nur deren Verhältnis zu den Ovidischen >Metamorphosen< verdeutlichen. Für Veldeke läßt sich daran sein Umgang mit den Vorgaben seiner französischen Vorlage erkennen, aber auch seine eigenen Kenntnisse antiker Mythologie. Wichtig ist auch der Umgang der beiden mittelalterlichen Dichter mit dem antiken Mythos, vor allem in Hinblick darauf, ob sie auch eine bestimmte Form der Exegese anwenden. 2. Das Parisurteil Die Erzählung vom Urteil des Paris ist die erste größere Einlage des Franzosen in den Text des Vergil. Die Ursachen des Trojanischen Krieges und des unversöhnlichen Hasses der Juno gegen Aeneas 28 werden von Vergil nur kurz angedeutet : 2 9

28 29

Im Text erscheinen die Namen in der von Vergil geprägten Form. Vergil wird zitiert nach der Ausgabe: P. Vergili Maronis opera. Hg. v o n R . A . B. Mynors, Oxford 1969 (Reprint 1980).

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manet alta mente repostum iudiàum Paridis spretaeque iniuriae formae et genus invisum et rapti Ganymedis honores. Aen. I, 26-28

Vergil reiht in knapper Form drei Gründe auf, Paris' Bevorzugung der Venus als schönster Göttin, Junos Haß gegen die Trojaner als Nachkommen des Dardanus, eines illegitimen Sohnes des Jupiter, und ihre Eifersucht auf den trojanischen Knaben Ganymed, den Jupiter wegen dessen Schönheit geraubt und zu seinem Mundschenken gemacht hatte.30 Vergil konnte bei seinem Publikum offensichtlich die Kenntnis der Hintergründe voraussetzen und es bei dieser mehr andeutenden als erklärenden Darstellung belassen. Der Dichter des >RomanRoman< nachdrücklich deutlich : Pallas et Juno s'en marrirent et cels de Troie en hairent: por seul l'acheison de Paris hairent puis tot lepáis. RdE 179-182 30

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C f . P. Vergili Maronis Aeneidos liber primus. With a commentary by R . G . Austin. Oxford 1971, S. 38 zur Stelle. Der >Roman d'Eneas< wird in der Kurzform >Roman< angeführt. Das Parisurteil im >Roman< vs. 1 0 0 - 1 8 1 . Der >Roman< wird zitiert nach dem französischen Text der zweisprachigen Ausgabe: Le Roman d'Eneas. Ubers, und eingeh von Monica Schöler-Beinhauer. München 1972.

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Auf der Suche nach den Quellen dieser Episode hatte schon Farai festgestellt, 33 daß der Dichter des >Roman< hier eine Version bietet, die in dieser Ausführlichkeit nicht einmal im 16. Heroidenbrief bei Ovid zu finden ist. 34 Die einzelnen Details, vor allem das Auftreten der Discordia und der goldene Apfel mit der griechischen Inschrift, hatte der französische Eneasdichter wohl aus verschiedenen Quellen zusammengetragen oder einer Darstellung entnommen, in der er diese schon so kombiniert vorfand. 3 5 Ganz im Kontrast zur Darstellung im >Roman< steht die Wiedergabe des Parisurteils bei Heinrich von Veldeke, der den Haß der Juno gegen alle Trojaner und vor allem gegen Aeneas nur kurz erklärt: dorch den apphel von golde, den Paris froun Vênûse gab. En. 21, 20-21

Bis auf den goldenen Apfel verzichtet Veldeke auf die Einzelheiten, die der Franzose bringt, und er nimmt auch Abstand von einer erzählerischen Ausgestaltung der Passage. Geblieben ist eine dem Vergiltext sehr ähnliche gedankliche Verbindung zwischen dem Parisurteil und dem Fall Trojas: dà quam al der nît ab, daz Troie wart zebrochen. daz saget uns Virgilîûs, des gehalffrou Vênûs, daz Paris Elenam nam: dâ grôz ubel von quam. En. 2i, 22-28

Bei Veldeke fällt die Erwähnung des Parisurteils zusammen mit der ersten Berufung auf Vergil, doch ist es keineswegs so, daß es sich hier um eine »Ovidentlehnung« handelt, »obwohl Veldeke uns weismachen will, daß sie aus Vergil stammt«. 36 Die auf ein Minimum reduzierte Andeutung des 33

Farai, Recherches, S. 7 4 - 7 5 , zum Parisurteil. D a s Parisurteil dort ep. X V I , 65-88. Zählung nach der Ausgabe: P. Ovidii Nasonis Epistulae heroidum. Hg. von Heinrich Dörrie. Berlin/New York 1971. 35 Farai, Recherches, S. 7 4 - 7 5 , erwog eine Vermittlung durch den Vergilkommentar des Donat, der zu Aen. I, 25 das Parisurteil ausführlich schildert. Allerdings fehlt bei Donat das Auftreten der Discordia, und Farai ist vorsichtig genug, sich nicht definitiv für eine Benutzung des Donat durch den Franzosen auszusprechen. Das Parisurteil bei Donat S. 14, Z. 1 0 - S . 15, Z. 22 ed. Heinrich Georgi. Leipzig 1905. 36 So Sara Stebbins, Studien zur Tradition und Rezeption der Bildlichkeit in der >Eneide< Heinrichs von Veldeke. Frankfurt a.M. 1977, S. 149, Anm. 4. 34

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Parisurteils hat mit Ovids Schilderung im 16. Heroidenbrief nichts zu tun, aber es verbietet sich bei Veldeke eben durch die Kürze seiner Ausführung, über seine genaue Quelle zu spekulieren. Er kann sich an Vergil orientiert ebenso wie den >Roman< gekürzt haben. Wichtiger als die Frage nach Veldekes Quelle ist hier allerdings, warum er die Ausgestaltung des Franzosen nicht übernahm. Ähnlich wie bei Vergil setzt seine Andeutung der Hintergründe eigentlich ein verstehendes Publikum voraus, und Veldekes Vergilberufung ist weder die Kaschierung eines falschen Ovidzitates noch die einer Wissenslücke, 37 denn zumindest aus dem >Roman< mußte er das Parisurteil kennen. Die Berufungen auf Vergil sind bei Veldeke ohnehin nicht als wörtliche Zitate zu verstehen, 38 so daß M.-L. Dittrich mit Recht betont, daß diese »Quellenberufung auf Vergil in einem weiteren und tieferen Zusammenhang« 39 berechtigt ist, nämlich in der kausalen Verknüpfung zwischen dem Parisurteil und dem Trojanischen Krieg, einem Stoff, der seine Fortsetzung in Vergils >Aeneis< findet. Veldeke hatte also durchaus die inneren Zusammenhänge erkannt, sich aber von der Texteinlage seiner französischen Quelle distanziert. Vielleicht sah Veldeke wegen der ernsten Konsequenzen, die sich daraus ergaben, die Schilderung der streitenden Göttinnen und ihres durchaus geschäftstüchtigen Richters als einen unangemessenen Exkurs des Franzosen an, den er nicht übernehmen wollte. 40 Der Franzose fügt überhaupt öfter kleine Erzählpassagen oder Kommentare ein, die einer lebhaften Zeichnung seiner Figuren dienen, selbst wenn sich diese im Kontext nicht immer als stimmig erweist. 41 Veldeke, der seine französische Vorlage insgesamt in der Komposition glättet, übernimmt diese Exkurse des Franzosen nicht immer. Die Erzählung vom Urteil des Paris zeigt, daß weder der Dichter des >Roman< sich streng an die Vorgaben Vergils noch Veldeke sich an die seiner französischen Vorlage hält. Die Gründe für ihre unterschiedliche 37

Thomas Keilberth, Die Rezeption der Götter in Heinrichs von Veldeke >Eneide< und Herborts von Fritslar >Liet von Troie«. Diss. Berlin 1975, S. 66, argumentiert, Veldeke habe das Parisurteil nicht als fremde Texteinlage erkannt, und »als Gegengewicht für seine Kurzfassung des Parisurteils fühlte er sich bemüßigt, den Namen Vergils zu nennen«. 38 C f . Dittrich, Eneide, S. 1 - 3 7 im Kapitel: »Die Berufung auf Vergil in Veldekes Eneide«. 39 Dittrich, Eneide, S. 17. 40 J . Salverda de Grave weist in seiner kritischen Ausgabe des >EneasRoman< durch die Faszination von großer Schönheit, mit der aber durchaus Raffinesse und List verbunden sind. Veldeke hat diese Züge des >Roman< sehr zurückgenommen, er hat dies aber vor allem im Parisurteil mit seinen verheerenden Folgen getan. Die Diskrepanz zwischen dem nichtigen Anlaß und den gravierenden Konsequenzen wird wohl bei Veldeke der Grund gewesen sein, der ihn zu einer bloßen Andeutung der Hintergründe in der Art seines Gewährsmannes Vergil zurückkehren ließ. 42 3. Die Katabasis a. Phocus / Hercules Antike Hadesschilderung und christliche Höllenvorstellung überschneiden sich in der Erzählung der Unterweltsfahrt des Aeneas bei den beiden mittelalterlichen Dichtern, für die Vergils sechstes Buch der >Aeneis< das Vorbild darstellte. 43 Aeneas steigt unter der Führung der Sibylle von Cumae in die Welt der Toten hinab, um dort die Belehrungen seines Vaters Anchises zu empfangen. Vergils literarische Vorlage war die Homerische Nekyia, doch griff er entscheidend in die Vorstellung der Seelenwanderung ein, als sein Aeneas nicht nur die Schatten vergangener Existenzen, sondern auch die Repräsentanten von Roms zukünftiger Größe vor Augen geführt bekommt. In der >Aeneis< nimmt die sogenannte Heldenschau eine Schlüsselposition ein, weil sich in ihr Mythos und Geschichte berühren. Durch die Prophezeihungen des Anchises tut Aeneas einen Blick über den urzeitlichen Zeitraum der epischen Ebene in 42

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Eine Zusammenstellung der Erwähnungen des Parisurteils bietet die Arbeit von Margaret J. Erhard, The judgement of the Trojan prince Paris in medieval literature. Philadelphia 1987. Grundlegend ist die Katabasis bei Veldeke behandelt in dem Aufsatz von Hans Fromm, Die Unterwelt des Eneas. Topographie und Seelenvorstellung. In: Festschrift Karl Stackmann. Hg. von L. Grenzmann, Göttingen 1987, S. 7 1 - 8 9 .

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eine Zeit, deren Erfüllung in der Gestalt des Augustus Vergils Publikum erlebte. Heinrich von Veldeke muß sowohl die Bedeutung als auch die Entwicklungsfähigkeit dieses Konzepts gespürt haben, wenn er in seinem Epilog daran erinnert, daß Christus unter der Regentschaft des Augustus geboren wurde. 4 4 W o bei Vergil Mythos und geschichtliche Zeit des römischen Volkes sich begegnen, ist für Veldeke die N a h t stelle im Übergang von der heidnisch-antiken in die christliche Zeit, wodurch der Aeneasstoff seinen Platz in der christlichen Heilsgeschichte findet. Völlig verzichten konnten aber weder Heinrich von Veldeke noch sein französischer Vorgänger auf die mythologischen Elemente aus Vergil, dazu waren diese zu wesentlich mit Vergils Dichtung verbunden. D o c h haben sie manche Erweiterungen und Umdeutungen vorgenommen, wobei Veldeke noch mehr in die Vorgaben der >Aeneis< eingriff als der Franzose. 4 5 Vergils Katabasis des Aeneas steht in der Tradition einer ganzen Reihe von Unterweltsfahrten, die aus dem antiken Mythos bekannt waren. Odysseus, Hercules, Orpheus, Theseus und Pirithous sind bekannte Gestalten, die aus jeweils verschiedenen G r ü n den als Lebende das Eindringen in das Reich der Toten versucht haben. D e m Mittelalter waren dabei vor allem die literarischen Darstellungen der Katabasis des Aeneas und des Orpheus aus Vergil und Ovid bekannt. D i e Änderungen, die die beiden Eneasdichter in ihren Schilderungen der Unterweltsfahrt des Aeneas vorgenommen haben, versuchte man ζ. T. aus einer Benutzung der Ovidischen >Metamorphosen< zu erklären. Als Aeneas von der Sibylle den Zutritt in die Unterwelt fordert, beruft er sich auf vier Menschen, die schon vor ihm das Totenreich betreten hatten: >sipotuit accersere coniugis Orpheus Threicia fretus cithara fidibusque canoris, sifratrem Pollux alterna morte redemit itque reditque viam totiens. quid Thesea, magnum quidmemoremAlciden?< Aen.VI, 119-132

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Veldekes teleologische Geschichtskonzeption mußte mit der zyklischen Reinkarnationslehre bei Vergil in Konflikt geraten. Die Konsequenzen für die Umgestaltung des Textes sind behandelt bei Fromm, Unterwelt, S. 84. 45 Zum sechsten Buch der >Aeneis< ist immer noch grundlegend: Eduard Norden, P. Vergilius Maro. Aeneis Buch sechs. 3. Aufl. Berlin 1927 (Reprint Darmstadt 1957)·

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Von den vier Namen bei Vergil übernimmt der Dichter des >Roman< drei: Jadis i ala Orpheus et Herculés et Theseus, repatrié sontplusor mortal ça sus del regne enfernal.< RdE 2283-2286

Veldeke gibt diese Rede des Aeneas vor der Seherin nur indirekt wieder, so daß bei ihm eine Aufzählung dieser Namen fehlt: do her bì ir gesaz, dô sagete her ir rehte sînen namen und sin geslehte und war her varen solde und dorch weihe scholde her zû zir dare quam. En. 86, 4-9

Eine Aufzählung der Helden, die als Lebende in die Unterwelt vorgedrungen waren, erfolgt bei Vergil noch einmal, als der Fährmann Charon den Aeneas nicht ins Boot lassen will, weil er mit den Lebenden in der Unterwelt nur schlechte Erfahrungen gemachte hatte: >nec vero Alciden me sum laetatus euntem accepisse lacu, nec Thesea nec Pirithoumque, dis quamquam geniti atque invidi viribus essent.< Aen. VI, 392-394

Auch bei dieser Rede des Charon folgt der Dichter des >Roman< eng seiner lateinischen Vorlage : >onkes n'i vint nus oem mortals ne nos volsist faire toz mais: danz Herculés i vint jadis, nostre portier en mena pris, lié l'en traist a molt grant peine, retorna puis en nostre regne. Enprés i vint danz Theseus ensemble lui Piritous, le rei d'enfer voldrent honir et sa femme prendre et tolir.< RdE 2519-2528

Bemerkenswert ist, wie der Franzose mit dem Heldenkatalog zwar genau Vergil folgt, wie er aber gleichzeitig seinem Publikum den Zweck der jeweiligen Unterweltsfahrt mitteilt. Deutlich wird daran nicht nur die 40

gründliche Kenntnis der Mythen, über die er verfügt, sondern wohl auch das Bedürfnis auf seiten des Publikums, das mit dem antiken Mythos nicht in der gleichen Weise vertraut war wie das eines Vergil. Veldeke geht hier einen anderen Weg als seine beiden Quellen. Von den Namen, die durch den lateinischen und den französischen Text vorgegeben sind, nennt sein Charon nur den Hercules, der im Rahmen seiner zwölf Arbeiten auch einmal den Höllenhund Cerberus fangen mußte: >ich ne wil niht daz ir tût als Phocus, demz sô wol ergienk, dêr unsern portenâre vienk undfûrde in hinnen.< En. 94, 3 2 - 3 5

Die seltsame Namensform Phocus an der Stelle, die dem Kontext nach eigentlich die Erwähnung des Hercules erfordert, hat Anlaß zu verschiedenen Deutungsversuchen gegeben, die bis heute nicht über Behaghels Erklärungsversuch des Namens aus Ovid hinausgekommen sind. 46 Die Veldekehandschriften zerfallen an dieser Stelle in zwei Klassen, Hh geben keinen Namen, eine Lesart, die Behaghel in seinen Text aufgenommen hat, aber auch Frings/Schieb in ihrer limburgischen Rekonstruktion. Ettmüller hat sich dagegen der Handschriftenklasse (B, M, w ) angeschlossen, die Phocus als den Entführer des Cerberus nennt. Da Vergil an der entsprechenden Stelle Hercules nicht namentlich nennt, sondern seiner Herkunft nach mit dem Patronym als den Alciden bezeichnet, vermutete Behaghel eine falsche Auflösung dieses Patronyms bei Veldeke: Phocus, der Sohn des Aeacus, erscheint allerdings Met. VII, 477 und XI, 267, aber es ist doch kaum anzunehmen, daß Veldeke hier ausnahmsweise auf Vergil zurückgegangen, etwa in dem Verse: nec vero Alciden me sum laetatus euntem VI, 392 >Alciden< mit >Aeaciden< verwechselt hätte. Ich habe daher mich im Text der zweiten Gruppe angeschlossen, die gar keinen Namen gibt, und >Phocus< als eine Glosse des Schreibers betrachtet, wobei die Sache immer noch auffallend genug bleibt. 47

Auch Frings/Schieb halten diesen Namen für »eine antike Reminiszenz, die wohl erst in der thür. (md.) Variante der Eneide in die Dichtung« 48 46

Auch in dem neuen Stellenkommentar wird von Dieter Kartschoke auf S. 779 auf Behaghels Erklärungsversuch aus Ovid verwiesen: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkomm. und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986. 47 Behaghel im Vorwort seiner Ausgabe, S. C L X X V I . 48 Henric van Veldeken, Eneide. Bd. II: Untersuchungen von Gabriele Schieb unter Mitwirkung von Theodor Frings. Berlin 1975, zu vs. 3099 (entspricht En. 94, 33 ed. Ettmüller).

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gekommen ist. Erstaunlich wäre dann immerhin ein Publikum, das den Sinn dieser Reminiszenz verstanden hätte, es sei denn, daß unter Reminiszenz das Einfügen eines beliebigen antiken Namens zu verstehen wäre. Behaghels Erklärungsversuch, den er selbst sehr skeptisch formulierte, geht beachtliche Umwege, indem er voraussetzt, daß Veldeke Alciden bei Vergil mit Aeaciden verwechselt hätte, dieses Patronym dann aber richtig in Phocus auflöste, den er aus Ovids >Metamorphosen< kannte. Das einzige, was diesen Phocus mit der Unterwelt verbindet, ist sein Vater, der Totenrichter Aeacus. Zudem setzt diese Deutung voraus, daß >Phocus< die korrekte Schreibweise des Namens bei Veldeke ist, worauf auch die Erklärung von Keilberth beruht, der ihn mit den fauces Orci in Verbindung brachte: »Durch die Kenntnis der Schreibung >Phocus< bei Ovid, die sich gar nicht auf Hercules, sondern vielmehr auf den phortenere bezog, könnte es zum Austausch von Hercules durch Phocus gekommen sein«.49 Gerade aber die Schreibweise >PhocusPhocus< in der Schreibung, in der der Name der mythologischen Gestalt bei Ovid erscheint und auf der die Erklärungsversuche aus Ovid basieren.51 Die Erwähnung des Phocus bei Veldeke, der im Kontext der Stelle so völlig deplaziert ist, läßt sich also weder inhaltlich noch aus den Varianten der Handschrift wirklich sinnvoll mit dem Ovidischen Phocus erklären. Letztlich würde dies auch bedeuten, daß Veldeke die Entführung des Cerberus nicht mit Hercules zu verbinden wußte. Richtig hat den Raub des Cerberus dagegen Herbort von Fritslar dargestellt, als er unabhängig von seinem französischen Vorgänger Benoit dem Hercules die Worte in den Mund legte: 52 49 50 51

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Keilberth, Die Rezeption, S. 1 8 1 - 1 8 2 , Anm. 49. Schieb/Frings, Untersuchungen, S. 99 zu vs. 3099. Nach freundlicher Auskunft von Herrn Professor Fromm, der die Handschrift eingesehen hat, lautet die Lesart in M phocus. Zitiert nach der Ausgabe: Herbort's von Fritslar liet von Troye. Hg. von Karl Frommann. Quedlinburg/Leipzig 1837.

42

Bin ich der wilen bestunt Creberu den helle hunt Den ich in der helle funt Sint ich in do vberwunt [...].

L v T 425-428

Herbort zeigt, daß man im Umkreis Veldekes die Sage vom Raub des Cerberus durchaus kannte, 53 und man sollte wohl auch Veldeke hier keine Wissenslücke unterstellen, die er durch einen beliebigen Namen aus Ovid verdecken wollte. Dagegen spricht nicht nur, daß alle übrigen Erwähnungen des Hercules korrekt sind. 54 Hercules gehört mit seiner Feindschaft gegen den König Laomedon zu den wichtigen Gestalten im Umfeld des Kriegs gegen Troja, und die sprichwörtlichen zwölf Herculestaten, zu denen auch die Entführung des Cerberus zählt, waren offensichtlich Schulstoff, wie ein dem Ausonius zugeschriebener Zwölfzeiler in den >Carmina Burana< zeigt. 55 Die Unsicherheiten in der Schreibung des Namens spiegeln wohl auch das Unverständnis der Schreiber wider, die offensichtlich mit der Textvorgabe Schwierigkeiten hatten. Erklärungsversuche des Namens würden erst eine neuerliche Uberprüfung des handschriftlichen Befundes erfordern, doch könnte wohl auch die sichere Schreibung des Namens nichts daran ändern, daß eine sinnvolle Erklärung Spekulation bleiben muß. Geht man davon aus, daß unzweifelhaft Hercules an der Stelle gemeint ist, so ist der seltsame Name Phocus sicher nicht durch Umwege über Ovid zu erklären, sondern am ehesten aus dem Mißverständnis einer Glosse zu Hercules, was Behaghel auch schon in Betracht gezogen hatte. Selbst dann noch sind die Spekulationen kaum einzuschränken, sei es, daß der mit Hercules befreundete Centaur Pholus 56 in den Text geraten ist oder daß Hercules' Beiname Sancus als

"Keilberth, Die Rezeption, S. 195, führt die von Benoit unabhängige Erwähnung des Höllenhundes auf Vergil oder Ovid zurück. Vielleicht ist aber die Form >Creberus< statt >Cerberus< bei Herbort nicht nur eine Verschreibung, sondern ein Anklang an die Etymologie des Namens bei Servius zu Aen. VI, 395, die in mythographischer Literatur sehr verbreitet ist: unde et Cerberus dictus est, quasi kreobóros, id est camem vorans. 54 Sämtliche Erwähnungen des Hercules bei Veldeke sind aufgeführt im Wörterbuch. Eneide. Bd. III. Von Gabriele Schieb in Zusammenarbeit mit Günter Kramer und Elisabeth Mager. Berlin 1970, S. 884. 55 CB 64. Die >Carmina Burana< werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Carmina Burana. Texte und Ubersetzungen. Hg. von B. K. Vollmann. Frankfurt 1987. 56 Die Geschichte findet sich bei den >Mythographi Vaticani, z.B. beim >Mythographus primusRoman< bisweilen auf diese Weise einen umschreibenden Relativsatz bildet, w o man eigentlich einen Namen erwartet. In der Totenklage um Camilla wird Arrons als ihr Mörder nicht namentlich genannt, sondern von Turnus umschrieben als der, ki vos ocist ( R d E 7382). Als Aeneas in der Unterwelt die Schatten der Verstorbenen betrachtet, berichtet der Dichter des >RomanRoman< hatte aber durchaus die Nationalität der Helden erkannt, und es lassen sich daraus die Namensveränderungen erklären, die der Heldenkatalog gegenüber Vergil erfahren hat. Von den Thebanern übernimmt der Franzose drei Namen seiner lateinischen Quelle und fügt ihnen noch zwei weitere hinzu: En icel champ ert Adrastus, Polinicés et Tydeus, Ipomedon, Partenopeus, Amphiaraus et Capaneus. RdE 2669-2672

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Aus der Zusammenstellung bei Vergil -Tydeus, Parthenopaeus, Adrastus (Aen. VI, 479-489) - wird im >Roman< die Gruppe Adrastus, Polinicés und Tydeus (RdE 2669-2670), die auch Servius zu Aen. VI, 480 nennt:82 rex Syconis Adrastus primo fuit, post Argivorum, socer, sicut dictum est, Tydei et Polinicis. Auch die Zugehörigkeit des Parthenopaeus zum thebanischen Sagenkreis macht Servius an dieser Stelle deutlich: Parthenopaeus Melanippae et Martis, sive Melanoms filius, rex Arcadiae fuit, qui Thebana bellapuer admodum petiit. In diesen Umkreis gehört neben Hippomedon83 auch Amphiaraos, der eine »ganz hervorragende Rolle im Zug gegen Theben spielte«.84 Der Franzose kannte die Sage von Theben offensichtlich sehr genau, die neben dem >Roman d'Eneas< und dem >Roman de Troie< im >Roman de Thèbes< eine volkssprachliche Bearbeitung erfahren hatte, und er brachte aus dieser Kenntnis die Namen thebanischer Helden ergänzend zu den bei Vergil genannten.85 Eine weitere Abweichung gegenüber Vergil gestattet sich der Dichter des >Roman< darin, daß er die Trojaner, die das lateinische Epos nennt, durch die bekanntesten Helden der Schlacht um Troja ersetzte, wohl weil sie auch seinem Publikum geläufiger waren. So treten Hector, Priamus und Paris (RdE 2677-2678) an die Stelle der Namen, die sich bei Vergil finden. Auch wo der lateinische Dichter nur generalisierend von den Scharen der Griechen spricht (Aen. VI, 489), nennt der Franzose die herausragenden Gestalten namentlich, denn von den Griechen kennt er Aiaus, Protheselaus, Agamemnon, Menelaus und Titidés (RdE 2687-2690). Der Namenskatalog im >Roman< ist im wesentlichen für Veldeke verbindlich geworden, denn die Abweichungen, die sich in seinem Text verglichen mit der >Aeneis< finden, entstanden aus der Orientierung an der französischen Vorlage. Daß Veldeke nicht einfach die Vorgaben des >Roman< übernahm, sondern sich durchaus der Zugehörigkeit der einzelnen Helden bewußt war, zeigt sich an der ausdrücklichen Nennung ihrer 82

Weitere Übereinstimmungen zwischen Veldeke und Servius, ohne daß man mit Sicherheit sagen könnte, ob Veldeke wirklich den Kommentar zur Verfügung hatte, sind besprochen bei Gilbert de Smet, S. 243-244, in seiner Rezension zu Cola Minis, Textkritische Studien über den >Roman d'Eneas< und die >Eneide< von Henric van Veldeke. Groningen 1959. P B B 83 (1961/62), S. 233-246. 83 C f . H . W. Stoll, »Hippomedon«. Roscher Bd. I, 1 (o. J.), Sp. 2687-2688. 84 C f . O . Wolff, »Amphiaraos«. Roscher Bd. I, 2 (o. J.), Sp. 293-303. 85 Im Mittelalter war auch das siebte Buch der >Metamorphosen< eine vielbenutzte Quelle für den Argonautenzug, den Dares und Dictys nur streifen. Vgl. dazu Hermann Dunger, Die Sage vom Trojanischen Kriege in den Bearbeitungen des Mittelalters und ihre antiken Quellen. Dresden 1869.

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Herkunft, wo der Franzose nur die Namen bringt. So wird nach dem Katalog der thebanischen Helden von Veldeke hinzugefügt: die ze Thêbîs den lîb verloren und den tôt dà erkoren. En. ioo, I I - I 2 Auch wird die Gruppe der Trojaner, ouch vander dar nâ der Trotare vile dà, die von sîme lande, di er alle wole erkande. En. ioo, 13-16 und die der Griechen besonders hervorgehoben: zu den selben zîten quam Énêas der wîgant, dà er der Criechen vile vant, die Troie zebrachen unde ir laster rächen. En. 100, 32-36 Die Namensformen der Helden sind bei Veldeke nicht einheitlich überliefert, und sich durch den Text des >Roman< leiten zu lassen, wie Frings und Schieb dies tun, 86 ist nur bei den übereinstimmenden möglich. Schwierigkeiten gibt es dagegen mit den beiden Namen, die der Franzose nicht bietet, nämlich Anthênor (En. 100, 20) und Athamas (En. 100, 21), deren Namen nicht nur ein Problem der korrekten Schreibweise bei den variierenden Lesarten in den Handschriften, sondern auch der Interpretation sind. Neben der Form Anthenor, die Ettmüller in seiner Ausgabe Β und Η folgend setzte, bietet M noch die kaum abweichende Form Anterior. Ohne Nasal wird der Namen dagegen in H als Athenor und in G als Atbanor überliefert, die Frings und Schieb als ihre Leithandschrift wählten. Für die erste, von Ettmüller bevorzugte Gruppe spricht, daß es keinen trojanischen Helden namens Athanor, wohl aber einen Antenor gibt. E r ist einer der engen Vertrauten des Königs Priamus und spielt eine Rolle in den Schlachten um Troja, d.h. im Geschehen, das in die Vorgeschichte der >Aeneis< fällt. Somit tritt er auch nur in Erscheinung in Darstellungen, die sich mit den unmittelbaren Ereignissen um Troja befassen, in Homers >Ilias< und in den im Mittelalter sehr verbreiteten 86

Schieb/Frings, Untersuchungen, S. 108, zu vs. 3 3 1 3 f f . (entspricht En. 100, j ed. Ettmüller): »Wo die Namensformen variieren, lassen wir uns von R E 2666 f f . leiten«.

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Versionen dieses Stoffes bei Dares Phrygius und Dictys Cretensis. Vergil, der mit seiner >Aeneis< die Ereignisse nach dem Fall von Troja fortsetzte, erwähnt den Antenor dagegen nur einmal kurz als Gründer der Stadt Patavium: Anteriorpotuit mediis elapsus Achivis Illyricos penetrare [...]. hic tarnen ille urbem Patavi sedesque locavit Teucrorum[...].

Aen. I, 242-248

Behaghel führte die Erwähnung des Antenor unter den gefallenen Helden bei Veldeke auf diese Nennung im ersten Buch der >Aeneis< zurück, 87 eher ist aber im Rahmen von Vergils Unterweltsfahrt an die Stelle zu denken, an der von den drei Söhnen des Antenor die Rede ist (Aen. VI, 484). Von der Bedeutung dieser Stelle für eine sinnvolle Erklärung der Textgestalt bei Veldeke wird in diesem Zusammenhang noch zu sprechen sein. In Anschluß an Aen. I, 242 ff. hat wohl der Dichter des Annoliedes die Erinnerung an Antenor als den Gründer Pataviums bewahrt: 88 Antenor was gevarn dannin er, dûr irchôs, daz Troie solti agen, der stifted vns die bürg Pitavium bi demi wazzere Timavio. Annolied 3 8 1 - 3 8 4

Schwieriger ist die Erklärung des zweiten Namens, den Veldeke ohne das Vorbild Vergils und des >Roman< in seinen Text einfügte. Während in den Handschriften Β und Η kein Name steht, haben M und h die Lesarten Athamas, die Ettmüller in seine Ausgabe übernahm. Frings und Schieb bieten dagegen in Anschluß an G die Namensform Acthamas. Behaghel, der sich wie Ettmüller in seinem Text für die Lesart Athamas aus Bh entschied, versuchte auch eine Deutung der Gestalt, die eigentlich im Katalog der trojanischen Helden völlig deplaziert ist. Die Sage vom Trojanischen Krieg kennt keinen Helden dieses Namens, er ist überhaupt nur im Zusammenhang mit einer mythischen Gestalt überliefert, deren Geschichte Ovid im vierten Buch der >Metamorphosen< erzählt. Und aus Ovid soll Veldeke auch den Namen nach Behaghel eingefügt haben: »Aus IV, 420 könnte möglicherweise der Name Athamas entnommen sein«. 89 87

Behaghel, Vorwort, S. C L X X V I : »Aus Aeneis I, 242 stammt dann der wise Anthenor«. An Behaghel schließt sich auch Kartschoke, Eneasroman, S. 781, zur Stelle an. 88 Das Annolied. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Hg., übers, und komm, von E. Nellmann. Stuttgart 1975. 83 Behaghel, Vorwort, S. C L X X V I .

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Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Ovids Athamas und Veldekes Trojaner dieses Namens wäre ein sehr lockerer Zusammenhang mit der Unterweltsthematik. Denn um sich an der ihr verhaßten Ino zu rächen, begibt sich die Göttin Juno in die Unterwelt und bittet Tisiphone, sie solle Athamas, den Gatten der Ino, in den Wahnsinn treiben. Seltsam wäre es allerdings, wenn Veldeke so völlig unmotiviert eine Gestalt aus der Unterweltsfahrt der Juno bei Ovid in den Vergilischen Hades versetzt hätte. Ähnlich wie bei der Erklärung des Namens Phocus ist hier ein Verweis auf Ovids >Metamorphosen< wenig ertragreich, außerdem beruht diese Deutung wieder nur auf einer einzigen Lesart, auf Athamas in Bh, obwohl doch in der Schreibung des Namens keine Sicherheit besteht. Behaghel versuchte neben dieser Deutung anhand der >Metamorphosen< noch einen zweiten Ansatz, den er aber nicht weiter verfolgte: »Vielleicht ist der hoveske Athamas 3327 aus Aen. II, 262 entnommen, wenngleich er hier ausdrücklich als Glied der Archiva phalanx bezeichnet wird«. 9 0 Der wichtige Schritt Behaghels besteht darin, daß er Veldekes Athamas mit Vergils Acamas in Verbindung brachte, eine Namensform, die auch in der Variante Acthamas in G durchaus noch anklingt. Für Behaghel bestand die Schwierigkeit, daß der Vergilische Acamas kein Trojaner, sondern ein Grieche ist, denn er gehört zu den Helden, die verborgen im Bauch des Trojanischen Pferdes in die Stadt eindringen: [...] cavo se robore promunt Thessandrus Sthenelusque duces et dirus Ulixes demissum lapsi per funem, Acamasque [...]. Aen. II, 260-262 Der Grieche Acamas ist zwar der einzige Held dieses Namens, der bei Vergil erscheint, aber nicht der einzige Träger dieses Namens überhaupt. Der Vergilische Acamas, ein Sohn des Theseus, kommt in der Homerischen >Ilias< noch nicht vor, doch kennt auch der griechische Epiker einen Acamas, und bei ihm handelt es sich um einen Trojaner. 9 1 Der Sagenkreis von Troja hat sogar drei Träger dieses Namens auf trojanischer Seite erhalten. 92 Acamas, der Grieche, den Vergil nennt, ist ein Sohn von Theseus und Phaedra; oft verwechselt wird er mit seinem Bruder Demophon, den auch 91

92

Behaghel, Vorwort, S. C L X X V I . C f . R . G . Austin, P. Vergili Maronis Aeneidos liber secundus. With a commentary. Oxford 1967, S. 123, zu Aen. II, 262: »a son of Theseus (not named in the Iliad; the Homeric hero of that name is a Trojan)«. C f . J . A. Bernhard, »Akamas«. Roscher Bd. I, i (o. J.), Sp. 205-206. Die folgenden Informationen sind diesem Artikel entnommen.

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Servius zu Aen. II, 262 erwähnt, wenn er ihn zum Vater des Acamas macht, indem er diesen als Demophontis filius bezeichnet. Das Brüderpaar zählt zu den Helden des Trojanischen Krieges, kam aber erst später in den Sagenkreis und findet sich deshalb nicht bei Homer. Homer dagegen kennt zwei trojanische Krieger, die Acamas heißen, einen Thracerfürsten, den Sohn des Eussoros: 93 [·;;] luòv Έυσσώρου Άκάμαντ' ήύν τε μέγαν τε.« Ilias VI, 8

Aber auch ein Sohn des Antenor trägt diesen Namen: [...], άμα τω γε δύω 'Αντήνορος υϊε, Άρχέλοχός τ' Ά κ ά μ α ς τε, μάχης έύ ειδότε πάσης Ilias II, 822-823

Die Erklärung der Namen aus Homer würde für Veldeke keinen Gewinn bringen, da der griechische Dichter dem Mittelalter als Quelle nicht zugänglich war. Entscheidend dabei ist, daß andere für das Mittelalter wichtige Quellen die Nachricht von einem Trojaner namens Acamas bewahrt haben, aus denen auch Veldeke seine Kenntnisse geschöpft haben dürfte. Den Thracerfürsten nennt der Bericht des Dares, wo er von Priamos als Verstärkung herbeigerufen wird. 94 Dictys hat sowohl die Erinnerung an denThracer, der mit den Trojanern verbündet ist, als auch an den bei Vergil genannten Griechen bewahrt.95 Acamas, der Sohn des Antenor, spielt zusammen mit seinem Bruder Archilochos eine Rolle in der >Ilias LatinaAcamas (rex Thracum)< und >Acamas (Atheniensis, frater Demophontis)^ 96 Zitiert nach der Ausgabe: Ilias Latina. Hg. von Friedrich Plessis. Paris 1885; sämtliche Stellen sind im Index nominum, S. 95, verzeichnet.

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Durch die drei im Mittelalter verbreiteten Darstellungen der Trojasage war also die Kenntnis eines Trojaners Acamas neben Vergils Griechen gewährleistet. Heinrich von Veldeke dürfte also seinen Trojaner namens Athamas/Acthamas weder mit dem Vergilischen Griechen noch mit Ovids Athamas verwechselt haben. Daß Veldeke damit von den trojanischen Trägern dieses Namens den Antenorsohn und nicht den Thracerfürsten bezeichnen wollte, legt nicht nur die gemeinsame Erwähnung der beiden Helden nahe, sondern hier gewinnt auch die Unterweltsszene bei Vergil, von der die Diskussion um die beiden Namen in Veldekes Text ausging, entscheidende Bedeutung. Der deutsche Dichter setzt die N a men Athamas und Antenor ein, w o Vergil unter den trojanischen Helden auch auf drei Söhne des Antenor anspielt: [...] Glaucum, Medonta Thersilocumque, tris Antenoridas Cererique sacrum Polyboeten. Aen. VI, 483-484 Zu den drei Antenoriden merkt Servius zu Aen. V I , 484 an: multi supra dictos accipiunt: quod falsum esse Homerus docet, qui eos commémorât. Der Vergilkommentator verwahrt sich dagegen, daß sich das Patronym >Antenoriden< auf die im Vers zuvor genannten drei Helden Glaucus, Medon und Thersilochus beziehe, und verweist dazu auf Homer. Der griechische Dichter nennt in seiner >Ilias< elf Söhne des Antenor, von denen die >Ilias Latina< noch das Brüderpaar Acamas und Archilochus Archelochos bei Homer - erhalten hatte. 97 Wenn Veldeke also Vergils Heldenkatalog durch Antenor und Athamas ergänzte, läßt sich dies weder aus dem ersten Buch der >Aeneis< noch aus dem vierten Buch der >Metamorphosen< sinnvoll erklären, sondern der deutsche Dichter löste offensichtlich das Patronym Antenorides (Aen. V I , 484) in Antenor und Acamas, in Vater und Sohn auf, die er aus Darstellungen des Kampfes um Troja gekannt haben muß. Der Grund mag neben der Gelegenheit für eine gelehrte Anmerkung auch ein verstechnischer gewesen sein, denn durch die Wahl dieser beiden Namen, die betont jeweils an das Versende gesetzt sind, ließ sich eine wohlklingende Alliteration gewinnen. Wertet man diese Überlegungen für eine Verbesserung des Textes, so ist genau die Mittelposition zwischen den Ausgaben von Ettmüller und Frings/Schieb zu erstellen. Anthenôr, den Ettmüller nach Β und h einsetz97

Als Söhne des Antenor sind bei Homer in der >Ilias< genannt: Agenor, Akamas, Archelochos, Helikaon, Iphidamas, Koon, Laodokos, Laodamas, Demoleon, Pedaios, Polybos; angeführt nach Rupé, Ilias, S. 924.

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te, ist unschwer als der Trojanerfürst dieses Namens zu erklären; in M hat sich sogar die antike, auch von Vergil benutzte Schreibweise Antenor erhalten. Dagegen bleibt Athamas selbst oder gerade durch Behaghels Erklärungsversuch aus den >Metamorphosen< unverständlich, es sei denn, man identifiziert ihn mit dem Antenorsohn Acamas. 98 Und die Lesart aus G, der Leithandschrift von Frings/Schieb, gibt einen Hinweis darauf, daß es sich bei der an Ovids Athamas erinnernden Variante aus Bh um eine Textverderbnis handelt, die wohl weniger Veldekes Unkenntnis als der seiner späteren Abschreiber anzulasten ist." Der Text müßte also, will man sich an die Lesarten der Handschriften halten, zumindest in Acthamas verbessert werden, was die richtige Namensform Acamas noch deutlich anklingen läßt. Identifiziert man die beiden bei Veldeke genannten Helden mit den Trojanern Antenor und Acamas, ließe sich noch eine weitere Unsicherheit in der Uberlieferung erklären. Beiden Helden wird zu ihrer näheren Charakterisierung ein Attribut zugeteilt. Als hovesk wird Acthamas/ Acamas in H, h, und M bezeichnet, Β hat die Variante der chusche. Antenor heißt der wise in H, h, M und B. Der Text, den Ettmüllers Ausgabe bietet, ist damit gut abgesichert: der wîse Anthênôr und der hovesche Athamas. En. ioo, 2 0 - 2 1

Nur eine einzige Handschrift, nämlich G, an der Frings/Schieb sich orientieren, dreht das Verhältnis um: der bobische Athanor Unde der wise Acthamas. Für Ettmüllers Text spricht ein ganz bestimmtes positives Verständnis des Antenor. Während hovesch gewiß für beide Helden eine passende Charakterisierung darstellt, paßt doch das Attribut der wîse besonders gut zu Antenor, der als vornehmer trojanischer Geront zum engsten Kreis des Priamus gehört, als weise und gerecht gilt. Er nimmt die Gesandten der 98

Auch Kartschoke, Eneasroman, S. 781, lehnt Behaghels Herleitung von Veldekes Trojaner Athamas aus Vergils Griechen Acamas (Aen. II, 262) ab. Er beläßt es jedoch ohne Erklärung bei der von Veldeke gesetzten Form: »Woher der - auch noch höfisch genannte - Athamas stammt, ist ungeklärt«. " U b e r dieselbe Verschreibung des Namens im >Troilus< des Albertus Stadensis berichtet Dunger, Die Sage, S. 30. Hier wurde aus Vergils Griechen Acamas ein Adamas. Der Grund liegt wohl in der Unverständlichkeit der griechischen Bedeutung von >Akámas< für >der Unermüdliches die mit der ähnlich klingenden Form >Adamas< für >Edelstein< in einen passenden Heldennamen umgewandelt wurde.

