Heinrich Rickert: Sämtliche Werke: Band 3.1 Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. 9783110567854, 9783110566406

Rickerts „Grenzen" gehört zu den Monumenten der Philosophie vor den beiden Weltkriegen. Mit Scharfsinn, Übersicht u

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Heinrich Rickert: Sämtliche Werke: Band 3.1 Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften.
 9783110567854, 9783110566406

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Aus dem Vorwort zur ersten Auflage
Vorwort zur zweiten Auflage
Vorwort zur dritten und vierten Auflage
Vorwort zur fünften Auflage
Inhaltsverzeichnis [der Original-Ausgabe]
Einleitung
Erstes Kapitel: Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
Zweites Kapitel: Natur und Geist
Drittes Kapitel: Natur und Geschichte
Viertes Kapitel: Die historische Begriffsbildung

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Heinrich Rickert Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

Heinrich Rickert Sämtliche Werke

Herausgegeben von Rainer A. Bast

Band 3

Heinrich Rickert

Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften (1929)

Textkritische Ausgabe Teilband 3/1

Herausgegeben von Rainer A. Bast

De Gruyter

ISBN 978-3-11-056640-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056785-4 Library of Congress has cataloged this record under LCCN: 2020945661. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Bildnachweis: akg-images Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Aus dem Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort zur dritten und vierten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort zur fünften Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis [der Original-Ausgabe] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erstes Kapitel: Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt und ihre Vereinfachung durch die allgemeine Wortbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Die Bestimmtheit des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Die Geltung des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Dingbegriffe und Relationsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Die mechanische Naturauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Beschreibung und Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zweites Kapitel: Natur und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Physisch und psychisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Die generalisierende Erkenntnis des Seelenlebens . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Drittes Kapitel: Natur und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung und die empirische Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Der logische Begriff des Historischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Die historischen Bestandteile in den Naturwissenschaften . . . . . . . .

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IV. Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Viertes Kapitel: Die historische Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Das Problem der historischen Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Das historische Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Die wertbeziehende Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Der historische Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Die geschichtliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

[Teilband 2:] VI. Die naturwissenschaftlichen Bestandteile in den historischen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Geschichtswissenschaft und Seelenleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Die historischen Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Die irrealen Sinngebilde und das geschichtliche Verstehen . . . . . . . . X. Die Klassifikation der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fünftes Kapitel: Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . I. Die naturalistische Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die empirische Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die metaphysische Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Objektivität der Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Geschichte und Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang I: Die vier Arten des Allgemeinen in der Geschichte (1901) . . . . . Anhang II: Nachwort 1928 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister [der Original-Ausgabe; von Franz J. Böhm] . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zu vorliegender Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emendationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textphilologische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung der Titelseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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HEINRICH RICKERT DIE GRENZEN DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN BEGRIFFSBILDUNG. EINE LOGISCHE EINLEITUNG IN DIE HISTORISCHEN WISSENSCHAFTEN

5., verbesserte Auflage Tübingen 1929

| DEM ANDENKEN AN MAX WEBER GEWIDMET

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| AUS DEM VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE.