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Griechen in Gastfreundschaft auf und rät zur Rückgabe der Helena, um einen Krieg zu vermeiden. Diese positive Erscheinung ist der Antenor in der homerischen Tradition, die sich bei Vergil, Servius zu Aen. I, 242 und dem römischen Schriftsteller Livius fortsetzt. 100 Auch der griechenfreundliche Dictys weiß das Entgegenkommen eines Trojaners zu schätzen und zeichnet ein durchaus wohlwollendes Bild des Antenor. 1 0 1 Ganz anders schneidet der Trojanerfürst dagegen bei Dares ab, wo er zum Verräter wird, mit den Griechen kollaboriert und nach dem Fall Trojas verschont bleibt und hoch belohnt wird. Diese zwiespältige Figur des Landesverräters, der das Vertrauen seiner Freunde mißbraucht und sie um des eigenen Vorteils willen ins Verderben stürzt, ist also der homerischen Überlieferung ganz entgegengesetzt. Veldekes weiser Antenor erweist sich somit als eine Fortsetzung der homerisch-vergilischen Tradition, die den Antenor als unbescholtene Erscheinung zeichnet, wie dies auch Ovid an der einzigen Stelle tut, an der er den Trojaner erwähnt: accusoque et moveo

Parin praedamque Priamum

Priamoque

Helenamque Antenora

reposco iunctum.

Met. X I I I , 2 0 0 - 2 0 1

Die positive Zeichnung des Antenor bei Heinrich von Veldeke ist aber nicht nur durch die Fortsetzung der vergilischen Linie verständlich, sondern nur dadurch wird auch die Plazierung des Antenor unter die vornehmen Helden in der Unterweltsszene gerechtfertigt. 102 Der Heldenkatalog bei Heinrich von Veldeke, der in der Uberlieferung so manche Unsicherheit bietet, ist, wie gesehen, wenig dazu geeignet, Veldekes Kenntnisse und Benutzung der Ovidischen >Metamorphosen< zu demonstrieren, wie dies noch Behaghel versucht hatte. Allerdings ist es eine der wenigen Stellen, an denen sich Veldekes eigene Kenntnisse der Trojasage und die Integration seines Wissens, das über die Vorgaben des >Roman< hinausgeht, in den Text nachweisen läßt. Neben Antenor und 100 £)j e Stellung des Antenor neben Aeneas in der römischen Urgeschichte spiegelt auch der A n f a n g des Geschichtswerkes des Livius wider: lamprimum omnium satis constat Troia capta in ceteros saevitum esse Troianos, duobus, Aeneae Antenorique, et vetustati inri hospitii et quia pads reddendaeque Helenae semper auctores fuerant, omne ius belli Achivos abstinuisse. Livius, A b urbe condita. B d . I , i. H g . von R . S. C o n w a y und F.Wolters. O x f o r d 1914 (Reprint i960). 101

So z . B . in Buch I, K a p . 1 1 , S. 10, Ζ . 1 8 - 1 9 e d · Eisenhut: [ . . . ] Antenor, cuius de sanctitate morum supra memoravimus [...]. 102 K a r t s c h o k e , Eneasroman, S. 781, schließt sich an Behaghels Erklärung des Antenor bei Veldeke aus Aen. I, 242 an, aus der allerdings der Sinn des Attributes der wîse nicht deutlich wird. Z u r Figur des Antenor cf. die ausführliche Darstellung von Hans Oertel, »Antenor«. Roscher Bd. I, 1 (o. J.), Sp. 3 6 5 - 3 6 7 .

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Acamas nennt Veldeke zusätzlich noch den Priamussohn Troilus (En. ioo, 18), und er weiß auch das Schicksal des Griechen Prothesilaos zu berichten:

[...]

und der junge Protbesilax. den erkunde wol Enêas, wände her der erste was, der vor Troie erschlagen wart.

En. ιοί, 2-5

Auch kennt Veldeke den griechischen Beinamen Alexander, den Paris führt: Ich bin es alles vil gewis, dô Alexander Paris Menelao sîn wîb nam,

[...].

En. 40,17-19

'Αλέξανδρος, so wird bei Homer oftmals Paris bezeichnet, und weder Vergil noch Ovid, wo er dieTrojasage berührt, erwähnen diesen Namen, auch der Dichter des >Roman< nennt den Priamussohn nur Paris. Bewahrt haben allerdings die anderen im Mittelalter wichtigen Darstellungen des Kampfes um Troja die Kenntnis des griechischen Beinamens. In der >Ilias Latina< wird Paris zweimal Alexander genannt, einmal pulcher Alexander (vs. 282), dann noch tristis Alexander (vs. 332). Wie Veldeke nennt Dares den Trojaner mit seinem Doppelnamen Alexander Paris, sonst immer nur Alexander, nie dagegen Paris allein.103 Dictys hat sogar der griechischen Bezeichnung ganz den Vorzug gegeben. Sowohl der Dichter des >Roman< als auch Veldeke haben fundierte Kenntnisse im gesamten Sagenbereich um Troja und Aeneas, die deutlich über die Vorgaben Vergils hinausgehen. Hier fließt wohl Wissen aus den mittelalterlichen Hauptquellen für die Trojasage, aus Dares und Dictys, und wohl auch aus manch anderen Nebenquellen oder Kommentaren ein. Veränderungen im Text der beiden Eneasdichter im Vergleich mit Vergil sind oft durch diesen motiviert, etwa in dem Bestreben, mit Rücksicht auf das Publikum Unbekanntes durch Bekanntes zu ersetzen oder genauer zu erklären.

103

Stellen im Index nominum der Ausgabe von Dederich, S. 96.

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e. Die Büßer im Tartarus α. Tantalus Da Aeneas der Zugang in den Tartarus verwehrt bleibt, schildert ihm die Sibylle die Qualen der dort gefangenen Büßer; sie hatte nämlich diesen Schreckensort schon unter der Führung der Tisiphone - Hecate bei Vergil - zu sehen bekommen. Anzahl und Personenkreis der Büßer haben schon in der antiken Literatur verschiedene Ausgestaltungen erfahren: Tityos, Tantalos und Sisyphos befinden sich seit der homerischen Nekyia in der Unterwelt (Od. XI $6j{{.)·, später wird die Reihenfolge geändert, werden unterschiedliche Genealogien und Orte der Strafen genannt, und andere Namen hinzugefügt. [...] Die Begründungen für die Strafen sind sogar sprichwörtlich geworden. 104 In Vergils Tartarus befinden sich die Titanen, die Aloiden, Salmoneus, Tityus, die Lapithen, Ixion und Pirithous (Aen. V I , 580-601), so daß er mit den Homerischen Büßern nur den Tityus teilt. Geändert hat sich der Büßerkatalog auch in den beiden Eneasromanen gegenüber ihrer lateinischen Vorlage. Der Franzose erwähnt eine Trias, in der neben den Giganten (RdE 2733) und Tityus ( R d E 2739) auch der bei Homer erwähnte Büßer Tantalus (RdE 2748) erscheint. Veldeke bleibt hier ganz seiner französischen Vorlage verpflichtet, wenn er auch die Reihenfolge in Tantalus (En. 104, 16), die Giganten (En. 104, 40) und Tityus (En. 105, 13) ändert. Vergils Text konnte die Anregung dazu gegeben haben, daß der Dichter des >Roman< in seinen Text Tantalus einfügte, denn er übertrug in der >Aeneis< auf Ixion und Pirithous eine Bestrafung, die traditionell mit dem Atriden in Verbindung gebracht wird, einen Felsen, der ständig herabzustürzen droht, und Speisen im Uberfluß, die nicht genossen werden dürfen: quid, memorem Lapithas, Ixiona Pirithoumquef quos super atra silex iam iam lapsura cadentique imminet adsimilis; lucent genialibus altis aurea fulcra toris, epulaeque ante oraparatae regifico luxu; Furiarum maxima iuxta accubat et manibus prohibet contingere mensas exsurgitque facem attollens atque intonai ore. Aen. VI, 601-607

104

Börner, Kommentar, Bd. II. Heidelberg 1976, S. 146-147, aus der Einleitung zu Met. IV, 432-437, Juno in der Unterwelt.

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Die Verbindung zu Tantalus durch diese Qualen hatte schon Edmond Farai gesehen und daraus für den >Roman< gefolgert: Virgile applique ici à ces deux héros les châtiments qui, selon la tradition ordinaire, étaient ceux de Sisyphe et de Tantale. Son traducteur a rétabli le n o m de Tantale, et s'il l'a fait, c'est que le n o m lui était familier, peut-être p o u r l'avoir rencontré f r é q u e m m e n t dans O v i d e . 1 0 5

Nicht korrekt ist Farals Verweis auch auf die Sisyphusqualen, die darin bestehen, daß er einen Felsblock auf einen steilen Berg wälzen muß, ihn aber kurz vor dem Gipfel entgleiten läßt, so daß die Marter von neuem beginnt. 106 Die Strafen, die Vergil im Zusammenhang mit Ixion und Pirithous nennt, sind allein den Tantalusqualen nachempfunden. Nach Farals Argumentation hatte der französische Eneasdichter diese Strafen als ursprünglich zu Tantalus gehörend erkannt und dessen Namen wieder in den Text eingesetzt. Grundlage für diesen Austausch war also zunächst Vergils Vorlage. Schon Servius fühlte sich an Tantalus erinnert und erwähnte zu Aen. VI, 602 auch dessen Qualen: Tantalus autem hac lege apud inferos dicitur esse damnatus, ut in Eridano stans nec undispraesentibus nec vicinis eius pomariis perfruatur. Diese Anmerkung des Servius hatte Anlaß zur Vermutung gegeben, daß auch bei Vergil sich ursprünglich Tantalus unter den Büßern des Tartarus befand wie bei Homer, was aber E. Norden bestritt: Servius kann nichts f ü r die H y p o t h e s e beweisen, denn auch er (zu 602) las quos und b e z o g die Strafen des fallenden Steins auf I x i o n und Pirithous. N u r versucht er dadurch einen A u s g l e i c h mit der vulgären Tradition herzustellen, daß er wenigstens die zweite Strafe, die E n t z i e h u n g der Speisen, v o n Tantalus verstanden wissen will. [ . . . ] Wenn Vergil ihn [sc. Tantalus] hier nicht nennt, so durfte man seine E r w ä h n u n g nicht gewaltsam in den Text bringen, denn die Stationierung des Tantalus unter den B ü ß e r n des Tartarus ist ja sicher nicht das Ursprüngliche.107

Allein die Anregung, Tantalus in seinen Büßerkatalog zu integrieren, mag der Dichter des >Roman d'Eneas< aus dieser Vergilstelle gewonnen haben. Doch sind seine Kenntnisse über die Tantalusqualen sehr genau, was Farai mit den Erwähnungen des Atriden bei Ovid in Verbindung brachte. Farai 105 106

107

Farai, Recherches, S. 115. Cf. Willy Scheurer, »Tantalos«. Roscher Bd. V (o. J.), Sp. 79. Die beiden Strafen waren »der über dem Haupt des Tantalos schwebende und stets niederzufallen drohende Stein, der ihn ewig quälende Hunger und Durst. Von diesen Martern ist zweifellos die erste die ursprünglichere«. Zu Sisyphos cf. den Artikel von Wilisch. Roscher Bd. IV (o. J.), Sp.

958-972·

Norden, Aeneis Buch sechs, S. 285. Tantalus gilt als orphische Interpolation in den Text des Homer; cf. Scheurer, »Tantalos«, Sp. 80.

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ist entgegenzuhalten, daß selbst bei Ovid die Tantalusqualen über kurze Andeutungen nicht hinausgehen. Nicht einmal in den >MetamorphosenMetamorphosen< zweimal die Büßer, einmal im Rahmen der Unterweltsfahrt der Juno (Met. IV, 4 1 6 - 4 1 8 ) , dann noch einmal, als Orpheus den Abstieg ins Totenreich wagt (Met. X , 40-44). Dabei werden jeweils fünf Büßer genannt, Tityus, Tantalus, Ixion, die Beliden und Sisyphus, so daß Ovid mit dem Dichter des >Roman< und Heinrich von Veldeke durch die gemeinsame Erwähnung von Tantalus und Tityus verbunden ist. Die Tantalusstrafen selbst werden zwar in der bei Homer geprägten Form angedeutet, aber nicht wirklich beschrieben: tibi, Tantale, nullae deprenduntur aquae, quaeque imminet, effugit arbor. Met. IV, 4 5 8 - 4 5 9

nec Tantalus undam captavit refugam, stupuitque Ixionis orbis. Met. X , 4 1 - 4 2

Doch ist es gerade eine ausführliche Schilderung der Tantalusqualen, die man in den beiden Eneasromanen findet. So weitet schon der Franzose die Passage deutlich aus, d.h. sollte er wirklich hier Ovid als Quelle verwendet haben, so verfügte er über zusätzliche Kenntnisse, die die Ovidischen Vorgaben übertreffen: Enmi une eue est Tantalus; jusqu'à la gole de desús li dependent li chargié raim, de seif se desve et de faim, ne de l'eue puet goster, ne des pomes une adeser. R d E 2747-2757

Noch ausgefeilter gerät die Darstellung der Tantalusqualen bei Heinrich von Veldeke: 108

Die Angaben, die Farai, Recherches, S. 115, Anm. 3, zu Ovids Erwähnungen des Tantalus macht, sind weder vollständig noch korrekt. Von den insgesamt sieben Stellen, die R. Defferrari e.a., A concordance of Ovid. Washington 1939, angeben, betreffen die Qualen außer den zitierten Stellen aus den >Metamorphosen< nur folgende kurze Erwähnungen: Am. II, 2, 43—44: quaerit aquas in aquis et poma fugada captat/Tantalus. Am. III, 12, 30: proditor in medio Tantalus amne sitit. A A II, 605-606: o bene, quod frustra captatis arbore pomis/garrulus in media Tantalus arret aqua.

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dà inne sitzet ouch Tantalûs in eime wazzer unz an die kelen und mûz iedoch vor dorste quelen, swie her in dem wazzer sì daz sînem munde is vile bi und im sô nâhen flûzet: des her doch niht genûzet. vor hunger lîdet her grôze nôt,

[...]

im hanget vor sînem munt ephel und ander spîse, und aiser vile lise mit dem munde hin nach vât, sô verre ez hin dane gât, daz hers gewinnen niene mach. E n . 104, 1 6 - 3 5

Ein Detail macht deutlich, daß Veldeke hier nicht nur die Vorgaben des Franzosen aufschwellt, 1 0 9 sondern wirklich neue Informationen einbringt und so seiner Darstellung Ähnlichkeit mit der Homerischen verleiht. 1 1 0 Lediglich an der französischen Vorlage orientiert ist die Erwähnung des quälenden Durstes, den Tantalus nicht zu stillen vermag, obwohl er bis zur Kehle im Wasser steht. U b e r den >Roman< hinausgehend beschreibt Veldeke den eigenartigen Mechanismus der obstbeladenen Aste, die vor dem Gesicht des Atriden hängen, aber sofort in unerreichbare H ö h e entgleiten, sobald er danach greift. Sowohl der >Roman< als auch Heinrich von Veldeke sind somit bestrebt, ihre jeweilige Vorlage zu erweitern. Entsprechendes zeigt schon eine ältere deutsche Behandlung derTantalussage, die N o t k e r I I I . an das Orpheusgedicht bei Boethius anknüpfte. Auch Boethius erwähnt als topische Elemente einer Unterweltsschilderung die B ü ß e r : non Ixionum caput velox praecipitat rota

109

Nicht zustimmen kann ich Kartschokes Urteil, Eneasroman, S. 782: »HvV [sc. Heinrich von Veldeke] übersetzt hier freilich mehr oder weniger wörtlich R d E 2448ff«.

110

O d . X I , 5 8 2 - 5 9 1 : Auch den Tantalos sah ich dort innen in schwieriger Lage; er stand doch im Wasser, das gerade ans Kinn ihm noch reichte. Immer dann, wenn der Alte sich bückte, begierig zu trinken, zog sich das Wasser zurück. [...] Früchte hochgewipfelter Bäume umhingen den Scheitel [...]: aber so oft, mit der Hand sie zu fassen, der Alte sich reckte, schnellte der Wind sie empor in wolkenbeschattete Höhen. Zitiert nach: Homer, Odyssee. Mit Urtext, Anhang und Registern. Ubers, von Anton Weiher. 7. Auflage. München 1972.

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et longa site perditus spernit flumina Tantalus. Cons. Phil. Ill, m. XII, 3 4 - 3 7

Auf zwei Verse beschränken sich die Vorgaben des Boethius, doch ehe Notker darauf eingeht, bespricht er, wie es zu der Bestrafung des Tantalus kam : Onde dérfóre dürste erchéleto tantalus, tér nerúochta dó des uuázzeres. Tér gáb sínen sún pelopem fúre frisking zeézene diis et deab us. zebesúochonen íro divinitatem. Erst dann wendet er sich den Versen des Boethius zu, bewertet aber zugleich die Bestrafung des Frevlers: be diu stúont er dúrstegér. in demo uuázzere. únde nemáhta sih is tóh nio getrénchen. Tér gotes chórot. temo nesól báz keskében.111 Nicht nur aus den einführenden Worten und der Wertung geht hervor, daß Notker nicht übertragen, sondern erklären will. Wo Tantalus bei Boethius sein vergebliches Bemühen unterbricht, um dem Gesang des Orpheus zu lauschen {spernit flumina vs. 37), Boethius also den Ausnahmezustand beschreibt, stellt Notker die Grundsituation dar, daß Tantalus durstig im Wasser steht, aber nie seine Qualen erleichtern kann, weil das Wasser für ihn unerreichbar bleibt. Notkers Vorgehen trägt deutlich den Anforderungen des Unterrichts Rechnung, der diese Erläuterungen für ein adäquates Textverständnis notwendig machte. Die Vorlage gab Notker zwar die Anregung zu dieser Ausführung, doch wurden dazu offensichtlich Kenntnisse aus anderen Quellen, etwa Kommentaren oder mythologischen Handbüchern herangezogen. Aus dem Publikumsbezug wird man auch die Ausweitung der Tantaluserzählung gegenüber Ovid bei den beiden Eneasdichtern erklären müssen. Für eine gewisse Popularität des Büßers und seiner sprichwörtlichen Qualen im 12. Jahrhundert zeugt auch seine Erwähnung im >Guillaume d'AngleterreRoman< und Heinrich von Veldeke nur erfahren, daß es sich bei dem Gott um einen geflügelten Knaben handelt. Als wichtige Informationsquelle für mittelalterliche Mythenkenntnisse erweist sich dagegen immer wieder Servius, der zu Aen. I, 663 ausführt: Puer pingitur [...] quia imperfectus est in amantibus sermo, sicut in puero [...]. alatus autem ideo est, quia amantibus nec levius aliquid nec mutabilius invenitur, ut in ipsa probatur Didone; [...] sagittas vero gestare dicitur, quia et ipsae veloces sunt.

Die Darstellung des Servius hat Eingang gefunden in die Sammlung der >Mythographi Vaticani und auch bei Isidor von Sevilla, der in dem Kapitel »De diis gentium« seiner >Etymologiae< zu Cupido anmerkt: 192 Cupidinem vocatum ferunt propter amorem. Est enim deus fornicationis. Qui ideo alatus pingitur, quia stultus est et irrationabilis amor. Sagittam et facem tenere fingitur. Sagittam, quia amor cor vulnerai; facem, quia inßammat. Etym. VIII,11,80

Theodulf, der schon in karolingischer Zeit auch Ovid seiner tiefen Wahrheit wegen der integumentalen Deutung für würdig befand, führte in seinem Gedicht >De libris quos legere solebam< eine allegorische Auslegung des antiken Liebesgottes durch, die in ihrer Ausführlichkeit noch über Servius hinausgeht: Fingitur alatus, nudus, puer esse Cupido, Ferre arcum et pharetram, toxica, tela, facem. Quod levis, alatus, quod aperto est crimine, nudus Sollertique caret quod ratione puer. Mens prava inpharetra, insidiae signantur in arcu, Tela, puer, virus, fax tuus ardor, Amor [...]. De libris 33-39

Deutlich ist, daß in der Tradition über Servius, Isidor und Theodulf vor allem die negativen und irrationalen Züge des Amor als daemon moechiae (Theodulf vs. 49) hervorgehoben werden. Die Auslegung wird so zum Spiegel einer antipaganen Intention der christlichen Interpreten. Als Beispiel für die unterschiedlichen Interpretationen derselben Sache sei hier die Nacktheit des Gottes angeführt. Theodulf sieht darin einen Ausdruck der Schlechtigkeit, quod aperto est crimine (vs. 3 5); ein anonymer Dichter, 192

Zitiert nach: Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri X X . T. I, libros I - X continens. Hg. von W. A. Lindsay. 2. Aufl. Oxford 1957.

116

der in den >Carmina Burana< ein ausführliches Gedicht mit der Beschreibung des Amor hinterließ, preist ganz in antiker Manier den Gott als Schöpfer der Liebe und deutet deshalb : nudus ornatur, quia nil est, quo teneatur (CB 154, 4). Ovid schließlich, wo er auf die nuditas des Liebesgottes eingeht, macht sie zum Sinnbild eines amor purus, der sich selbst genügt und nicht auf Geld und Geschenke aus ist: et puer est nudus Amor, sine sordibus annos / et nullas vestes, ut sit apertus, habet (Am. I, 10, 15). Auf dem Hintergrund dieser Tradition ist die Amorbeschreibung im >Roman< und bei Heinrich von Veldeke zu sehen. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, daß die beiden Eneasdichter ganz andere Attribute an Amor hervorheben, sondern auch daß ihre Allegorese frei ist von jeglichen negativen Äußerungen gegen den antiken Liebesgott. Der Grund dafür liegt zum einen in der Intention der Deutung, die nicht einen antiken Gott als Dämon entlarven, sondern auf der Ebene der Handlung einem unerfahrenen Mädchen und darüber hinaus einem interessierten Publikum das Wesen der Liebe vermitteln will, zum anderen in der benutzten Vorlage. Amor im >Roman< und bei Heinrich von Veldeke trägt einen Gold- und einen Bleipfeil in der einen und eine Salbenbüchse in der anderen Hand. Es war Edmond Farals Verdienst, zumindest was die Pfeile betrifft, Ovids >Metamorphosen< als Quelle ermittelt zu haben. 193 Dies ist nicht nur ein weiterer Beleg für die enge Verbindung des französischen Eneasdichters mit Ovid, sondern auch für seine immer wieder feststellbare Benutzung antiker Originalquellen, die er weitgehend unangetastet läßt. Man muß dies umso mehr betonen, als die von Karl Bartsch gesammelten Belegstellen für Amor in der mittelhochdeutschen Literatur, 194 abgesehen von Heinrich von Veldeke, nichts mit Ovids >Metamorphosen< zu tun haben, sondern auf eine von der antiken Tradition längst abgelöste Verwendung bzw. auf die Benutzung der oben zitierten Grammatiker verweisen. Das belegt u.a. der von Bartsch angeführte Notker, 1 9 5 der zu Cupido erklärt, daß man ihn nacheten malet, wanda er deus Cupidinis ist. Im ersten Buch der >Metamorphosen< erzählt Ovid die Geschichte vom Streit zwischen Apoll und Cupido, der sich an den Waffen des Liebesgottes entzündet. Der Agon der beiden Götter gestaltet sich zu einem Spiel um die Metapher von der Liebe als Jagd. Apoll, soeben als Sieger über das Untier Python hervorgegangen, macht sich über den mit Pfeil und Bogen 193

Farai, Recherches, S. 144. "·» Bartsch, Albrecht, S. X L V I I I - L I I I . 195 Bartsch, Albrecht, S. X L I X . IT 7

bewehrten Liebesgott lustig. Diese Waffen beansprucht Apoll für sich, während er Cupido allein die Fackel zugestehen will: >quid< que >tibi, lascive puer, cum fortibus armisi< dixerat. >ista decent umeros gestamina nostros.< [···]

>tuface nescio quos esto contentus amores imitare tua, nec laudes adsere nostras.< Met. I, 4 5 6 - 4 6 1

Als Demonstration seiner Waffentüchtigkeit, zugleich aber auch als Rache an Apoll wählt Cupido aus seinem Köcher zwei Pfeile mit unterschiedlicher Wirkung, die sich in deren Beschaffenheit widerspiegelt, aus: eque sagittifera prompsit duo tela pharetra diversorum operum: fugat hoc, facit illud amorem. quod facit, auratum est et cuspide fulget acuta; quod fugat, obtusum est et habet sub harundine plumbum. Met. I, 4 6 8 - 4 7 1

Apoll, vom Goldpfeil getroffen, entbrennt in Liebe zu der Nymphe Daphne; diese ist dagegen vom Bleipfeil des Cupido verwundet und will von Apolls Liebe nichts wissen (Protinus alter amat, fugit altera nomen amantis. Met. I, 474). So muß sich der Pythonüberwinder Apoll dem Liebesgott geschlagen geben, er wurde vom Jäger zum gejagten Opfer und jagt nun selbst vergeblich der fliehenden Nymphe nach. Um sich Apoll zu entziehen, läßt Daphne sich in einen Baum verwandeln, und nur dadurch kann Apoll seiner Liebe Ausdruck verleihen, daß er den Lorbeerbaum als ihm heilig erklärt. Die in der Literatur vielfach rezipierte Geschichte von der unglücklichen Liebe zwischen Apoll und Daphne 196 hat sich der Dichter des >Roman< schon sehr früh zunutze gemacht, freilich nur in ihrer Vorgeschichte, als er den Liebesgott mit seinen unterschiedlich wirkenden Pfeilen in den Eneasroman übernahm. Von der materiellen Beschaffenheit ist die Opposition von Gold und Blei geblieben, nicht hat der Franzose und mit ihm Veldeke die unterschiedliche Beschaffenheit >spitz< bzw. >stumpf< der Pfeilspitzen übernommen, doch klingt Ovids Fügung diversorum operum noch deutlich in der Formulierung amer diversement des Franzosen an. 197 Die Wirkung der Pfeile, facere/fugare amorem, hat der 196

1,7

Eine Zusammenstellung findet sich bei Yves F.-A. Giraud, La fable de Daphne. Essai sur un type de métamorphose végétable dans la littérature et dans les arts jusqu'à la fin du XVIIe siècle. Genf 1969. Auf diesen Zusammenhang wies zuerst Farai, Recherches, S. 144, hin. Zur Verteidigung dieser Interpretation cf. Dittrich, Eneide, S. 312. 118

Dichter des >Roman< mit amer und hair (RdE 8169) wiedergegeben, was Veldeke wörtlich als lieben und hazen (En. 265, 2) übersetzte.198 Mit dem Rückgriff auf diese Beschreibung des Liebesgottes im ersten Buch der >Metamorphosen< hat der Franzose hinsichtlich der Pfeile nicht nur Ovids Vorgaben sehr genau übertragen, sondern er hat auch eine ganz besondere Funktion des Cupido damit aufgenommen, die sich bei Ovid aus dem Kontext ergibt. Cupido ist in der antiken Literatur wie auch sonst bei Ovid der Liebeserreger, seine Aufgabe ist es, Liebe zu schaffen, dagegen nicht, sie zu verhindern. In den >Metamorphosen< ergibt sich diese Funktion aus der Rache an Apoll, sie verleiht aber dem Liebesgott dadurch besondere Gewalt, daß er nicht nur über die Liebe, sondern auch über die gegenteilige Empfindung verfügt und autokratisch beides verhängt. Darauf gründen sich seine Macht und sein Herrschaftsanspruch: Beide Prinzipien der Liebe stammen von einem Gott, aus einem Köcher. Diese Nähe der sich gegenüberstehenden Lebensauffassungen charakterisieren die Macht Amors als unüberwindlich. Durch sie wird Apoll zum ungeliebten Liebhaber und Daphne zu einer Nacheiferin der Diana, ohne daß Gott oder N y m p h e eine Wahl treffen können oder von der Natur für ein solches Geschick bestimmt sind. Die Unmöglichkeit, die durch den Schuß geschaffene Polarität aufzuheben, macht die Ohnmacht in der Liebe als ein Phänomen des Seins transparent. 1 9 9

Daß der überaus gelehrte und vor allem mit Ovid vertraute Dichter des >Roman< ausgerechnet diese Stelle aus den >Metamorphosen< auswählte, um zu verdeutlichen, was Liebe ist, verdient sicher Beachtung. Wirkung übt dann im französischen wie im deutschen Eneasroman nur der goldene Pfeil aus, denn Lavinia und Aeneas werden beide von ihm verwundet und lieben sich. Der bleierne Pfeil hält aber das antagonistische Prinzip der Liebe dennoch aufrecht, da die Angst vor fehlender Gegenliebe stets präsent ist und erst in der sicheren Vereinigung des Liebespaares in der Hochzeit aufgehoben wird. Diese Angst ist umso quälender, als Liebe in den Eneasromanen sich als eine Krankheit zum Tode auswirkt und fehlende Gegenliebe somit einer Katastrophe gleichkommt. Ovids Amor aus den >MetamorphosenRoman< und Veldeke zu einem Kultbild im Tempel umgestaltet, ist jedoch weit mehr 198

Daß die Wirkung der Pfeile darin besteht, Liebe zu schaffen bzw. sie zu verhindern, ist bei Ovid klar und wird auch im >Roman< und bei Veldeke nicht verändert. Monica Schöler-Beinhauer bezieht das Adverb diversement nicht auf amer, sondern auf faire und übersetzt vss. 7980-7981: »[...] der andere aus Blei, welcher auf andere Art Liebe hervorruft«. Der Sinn der Stelle im >Roman< ist in dieser Übertragung völlig entstellt. 199 Jutta Wulf, Die ovidische Daphne und ihre Rezeption in der englischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. Frankfurt 1987,8.17. II9

als nur ein Hilfsmittel für die Ausführungen der Amata. Die von Ovid dadurch geprägte Liebesauffassung hat ganz stark auf die mittelalterlichen Nachdichter des Vergil gewirkt. Die Liebe zwischen Apoll und Daphne ist im Grunde genommen undramatisch. Sie beruht nicht auf komplizierten seelischen Vorgängen wechselseitiger Bestimmung und persönlicher Wahl, sondern sie wird diktatorisch durch eine höhere Macht verhängt. Glück oder Unglück in der Liebe ist somit eher eine Gabe des Schicksals als ein Resultat des persönlichen Einsatzes. Die beiden Eneasdichter haben das ganz im Ovidischen Sinne übernommen, und somit wird die kurze Andeutung der Freiheit in der Liebe, als Lavinia von ihrer Mutter aufgefordert wird, sich ihren Bräutigam frei zu wählen, ad absurdum geführt. Liebe im Bild des Pfeilschusses bedeutet auch ein sofortiges, mit aller Macht hereinbrechendes Gefühl, das kein allmähliches Anwachsen oder gar verschiedene Abstufungen in der Intensität der Liebe zuläßt. Der Gold- und der Bleipfeil verdeutlichen, daß in der Liebe nur die Extreme möglich sind. Wie sehr unterscheidet sich davon Didos Liebe zu Aeneas bei Vergil. Gerade nicht der Pfeilschuß, sondern Amors persönliches Eingreifen läßt die Liebe entstehen. Dido war durch den Treueschwur an Sychaeus gebunden, deshalb muß sie vergessen, ehe ihr Herz den neuen Gefühlen offensteht. [...] So war denn bei ihr eine plötzliche Überrumpelung durch den Pfeilschuß des Eros, wie dies neben vielen anderen Apollonios geschildert hat, nicht am Platze. Virgil schließt sich hier der hellenistischen erotischen Technik an, indem er die überwältigende Liebe durch ein persönliches Eingreifen Amors symbolisiert. 200

Ovids protinus (Met. I, 474) in der Liebe steht Vergils paulatim (Aen. I, 620) gegenüber, dem auch der Aufbau der >Aeneis< gehorcht, denn dem Wirken der Liebe wird Zeit gegeben. Ihre Entstehung durch den Kuß des Amor/Ascanius fällt vor den langen Bericht des Aeneas vom Fall Trojas und seinen Irrfahrten, und jedes seiner Worte dient dazu, Dido in ihrer keimenden Liebe zu bestärken. Hier zeigt sich auch, wie sinnvoll das Bild vom Gift der Liebe bei Vergil gewählt ist, das erst eine gewisse Zeit braucht, um sich zu entfalten, von dem man aber mit jedem Schluck mehr in sich aufnimmt bis hin zu einer tödlichen Dosis:

200

Heinze, Virgil, S. 1 2 3 - 1 2 4 .

120

nec non et vario noctem sermone trahebat infelix Dido longumque bibebat amorem multa super Priamo rogitans, super Hectore multa. Aen. I, 748-750 Danach ist Didos Widerstand gebrochen. Bei Vergil setzt das vierte Buch damit ein, daß Dido nach einer schlaflos verbrachten Nacht sich ihrer Schwester Anna offenbart und von dieser darin Bestärkung erfährt, der Liebe zu Aeneas nachzugeben. Durch die Kompilation von Vergil mit Ovid ergaben sich im >Roman< auch zwei konkurrierende Konzeptionen von Liebe, einmal die Vorstellung einer Liebe, die sich erst allmählich aufbaut und in verschiedenen Intensitätsgraden vorhanden ist, dann aber die Lehre, daß Liebe ganz oder gar nicht vorhanden sei und daß sie immer prompt einsetze. Heinrich von Veldeke griff deutlich harmonisierend in diesen aus der Benutzung zweier unterschiedlicher Vorlagen entstandenen Widerspruch ein. E r näherte die Didoepisode an die Laviniaepisode an, indem er den Liebeszauber an einen einzigen Kuß der Venus band, der dann entsprechend dem Pfeilschuß des A m o r wirkt, nämlich sofort und in voller Wirkung. Für Veldeke gehörten ganz offensichtlich diese Merkmale unbedingt zu seiner Auffassung von Minne, denn seine Dido unterliegt unverzüglich den krankhaften Auswirkungen, die der Dichter des >Roman< wie Vergil erst nach dem Gastmahl beschreibt ( R d E 1 2 0 1 - 1 2 0 ) , also erst nachdem das Gift eine Zeitlang wirken konnte: in korzer stunde wart sie rôt, dar nach schiere varios: ir was heiz unde sifrôz. En. 39,10-12 Veldekes Minnekonzeption ist somit in sich stimmiger, denn beide Episoden spiegeln die Liebe gemäß den theoretischen Ausführungen von Lavinias Mutter wider, wonach die Liebe als ein überwältigendes Gefühl gleichsam durch eine höhere Macht verordnet von außen den Menschen überfällt. Die Liebe ist deshalb bei Veldeke auch dort ovidisch, w o sie nicht direkt aus Ovid gewonnen ist. Muß man die Eigenleistung des Franzosen darin sehen, daß er in Ovid die ideale Ergänzung fand, w o Vergil nichts Entsprechendes bot, so liegt Veldekes Leistung in dem Versuch, die unterschiedlichen Minnekonzepte seiner französischen Vorlage zu einem nach Theorie und Praxis stimmigen Konzept zu harmonisieren.

121

b. Die Situation: Ovids Scyllaerzählung als Modell der Laviniaminne Die im Bereich der mythologischen Erweiterungen feststellbare Benutzung der >Metamorphosen< setzt sich auch in den Minneepisoden fort. Nicht nur der mit dem Gold- und dem Bleipfeil bewehrte Cupido ist aus Ovids Sagengedicht übernommen, sondern der Dichter des >Roman< bildete auch die Liebesgeschichte zwischen Lavinia und Aeneas nach einer Erzählung aus den >MetamorphosenAeneis< wurde um die Liebesthematik erweitert. Daß man Ovidische Liebesgeschichten als exemplarisch empfand und sie für ganz andere Situationen als Modell benutzte, dafür sind nicht nur die Eneasromane ein Beleg. Enite bei Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue trägt das Bild des babylonischen Liebespaares Pyramus und Thisbe auf ihrer Satteldecke : 2 0 2 ze guotem aneblicke was dar an entworfen sus wie Tispê und Pîramus, betwungen von der minne, behert rehter sinne, ein riuwic ende nâmen, dô si zem brunnen kämen.

Erec 7707-7713

201

202

Den stilistischen Unterschied zwischen Ovid und den Eneasdichtern hat gerade an dieser Szene Erich Auerbach, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern 1958, S. 1 5 8 - 1 6 2 , dargestellt. Hartmann von Aue, Erec. Hg. von A. Leitzmann, fortgef. von L. Wolff. 6. Aufl. von C . Cormeau und K. Gärtner. Tübingen 198 5.

122

Das ist nicht nur Zierrat, sondern ein sprechendes Wappen, das Enite als eine zweite Thisbe ausweist. Wie die Babylonierin wollte sie sich nämlich angesichts des vermeintlich toten Erec in das Schwert des Geliebten stürzen, wobei die Anrede der Waffe und die Geste genau auf ihre Ovidische Vorgängerin verweisen (Erec 6060-6114). Doch bleibt Erec und Enite dann das riuwec ende erspart. Tristan und Isolde, unter einer Liebe leidend, die nicht sein darf, singen von Phyllis, Canace, Byblis und Dido (Tristan 17186-17203), die dieses Schicksal mit ihnen teilten. 203 Die Liebessituationen bei Ovid präfigurieren gewissermaßen den Handlungsrahmen, der dann in den mittelalterlichen volkssprachlichen Romanen in neuen Kontexten nachgestaltet wird; doch geht dies weit über die rein stoffliche Anleihe, die bloße Imitation der Situation hinaus. 204 In Ovids Liebesgeschichten dominieren die Frauen, und oft wird das Unmögliche beschworen, ein Skandal, der Ehebruch, der Inzest - oder die Liebe zu einem Feind. 205 Die Liebe aus der Perspektive der Frau zu schildern ist im Gegensatz zum antiken heroischen Epos in den mittelalterlichen Romanen kein Gebot der Gattung, es geht gerade darum, daß sich auch der Mann ganz dem Diktat der Liebe beugt. Allerdings bleiben Lavinia wie Ovids Scylla der Vorrang und die Initiative vorbehalten. Lavinia im >Roman< und bei Heinrich von Veldeke ist dann doch weniger dreist als ihre Ovidische Vorgängerin, sie geht nicht ins Lager, um Aeneas ihre Liebe direkt zu gestehen, sondern schreibt dem Geliebten in betont wohlgesetztem Latein einen Brief. Der Brief mag als die einzige Möglichkeit erscheinen, die räumliche Distanz zwischen Aeneas und Lavinia zu überbrücken, doch markiert er auch einen großen stilistischen Unterschied zu Vergil. In der >Aeneis< kommt es nicht einmal zwischen Dido und Aeneas zu einer direkten Aussprache und zu einer Äußerung ihrer Gefühle. Vergil weicht auf indirekte Formen der Darstellung durch Beschreibungen und Vergleiche aus, weil er eine Psychologisierung vermeiden will. Die grundsätzlich andere Einstellung zum Artikulieren seelischer Vorgänge bei seinen mittelalterlichen Nachdichtern zeigt die zentrale Rolle des an Ovid geschulten Liebesmonologs. Wie der Monolog entsteht auch der Liebesbrief aus der Fähigkeit und dem dringenden Bedürfnis, die Verwirrung der Gefühle durch die Liebe auszudrücken. Uber den Monolog hin203

204

205

Gottfrieds von Straßburg >Tristan< wird im folgenden nach der von Peter Ganz besorgten Ausgabe, Wiesbaden 1978, zitiert. Der Unterschied zwischen der Rezeption Ovidischer Geschichten bei den mittelalterlichen Grammatikern und Dichtern ist herausgearbeitet bei J . R. Collins, Ovidian stories in medieval vernacular narrative poetry. Diss. Stanford/Cal. 1976. Cf. Farai, Recherches, S. 1 2 6 - 1 3 3 .

!23

aus ist der Brief als bewußter Appell an den geliebten Menschen zu verstellen, er will wie Schmeicheleien und Geschenke den Weg zu seinem Herzen öffnen und wahrt dabei stets das Geheimnis der Liebe, das bei einer Vermittlung durch einen Diener oder eine Kupplerin durch deren Mitwisserschaft bedroht ist. So gehört das Abfassen von Liebesbriefen zum unbedingten Repertoire der Verführungskünste in Ovids >Ars AmandiRoman< und bei Veldeke spielt Lavinia immerhin noch mit dem Gedanken, zu wagen, was Ovids Scylla tat, so daß sich hier wörtliche Anklänge an die >Metamorphosen< finden: impetus est illi, liceat modo, ferre per agmen virgíneos hostile gradus, [...] vel si quid Minos aliud velit. Met. VIII, 38-42 Das Motiv erscheint dann in etwas abgewandelter Form in den Eneasromanen, denn Lavinia grämt sich wegen ihrer Zweifel an der Liebe des Aeneas und ist bereit, als Buße einen Gang ins Lager zu wagen oder sonst eine Demütigung auf sich zu nehmen. Auffällig ist, daß Veldekes Lavinia ihren Gedanken sofort mit Rücksicht auf ein höfisches Benehmen wieder abschwächt: Bels dolz amis, se vos plaiseit, nuzpiez ireie a vostre tref; molt me sereit buen et soef, se traireie mal ne dolor. RdE 9220-9223

mit minen baren fûzen woldich ze sime gezelde gân, ne dûhtez nieman missetân und hete ich min selber gewalt. En. 305,4-7

c. Liebessprache und Waffenmetaphorik Mit den Waffen des Cupido wurden nicht nur die Requisiten zur Erklärung, wie die Liebe entsteht, übernommen, sondern es leitet sich daraus die

206

Zum Austausch von Liebesbriefen, sog. tabellae, cf. Am. I, 11 und I, 12.