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Eine Theorie der wissenschaftlichen Begriffsbildung hat mich seit meiner Doktorarbeit „Zur Lehre von der Definition“ (1888) beschäftigt. Schon damals habe ich den Gedanken einer naturwissenschaftlichen Universalmethode bekämpft und zu zeigen versucht, wie nichtssagend die Lehre ist, nach welcher die gemeinsamen Elemente der Dinge mit den wesentlichen Merkmalen der Begriffe identisch sind. Es war mir klar geworden, daß es stets eines bestimmten Zweckes bedarf, mit Rücksicht auf den die wesentlichen von den unwesentlichen Merkmalen geschieden werden, und daß es in der Methodenlehre darauf ankommt, die Verschiedenartigkeit dieser Zwecke kennenzulernen, um die Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Methoden zu verstehen und ihr gerecht zu werden. Nachdem ich dann versucht hatte, in meiner Schrift über den „Gegenstand der Erkenntnis“ (1892) für meine weitere Arbeit einen allgemeinen erkenntnistheoretischen „Standpunkt“ zu gewinnen und den Primat der praktischen Vernunft theoretisch zu begründen, wendete ich mich wieder methodologischen Untersuchungen zu. Sehr bald aber sah ich ein, daß eine alle Wissenschaften umfassende Theorie der Begriffsbildung wegen der Fülle der hierzu notwendigen spezialwissenschaftlichen Kenntnisse ein Unternehmen mit unabsehbaren Schwierigkeiten bildete. So versuchte ich, mich zu beschränken und vor allem das Wesen der g e s c h i c h t l i c h e n Begriffsbildung zu verstehen, zunächst weil hierfür von der Logik bisher am wenigsten getan ist, sodann weil eine Einsicht in den prinzipiellen Unterschied des geschichtlichen vom naturwissenschaftlichen Denken sich als der wichtigste Punkt für das Verständnis aller spezialwissenschaftlichen Tätigkeit ergab, und endlich weil diese Einsicht mir zugleich für die Behandlung der meisten philosophischen Probleme oder Weltanschauungsfragen dringend gefordert zu sein schien. Die logische Theorie steht hier im Dienste der Bekämpfung des Naturalismus und der Be- | gründung einer an der Geschichte orientierten idealistischen Philosophie. Meine Ansicht vom Verhältnis des Begriffes zur empirischen Wirklichkeit überhaupt, die für den ganzen folgenden Gedankengang maßgebend ist, habe ich zuerst in einer Abhandlung „Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ in Avenarius’ Vierteljahrsschrift 1894 veröffentlicht. Zwei Jahre später erschienen die drei ersten Kapitel dieses Buches, die vor allem den Zweck hatten, zu zeigen, daß die naturwissenschaftliche Methode in der Geschichte n i c h t anwendbar ist, und die als n e g a t i v e r Teil der Arbeit ein abgeschlossenes Ganzes bilden. In einem Vortrage über „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“ (1899) versuchte ich dann in mög-

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Aus dem Vorwort zur ersten Auflage

lichst einfacher Form die Grundlinien einer p o s i t i v e n Darlegung des logischen Wesens der Geschichte zu geben, und einige andere kleinere Arbeiten, die darauf folgten, stehen ebenfalls im engsten Zusammenhange mit diesem Versuch. ... ... Während ich den Plan zu meiner Arbeit entwarf, war das Thema der historischen Methode in der Geschichtswissenschaft nichts weniger als aktuell, und man durfte auch nicht erwarten, daß diese Frage von Männern der Spezialwissenschaft bald wieder diskutiert werden würde. Am wenigstens aber hätte ich es damals für möglich gehalten, daß in den Kreisen der Historiker selbst der alte Gedanke einer „Erhebung der Geschichte zur Wissenschaft“ durch Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode so bald auftauchen würde und Aufsehen erregen könnte, denn der Glaube an Buckle und verwandte Geister schien dort endgültig abgetan und nur noch in der naturalistischen Philosophie eine Rolle zu spielen. Heute geben sich trotzdem die alten Spekulationen der Aufklärung wieder einmal als die neuesten und wichtigsten geschichtlichen Errungenschaften, und deshalb hielt ich es für nötig, auch auf die Begriffsverwirrungen hinzuweisen, welche ihnen zugrunde liegen, und besonders die Vieldeutigkeit der Schlagworte klarzulegen, mit denen in unseren Tagen diese gründlich veralteten Theorien wieder verteidigt werden. Daß ich dabei die neueste Literatur dieser Richtung nur zum kleinsten Teil ausdrücklich berücksichtigt habe, wird jeder Logiker verstehen. Sie trägt fast durchweg so sehr den Charakter des Dilettantismus, daß eine ins einzelne gehende Auseinandersetzung mit ihr nicht lohnt. Implizite glaube ich zu allen wesentlichen Gedanken, die in dem neuesten Streit um die historische Methode hervorgetreten sind, ausreichend Stellung genommen zu haben. Weniger gerechtfertigt dagegen wird es vielleicht erscheinen, daß auch die wertvollen Schriften über das Wesen der Geschichtswissen- | schaft nur zum kleinsten Teil genannt und fast gar nicht ausdrücklich besprochen worden sind. Doch ließ sich das nicht ändern, wenn der Umfang des Buches nicht allzusehr anschwellen sollte. Außerdem aber meine ich auch, daß wir heute im allgemeinen viel zu viel zitieren und dabei nach Grundsätzen verfahren, die nur für Lehrbücher gelten dürfen. Besonders in der Philosophie besitzen wir eine Menge umfangreicher Schriften, die zum weitaus größten Teil aus Referaten und Kritiken anderer Ansichten bestehen, und in denen nur kleine Bruchstücke uns die eigene Meinung ihrer Verfasser geben. In bewußtem Gegensatz hierzu habe ich versucht, einfach das darzustellen und zu begründen, was ich für richtig halte, und nur ausnahmsweise und gelegentlich sind daher fremde Arbeiten ausdrücklich genannt, wenn mir dies im Interesse der Klarlegung meines Gedankenganges wünschenswert schien. Doch hof-