124

gesamte Auffassung der >Liebe als Krankheit und Verwundung des Herzens< und damit zugleich die formenreiche Metaphorik, die sprachlich aus dieser Vorstellung hervorwächst,207 ab. Es ist die Vorstellung des Liebeskrieges, die in den Eneasromanen dominiert, und zwar noch durchaus in der Prägung, wie sie in der antiken Poesie, vor allem bei Ovid, zu finden ist, als Krieg der Liebesgottheiten gegen den Menschen. 208 Von der Liebeswunde spricht zwar auch Vergil (vulnus alit Aen. IV, 2), doch treten bei ihm die Liebesgottheiten nie mit ihren Waffen in Erscheinung. Der französische Eneasdichter fügte dann in der Laviniaepisode Ovids Cupido mit seinen beiden unterschiedlichen Pfeilen aus den >Metamorphosen< hinzu, den er konsequenterweise im Zusammenhang mit Dido nie erwähnte. Veldeke verhalf den waffentragenden Göttern zu noch stärkerer Präsenz, da er sie auch bei Dido erscheinen ließ, Cupido zusätzlich mit der Liebesfackel versah und sogar Venus zu einer kriegsführenden Gottheit machte: dò quam der hère Cupido mit sîner vakelen dar zû und habet ir späte undefrû daz fur e an die wunden. En. 39,2-5

dò schôz sifrouwe Vênûs mit einer scharphen strale, En. 267, 24-2 5 mit dem heizen füre brennet mich frou Vénus. En. 269, 23-24

Das Handwerk des Liebeskriegs ist in der antiken Literatur vor allem eine Angelegenheit des Amor, Venus spielt als Kriegerin nur eine untergeordnete Rolle. 2 0 9 Häufig begegnet man der Venus in Waffen, abgesehen von Veldeke auch in der Vagantenlyrik, wie z . B . ein Gedicht aus den >Carmina Burana< zeigt: [...] Venus, que est et erat, tela sua proférât in amantespuellas! CB 148, 2a [...] Venus schivzet iren bolz, Uenus schivzet iren bolz, Uenus schivzet iren bolz! CB 148a, 2 207

Kolb, Begriff, S. 293. Cf. zu Veldeke Kohler, Liebeskrieg, bes. S. 86. 209 So z. B. bei Ovid A A II, 379: laesa Venus iusta arma movet telumque remittit. 208

125

Den Schritt von der waffentragenden Venus zur waffentragenden Frau Minne hat erst Walther von der Vogelweide vollzogen; es »gehört zu den Motiven, die Walther allein der Vagantenlyrik verdankt«. 2 1 0 Doch selbst die Vorstellung von den Liebespfeilen der geliebten Frau, die man ebenfalls als Schöpfung Walthers anführt (si sach mich nicht, dò si mich schôz. 54, 2 3 2 1 1 ) , ist in den Eneasromanen durch die Situation vorweggenommen. Allerdings verliert die im >Roman< so reizvoll ausgestaltete Spottrede der Trojaner in Veldekes Übertragung das sublime Spiel um die Metapher vom Liebespfeil. Aeneas' Gefolgsleute, wohl wissend, daß ein Liebespfeil mehr Unheil anrichtet als jeder feindliche Angriff, warnen ihren Herrn vor Lavinias Blicken, die sie ihm vom Turm aus zuwirft: 'Sire, font il a lor seignor, veez, molt est bele la tor,

H

mais il s'i esta uns arcbiers ki molt traireit ca volontiers. Sire, d'car vos traiez en sus que il ne traie a vos cajus.< Un poi s'en sozrist Eneas, ki entendí molt bien lor gas,

[...].

RdE 9241-9255

lachende sprach ein Trojan, des hêren Ênêases man [...] >dar is etwer innen, her st junk oder alt, heter die horch in sîner gewalt, her gewunne üch schiere drin, mich ne triege min sin.< Dô lachete hêr Ènêas und markte, daz es sin spot was, dô sis worden gewar. En. 305,37-306, 15

Die reiche Metaphorik des Liebeskrieges in den mittelalterlichen Romanen geht weit über das hinaus, was sich bei Vergil oder aus der vom >Roman< herangezogenen Stelle der >Metamorphosen< gewinnen ließ. Vielmehr tritt hier eine gründliche und detaillierte Kenntnis von Ovids elegischen Dichtungen zu Tage, der >AmoresHeroidenArs Amandi< und der >Remedia AmorisMetamorphosen< vorkommt, kehrt die Vorstellung vom Liebeskrieg in fast stereotypen Wendungen im Gesamtwerk Ovids wieder, vor allem aber in den elegischen 2,0 211

212

Kohler, Liebeskrieg, S. 83. Zitiert nach: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. 13., aufgrund der 10. von Carl von Kraus bearb. Aufl., neu hg. von Hugo Kuhn. Berlin 1969. Cf. Kap. B.I. »Entwicklung der Ovidstudien«.

126

Dichtungen der Jugendzeit. Man muß hier wohl auf einen gewissen Geist ovidischer Liebesauffassung verweisen, ohne sich immer genau auf eine Stelle berufen zu können. Exemplarisch findet sich diese Liebesauffassung bei Ovid in den Gedichten I, 2 und I, 9 der >Amores< wiedergegeben. Amor ist ein grausamer Feldherr (possesso· feraspectora versât Amor Am. I, 2, 8), der alle Liebenden gefangennimmt (ducentur capti iuvenes captaeque puellae Am. I, 2, 27), sie gefesselt hinter seinem Triumphwagen herschleppt und von ihnen die bedingungslose Unterwerfung fordert (nil opus est bello: veniam pacemque rogamus Am.I, 2, 21). Die Bona Mens wird ebenfalls in Ketten gelegt, dafür erhalten die Blanditiae, Error und Furor freien Lauf: his tu militibus superas hominesque deosque (Am. I, 2, 37). Umgekehrt ist der Liebende ein Soldat im Dienst des Amor (Militât omnis amans, et habet sua castra Cupido Am. I, 9, ι), er muß schwerste Arbeit leisten und trägt deutliche Zeichen seines entbehrungsvollen Lebens. 213 Die Vorstellung eines Kriegsdienstes unter dem Joch der Liebe mußte mittelalterlichem Lehnsdenken sehr entgegenkommen, und in der Bearbeitung der >Aeneis< durch den Franzosen ist der Liebeskrieg mehr als nur eine Metapher, denn der Dienst in Liebe und Krieg, für Venus und Mars, werden zu gleichwertigen Bewährungsproben des vorbildlichen Helden. Doch gibt es hinsichtlich der Ausgestaltung des Liebeskrieges deutliche Unterschiede zwischen dem >Roman< und Heinrich von Veldeke. Der Franzose verwendet in immer wieder neuen Variationen und mit wörtlichen Anklängen an das entsprechende Material bei Ovid das Bild des grausamen Feldherrn Amor. Der Liebesgott bestürmt die Liebenden (l'amor molt assalt RdE 1418) und verwundet sie mit seinen Waffen (molt l'angoissot li feus d'amor RdE 1271 / Amors l'a point [...] del dart RdE 8168 / por lui l'a molt Amors navreé RdE 8065); Amor unterwirft die Liebenden völlig und läßt keine Gegenwehr zu (amors [...] la teneit en sa baillie RdE 8457-8458 / Cupido [...] m'a conquise RdE 8630-8631 / vos nepoez encontre amor RdE 1373); der Liebesgott zwingt die Liebenden in seine Gefolgschaft (bien deis estre de sa maisniee RdE 7993 / molt amereies son servise RdE 7995 / bien l'a Amors mise en sa taille RdE 8078).214 Nicht weit ist es von der Vorstellung der Liebe als Krieg zu der der Liebe als einer Jagd, denn beide Male geht es um die Liebenden als Opfer. So legt Amor als geschickter Jäger seine Fallstricke aus, die auch der >Roman< 213

214

Mit der Benutzung explizit dieser Elegien beim Dichter des >Roman< rechnet Farai, Recherches, S. 1 1 7 - 1 1 8 . Die Entscheidung zwischen Groß- und Kleinschreibung, die den Unterschied zwischen der Liebe und dem Liebesgott anzeigen soll, ist von den Herausgebern des >Roman< äußerst willkürlich gehandhabt.

12 7

kennt (or est chaeite es laz d'amor R d E 8060), und läßt die Liebenden wehrlos am Angelhaken zappeln, wie es bei Ovid zu finden ist: 2 1 5 qui sustinet hamos, novit quae multo pisce natentur aquae: tu quoque, materiam longo qui quaeris amori, ante frequens quo sit disce puella loco. A A 1,47-50 So klagt ohne Entsprechung bei Veldeke auch Aeneas im >RomanAngelhaken< seine Deutung der Liebe als eines passivischen, d.h. als eines zu erleidenden Zustandes festmachte. Im Kapitel »Unde dicatur amor« führt Andreas aus : Dicitur autem amor ab amo [hamo in H] verbo, quod significai capere vel capi. Nam qui amat, captus est cupidinis vinculis aliumque desiderai suo capere hamo.216 Durch den gegenüber dem >Roman< verstärkten Auftritt der bewaffneten Liebesgötter scheint Veldeke das Bild vom Liebeskrieg noch intensiviert zu haben, doch zeigt eine genauere Untersuchung, daß dies nur vordergründig so scheint. Z w a r fügen auch bei ihm die Liebesgötter Wunden zu (Amor unde Cupido / und diu gotinne Venus, / von ir scholden quele ich sus / unde von ir wunden. En. 272, 3 4 - 3 7 ) , fesseln die Liebenden (des wart si zû der stunt / vaste bestricket En. 38,8-9), und sie sind wie im >Roman< unüberwindlich, insgesamt ist aber der aggressive Ton sehr gemildert. Es fehlt bei Veldeke auch die Vorstellung, daß die Liebenden im Heer des A m o r dienen, und das variantenreiche Spiel im >Roman< um die Metapher des Liebeskrieges mit dem mächtigen Kriegsherrn A m o r ist bei ihm 215

Die Metaphorik der Liebesjagd findet sich immer wieder auch in Gottfrieds >TristanRoman< so aggressiv, weil Ovids saevus Amor, der erbarmungslose Kriegsherr, das unmittelbare Vorbild ist. Für Veldeke konnte diese Gleichung schon rein sprachlich nicht aufgehen, sie sollte es wohl auch aus tieferliegenden Gründen nicht. Was der Liebesgott schafft, ist im deutschen Eneasroman nicht amor oder amors wie bei Ovid und im >RomanRomanAeneis< das alles mehr an, als daß er es breit ausmalt: Aber Virgil hütet sich sorgfältig vor jedem Zug, der diese heroische Leidenschaft ins sentimental Bürgerliche herabziehen könnte, und verschmäht Details, die mehr der Kleinmalerei des Epyllions als der Großzügigkeit des Epos anstehen. 218

Man mag Heinze darin zustimmen, daß es vor allem das Gesetz der Gattung ist, das Zurückhaltung gebietet, doch sollte man nicht übersehen, daß nach der Darstellung des Dichters der amor eigentlich infandus ist (Aen. IV, 8 5), d. h. nicht in Worte gefaßt werden kann oder gar darf. Hier liegt ein tiefgreifender Unterschied zwischen Vergil und seinen mittelalterlichen Nachdichtern; zwar beteuern auch sie, daß die Liebe eigentlich unbeschreibbar sei, doch nur, um gleich darauf diese Feststellung mit exuberanter Wortfülle zu widerlegen. Bei Vergil ist jedoch die Unsagbarkeit der Liebe nicht bloßer Topos. Seine Gestalten sind nicht fähig zu den detaillierten Selbstanalysen und Zustandsreflexionen, wie man sie in den Eneasromanen findet, auch hat der Dichter bis auf die wenigen genannten 217 218

Heinze, Virgil, S. 130. H e i n z e , Virgil, S. 1 3 0 - 1 3 1 .

130

Ausnahmen darauf verzichtet, eloquente Schilderungen des Liebeszustandes in den Kommentar des auktorialen Erzählers zu verlegen, wie es nach ihm der Dichter des >Roman< und Veldeke taten. Vergils stilistische Eigenheit besteht darin, dort, w o etwas nicht in Worte gefaßt werden kann, w o ein status infandus ausgedrückt werden soll, auf den Vergleich auszuweichen, 2 1 9 vor allem auch dann, wenn es um seelische Zustände geht. Wird Aeneas in seinem Abschiedsschmerz mit der sturmgebeugten Eiche verglichen, so findet Dido ihre Parallele in der tödlich verwundeten Hindin: [...] qualis coniecta cerva sagitta, quam procul incautam nemora inter Cresta fixit pastor agens telis liquitque volatile ferrum nescius: illa fuga silvas saltusque peragrat Dictaeos; haeret lateri laetalis harundo. Aen. IV,69-73 Das Hindinnengleichnis nimmt in sehr dichter Weise Bezug auf Didos komplexe Situation, ihre Schutzlosigkeit und ihren Versuch zu fliehen, obwohl die tödliche Wunde längst geschlagen ist, ohne daß der Jäger weiß, was er damit angerichtet hat. Der stilistische Unterschied zwischen Vergil und den mittelalterlichen Eneasromanen ist eklatant gerade in diesem Vergleich, der auf die Metaphorik der Liebesjagd anspielt. Was bei Vergil ein poetisch überaus feiner Spiegel der Seele ist, gleitet bei Veldeke und vor allem im >Roman< ins Sexuelle ab. 2 2 0 Vergils Epos psychologisiert nicht. Der Erzähler bleibt den Gefühlen seiner Figuren distanziert gegenüber, wie auch die Handlungsführung Situationen meidet, die ein Eindringen in die Psyche der Liebenden erfordern. Man erfährt nichts über Dido und Aeneas als Liebespaar, sie treten erst wieder in den Blickpunkt, als ihre Beziehung zu Ende geht. Seit Catull ist in der lateinischen Literatur die Darstellung seelischer Regungen eine Errungenschaft der Elegiker, vor allem Ovids, von dem es auch die Eneasdichter lernten. Unter Psychologie im >Roman< und bei Heinrich von Veldeke muß man in erster Linie das Sprechen über seelische Regungen verstehen, und zwar aus der Sicht des Betroffenen. Insofern handelt es sich wie bei den Liebes219

Zu dieser poetischen Technik bei Vergil cf. Rudolf Riecks, Die Gleichnisse Vergils. Forschungsbericht, Einzelinterpretation, Bibliographie. In: A N R W 31, 2. Hg. von Wolfgang Haase. Berlin/New York 1982, S. 1 0 1 1 - 1 1 1 0 . 220 Amata im >Roman< kleidet den Sodomievorwurf gegen Aeneas in dieses Bild: il prise plus en plein mestier-Jil ne vuelt pas biche chacier-Jmolt par aime char le maslon (RdE 8569-8571); Veldeke kommentiert Didos Vereinigung mit Aeneas: daz tier was rehte getriben./sô der man sô schûzet! daz her sin genäzet,/sô liebet im diu vart (En. 63, 36—39); cf. dazu Kartschoke, Eneasroman, S. 771-772.

Ï31

akzidentien vor allem um eine poetische Technik, die im Liebesmonolog imitiert wurde. Lernen konnte man an Ovid auch die existentielle Ergriffenheit durch die Liebe, die einen starken Handlungsimpuls auslöst. Insgesamt ist aber die Seelenmechanik weder so gut nachvollziehbar noch so differenziert wie bei Ovid oder wie man es später bei Gottfried von Straßburg findet. Die Liebe entsteht in den Eneasromanen urplötzlich und verändert die Menschen nicht allmählich, sondern radikal, wie auch der Körper stets sofort alle Anzeichen einer pathologischen Leidenschaft trägt. Die Psyche der Figuren ist auch nur in den Minneepisoden von zentraler Bedeutung; deshalb ist es kaum berechtigt, von einem Entwicklungs- oder Reifungsprozeß zu sprechen. N u r partiell legt sich dieser Eindruck nahe, wenn die Personen unter dem Einfluß der Liebe sich als Lernende begreifen. Dieser Vorgang bezieht sich aber nur immanent auf die Liebe selbst, so daß es zu keiner ganzheitlichen, im modernen Sinne psychologisch einsichtigen Reifung der Person k o m m t . 2 2 1 Ausdruck der Betroffenheit durch die Liebe ist im >Roman< und bei Heinrich von Veldeke auch das Motiv der Schlaflosigkeit aus Liebeskummer, das bei ihnen sehr viel mehr ausgeweitet als in der >Aeneis< zu finden ist. Farai wollte darin einen Reflex der bei Ovid so oft geschilderten Situation sehen: M a i s il f a u t insister sur la d é s c r i p t i o n q u e fait volontiers le p o è t e latin des i n s o m n i e s et des rêves p r o v o q u é s p a r l ' a m o u r . E t ici, il est clair qu'il a y été suivi de p r è s p a r l'auteur d ' E n é a s . C a n a c é , M é d é e , L a o d a m i e , B y b l i s p a s s e n t de l o n g u e s veilles d a n s les t o u r m e n t s : de m ê m e , D i d o , L a v i n e , E n é a s p a s s e n t d e l o n g u e s nuits d ' a g i t a t i o n . 2 2 2

Farai verweist mit den genannten Beispielen vor allem auf die >Metamorphosen< und die >HeroidenAmoresArs Amandi< und den >Remedia Amoris< ausgekostet. So findet sich in den >Amores< auch eine Beschreibung des seltsamen Gebarens eines Liebenden bei N a c h t : Esse quid hoc dicam, quod tarn mihi dura videntur strata, ñeque in lecto pallia nostra sedent, 221

222

So auch das Urteil von Ingrid Kasten, Herrschaft und Liebe. Zur Rolle des >Helden< im >Roman d'Eneas< und in Veldekes Eneasroman. DVjs 62 (1988), S. 227-245, bes. S. 244. Farai, Recherches, S. 136. 132

et vacuus somno noctem, quam longa, peregi, lassaque versati corporis ossa dolent? Am. 1,2,1-4 Es scheint, Veldeke habe genau diese Stelle vor Augen gehabt, als er Didos Zustand beschrieb, in dem ihr sogar das weiche Bett hart und unbequem vorkommt: diu minne was ir alze nâ, diu si ze unsanfte ane quam und ir den slâf gar benam. dò si denkende wart, ir bette dûhte si vil hart und was doch senfte genûch. ir was alles widerfüch, daz si gerûrde unde gesach. En. 50,36-51,3 Davon ist nichts im >Roman< zu finden, der zwar Didos und Lavinias ruheloses Sich-Umherwälzen im Bett beschreibt (z. B. R d E 8403-8405 zu Lavinia : el lit se torne de travers / et donc adenz, puis a envers, / et met son chief as piez del lit.), was auch Veldeke übernommen hat {ir houbet si umbe kêrde / nider zû den füzen. En. 51, 6-7); nirgendwo im >Roman< steht allerdings, daß Dido ihr Unbehagen explizit mit ihrer Lagerstätte in Verbindung bringt. In den Minneepisoden sind Abweichungen Veldekes gegenüber der französischen Vorlage noch sehr viel seltener zu finden, als es im Bereich der mythologischen Erweiterungen der Fall ist, deshalb verdienen sie auch umso mehr Beachtung. Bei aller Zurückhaltung Veldekes, was Änderungen anbelangt, ist sein Umgang mit dem ihm gebotenen Material so souverän, daß er gewiß wußte, aus welchen Quellen der Dichter des >Roman< seine Kenntnisse schöpfte, auch wenn er selbst nur ganz selten aus eigener Initiative darauf zurückgreift. Die Schlaflosigkeit gehört bei beiden Eneasdichtern zum integralen Bestandteil der Liebesschilderung, denn was Dido durchmacht, setzt sich geradezu stereotyp bei den anderen Liebenden fort. So kann Lavinia aus Liebeskummer nicht schlafen: Por dreit neient s'ala colchier, car tote nuit l'estut veillier et degeter et tressalier descovrir et recovrir. RdE 8399-8402

do si aber an das bette quam unde slâfen solde, si wolde or enwolde, si mûste wachen al die naht. En. 278, 14-15

Selbst Aeneas, dessen Liebeszustand Vergil nie erwähnt, bleibt in den mittelalterlichen Eneasromanen nicht von den Folgen der Liebe verschont: r

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Cupido, ki ert deus d'amor et ses frere charnels esteit en sa baillie le tenait; one ne laissa la nuit dormir ainz li fist faire meint sospir. RdE 8922-8926

Dô[...] er ze sînem bette quam unde her dar ane lach neheines slâfes her ne phlach, hem mohte noch enkonde. En. 292, 9 - 1 3

ß. Liebe als Krankheit Die Unsagbarkeit der Liebe wird in den Eneasromanen durch das Zusammenspiel von Körper und Seele aufgehoben. In der Beschreibung der krankhaften Symptome kann die Liebe von den Figuren der Handlung gleichermaßen wie von den Erzählern ausgedrückt werden. So erwächst aus dem benennbaren Merkmalskatalog auch die Verfügbarkeit von theoretischem Wissen um die Liebe, das weitergegeben werden kann. Vergil vermeidet diese Verlagerung ins Körperliche, 223 die bei seinen beiden mittelalterlichen Nachdichtern gerade der Weg ist, um Liebe lehr- und lernbar zu machen. Zwar beginnt auch im >Roman< und bei Veldeke Amata ihre Liebeslehren mit dem Topos des infandus amor: >[...] - Dites le mei, que est amors ? Nel saiparfei.< >Ge nel te puis neient descrire.< >Qu'en savrai donc, se ne l'oi dire ?< > Tes cuers t'aprendra a amer. < >Se nen orrai altrui parler?' >Tu nel savras ja par parole.< RdE 7889-7895

>sô getan is diu minne, daz es rehte nieman dem anderen gesagen kan, dem sîn herze sô stêt, daz si dar in niene gêt, der sô steinlîchen lebet.< En. 262, 10-15

Das Wesen der Liebe entzieht sich demnach theoretischer Abstraktion und bleibt an die konkrete Erfahrung gebunden. Dennoch versucht Amata den infandus amor dadurch in Worte zu kleiden, daß sie übergeht von der Definition in die Deskription. Die Liebe wird faßbar in der krankhaften Zustandsänderung des Körpers, der allerdings nur Symptom-, nicht Ursachenträger eine Leidens ist, das tiefer sitzt. Die Liebe manifestiert sich in einem festen Merkmalskatalog, und wie der Beginn der Liebe anhand einer Ekphrasis der Amorstatue erklärt wurde, macht eine Beschreibung der pathologischen Symptome ihre Auswirkungen deutlich. Das Programm, das Amata ihrer Tochter im >Roman< vorstellt, ist beachtlich: 223

Heinze, Virgil, S. 281, sieht in der Verlegung des »Schwergewichtes] von den äußeren auf die inneren Vorgänge, vom Körperlichen aufs Seelische« einen tiefen Unterschied zwischen Homer und Vergil.

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>D'amor estuet sovent suer et refreidir, fremir, trenbler et sospirer et baaillier, et perdre tot beivre et mangier et degeter et tressaillir, muer color et espalir, giendre, plaindre, pâlir, penser et senglotir, veillier, plorer: ce li estuet faire sovent ki bien aime et ki s'en sent. Tels est amors et sa nature.< RdE 7921-7931 Veldeke hat diesen Katalog deutlich entzerrt, denn der Franzose drängt bis zu vier Symptome in einen einzigen Vers, der deutsche Dichter dagegen nennt jeweils nur eines. Auch führt er die rein körperliche Manifestation der Liebe wieder mehr ins Seelische zurück, indem er noch die Unruhe des Liebenden und sein zwanghaftes Denken an den Geliebten erwähnt: >si machet schiere wunt, ez st man oder wîb, si begrîfet im den lib und die sinne garwe und salewet im die varwe mit vil grôzer gewalt. si machet in vil dicke kalt und dar nâch sô schiere heiz, daz her stn selbes rät ne wetz, solich sind ir wâfen: si benimt imz slâfen und ezzen unde trinken, si lêret in gedenken vile misselîche.< En. 262, 20-33 Die Rede der Amata macht ihr Wissen um die Auswirkungen der Liebe deutlich, doch dient sie nicht in erster Linie dazu, Lavinia die Liebe beizubringen; gerade das ist nur durch die Liebe selbst möglich, wie auch Amata weiß. Der wirkliche Lernerfolg ist vor allem ein rhetorischer, denn wenn schon nicht die Liebe als solche vermittelbar ist, so wird Lavinia in dem Merkmalskatalog ein sprachliches Instrumentarium an die Hand gegeben, das sie in die Lage versetzt, ihren Zustand zu analysieren und zu deuten. Als Lavinia wirklich von der Liebe betroffen ist, kann sie die Ursache dafür mit dem Schuß des A m o r benennen und für die Deutung J

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der krankhaften Merkmale auf die Ausführungen ihrer Mutter zurückgreifen. Dieser Lernvorgang hinsichtlich der Terminologie ist auch auf die beiden Eneasdichter übertragbar. Sie haben nicht nur zur Erklärung der Liebesursache, sondern auch für die Zustandsbeschreibung auf Ovid zurückgegriffen, w o Vergil ihnen nichts Entsprechendes bot: Elle est très repandue dans l'oeuvre des erotiques latins, notamment dans celle d'Ovide. Celui-ci qualifie ordinairement l'amoureux de malade, aeger, languidus. Il applique à l'amour les noms de malum et de morbus.224 Mit Recht verweist Farai für die Schilderung der Liebe als Krankheit auf Ovid, bei dem sich auch die untrügliche Erkennbarkeit der Liebe am pathologischen Zustand des Körpers vorgebildet findet: Esse quid hoc dicam, [...]? sic erit: haesemnt tenues in corde sagittae, et possesso, ferus pectora versai Amor. Am. 1,2,1.7-8 Neben Unruhe, Schlaflosigkeit und Fieber gehören auch ein blasses G e sicht und ein abgezehrter Körper zum Aussehen des Liebenden: palleat omnis amans: hic est color aptus amanti; hocdecet, hoc multi +non valuisse+ putant. arguat et macies animum, nec turpe putaris palliolum nitidis inposuisse comis. A A 1,729-30.733-34 Ergänzend zu Farai, der die Parallelen zwischen dem Dichter des >Roman< und Ovid zusammenstellte, muß man auch die Unterschiede hervorheben. D e r Franzose hat das bei Ovid überall verstreute und eher dosiert vorgetragene Krankheitsbild des Liebenden zu einem Katalog der Symptome aufgereiht, den man bei dem lateinischen Dichter so nicht findet. Dazu k o m m t noch manche eigene Erweiterung, 2 2 5 wie z . B . das zwanghafte Gähnen und die vielfachen Ohnmachtsanfälle, was schon Veldeke nicht mehr übernommen hatte. Aus Ovid war nicht nur zu lernen, wie sich Liebe auswirkt, sondern daß selbst der Nichtbetroffene mit diesem 224 225

Farai, Recherches, S. 135. Generell dazu cf. Kap. »La peinture et la théorie de l'amour«, S. 133-136, bei Farai mit zahlreichen Stellenangabe zu Ovid. Farai, Recherches, S. 135, erklärt dies aus der amplificatio; cf. dazu auch Auerbach, Literatursprache, S. 156, zum >RomanErec< Hartmanns von Aue. Frühmittelalterliche Studien 19(1985), S. 1-30. 136

Wissen einen Liebenden auf einen Blick entlarven kann: ut qui te videat dicerepossit >amas< ( A A I , 738). Es ist dies die Kunst, die Liebeskrankheit an ihren Symptomen zu erkennen, wenn man in der medizinischen Bildlichkeit bleibt, oder die Substanz an ihren Akzidentien, wie es mit philosophischen Begriffen der Ovidkenner und Ovidübersetzer Chrétien de Troyes ausdrückte. Im >Cligés< erkennt die Königin Soredamors Alixandres Verliebtheit an seinem Gesichtsausdruck:226 Or la voit pale et vermoille Et note bien en son corage La contenance et le visage De chascun et d'aus deus ansanble. Bien aparcoit et voir li sanble Par les muances des colors, Que ce sont accidant d'amor.

Cligés 1592-1598 Die aus Ovid gewonnene schematisierte Darstellung hat als Theorie der Liebe stark auf die Nachfolger des französischen Eneasromanes gewirkt. In fast stereotyper Weise begegnet sie immer wieder, so daß man in der »geistlosefn], mechanischefn] Aufzählung von Symptomen der Minne im äußeren Benehmen der Menschen« einen Widerspruch zur »reichen Phantasie und der individuellen Betrachtungsweise der höfischen Epiker und Troubadours«227 empfand. Für die Nähe der Liebeskrankheit zum Tod bot Ovid zahlreiche Beispiele. In der Erzählung von Narcissus etwa, die schon sehr früh ins Altfranzösische übersetzt worden war, stirbt der schöne Jüngling, weil er sich in der Sehnsucht nach seinem eigenen Spiegelbild verzehrt. Auch in der deutschen Literatur findet sich bereits vor Heinrich von Veldeke ein Beispiel für die krankmachende Liebe, allerdings mit deutlicher Polemik gegen den in der aetas Ovidiana so vorbildlichen Liebesdichter Ovid. Der Dichter der >Kaiserchronik< hat die Erzählung von Lucretia aus Ovids >Fasten< übernommen und mit einer ausdrücklichen Quellenberufung versehen: si stât in Ovidio gescriben dà (Kaiserchronik 4357). Ovid ist damit der einzige antike Dichter, der in der >Kaiserchronik< genannt wird, doch weist

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227

Zur Rückführung dieser Stelle auf ihre philosophischen Grundlagen cf. Kolb, Begriff, S. 284-289. Karl Heyl, Die Theorie der Minne in den ältesten Minneromanen Frankreichs. Diss. Marburg 1 9 1 1 , S.52.

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diese Berufung auf Ovid in eine andere, ja entgegengesetzte Richtung der OvidAneignung des 12. Jahrhunderts. Im Rahmen der Kaiserchronik steht Ovid als autor ethicus [...], weil er [...] als ein Vorläufer der christlichen Lehre angesehen wurde. 228

Als dann in der Erzählung von Astrolabius die ovidische Liebesphysiologie geschildert wird, ist sie Ausdruck dämonischer Kräfte. Astrolabius gerät beim Ballspiel zufällig in die Nähe einer Venusstatue und verliebt sich mit fatalen Folgen in sie: er nemahte trinken noch ezzen. er was naht unde tac daz er slâfes niene phlac: er wände, daz dazpilde bîim laege. der lîp wart im also swaere. er wart plaich unt ubelgevar, ze dem tôde wart er wol gar. Kaiserchronik 13154-13160

Die Situation erinnert fast an Ovids Erzählung von Pygmalions Liebe zu einer Statue (Met. X, 243-297), freilich mit dem Unterschied, daß Venus die Liebe des Pygmalion erfüllt, indem sie die Statue zum Leben erweckt, während Astrolabius durch den Eingriff eines Priesters von der dämonischen Venusminne erlöst werden muß.229 In dieser Liebesepisode stehen sich Antike und Christentum feindlich gegenüber, und Ovid als praeceptor amoris dieses Jahrhunderts wird gegen den autor ethicus ausgespielt. Die Beschreibbarkeit der Liebe mögen die mittelalterlichen Dichter, vor allem auch der Dichter des >Roman< und Heinrich von Veldeke, Ovid verdanken, weil sie das entsprechende Material bei ihm entlehnten. Farai, der es mit großer Kenntnis zusammentrug, beachtet jedoch kaum die völlig andere Verwendung, wodurch sich die Liebesauffassung in den Eneasromanen deutlich von der des Ovid abgrenzt. Der Unterschied liegt vor allem in der Funktion der Symptome. Bei Ovid ist das krankhafte Aussehen des Liebenden nicht automatisch und sofort mit dem Liebeszustand verbunden, sondern es resultiert daraus. Magerkeit und Blässe treten als Folge der durchwachten Nächte und der harten körperlichen Anstrengungen im servitium Amoris auf; gerade darin liegt die bei Ovid so oft beschworene Parallele zwischen der Liebe und dem Soldatenleben:

228

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Ernst Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung. 2. Aufl. Darmstadt 1968, S.91. Zu den Quellen der Astrolabiussage cf. Massmann, Kaiserchronik Bd. III, S. 293-298. 138

longus amor tales corpus tenuavit in usus aptaque subducto corpore membra dedit. Am. I, 6, 5-6 atténuant iuvenum vigilatae corpora nodes curaque et in magno qui fit amore dolor. A A I , 735-736 militiae species amor est: discedite segnes; non sunt haec timidis signa tuenda viris. nox et hiems longaeque viae saevique dolores mollibus his castris et labor omnis inest. A A I I , 233-236 So ist bei Ovid ein longus amor (Am. I, 6, 5) die Voraussetzung, um die entsprechenden Spuren zu hinterlassen; in den Eneasromanen dagegen treten die Symptome immer unverzüglich und alle zugleich auf, so daß sie nicht Folge, sondern Zeichen der Liebe sind, sie nicht nur begleiten, sondern anzeigen. Ovids zeitliche Trennung von Ursache und Folge wurde so in ein simultanes Nebeneinander aufgelöst. Ein deutlicher Unterschied zu Ovid besteht auch darin, daß die Minnephysiologie unbestechlich die Liebe verdeutlicht. Dieser Zustand kann weder vorgetäuscht noch verheimlicht werden. So läßt sich Amata nicht von Lavinias Beteuerungen, sie sei an Fieber erkrankt, beirren, sondern die Krankheitssymptome gelten ihr als Beweis der Liebe: Bien sot la mere que menteit, altrement ert que ne diseit; ele la vit primes trenbler et donc en es lepas suer et sospirer et baaillier, teindre, nercir, color changier: bien sot qu'amors l'aveit saisie, ki la teneit en sa baillie. RdE 8453-8459

>tohter, ez is minne, dâ mit dû bist gebunden: du enphindest der wunden, dâ von ich anderes tages sprach. dû hast daz sûze ungemach.< En. 279, 40 - 280,5

Liebe im >Roman< und bei Heinrich von Veldeke ist eine Macht, die den Menschen vollkommen beherrscht. Die Hilflosigkeit des Liebenden seinem körperlichen Zustand gegenüber ist Ausdruck der Hilflosigkeit in der Liebe. Das entspricht der Liebesauffassung der >MetamorphosenAmores< und der >Ars Amandi< bedeutet, daß der Mensch die Liebe beherrscht. So ist es durchaus möglich, eine Liebe vorzutäuschen, die gar nicht existiert, oder auch verliebt zu sein, ohne daß man es dem Verliebten anmerkt: I

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Esse déos, i, crede: fidem turata fefellit, et facies Uli quae fuit ante manet.

[...]

Candida, candorem roseo suffusa rubore, ante fuit: niveo lucet in ore rubor. Am. 111,3,1-2.5-6

Unnötig ist es auch, an unglücklicher Liebe zu leiden oder deswegen gar zu sterben, wenn man die Anweisungen der >Remedia Amoris< beachtet. Liebe ist damit nicht wie in den Eneasromanen grundsätzlich der Ernstfall, sondern gerät zum listigen Spiel und zur beherrschbaren Kunst. Zu dieser merkwürdigen Diskrepanz konnte es kommen, weil der Eneasdichter ohne Rücksicht auf die jeweiligen Gattungsgesetze gleichermaßen die Elegien und die >Metamorphosen< ausgebeutet hat. Die Minnepathologie weist die Stillage von Ovids Jugendwerken auf, doch das Spielende, leise Ironische und ironisch Didaktische der Liebesbücher paßt nicht in die >MetamorphosenRoman< und nach ihm Veldeke die Minnepathologie aus Ovids Jugendwerken auf Vergils Dido und Aeneas und Ovids Scylla übertrug, wurde aus dem ironischen Spiel bitterer Ernst, und das Wissen um die Liebe hilft zwar, sie zu erkennen, nicht dagegen, sie zu beherrschen. Erich Auerbach betonte mit Recht den Stilbruch, der sich aus diesem eklektischen Umgang mit Ovids Werken ergibt: Nun ist der Gedanke, solche Gegenstände wie Troja, die >Sieben gegen Theben< oder die >Aeneis< in der Stillage Ovids darzustellen für einen humanistisch denkenden Menschen ein Mißgriff. Die höfischen Kleriker des 12.Jahrhunderts kannten zwar Teile der antiken Literatur sehr genau, aber sie waren keine Humanisten.231 Dem Franzosen und anderen mittelalterlichen Dichtern waren offensichtlich die stilistischen Grenzen der Minnephysiologie wenig problematisch. Sie wird zum festen Bestandteil der descriptio eines Liebenden. Daß Ovid hier vor allem als ein poetisch-stilistisches Vorbild verstanden wurde, zeigt ein Blick in die mit den Eneasromanen etwa gleichzeitig entstandene Poetik des Matthieu de Vendôme. 232 Im Kapitel über die descriptio ab affectione befaßt sich Matthieu mit dem Problem, wie 230 231 232

Auerbach, Literatursprache, S. 161. Auerbach, Literatursprache, S. 157. Zum gemeinsamen rhetorischen und poetologischen Hintergrund des >Roman< und Matthieus de Vendôme cf. Farai, Recherches, S. 104-109.

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psychische Vorgänge auszudrücken sind. Dabei geht er denselben Weg wie die Eneasdichter, denn die affectio wird definiert als eine repentina et transitoria vel corporis permutatio, so daß der habitus superficialis einen Rückschluß auf die Seele zuläßt. Seelische Vorgänge werden auf diese Weise faßbar, werden zu Phänomenen im tatsächlichen Wortsinn. Neben u.a. aus Ovid gewählten Beispielen faßt Matthieu seine Lehre von der descriptio ab affectione in folgendem Epigramm zusammen: Est color interpres mentis vultusque propheta; Conjectürapatet expositiva mali.233

Heinrich von Veldeke hat dieses poetische Mittel sehr viel ernster als der >Roman< genommen und den Körper auch dort zum Spiegel der Seele gemacht, wo es nicht um die Liebe geht. Denn mit stringenter Logik spiegelt Didos Aussehen als böses Omen ihre Selbstmordgedanken wider: 234 Dîdô was ubile gevar wände si ubile gedahte. En. 7 5 , 3 0 - 3 1

Eigenwillig ist, wie gesehen, bei den Eneasdichtern ihre Verwendung der Ovidischen Liebeskrankheit auch darin, daß sie gemäß der Liebesentstehung aus dem Pfeilschuß die Symptome immer sofort als untrügliches Anzeichen der Liebe verwenden. Veldekes Bemühen um eine stimmige Darstellung zeigt sich in seiner Didoepisode. Die Liebe mit all ihren Symptomen setzt bei Dido sofort nach dem Kuß des Ascanius ein, so daß sie in keiner Weise anders reagiert als die vom Liebespfeil getroffene Lavinia: si leit vil michile in korzer stunde dar nach schiere ir was heiz unde

nôt. wart si rôt, varios: si fräs.

E n

· 39.