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Aus dem Vorwort zur ersten Auflage

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fe ich, auch hier die vorhandene Literatur nicht vernachlässigt und implizite die wesentlichen Gedanken anderer genügend berücksichtigt zu haben. ... Dabei möchte ich nicht unterlassen, hervorzuheben, wie viel Dank für die Klärung meiner eigenen Ansichten ich auch solchen Werken schulde, deren Verfasser zu nennen, sich keine Gelegenheit bot. Sodann noch ein kurzes Wort über die Art meiner Darstellung. Ich suche von den Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung aus das Wesen der wirklich vorhandenen Geschichte zu verstehen und nicht etwa Pläne für Zukunftswissenschaften zu entwerfen. Zugleich aber liegt es mir fern, lediglich das Vorhandene zu a n a l y s i e r e n oder zu beschreiben, sondern ich möchte die innere logische Struktur aller geschichtlichen Begriffsbildung aufdecken. Aus diesem Grunde mußte ich zunächst von ganz allgemeinen Begriffen ausgehen, die noch sehr wenig von dem enthalten, was man Geschichte zu nennen gewohnt ist, und ganz allmählich füge ich zu diesen Begriffen ein Element nach dem anderen hinzu, um so erst am Schluß des vierten Kapitels den Begriff zu gewinnen, der auf die üblicherweise Geschichte genannten Wissenschaften paßt. Es ergibt sich aus diesem s y n t h e t i s c h e n Verfahren nicht nur die Unbequemlichkeit, daß man das ganze Buch gelesen haben muß, um zu wissen, was ich meine, sondern auch die Notwendigkeit, das Urteil über die Richtigkeit meiner Ansicht bis zum Schluß zu suspendieren. Doch vermochte ich beim besten Willen auch hieran nichts zu ändern. Freiburg i. B., Januar 1902.

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| VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE.