9~12

Der Dichter des >RomanRomanAeneis< deutlich. Vergils pius Aeneas, der bei aller Macht der Gefühle doch immer Herr seiner selbst bleibt, gerät zu einem liebeskranken servus Amoris im Stile der lateinischen Elegie. Im >Roman< versetzt ein aus Liebe sterbenskranker Aeneas, der sich nicht einmal mehr auf dem Pferd halten kann, die Trojaner in helle Aufregung, denn der Zweikampf mit Turnus scheint unmöglich: One ne pot monter en cheval, a sa gent dit que il a mal; [...] molt par furent tuit esfreé; près ert del jor de la bataille, il criement qu'en lui ne defaille et que il ne se puisse aidier, quant il en avra le mestier. RdE 9109-9118 Veldekes Aeneas ist dagegen ein mehr vergilischer Aeneas, denn an seiner Kampfestüchtigkeit läßt er keinen Zweifel. E r muß lediglich die in Liebesqualen verbrachten Nachtstunden aufholen und schläft so zum Erstaunen seiner Gefolgsleute länger als üblich:

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Nieman getorste in wecken, des wären sine recken sumelîche vil unfrô unde sprächen >wie tût sô unser hère Ênêas ? wie ungewon her des was, daz her sliefe ze dirre zît!< En. 300, 23-29

e. Dulce malum: Das Minneparadox α. Verwundung durch die Minne Amata erreicht mit der Schilderung der Liebesqualen nicht ihr Ziel, denn Lavinia weigert sich, die Liebeskrankheit zu erdulden. So bemüht sich Amata, auch auf die Vorzüge der Liebe hinzuweisen. Eine Erleichterung wäre es schon, sich nicht wie Lavinia gegen die Liebe zu wehren, sondern ihr willig nachzugeben, was der Franzose ganz im Sinne von Ovids Ratschlag, leve fit, quod berte fertur onus (Am. I, 2 , 1 0 ) aufgenommen hat: soef trait mal ki l'a costume (RdE 7958). Doch entsprechend den Krankheitssymptomen läßt sich auch ein Katalog der Vorzüge der Liebe auflisten: Ris et joie vient deplorer et granz deporz vient depasmer haisier vienent de baaillier, enbracement vient de veillier, granz leece vient de sospir, fresche color vient de pâlir. Encor s'en siut la granz dolcors ki tost saine les mais d'amors. RdE 7961-7968

>michel lieh kumt von dem leide, rûwe kumt nâch ungemache, daz is ein tröstliche sache, gemach kumt von der arbeit dicke zu langer stâticheit. von der rouwe kumet wunne unde froude maneger kunne. trûren machet hohen mût, diu angest macht die stâte gût. daz is der Minnen zeichen: lieht varwe kumt nâch der bleichen, diu vorhte gît gûten trôst, mit dem dolne wirt man erlöst, daz darben tût daz herze rîche. ze diseme dinge iegeslîche hat diu Minne solhe bûze.< En. 263, 20-35

Deutlich wird auch hier wieder Veldekes Ausbrechen aus einer rein medizinischen Pathologie. Nicht Gähnen, Fieber und Blässe werden durch die Liebe geheilt, und ihre positiven Auswirkungen sind auch nicht nur Küsse und Umarmungen. Als zentrale Begriffe stehen sich Liebe und

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Leid mit ihren Abwandlungen wie Trauer, Hoffnung, Beständigkeit, Angst und Freude gegenüber, so daß Veldekes Terminologie hier gewiß den geschulten Minnesänger verrät. Doch bleibt bei ihm wie auch im >Roman< die Liebe ein Paradoxon, ein Schwebezustand zwischen Extremen, was sprachlich seinen Ausdruck in Oxymora und Antithesen findet. Farai wollte darin den Einfluß Ovids erkennen, der die Liebe als dulce malum und mit anderen antithetischen Begriffen umschrieb: »Et ailleurs encore, du reste, il reprend la même antithese, qu'il résume dans les expressions iucundum malum, ou incendia mitia, ou mollia castra«.235 Farai mag recht haben, weil die Formulierung im >RomanRoman< von der Liebe heißt: ir ungemach is süze (En. 263, 13). Auch die Umschreibung der Extremsituation in der Liebe mit dem Gegensatz von Galle und Honig (RdE 8221-8222: [.. ,]peior que suie ne que fiel./ Amors, redone mei del miel, [...]. und En 272, 38 - 273, 2: Minne, dû bist noch galle,/ Minne, nû wirt süze, [...].) hat ihre Entsprechung bei Ovid (AA II, 515-520). Nun sind Freude und Schmerz in der Liebe menschliche Grunderfahrungen, die sich ohne Abhängigkeiten herausbilden können. Schon im frühesten Minnesang bei Dietmar von Eist findet sich die Vorstellung, daß sich Liebe nie ungetrübt zeigt: liep âne leit mac niht sin. M F 39, 24

Für den Dichter des >Roman< und Veldeke verweist immerhin die Formulierung auf das Vorbild vom Ovidischen dulce malum·, die Frage ist allerdings, ob die mittelalterlichen Eneasdichter damit dasselbe meinten. Bei Ovid bezieht sich das Paradox des dulce malum zunächst nicht auf die Liebe, sondern auf das geliebte Mädchen, das Quelle zugleich für Freude und Leid darstellt: > Vive< deus >posito< si quìs mihi dicat >amoreEncors s'en siut la granz dolcors ki tost saine les mais d'amors.
si gibet unde teilet daz lieb nach dem leide.
Roman< und bei Veldeke mit aller Kraft gegen die Torturen, die ihnen zuerst abverlangt werden. Und auch darin liegt ein großer Unterschied zu Ovid und zum Hohen Minne145

sang, daß die Figuren in den Eneasromanen nicht freiwillig die Liebesqualen auf sich nehmen, sondern buchstäblich dazu gezwungen werden müssen. Denn bei aller Beteuerung, daß die Liebe die erlittenen Qualen um ein Vielfaches entschädigen wird, überwiegt in den Eneasromanen die dunkle Seite. Liebe bedeutet nämlich in erster Linie Vollzug, nicht Erfüllung, sie besteht in der Bewußtmachung des quälenden Zustandes im Monolog, im immer neuen Durchleben der Betroffenheit. Die Liebenden sind in völliger Einsamkeit diesem Zustand ausgesetzt, und die Angst vor fehlender Gegenliebe ist stets größer als die Gewißheit. Anders als bei Ovid steigert das nicht den Genuß, sondern dieser Zustand wird als lebensbedrohlich empfunden. Die antike Metaphorik vom Liebeskrieg kommt in aller Aggressivität zum Tragen, denn der saevus Amor ( A m . II, io, 19) bedrängt erbarmungslos die Liebenden, so daß das Verhältnis zu ihrer Liebe durchaus unharmonisch ist. Während sich die Anklage der Grausamkeit im >Roman< wie bei Ovid gegen den antiken Liebesgott richtet (ζ. B. R d E 8205-8206: Amors [...]/ me demeines trop grant fierté), ist es bei Veldeke die personifizierte Minne, der die saevitia anhaftet. So klagt wie Dido >ouwê, unsenfte minne, wie dû mich hast bedwungen.< En. 76, 28-29 auch Lavinia: >ez kumt mir von der wunden der unsenfter Minne, [...].< En. 269, 32-33 N u r einmal, bezeichnenderweise nur bei Veldeke, findet sich das bittersüße Nebeneinander von Vor- und Nachteilen der Liebe im Sinne von Ovids Gleichzeitigkeit ausgedrückt. Didos Liebesbegegnung mit Aeneas kommentiert der Erzähler: dò was diufrouwe Dido beidiu rouwich undfrô. ich sage û, wes sifrô was: daz si der wunden genas, dà si unsanfte mite qual, die wile siz Ênêam hai; und was iedoch des unfrô, daz si sô schiere also sînen willen getete dorch sô wenige bete. En. 64, 7-16

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Das dulce malum ist geradezu charakteristisch für die Didominne und wird als Liebe/Leid-Formel wie bei Ovid auf den geliebten Menschen übertragen. War es zuerst die Beschämung, daß sie zu schnell dem Drängen des Aeneas nachgegeben hatte, so vereinen sich für Dido Freude und Leid in der Liebe noch einmal, als Aeneas sie verläßt: >swester, mir ist sô wê umbe den leiden lieben man, daz ichs gesagen niene kan, sô daz ez mir tobte.< En. 74, 2 7 - 3 1

Liebe, dies verbindet sich für Dido mit Aeneas, weil er der Mann ist, den sie liebt, Leid bedeutet er ihr, weil er sie verläßt. Diese knappe paradoxe Fügung, in der vielleicht am besten die Doppelnatur der Minne erfaßt ist, findet sich in unmittelbarer zeitlicher Umgebung zu Veldekes Eneasroman noch in einem anderen Werk, in Eilhards von Oberge >Tristrantowe, liber trehtinwaz ich groze ruwe inwendig in mime herzen han umme den leiden lieben man'.136 Tristrant 2398-2402

Der Ausdruck ist bei Heinrich von Veldeke und Eilhard derselbe, die Situation dagegen grundverschieden, denn für Dido bedeutet dieser Zeitpunkt das Ende ihrer Liebe, Isalde dagegen hatte gerade den Liebestrank zu sich genommen und wird sich erst ihrer Liebe bewußt. Veldekes Didogestalt macht deutlich, was Leid im Zusammenhang mit Minne bedeuten kann. Dort, wo sich Liebe und Leid unmittelbar vermischen, entsteht das Leid aus der Situation, in der sich die Minnende befindet. Wo aber Leid im Rahmen der Minnephysiologie beschrieben wird, ist es ein notwendiges Stadium im Verlauf der Minne, dem sich niemand entziehen kann. Dieses Leid ist lediglich zeitversetzt zum Minneglück, wie die Liebesqualen von Lavinia und Aeneas vor ihrer Hochzeit zeigen. Die Verteilung von Glück und Unglück in der Liebe resultiert somit nicht aus einem bestimmten Verhalten, sondern ist durch den Stoff des Vergil vorgegeben, während die pathologischen Auswirkungen einer 236

Eilhart von Oberge, Tristrant. Bd. I und II. Hg. von Franz Lichtenstein. Straßburg 1877.

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jeden Liebe Ovidisches Erbe sind. Die besondere Rolle, die Aeneas als Mann zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Frauen spielt, wird schon durch den Wechsel des Epithetons ausgedrückt, denn der leide liebe man (En. 74, 28) der D i d o wird zu Lavinias minnesâligen Troiân (En. 267, II).

ß. Heilung von der Minnekrankheit: A m o r als A r z t zwischen Ovidischer Metaphorik und arabischer Medizin W o die Qualen der Minne als Krankheit bezeichnet werden, ist es naheliegend, ihre Vorzüge als Heilung darzustellen. Lavinias Mutter verweist nachdrücklich auf den doppelten Charakter Amors als Verwunder und Heiler in der Liebe, was durch die Liebespfeile und die Salbenbüchse der Amorstatue verdeutlicht wird : >Encor s'en siut la granz dolçors ki tost saine les mais d'amors; senz erbe beivre et senz racine, a chascuns mal fait sa mecine; ni estuet oignement s'entrait, la plaie saine que il fait; se il te vuelt un poi navrer, bien te savra enprés saner. R d E 7967-7974

>si bezeichent die salben, die diu Minne ie hat gereit, diu senftet al die arbeit und machet ez alles gût, swen diu Minne wunt tût, daz si in geheilet, si gibet unde teilet daz lieb nach dem leide.< En. 265, 10-17

Schon an der vom Dichter des >Roman< benutzten Stelle aus den M e t a morphosen war die Fähigkeit des Liebeserregers A m o r , mit einem Bleipfeil auch die Liebe verhindern zu können, singulär, doch teilte ihm der Franzose auch noch die Gabe der Heilung zu und versah ihn mit einer Salbenbüchse. Die literarische und ikonographische Tradition der Antike kennt dieses Attribut des Liebesgottes nicht, 237 so daß Julius Schwietering darin eine Umdeutung der Gnosiapharetra sehen wollte: Gibt uns doch der mittelalterliche Dichter einen unzweideutigen Fingerzeig, daß diese Vorstellung des A m o r in späterer Auslegung antiker oder antikisierender Bildlichkeit wurzelt, und zwar in der Deutung eines Amorsymbols als S a l b e n b ü c h s e . Unter den wenigen Beigaben des leicht ausgerüsteten Gesellen kann dafür nur der Köcher in Frage kommen, in einer antiken, vielleicht durch die Uberlieferung entstellten Form, die dem Mittelalter unbekannt war. 7

Das derzeitig verfügbare Material der Ikonographie zur griech., etrusk. und röm. M y t h o logie v o n der mykenischen bis zur frühchristlichen Epoche ist gesammelt im L I M C . Darstellungen des Liebesgottes finden sich in Bd. III, 1 unter >ErosAmorCupido< S. 952-1049 (Waffen bes. S. 973-977). Ergänzungen in III, 2, S. 609-667 und S. 678-977.

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In die H a n d w u r d e die Salbenbüchse dem A m o r natürlich erst nachträglich gelegt als G e g e n s t ü c k zu den Pfeilen, u m so seine D o p p e l e i g e n s c h a f t als V e r w u n d e r u n d H e i l e r sinnfällig z u allegorisieren. 2 3 8

Der Dichter des >Roman< war ein viel zu fundierter Kenner der antiken Tradition, als daß man vermuten dürfte, er hätte irgendeine verderbte Überlieferung des Köchers als Salbenbüchse mißverstanden. Auch spricht gegen Schwieterings Auffassung, daß der Köcher als Verwahrungsort der Pfeile wie diese Ausdruck des aggressiven Charakters des Liebesgottes ist und in den antiken und mittelalterlichen Amorallegoresen auch so gedeutet wurde. 239 Allein die Form des Gefäßes hätte dann die Umdeutung vom Köcher zur Salbendose motiviert. Beachtung verdienen die Begriffe, die der >Roman< und Heinrich von Veldeke verwenden, nämlich boiste (RdE 7978) und buhse (En. 265, 7). Beide haben nichts zu tun mit dem Wort pharetra, sondern stammen von dem griechischen Wort πυξίς ab, der aus Buchsbaum gedrehten Salbenbüchse des Arztes. 240 So verweist die Etymologie der Worte darauf, daß die beiden Eneasdichter hier einen terminus technicus verwendet haben, der schon von seiner Wortbedeutung241 her einen Zusammenhang mit der Heilkunst schafft. Aus einer boiste entnimmt an späterer Stelle im >Roman< auch der Arzt Japis die Heilsalbe für den verwundeten Eneas. 242 Dem für die Signifikanz von Wortbedeutungen geschulten mittelalterlichen Publikum wird dieser Bezug kaum entgangen sein, den Veldeke auch konkret anspricht, denn die Büchse bezeichent die salben, / die diu Minne ie hat gereit. (En. 275,10-11). So ist es kein umgedeuteter Köcher, den Amor in 238

Julius Schwietering, Typologisches in mittelalterlicher Dichtung. In: Vom Werden des deutschen Geistes. Hg. von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Berlin/Leipzig 1925, S. 40-55; hier S.45. Seine Deutung der Stelle ist bis heute maßgeblich, so auch bei Kartschoke, Eneasroman, S. 807, zitiert. 239 Properz II, 12, 9 - 2 : et [...] tnanus est armata sagittisjet pharetra ex umero Gnosia utroque iacet:/ante ferit quoniam, tuti quam cemimus hostem [...]. Theodulf, De libris, vs. 38: mens prava in pharetra [sc. Signatur]. C B 154, 3: Vulnificus [sc. Amor] pharet ra Signatur. 240

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Zur etymologischen Herleitung aus 'πυξός' für >Buchsbaum< und 'πυξίς' für >Dose aus Buchsbaumholz< cf. G E W I I , 626 L E W I , 125 und F E W 1929, 124. Im Mittelalter überwiegt noch diese spezielle Verwendung. Kluge/Mitzka, S. 107, erklären: »Die aus Buchs gedrehte Arzneibüchse ist [...] zu uns gelangt mit >ArztFlietePflaster< und anderen Kunstwörtern aus der griech. Heilkunde«. J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch II, S. 476, merken dazu an: »In der Apotheke heißen alle gedrehten hölzernen Gefäße >Büchsen< [...]«. Für diese Bedeutung im Altfrz. cf. ToblerLommatzsch I, Sp. 1036, zum Lemma »boiste«. Zu Veldekes Salbenbüchse cf. Iwein, vss. 3441, 3478-3480, wo die Heilsalbe der Feimorgan in einer buhse verwahrt wird. A sa male li mires vait,/prent une boiste, si'n a trait/del ditan [...] (RdE 9559-9561).

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der Hand hält, sondern ein neuer Gegenstand, das Werkzeug des Arztes, das ihn als solchen ausweist. Als Vorbild für den heilenden Liebesgott kommt Ovids Amor mit dem Gold- und dem Bleipfeil nicht in Betracht; daß aber der Dichter des >Roman< dafür vielleicht einer anderen Ovidstelle verpflichtet ist, soll später ausgeführt werden. In der Forschung wird oft darauf verwiesen, daß die Eneasromane nicht nur die Vorstellung von der Liebeskrankheit, sondern auch die von der Heilung Ovid verdanken, wobei vor allem auf Ovids >Remedia Amoris< verwiesen wird, die die Heilung der Liebe zum zentralen Thema haben: disette sanariper quem didicistìs amare; una manus vobis vulnus opemque feret. Rem. 43-44 Doch darf auch in diesem Zusammenhang die Verwendung analoger Begriffe nicht über die Kluft zwischen Ovid und den Eneasdichtern hinwegtäuschen. Immer wieder wird deutlich, daß sie Ovids Unterschied zwischen einer Liebe, die unbezwinglich ist, die Menschen in den Wahnsinn treiben kann und sogar die Götter unterwirft, und einer Liebe, die unter Anleitung zu einem gekonnten Spiel mit festen Regeln wird, nicht beachtet haben. Der lateinische Dichter faßte den Gegensatz in die Begriffe impetus und ars. In seinen beiden Lehrgedichten über die Liebe, der >Ars Amandi< und den >Remedia AmorisRemedia Amoris< behauptet wird, man könne sich unglücklicher Liebe entziehen, ist dies nur zum Teil auf die >Amores< und kaum auf die >Metamorphosen< anwendbar. Cupidos Attacke mit dem Goldpfeil auf Apoll dient gerade dazu, die unbezwingliche Macht der Liebe sogar über die Götter zu demonstrieren. Und in Apoll muß sich nicht nur der waffengewandte Pythonüberwinder geschlagen geben, sondern vor allem der Gott der Heilkunst, der kein Mittel gegen diese Wunde kennt: 2 4 5 inventum medicina meum est, opiferper orbem dicor, et herbarum subiecta potentia nobis: ei mihi, quod nullis amor est sanabilis berbis, necprosunt domino, quae prosunt omnibus, artes! Met. 521-524 Apolls Rede spiegelt weit mehr die Auffassung der Eneasdichter wider als das, was in den >Remedia Amoris< über die Heilung der Liebe gesagt wird. Denn bei ihnen ist die Liebe gewiß eine unbezwingliche Macht, der mit Vernunft nicht beizukommen ist, die aber auch nicht wie eine andere Krankheit durch Kräuter geheilt werden kann. Allein A m o r heilt die Wunden, die von ihm stammen, weshalb er zurecht als Arzt auftritt, d. h. nur der Besitz des geliebten Menschen bringt die Heilung; eine unerfüllte Liebe dagegen, das zeigt Dido, bedeutet den Tod. A n einer einzigen Stelle in den >Remedia Amoris< taucht die Vorstellung eines heilenden Liebesgottes auf, wenn die unglücklich Liebenden im Tempel der Venus Erycina und des A m o r Lethaeus Befreiung von ihrem Leiden suchen: 2 4 6 estprope Collinam templum venerabile portam, inposuit templo nomina celsus Eryx. est Ulte Lethaeus Amor, quipectora sanat inque suas gelidam lampadas addit aquam; illic et iuvenes votis oblivia poscunt et si qua est duro capta puella viro. Rem. 549-554 245

So auch in den >Heroiden< Oenone an Paris : Me miseram, quod amor non est medicabilis berbis !7Deficior prudens artis ab arte mea (EH V, 149-150); Medea an Iason: Quaeque feros pepuli doctis medicatibus ignesjnon valeo flammas effugere ipsas meas (EH XII, 167-168). 246 Eine allzu mechanistische Benutzung Ovids setzt Farai, Recherches, S. 143, Anm. 2, voraus mit seiner Vermutung, der Dichter des >Roman< habe das Amorstandbild im Tempel nach dem Vorbild des Amor Lethaeus gestaltet. Amor im >Roman< ist keine Statue, sondern wie Venus im >Guigemar< ein Gemälde, außerdem ist die Umformung antiker Mythen in Kunstwerke in den ma. Romanen sehr häufig. Ï51

Die verlöschenden Liebesfackeln weisen darauf hin, daß Heilung hier Tilgung der Liebe bedeutet, also im Vergessen und nicht in der Erfüllung besteht, so wie in der >Aeneis< Amor die Liebe der Dido zu Sychaeus aus ihrem Herzen tilgt, um die zu Aeneas vorzubereiten: Das Adjektiv Lethaeus leitet sich von dem Unterweltsfluß Lethe her, aus dem die Toten nach ihrer Ankunft im Hades trinken, um ihr irdisches Leben zu vergessen; [...]. Die Verbindung mit Amor ist singular und ad hoc gebildet: Amor soll die jungen Leute ihre Liebe vergessen lassen [...]. Sonst sorgt er für das Zustandekommen einer Liebesbeziehung, hier versteht er es jedoch gleichzeitig, Liebe zu >heilenZur Geschichte der Liebe als >Krankheit« 248 bot, gaben Anlaß zur Vermutung, die mittelalterlichen Dichter hätten sich dafür nicht an Ovid, sondern an der arabischen Medizin orientiert. Die Liebeskrankheit ist dort nicht nur poetisches Bild, sondern ein pathologisches Leiden, über dessen Therapie wissenschaftliche Erörterungen verfaßt wurden. Für den >Roman< hat Edmond Farai schon 1913 widersprochen, es sei »inutile de recourir, comme on l'a proposé, à l'hypothese que l'auteur aurait puisé dans des traités médicaux«. 249 Ungeachtet Farals Bedenken griff Sara Stebbins in ihrer 1977 erschienenen Untersuchung diese Theorie für Heinrich von Veldeke wieder auf und wollte »auch in der >Eneide< einige interessante Hinweise auf arabische Quellen« 250 sehen. Sie beschränkt sich allerdings weitgehend darauf, auf Parallelen zu den bei Crohns gebotenen Beispielen hinzuweisen, wobei die historische Einschätzung dieser Rezeption mit der sehr allgemein gehaltenen Feststellung, daß »die arabische Medizin [...] seit Mitte des 11. Jahrhunderts bekannt war«, 2 5 1 nicht befriedigend ist. Da die These, die Liebeskrankheit sei aus Ovid übernommen worden »aufgrund in der Vorlage gemeinter oder neu hineingelegter Inhalte«, 252 die Grenzen zwischen dem Ovidischen und dem arabischen Anteil völlig verwischt

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Christina Lücke, P. Ovidius Naso. Remedia amoris, Kommentar zu Vers 397-814. Diss. Bonn 1982, S. 179-180. Hjalmar Crohns, Zur Geschichte der Liebe als >KrankheitDe rerum naturas das die Atomlehre des Demokrit behandelt, widmet sich Lucrez auch dem Liebesverlangen der Menschen. Er erklärt es aus den Bildern der geliebten Person, die im Gedächtnis haften und die nach humoralpathologischer Vorstellung die Produktion von Körpersäften, vor allem Samenflüssigkeit, anregen. Sein Heilmittel gegen eine Ubermacht der Gefühle ist eine maßvolle Befriedigung des Sexualtriebes sowie der Einsatz der Vernunft.256 Ovids >Remedia amoris< sind in hohem Maße Lucrez' Ausführungen über die Liebe in seinem philosophisch-naturwissenschaftlichen Lehrgedicht verpflichtet. Direkt aus Lucrez übernommen ist der Hinweis, d a ß S e l b s t t ä u s c h u n g d e r H e i l u n g v o n L i e b e i m W e g e stehe. L u c r e z v e r s p o t t e t die E u p h e m i s m e n , m i t d e n e n V e r l i e b t e d i e k ö r p e r l i c h e n M ä n g e l d e r G e l i e b t e n zudecken und erwartet, daß man mit o f f e n e n A u g e n ihre Fehler sieht.257

Wichtig ist allerdings der Unterschied zwischen der medizinischen und der philosophischen Liebesauffassung. Die Mediziner gehen von einer Harmonie zwischen Körper und Seele aus. Krankheiten der Seele manifestieren sich im Körper und umgekehrt. Der Arzt muß in der Therapie versuchen, den harmonischen Zustand wiederherzustellen, wobei die Tatsache, daß der Patient krank ist, nicht ethisch bewertet wird, da Anfälligkeit für Krankheiten notwendig mit dem Körper verbunden ist. Der Philosoph Lucrez geht dagegen von einer Spannung zwischen Vernunft und Leidenschaft aus. Die Einsicht in die Funktionen des Körpers hilft, geeignete Gegenmaßnahmen zu treffen, letztlich ist aber die Herrschaft über die Leidenschaften kein somatisches Problem, sondern eine Angelegenheit der ratio, die zu beherrschen durchaus in der Hand der Menschen liegt. Das ist Gedankengut, das sich auch bei Ovid findet, »whose >Ars amatoria< and >Remedia amoris< incorporate ancient medical ideas on love as illness«. 258 Neben den inhaltlichen Übereinstimmungen ist es vor allem der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, mit der Ovid in 256

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258

Cf. Lukrez, IV, 1037—1287: T. Lucreti Cari D e rerum natura libri sex. Hg. von Joseph Manin. 5. Aufl. Leipzig 1969. Geisler, Kommentar, zu Rem. 3 1 1 ff. Geisler, S. 314, betont, daß die Beeinflussung der >Remedia< insgesamt durch Lucrez außer Zweifel stehe. Z u Lucrez als Quelle der >Remedia< cf. S. 77-78. Komplementär zu Rem. 3 u f f . ist Am. II, 4, w o der Verliebte alle Mängel in Aussehen und Begabung der Mädchen bewußt beschönigt. Mary Frances Wack, The measure of pleasure. Peter of Spain on men, women, and lovesickness. Viator 17(1986), S . 1 7 3 - 1 9 6 ; hierS. 175.

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seinen liebesdidaktischen Werken auftritt, wenn auch in parodistischer Absicht, der ihn mit philosophisch-wissenschaftlichem Schrifttum verbindet. Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen muß eine andere Frage den historischen Bedingungen einer Rezeption arabischer Medizintraktate um 1160 bzw. 1170 gelten, als die Eneasromane entstanden. 259 Die Ubersetzung arabischer Werke zur Medizin ins Lateinische beginnt mit Constantinus Africanus, der bis 1085 in Salerno wirkte. 260 Er übertrug vor allem die griechisch-arabische Medizin, die auf Galen fußte, so z.B. den >Liber Pantegni< des Ali ibn al-Abbas und das >Viaticum peregrinantis< des Ibn al-Gazzar, das bald zu den populärsten Medizintrakten gehören sollte. 261 Der für die Aristotelesrezeption des Mittelalters so wichtige Avicenna fand erst Berücksichtigung bei Gerhard von Cremona in Toledo, der auch Avicennas bedeutenden Beitrag zur Medizin, den >QuanunQuanunRoman< stammte, Nordfrankreich und der Normannenhof in England, sehr frühe Kontakte zu den Errungenschaften des Arabismus. In Chartres wurde das Werk des Constantinus Africanus von Wilhelm von Conches benutzt, einem engen Vertrauten des Johannes von Salisbury, der im Dienste von Geoffrey Le Bel Plantagenet I. stand. Petrus Alfonsi vom Hofe Heinrichs I. hatte sich selbst in

" ' C h r o n o l o g i s c h e Zusammenstellungen bieten: Lucien Leclerc, Histoire de la médecine arabe. Les sciences en Orient, leur transmission à l'Occident par les traductions latines. B d . I und II. Paris 1876, und Heinrich Schipperges, Ideologie und Historiograpie des Arabismus. Sudhoffs Archiv. Beihefte. Bd. I. Wiesbaden 1961. 260 Cf. Heinrich Schipperges, Constantinus Africanus. L M A III (1986), Sp. 174. 261 Die Transkription der arabischen Namen richtet sich nach dem L M A . Auszüge aus den genannten Autoren zur Liebeskrankheit finden sich bei Crohns, Geschichte, S. 70—71. 262 C f . E.Meyer, Gerhard von Cremona. L M A IV(i989), Sp. 1 3 1 7 - 1 3 1 8 . Zur Liebeskrankheit bei Avicenna cf. Crohns, Geschichte, S. 7 1 - 7 2 . 263 Nach Meyer, Gerhard, Sp. 1317, kam Gerhard von Cremona in den vierziger Jahren des 12. Jhs. nach Toledo. J . Gruber, Avicenna, L M A I (1980), Sp. 1300, setzt die Übertragung des >Quanun< Ende des 12. Jhs. an. 264 Sara Stebbins, Studien, S. 104, bringt Annas Worte, sie könne nichts Schlechtes über Aeneas sagen, mit der Verleumdung der geliebten Person durch Scheltreden alter Weiber als Ekelkur bei den Arabern in Verbindung. Das findet sich erst bei Avicenna (cf. Haage, Liebe, S. 192), der den Eneasdichtern kaum bekannt gewesen sein dürfte.

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Toledo aufgehalten. 265 Wilhelm von Conches ist wichtig für das Einwirken des Arabismus im 12. Jahrhundert, denn vor allem der neu gewonnene Aristoteles brachte wichtige Impulse für die Naturphilosophie, während »selbst in den fortschrittlichen Zentren wie Chartres, Reims, Toulouse, Tours und Paris der konkrete Zuwachs an medizinischem Wissen zweitrangig war«. 2 6 6 Aus historischen Überlegungen heraus dürften die in Toledo übersetzten Schriften dem Dichter des >Roman< und Veldeke nicht zur Verfügung gestanden haben, aber für einen Vergleich der Konzeption der Liebeskrankheit in der Medizin und der Eneasromane genügt es, Salernitisches Gedankengut anzuführen, das sehr schnell populär wurde. Seit Constantinus Africanus wurde die Liebeskrankheit in der Medizin unter den terminus technicus amor hereos gefaßt, eine Ubersetzung des arabischen Begriffs al-isq.267 Eine Parallele zwischen dem amor hereos und der in den Eneasromanen geschilderten Liebeskrankheit liegt vor allem aufgrund der entsprechenden körperlichen Symptomatik nahe, besonders der komprimierte Symptomkatalog, den Amata im >Roman< aufstellt, erinnert an eine wissenschaftliche Nosologie: >D'amor estuet sovent suer et refreidir, fremir, trenbler, et sospirer et baaillier, let perdre tot beivre et mangier et degeter et tressaillir, muer color et espalir, giendre, plaindre, palir, penser et senglotir, veillier, plorerà RdE 7921-7928 Das ist eine Zusammenstellung, wie sie sich etwa auch in dem >Liber de heros morboViaticum< übersetzten Traktat, findet: 2 6 8 Quia ergo hanchuius morbipessimitatem pessima anime comitantur accidentia, id est cogitationum assiduarum incendia, necesse est ut oculi eorum sunt concavi atque mobilissimi propter cogitationem animi ad coitum et ad rem quam amat; irridendam nimium desiderium. Eorum palpebre graves sunt, cutis citrina ex commixtione colere rubee propter nimias vigilias; pulsus fortis sine [dilatatione] 165

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C f . Rodney M. Thomas, England and the twelfth century renaissance. Past & Present 101 (1983), S. 3 - 2 1 . Heinrich Schipperges, Die Assimilation der arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter. Wiesbaden 1964, S. 140. Zu Begriff und Bedeutung von amor hereos cf. Haage, Liebe, S. 1 7 8 - 1 8 2 . Zitiert nach: Mary F.Wack, The >Liber de heros morbo< of Johannes Afflacius and its implications for medieval love conventions. Speculum 62 (1987), S. 324-344; hier S. 327. 156

naturali. Quanto magis autern anima in huiusmodi cogitationes diffunditur, tanto plus actiones eius et corporis pessundantur. Corpus enim se quitur actiones anime, anima vero passiones in corpore.

Bei aller Übereinstimmung mit der Nosologie des >amor hereos< bietet der Symptomkatalog im >Roman< allerdings nichts, was sich nicht auch bei Ovid findet, abgesehen davon, daß er die pathologischen Merkmale nicht in dieser dichten Form aufgelistet hat.269 Einzig Lavinias nervös zuckende Augen (Quant Ii tressaillent li oil,/ ki toz tens erent en remoil, [...]. RdE 8411-8412) haben keine Entsprechung bei Ovid, sind aber ein typisches Symptom des amor hereos als oculi mobilissimi. Sie könnten allerdings auch einen frei erfundenen Zusatz des Franzosen darstellen und sind kein sicheres Indiz für die Benützung medizinischer Fachliteratur. Bei Veldeke ist, wie gesehen, der gesamte Symptomkatalog weniger gedrängt, weniger pathologisch und entspricht damit auch nicht in dem Maße einem Krankheitsbild im Sinne der Medizin, wie dies im >Roman< der Fall ist. Allerdings ist die Beschreibung der Symptomatik am wenigsten geeignet, Beziehungen zur medizinischen Fachliteratur nachzuweisen, denn gerade die krankhaften Auswirkungen sind uralter Bestandteil poetischer Sprache und stellen ein Gemeingut aus Dichtung, Philosophie und Medizin dar, das nicht auf seine Quellen zurückgeführt werden kann. Typisch medizinisch ist die Frage nach der Aitiologie des amor hereos und daraus resultierend nach der Therapie. Die Ursachen wurden von den arabischen Ärzten als psychogen aus dem übermäßigen Denken an die geliebte Person und somatogen aus der Dyskrasie der Körpersäfte erklärt. Wichtig ist die Dauer der intensiven Leidenschaft, [denn] je länger dieser Zustand anhält, desto klarer manifestiert sich die Unordnung als Krankheit im somatischen Bereich, nämlich als Auszehrung, Schwächezustand, der zum Tod führen kann, aber auch im psychischen als >MelancholiaRoman< wird somatogene Ursachenforschung angestellt, ohne daß Veldeke darauf eingegangen wäre. Lavinias Beteuerung, sie leide an Fieber, entlarvt Amata aufgrund der tiefen Seufzer als Lüge: >Ge conois bien cestplaint et cez sospirs ki si lone sont: d'amor vienent, de molt parfont; plaint et sospir ki d'amor vienent sont molt traitiz, près del euer tienent.< R d E 8464-8468

Allerdings handelt es sich bei der Begründung, daß die Seufzer umso tiefer sind, je tiefer sie aus dem Herzen kommen, um eine pseudowissenschaftliche Erklärung, die nichts mit der medizinischen Fachliteratur zu tun hat. Ovid beweist weit mehr medizinisches Verständnis als die Eneasdichter, denn bei ihm resultiert, wie gesehen, der schlechte körperliche Zustand der Liebenden aus den Strapazen eines länger andauernden Liebesdienstes, wie auch beim amor hereos die Dauer entscheidend die Auswirkungen bestimmt. Im >Roman< und bei Veldeke sind dagegen die körperlichen Symptome immer sofort mit dem Beginn der Liebe vorhanden und treten auch immer alle zusammen in Erscheinung. Das deutet darauf hin, daß die medizinische Terminologie ein in erster Linie rhetorisches Instrumentarium ist und daß Psychosomatik hier etwas anderes meint als im Falle des amor hereos,271 nämlich das auch nach außen sichtbare Erfaßtsein des Menschen von einer Macht, die ihn völlig beansprucht, die aber auch außerhalb seiner Seinsordnung liegt, während die Medizin gerade die im Menschen liegenden Ursachen erforscht. Beachtung verdient auch, daß die Eneasromane geradezu bemüht sind, die Liebeskrankheit von anderen abzugrenzen und ihre Behandlung somit auch dem Kompetenzbereich des Arztes zu entziehen. Dieser exklusive Charakter der poetischen Liebeskrankheit paßt zu ihrer religiösen Aitiologie und ist ganz im Sinne der Klage, die Apoll bei Ovid anstimmt : ei mihi, quod nullis amor est sanabilis herhis (Met. I, 523). So findet es sich auch in den Lehren der Amata im >Romansenz erbe beivre et senz racine, a chascun mal fait sa mecine; n'i estuet oignement n'entrait, la plaie saine que ilfait.< RdE 7969-7972 Und Heinrichs von Veldeke Eneas stellt fest: 'Want mir wirs is tüsent stunt, dan ich mit wâfen wäre wunt,

[...]

so mohte ich des geniezen, daz mich arzâte bunden, die mich geheilen künden, daz manegem fromen man geschiht. zu dirre wunden höret niht salbe noch phlaster.< En. 296, 31-270,1 Die Vorstellung von der Heilung der Liebeskrankheit verrät weit mehr den Einfluß Ovids als der Medizin, wie auch die Minnepathologie nach seinem Vorbild gestaltet ist. Typische Fragen der Fachliteratur wie die Bestimmung der Ursachen, die Frage, wann man bei Liebe von Krankheit sprechen kann, und die möglichen Therapien spielen in den Eneasromanen keine Rolle. So wird auch von Seiten der medizinhistorischen Forschung der Einfluß der Ovidischen Liebeskonzeption auf die Poesie des 12. Jahrhunderts sehr viel höher eingeschätzt als der des medizinischen amor hereos. B. D . Haage betont, daß »mit dem medizinischen Terminus amor hereos [...] auch die literarisch herausragende >Liebeskrankheit< der Dido in Vergils >Aeneis< nicht belegt werden« 2 7 2 kann, wie er auch die Vorstellung der Liebeskrankheit bei den Minnesängern davon abgrenzt: Sie führen zwar - wie eindringlich auch immer - toposartig die Symptomatik leidenschaftlicher Liebe vor Augen, [...] es fehlt bei ihnen jedoch der pathologische Zug des realen medizinischen, nosologisch bei Galen und anderen fixierten Terminus amor hereos, es fehlt vor allem das Andauern des krankmachenden Zustandes.273 Für den dominanten Einfluß Ovids auf die Literatur des 12. Jahrhunderts spricht auch, daß hier die Frauen im Zentrum des Interesses stehen, während sich die gleichzeitige medizinische Fachliteratur vor allem mit der Liebeskrankheit der Männer befaßt: »Among the causes underlying the appearence of lovesick women in popular literature of the twelfth and 272 273

H a a g e , Liebe, S. 185, A n m . 4 5 . Haage, Liebe, S. 184.

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early thirteenth century must be reckoned a new interest in Ovid«. 2 7 4 So betont Mary F. Wack auch für den >Roman< die Vorbildlichkeit Ovids : In the anonymous twelfth-century adaption of the >AeneidRoman d'EneasArs< and the >RemediaRoman< sind eine Zusammenstellung von Ovids Ratschlägen, das Nichtstun zu vermeiden und beispielsweise auf die Jagd zu gehen: ergo ubi visus eris nostrae medicabilis arti, fac monitis fugias otia prima meis. haec ut ames faciunt; haec ut fecere, tuentur: baec sunt iucundi causa cibusque mali, otia si tollas, periere Cupidinis arcus contemptaeque iacent et sine luce faces. vel tu venandi Studium cole: saepe recessit turpiter a Phoebi vieta sorore Venus. Rem. 135-200

Der Jagdausflug als solcher ist bereits bei Vergil vorgebildet, doch fungiert bei ihm die Verbindung von Liebe und Jagd sehr viel subtiler als Gleichnis eines seelischen Vorgangs, denn die Schicksalslinie, die Aeneas zu Dido führt, wird durch die Jägerin Venus (3 i4ff.)> das Gleichnis der Jägerin Diana und die Jägerin Dido bezeichnet; die Bilder erscheinen als Chiffre eines tragischen Schicksalszusammenhangs. 283

Diese tragische Verknüpfung bei Vergil wird durch den Exkurs des Franzosen über das Wesen der Liebe völlig zerstört; die Jagd der Dido gerät vielmehr zu einem Beispiel eines remedium amoris. Im >Roman< sind die Anspielungen auf Ovid so deutlich, daß man hier nicht auf die Araber verweisen muß. Das gilt noch weit mehr für Veldeke, bei dem von den Ausführungen des Franzosen über die Liebesjagd nicht mehr zu finden ist als der knappe Satz, wandes was ir vile nôt (En. 59, 11). Es zeigt sich darin nicht sein Bestreben, die Ablenkungsmanöver der arabischen Ärzte zu 283

Pöschl, Dichtkunst, S. 92. 162

widerlegen, 284 vielmehr stimmt es zu seiner generell distanzierten Haltung gegenüber dem >RomanArs< und >Remedia< ausschreibt. Die Vorstellung der Lehr- und Lernbarkeit von Liebe, in der Glück oder Unglück von vermittelbaren Verhaltensregeln abhängt, paßt nicht zur Vorstellung einer schicksalhaften Liebesmacht. Veldeke mag den Widerspruch gespürt haben, als er die Ausführungen des Franzosen gerade bei Dido tilgte, die gewissermaßen den Beweis dafür darstellt, daß allein der sichere Besitz des geliebten Menschen ein Heilmittel für die tödliche Liebeswunde ist. Diese Vorstellung von Heilung hängt eng mit den Vorstellungen von ihrer Entstehung zusammen und findet sich innig verteidigt bei Gottfried von Straßburg, der mit einer Geschmeidigkeit die Terminologie von Krankheit und Heilung handhabt, wie sie den stark didaktischen Eneasromanen fehlt. 285 Blancheflur dringt als Arztin verkleidet zu Riwalin vor und gibt ihm mit ihrer Liebe auch die Lebenskraft zurück (Tr. 1 2 7 5 - 1 3 2 8 ) , und die Minne selbst führt als Arztin Tristan zu Isolde und gibt die Liebenden einander als Medizin: 2 8 6 Nu kom geslichen lise ze der kemenâten in ir amis unde ir arzâtin, Tristan und diu Minne: Minne diu arzâtinne sifuorte ze banden ir siechen Tristanden, ouch vant si Isôte ir siechen dà. die siechen beide nam sie sä und gab in ir, im sie ein ander z'arzâtie. Tr. 1 2 1 6 4 - 1 2 1 7 4

Die Verbindung des Jagdausfluges bei Vergil mit der Passage aus den >Remedia Amoris< ist ein gutes Beispiel für das große Geschick des Fran284

Stebbins, Studien, S. 104, argumentiert, die Jagd sei als Ablenkungsmanöver eingebracht worden, um »sie als eine falsche und heidnische der eigenen, einzig richtigen Methode gegenüberzustellen«. Vergleichspunkt muß dagegen Ovid sein, dessen Methode letztlich auch bei Dido versagt. 285 Zu beachten ist die Vorstellung von der gegenseitigen Heilung der Liebenden in den Eneasromanen und im >TristanAeneis< paßt, überhaupt nicht wie ein Fremdkörper, sondern wachsen aus der Situation heraus. Ein solches Ausschreiben des Ovid konnte auch weniger glücklich ausfallen, wie Herborts von Fritslar Mißgriff in die Anweisungen der >Ars Amandi< zeigt, die er ohne das Vorbild Benoits eingefügt hatte. Ovids listige Kavaliersgeste, selbst w o sie gar nicht erforderlich ist, um im Theater Bekanntschaften mit Frauen zu machen: utque fit, in gremium pulvis si forte puellae deáderit, digitis excutiendus erit; etsinullus erit pulvis, tarnen excute nullum: quaelibet officio causa sit apta tuo. A A 1,149-152 läßt Herborts Jason ohne das Umfeld des Theaters gänzlich tölpelhaft und ungezogen gegenüber Medea auftreten: 2 8 7 Er greif ir an ir gewant Den stoup er ir abe las Da gestuppe nie niht was Da bette er die geberde Als da stoup were Daz tuot der herre umbe daz Daz er griffe furbaz Er greif ir under daz kleit Daz was der iuncfrouwe leit. LvT 706-7014 Aus der sehr engen Bindung des >Roman< an Ovid läßt sich schließlich vielleicht auch die Salbenbüchse Amors erklären, die ihn als Arzt ausweist, ohne daß es in dieser Form bei Ovid zu finden wäre. Ein Hinweis darauf findet sich paradoxerweise in einem medizinischen Traktat, in Bernardus' de Gordonio >Lilium medicinaeRe287

Weniger einen stilistischen Fehler als eine bewußte »ironisch-parodistische Absicht« sieht dagegen Schnell, Causa, S. 445, in den Minnedarstellungen Herbons, d.h. als Übernahme rhetorischer Topoi im Sinne eines Verfremdungseffekts, der als Kritik gegen hohl gewordene Minnekonventionen gedacht ist. 288 Haage, Liebe, S.194, nennt Galen, Ibn al-Gazzar, Ali Abbas, Avicenna und Arnald von Villanova als von Bernard benutzte medizinische Fachliteratur. Crohns, Geschichte, S. 80, nennt außerdem Hippokrates, Aristoteles, die Bibel, Seneca, Ovid und Sueton.

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media Amoris< belegt vor allem, welchen Ruhm ihr Verfasser gewissermaßen als Fachkollege in der Medizin genoß. Im Kapitel über die Liebeskrankheit289 schlägt Bernard Ablenkung als Heilmittel vor und beruft sich dafür nicht auf die arabischen Arzte, sondern auf Ovid, der in den >Remedia< empfiehlt: desiderium puer ille [sc. A m o r ] sequi solet, odit agentes, da vacuae menti, quo teneatur, opus. Rem. 1 4 9 - 1 5 0

Dann kombiniert Bernard zwei Verse, die in seiner Zusammenstellung gar keinen rechten Sinn ergeben und die bei Ovid in völlig andere Kontexte gebettet sind: 290 vade per urbanas splendida castra togae pyxidas inventes et rerum mille colores. Rem. 159 und 353

Der erste Vers bezieht sich auf Ovids Vorschlag, der Liebende solle Jurist werden und im Getümmel des Forums seinen Kummer vergessen, der zweite dagegen zielt auf die von Lucrez so kritisierte Idealisierung der geliebten Person. Ovid empfiehlt, der Liebende solle das Mädchen unangemeldet überraschen (improvisas ades; deprendes tutus inermem Rem. 347), denn die Schminkutensilien werden ihre Schönheit als bloße Maske verraten.291 Die ursprüngliche Bedeutung der pyxides im Kontext bei Ovid hat Bernard völlig zerstört, doch bleibt seine positive Umdeutung der Büchsen zu Heilmitteln für den Liebenden auch in Hinblick auf den >Roman< interessant. Ovid führt nämlich weiter aus: pyxidas inventes et rerum mille colores et fluere in tepidos oesypa lapsa sinus, illa tuas redolent, Phineu, medicamina mensas. Rem. 3 5 3 - 3 5 5

Bei Ovid werden die pyxides ausdrücklich als medicamina bezeichnet, allerdings im negativen Sinn zu Abschreckung, damit der Ekel vor einer lediglich vorgetäuschten Schönheit die Liebe beendet. Immerhin findet sich an dieser Stelle das mit boiste und buhse etymologisch verwandte

289 290 291

In Auszügen bei Crohns, Geschichte, S. 78-84. Zitiert nach Crohns, Geschichte, S. 82; die richtige Zuweisung der Verse dort Anm. 1. Umgekehrt warnt Ovid in A A III, 209-210: non tarnen expósitas mensa deprendat amatori pyxidas: ars faciem dissimulata iuvat. Zur Stelle erklärt Brandt, Kommentar: »Pyxides [...] sind die unzähligen Büchsen und Schächtelchen, wie sie zum Inventar des Toilettisches einer römischen Dame dieser Zeit erforderlich sind«. 165

Wort pyxis als Heilmittel im Besitz des Mädchens. 292 Eine positive Umdeutung, die Heilung der Liebeskrankheit in die Hand des geliebten Menschen zu Ifegen, ist von hier aus leicht möglich, vor allem wenn man die im Mittelalter übliche Sonderbedeutung von pyxis/boiste/buhse als Arzneigefäß bedenkt. Dieser Wortgebrauch könnte auch der Grund gewesen sein, daß Bernard die Ovidverse in seinen medizinischen Traktat integrierte und zu einer neuen Bedeutung kombinierte. Ob der Dichter des >Roman< nun wirklich aus der Umdeutung der Verse in den >Remédia< seinen Amor mit der Salbenbüchse ausstattete, muß Spekulation bleiben. Die überall spürbare enge Bindung des Franzosen an Ovid läßt dies zumindest möglich erscheinen und würde die Stelle sinnvoller erklären als der umgedeutete Köcher des antiken Gottes oder der Vergleich mit dem Amor Lethaeus, der Liebe nur dadurch heilen kann, daß er sie tilgt.

V. Zum Wesen der Minneauffassung ι.

Die Ambivalenz der Liebe bei Ovid: Liebe als ars und impetus

Aus dem >Roman< geht noch deutlicher hervor als bei Veldeke, daß der Franzose bei seiner Bearbeitung des Aeneasstoffes die Liebesdichtungen Ovids von den Elegien bis zu den >Metamorphosen< herangezogen hat, ohne die Gattungsgesetze der jeweiligen Werke zu beachten. Manche Ungereimtheiten des Franzosen erklären sich aus dieser Quellenkompilation, auch ist er sehr viel mehr als Veldeke bereit, zugunsten der jeweiligen Situation amüsante Einlagen, Exkurse oder Kommentare einzuflechten. Umgekehrt wird an Veldekes Eneasroman immer wieder sein bewußtes Streben nach einem harmonischen Gesamtkonzept deutlich. Die Liebesauffassung bei Ovid ist eng mit den Gattungs- und Stilgesetzen der betreffenden Werke verbunden, so daß man nicht schlechthin von der Liebesdichtung Ovids sprechen kann, wie dies R. Schnell in seiner Einschätzung tut: Obwohl also die ovidianische Liebesdichtung vom Sieg Amors über den Menschen, von der Macht der sexuellen Triebe im Menschen spricht [...], geht sie davon aus, daß der von der Liebesleidenschaft Uberwältigte seine 292

Aus der Wortkonkordanz von Defferrari e.a. zu Ovid ist ersichtlich, daß in Ovids Gesamtwerk das Wort überhaupt nur zweimal vorkommt, und zwar an den beiden erwähnten Stellen A A III, 210 und Rem. 353.

166

sexuellen Begierden z u beherrschen und die rechte A r t des Verführens z u praktizieren v e r s t e h t . 2 9 3

Ein solches ambivalente Schwanken zwischen zwei grundlegend unterschiedlichen Liebesauffassungen haben erst die Eneasdichter durch ihre unterschiedslose Verwendung der Liebesdichtungen Ovids geschaffen, während bei Ovid die Grenze einer Liebe als ars und impetus in den Grenzen der Gattungen liegt. Der >Ars Amandi< und den >Remedia Amoris< liegt die philosophische Auffassung von der Beherrschbarkeit der Leidenschaften durch die ratio zugrunde, weshalb die Liebe wie eine τέχνη lehr- und lernbar wird. Liebe wird so zum gekonnten Spiel und listigen Manöver, Kummer ist verpönt, da Liebe auf Genuß und Erfüllung abzielt. Immer wieder wird aber deutlich, daß die Liebeslehren so ernst nicht gemeint sind und sich an ein Publikum richten, das den lascivus amor (AA II, 497) liebt. Zwiespältig erscheint die Liebe in den Büchern der >AmoresArs AmandiAmores< kommt die Vielschichtigkeit der Liebe zum Ausdruck, in der sich zwischen Hingabe und Geschäft unzählige Abwandlungen ergeben, in der aber auch jede Aussage über die Liebe immer nur einen Aspekt und nie die ganze Wahrheit erfaßt. Eine Zwischenstellung nehmen die >Epistulae Heroidum< ein, deren Briefe manche Liebeslehren aus den Elegien enthalten, die sich aber in der zentralen Bedeutung der Liebe für das Leben der Schreiberinnen den >Metamorphosen< annähern. In den >Heroiden< wird der Versuch einer Psychologie mythischer Gestalten dadurch unternommen, daß die Heroinen in »ihrer personellen Verschiedenheit gleicher Lage gegenüber« gezeichnet werden:

193 294

Schnell, Causa, S. 39. S o ζ . B . A m . I 4, 8,9; II 5,9b, 10, 17; III 2, 4, 7, 12.

Ié 7

Denn der amor, die Liebesbindung jeder Heroine ist bedroht, ja, der amor ist unerfüllbar geworden. Aber die Heroine weiß es noch nicht. Welchen Brief wird sie in derart hoffnungsloser Situation, deren Ausweglosigkeit jeder Leser weiß, verfassen? 295

Keine reinen Liebesdichtungen sind die >MetamorphosenRoman< kann man auch auf den deutschen Eneasroman übertragen. 296 Ovids Verwandlungssagen wurden von den Eneasdichtern nicht nur für die mythologischen Erweiterungen als stoffliche Quelle herangezogen, sondern auch die entscheidenden Abschnitte der Minneepisoden sind Ubernahmen aus den >MetamorphosenMetamorphosen< gehorchen· den Gesetzen des Epos und unterscheiden sich im Stil grundlegend von den Dichtungen im elegischen Distichon. Liebe in den >Metamorphosen< ist ein starkes Movens der Handlung, da sie gemäß der Intention des Gedichtes Veränderung bewirkt. Sie verändert die Menschen grundlegend in ihrem Denken und Verhalten und treibt sie zu unmöglichen Taten an. Pudor und ratio als dem Menschen innewohnende und vertraute Kräfte unterliegen dem unbekannten amor. Aus der Niederlage und dem Bewußtsein der Veränderung entsteht in den >Metamorphosen< die Erkenntnis einer übermächtigen Liebe, zu der der Liebende ein geradezu religiöses Verhältnis entwickelt, weil er sich ihr ganz ergeben muß, aber auch große Kraft daraus bezieht. Diese Auffassung der Liebe als impetus hat in den Eneasromanen nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Sie erscheint nur weniger konsequent als bei Ovid, weil immer wieder Passagen aus Ovids elegischen Dichtungen eingeflochten sind. Das Schwanken der Figuren in den Eneasromanen zwischen der Liebe als ars und impetus läßt sich besonders gut an den Monologen nachweisen. Wichtig ist aber, daß diese Inkonsequenz mit der Art der Quellenkompilation verknüpft ist und daß man nur mit großer Vorsicht und unter Berücksichtigung der Entstehungsweise die Liebesauffassung der Eneasromane interpretieren darf.

295

296

Heinrich Dörrie, Der heroische Brief. Bestandaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung. Berlin 1968, S. 18. Dazu ders., Die dichterische Absicht Ovids in den >Epistulae HeroidumMetamorphosenAmores< beschrieben hat. Die antiken Wurzeln dieser Liebesauffassung verraten sich auch im >Lanzeletquid non audet âmor: waz getar diu minne niht bestân ?minne ist ein wernder unsin.< sît ich zellende worden bin, so stuont dar nach geschriben >minne hât mâze vertriben. sine mugent samen niht bestân.< Lanzelet 4849-4858

Die Charakterisierung der Minne mit negativen Begriffen resultiert aus den schmerzhaften körperlichen Symptomen und ihrer Nähe zum Tod. Mit unmâze ist somit in erster Linie eine Grenzerfahrung gemeint, die den neuen Zustand als Gegensatz zum früheren harmonischen beschreibt. In unmâze und unsinne manifestiert sich auch der Totalitätsanspruch der Minne, so wie in Ovids Amorerzählung es nur darauf ankommt, daß der Schuß getroffen hat. Dann liebt man, oder man liebt gar nicht. Die Vorstellung von verschiedenen Abstufungen der Intensität widerspricht dieser Lehre und, ist, wie gesehen, im >Roman< aus der Benutzung zweier unterschiedlicher Quellen entstanden. In dem vollkommenen Anspruch der Minne liegt aber auch eine große Gefahr, da Liebe tödlich enden kann. Der Beginn der Liebe wird sofort mit dem Gedanken an den Tod verbunden, weil der Ausgang noch nicht absehbar ist. Dido gelangt zur Einsicht, >nû bedarf ich wol arme, daz sich Vênûs min erbarme, ob ich iemer sal genesen, od ich mûz schiere tôt wesen.< En. 52, 19-22

309

Zitiert nach: Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet. Hg. von K. A. Hahn. Mit einem Nachwort von Frederic Norman. Berlin 1965. 310 C f . Ovid, Met. IV, 68: quid non sentit amor?·, Fast. II, 331: quid non amor improbus audet?

7 5

l

Lavinia ist ganz anders als ihre Vergilische Vorgängerin nicht dazu bereit, sich mit dem Sieger aus dem Zweikampf zu vermählen: Si sprach >word Ênêas erslagen, sô müz ich off ertliche sagen mînen goten allen, daz ich mich wil ervallen von diseme turne hin nider dà nis nehein rede wider.< En. 323, 3 1 - 3 6 Didos Schicksal macht deutlich, daß unerfüllte Liebe wirklich zum Tod führt. D i e Begründung ihres Todes in den Eneasromanen weicht darin von der Vergilischen Begründung ab, w o sich D i d o vor allem wegen ihres verletzten Ehrgefühls das Leben nimmt. F ü r die zerstörerische Macht der Liebe bieten gerade Ovids >Metamorphosen< Beispiele. Piramus und Thisbe gehen gemeinsam in den Tod, Medea bringt aus Rache ihre Kinder und Jasons Geliebte um, Scylla verrät ihren Vater an den Feind. D i e Angst vor einem T o d aus unerfüllter Liebe entbindet die Liebenden von allen H e m mungen und treibt sie so zu Taten, derer sie sonst nicht fähig wären. Wie Lavinia schreibt Byblis einen Brief, um ihrem Bruder die Liebe zu gestehen: >aut nostro vetitus de corde fugabitur ardor, aut hoc si nequeo, pereamprecor ante toroque mortua conponar, positaeque det oscula frater.< Met. IX, 501-504 Ü b e r den Wunsch, tot auf der Bahre zu liegen und so den Abschiedskuß des Bruders zu erhalten, siegt dann als letztes Mittel der Entschluß, ihm die Liebe in einem Brief mitzuteilen: >poterisne loqui ? poterisne fateri ? coget amor: potero! vel, si pudor ora tenehit, littera celatos arcana fatebitur ignis.< Met. IX, 5 1 5 - 5 1 6 Erstaunlicherweise ist Veldeke in der Motivierung des Briefes der Lavinia näher an Ovid als der >Romancar ainz que la bataille seit, li voil primes faire saveir; s'en iert plus fiers el mien espeir. Se de m'amor est a seür, 176

molt l'en trovera cil plus dur, molt en prendra grant hardement, s'il sot onkes d'amor neient.< RdE 8756-8762 Bei Veldeke dagegen schreibt Lavinia wie auch Byblis deshalb den Brief, weil die einzige Alternative dazu der Tod wäre. Es muß damit nicht gesagt sein, daß Veldeke sich hier die Bybliserzählung zum genauen Vorbild nahm, aber er beherrscht den Spannungsaufbau der Ovidischen Monologe, die sich in einem inneren Konflikt zur Todesangst steigern und erst aus der Konfrontation mit dem Tod einen Handlungsimpuls beziehen: >ez is bezzer dan ich verderbe, wandich schiere sterben müz, mir ne werde der hitze büz. ich weiz ouch wol, nehein nôt is arger danne der tôt. swie sô mir sì iedoch, ich sterbe ungerne noch. die wile ich mach lebendech blîben. ich mûz, wâne ich, scrîben gefûchlîche an einen brief daz grôze leit âne lief.< En. 285, 16-26 Farai hat für die Vorstellung, daß aus der Liebe große Kühnheit erwächst, auf Ovid verwiesen. 3 1 1 N u n ist aber gerade die Stelle im >Roman< kein Beleg für die Ovidische Auffassung, die sehr viel mehr Veldekes Lavinia repräsentiert. Ovids audacia bezeichnet die Hemmungslosigkeit der Liebenden, denn angesichts ihrer Todesangst erscheint eine noch so skandalöse Tat als gerechtfertigt, Lavinia im >Roman< und später auch bei Veldeke meint nicht ihre eigene Kühnheit, sondern will Aeneas mit ihrer Liebe Kraft f ü r den Kampf verleihen. Das verrät den Einfluß mittelalterlicher Ethik, daß die Liebe den Mann tüchtig macht, daß aber auch umgekehrt nicht nur die Schönheit, sondern auch K a m p f k r a f t und Mut den Mann der Liebe wert machen. Wenn ein Unterschied zwischen der Didoepisode und der Laviniaepisode liegt, so besteht er nicht bei den Frauen, sondern im Verhalten des Aeneas. Während sich Aeneas bei Dido gewissermaßen allein der Liebe hingibt und statt seiner eigenen Aufgaben Didos Werk fortsetzt, erweist sich Aeneas in Latium als vollendeter Liebender gleichermaßen wie als vollendeter Kämpfer.

311

Farai, Recherches, S. 1 4 0 - 1 4 3 .

177

Zunächst ist es aber Lavinia, die sich in einem heftigen inneren Kampf den Entschluß zum ersten Schritt abringt, einem Kampf, der im Monolog durchgefochten wird. c. Minne als Vollzug: Der Monolog Die enge Bindung der Minne an das persönliche Erlebnis, das nach Amatas Lehre der einzige Weg ist, um das Wesen der Minne zu erfahren, zeigt sich daran, daß die Auseinandersetzung mit der Minne nicht einfach im epischen Bericht wiedergegeben wird, sondern im Monolog aus der Sicht der Betroffenen stattfindet. Emil Walker hat die langen Monologpassagen, als »störende und stilwidrige erratische Blöcke« 312 bezeichnet. Ob man ihnen mit diesem Urteil gerecht wird, läßt sich nur in Hinblick auf die Stellung der direkten Rede in den Eneasromanen generell und besonders in den Minneszenen, vor allem aber nur im Vergleich mit der Vergilischen Vorlage ermessen. Eine deutliche Veränderung der >Aeneis< gegenüber Homer sah Richard Heinze in der Zurückdrängung der direkten Rede. 313 Sie wird von Vergil nicht nur sehr viel weniger eingesetzt, sondern trägt auch in ihrer Gestaltung alle Merkmale der kunstmäßigen oratio·, die Vermeidung des in kurzer Rede und Gegenrede sich entwickelnden Dialogs, der Verzicht auf willkürliche Abschweifung, das Erschöpfende der Argumentation, die Berechnung auf den Charakter des Hörers, die überlegte und klare Disposition. 314

Die Eneasromane weisen dagegen eine gewissermaßen homerische Handhabung der direkten Rede auf. Sie setzen sie häufig ein, scheuen sich dabei durchaus nicht vor Überschneidungen mit dem epischen Bericht oder vor Wiederholungen innerhalb der direkten Rede. Man findet das lebhafte, bis zur Stichomythie gesteigerte Streitgespräch, so daß im >Roman< und bei Veldeke die direkte Rede sehr viel mehr das mimetische Abbild einer realen Sprechsituation ist als bei Vergil. In den Minneepisoden der Eneasromane findet man den Dialog und den Monolog in deutlich unterschiedlicher Funktion. Die Dialoge werden 312

313

314

Emil Walker, Der Monolog im höfischen Epos. Stil- und literaturgeschichtliche Untersuchungen. Stuttgart 1928, S. 33. Cf. die Kap.: »Disposition der Rede«, »Monolog«, »Rhetorik« bei Heinze, Virgil, S. 424—435. Die einzelnen Reden der >Aeneis< sind besprochen bei Gilbert Highet, The speeches in Vergil's >AeneidEneid< of Heinrich von Veldeke. Göppingen 1981. Heinze, Virgil, S. 434.

178

wie bei Vergil nie zwischen den Liebenden geführt, sondern sind Lehrgespräche über die Liebe zwischen Frauen. Vorbild konnte dafür Vergils Gespräch zwischen Anna und Dido sein, aber auch bei Ovid spielt die ntitrix, serva oder laena eine wichtige Rolle als Liebeslehrerin. 315 Annas Aufgabe ist leichter, denn sie muß Dido lediglich in einer Meinung bestärken, die längst angelegt ist, und sie tut das mit durchaus berechnenden Argumenten, wie aus den Eneasromanen noch deutlicher als aus Vergil hervorgeht. Amata dagegen hat mehrere Aufgaben zu erfüllen. Sie muß ihrer Tochter zunächst überhaupt erklären, was Liebe ist, kämpft dann gegen Lavinias Widerstand an und will ihr zudem noch einen ganz bestimmten Mann ans Herz legen. Entsprechend temperamentvoll gestaltet sich das Gespräch zwischen Amata und Lavinia, das seinen Reiz aus der lebhaften Wechselrede und den vorwitzig entwaffnenden Antworten der Tochter erhält. Die Mçnologe verhalten sich zu den Dialogen wie die Praxis zur Theorie. Sie setzen ein, wenn die Minne von zentraler Bedeutung für das Geschehen wird, denn Lavinia hatte Aeneas vom Fenster aus erblickt und sich in ihn verliebt, und Aeneas gerät nach der Lektüre des Briefes unter den Bann der Minne. Geradezu topisch ist die Einsamkeit des Liebenden als Voraussetzung des Monologs. Vergil vermeidet den Liebesmonolog, weil er auch die damit verbundene Psychologisierung meidet. Im Gegensatz zur rationalen Disposition und zur objektiven Distanz der Vergilischen Rede sind die wörtlichen Äußerungen im >Roman< getragen von der jeweiligen Situation, sind spontan und hochgradig affektbetont. Farai hat versucht, die Genese des Liebesmonologs sowie einige charakteristische Elemente auf Ovid zurückzuführen, und nur um die Ovidischen Anteile soll es hier gehen. 316 Die auffällige Übereinstimmung zwischen dem Liebesmonolog im >Roman< und im altfranzösischen Piramus-et-ThisbéGedicht zeigt, daß die Entstehung des Liebesmonologs im romanischen Sprachraum anzusetzen ist, und zwar in Texten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Ovid entstehen. 317 Ubereinstimmung mit den Ovidischen Monologen in den >Metamorphosen< zeigen auch die Situationen, die den Monolog auslösen: F a s t ausschließlich handelt es sich u m d a s E n t s t e h e n einer p l ö t z l i c h e n u n d u n z u l ä s s i g e n L i e b e , die G e h e i m h a l t u n g f o r d e r t u n d den Z w e i f e l an G e g e n l i e b e 315

Cf. Farai, Recherches, S. 127, mit zahlreichen Stellenangaben. Faral, Recherches, S. 150-154. Emil Walker, Monolog, S. 1 2 5 - 1 3 7 , referiert im Kap. »Der ovidisch beeinflußte Liebesmonolog« im wesentlichen die Ergebnisse Farals. 317 Farai, Recherches, Kap. »Le poème de >Piramus et Thisbé< et quelques romans français du X l l e siècle«, S. 5—33; bes. »>Piramus< et >EneasRoman< diese Stelle gekannt und auch benutzt hat, wird schon aus der Umgestaltung der Szene zwischen der Sibylle und dem Cerberus deutlich. Medea und Lavinia sind ergriffen von der Liebe zu einem Landesfeind, für beide ist es auch das erste Liebeserlebnis, was aus dem vorsichtigen Herantasten allein an den Begriff >Liebe< hervorgeht: >mirumque, nisi hoc est, aut aliud certe simile huic, quod amare vocatur.< Met. V I I , 1 2 - 1 3 Entsprechend findet es sich auch im >Roman< und bei Veldeke: >ne sai amors 0 com a nom, mais ne méfait se tot mal non.< RdE 8095-8096 >Minne oder swie siz hiezjâ si nandez Minne.< En. 268, 26-27 D i e gewichtigste Ubereinstimmung für Farai war jedoch die Umgestaltung des Monologs in einen fiktiven Dialog, wenn Medea und Lavinia das F ü r und Wider ihrer Liebe im Streitgespräch mit sich selbst abwägen. D e r Dichter des >Roman< hat diesen débat intérieur auch auf den M o n o l o g des Aeneas übertragen, Veldeke dagegen hat ihn aus beiden Monologen wieder entfernt. Sehr viel oberflächlicher, als Farai dies wahrhaben wollte, ist jedoch die Übereinstimmung in Situation und Technik zwischen Ovids Medeamonolog und den Monologen in den Eneasromanen; genau genommen sind Aufbau und Intention völlig unterschiedlich. Ovids Medeamonolog ist wie die Vergilischen Reden eine rhetorisch durchgestaltete oratio.

E r hat einen begrenzten Umfang, strebt konzentriert einem H ö h e -

punkt zu und ist von stark rationaler Argumentationsweise getragen. D e r Medeamonolog ist ein von der äußeren Situation bestimmter Entscheidungsmonolog und dient nur dem einzigen Zweck, daß Medea ihre 318

Hadumod Bussmann, Der Liebesmonolog im frühhöfischen Epos. Versuch einer Typbestimmung am Beispiel von Eilharts Isalde-Monolog. In: Werk-Typ-Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen der älteren deutschen Literatur. Hugo Kuhn zum 60. Geburtstag. H g . von Ingeborg Glier u.a. Stuttgart 1969, S. 4 5 - 6 3 ; hier S. 60.

180

Entscheidung in vollem Bewußtsein der Tragweite trifft. Medea ist nicht zerrissen zwischen der Frage, ob sie liebt oder nicht, was Lavinia lange beschäftigt, ihr stellt sich als Problem, ob sie dem Gefühl nachgeben darf, wenn gewichtige Gründe dagegen sprechen. Die Positionen des fiktiven Dialogs sind damit klar verteilt auf die Opposition von amor und ratio: aliudque cupido, / mens aliud suadet (Met. VII, 19-20). In dramatischer Technik entwickelt sich der Entschluß aus dem Widerstreit der Gegensätze, wobei es durchaus der rationalen Argumentation entspricht, daß Medea sich zunächst nach den Vernunftgründen entscheidet: Dixit et ante oculos rectum pietasque pudorque constiterunt, et vieta dabat iam terga Cupido. Met. V I I , 7 2 - 7 3

Die Macht des allbezwingenden Amor tritt umso deutlicher hervor, wenn Medea letztlich doch wider besseres Wissen ihrer Liebe zu Jason nachgibt: >quidfaciam, video: nec me ignorantia veri deeipiet, sed amor.< Met. VII, 92-93

Im Gegensatz zur linearen, straff durchgeführten Komposition des Medeamonologs steht der ausufernde, immer wieder neu einsetzende Monolog der Lavinia, in dem sie sich den Handlungsentschluß, nämlich einen Brief zu schreiben, nur ganz allmählich abringt. Der Laviniamonolog ist auch nicht allein auf diese Funktion beschränkt, sondern erfüllt eine ganze Reihe von Aufgaben, die ihm eine ganz neue Qualität geben. Das Wesen der Minne aus der Sicht eines Betroffenen darzustellen steht im eigentlichen Zentrum der Liebesmonologe in den Eneasromanen. Sie wiederholen deshalb alles, was bereits im epischen Bericht und im Lehrgespräch der Amata über die Verursacher und die Symptome der Minne gesagt worden war, d.h. es wird das gesamte Material der Ovidischen carmina amatoria hereingenommen, was man im Medeamonolog nicht findet. 319 Nicht die Vernunft, sondern das Gefühl trägt den Monolog, der so im Gegensatz zu Ovid »weniger von einer begrifflichen als spontan affektischen Argumentationsweise geprägt«320 ist. Sprachlichen Ausdruck findet diese Gefühlsbezogenheit im ständigen Wechsel von Aussagen, Fragen, Klagen und Apostrophen, die mimetisch die Aufgewühltheit Lavinias widerspiegeln. Selbst der dramatische débat intérieur kann deshalb im >Roman< nicht 319

320

So auch Auerbach, Literatursprache, S. 161, der dort auch eingehend den Laviniamonolog des >Roman< bespricht. So Bussmann, Liebesmonolog, S. 57, zu Eilharts Isalde-Monolog, was aber durchaus auch für die Liebesmonologe der Eneasromane zutrifft. 181

mehr dieselbe Qualität haben wie bei Ovid. Lavinia liegt nicht im Widerstreit von H e r z und Verstand. Diesen Konflikt findet man bei Eilharts Isalde, die zerrissen ist zwischen herze unde mud (Tristrant 2442) und die ihrem an Tristrant gebundenen Herz die bevorstehende Ehe mit Marke als Vernunftgrund entgegenhält: >herze, dû ensuit niht mère gedenkin an den helt gut wen ich wil mînen mûd von im gerne wendin.< Tristrant 2564-2567 Im >Roman< erfüllt der fiktive Dialog sowohl bei Lavinia wie auch bei Aeneas dieselbe Funktion wie die Dialoge in den Minneepisoden überhaupt, denn er ist ein Streitgespräch zwischen einem in Liebesdingen Kundigen und einem Unkundigen. N u r insofern kann man die Vernunft als Gegnerin des A f f e k t s bezeichnen, als ein Teil zur Besonnenheit, zum planvollen Vorgehen in der Liebe mahnt und vor überstürzten Entschlüssen warnt. Lavinias Klage über ihren Zustand steht die Mahnung zu mehr Vorsicht gegenüber ( R d E 813 j f f . und 83 j^ff.), besonders greift der liebeskundige Part dann aber ein, als Lavinia zu Aeneas ins Lager gehen will. Das würde nicht nur ihrem Ruf schaden ( R d E 8720), es wäre vor allem aus Gründen der Taktik unklug: 'Aten un poi, ja t'avra il; tu sereies toz tens plus vii, et il noalz t'en prisereit enz en son euer, quant il t'avreit.< RdE 8725-8728 Darauf entwickelt sich ein Streitgespräch über die beste Vorgehensweise, wobei Lavinias liebeskundiges E g o stets auch Turnus ins Kalkül einbezieht ( R d E Entsprechend wird auch Aeneas in die Schule genommen. Sein Widerpart bestreitet zunächst, daß er eine Liebeswunde habe, da nicht einmal ein Kratzer zu sehen sei ( R d E 89éiff.), er hält ihm vor, daß Lavinia gewiß auch Turnus liebe ( R d E 90i9ff.), und warnt schließlich davor, einer Frau allzu schnell nachzugeben ( R d E 9073ff.): >L'on deit femme faire doter, ne li deit l'en tost mostrer come l'oen es por li grevez, de tant aime ele plus asez.< RdE 9085-9088 182

Während sich in Medea und Isalde mit Gefühl und Verstand zwei Bereiche widerstreben, die wesensmäßig in ihnen angelegt sind, findet man in den fiktiven Streitgesprächen im >Roman< die paradoxe Situation, daß in den vormals so Liebesunkundigen durchaus Kenntnisse in Liebesdingen angelegt sind, so daß dieser Part die Aufgabe von Anna und Amata aus den Dialogen übernimmt. Heinrich von Veldeke hat den débat intérieur getilgt und reine Monologpassagen daraus gemacht. Dadurch geht der dramatische Charakter der Rede gegenüber dem >Roman< verloren, auch ist die rationale Strategie im bewußt kalkulierten Vorgehen in der Liebe bei Veldeke zugunsten der emotionalen Betonung aufgegeben. Die Zurücknahme der Dialogpartien drückt aus, daß seine Monologe in erster Linie Liebesklagen, also lyrische Partien sind und sich durch den Verlust an atmosphärischer Dichte und Dramatik mehr der rhetorisch durchgeformten Rede bei Vergil annähern. Dazu stimmt die konsequente Hinführung auf eine Peripetie, wenn Lavinia den Entschluß, einen Brief zu schreiben, aus der Konfrontation mit der Todesangst entwickelt. Das höhere Maß an Organisation und rhetorischer Durchformung wird besonders an den Minneapostrophen deutlich. Im >Roman< erscheint die Anrufung an A m o r nur immer in der Anapher, dort aber relativ ungeordnet, denn oft trennen viele Verszeilen die A p o strophen voneinander, dann erfolgen sie wieder in kürzerem Abstand oder in jeder Verszeile. 321 Bei Veldeke werden die Minneapostrophen zu rhetorischen Kunststücken, denn in diesen Passagen wird die Anrufung entweder als Anapher oder als Epipher gesetzt, wobei immer eine Verszeile ohne Apostrophe eingeschoben ist. 3 2 2 Verglichen damit scheint auch der Isaidemonolog bei Eilhart in seinen Minneanrufungen (Tristrant 2 5 1 2 - 2 5 50) weniger organisiert. Besonders deutlich tritt der stilistische Unterschied zwischen den M o nologen im >Roman< und bei Veldeke im Selbstgespräch des Aeneas hervor. Für das französische Epos ist das ständige Auf und A b der Gefühle und Argumente charakteristisch. Typisch zeigt sich dies an der Szene, als Aeneas die Liebe preist, weil er daraus Mut für den Kampf gegen Turnus schöpft: >Amors molt fait ome hardi, amors molt tost l'a enaspri. Amors, molt dones vasalages! Amors, moltfaiz creistre barnages!< RdE 9061-9064 321 322

C f . z.B. die Passage R d E 8178-8217. M i n n e in der Anapher z . B . En. 294, 7—26; Minne in der Epipher z . B . En. 295, 19—34. 183

Doch Aeneas ist noch nicht überzeugt von der positiven Kraft der Minne, denn sofort tadelt er sich wegen seines unmännlichen Verhaltens und gerät in Zweifel, weil er die Liebe der Lavinia wieder verlieren könnte (RdE 9085-9164). Veldeke dagegen hat den Preis der Minne, der sich im >Roman< mitten in den Monolog eingebettet findet, betont an das Ende seines Aeneasmonologs gesetzt. Nach der Betroffenheit durch die Minne, die Klage über ihre Qualen, kommen bei seinem Aeneas die Zweifel an der Richtigkeit des Briefes auf, derer er sich zu erwehren versucht: >zwâre des ne trouwe ich niht daz si sus ze mir tû: si is alze kint der zû und z'edele undze wol getan.< En. 298, 6-9 Dann aber ist er überzeugt, daß das Liebesgeständnis wahr sei, weil es von der Minne kommt: >Lavînâ daz magedîn, diun getorstez niemer bestân, het ez diu Minne niht getan, daz si sie dar zû betwank.< En. 298, 18-21 Darauf folgt der Preis der Minne und des geliebten Mädchens, der durch keinen Zweifel und kein Gegenargument mehr entkräftet wird. Hier hat sich bei Veldeke die positive Macht der Minne durchgesetzt: 323 >sâlich sì Lavine, diu mir die boteschaft enbôt. bestêt mich Turnus, deist sîn tôt, ez wird ein ungelîcher kamp als umben lewen und umbez lamp.< En. 299, 36-40 Gerade der Aeneasmonolog zeigt, daß Veldeke durch die disponiertere Art der Durchführung sich stilistisch näher an die wohldurchdachten Ovidischen Monologe der >Metamorphosen< oder an die Reden bei Vergil 323

Schnell, Causa, S. 393, Anm. 12, merkt zu dieser Stelle an, daß im Monolog des Aeneas »kritische und idealistische Auffassungen hintereinander« folgen und die zerstörerische und veredelnde Macht der Minne belegen. Die kritischen Töne gegen die Minne entstehen, wie das folgende Kapitel zeigen wird, aus dem Einflechten von Passagen der Ovidischen Liebeslehren.

184

anlehnt, als dies im >Roman< der Fall ist, wobei es sich dabei nicht um eine direkte Beziehung zu Ovid handelt, sondern um eine Weiterentwicklung der französischen Vorlage. Im M o n o l o g des Aeneas werden die Gedanken kontinuierlich vom Beginn der Minne über Klagen und Zweifel zu einer positiven Einstellung zur Minne geführt, die betont am Ende des Gedankenganges steht. Hervorgehoben wird dadurch die Wichtigkeit der Minne für die Handlung, denn sie stärkt Aeneas im K a m p f gegen Turnus und fordert von ihm das aktive Eintreten für seine eigene Sache, was die Beziehung zu D i d o gerade verhindert hatte. Bei Vergil spielt die Liebe im Kampf gegen Turnus überhaupt keine Rolle, im >Roman< findet sich das Motiv vorgebildet, bekommt aber erst bei Veldeke den überaus großen Stellenwert zugemessen. Deutlich wird aber auch, daß diese Hingabe des Aeneas und sein L o b der Minne eigentlich nicht aus der Auseinandersetzung mit der Minne hervorgehen, sondern daß der M o n o l o g konsequent die vom Stoff vorgegebene positive Wendung des Geschehens nachahmt. Veldekes vom >Roman< abweichende Gestaltung der direkten Rede findet sich auch in den Dialogen. D i e stichomythische Wechselrede, in der der Erzähler völlig zurücktritt und wie im Drama allein den sprechenden Personen Raum gibt, oft sogar auf Uberleitungen verzichtet, ist bei Veldeke verglichen mit dem >Roman< auf ein Minimum reduziert. 3 2 4 Dagegen findet sich diese in der Art des >Roman< gebildete Wechselrede auch in Eilharts Tristrantepos, wie z . B . der Streit zeigt, in dem Tristrant seinem O n k e l die Erlaubnis zum Kampf gegen Morolt abringt: 3 2 5 'ich en mag sîn nicht vorzîn mich.< >dû machst wol.< >ich enmag.< >owê! daz ich dir î swert gegab!< >ist ûch daz leitf< >entmwen ez is!< >warumf< >daz ich ez dich îhîz.< >daz tetetir. [...].< Tristrant 660-665 Sogar der einzelne Vers ist zerrissen in der Konfrontation der beiden Positionen. Die kurzen Fragen und ebenso harten Antworten spiegeln die Erregung und Dramatik des Streites wider, wobei der epische Erzähler völlig in dén Hintergrund tritt. Was Heinze anhand der direkten Rede für 324

325

Übernommen hat Veldeke lediglich die Wechselrede zwischen Lavinia und Amata zu Beginn des Lehrgesprächs (RdE 7889-7899/En. 261, 16-25). Sonst läßt Veldeke jeweils längere Passagen von Rede und Gegenrede folgen, w o der Franzose die Stichomythie einsetzt. C f . z . B . auch vss. 1893-1929 (Tristrant/Isalde), 1976-2013 (Isalde/Vater), 2743-2793 (Isalde/Brangaene). 185

Homer und Vergil festgestellt hat, läßt sich so auch auf den >Roman< und das Tristrantepos gegenüber Veldekes Eneasroman übertragen. In der Zurückdrängung der direkten Rede, der Vermeidung der stichomythischen Dialogführung und der rhetorisch durchgeformten Komposition seiner Reden nähert sich Veldeke der >Aeneis< an, wogegen der >Roman< und Eilhart die homerische Stufe markieren. Für Eilhart und Veldeke gilt dieser Unterschied nicht nur in der direkten Rede, sondern auch in den epischen Passagen ist das Tristrantepos sehr viel einfacher und sprachlich spröder als der Eneasroman, so daß Eilhart, wenn nicht zeitlich früher, so doch erzähltechnisch archaischer ist.

d. Lehren und Lernen in der Liebe: wîsheit und tumpheit a . Liebeslehren bei Ovid Die Liebe als ars mit der didaktischen Terminologie, die auf das Typische und methodisch Erfaßbare abzielt, ist bei Ovid elegische Terminologie, die im Gegensatz steht zur individuellen Betroffenheit der Liebesgeschichten in den >Metamorphosenhaec quoque, quam docui, multo meliora fuerunt, et quiddam visa est addidicisse novi. H . . .

illa nisi in ledo nusquam potuere doceri; nescioquispretium grande magister habet.< Am. 11,5,55-62 β. Veldekes Liebeslehren im Unterschied zum >Roman d'Eneas< Die didaktische Terminologie haben die Eneasdichter zweifellos Ovid zu verdanken. Die deutlichsten Liebeslehren im Sinne einer ars amandi findet in den Eneasromanen in den Frauengesprächen über die Liebe statt. Die Rolle der kundigen Amata gegenüber der in Liebesdingen ahnungslo186

sen Lavinia ist klar definiert und unterscheidet sich bei Veldeke auch kaum vom >RomanRoman< wendet Anna im wesentlichen die Argumente Vergils auf, nämlich daß in Aeneas vor allem ein tüchtiger Herrscher gewonnen wäre. Anna bei Veldeke ist weniger auf die Belange des Reiches bedacht, sie erfüllt geradezu die Rolle einer ovidischen laena, die zur Liebe rät. Mit dem Hinweis, diu wîb sint broder dann die man (En. 5 7, 13), rät sie Dido zum ersten Schritt, denn Aeneas sei gewiß ein kluger Taktiker (her nis niht ein tumbe En. 57, 7), der nur darauf warte. Weibliche Schwäche gegenüber der Liebe ist ein häufiges Argument bei Ovids Frauen, ungewöhnliche Maßnahmen zu treffen. Und als eine Bestärkung der so wehrlosen Frauen hat Ovid sein drittes Buch der >Ars Amandi< ihnen gewidmet: 326 saepe virifallunt, tenerne non saepe puellae paucaque, siquaeras, crimina fraudis habent. A A III, 3 1 - 3 2

Im >Roman< ist dies allerdings ein Argument der Lavinia, die Aeneas vorwirft, daß er es als Mann gegenüber dem schwachen Mädchen sehr viel leichter habe und dennoch sie bewußt leiden lasse: 327 >Sages oem est, si atendra, des i que tens et leus vendra. Et ge quel la ferai, dolente ? A mon oes est maie l'atente, ne puis mie tant endurer

[...].
Roman< leben von den Ovidischen Liebeslehren, Lavinias Liebesauffassung entsteht im Minnemonolog geradezu in Auseinandersetzung damit. Da sich in Turnus und Aeneas gleich zwei Männer um sie bewerben, überlegt Lavinia, es sei schlecht, sich festzulegen: m'en deüsseplus amer l'un, mais bel senblant faire a cbascun et faire si, coment qu'alast.< R d E 8263-8265 326

Farai, Recherches, S. 140, differenziert m.E. nicht zwischen der Ovidischen audacia, die alle Konventionen sprengt, und der schon im >Roman< angelegten Ethik des Minnesangs, wonach die Liebe zu einer Frau den Mann veredelt. 327 Cf. Farai, Recherches, S. 140-141, mit weiteren Stellenangaben zu Ovid. 187

Die Frage der Teilbarkeit der Liebe wird bei Ovid mehrmals behandelt. In der >Ars< mahnt Ovid, ein Mädchen dürfe nie von einer Konkurrentin erfahren (AA II, 396-397), umgekehrt stachelt ein Rivale den Mann zu mehr Einsatz an (AA II, 540), während in den >Remedia< die Verteilung der Liebe auf zwei Mädchen als Heilmittel gilt (Rem. 461). Fast wissenschaftlich wird das Thema in den >Amores< als Widerlegung der These eines Freundes dargestellt: Tu mihi, tu certe, memini, Graecine, negabas uno posse aliquem tempore amare duas. per te ego decipior, per te deprensus inermis ecce duas uno tempore turpis amo.