Als ich vor elf Jahren dies umfangreiche und umständliche Buch zum erstenmal veröffentlichte, glaubte ich nicht, daß es eine zweite Auflage erleben würde. War doch ein großer Teil seiner Darlegungen nur für einen engen Kreis von Fachgenossen bestimmt. Aeußerliche Umstände, besonders der Streit der Historiker über die „neue“ Methode, trugen dazu bei, daß die Schrift auch in weiteren Kreisen ihre Leser fand. Sie war nach verhältnismäßig kurzer Zeit vergriffen und hat eine Reihe von Jahren im Buchhandel gefehlt. Zu einem unveränderten Abdruck konnte ich mich nicht entschließen, da mir einige ihrer Mängel so deutlich geworden waren, daß ich mich mit dem Plane einer vollständigen Umarbeitung trug. Je länger ich mich jedoch damit beschäftigte, um so mehr sah ich ein, daß ein ganz neues Werk entstehen würde, dessen Fertigstellung nicht abzusehen war. Schließlich hat der von mehreren Seiten, auch von meinem verehrten Verleger, Herrn Dr. Paul Siebeck, an mich gerichtete Wunsch nach einer neuen Auflage mich veranlaßt, einen Mittelweg zwischen bloßem Wiederabdruck und völliger Umarbeitung einzuschlagen. Den Gedankengang und die Gliederung des Ganzen behielt ich in der Hauptsache bei, obwohl ich weiß, daß hier manches schwerfällig und mit Wiederholungen belastet erscheinen kann, und beschränkte mich auf Verbesserungen und Ergänzungen von Einzelheiten. Vor allem habe ich mich bemüht, den Ausdruck schärfer zu fassen, wo meine Gedanken Mißverständnissen begegnet sind. Dabei waren mir manche von den zahlreichen Kritiken, die mein Buch gefunden hat, sehr wertvoll, und ich hoffe, man wird mein Bestreben nicht verkennen, den wichtigsten Einwänden, auf die ich gestoßen bin, gerecht zu werden. In allen wesentlichen Punkten muß ich freilich das aufrechterhalten, was schon in der ersten Auflage stand. Auch war es mir nicht möglich, auf alles einzugehen, was im Anschluß an meine Arbeit geschrieben ist, denn das hätte den Umfang der neuen Auflage | zu sehr vermehrt. Ja, ich mußte sogar den für mich in mancher Hinsicht wichtigsten Teil der Literatur fast ganz unberücksichtigt lassen. Das für Philosophen geschriebene Buch hat nämlich das Schicksal gehabt, daß es bei den Männern der Spezialwissenschaften, die sich für methodologische Fragen interessieren, mehr beachtet und meiner Ansicht nach im allgemeinen auch besser verstanden worden ist als bei vielen meiner Fachkollegen, und ich kann nicht leugnen, daß dieser Erfolg mir besonders erfreulich und lehrreich war. Die wissenschaftlichen Arbeiten aber, die hieraus hervorgegangen sind, und die nicht nur von Historikern, sondern auch von Theologen, Juristen und Nationalökonomen stammen, betreffen meist Fragen, die hier eingehender zu behandeln, nicht meine Auf-

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gabe war, denn, wie ich wiederholt hervorgehoben habe, kam es mir nicht auf das Ganze der Wissenschaftslehre oder auch nur auf eine erschöpfende Darstellung der Methoden in den nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen an, sondern ich mußte mich aus den im Vorwort zur ersten Auflage angegebenen Gründen auch jetzt auf die im engeren Sinne historischen Wissenschaften beschränken. Viele an mein Buch anknüpfende Untersuchungen gehen über den von mir eingehaltenen Problemkreis hinaus. Sie gründlich zu würdigen und damit den Dank zum Ausdruck zu bringen, den ich ihnen schulde, wird mir daher erst möglich sein, wenn ich es einmal versuchen sollte, ein vollständiges System der Wissenschaftslehre zu geben und darin zu zeigen, welches die logische Struktur auch der Theologie, der Jurisprudenz, der Nationalökonomie und aller anderen sogenannten Geisteswissenschaften ist. Die Aenderungen, die ich vorgenommen habe, im einzelnen aufzuzählen und dadurch vielleicht dem Kenner der ersten Auflage die Lektüre zu erleichtern, würde zu weit führen. In der Hauptsache handelt es sich, wie gesagt, um bessere Formulierungen, und die sind über das ganze Buch so verstreut, daß nur wenige Teile genau denselben Wortlaut wie früher zeigen. Prinzipiell wichtig war mir im übrigen vor allem die schärfere Abgrenzung des Logischen gegen das Psychologische. Die erste Auflage schloß sich, besonders in den schon 1896 veröffentlichten Kapiteln, zum Teil noch zu eng an die „Logik“ von Sigwart an, deren Verhältnis zur Psychologie mir heute nicht mehr haltbar erscheint. Neu hinzugekommen sind unter anderem einige Bemerkungen über das historische „Verstehen“ und die Welt des „Sinnes“, die verstanden wird, die darum aber nicht etwa eine reale psychische Welt zu sein braucht, wie man heute noch fast allgemein glaubt, sondern als „un- | wirklich“ bezeichnet werden muß, und die leider von vielen noch so gut wie ignoriert wird, obwohl ihre Berücksichtigung für nahezu alle Teile der Philosophie von Bedeutung sein dürfte. Doch handelt es sich hier nur um flüchtige Andeutungen, die kurz darauf hinweisen wollen, wie auch eine logische Untersuchung, ja diese allein, viel behandelte Probleme der „Geisteswissenschaften“, die man fälschlich für psychologische Probleme hält, mit Erfolg in Angriff nehmen kann. Ferner sind auch die erkenntnistheoretischen Ausführungen des letzten Kapitels von allen Resten einer psychologistisch-voluntaristischen Auffassung befreit, die in der ersten Auflage noch stehen geblieben waren, und endlich habe ich alles getan, um dem Mißverständnis vorzubeugen, als verfolgte ich in den Weltanschauungsfragen irgendeine historistische oder „konservative“ Richtung. Die methodologischen Grundgedanken werden aber durch alle diese Aenderungen und Ergänzungen nicht berührt. Es ist nur die von Anfang an schon vorhandene „antipsychologistische“ Tendenz noch mehr verstärkt worden, und durch sie wird

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Vorwort zur zweiten Auflage

auch die neue Auflage vermutlich wieder den schärfsten Widerspruch hervorrufen. Doch kann ich mich zugleich der Ueberzeugung nicht erwehren, daß der Glaube an die „grundlegende“ Bedeutung der Psychologie für die „Geisteswissenschaften“ ebenso wie die Meinung, es sei möglich, durch psychologische Analyse das Wesen der Geschichte als Wissenschaft zu verstehen, immer mehr schwindet. Einerseits nämlich ist das, was von psychologischer Seite noch hervorgehoben wird, wenn es gilt, die Bedeutung der Psychologie für das gesamte wissenschaftliche Leben zu zeigen, im Grunde doch recht bescheiden geworden, und andererseits beweisen manche Schriften der neuesten Zeit, daß der Begriff des „Geistes“ für eine Grundlegung der Geisteswissenschaften in immer höherem Maße so bestimmt wird, daß er mit dem Begriff des Gegenstandes der Psychologie nicht mehr viel gemein hat. Dabei sind besonders die letzten Arbeiten von Dilthey zu berücksichtigen, in denen er sich, wie mir scheinen will, dem hier vertretenen Standpunkt, daß nicht der Unterschied von Natur und Geist, sondern der von Natur und Kultur der Gliederung der Wissenschaften zugrunde zu legen ist, erheblich genähert hat. So darf ich doch vielleicht hoffen, daß diese zweite Auflage auch in den Kreisen meiner Fachgenossen etwas mehr Zustimmung finden wird, als der ersten beschieden war. Ungern habe ich auf die Auseinandersetzung mit einem vielgenannten Denker unserer Tage, mit Henri Bergson, verzichtet. Ich konnte auf seine Ansichten nicht näher eingehen, weil die methodologischen Grund- | gedanken dieses Buches dadurch nicht klarer herausgekommen wären. Doch will ich wenigstens hier im Vorwort das berühren, was mir wichtig scheint. Als ich die erste Auflage dieses Werkes schrieb, kannte ich von Bergson, wie damals wohl viele Deutsche, so gut wie nichts. Später ist mir dann eine weitgehende Uebereinstimmung in einigen Punkten, auf die auch andere schon hingewiesen haben, höchst interessant und erfreulich gewesen. Die Kluft, die zwischen der Wirklichkeit und der Naturwissenschaft besteht, ist von Bergson in unübertrefflicher Weise zum Bewußtsein gebracht, und ich kann jeden, der durch meine Darlegungen nicht überzeugt wird, nur auf diese glänzenden Ausführungen hinweisen. Es scheint mir im philosophischen Interesse unbedingt notwendig, daß wir uns auf das Unmittelbare in seiner Unmittelbarkeit soweit besinnen, wie das nur irgend möglich ist, und dann uns zugleich den Abstand vergegenwärtigen, den jeder wissenschaftliche Begriff, insbesondere aber die Begriffe der Naturwissenschaft, von der empirischen Realität zeigen. Der Glaube, die Naturwissenschaft sei in der Lage, mit ihren Begriffen die Wirklichkeit selbst, in der wir leben und handeln, zu erfassen, muß mit der Zeit immer mehr verschwinden. Freilich darf auch etwas anderes nicht unerwähnt bleiben. Die Besinnung auf das Unmittelbare ist bei Bergson doch wohl etwas einseitig an dem Gegensatz