Am. II, 10 (11), 1-4

Nachdem Lavinia diese Möglichkeit durchdacht hat, setzt sie sich energisch davon ab und erkennt die wahren precepz und leis (RdE 8296) der Liebe, auf denen sie in einer langen Passage verweilt (RdE 8281-8319): >Ne se vuelt pas amors dobler. Par fei, ge nen aim pas ainsi, Eneas tien por mon ami.
Roman< dann aber immer wieder zurückgreift: >Ki bien aime nepuet boisier, s'il est leials ne set changier.
ich kan mich des versinnen, minnete ich mê dan einen, sone minnete ich deheinen: daz wetz ich wole âne wân. diu minne nis niht sô getan, daz man sie geteilen möge sô daz sie iemanne toge.
RomanEt ne que dent femme est molt sage d'enginier mal en son corage; ilpuet bien estre que Turnus a de s'amor o tant plus, [...] une chose nos fait entendre, al quel que la viegne a prendre, qu'ele l'ait aneéis amé.< RdE 8998-9007

>iedoch vorhte ich ein teil, diu wîb kunnen liste vil: waz ob si mich betriegen wil, und den hêren Turnûm al daz selbe wil tûn

[...]

sweder unser sie gewinne, daz her si minne deste haz ?< En. 297, 30-38

Die männlichen Zweifel an der Treue der Frauen kommen aus der Überzeugung, die Frauen seien nicht auf Liebe, sondern auf ihren Vorteil bedacht, ein Reflex aus Ovids Welt der Hetären. Dazu gehört auch die boshafte, von Veldeke getilgte, Interpretation der Liebe zwischen Dido und Aeneas, die nach dem >Roman< reines Kalkül der Dido ist: Or a Dido ce que voleit, del Troien fait son espleit et son talent tot an apert. En. 1605-1607 Ganz schutzlos ist allerdings Aeneas den weiblichen Listen nicht ausgesetzt, denn er weiß, daß Zurückhaltung geboten ist. Die Liebe wächst nicht nur, wenn man die Geliebte etwas warten läßt, gemäß Ovids Anweisung: mora semper amantes / incitât exiguum si modo tempus habet ( A A II, 473-474); man beugt dadurch auch weiblicher Überheblichkeit vor: >L'en deit femme faire doter, ne li deit I'en pas tost mostrer comme l'en est por lui grevez; de tant aime ele plus asez.< RdE 9085-9088

>die man soin den wîben sus unmâzer minnen niht bringen innen, wand ez ne wäre nie gût, si worden alze hôch gemût und alze stolz wider die man,< En. 299, 6 - I i

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Auch das huote-Motiv ist im >Roman< noch von Ovid geprägt. Aeneas, von seinen Baronen wegen seines eigentümlichen Verhaltens verspottet, muß heimlich den Kontakt zu Lavinia suchen und tauscht mit ihr verstohlen verschiedene senblants aus : Itant poeient faire andui d'els esguarder, de senblant faire. RdE 9260-9261

Daß zur Liebe auch die reguarz und cliniers (RdE 7881) gehören, hatte Lavinia schon von ihrer Mutter gehört. Einen ganzen Katalog solcher notae, die eine heimliche Unterhaltung zwischen den Liebenden erlauben, hat Ovid mehrmals beschrieben, etwa wenn das Mädchen mit einem anderen Mann beim Gastmahl erscheint : me specta nutusque meos vultumque loquacem: excipe furtivas et refer ipsa notas. Am. 1,4,17-18

So sind es auch verba supercilis sine voce loquentia (Am. I, 4, 19), die heimlich zwischen Aeneas und Lavinia ausgetauscht werden. Bei Veldeke ist aus dem heimlich verliebten Spiel ein wohlerzogener Austausch von Verbeugungen geworden (En. 305, 26-32), wobei Aeneas anders als sein französischer Vorgänger betont keinen Wert auf Verborgenheit legt: her sach off ertliche dar âne vorhte und âne schaden. En. 306, 16-17

Das bestätigt die Tendenz, die Aeneas bei Veldeke aufweist, vom listigen ovidischen zum höfisch wohlerzogenen Liebhaber. Liebe in den Eneasromanen, wo sie mit Verdächtigungen, Zweifeln, Hinterhältigkeiten zu tun hat, besteht eindeutig aus einem Ausschreiben der Ovidischen Lehren. Ovids Begriffe, der Liebende sei doctus (z.B. A A I, 2) und verstehe das sapienter amare (AA II, joi), die ein Verfügen über die Gesetzmäßigkeiten der Liebe bedeuten und ihren bewußten Einsatz, finden sich wörtlich wiedergegeben als bien aimer (RdE 8283) und in der Umschreibung niht tumbe sin (En. 57, 8) oder liste kunnen (En. 297, 31). Darüber hinaus begegnen bei Veldeke unabhängig vom >Roman< im Zusammenhang mit der Liebe immer wieder die Begriffe wîshéit und tumpheit als Weiterentwicklung der Ovidischen Liebe als τέχνη. Liebe bewirkt zunächst tumpheit, da sie den Lie190

benden so deutlich verändert, daß es weder seine Mitmenschen noch er selbst verstehen. G a n z unvergilisch ist auch Aeneas der Ubermacht der Gefühle verfallen: >waz is diz oder waz sal ez sin ? wer hat daz herze mîn und mine manheit mir benomen ? war is mîn wîsheit komen ?< En. 292, 3 3 - 3 6 Fast im Sinne der dramatischen Fallhöhe gewinnt die tumpheit aus Minne umso mehr Profil, je klüger der Mensch ist, der ihr zum O p f e r fällt. Beispielhaft steht dafür das Schicksal der klugen D i d o , die mit einer List ihrem Volk zu neuem Land verhilft und es zum Wohlstand führt, aber an der Liebe scheitert. Veldeke und der Franzose haben dieses Paradoxon als Kernsatz der Didoepisode auf ihrem Grabstein festgehalten: 3 2 8 onkes ne fu meilor paaine s'ele n'eüst amor soltaine, mais ele ama trop folement, saveirs ne li valut neient. RdE 2141-2144

>hier ligetfrouwe Dîdô, diu märe und diu rîche, diu sich sô jamerlîche dorch minne zù tôde erslûch.< daz was wunderlich genûch, sô wîse sô si was. En. 80,10-14

Kein antikes, sondern ein biblisches Beispiel wählte Veldeke in seinen Liedern, um die Machtlosigkeit selbst der klügsten Menschen gegen die Liebe zu demonstrieren: Diu minne betwanc Salomone, der was der alrewìseste man, der ie getruoc küniges kröne, wie mohte ich mich erwern dan, Si twunge ouch mich gewalteclîche sit sì sölhen man verwan, der sô wîse was und ouch sô rîche ? den soit ich von ir ze Iòne hân. MF 66,16-23 Veldekes Gedicht über den biblischen König Salomon entspricht ganz der Minneauffassung der Eneasromane. D e r Dichter des >Moriz von Craün< wollte sogar von einem Gedicht Veldekes wissen, in dem der alttestamentliche Salomon mit der antiken Liebesgöttin Venus zusammentraf. Das 328

Ettmüller hat die Verse 80, 1 3 - 1 4 in den Erzählerkommentar genommen. Zum Epitaph rechnen sie dagegen Frings/Schieb und Kartschoke in ihren Ausgaben, was m.E. richtig ist, da Veldeke recht genau das Epitaph des >Roman< übersetzt.

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Bett nämlich, auf das der Ritter Mauricius sich legte, war nicht nur mit einer D e c k e aus der Hand der Cassandra geschmückt, hinter der sich wohl Veldekes Arachne verbirgt, es war auch so schön wie das, daz von Veldeken Heinrich machte hart schöne dem künege Salomone dà er üfe lac und slief; dò in vrou Vénus ane rief, bis daz sîin erwacte. mit ir bogen sì in erschracte; sîschôz in an sîn herze daz in der selbe smerze dructe unz an sîn ende: er muose in ir gebende, swie wise sô er waere. sí tete in witze laere. Moriz 1 1 6 0 - 1 1 7 2 An die Existenz eines solchen Gedichts auf Salomon und die Minne glaubte de B o o r , denn es liegt ganz in der antikisierenden ovidianischen Stilgebung der frühhöfischen Dichtung, daß Veldeke es wagen konnte, den biblischen König und die heidnische Göttin einander unmittelbar gegenüberzustellen und den größten Herrscher des alten Testaments durch die heidnische Göttin überwinden zu lassen. 329 D e r wirkliche Beweis fehlt aber, so daß der Dichter des >Moriz< lediglich das Salomonlied vor Augen gehabt und aus der Parallelität der Minneauffassungen Venus eingesetzt haben konnte. Allein die Liedstrophe belegt bereits, daß sich die Auffassung einer übermächtig wirkenden Liebe auch außerhalb des antiken Aeneasstoffes in Veldekes Liedern findet. D o c h das Salomongedicht deutet im letzten Vers an, daß die Minne nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Sie wird zur Vermittlerin einer ganz speziellen Weisheit, denn die Lehren, die von der Minne erteilt werden, sind gewissermaßen esoterisch, weil sie nur dem Liebenden zugänglich sind. In dieser Exklusivität gehen sie über die Liebe im Sinne einer ovidischen ars amandi 329

hinaus, die auch von Außenstehenden vermittelt

De Boor, Geschichte II, S. 41. Mir scheint diese Verschmelzung der antiken mit der biblischen Sphäre für den Puristen Veldeke wenig wahrscheinlich. Nur einmal verläßt er im Eneasroman die zeitliche Ebene mit der Nennung der Heldenschwerter (En. 160, 20-25), allerdings nur im Erzählerkommentar. Ganz unhistorisch sind dagegen die biblischen Vergleiche Achills bei Herbort, der seine Minne nicht tauschen will gegen Die Sterke vo samsone / Die schone vo absalone / Vsalomonis wîsheit (LvT 11226-11228). 192

werden kann. Den Unterschied macht schon Amata deutlich, daß sie zwar die äußerlichen Merkmale erläutern kann, für das Wesentliche dagegen auf eine andere Lehrmeisterin verweisen muß: >diu Minne sal dichz leren< (En. 261,26). Auch in einem Lied macht Veldeke die Sonderstellung des von der Minne Betroffenen deutlich: Die noch nie wurden verwunnen von minnen alse ich nu hin, die enmugen noch enkunnen niht wol gemerken minen sin. MF 64, 34-37

Hier kehrt sich das Spiel um wîsheit und tumpheit durch die Minne um. Ist die Minne einerseits eine irrationale, die Menschen aller Vernunft beraubende Macht, so wird sie auf der anderen Seite zur Lehrmeisterin und schafft wîsheit von ganz spezieller Art, eine, die sich nur auf die Minne bezieht, die auch nur von dieser vermittelt werden kann und sich deshalb grundlegend von dem unterscheidet, was die Menschen im allgemeinen unter Schulwissen verstehen. In dem Zugewinn der neuen Erkenntnisse liegt dann auch die Wendung der Minne zum Positiven. Veldeke hat das schon im >Roman< angelegte Stufenmodell einer Liebe, die im Sinne der >Ars Amandi< vermittelbar ist, und einer Liebe, die als Gabe des Schicksals nur erfahren werden kann, deutlich intensiviert. Aus diesem Grunde erklärt sich auch, warum er die Ovidischen praecepta zurückdrängte und seine Gestalten sich konsequenter zur positiven Macht der Minne bekennen. Innerhalb dieser esoterischen Liebeslehre tritt noch ein anderer Lehrmeister auf, die geliebte Person. Lavinia bezeichnet neben der Minne vor allem auch Aeneas als ihren Lehrer: > Wannen komet mir der sin, daz ich sus wise worden bin, des ich ê sô tumbe was ? ez lêret mich Énêas, daz mir daz is worden kunt.< En. 271, 23-27

Umgekehrt preist Aeneas den Brief, den Lavinia schrieb, als Werk der Minne: >Zwâre< (sprach Énêas), >den selben brief den ich dà las den tihte diu Minne, hern mohte von wibes sinne niemer sô getihtet sin.< En. 298, 13-17 x

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Die scheinbare Austauschbarkeit der Minne gegen die geliebte Person könnte darauf hinweisen, daß es sich bei der Minne nicht um das Bewußtsein einer höheren Macht, sondern lediglich um die Objektivation und rhetorische Überhöhung eines allein auf der menschlichen Ebene entstandenen Gefühles handelt.330 Gerade aber die Liebeslehren machen deutlich, daß nach dem Verständnis der Eneasromane in der Minne nichts durch das eigene Wollen kommt, sondern alles auferlegt, vermittelt und durchlitten werden muß. Umgekehrt ist die Minne als metaphysische Macht, wenn sie erfahrbar werden soll, gebunden an die sinnliche Wahrnehmung. Sie braucht ihre Verkörperung, die sie in den Liebenden findet, in deren Schönheit und Liebenswürdigkeit. Die Minne und die geliebte Person agieren harmonisch und sind deshalb für den Liebenden beide Lehrmeister, weshalb auch Gottfried in der Formulierung Minne und Tristan (Tristan 11822) beide zusammen auftreten läßt. 331 Ein großer Unterschied zwischen Veldeke und dem >Roman< liegt vor allem auch darin, daß Veldeke die Minne als eine überindividuelle Macht ausdrücklich betont und den Schritt von der Deskription zur Definition vollzogen hat. Amata im >Roman< tritt zwar zunächst mit dem Anspruch auf, die nature (RdE 7931) der Liebe darzustellen, bleibt aber dann bei einer Beschreibung der äußerlichen Merkmale, der traiz (RdE 8003), stehen. Das entspricht Lavinias Frage: que est amors? (RdE 7891). Lavinia bei Veldeke stellt dagegen zwei Fragen, denn ehe sie wissen will, waz minne is (En. 262, 6), und von Amata entsprechend dem >Roman< die Symptome beschrieben bekommt, stellt sie die Frage: wer is diu Minne (En. 261, 27)? Anders als im >Roman< gibt Amata nicht nur eine Beschreibung, sondern sie versucht auch die Definition der Minne als einer weltbeherrschenden Macht, die nicht an Raum und Zeit gebunden ist: >si is von aneginne gewaldich über die werlt al und immer mère wesen sal unz an den junge sten tack, daz ir nieman ne mach neheine wîs widerstân, wände sie is sô getan, daz mans ne höret noch ensiht.
Tristan< 11843-11845: diu sigelôse ergab zehant / ir lip und ir sinne / dem manne und der minne.

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Entgegen einer Liebe im Sinne einer τέχνη oder einer Krankheit nach medizinischem Verständnis ist diese Minne als dominatrix mundi mit der Logik des menschlichen Verstandes nicht durchschaubar, und erst auf dieser höheren Ebene werden die Paradoxien, die mit ihr im Zusammenhang stehen und die der Mensch lediglich konstatieren kann, aufgehoben. Sie werden dann aufgehoben, wenn der Mensch die Minne, die er zunächst weder selbst verursachte noch wollte, als die seine akzeptiert und gewissermaßen als ihr Schüler, ihr Diener und ihr Vermittler agiert. 3. Zur »Psychologie« der Eneasromane a. Die Schwerpunkte der Minnedarstellung her Heinrich von Veldeke sînen boum mit kunstgein iuwerm arte maz: hete er uns dò bescheiden baz wie man iuch sül behalden! er hat her dan gespalden wie man iuch sol erwerben. Parz. 192, 18-21

Im Bild des Minnebaums, der wohl auf die Liebesszene zwischen Dido und Aeneas anspielt,332 macht Wolfram deutlich, daß Veldeke von der ganzheitlichen Minne nur einen Bruchteil berücksichtigt habe. 333 Seine Feststellung, diese Minne sei nur von kurze wernder vreude (Parz. 291, 3) und berücksichtige nur den Anfang, trifft durchaus für den Eneasroman zu. Die Betonung der Anfangsphase in der Minnedarstellung der Eneasromane hat zwei Gründe. Zum einen kommt darin die Orientierung an Ovid zum Ausdruck. Selbst wenn Ovid im zweiten Buch der >Ars Amanda sich auch die Erhaltung der Liebe zum Thema macht (nec minor est virtus, quam quaerere, parta tueri A A II, 13), ist er vor allem ein Meister der Eroberung, der sich mehr für den Beginn und die Auswirkungen der Liebe als für ihre Fortdauer interessiert. Der andere Grund liegt in der Konzeption des Stoffes bei Vergil. In der >Aeneis< findet sich die paradoxe Situation, daß eine dauerhafte Beziehung zu Dido die Trojaner um ihr vorbestimmtes Reich bringen würde, während in Latium nach dem Sieg über Turnus eine glückliche Verbindung zwischen Aeneas und Lavinia vom Schicksal längst beschlossen ist, wobei Glück bei Vergil dynastisch 332 333

So Kartschoke, Eneasroman, S. 771. Zitiert nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Hg. von A. Leitzmann, rev. von W. Deinen. Bd. I—III. Tübingen 1 9 6 1 - 1 9 6 5 .

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und nicht persönlich zu verstehen ist. Aeneas und Lavinia begründen ein Volk mit Anspruch auf die Weltherrschaft, ihr individuelles Liebesglück ist dabei nicht von Interesse. Deshalb ist die letzte von Aeneas zu leistende Tat der Todesstoß für Turnus. Die >Aeneis< endet mit dieser grausamen Geste und nicht wie im >Roman< und bei Veldeke mit der Hochzeit von Aeneas und Lavinia. Vergils Aeneas ist in Latium lediglich der Vollstrekker eines vorgezeichneten Weges, dessen weiteren Verlauf er bereits aus den Prophezeiungen seines Vaters kennt. Eine Fortsetzung der Geschichte, die die Ehe zwischen Aeneas und Lavinia beschreibt, ergibt bei Vergil keinen Sinn, denn die Erzählung vom Schicksal des Aeneas endet dort, w o das Römerreich begründet wird. Eine Art Fortsetzung findet sich bei Ovid in den >Fasten< als Aitiologie des Festes zu Ehren der Anna. 3 3 4 Die von Jarbas vertriebene Schwester der Dido sucht Zuflucht bei Aeneas und seiner Frau Lavinia, die aus Eifersucht fast zur Mörderin wird. 3 3 5 Anna entkommt dem Anschlag, wird aber von einem Fluß fortgerissen und in eine N y m p h e verwandelt, die sich amne perenne (Fast. III, 654) Anna Perenna nennt. Doch das ist Sagenstoff und hat nichts mit Vergils geschichtlicher Konzeption des Stoffes zu tun, die Heinrich von Veldeke verstanden und unabhängig vom >Roman< in ein christliches Geschichtsverständnis überführt hat. Wo im zyklischen Weltbild des Mythos durch Aeneas' Sieg der Grundstein für ein neues Troja (Aen. I, 562) und den Anbruch einer neuen aurea aetas (Aen. IV, 793) gelegt wird, beginnt für Heinrich von Veldeke die Heilsgeschichte, denn die in der Unterwelt gesprochene Verheißung über das Aeneasgeschlecht als den Ursprung des römischen Machtreichs unter Romulus erweist sich im Epilog des christlichen Dichters als erfüllt im Sinne des Ursprungs des römischen Friedensreiches unter Augustus mit der Geburt Christi (i3397ff-)- 336 Die Liebe des Aeneas zu Lavinia im >Roman< und bei Veldeke ergänzt hier nur den vom fatum vorgezeichneten Weg. Zur Eroberung der Herrschaft tritt die Eroberung der Frau. Als Erfüllung der fata genügt die Tatsache, daß sich die beiden lieben, während ihr Glück auch ohne weitere Leistung garantiert ist.

334

O v i d , Fast. III, 523-661. Dazu Börner, Fasten II, S. 182: »Alter, Herkunft und Vorgeschichte dieser Erzählung sind völlig rätselhaft«. Bei Ovid ist Lavinia eifersüchtig auf die Geschenke. Es könnte aber auch eine Anspielung auf eine alte Sage sein, wonach nicht Dido, sondern Anna die Geliebte des Aeneas war. Servius merkt zu Aen. V, 4 an: sane sciendum Varronem dicere Aeneam ab Anna amatum: et licet [...]plurimum tempus intersit, lectum tarnen est. 336 Friedrich Ohly, Ein Admonter Liebesgruß. Z f d A 87(1956/57), S. 1 3 - 2 3 ; hier S. 22. 335

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b. Freiheit und Fatalität der Minne Das vom fatum vorgegebene Scheitern in Karthago und die Erfüllung in Latium bedeutet auf die Liebe übertragen, daß Didos Unglück so festgelegt ist wie Lavinias Glück. Von der Konzeption des Stoffes her wird man deshalb nur mit Vorsicht die Minne allein aus der Psychologie der Liebenden als ihrem eigenen Denken und Fühlen erklären können. Die Spannung zwischen individuellem Antrieb und überindividueller Lenkung wird besonders an der Liebe zwischen Aeneas und Dido deutlich. Schnell hat aus Didos Sympathie für den Trojaner schon vor dem Eingriff der Venus im >Roman< geschlossen, »daß die mythologische Motivierung für das Entstehen der Liebe Didos zu Aeneas angesichts der vorangegangenen Szenen völlig überflüssig, ja widersprüchlich erscheint«. 337 Diese Einschätzung übergeht völlig Vergils Gestaltung der Szene, der auch schon vor der Aktion der Liebesgötter auf die Ebenbürtigkeit in Schönheit, Abstammung und Schicksal Wert legt und gegenseitige Sympathie schafft. Diese psychologisch so einfühlsam vorbereitete Liebe wird dann von Venus und Cupido gefördert, die wie alle Vergilischen Götter nichts erzwingen, was nicht bereits in den Menschen angelegt ist, sondern innerhalb des von den fata vorgegebenen Rahmens hemmend oder fördernd wirken. In der Ergänzung der menschlichen Anlagen durch das Eingreifen der Götter wird auch an Vergil deutlich, was für die Homerischen Götter gilt: Z u n ä c h s t sind sie K r ä f t e des G e i s t e s , der E i n f l ü s s e u n d I m p u l s e , die eine m o d e r n e P s y c h o l o g i e der m e n s c h l i c h e n N a t u r selbst z u z u s c h r e i b e n p f l e g t , in d e n e n aber die G r i e c h e n , nicht o h n e K l u g h e i t , die äußeren u n d u n a b h ä n g i g e n E i n f l ü s s e einer a n d e r e n S e i n s o r d n u n g sahen. A l s s o l c h e m ö g e n sie die natürlichen u n d m e n s c h l i c h e n G a b e n eines M e n s c h e n v e r v o l l s t ä n d i g e n . 3 3 8

So ist Dido einerseits das Opfer der Liebesgötter, andererseits ist ihre Beziehung zu Aeneas schon so angelegt, daß sie es werden konnte, ohne daß es völlig gegen ihren Willen geschieht. 339 Entsprechendes gilt für Tristan und Isolde bei Gottfried. Die Handlung setzt lange vor der Bindung der beiden durch den Minnetrank ein, doch verdeutlicht gerade diese Hinführung, daß sie für einander bestimmt sind. 337

Schnell, Causa, S. 213. C. Maurice Bowra, Heldendichtung. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Dichtung aller Völker und Zeiten. Stuttgart 1964, S. 96. 339 Diese komplementäre Beziehung zwischen Mensch und Gottheit hat Bowra, Heldendichtung, S. 96, beispielhaft an der Gestalt der Helena bei Homer dargestellt. 338

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Tristan als Sohn eines vorbildlichen Minnepaares hat die Minne zur erbevogetîn (Tristan 11770) und trägt die Minnepfeile als Erkennungszeichen auf seinem Helm (Tristan 4945 und 6598). Isoldes Vergleich mit Helena (Tristan 8271) zielt gewiß nicht nur auf ihre außerordentliche Schönheit, sondern weist auch auf die vorbestimmte unerlaubte Liebe hin. Ihr Erkennungszeichen auf dem Gewand ist der Falke, der sie als vederspil (Tristan 10901) der Minne ausweist. Dagegen wird Psychologie im Sinne eines Eindringens ins Seelenleben der epischen Figuren von Vergil gemieden und ist, wo sie sich bei seinen mittelalterlichen Nachdichtern findet, an Ovid gelernt. Die Liebe zu Lavinia in den mittelalterlichen Eneasromanen ist eingebunden in den göttlichen Plan, sie ist in ihrem Beginn wie in ihrem Glück prädestiniert und kaum als Leistung der Liebenden anzusehen. Einzig Lavinias Brief wird dem eigenen Entschluß abgerungen, auch das ist eine Imitation Ovids. Darin liegt der tiefgreifende Unterschied zur Konzeption des Artusromans, w o man von einer solchen Leistung des Helden sprechen kann, die ihren Ausdruck findet in der Struktur des Doppelweges. Aeneas dagegen geht nicht mit derselben Frau einmal den falschen und den richtigen Weg, sondern er geht nur einen Weg zur richtigen Frau, auf dem ihn kurzzeitig die falsche aufhält. 340 Wo so viel Wert auf die Vorbestimmung der Liebenden gelegt wird, scheint es unnötig, den Beginn der Liebe durch ein Eingreifen von außen zu markieren. Und dennoch bleiben der Kuß des Amor/Ascanius, der Liebespfeil und der Minnetrank ein für die Handlung einschneidendes Ereignis und haben nicht rein ornamentale Funktion. In paradoxer Weise ergibt sich aus der psychologisch einfühlsamen Vorbereitung die Bestätigung der Prädestination, so daß die Liebe gerade kein dämonischer Bann, sondern die Erkenntnis eines gewollten Schicksals ist. Der Kuß des Liebesgottes, der Pfeil und der Trank bezeichnen den Vorrang der Minne vor allen anderen Ansprüchen der Welt, so daß sich darin »apriorisch die Absolutheit der Minne, die nicht von Individuen, sondern von der transzendenten Macht eines Weltprinzips getragen wird, zeigt«. 341 In der Adaption des Aeneasstoffes ist weder der absolute Anspruch der Minne gegen alle gesellschaftliche Norm, was Gottfrieds Tristanroman 340

341

Z u m Unterschied zwischen der Struktur des Artus- und des Eneasromans cf. Hans Fromm, Doppelweg. In: Fromm, Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 1 2 2 - 1 3 6 . Christoph Huber, Gottfried von Straßburg. Tristan und Isolde, S.76. Im Kap. V I »Der Zaubertrank als Minnelegitimation« (S. 66-77) ist das paradoxe Verhältnis von Freiheit und Fatalität vorbildlich dargestellt.

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auszeichnet, noch ihre Einbindung in ein festes Wertesystem geleistet, wie man es in den Artusromanen findet. Was Wolfram als Defizit gerügt hat, liegt vor allem in den Vorgaben des antiken Stoffes begründet, für den Veldeke sehr großes Verständnis aufbringt. Seiner Leistung als Minnedichter wird man deshalb eher gerecht, wenn man ihn an den Minneepisoden imTrojaroman des Herbort von Fritslar mißt. Bei Herbort fehlen vor allem die Liebesgötter als Movens der Handlung; dennoch hat das Weglassen einer äußeren Minnemotivation zu keiner psychologisch einfühlsamen Darstellung geführt. 342 Im Vergleich mit Herbort wird deutlich, worin im >Roman< und bei Heinrich von Veldeke der wirkliche Gewinn der Ovidrezeption besteht, daß sie nämlich bei allen Änderungen und Vergröberungen, z.T. auch im Widerspruch mit den Vergilischen Vorgaben eine Vorstellung psychologisch motivierter Handlungsweisen gelernt haben. Die Liebenden verfügen mit Hingabe, Haß, Eifersucht, Zweifel und Sehnsucht über eine ganze Bandbreite von Regungen, die dann auch das Geschehen bestimmen, etwa wenn Lavinia aus Angst vor fehlender Gegenliebe sich den Entschluß abringt, Aeneas ihre Liebe zu gestehen. Bei Herbort hat dagegen das Studium der auctores vor allem in technischer Hinsicht gewirkt in der Adaption des antiken Stoffes und besonders der rhetorischen Technik. Seine Minneszenen sind Versatzstücke gängiger Topoi, ohne eine wirkliche Betroffenheit der Personen zu schildern. Liebe beginnt grundsätzlich mit der Beschreibung der Schönheit, die wiederum nach rhetorischer Vorschrift als Aufzählung der einzelnen Körperteile durchgeführt ist, wie das Beipiel der Helena verdeutlicht:

[...]

Rosige wangen roter mvnt Suzze ademe zene gesunt Blichende kel arme blanc Schone bende finger lane Glander negel siecht hut glat Rein wiz als ein liligè blat Werlice vber al im lip Vö wibe quam nie schöner wip. LvT 2493-2500 Helenas Liebe zu Paris, die im Tempel der Venus beginnt, steht nicht unter der Herrschaft der Göttin. Auf den Blick zwischen Paris und Helena folgt die Schilderung der Minnesymptome und der Entschluß zum Raub Helenas. Diese reagiert mit großer Klage, worauf Paris auf 342

Zu Herborts Vorbildern cf. Rüdiger Schnell, Andreas Capellanus, Heinrich von Möllingen und Herbort von Fritslar. Z f d A 104 (1975), S. 131—151.

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seinen Reichtum, seinen Stand und - ganz unovidisch - auf seinen Erfolg bei Frauen hinweist: Ich bin uwer minne Alle tage wol wert Min hat manic frauwe gegert. LvT 2706-2708 Helenas gespielter äußerlicher Widerstand, der ihre innere Bereitwilligkeit kaschiert und der in den Heroidenbriefen bei Ovid mit aller Raffinesse durchgespielt wird, ist bei Herbort zu einer schrittweisen Wandlung der Gesinnung umgestaltet, wobei weniger Paris' Leidenschaft als die Zeit den Ehemann vergessen läßt: Die frauwe irs leides vurgaz Vö zite baz vnd baz An dem andern tage Was geminret ir klage Rehte dar nach in sibë tage Horte sie nimman nibt klage. Bi eime halbê iare Minnete sie in vffenbare Do daz iar vmbe quam Do was sie Menelao gram. LvT 2717-2726 Trotz aller Beteuerung der Liebe ist Helena mehr Kriegs- als Minnebeute und Paris eher ein neuer Herr als Geliebter. Minne ist bei Herbort weder eine Schicksalsmacht noch ein persönliches Ereignis. Verglichen mit Veldeke ist sie von einem handlungstragenden Element zur einer rhetorischen Übung geworden.

c. Die Minnegötter α. A m o r und Cupido Die Liebesgottheiten sind die einzigen aus Vergils Götterwelt, die in den mittelalterlichen Eneasromanen eine starke Stellung beibehalten haben. Eine Interpretation ihrer Funktion bei Heinrich von Veldeke muß genau die Quellenverhältnisse berücksichtigen. Die Tatsache, daß Veldeke A m o r und Cupido als Brüderpaar neben Venus treten läßt, hat verschiedene Deutungen von einem Mißverständnis bei den Quellen bis hin zu einer bewußten Aufteilung erfahren. 343 343

Von einem Mißverständnis Veldekes geht Ludwig Denecke, Ritterdichter und Heiden-

200

In der lateinischen Literatur ist Cupido die ältere Bezeichung des Liebesgotts,344 wobei die maskuline Verwendung des ursprünglich femininen Nomens auf eine Ausrichtung am griechischen Eros hinweist. Mit der später hinzukommenden Benennung Amor zeichnet sich durch die zugrundegelegten Substantive ab, daß auch zwei unterschiedliche Konzeptionen von Liebe damit bezeichnet werden sollten, die durch Cupido charakterisierte, die nur das körperlich sexuelle Moment einschließt, und die durch Amor bestimmte, die auch den seelischen Bereich einbezieht und so ein weniger einseitiges, umfassendes Bild gibt. Gleichzeitig ist deutlich, daß schon allein durch die Wahl des Wortes >amorAmores< tragen: acrius invitos multoque ferocius urget, quam qui servitium ferre fatentur, Amor, en ego, confiteor, tua sum novapraeda, Cupido. Am. I, 2 , 1 7 - 1 9

Auf zwei verschiedene Gottheiten Amor und Cupido scheint Ovid auch anzuspielen, wenn er in den >Fasten< Venus als geminorum mater amorum (Fast. IV, 1) bezeichnet. Sollte darin wieder die in den Abstrakta beinhaltete Unterscheidung der Liebe in eine mehr körperlich sexuelle und eine eher idealistische Liebesauffassung angesprochen werden, so machen doch die beiden Götter als Zwillinge und als Söhne derselben Mutter

344

345 346

götter (1150-1200). Leipzig 1930, S. 98, aus. Dagegen glaubt Arthur Groos, Amor and his brother Cupid: The >two loves< in Heinrich von Veldeke's >EneitRoman< noch bei Veldeke der Einfluß solcher Kommentare nachweisen. Ihre Liebesgötter sind recht genau denen bei Vergil und Ovid nachgebildet, die als antike anthropomorphe Gottheiten ohnehin gute und schlechte Eigenschaften in sich vereinen. Die Frage nach dem Sinn der Aufteilung des Ressorts Liebe auf zwei oder gar drei Gottheiten mit Venus, Amor und Cupido hängt eng mit dem Religionsverständnis der Römer zusammen, doch führt hier auch der Weg zu Veldeke. Im Gespräch zwischen Venus und Amor bei Vergil wird der Kraftbegriff von der in menschlicher Gestalt gedachten Gottheit abgetrennt und zweifach verselbständigt. Venus spricht A m o r als meae vires, mea magnapotentia solus an, wobei vis und potentia wohl geeignete Ausdrücke sind, u m jene numinose Kraft zu bezeichnen, in deren Besitz sich Venus weiß und die sie andererseits in A m o r verkörpert sieht. [ . . . ] Von dem anthropomorphen A m o r wird dann in einem zweiten Gange seine [Mana] abgehoben, zu dem Venus betet wie ein sterbliches Weib : supplex tua numina poseo.349

Der Dichter des >Roman< und Veldeke haben bei aller abweichenden Gestaltung die Liebeserweckung der Dido als eine Übertragung der göttlichen vis recht gut verstanden. Daß der Franzose in dieser Szene nur Venus auftreten läßt, ist, wie gesehen, nicht ganz konsequent durchgeführt, doch gibt er im weiteren Verlauf des Geschehens von allen Liebesgöttern Amor den Vorzug, während Venus in den Hintergrund tritt und Cupido nur noch im Rahmen der Genealogie des Aeneas auftaucht. Lavinia argumentiert gegen Amata durchaus treffend, daß man Aeneas einfach lieben müsse, weil man sich bei ihm in unmittelbarer Verwandtschaft der Liebesgötter befindet: 3 5 0

347Dazu

Fliedner, A m o r , S. 117: »Da O v i d die Bezeichnungen >Amor< und >Cupido< [ . . . ] ohne Unterschied verwendet, kann es nicht verwundern, w e n n er beide in einem A u s druck als gemini Amores zusammenfaßt, w o b e i die Zweiheit durch das W o r t geminus besonders hervortritt«.

348 349

C f . Fliedner, A m o r , S. 66. A l b i n L e s k y , A m o r bei D i d o . In: L e s k y , Gesammelte Schriften. Aufsätze z u antiker und deutscher Dichtung. H g . v o n Walther Kraus. Bern/München 1966, S. 593-601; hier S. $96. Z u vis und potentia als Begriffe für göttliche Macht cf. H . Wagenvoort, R o m a n dynamism. Studies in ancient R o m a n thought and custom. O x f o r d 1947, S.129 und 130.

350Nochmals

in diesem Sinne wird C u p i d o R d E 8922-8924 genannt: Cupido d'amor / et ses}rere charnels esteit, / en sa baillie le teneit.

202

ki ert deus

m'ert Cupido frere Eneas, li deus d'amor ki m'a conquise? Vers son frere m'a molt esprise!< RdE 8630-8633 Die Bevorzugung von Amor im >Roman< wie auch in der provenzalischen Lyrik erklärt sich aus dem fließenden Ubergang »zwischen dem aus der Antike übernommenen Gott Amors und der im mittelalterlichen Sinn überpersönlichen Macht Amors«, die »ihrem Wesen nach identisch und daher im Wortgebrauch des französischen Dichters meist synonym« 3 5 1 sind. Veldeke dagegen läßt bei Dido lediglich Venus und Cupido auftreten, während Lavinia und Aeneas darüber hinaus noch von Amor bestürmt werden. Der Einsatz zweier Gottheiten bei Dido mag mit der entsprechenden Szene bei Vergil zusammenhängen. Daß Cupido und nicht Amor auf sie einwirkt, ist eher dem passenden Reimwort zu Dido zuzuschreiben als der »traditional association of Venus and Cupid with a oneside and immoderate passion«. 352 Sollte Cupido nur eine auf das Sexuelle ausgerichtete Begierde schaffen können, dann wäre sein Auftritt eher im >Roman< berechtigt gewesen oder bei Veldekes Aeneas. Die Liebe der Dido als von der schlechten Venus geschaffene carnis concupiscentia zu deuten heißt, sie mit den Maßstäben des Bernardus Silvestris zu messen. 353 Dabei ist es jedoch methodisch nicht vertretbar, Bernardus' symbolisch aus dem Geschehen erschlossene Bedeutung rückwirkend als Wertung wieder auf die Handlung des Eneasromans zu beziehen. Genau betrachtet, findet sich bei ihm auch keinerlei kritische Bemerkung über Dido, sondern die gesamte Didoepisode ist das Symbol jugendlichen Fehlverhaltens. Deshalb ist es auch Aeneas, nicht Dido, der als Sinnbild des Jugendlichen nicht erkennt, daß er anstelle von Ascanius den Liebesgott Cupido auf dem Schoß hält: In prima aetate multarum rerum desiderium habet cum omnia utpote nova sibi placeant nec tarnen agnoscit que desiderai nec utrum rationabile sit an nort sit suum desiderium discernit atque ita recipit Cupidinem et non agnoscit (S. 13, Z. 12-15). 351

Dittrich, Gote, S. 240. Die Nähe des Amor im >Roman< zum antiken, vor allem Ovidischen Amor ist bemerkenswert. Schon deutlich von der antiken Vorstellung abgelöst ist z . B . Amor bei Andreas Capellanus, wie Karlheinz Hilbert, Amor und amor in der Liebeslehre bei Ovid und Andreas Capellanus. A U 21 (1978), S. 2 3 - 2 9 , zeigt. 352 G r o o s , Amor, S. 241. 353 So Hennig Brinkmann, Wege der epischen Dichtung im Mittelalter. Archiv 200 (1964), S . 4 0 1 - 4 3 5 ; hier S . 4 3 1 . Für eine Deutung des Aeneasstoffes im Sinne der Schule von Chartres findet sich m.E. kein Anhaltspunkt bei Veldeke.

203

Der Jagdausflug mit dem hereinbrechenden Gewitter wird dann auch ganz humoralpathologisch als Abbild des Uberflusses an Körpersäften, vor allem des semen virile (S. 24, Z. 20), gedeutet, mit dem der Jugendliche nicht fertig wird : Itaque ducunt pluvie Eneam ad caveam iungiturque Didoni et diu cum ea moratur. Non revocant eum turpia preconia fame quia iuventus libidine irretita nescit >quidpulcbrum, quid turpe, quid utile, quid non< (S. 24, Z. 22-24).

Nicht Dido, sondern die gesamte Didohandlung ist damit Ausdruck der concupiscentia carnis, der Aeneas als Symbol des jugendlichen Menschen ausgesetzt ist. Veldekes Text gibt zu einer derartigen Interpretation ebenso wenig Anlaß wie der des Vergil. Der Auftritt mehrerer Liebesgötter mit ihren Waffen ist im deutschen Eneasroman wie bei Vergil im Sinne einer Steigerung zu sehen. Die Minne existiert gewissermaßen als eigene Kraft, die ihre Dynamik in der Zahl der aufgebotenen Liebesgötter verdeutlicht. Dieser massive Auftritt reizt schon Juno in der >Aeneis< zur spöttischen Bemerkung gegenüber Venus : >egregiam vero laudem et spolia ampia refertis tuque puer que tuus (magnum et memorabile numen), una dolo divum sifemina vieta duorum est.< Aen. IV, 93-95

Eine solche Potenzierung findet man auch in der mittellateinischen Literatur, wo oft Venus und Cupido zusammen genannt werden, um die Macht der Liebe besonders deutlich hervorzuheben: Venus assit omnibus ad eam clamantibus assit cum Cupidine! CB 148, Ic

Amor querit iuvenes, [...] Venus despicit senes [...]. CB 152, 4

Venus me telo vulneravit aureo, quod corpenetravit, Cupido faces instillavit, Amor amorem inspiravit. C B 78, 3

ß. Venus / Minne Farals Formel, »dans le roman d'Eneas, l'amour est l'œuvre de l'Amour et l'Amour est un dieu«354, kann nicht einfach auf den deutschen Eneasroman übertragen werden. Wo der Dichter des >Roman< Ovids Feldherrn 354

Farai, Recherches, S. 143.

204

Amor und seine Vorgehensweise bis in den Wortlaut übernommen hat, 355 ist bei Veldeke Venus die eigentlich dominierende Gottheit. Die Übertragung der militia auf Venus, ihre Bewaffnung und ihr Auftritt mit den anderen Liebesgöttern ist weniger antiker als mittelalterlicher, vor allem mittellateinischer Stil. Wie die Bevorzugung von Amor im >Roman< mit der Ubertragbarkeit auf amors zusammenhängt, wird bei Veldeke die Bevorzugung der Venus auch mit der Nähe zum deutschen femininen Nomen minne begründet sein. Die Ablösung geschieht aber nicht ganz ohne Probleme. Für das Lehrgespräch der Mutter muß die Figur des antiken Liebesgottes Amor herhalten, um die Minne zu bezeichnen. In den Apostrophen von Aeneas und Lavinia sind es wieder die antiken Liebesgottheiten, die angerufen werden, doch tritt hier die Minne synonym für Venus ein: >bistu min müder, Minne, Vênûs, hêriu gotinne, ob ich din sun bin, Minne, des brink mich schiere inne.
Roman< als quelerinne (En. 273, 12) bezeichnet, so wird deutlich, daß Veldekes personifizierte Minne Eigenschaften sowohl von Venus als auch von Amor angenommen hat. Sie ist somit »keine gewordene, sondern eine fertig übernommene Allegorie, ein Bildbestandteil, den die Bekanntschaft mit der Antike vermittelte«.356 Der antiken Venus gebührt die Priorität, wobei Veldekes Minne »noch gelehrte Spuren ihrer antiken göttlichen Abkunft« 357 trägt. γ. Die Funktion der Minnegötter Die Liebesgötter sind im >Roman< und bei Heinrich von Veldeke zunächst Gestalten der Vergilischen Textvorlage, die das Geschehen beeinflussen können, am deutlichsten in der Liebeserweckung der Dido und bei der Beschaffung der Waffen für Aeneas. Daß die Liebesgötter im zweiten Teil als handelnde Gestalten nicht mehr in der Weise präsent sind, liegt auch 355

356

357

Farals Urteil, Recherches, S. 150, ist für den >Roman< völlig zutreffend : »Le dieu d'amour que peint l'auteur d'>Eneas< n'est pas d'autre que celui d'Ovide«. So Glasser, Abstractum agens, S. 75, zur mittelalterlichen Vorstellung der Fortuna, was aber auch für Veldekes Minne gilt. Glier, Artes Amjndi, S. 29, Anm. 27. Glier bezieht in dieses Urteil über Veldeke auch Gottfried von Straßburg ein.

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am Wechsel der Vorlage, denn in Ovids Scyllaerzählung fehlen die Liebesgötter. 358 Sie sind darüber hinaus im Bewußtsein der Personen verankert und erfüllen somit eine wichtige rhetorische und didaktische Funktion. Lavinia lernt die Theorie der Minne anhand der Amorstatue, die Wirkung wird im Wortschatz der antiken Liebeselegie beschrieben, und in den Liebesgöttern »verkörpern sich die rätselhaften Mächte der Minne einmal in Gestalten, die in das Geschehen eingreifen, die man anrufen, beschreiben und mit denen man sprechen kann«. 3 5 9 Trotz der Personifikation der Minne bei Veldeke werden die Liebesgötter weder völlig aufgegeben noch verlieren sie ihre konkrete mythologische Vorstellung. Eine Reduktion auf eine rein ornamentale Funktion wird auch durch den antiken Kontext verhindert. Sie zeigt sich dagegen im Monolog der Isalde bei Eilhart, wo immer die Minne angerufen wird und nur in zwei Versen A m o r (Tristrant 2464) und Cupido (Tristrant 2467) erscheinen: Sieht man von den beiden Cupido- und /Imor-Apostrophen ab [...], so fehlen im Liebesmonolog der Isalde alle übertragenen, vor allem mythologischen Anspielungen und Bilder [...]. Die Anrede frow Amor und Cupido sind mithin bloß Synonyme für die Minne als unbekannte Macht, mit ihren Namen verbinden sich aber keine konkreten mythologischen Vorstellungen.360 Eine von den Liebesgöttern verursachte Minne schafft aber nicht nur rhetorischen Glanz, sondern sie wird auch als Macht außerhalb der Psyche der Menschen verstanden. 361 Die Frage, ob die Dichter die »Motive aus einer so fernliegenden Welt« aufnahmen, weil »man sich jetzt im Kern des Erlebens, auf das sie zielen, mit ihr traf«, 3 6 2 d. h. ob die Dichter und ihr Publikum selbst diese Minneauffassung vertraten, wie sie sich in den Texten zeigt, ist dabei nur schwer zu beantworten. Es wäre dies dieselbe Frage, ob man in Vergils Göttern nur eine bewußt archaisierende Nachah358

Die Liebesgötter im >Roman< und bei Veldeke sind nach Vergil und Ovid gebildet und nicht an den Reduktionsformen des postallegorischen Mythos, wie ihn für das Mittelalter H. R. Jauss und D. Ruhe beschrieben haben: Hans Robert Jauss, Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. In: Terror und Spiel. Hg. von Manfred Fuhrmann. München 1971, S. 187-209. Doris Ruhe, Le dieu d'amours avec son paradis. Untersuchungen zur Mythenbildung in Spätantike und Mittelalter. München 1974·

359

Glier, Artes Amandi, S. 29. Bussmann, Liebesmonolog, S. $7. Schnells Unterscheidung zwischen Darstellung und Konzeption ist widersprüchlich. Während er einerseits die causae als Stilproblem sieht, gibt er doch zu, daß sich »mit der jeweiligen causa amoris auch die Auffassung von Liebe ändert« (Schnell, Causa, S. 310). 362 Ludwig Wolff, Die mythologischen Motive in der Liebesdarstellung des höfischen Romans. Z f d A 84 (1952/53), S. 47-70; hier S. 53. 360 361

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mung des heroischen Epos oder den Ausdruck seiner eigenen Religiosität sehen will, und die Antwort wird auch immer davon abhängen, was der jeweilige Interpret für möglich hält.363 Kritik haben Veldekes antike Götter bei Wolfram von Eschenbach erfahren: manee min meister sprichet sô, daz Amor und Cupîdô unt der zweier muoter Venus den liuten minne geben alsus, mit geschôz und mit viure. diu minne ist ungehiure. swem berzenlîchiu triuwe ist bi, der wirt nimmer minnen vrî, mit vreude, etswenne mit riuwe. reht minne ist wâriu triuwe.