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zur mathematisch-physikalischen Auffassung orientiert, und sie kann abgesehen hiervon auch nicht, wie das wenigstens manche Anhänger Bergsons zu glauben scheinen, das letzte Wort der Philosophie sein. Sie darf vielmehr nur als ihr erstes Wort gelten. Mit dem bloß „intuitiven“ Erfassen des unmittelbaren „Lebens“ ist wissenschaftlich noch nichts getan. Auch das begriffliche Denken muß sich dem Leben mehr zu nähern suchen, als die Naturwissenschaften es tun, obwohl j e d e wissenschaftliche Erfassung des Unmittelbaren irgendeine Umformung und damit zugleich eine „Abtötung“ des Lebens einschließt. Wie nahe wir als wissenschaftliche Menschen überhaupt dem Lebendigen kommen können, ist nicht das Thema dieser Schrift. Aber die größere Wirklichkeits- und Lebensnähe der historischen Disziplinen gegenüber den Darstellungen der Natur möchte ich zum Bewußtsein bringen und damit zugleich die Wissenschaften in das richtige Licht stellen, ohne deren Berücksichtigung es nie gelingen wird, eine Philosophie zu schaffen, die mit Recht eine „Philosophie des Lebens“ genannt werden kann. Freiburg i. Br., Januar 1913.

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| VORWORT ZUR DRITTEN UND VIERTEN AUFLAGE.