Parz. 532, 1-10

Der Exkurs ist eingelegt in die Episode von Gawan und Orgeluse. Wie in der Bluttropfenszene bildet triuwe (Parz. 532, 10) den Gegenbegriff zur Minnedarstellung bei Veldeke. Sie steht im Kontrast zu einer als ungehiure (Parz. 532, 6) qualifizierten Minne. Rüdiger Schnell wollte auf der stilistischen Ebene in Wolframs Äußerung die Polemik gegen eine rhetorische Überhöhung eines im Menschen angelegten Vorganges sehen. Wolfram würde gegen eine »konventionell gewordene Minnedarstellung«364 angehen, die er selbst mit gir und gelust beim Namen nennt. Wolframs etwas geringschätzige Zurückweisung der Minnegötter scheint sich mehr auf diese rhetorisch-stilistische Ebene zu beziehen: Cupido, din strile min misset zallem mâle: also tuot des hern Amores gêr. sît ir zwêne ob minnen her, unt Vénus mit ir vackeln beiz, umb solhen kumber ich niht weiz. solich der wären minne jehen, diu muoz durch triuwe mir geschehen.

Parz. 532,11-18

363

Schnell, Causa, trennt nicht zwischen der aus den Texten erschließbaren Minneauffassung und der persönlichen Meinung von Dichter, Publikum und Interpreten. Seine Feststellung, S. 303, daß »noch heute manche Forscher [meinen], daß die vorgestellte Liebe den Menschen von außen überwältigt; in Wirklichkeit, so weiß nicht nur Andreas Capellanus, treibt ihn die >Natur< zu den >Freuden der unteren Körperhälfte (solatia inférons partis)Parzival< und Hartmanns Artusepik. Berlin 1972, S. 149. Eher auf den erotischen Bereich beziehe sich nach Wiegand, Studien, S. 170-171, der Begriff liebe.

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vor allem triuwe (Parz. 532, 10) versteht, so richtet sich sein Interesse nicht auf die Entstehung der Minne und ihre krankhaften Auswirkungen, sondern auf die Verwirklichung der Minne auf Dauer und unter dem Druck eines festen Normkodex. Wolframs triuwe-Begriff enthält so eine sehr viel weiter gefächerte Problematik als die Minnehandlung in Veldekes Eneasroman. Doch wird deutlich, daß Wolfram in der Gawanepisode ihn selbst ironisiert und somit in Frage gestellt hat. Während bei Wolfram die triuwe ihren Wert in der Minneehe erweist, sind Veldeke schon durch den Stoff sehr viel engere Grenzen gesetzt. Er endet mit der Hochzeit von Aeneas und Lavinia, ohne die Ehe der beiden weiter zu verfolgen. Wolfram hat aber in den Minnegöttern nicht lediglich einen Deckmantel der menschlichen Triebe gesehen, und ein solcher Vorwurf wäre bei Veldeke überhaupt nicht gerechtfertigt gewesen. Bezeichnenderweise hat der Versuch einer Uberwindung der Venus durch die Minne der antiken Göttin dazu verholfen, weit mehr als nur eine »symbolische Hülle« für die Macht der Minne oder ein »integumentum«366 für die menschliche libido darzustellen. Wenn Aeneas mit Dido das Beilager hält, alsez Venus geriet (En. 63, 23), scheint die antike Göttin nur eine rhetorische Verhüllung der sexuellen Begierden des Aeneas zu sein.367 Diese finden ihren bildlichen Ausdruck aber bereits in der aggressiven Jagdmetaphorik (En. 63, 36), und insgesamt haben weder der Dichter des >Roman< noch Veldeke die Scheu, Sexuelles konkret zu benennen. Die Sodomievorwürfe gegen Aeneas werden von Amata plastisch ausgestaltet, auch Lavinia und Dido verhehlen nicht, daß sie Aeneas gerne als Liebhaber bei sich im Bett hätten. Bei Vergil gehört der Jagdausflug zum Ränkespiel von Juno und Venus, das bewußt auf die Vereinigung von Dido und Aeneas angelegt ist. Ein ovidisches remedium amoris wurde erst vom Dichter des >Roman< daraus gemacht, ohne daß Veldeke dies übernommen hätte. Wenn sich Aeneas in der Liebesszene unter der Leitung seiner Mutter weiß, könnte darin auch ein Rückgriff auf Vergil stecken. Bei Veldeke wird dadurch aber vor allem die enge Beziehung zwischen Aeneas und Venus markiert, die erst in der Laviniaepisode zum Tragen kommt als Prädestination des Venussohnes zur Minne. 366

367

So die Einschätzung von Gerrit Johan Oonk, Die Darstellung und Auffassung der Minne in Heinrich von Veldekes >EneideAeneis< ist in erster Linie wichtig, daß Aeneas göttliche Abstammung besitzt, um den Anspruch der Römer auf die Weltherrschaft zu legitimieren. Venus ist vor allem die Ahnin des julischen Herrscherhauses; daß es sich bei ihr um die Liebesgöttin handelt, spielt kaum eine Rolle. Ovid als Liebesdichter weist dagegen immer wieder darauf hin, daß die Römer als Venuskinder besonders für die Liebe geschaffen seien (z.B. Am. I, 8, 42: Venus Aeneae regnai in urbe sui.). Dido in den >Heroiden< bezeichnet sich vertraulich als nurus der Venus {Parce, Venus, nurui! E H 7, 31) und wirft dem hartherzigen Aeneas vor, er könne kein Verwandter der Liebesgötter sein (Matris ab ingenio dissidet ille suae. E H 7, 3 6). Wirkliche Bedeutung für das Geschehen gewinnt diese Verwandtschaft mit den Liebesgöttern aber erst in der Laviniaepisode. Als der erste und zugleich die Liebe bewirkende Blick der Lavinia auf Aeneas fällt, wird der Trojaner mit dem Epitheton der minnesâlige (En. 267, 11) bezeichnet. Kartschoke hat für diese »so schwer zu übersetzende wie folgenreiche Prägung«368 im Text die fast wörtliche Wiedergabe >liebesselig< gewählt und im Kommentar noch weitere Varianten vorgeschlagen: >zur Minne vorbestimmtdurch die Liebe begünstigt^ >in der Liebe erfolgreiche Gunst und Erfolg in der Liebe sind Aeneas am Ende der Handlung unbestritten zuzugestehen, doch würde eine solche Bezeichnung an dieser Stelle aus Aeneas einen Frauenheld machen, dem die Herzen nur so zufliegen. Dagegen beschreibt der Begriff >liebesselig< im modernen Sprachgebrauch einen Zustand, der hier nur für die verliebte Lavinia, nicht aber für Aeneas passen würde. Das Adjektiv minnesâlec ist ein von Veldeke geprägtes Kompositum aus minne und saelde. Die saelde gehört, wie die Untersuchungen von Willy Sanders gezeigt haben,369 in den Umkreis von got, gote und gelucke, d. h. in den Begriffsbereich, der ein planvolles Walten im Sinne der Vergilischen fata als Gegensatz zur blinden Fortuna beschreibt. Ist es nicht die triuwe im Wolframschen Sinn, die der Minne zugeordnet wird, so macht die saelde deutlich, daß zu Vergils schicksalhafter Bestimmung zur Macht noch die Prädestination zur Minne tritt. Da minne geradezu die Übersetzung für Venus sein kann, ist Aeneas als der Venusgeborene unter dem Schutz der Venus/Minne. Von Kartschokes Übersetzungsvorschlägen ist der Formulierung >zur Minne vorbestimmt< der Vorzug zu geben, da sie in der Genealogie des Aeneas verankert ist. Die Liebesgötter sind deshalb bei Veldeke mehr als 368 369

Kartschoke, Eneasroman, S. 807-808. Willy Sanders, Glück. Zur Herkunft und Bedeutungsgeschichte eines mittelalterlichen Schicksalbegriffs. Köln/Graz 1965; zu Veldeke cf. S. 1 2 1 - 1 6 1 ; zum Begriff der saelde cf. S. 155.

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symbolische Hüllen, weil sie ganz im Vergilischen Sinne Aeneas zur Herrschaft und darüber hinaus als Venussohn zur Minne prädestinieren. Der mittelalterlich umgestaltete Aeneas ist deshalb durchaus mit Parzival und Tristan zu vergleichen, die auch von ihrem art her die Minne in sich tragen. Man könnte Wolframs Kritik entgegenhalten, daß in der Laviniaepisode die Minne doch über den Beginn hinaus auch eine gewisse Erfüllung bedeutet. Begründet die antike Venus den Anspruch des Aeneas auf Herrschaft und Minne, so findet in der positiven Wendung, die die Geschichte am Schluß nimmt, auch die Ablösung statt. Veldekes Minne ist zwar bis in die Genealogie des Aeneas von der antiken Venus geprägt, doch zeigt sich eine Weiterentwicklung auch darin, daß von allen Attributen der antiken Götter allein die Salbenbüchse auf die Minne übergegangen ist. Die Parallelität von Venus und Minne hört auf, wo Venus verletzt und Minne heilt. So entspricht die Zuordnung von Venus zu Dido und von Venus/Minne zu Lavinia dem Gang der Handlung wie auch der Entwicklung des Aeneas, der erst in Latium Minne und Kampf in idealer Weise vereint. Im Gegensatz zur Vorstellung einer verwundenden Liebe ist die von der heilenden Liebe, wie gesehen, nur sehr bedingt aus den antiken Vorgaben abzuleiten. Auch die Einbindung der Liebe in das Rittertum des Mannes zeigt bei Veldeke eine Uberwindung der antiken Position an, weil sie nicht wie bei Ovid egoistische audacia, sondern Mut im Dienst an der Frau und am Volk bewirkt. Die Minne wird so zum Inbegriff alles Positiven im Gegensatz zur Ambivalenz der antiken Minnegötter. Diese Überhöhung der Minne zum summum bonum findet ihren Ausdruck im Preis des Aeneas (En. 299, 32ff.), sie ist exemplarisch ausgedrückt in einem von Veldekes Minneliedern: Swer ze der minne ist sô vrnot, daz er der minne dienen kan, und er durch minne pine tuot, (wolim, derst ein saelicman!) Von minne kumet uns allez guot, diu minne machet reinen muot, waz solte ich sunder minne dan ?

MF 61, 33-39 Der in dem Lied beschriebene Erkenntnisvorgang spiegelt Aeneas' Übergang von der tumpheit zur wîsheit in der Minne wider. Das geht deutlich über die antike Liebesauffassung hinaus, der auch der >Roman< noch weitgehend verpflichtet ist. Veldekes Minne ist somit Abbild der Venus und Überwindung zugleich. Die weibliche Gestalt der belehrenden und 211

heilenden Minne Veldekes wie auch der Ärztin Minne bei Gottfried erinnern deshalb nicht mehr an Ovids Cupido mit den beiden unterschiedlichen Pfeilen, sondern scheinen fast an der personifizierten Philosophie des Boethius geschult, die auch als Lehrerin und Arztin auftritt mit dem Anspruch, den Weg des Menschen zum Heil zu wissen. 370 Die Funktion der Minnegötter bei Veldeke ist, bedingt durch die Quellenlage, sehr vielschichtig. Sie repräsentieren Herrschaftslegitimation und fatum wie bei Vergil, sind didaktisches Instrument und grausame Antagonisten des Menschen wie bei Ovid und stehen, vergleichbar mit der mittellateinischen Literatur, für die unwiderstehliche Macht der Liebe. Bei Veldeke wird in der Ablösung von der antiken Venus eine transzendente Schicksalsmacht deutlich, die das höchste Gut des Menschen darstellt und ihn zum größten Triumph führen kann, die aber allein aus der Psyche der Figuren nicht zu erklären ist. 4. Bewertungskategorien der Minne a. Zum Begriff der rehten minne In den beiden Minneepisoden der Eneasromane verbindet Dido und Lavinia ihre Liebe zu dem Trojanerfürsten, dagegen unterscheiden sie sich deutlich darin, was sie in dieser Liebe erreichen. Obwohl der Handlungsrahmen bereits durch Vergil vorgegeben war, wurde immer wieder die Frage gestellt, ob und in welcher Weise die beiden Eneasdichter darin einen Zusammenhang zwischen der Liebe der beiden Frauen und ihrem Schicksal gesehen haben. Problematisch ist dabei allerdings geblieben, wo Verhaltensunterschiede bei Lavinia und Dido festzustellen sind und welche Bewertungskategorien von den Dichtern aufgestellt wurden. 3 7 1 Als Maßstab hat man versucht, den Begriff der unmâze heranzuziehen, der Didos Tod als einen Verstoß gegen das Gebot der maze kennzeichnet. Ein solches Gebot wird allerdings in den Eneasromanen nie explizit 370

371

Die personifizierte Philosophie des Boethius ist nicht nur als Frau und in ihrer Wirkung komplementär zum antiken Liebesgott. Mit ihren Attributen in der linken und rechten Hand entspricht sie auch der bildlichen Vorstellung: Et dextra quidem eius libelles, sceptrum vero sinistra gestabat (I pr. 1, Z. 26-27). Zur Philosophie als Arztin cf. Gruber, Kommentar, S. 32-38: »Die Gestalt der heilenden Philosophie«. Didos Unglück als Folge ihres falschen Verhaltens in der Minne hat zuerst Friedrich Maurer, Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte besonders in den großen Epen der staufischen Zeit. Bern/München 1951, vor allem Kap. 6, S. 161-195: »Das Leid bei Heinrich von Veldeke«, betont. Widersprochen hat dieser Auffassung Werner Schröder, Dido und Lavine. ZfdA 88 (1957), S. 161-195. Mit Maurer und Schröder waren die beiden Ansätze gegeben, die in der Folgezeit aufgegriffen wurden.

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aufgestellt, denn bei der Dido vorgeworfenen intemperantia handelt es sich nicht um einen Maßstab der Bewertung, sondern um einen Begriff der Beschreibung.372 Eine genaue Uberprüfung der Semantik des Begriffes unmâze zeigt, daß die Wiedergabe mit intemperantia eine unzulässige Einengung auf einen ethischen Gehalt bedeutet, der nur im Zusammenhang mit Minne Sinn ergibt, gleichwohl aber gerade hier zu Fehlinterpretationen führt. Die unmâze ist bei Veldeke nicht auf die Minne beschränkt, sie gilt für jedes Gefühl der Zuneigung und Ablehnung (Lavinia über Aeneas: ich bin im ûzer mâzen / beidiu holt unde gram En. 303, 12-13), a b e r auch für Schmerz (Aeneas zu Dido: mir tût unmâzen wê / ûwer clage En. 68, 24-25) und Furcht (Dido zu Anna: ich vorhte zunmâzen / daz tûn und daz lâzen En. 56, 37-38). Daß damit ein Zustand höchster Erregung in Bezug auf jegliches Gefühl gemeint ist, macht auch die Mahnung des Latinus an seine Frau deutlich, die heftigst gegen Aeneas und dessen Ansprüche opponiert hatte: woldet ir ûch mâzen (En. 125, 2). 373 Der Begriff der unmâze hat rein adverbielle Funktion, um den Grad der Erregung bei verba sentiendi anzugeben und könnte jederzeit durch andere Gradangaben wie alze oder ze sère ersetzt werden.374 Die unmâze in der Liebe geht auf den Einfluß der ovidischen Liebesdarstellung zurück, deren Charakter als furor die Negation von Vernunft und Selbstbeherrschung darstellt und deshalb auch sprachlich in die Negation als unsinne und unmâze gefaßt wird. Dies ist kein individuell schuldhaftes Verhalten, sondern die typische Manifestation der Minne. Da sich im Verhalten der Liebenden kein Unterschied feststellen läßt und auch die unmâze alle drei Liebenden betrifft, verbietet schon der Text, diesen Vorwurf allein Dido zu machen.375 Verhängnisvoll für die Beurteilung der Minneepisoden bei Veldeke wirkt sich aus, daß er mit scheinbaren Begriffsoppositionen arbeitet, zu denen aber der Gegenbegriff fehlt. Wie zur unmâze das Gebot der mâze 372

Dittrich, Gote, S. 236. Dittrich folgte der Interpretation von Maurer. Dagegen hat Schröders Ansatz Kurt Ruh, Höfische Epik des Mittelalters. Bd. I. Berlin 1967, S. 80-81, verteidigt und vor allem die von Dittrich völlig überspitzte theologische Interpretation zurückgewiesen. 373 Z u r weiteren Begriffsverwendung von unmâze cf. Frings/Schieb, Eneide III: Wörterbuch, S. 536. 374 Beispiele gibt es dafür genug, auch in Verbindung mit Minne und minnen, so z.B im Minnemonolog des Aeneas : Minne, ir tût mir al ze wê (En. 294, 8); Minne, f...] ir quelt [...] sô sère (En. 284, 13). 375 Cf. Textbeispiele im Kap. »Maßlosigkeit«. De Boor, Höfische Literatur, der sich an die Position von Maurer und Dittrich anschließt, verfährt durchaus inkonsequent, wenn er einmal unzuht und unmâze als »Epitheta« (S. 26) der ovidischen Minneauffassung bezeichnet (S. 26), sie dann aber Dido als Schuld anrechnet (S. 45). 213

nicht formuliert wird, fehlt auch zur immer wieder erwähnten rehten minne der Oppositionsbegriff. Nur an einer einzigen Stelle erscheint das genaue Gegenstück, so daß schon aus rein numerischen Überlegungen heraus die unrehte minne bei Veldeke bei weitem nicht dasselbe Gewicht hat wie die rehte minne. Unmittelbar vor Didos Selbstmord merkt Veldeke an: ez was unrehtiu minne, / diu sie dar zû dwanc (En. 78, 4-5). Die Semantik des Begriffs läßt sich aber nur aus einer Gegenüberstellung mit dem Bedeutungsumfeld der rechten Minne gewinnen, will man Dido nicht vorschnell ein falsches Verhalten anlasten. Maurer hat durchaus richtig gesehen, daß in dem Gold- und dem Bleipfeil des Cupido zwei Extreme ausgedrückt sind. Aus Amatas Erläuterung des Bleipfeils, >swer dà mite wirdet wunt in sin herze enbinnen, der is der rehten minnen iemer ungehorsam, her hazet unde is ir gram.
Roman< noch bei Veldeke getan, doch haben beide Eneasdichter die Wirkung der Pfeile genauso übernommen, wie sie in Ovids Daphnesage gemeint sind, nämlich als Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zu lieben. Der Bleipfeil steht deshalb für die Angst vor fehlender Gegenliebe, wie Lavinias Worte deutlich zeigen: >und is der hère Énêas wunt mit dem bltgen gère, daz her hazzet sère al daz von minnen geschiht, daz ich in minne und her mich niht, sô ne mach ich niht genesen.
sone weiz ich waz daz meinet, daz ir mir bescheinet sô grôze unminne.
maßlose Minne, die den Mann aus dem richtigen ethischen Verhalten gebracht hat< (Leid 107), ist die spielerische Ubersteigerung eines bloßen Formfehlers. 3 7 9

So gleichen sich zwar die Termini zur Beschreibung der Minne, die Situation ist jedoch grundverschieden. Während die Minnelieder schon auf dem Verständnis einer höfisch normierten Minneauffassung aufgebaut sind, steht der Eneasroman noch eine Stufe vor dieser Entwicklung, denn hier geht es darum, das Wesen der Minne überhaupt zu erfassen, 376 377 378 379

Maurer, Leid, S. 106-109. Frings/Schieb, Entwicklung, S. 112. Schieb, Henric van Veldeken, S. 27. Schröder, Dido, S. 166.

2 I

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ohne sie irgendwelchen gesellschaftlichen Normen zu unterwerfen. Nicht die »ideelle Bändigung«380 steht im Mittelpunkt, sondern die persönliche Auseinandersetzung der einzelnen Liebenden mit der Minne, die ähnlich wie im Tristanroman als solche Faszination genug ist. Die rehte minne im Eneasroman ist also eigentlich die Minne schlechthin, deren Gegensatz unminne oder haz sind. Das Adjektiv reht, das so sehr zu einer Bildung der Antithese >falsch< verleitet, ist so gesehen redundant, ist eine Verstärkung, ohne eine Wertung zu beinhalten. Nicht anders hat es Gottfried gesehen oder gar von Veldeke übernommen, denn immer wieder ist in seinem Tristanroman von rehter minne die Rede, wenn die Minne als solche gemeint ist. Wie Tristan und Isolde von der Ärztin Minne zusammengeführt werden, ist es die Fackelträgerin Minne, die die Liebe von Riwalin und Blancheflur entfacht: dô kam diu rehte minne, diu wäre fiuraerinne und stiez ir senefiuwer an,

[...].

Tristan 927-929

Daß bei Veldeke der Begriff überhaupt existiert, hängt mit seinen Vorlagen zusammen. Er übersetzt mit rehter minne die Fügung bien aimer des Franzosen, die im Grunde auch nicht mehr meint als aimer, allerdings mit dem Zusatz, daß der Liebende nicht einfach aus blindem Trieb heraus liebt, sondern die Listen und Schliche der Liebe im Sinne der Ovidischen ars amandi beherrscht. Eigentliches Vorbild ist somit Ovids sapienter amare oder doctus amare, das die Liebeslehren im >Roman< maßgeblich beeinflußt hat, aber, wie gesehen, nur noch einen Teilbereich von Veldekes Minneauffassung abdeckt.381 Die Semantik der rehten minne bei Veldeke gegenüber Ovid und dem >Roman< ist aus den ihr zugeordneten Begriffen und Vorstellungen in den Minneliedern auch für den Eneasroman zu bestimmen. Als rehte minne bezeichnet Veldeke eine Minne, die sunder riuwe und âne twanc (MF 59, 31) ist, sunder wich unde wân (MF 60, 3). Als Gegensatz zur rechten Minne werden Leid und Schmerz verstanden, vor allem die riuwe ist es, die sich ihr widersetzt. Und hier nähert sich die rehte minne einem anderen in den Minneliedern viel verwendeten Begriff an, der sich auch durch die Abwesenheit von riuwe auszeichnet, nämlich der blîschaft:

380 381

Schröder, Dido, S. 181. Cf. Kap. »Liebeslehren«.

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dà ist nie dehein dorpeit under wan blîschaft, diu die riuwe slât. Des bin ich des gesunder, riuwe is mir ie langer unkunder.

MF 68, 10-13 Die blîschaft wiederum ist ein anderer Ausdruck für die vröide, die zentral mit der Minne verbunden ist. In Veldekes Minneliedern spielen Naturbeschreibungen eine große Rolle, und wie in den mittellateinischen Vagantenliedern ergibt sich die typische Zuordnung von Frühling und Sommer zu minne, blîschaft und vröide.382 Das Gegenteil dazu ist wie im Amorgleichnis des Eneasromans nicht die falsche Art der Minne, sondern die fehlende Minne, der in zum Eneasroman recht ähnlicher Formulierung beschriebene Haß auf die Minne. In den Umkreis der unminne gehören Trauer und winterliche Kälte, die Vertreter dieser Position werden als die boesen oder tumben bezeichnet, die im totalen Gegensatz zur frühlingshaften Freude der Minnenenden stehen: In den zîten, daz die rôsen erzeigent manic scboene blat, sô vluochet man den vröidelösen, die rügaere sint an maniger stat Durch daz, wan sî der minne sint gehaz und die minne gerne noesen. got müez uns von den boesen loesen.

MF 60, 29-3 5 Wenn Veldeke im Eneasroman von der rehten minne spricht, so hat man nicht die Minneauffassung aus dem Zyklus um die höfische Minne zugrundezulegen, sondern das Verständnis von Minne überhaupt, wie es in den Liedern Veldekes begegnet. Hier zeigt sich keine ethische Problematik, denn die Minne in den Liedern meint wie im Gleichnis von den zwei Pfeilen den Gegensatz zur unminne. Da allein an die Minne der Zugang zu vröide und blîschaft gebunden ist, wird der überragende Wert der Minne für das Leben gepriesen, und wer das nicht erfahren hat, der gehört zu den tumben, denen das Glück in der Minne verwehrt ist:

382

Exemplarisch vorgeführt in M F 61, 25. Nähe zur mittellateinischen Lyrik zeigt Veldeke also nicht nur in seiner Auffassung der Liebesgötter, sondern auch in der Verbindung von Natur und Minne; vgl. dazu Burghart Wachinger, Deutsche und lateinische Liebeslieder. Zu den deutschen Strophen der Carmina Burana. In: Der deutsche Minnesang. Hg. von Hans Fromm. Bd. II. Darmstadt 1985, S. 275-308; hier S. 295.

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die ie geminneten oder die sint vrô in manigen des die tumben niene wan sì diu minne noch noch ir herze mochte

noch minnen, sinnen beginnen, nie betwanc enbinden. M F 67, 2 8 - 3 2

Der Ubergang von der tumpheit in die wîsheit durch die Minne spielt, wie gesehen, auch bei Aeneas eine große Rolle. 383 Der Vergleich zwischen der Terminologie des Eneasromans mit den Minneliedern ergibt, daß Veldeke mit antithetischen Begriffen arbeitet. Dem Goldpfeil sind die rehte minne, blîschaft, vroide und die wîsheit zuzuordnen, während zum Bleipfeil unminne, haz und tumpheit gehören, ein Umfeld, in das auch die unrehte minne einzuordnen ist, die kein wie auch immer geartetes falsches Verhalten in der Minne bezeichnet, sondern die unminne. Auf den spezifischen Gehalt der Minnelehren bei Veldeke kommt man deshalb besser, wenn man anstelle der scheinbar ethischen Begriffe rehte und unrehte minne die wertneutralen Begriffe wîsheit und tumpheit setzt. Dann wird deutlich, daß in der Didoepisode bei Veldeke keinerlei Vorwurf gegen Dido fällt, den man ihr wegen ihres tragischen Endes so leicht anlastet. Die unrehte minne, die Dido als den Grund ihres Selbstmordes nennt, bezieht sich gar nicht auf ihr eigenes Verhalten, sondern darauf, daß1 Aeneas sie nicht in entsprechender Weise liebt. Bei Veldeke ist deshalb für die Frage nach einem schuldhaften Verhalten in der Minne nicht Dido oder Lavinia der Ansatzpunkt, sondern Aeneas. b. Die Interpretation der Didominne aus der Sicht der Quellen α. Schuld bei Vergil Durch die Verflechtung der göttlichen und der menschlichen Ebene ist der Schuldbegriff bei Vergil sehr viel komplexer und anders gelagert als in den mittelalterlichen Eneasromanen. Obwohl die fata das Geschehen bestimmen und so die Menschen als individuelle Handlungsträger in gewissem Sinn entlasten, setzt sich der Interessenkonflikt zwischen Juno und Venus in Dido und Aeneas fort. Den Menschen bleiben die göttlichen Pläne verborgen oder werden ihnen nur partiell enthüllt, so daß sie sich durchaus für ihr Handeln entscheidungsfähig und verantwortlich fühlen und aus Fehlschlägen das Gefühl persönlichen Ver-

383

Cf. Kap. »Lehren und Lernen in der Liebe: wîsheit und tumpheit«. 218

schuldens entwickeln, selbst wenn es sich auf einer höheren Ebene um eine tragische Verwicklung handelt. Vergils Dido ist eine tragische Gestalt im Sinne der antiken Tragödie, denn sie gerät ins Spannungsfeld zweier Göttinnen, die beide ihr Recht verwirklichen wollen, so daß sich ein Konflikt unvermeidlich ergibt. Venus fördert zunächst die Liebe zwischen Dido und Aeneas, um ihren Sohn zu schützen, sie ist es aber auch, die erwirkt, daß Aeneas den von den fata vorbestimmten Weg fortsetzt. Dagegen will Juno in der Bindung des Aeneas an Karthago die ihr verhaßten Trojaner um die Weltmacht bringen und stimmt deshalb zu. Die Liebe der Dido ist so von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aber auch Aeneas wird schuldig, weil er Dido berechtigten Anlaß zur Hoffnung gibt, daß er den verwaisten Herrscherthron einnehmen und sie zu seiner rechtmäßigen Gattin machen wird. Als er sie verläßt, lastet der Vorwurf der perfidia schwer auf ihm, und in den mittelalterlichen Eneasromanen wird er ihm gleich von drei Frauen gemacht. 384 Bei Vergil wird deutlich, daß die Sympathie des Erzählers bei Dido liegt und daß sie weniger als schuldhafte denn als tragische Gestalt konzipiert ist. Sie wird eingeführt als praecipue infelix, pesti devota futurae (Aen. I, 712), und der glücklichste Tag, der ihr die Vereinigung mit Aeneas bringt, leitet ihr Verderben ein: ille dies primus leti primusque malorum causa fuit; ñeque enim specie famave movetur nec iam furtivum Dido meditatur amorem: coniugium vocat, hocpraetexit nomine culpam. Aen. IV, 170-173

Didos Liebe schlägt um in unversöhnlichen Haß, der seinen Ausdruck findet im Fluch über Aeneas und seine Nachkommen (Aen. IV, 621-629) und der die mythologische Begründung für die Rivalität zwischen Rom und Karthago darstellt. Dido als Opfer eines Geschehens, das von zwei rivalisierenden Göttinnen initiiert wurde, dessen Folgen aber sie allein tragen muß, sucht die Schuld bei sich. Sie sieht diese Schuld nicht subjektiv in ihrer Liebe zu Aeneas, sondern daß sie dadurch objektive Gesetze und Werte mißachtet hat. Durch die Verletzung des pudor setzte sie sich dem Gespött der Nachbarn aus, wurde die Eifersucht des Jarbas aufgestachelt und somit ihr Volk in die Gefahr eines Krieges gebracht. Vor allem aber hat sie den 384

B e i Vergil wird Aeneas als perfidus (Aen. IV, 305 und 421) von Dido bezeichnet; ungetrouwe nennen ihn bei Veldeke Dido (En. 73, 35) und die Mutter des Pallas (221, 28-29); seine Untreue gegen Dido klagt auch Amata (En. 283, 16-29) a n ·

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Treueschwur zu Sychaeus gebrochen für einen Mann, der es offensichtlich nicht wert war. Ihr Selbstmord, so sehr er auch im furor der verlassenen Liebe verübt wird, ist kein Liebestod, sondern er setzt die Rechte des Sychaeus wieder ein. Zugleich bringt ihr Tod den Ausgleich mit der göttlichen Macht, als Juno Mitleid empfindet und die Todesqualen der karthagischen Königin mit einer versöhnlichen Geste beendet (Aen. VI, 6 93-705)·

ß. Schuld und Vergebung: Zum möglichen Einfluß von Ovids siebtem Heroidenbrief auf die Didogestalt in den Eneasromanen Der für die Vergilische Version konstitutive Begriff der Tragik, der sich aus der Spannung zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen ergibt, verliert in den mittelalterlichen Eneasromanen seine Bedeutung, weil sie die Rolle der fata zurückgedrängt haben. Schuld meint dann wieder individuell schuldhaftes Verhalten, das nicht durch eine übergeordnete tragische Verwicklung aufgehoben wird. Eine Vereinfachung hat Vergils vielschichtige Beziehung zwischen Aeneas und Dido mit ihren politischen und moralischen Implikationen bereits in der Antike im Didobrief der >Heroiden< Ovids erfahren, w o die fata völlig ausgeklammert werden und sich alles auf die Liebe konzentriert. Dido läßt nichts gelten, was »über eine unmittelbar persönliche Verantwortlichkeit des Aeneas hinausginge«. 385 So wird Vergils pius Aeneas zu »einem Treulosen, ja einem Lügner, dessen Handeln durch nichts gerechtfertigt erscheint«. 386 Maßgeblich sind dadurch die Veränderungen in der Charakteristik der Dido. Wo Vergils Dido unversöhnlich gegen Aeneas stirbt und zu Sychaeus zurückkehrt, kann Ovids Dido nicht hassen: Non tarnen Aenean, quamvis male cogitai, odi, Sed queror infidum questaque peius amo. EH 7, 29-30 Im Gegensatz zur >Aeneis< ist ihr Tod ein Liebestod für und wegen Aeneas, weshalb auch sein Name und nicht der des Sychaeus auf dem Epitaph stehen soll: Nec consumpta rogis inscribar Elissa Sychaei; Hoc tarnen in tumuli marmore carmen erit: 385 386

Siegmar Döpp, Virgilischer Einfluß im Werk Ovids, München 1964, S. 25. Döpp, Einfluß, S. 51.

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»Praebuit Aeneas et causam mortis et ensem; Ipsa sua Dido concidit usa manu.
Roman< und bei Veldeke hatten schon Edmond Farai vermuten lassen, daß hier Ovids Einfluß die Vergilische Konzeption der Dido überdecke.387 Welch große Bedeutung der Heroidenbrief für das mittelalterliche Verständnis der Didogestalt besaß, belegen auch einige Lieder in den >Carmina BuranaCarmina Burana< schwankt zwischen der lüsternen Verführerin und der verlassenen Geliebten, umgekehrt erscheint Aeneas als bereitwilliger Liebhaber oder treuloser Frauenheld, dessen einziger Grund zur Abfahrt die Aussicht auf eine neue Frau ist {Alter amor tibi restât? habenda est altera Dido ? E H 7, 19; cf. CB 99, 9). Als Gegenstück zur Didoklage wurde in der Handschrift an ein Gedicht (CB 99) eine Klage des Aeneas angehängt, die wie im >Roman< und bei Veldeke ein nachträgliches Schuldgeständnis des Aeneas formuliert und sogar ganz unvergilisch ein Aufbegehren gegen àie fata wagt: >Non semper utile est, diis credere, nec, quicquid ammonent, velieperficere; nam instigaverant me te relinquere. Dido, possideas sedes Elíseas et inter gaudia Eneam audias pro beneficio reddentem gratias.
Carmina Burana< das Ovidische Epitaph der Dido zitiert wird; cf. E H 7, 1 9 5 - 1 9 6 und C B 99b.

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Die Dominanz der Liebe, die daraus resultierende weichere Zeichnung sowohl von D i d o als auch von Aeneas weisen in den >Carmina Burana< wie auch in den Eneasromanen auf eine Nachahmung der Ovidischen Didogestalt hin. Als eine radikale Vereinfachung der Situation gegenüber Vergil erweist sich dabei der Monolog der Dido im Heroidenbrief, der das ganze Geschehen nur aus ihrer Perspektive schildert. D o c h blieben der Franzose und Veldeke vor das Problem gestellt, daß sie diese Liebe nicht isoliert schildern konnten, sondern in den epischen Handlungsrahmen mit all seinen Vergilischen Vorgaben integrieren mußten. Der Franzose hat deutlich Partei für Aeneas ergriffen. Wie in den >Carmina Burana< haftet D i d o der Vorwurf der Lüsternheit an (RdE 1521-1538). Daß sie darin eine typische Vertreterin ihres Geschlechtes und deshalb zur Treue gegenüber einem Mann gar nicht fähig ist, macht der Franzose in seinem frauenfeindlichen Kommentar deutlich (RdE 1589-1604). Die Begriffe aise (RdE 1654) und joie (RdE 1333) weisen das Verhältnis zwischen Dido und Aeneas deutlich als ovidische Genußliebe aus. O b w o h l Aeneas durchaus nicht abgeneigt ist, fällt im >Roman< keinerlei Kritik auf ihn. Diese Bewertung widerspricht dem Maßstab der Liebesdichtung, denn wie die Didoklagen bei Ovid und in den >Carmina Burana< zeigen, ist aus der Sicht des amor Dido als verlassene Geliebte deutlich höher als der treulose Aeneas zu bewerten, es sei denn, daß nicht wirklich Liebe, sondern Lust das Verhältnis bestimmt und daß Dido sich schwerer Fehler schuldig macht. Letzteres erweist sich bei dem Franzosen als für den Handlungsablauf sehr gewichtiges Argument, denn D i d o vernachlässigt ihre Pflichten als Regentin (RdE 1567-1579), was Kartschoke richtig hervorgehoben hat: Die Liebe der D i d o zu Aeneas, so wenig sie von den Beteiligten verschuldet ist und von ihnen verantwortet werden kann, verstößt gegen ein Grunderfordernis feudaler Herrschaft. Insofern war sie zum Scheitern bestimmt auch im Verständnis des 12. Jahrhunderts. U n d so wird D i d o unschuldig schuldig nicht in der Liebe, nicht an der Liebe, sondern durch die Liebe. 3 8 9

Das Argument der vernachlässigten Herrscherpflicht ist keine Erfindung des Franzosen. Vergils Aeneas weiß von Venus, wie sich die verwitwete, landvertriebene Königin mit List ein neues Reich erworben hat. Mit Staunen registriert er dann das geschäftige Treiben der Karthager, die gerade dabei sind, die neue Stadt aufzubauen, was ihn an seinen eigenen 389

Dieter Kartschoke, D i d o s Minne - D i d o s Schuld. In: Liebe als Literatur. A u f s ä t z e zur erotischen Dichtung in Deutschland. H g . v o n Rüdiger Krohn. München 1983, S. 9 9 - 1 1 6 ; h i e r S . 1 1 1 - 1 1 2 .

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Neubeginn denken läßt: >o fortunati, quorum iam moenia surgunt!tu nunc Karthaginis altae fundamenta locas pulchramque uxorius urbem exstruis? heu, regni remmque oblite tuarum.
Roman< wird daraus ein alleiniges Verschulden der Dido. Selbst wenn die Vergebung als solche durch Ovids Didobrief angeregt war, so ist sie anders motiviert. Sie entsteht nicht, weil ihre Liebe größer als der Haß auf den Trojaner bleibt, sondern aus der Erkenntnis, durch diese Liebe ein einziges Mal, dann aber mit gravierenden Folgen, die Herrscherpflicht vergessen zu haben. Im >Roman< kümmern sich weder Dido noch Aeneas um die Arbeit, sondern leben ganz für ihre Liebe, so daß die Bautätigkeit erlahmt und das begonnene Werk halbfertig liegenbleibt: de Ii n'ont force ne secors, ne montent mais es murs n'es tors, de l'ovrer n'est conte tenu, pendent le mur entrerompu, en un leu halt, en l'altre bas: tot a guerpipor Eneas.

RdE 1421-1426 Der Ruf Didos und ihres Volkes sind ruiniert, die benachbarten Fürsten gegen sie aufgebracht, und die Stadt ist für einen möglichen Krieg denkbar schlecht befestigt. Dabei wird die Rolle des Aeneas deutlich herabgespielt, während auf Dido die ganze Last der Verantwortung liegt, wegen ihres privaten Vergnügens den Untergang des ganzen Volkes riskiert zu haben. Aus diesem Grund steht im >Roman< und bei Veldeke auf dem Epitaph auch nicht wie bei Ovid der Name der beiden Liebenden Dido und Aeneas mit ihrer so paradoxen Verknüpfung im Tod, sondern es steht allein Didos Name darauf, die durch die Liebe als Herrscherin versagt hatte. Nicht recht zur Verzeihung angesichts des Todes will dann das Verhalten der Dido in der Unterwelt im >Roman< und bei Veldeke passen. Didos Feindseligkeit bei Vergil setzt konsequent ihren Fluch gegen Aeneas fort. Sie hatte ihren Tod als Rückkehr zu ihrem Gatten Sychaeus verstanden,

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und in dessen Obhut findet sie Aeneas dann auch vor, unerbittlich gegenüber seinen Bitten und Tränen: [...] inimica refugit in nemus umbriferum, coniunx ubipristinus Uli respondet curis aequatque Sychaeus amorem. Aen. VI, 472-474

Im >Roman< ist in der Unterwelt nichts mehr von der Vergebung geblieben (molt li esteit enemie R d E 2653), doch auch zu Sychaeus wagt sich Dido nicht wegen des gebrochenen Treueeids (RdE 2657-2659), so daß sie sogar in der Unterwelt ganz allein die Schuld ihres Tuns tragen muß. Veldeke erwähnt den Sychaeus nicht mehr, doch übernimmt er nicht einfach wie der Franzose die Unversöhnlichkeit der Vergilischen Dido (inmica Aen. V I , 472 / enemie R d E 2653). Seine Dido ist weniger feindselig gegen Aeneas, sondern empfindet persönlich Reue und Scham über ihre Zeit mit Aeneas, die sie letztlich ihre Würde als Herrscherin und ihr Leben gekostet hat: daz rou si vile sère und dûhte si unêre. En. 99, 39-40

γ. Dido als tragische Gestalt bei Veldeke So wichtig Kartschokes Interpretation der Dido unter Berücksichtigung der feudalen Herrschaftsordnung ist, weil sie von den moralisierenden Beurteilungen, die letztlich am Text nicht haltbar sind, wegführt, so gilt sie doch nicht »in der französischen Vorlage so gut wie in der deutschen«, 390 sondern ist in erster Linie am >Roman< nachvollziehbar. Veldeke hat, wie gesehen, alle Unterschiede in der Entstehung und Auswirkung der Liebe von Dido und Aeneas, die im >Roman< auf der Kompilation verschiedener Quellen beruhen, geglättet, er hat auch alle ausdrücklichen Vorwürfe des Franzosen gegen Dido getilgt und aus ihrem Verhältnis zu Aeneas eine legitime Ehe gemacht. Aus Vergil und dem >Roman< geht deutlich hervor, daß Dido nur die Geliebte, nicht aber die Ehefrau des Aeneas war, und man kann es Veldeke nicht anlasten, seine Dido sei es geworden, weil er den Begriff nurus im Heroidenbrief falsch verstanden habe. 3 9 1 Es gibt mehr Hinweise als dieses eine Wort, daß auch Veldeke 390 391

Kartschoke, Didos Minne, S. 1 1 1 . Kartschoke, Didos Minne, S. 107, ist der Ansicht, Veldeke habe aus der »Undeutlichkeit der Formulierung« bei Ovid den Schluß gezogen, »es habe sich im Verständnis der

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Ovids Dido bekannt war. Der Didobrief in den >Heroiden< lebt aus der Spannung zur Vergilischen Vorlage, die Ovids Publikum geläufig war und immer wieder zitiert wird, um dadurch eine ganz neue Beleuchtung zu gewinnen. Bei Vergil muß Aeneas seine rechtmäßige Gattin Creusa in Troja zurücklassen. Auch sie ist ein Opfer der fata und prophezeit Aeneas ein neues Reich und eine regia coniunx (Aen. II, 783), zu deren Gunsten sie nach dem Willen der Götter verzichtet mit dem stolzen Bewußtsein, daß sie einst die divae Veneris nurus (Aen. II, 787) war. Im Mund der Ovidischen Dido ist das nicht viel mehr als ein frommer Wunsch oder eine Anmaßung. Veldekes Legitimierung in der Ehe dient dagegen dazu, Dido von allen objektiven Verstößen freizusprechen. Auch befindet sich im Unterschied zu Vergil und dem >Roman< Karthago nicht erst im Aufbau, sondern Dido gebietet bereits über eine stattlich befestigte Anlage und zahlreiche ihr treu ergebene Vasallen.392 Dadurch hat das im >Roman< so starke Argument der vernachlässigten Herrscherpflicht deutlich an Kraft verloren, es ist vor allem kein Vorwurf mehr, den der Erzähler selbst Dido macht. Als der vertriben Troiâre (En. 66, 1) den Vorzug vor den benachbarten Fürsten erhält, zieht Dido deren Zorn auf sich. Sie kümmert sich jedoch nicht um das Gerede (ez was ir unmâre / swaz ieman dar umbe gesprach En. 66, 2-3), weil sie für sich selbst längst die Entscheidung getroffen hat: si liez ère unde gemach al zeiner hant gân, dò siz hâte getan. E n . 66, 4 - 6

Gleichgültig sind Dido somit nicht ihre ère und ihr gemach, sondern was die anderen darüber denken. Kartschokes Ubersetzung >ihr waren Ehre und Glück einerlei ergibt deshalb vom Kontext her keinen Sinn,393 vor allem, wenn gleich darauf betont wird, daß Aeneas von Dido Macht und Liebe erhielt (En. 66, 7-9), was für die umliegenden Fürsten gerade der

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antiken Gewährsleute um eine gültige Ehe gehandelt«. Allerdings sind sowohl der Dichter des >Roman< als auch Veldeke so fundierte Kenner der antiken Materie, daß man ihnen nur mit größter Vorsicht und vor allem nicht in den entscheidenden Passagen Mißverständnisse unterstellen sollte. C f . En. 26, 22-29. Die völlig andere Stellung der Dido als unangefochtene Herrscherin im Gegensatz zum >Roman< ist herausgearbeitet bei Anette Syndikus, Dido zwischen Herrschaft und Minne. Zur Akzentuierung der Vorlagen bei Heinrich von Veldeke. P B B 114 (1992) S. 57-107. Für die Erlaubnis, ihre Arbeit schon vor dem Erscheinen einsehen zu dürfen, bin ich Frau Syndikus sehr dankbar. Belegstellen, die diese Bedeutung belegen, bei Kartschoke, Eneasroman, S. 773; daß sie an der Stelle des Eneasromans allerdings nicht passend ist, gibt auch Kartschoke zu.

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Stein des Anstoßes war. Der Begriff hant hat ein sehr weites Bedeutungsspektrum, er dient der Umschreibung der Person, »aber auch als Symbol des Besitzes, der Gewalt über eine Sache«.394 So ist als Ubersetzung der Fügung auch möglich, was sich vom Kontext her als einzig sinnvoll erweist: »>Sie legte Ansehen und Glück ganz in eine Hand< (d.h. in die Hand des einzigen)«.395 Darin liegt kein Vorwurf gegen Dido als nachlässige Herrscherin, sondern wie bei Vergil überläßt sie dem Mann die Machtstellung, die sie als verwitwete Herrscherin ganz allein getragen hatte. Wo alle Vorwürfe, die der Dichter des >Roman< so heftig gegen Dido vorgebracht hat, zurückgenommen werden, tritt auch das persönliche Verschulden der Dido in den Hintergrund. Veldeke hat Didos Schicksal wieder mehr zu einem tragischen gemacht. Dabei konnte nicht der antike Vergilische Tragikbegriff wirksam werden, der aus der Spannung zwischen den fata und dem persönlichen Wollen der Dido entsteht. Und doch hat auch Veldeke die Tragik der Dido aus einer Spannung solcher Gegensätze entwickelt, in der die Minne an die Stelle der Vergilischen/iztíí tritt. Die Minne als Paradoxon ist Ovidisches Erbe. Die antithetische Struktur der Minne durchzieht den gesamten Eneasroman von den unterschiedlich wirkenden Pfeilen des Amor über die Auswirkungen der Minne, die Liebe und Leid, Krankheit und Gesundheit zugleich bedeuten. Darüber hinaus ist die Minne in Veldekes Verständnis ein wirkendes Weltprinzip, wie es erst Lavinias Mutter explizit formuliert (En. 261, 28-35), das aber bereits an Dido deutlich wird. Die Macht der Minne kristallisiert sich umso deutlicher heraus, je größer die Gegenkraft ist, auf die sie trifft. Dieses Gesetz der Fallhöhe wird deutlich am Widerstand der Lavinia gegen die Minne, der durchbrochen wird, an der Gestalt des so sprichwörtlich weisen Königs Salomon in den Minneliedern (MF 66, 16) und ganz besonders an der mächtigen und klugen Dido, die Hinterhalt, Krieg und Verlust von Mann und Reich nicht vernichten konnten, der aber die Liebe zu einem Fremdling zum Verhängnis wurde. Veldeke hat versucht, seine Dido der Vergilischen nachzugestalten, deren Tragik nur dann hervortritt, wenn sie als Person über alle Vorwürfe erhaben bleibt. Dido und Lavinia ordnen sich bei Veldeke in die Minnelehre mit ihren 394

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Lexer, Mhd. H w b . 1, Sp. 1 1 7 1 . Der Hinweis auf diese Stelle sowie die sich daraus ergebende völlig neue Interpretation findet sich in dem in Anm. 392 erwähnten Aufsatz von Anette Syndikus, deren Ergebnisse ich hier zur Stelle referiere. Ubersetzung von Anette Syndikus, Dido, S. 88-89, die gegenüber Kartschokes Version den Text sinnvoll und zum Kontext stimmig erfaßt.

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antithetischen Bereichen von minne und unminne, wîsheit und tumpbeit, freudvollem Leben und tragischem Tod ein. Beachtung verdient hier auch Veldekes Erzähltechnik, da er die Didoepisode mit einem Vorspann einführt, in dem er maßgebliche Akzente setzt und die Sympathie zugunsten der Dido im Sinne von Vergils praecipue infelix (Aen. I, 712) lenkt. Es ist die Geschichte einer überaus klugen Regentin, in der die Liebesgötter eine Liebe entfachen, wie sie größer gar nicht sein kann (En. 3 5,37 - 36,7), die aber im Unglück endet, wie der Erzähler schon zu Beginn andeutet: ir minne diu was ze gròz, wand si drumbe mûste geben ze aller jungest ir leben und jâmerlîche ir ende nam. nû höret, wie ez dar zû quam.

En. 36, 8-12

Ganz wertneutral wird hier von einer ze grôzen minne (En. 36, 8) gesprochen, wobei allerdings nach den Maßgaben einer Liebesdichtung eine Liebe gar nicht zu groß sein kann. Der Sinn ist, daß die Minne zu groß ist, um von einem Menschen allein getragen zu werden, ohne Gegenliebe zu erfahren, also wenn minne auf unminne trifft. Veldeke hat hier harmonisierend in die Vorgaben des Franzosen eingegriffen, der, typisch für ihn, zwei nicht unbedingt gleichwertige Gründe nennt, weshalb Dido dem Aeneas vergibt. Einerseits sieht sie ein, daß sie ihre privaten Gefühle nicht über ihre Pflichten als Regentin hätte stellen dürfen, andererseits erkennt sie, daß Aeneas nicht dieselben Gefühle für sie hegt und sie deshalb gar nicht verstehen kann: >Nos sentons molt diversement: ge muir d'amor, il ne s'en sent, il est en pais, jo ais les mais; amors η'est pas vers mei igals quant ne sentón comunalmente

RdE 1823-1827

Die Parallele zwischen sentir diversement (RdE 1823) und aimer diversement (RdE 7981) ist nicht zu übersehen. Diese Schuld kann man niemandem persönlich anlasten, wenn die Einsicht fehlt und letztlich die Liebesgötter entscheiden, wer die Erkenntnis gewinnen darf, was die wahre Minne ist. Bei Dido hat der Franzose, wie gesehen, den graduellen Unterschied aus der Dosis des aufgenommenen Liebesgiftes erklärt. Geradezu prophetisch sind deshalb Didos Worte:

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>se il sentisi ce que ge sent, qu'il amast mei si com ge lui, ne partisson ja mais andui.< RdE 1828-1830 Nicht nur Lavinia lernt, was die Minne ist. Auch Aeneas geht erst in Latium durch diese Schule und muß Dido nachträglich Abbitte leisten ( R d E 9039-9045; En. 296, 1 0 - 1 6 ) . Doch bleibt eine Interpretation der Didogeschichte allein aus der Sicht der Minne im >Roman< in den Anfängen stecken. Aeneas folgt dort den fata und ist somit gerechtfertigt, während auf Dido allerlei Vorwürfe gehäuft werden, die sie letztlich allein schuldig an ihrem Ende machen. Veldeke hat den Ansatz dagegen konsequent verfolgt, indem er seine Dido an die Vergils anlehnte. Sie macht sich keines Vergehens schuldig, dagegen erreicht Aeneas der Götterbefehl zu einem Zeitpunkt, dô der here Eneas da vil gewaldeclîchen was unde geminnet was da. En. 66, 7-9 Das ist kein Vorwurf gegen Dido, sondern wie bei Vergil gegen Aeneas, der als Herrscher und Geliebter, bei Veldeke sogar als Ehemann, sich kein eigenes Reich aufbaut, sondern als uxorius (Aen. IV, 266) das der Dido verwaltet. Ihr Unglück besteht darin, daß ihre Liebe nicht auf Dauer geheilt, sondern nur kurzzeitig ein teil gesenftet (En. 64, 27) war und deshalb für sie tödlich endet. Bei Vergil blickt Dido angesichts des Todes auf ein gelungenes Leben zurück, das seine Wendung mit dem Erscheinen des Aeneas nahm: >urbem praeclaram statui, mea moenia vidi, ulta virumpoenas inimico afratre recepì, felix, heu nimium felix, si litora tantum numquam Dardaniae tetigissent nostra carinae.< Aen. IV, 655-658 Ganz entsprechend hat diese Aristie der großen Königin auch Veldeke nachgebildet: >ouwî ère unde gût, wunne unde wîstûm, gewalt unde richtüm, des hete ich alles mîn teil, daz is ein michel unheil, daz ich ez sus mûz enden 228

ze mînen missewenden. und alsHS grôzem mînem schaden.< En. 76, 32-38 Wenn Veldekes Dido im Tod dem Aeneas vergibt, liegt der Grund dafür weder im Sinne Vergils in der Wiederherstellung des pudor noch wie im >Roman< im Bewußtsein, als Regentin versagt zu haben. Bei Veldeke ist sowohl Didos Tod als auch ihre Aussöhnung mit Aeneas allein in der Minnelehre verankert. Zunächst sieht sich Dido als Opfer des Aeneas, der sie bewußt getäuscht hatte. Solche Hartherzigkeit kann man kaum einem Menschen zutrauen, aber schon gar nicht dem Sohn der Venus, ein Vorwurf, den auch Ovids Dido dem Aenas macht (Matris ab ingenio dissidet Ule suae. E H 7, 36): >ùr herze is âne minne. Vênûs diu gotinne ne wart ûwer müder nie.< En. 72,35-37 Dann ringt sie sich zu der Erkenntnis durch, daß ihr Unglück auf einer höheren Ebene nicht in der persönlichen Schuld des Aeneas, sondern im sentir diversement begründet ist. Aeneas hat deshalb getan, was er konnte, als er sie liebte und auch den Platz des Herrschers einnahm: >ichn wil üch niht scheiden, wände ir sît es âne scholt, ir wäret mir genûch holt.< En. 76, 16-18 Schuld sind deshalb in erster Linie die Liebesgötter, die solch eine Liebe entfachen, wohl wissend, daß sie allein ohne Gegenliebe nicht zu tragen ist: >ûwer müder Vênûs und ûwer hrûder Cupido die macheten mich vil unfrô, die mir daz herze hahent genomen, daz mir mögen niht gefromen alle mine sinne.< En. 76,22-27 Aeneas beherrscht zwar die ovidische Verführungskunst und wendet sie mit dem Einverständnis der Venus auch an, er mag Dido gegenüber ritterlich gewesen sein, von den Geheimnissen der wahren Minne weiß er jedoch noch nichts und schlägt ungewollt wie der Vergilische pastor nescius (Aen. IV, γι—y2) Dido die tödliche Wunde. Das ist keine moralische Verfehlung und auch kein Verstoß gegen gesellschaftliche Normen, 229

sondern Unkenntnis im Sinn der Minnelehre. Didos Schicksal ist deshalb durchaus tragisch zu nennen, weil sie das Opfer der Venus gleichermaßen wie der fata ist und ihr einziger Fehler darin bestand, sich in einen Mann zu verlieben, der dorch mich niht here quam (En. 77, 26). Insofern war es ihre tumpheit (En. 77, 25), nicht im Sinne der Minne, sondern ganz realistisch betrachtet, eine Liebe einzugehen, der Dauer versagt blieb. In diesem Rahmen ist auch der Selbstmord Didos zu sehen. Er markiert weder wie bei Vergil den Bruch mit Aeneas und die Rückkehr zu Sychaeus, noch ist er die Konsequenz eines schuldhaften Verhaltens wie im >RomanNec mea nunc primum feriuntur pectora telo. / lile locus saevi vulnus amoris habetAeneis< integriert. Es war Edmond Farals Verdienst, sie dort aufzufinden und zusammenzustellen. Veldekes Quellenberufungen machen deutlich, daß auch für ihn in erster Linie Vergil und der >Roman< maßgeblich sind. Die Beziehung zu Vergil ist dabei mehr als nur das Bewußtsein, daß der >Roman< auf der >Aeneis< aufbaut, sondern Veldeke greift auch immer wieder auf das lateinische Epos zurück, ohne daß man von ständiger Kollation seiner beiden Vorlagen auszugehen hätte. Ihren Stoff kennen der Dichter des >Roman d'Eneas< und Heinrich von Veldeke jedoch nicht nur aus der >AeneisRoman de ThèbesRoman< hinaus. Für die Erweiterungen des Erzählstoffes spielen fraglos Ovids M e t a morphosen eine wichtige Rolle, wie vor allem die größeren Texteinlagen belegen, die vom Dichter des >Roman< eingeführt worden sind. Veldeke reagiert ganz unterschiedlich auf diese Texteinlagen. Die extremen Standpunkte sind markiert durch das Weglassen des Parisurteils und im Gegensatz dazu durch eine geradezu wörtliche Ubersetzung der Gigantomachie und der Besänftigung des Cerberus. Einen Mittelweg geht Veldeke dagegen in den Episoden von Arachne und Vulcan, die er weitgehend aus dem >Roman< übernimmt und nur in Details abweichend gestaltet. Gerade aber

an solchen Details werden Veldekes Rückgriffe auf Ovid deutlich, an den spinnwebenfeinen Ketten des Vulcan und der Aitiologie der Spinnen, die er nach den Ovidischen >Metamorphosen< ausführt. Nimmt man dazu noch die Orpheussage, die im >Roman< fehlt, so machen solche Abweichungen nicht nur Veldekes Initiative und Quellenkenntnisse deutlich, sondern vor allem auch seine vom Franzosen abweichende Akzentuierung. Der Austausch des listigen, gleich von drei Frauen umworbenen Paris, der aus Liebe sein ganzes Volk in einen vernichtenden Krieg verwickelt, gegen den treuen Orpheus, der aus Liebe sogar in die Unterwelt geht, ist durchaus tendenziell. Die Hinwendung von der dämonischen Zerstörung durch die Liebe zu ihrer positiven Entfaltung und die weichere Zeichnung der Personen bestimmen Veldekes generelles Verhältnis zum >RomanMythographi Vaticani für den >Roman< und mit Hygin und Servius für Veldeke feststellen, ohne daß man mit Sicherheit sagen könnte, daß genau diese Werke ihnen zur Verfügung standen. Dagegen spricht die Uberlieferungslage, die eine genaue Bestimmung, ob die Dichter nun die kompletten Werke zur Verfügung hatten oder nur Auszüge oder Glossen daraus, unmöglich machen, dagegen sprechen auch Fehler, die sich in den Eneasromanen finden, und die oft völlig anderen Kombinationen, in denen die Mythen geboten werden. Allerdings kann eine Berücksichtigung der mythographischen Werke nicht die >Metamorphosen< als Quelle ersetzen, die durch den Schulunterricht weit verbreitet waren. Ganz deutlich bietet immer die Vergilische Vorlage den Anknüpfungspunkt für Texteinlagen, die somit nicht einfach willkürlich eingeflochten sind, sondern sich als Ausführungen von bloßen Andeutungen bei Vergil erweisen. Das ist wichtig für die Interpretation der Absicht solcher Texterweiterungen, wobei für Veldeke ohnehin große Vorsicht geboten ist, da er die Einlagen als solche vom >Roman< übernommen hat. Weder im Umgang mit Vergil noch mit den anderen antiken Quellen ist bei dem Franzosen oder bei Veldeke der Einfluß euhemeristischer oder integumentaler Mythendeutung oder gar von Polemik gegen den antiken My2

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thos deutlich, der in der grammatischen Literatur überall begegnet. 1 Der Aeneasstoff wie auch die Texteinlagen werden in erster Linie erzählt aus Lust an der fabula-, dazu kommen noch kleinere Anmerkungen und Ausführungen, die deutlich dem Publikumsbedürfnis Rechnung tragen, um den Text verständlich zu machen. Die bewußte Konfrontation mit der fremden Gedankenwelt der Antike wird gerade am >Roman< in der Katabasis deutlich, wo Veldeke auf bekannte, christlich geprägte Vorstellungen ausweicht. Selbst in der aetas Ovidiana war das Verhältnis zu Ovid und zur antiken Literatur überhaupt durchaus noch gespalten, wie das Urteil des Schulmeisters Conrad von Hirsau zeigt, so daß unbedingt die positive Haltung der Eneasdichter zu ihrem antiken Stoff hervorzuheben ist. Der Umgang mit den Stoffen macht die Quellenkennisse und die Art ihrer Benutzung bei beiden Eneasdichtern deutlich, deshalb stand sie zu Beginn der Untersuchung. Für Vergil, Ovid und auch die kleineren Nebenquellen gilt, daß sie Veldeke so bekannt waren wie dem Franzosen und daß auch direkte Rückgriffe darauf festzustellen sind. Wichtig ist dabei vor allem, daß Abweichung und Anpassung an den >Roman< keine Frage des Wissens oder Könnens sind, sondern anderer stilistischer Auffassungen. N u r fundierte Kenntnisse ermöglichten Veldeke den souveränen U m gang mit den Stoffen. Dabei ist Ovid gleichermaßen wie auch Vergil nicht allein als materielle Grundlage durch den Erzählstoff wichtig, sondern als poetisches Vorbild. Gerade in dieser Hinsicht können die >Metamorphosen< nicht durch die mythographische Literatur ersetzt werden, der man zwar Informationen über Mythen entnehmen konnte, die aber darüber hinaus nichts zu bieten hat. Im Übergang von der stofflichen Untersuchung zur technischen Beeinflussung findet auch Farals Arbeitsweise ihre Grenzen. Farai hat umfassend zusammengestellt, wo und welche Anleihen der Franzose bei Ovid gemacht hat, doch blieb es weitgehend bei dieser Auflistung von Gemeinsamkeiten, ohne daß Farai auf die Unterschiede und die Veränderungen durch den neuen Kontext eingegangen wäre. Farai sprach zwar auch von der großen Rolle der »procédés littéraires«, 2 in denen Ovidischer Einfluß nicht nur die Stoffe, sondern auch die poetische Technik bestimmt, er hat jedoch diesen Ansatz kaum verfolgt. Gerade bei der Minnehandlung 1

Zu demselben Ergebnis kommt entgegen Hennig Brinkmann auch Fromm, Eneasroman, S.89. 2 Farai, Recherches, S. 1 5 0 - 1 5 4 . 2

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müssen Farals Ergebnisse einer genauen Prüfung unterzogen werden, vor allem aber gelten sie in diesem Bereich noch weniger für Veldeke als für den >RomanMetamorphosen< prägen ganz deutlich auch die Minnedarstellung durch die Übernahme des Cupido mit seinen zwei unterschiedlichen Pfeilen, der Scyllaerzählung und der Nachahmung des Liebesmonologes. Dazu kommen Anleihen aus Ovids carmina, amatoria, die maßgeblich den Charakter der Liebe prägen, ihre Paradoxie als dulce malum und ihre pathologischen Auswirkungen bis hin zum Ausschreiben einzelner Anweisungen der >Ars Amandi< und der >Remedia AmorisRoman< benutzten Liebesdichtungen mit den >AmoresArs Amandi«, den >Remedia< und den >Heroiden< kann man auch für Veldeke als bekannt voraussetzen, selbst wenn direkte Rückgriffe darauf selten sind.3 Erich Auerbach wies auf das Defizit der Faralschen Untersuchungen hin, die zwar die benutzten Ovidstellen verzeichnen, jedoch nicht verdeutlichen, daß der Franzose die Stilgesetze der einzelnen Gattungen dadurch verwischt hat. Die Liebesdarstellung gerät deshalb im >Roman< weit aggressiver, die Liebesdidaxe in ihren katalogartigen Zusammenstellungen ist sehr viel plakativer, so daß die Ironie und die parodistische Übertreibung der Liebesdichtung Ovids verlorengeht und alles ganz ernst genommen wird. Ergänzend zu dieser Feststellung Auerbachs muß man auch auf den Einfluß des neuen Kontextes genauer achten. Bei aller Übereinstimmung der Terminologie ist die Liebe in den Eneasromanen als dulce malum kein simultanes Nebeneinander beider Gefühle, sondern entsprechend ihrer Liebeslehre eine zwingende Abfolge. Identische Begriffe wie sapienter amare, bien amer und rehte minnen erhalten durch den neuen Kontext wie auch durch die Akzentuierungen des jeweiligen Dichters andere Bedeutung. M.-L. Dittrich für Vergil und E. Farai für Ovid sind der Gefahr solcher unreflektierter Bedeutungsübertragungen zu leicht erlegen. Und so sehr die Auffassung von der Verletzung durch die Liebeswunde auch Ovid zu verdanken ist, so bedeutet ihre Heilung doch sehr viel mehr als eine bloße Anwendung der >Remedia AmorisRoman< ihre Grenzen, so gilt dies weit mehr noch für den deutschen Eneasroman. Im >Roman< ist die direkte Auseinandersetzung mit Ovid nachvollziehbar, was auch für andere Werke der Zeit gilt, etwa das altfranzösische Gedicht von Piramus und Thisbe, das erstmals den ovidischen Liebesmonolog aufweist. Im >Roman< zeigt sich das ganz deutlich in der 3

Farai, Recherches, S. 154.

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variantenreichen Metaphorik von der militia Amoris, die bis in den Wortlaut hinein aus Ovid übernommen ist. Veldekes Distanz zu Ovid ist hier sehr viel größer, da er vor allem harmonisierend in die Vorgaben des Franzosen eingriff. Stilistisch ergibt sich daraus eine Milderung des aggressiven Tons und eine Annäherung an die Stilhöhe Vergils. Die Liebe wirkt bei Veldeke sehr viel verhaltener und verinnerlichter, dagegen weniger pathologisch körperlich. Veldekes Minneterminologie, die die Liebe nicht nur im Spannungsfeld zwischen Krankheit und Heilung, sondern auch zwischen Trauer und Freude erfaßt, verrät den geschulten Minnesänger. Seine Verwendung des Ovidischen Materials und der Liebesgötter mit ihren Waffen als Ausdruck der Macht der Minne, vor allem aber die positive Bewertung der antiken Elemente weisen auf einen Einfluß der mittellateinischen Vagantendichter hin. Darüber hinaus ergibt sich gerade in der Ablösung der heilenden Minne von der verwundenden Venus bei Heinrich von Veldeke eine Weiterentwicklung der antiken Vorstellungen. Die besondere Leistung Veldekes liegt aber in der Schaffung einer konsequenten Minnelehre, die nur noch der Terminologie nach mit Ovid zu verbinden ist. Veldeke hat ganz bewußt auf Dido übertragen, was im >Roman< erst für Lavinia gilt, die Entstehung der Liebe aus einem einschneidenden Ereignis und ihre volle Entfaltung von Anfang an, sowie Anna als Liebeslehrerin im Sinne der Amata. Die Antithetik der Minne nach dem Bild des Cupido mit dem Gold- und dem Bleipfeil durchzieht den gesamten deutschen Eneasroman und schafft eine strenge Scheidung zwischen Liebe und Glück gegenüber fehlender Liebe und Unglück, die sich exemplarisch fassen läßt in Veldekes eigener Liebeslehre zwischen wîsheit und tumpheit. Dadurch fällt ein ganz anderes Licht auf die Personen. Aeneas ist es, der sich ändert und als tumber erst bei Lavinia das wahre Wesen der Liebe erkennt. Dagegen wird an der untadeligen Königin Dido die zerstörende Dämonie der Liebe so deutlich wie ihre positive Kraft an Lavinia und Aeneas. Nicht persönliche Schuld oder Unschuld wie im >Roman< ist deshalb der Sinn der beiden Minneepisoden bei Veldeke, sondern Dido und Lavinia werden zu exempla der Wirkungsweise der Minne. Zu fragen bleibt, was eine Charakterisierung des »mittelalterlichen Eneas als ovidische[n] Eneas« 4 wirklich leistet. Am >Roman< wird deutlich, daß die Liebeshandlung und -darstellung ohne Ovid nicht existieren 4

So die immer wieder zitierte Charakterisierung von Julius Schwietering, Einwürkung der Antike auf die Entstehung des frühen deutschen Minnesangs. Z f d A 61 (1924), S. 62-82; hierS. 65.

23é

würden. Situation, Wortschatz und Technik sind in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Ovid gewonnen, ebenso die didaktische Grundhaltung, der auch die späteren Minnelehren5 verpflichtet sind. Sie ist auch für Veldeke berechtigt, wenn man darunter versteht, daß er den antiken Dichter gekannt, für seinen Roman aber weitgehend durch den Franzosen vermittelt bekommen hat. Durch seinen Ausgleich zwischen der Didound der Laviniaepisode ist seine Liebesdarstellung auch dort ovidisch, wo sie im >Roman< nicht direkt aus Ovid gewonnen war. Nicht berechtigt ist es jedoch, das Attribut ovidisch auf eine rein oberflächliche, akzidentielle Ebene zu beschränken. Die Auseinandersetzung mit der Minne ist eine Auseinandersetzung mit Ovid. Wenn Lavinia ihre Liebesauffassung dadurch gewinnt, daß sie Ovids praecepta erwägt und dann verwirft, muß man auch für den substantiellen Kern Ovid maßgeblichen Einfluß zubilligen, selbst wenn er ex negativo entsteht.6 Veldeke hat hier weitgehend auf dem Franzosen aufgebaut, Widersprüche getilgt und Systematik angestrebt. So ergibt sich bei ihm die Situation, daß Minne durchaus noch jene dämonisch bannende und krankmachende Liebe der antiken Quellen, darüber hinaus aber auch eine den Menschen fördernde, integrative Macht ist.

II. Abgrenzung des deutschen Eneasromans vom französischen >Roman d'Eneas< Veldekes eigene Leistung liegt nicht wie im >Roman< im selbständigen Rückgriff auf die antiken Quellen. Seine fundierten Kenntnisse als die eines echten poeta doctus haben ihm gewiß die Sicherheit verliehen, mit dem ihm gebotenen Material souverän umzugehen. Doch betreffen seine Eingriffe in den >Roman< kaum den Stoff, sondern vor allem die literarische Technik. Er hat die kompilatorischen Züge seiner Vorlage deutlich gemildert, auf stimmige Zusammenhänge geachtet, wo der Franzose spontan die einzelnen Situationen ausgestaltet, und er hat die Vorgaben rhetorisch überarbeitet. Durch Veldekes Versuch einer Systematisierung verlieren die »raffinierten Ritter und Liebhaber mit ovidischem Ein-

5

C f . Alfred Karnein, Europäische Minnedidaktik. In : Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. V I I : Europäisches Hochmittelalter. Hg. von Henning Krauß. Wiesbaden 1981, S. 1 2 1 - 1 4 4 . 6 Gegen eine Einengung von Ovids Einfluß auf das »gleichsam Technische der Minnedidaxe und der Minnesymptome« spricht sich auch Fromm, Eneasroman, S. 86, aus. 2

37

schlag«7 im >Roman< ihre individuellen, situativ angepaßten Verhaltensweisen zugunsten einer Typisierung. Aus Ovid haben die Eneasdichter gelernt, die Liebe als radikal verändernde Macht und als tragendes Moyens der Handlung zu sehen. Ihm verdanken sie die gesamte Terminologie, die die Thematisierung der Liebe erst ermöglicht. Ovidischer Anteil gegenüber dem distanziert objektiven Vergil verrät sich aber vor allem im Ausloten der Psyche der Liebenden. Dabei gestaltet der Franzose viel spontaner und emotionaler, indem er Lüsternheit, Kalkül, Haß und List seiner Figuren zu starken Handlungsmotiven macht. Veldeke ist vielleicht der weniger witzige und publikumswirksame Erzähler, doch verfügt er über die reifere Erzähltechnik, wie seine Einführung einer übergeordneten Erzählerinstanz beweist. Der Erzähler im >Roman< geht kaum über den Blickwinkel seiner Figuren hinaus, er fühlt mit ihnen und ist so parteiisch wie sie, bleibt aber weitgehend der Situation verhaftet. Bei Veldeke zeigt sich dagegen das Bestreben einer weitblickenden Erzählweise, in der der Erzähler wie bei Vergil das Geschehen im Gegensatz zu den handelnden Figuren überblickt. Da vor allem die Didoepisode Beispiele dafür aufweist, mag hier die Schulung an Vergil wirken. Dido wird schon vor der eigentlichen Handlung als die unglücklich Liebende eingeführt, der Jagdvergleich bei der Liebesvereinigung mit Aeneas läßt wie bei Vergil die Opfermetaphorik anklingen, während Dido im >Roman< sich mit Aeneas vergnügt und am Ende die allein Schuldige ist. Es ist hier aber auch das tragische Bewußtsein der Dido zu nennen, die schon gleich zu Beginn das kommende Unglück fühlt und im großen Zusammenhang mit dem Trojanischen Krieg sieht: >ouwê der vart, daz Paris Elenam nam und daz her ie zìi ir quam, dar umbe Troie wart zebrochen. daz wird an mir gerochen, unsanfte unde sêre.
Aeneis< eingebunden in eine historisch-politische Dimension. Eine solche Sicht verlangt auch ein Uberschreiten des vorgegebenen Handlungs7

So Reto Bezzola, Der französisch-englische Literaturkreis und die Erneuerung der europäischen Literatur im 12. Jahrhundert. ZfromPh 62 (1942), S . 1 - 1 8 ; hier S. 14. 238

rahmens durch den Erzähler, was Veldeke in seinen Stauferpartien und im Epilog geleistet hat. So ist nicht mehr die chronologische und schrittweise voranschreitende Erzählweise das dominierende Prinzip, sondern über die Handlungsebene hinaus gibt es den kommentierenden Erzähler, der auch den Blick über den eigentlichen Stoff erweitert. Veldekes vom >Roman d'Eneas< abweichende Erzählweise hat ebenso die Behandlung der direkten Rede gezeigt. Auch hier findet sich eine Abkehr von der spontanen, stark mimetischen Redeweise, die in erster Linie vom Gefühl getragen ist, zu einer überlegt disponierten, rhetorisch durchgeformten Rede. Erich Auerbach wollte gerade auch in den Reden das stilistische Vorbild Ovids sehen, der dem »Novellierstil« 8 der französischen Romane sehr viel mehr entgegenkam als das Vergilische Pathos. Bei Veldeke dagegen ist in der Weiterentwicklung seiner französischen Vorlage eine Annäherung an Vergil festzustellen, die in der Zurückdrängung der direkten Rede, vor allem der stichomythischen Wechselrede, und der rhetorisch durchgeformten Komposition deutlich wird. Diese erzähltechnische Gewandtheit zeichnet den deutschen Eneasroman auch gegenüber Eilharts Tristrantepos aus, das in der primär chronologischen Darstellung und in seiner mimetischen Gestaltung der direkten Rede mehr auf der Stufe des >Roman< steht. Man würdigt diese Fortschritte Veldekes kaum, da er meist an den späteren Klassikern, den Artusromanen Hartmanns und Wolframs oder Gottfrieds Tristanroman gemessen wird, die über ausgereifte Konzepte und die bessere Erzähltechnik verfügen. Der Maßstab ist dabei nicht immer gerecht, da der Eneasroman viele Gattungen berührt, ohne wirklich einer zuzugehören. Er stellt ein Art chanson de geste dar, da er römische Geschichte behandelt, die das Mittelalter als seine eigene Vorgeschichte empfand. Der Epilog und die Stauferpartien verstärken gegenüber dem >Roman< den historisch-politischen Aspekt, er ist aber nicht dominant. 9 In Latium bewährt sich Aeneas in Liebe und Kampf, doch ergibt sich das recht unvermittelt aus dem Stoff und ist nicht wirklich wie im Artusroman in einem stimmigen Konzept verankert. Will man eine Linie zu diesen späteren Werken ziehen, so muß man gewiß die Verbindung mit Gottfried herstellen, die sehr viel enger ist, als man das bisher gesehen hat. Der Tristanroman weist trotz des völlig anderen Stoffes ganz 8 9

Auerbach, Literatursprache, S. 157. Diesen Aspekt des Eneasromans betont vor allem Frank Shaw, Das historische Epos als Literaturgattung in frühmittelhochdeutscher Zeit. In: Studien zu frühmittelhochdeutscher Literatur. Cambridger Colloquium 1971. Hg. von L. P. Johnson e. a. Berlin 1974, S. 2 7 5 - 2 9 1 .

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deutliche Parallelen zu Veldekes Eneasromans auf, vor allem wenn man bedenkt, daß der thematisch gleiche Tristrantroman des Eilhart hier sehr viel weniger bieten konnte. Lavinia und Aeneas nehmen das vom Schicksal für einander bestimmte Minnepaar Tristan und Isolde vorweg. Der Minnetrank hat wie der Liebespfeil keine dämonisch bannende Funktion, sondern als einschneidendes Ereignis markiert er die endgültige Bindung, die schon längst in der Handlungsführung sowie in der Charakterisierung der Personen vorgegeben war. Gemeinsam ist dem Trank bei Gottfried mit Veldekes Pfeil auch die unauflösliche Bindung, die aber von den Liebenden auch als die selbst gewollte anerkannt wird. Nicht zu übersehen ist sowohl bei Veldeke als auch bei Gottfried der antike Bildungshintergrund, der maßgeblich auf die Darstellung der personifizierten Minne in Anlehnung an die antike Venus gewirkt hat. Die Minne im Eneas- wie im Tristanroman ist so die Macht einer anderen Seinsordnung, die geradezu dämonische Kräfte entfalten kann, unbedingten Herrschaftsanspruch erhebt und den Liebenden auf die Rolle des Leidenden, des Schülers und Dieners verweist. Nicht zuletzt sei hier verwiesen auf die gemeinsame Terminologie der rehten minne, die ohne Opposition einer falschen Minne die mit aller Macht sich entfaltende Liebe meint. Gemeinsam trifft die Eneasromane das Urteil, sie hätten zwar einen antiken Stoff bearbeitet, dabei aber »beinahe auf alles spezifisch Antike« 10 verzichtet. Genau betrachtet sind die Eneasromane für mittelalterliche Verhältnisse erstaunlich antik. Das liegt zum einen an ihrer engen Bindung an antike Originalquellen, dann aber auch an manch durchaus spezifisch antikem Detail, das kaum verändert übernommen wurde, etwa in der Unterwelt die Seelenlehre des Franzosen oder bei beiden Dichtern die Minnegötter. Veldekes Eneasroman ist deshalb wirklich ein Antikenroman, er ist aber auch vor allem ein Minneroman, dem vielleicht das stimmige Konzept der Artusepik fehlt, der aber über eine sinnvolle Systematik verfügt und die leidenschaftliche, bedingungslose Hingabe an die Macht der Minne des Tristanromans schon vorweggenommen hat. Dabei ist der didaktische Aspekt bei Veldeke sehr viel ausgeprägter als im >RomanRoman< selbst erarbeitet. Die Eingriffe, die er gegenüber seiner Vorlage vorgenommen hat und die Veldeke sehr viel temperamentsloser wirken lassen, stehen ganz im Sinne dieser Minnelehre. Will man unabhängig vom >Roman< Veldekes Stellung in der deutschen Literatur seiner Zeit gerecht werden, so zeigt sich doch seine bemerkenswerte Selbständigkeit nicht nur als Epiker, sondern auch als Lyriker. Die Spannung der Minne zwischen trûren und blîschaft, wîsheit und tumpheit findet sich auch bei dem Lyriker Veldeke. In den Minneliedern feiert er noch mehr als im Roman die positive Kraft der Minne, die allein sommerliche Wärme im Leben schafft und deren Fehlen grausame Kälte bedeutet. Diese durchweg positive Sicht der Liebe und die Verbindung zum Naturbild verweist auf die enge Verwandtschaft der Werke Veldekes mit den Dichtungen der Vaganten, die als poetae docti mit durchweg positiver Einstellung zur Ovidischen Liebesdichtung und unter ihrem direkten Vorbild ihre Lyrik entwickelt haben. Da Ludwig Traube gerade an den mittellateinischen Lyrikern und ihrer Ovidrezeption für das 12. Jahrhundert den Begriff vom Zeitalter des Ovid her prägte, ist es durchaus berechtigt, in Heinrich von Veldeke einen deutschen Vertreter der aetas Ovidiana zu sehen. Nach Abschluß der Arbeit ist die Untersuchung von U d o Schöning erschienen : Thebenroman - Eneasroman -Trojaroman. Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts. Tübingen 1991. Schöning bringt keine Quellenstudien, sondern befaßt sich mit der Interpretation und der Darstellung neuer Erzählkonzeptionen, wie auch sein Kapitel »Liebe und Liebesglück« (S. 2 5 1 - 2 8 3 ) als Unterpunkt des Kapitels »Konzepte der neu erzählten Geschichte« zeigt. In bezug auf die Ovidischen Anteile im >Roman d'Eneas< baut Schöning auf Farals Untersuchung auf.

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E. Verzeichnis der verwendeten Literatur

1. Quellen ι.

Griechische Texte

Homer: Ilias. Urtext, Anhang und Register. Übers, von Hans Rupe. 8. Aufl. Zürich 1983. - Odyssee. Urtext, Anhang und Register. Ubers, von Anton Weiher. 7. Aufl. München 1982.

2. Lateinische Texte Andreas Capellanus: Andreae Capellani regii Francorum D e amore libri tres. Hg. von E. Trojel. 2. Aufl. München 1964. Bernardus Silvestris: The commentary on the first six books of the >Aeneid< commonly attributed to Bernardus Silvestris. A new critical edition by Julian Ward Jones and Elizabeth Frances Jones. London 1977. Boethius: Anicius Manlius Severinus Boethius, Philosophiae consolationis libri quinqué. Hg. v. Karl Büchner. 2. Aufl. Heidelberg i960. Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Diemer. Hg. von Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt 1987. Catullus. Carmina. Hg. von Henri Bardon. 2. Aufl. Stuttgart 1973. Conrad von Hirsau: Accessus ad auctores; Bernard d'Utrecht; Conrad d'Hirsau, Dialogus super auctores. Hg. von R . B. C . Huygens. Leiden 1970. Dares Phrygius: Daretis Phrygii de excidio Troiae historia. Hg. von Andreas Dederich. Bonn 1935. Dictys Cretensis: Ephemeridos belli Troiani libri a Lucilio Septimio in Latinum sermonem translati. Hg. von Werner Eisenhut. 2. Aufl. Leipzig 1973. Donat: Tiberi Claudi Donati ad Tiberium Maximum Donatianum filium suum interpretationes Vergilianae. Hg. von Heinrich Georgi. Vol. I: Aeneidos libri I - V I . Leipzig 1905; Vol. II: Aeneidos libri V I I - X H . Leipzig 1906. Ekkehart IV.: Der >liber benedictionum< Ekkeharts IV. nebst kleineren Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393. Hg. und eri. von Johannes Egli. St.Gallen 1909. Glossarla Latina. Hg. von Wallace M. Lindsay (e.a.). B d . I - V . Paris 1 9 2 6 - 1 9 3 1 (Reprint Hildesheim 1965). Hygin: Hygini fabulae. Hg. von Moriz Schmidt. Jena 1872. Ilias Latina. Hg. von Friedrich Plessis. Paris 1885. Isidor von Sevilla: Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri X X . T. I: libri I - X ; T. II: libri X I - X X . Hg. von Wallace M. Lindsay. 2. Aufl. Oxford 1957. Josephus Iscanus: Joseph Iscanus, Werke und Briefe. Hg. von Ludwig Gompf. Leiden/ Köln 1970. - Joseph of Exeter, Trojan war I—III. Ed. with translation and notes by A . K . Bate. Warmington 1986. 2

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