Als ich im vorigen Jahre erfuhr, daß dies Buch wieder vergriffen sei, lag wie schon einmal der Gedanke an seine gründliche Umgestaltung nahe. Ich bin mir der Mängel, welche die umständliche, den Leser erst allmählich über meine letzten Absichten aufklärende Darstellung besitzt, deutlich bewußt. Bald jedoch, nachdem der Abschluß anderer Arbeiten mir Zeit ließ, eine neue Drucklegung vorzubereiten, mußte ich den Plan einer weitgehenden Umformung aus denselben Gründen wie bei der zweiten Auflage wieder fallen lassen. Die Fehler der Schrift sind mit ihrer Anlage und Entstehung eng verknüpft, und ich wollte kein neues Buch schreiben, sondern das alte verbessern. Deshalb habe ich mich auf Aenderungen und Zusätze von Einzelheiten beschränkt, den Gedankengang in der Hauptsache jedoch gelassen, wie er war. Ich durfte das, denn ich halte alles Wesentliche, was ich vor mehreren Jahrzehnten schrieb, auch heute für richtig. Nur einige E r g ä n z u n g e n schienen mir wünschenswert, und über sie will ich den Leser, der die früheren Auflagen kennt, kurz informieren, damit er weiß, wo er das ihm Unbekannte zu suchen hat. Das Wichtigste davon enthält der neunte Abschnitt des vierten Kapitels. Bis auf wenige Seiten, die den Grundgedanken schon in der zweiten Auflage andeuteten, ist er neu hinzugekommen. Vielleicht erscheint er manchem wesentlicher als die meisten andern Teile, da er sich mit vielumstrittenen Problemen beschäftigt. Die Frage nach dem h i s t o r i s c h e n Ve r s t e h e n liegt für viele im Zentrum einer Theorie der sogenannten Geisteswissenschaften. Bei dem Versuch, sie zu erörtern, hatten sich die Grundbegriffe meiner logischen Einleitung in die historischen Wissenschaften zu bewähren und als fruchtbar zu erweisen. Deswegen empfahl es sich nicht, die Gedanken darüber, die leicht weiter ausgestaltet werden konnten, in einer besonderen Schrift | zu veröffentlichen. Nur im engsten Zusammenhang mit dem Inhalt des vorliegenden Buches ließen sie sich ganz verständlich machen, und außerdem bot ihre Darstellung Gelegenheit zu Auseinandersetzungen mit anders gerichteten Auffassungen der Geschichte überhaupt. Von einer ausdrücklichen Erörterung der umfangreichen Literatur oder auch nur der Kritiken, die meine Theorie gefunden hat, glaubte ich jedoch absehen zu dürfen. Mit Ausnahme von kurzen Hinweisen auf abweichende Meinungen bin ich etwas näher nur auf die Bedenken eingegangen, die Ernst Troeltsch in den letzten Jahren gegen meine Logik der Geschichte geltend gemacht hat. Wer seine, zuerst 1903 veröffentlichte, größtenteils zustimmende Be-

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sprechung dieses Buches kennt, wird verstehen, daß für eine Auseinandersetzung mit ihm keine Freude an Polemik bestimmend war. Gerade weil Troeltsch Ansichten vertritt, die in mancher Hinsicht den meinigen recht nahe stehen, hielt ich es für richtig, zu sagen, wo ich ihm nicht zu folgen vermag, und das um so mehr, als seine Ausführungen mir typisch für verbreitete Tendenzen unserer Zeit zu sein scheinen. Doch mußte ich mich auch hier auf die logischen Probleme beschränken und konnte daher das, was für Troeltsch wie für seine Geistesverwandten wohl das Wichtigste ist, die Metaphysik der Geschichte, nur streifen. An den neuerdings von meinen Kritikern nicht berücksichtigten Ausführungen des fünften Kapitels über die metaphysische Objektivität habe ich nicht viel geändert. Ferner war es mir wichtig, noch genauer als früher festzustellen, in welchem Verhältnis meine Geschichtslogik zu den Versuchen steht, die unter dem Namen einer K l a s s i f i k a t i o n d e r W i s s e n s c h a f t e n vorgetragen zu werden pflegen. Deshalb habe ich das, was in den beiden ersten Auflagen darüber gesagt war, mit einigen Ergänzungen in einem besonderen Abschnitt zusammengefaßt. Ich hoffe, man wird es hiernach nicht mehr für einen Einwand halten, wenn man zeigen kann, daß irgendeine spezielle Spezialdisziplin sich mit meinen Begriffen nicht ohne weiteres klassifizieren läßt. Auf das, was man meist als Klassifikation der Wissenschaften anstrebt, kommt es mir in diesem Buch überhaupt nicht an. Ja, eine „natürliche“ Klassifikation aller wirklich vorhandenen Einzelforschungen halte ich für ein recht problematisches Unternehmen von geringer philosophischer Bedeutung, da die Wissenschaften, so wie sie als Tatsachen vorliegen, nämlich als historische Kulturprodukte, grade nach den Voraussetzungen meiner Methodenlehre nur gewaltsam in „natürliche Sy- | steme“ zu pressen sind. Das Mißverständnis, als hätte ich es auf einen Ersatz der Einteilung in Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften im Sinne der üblichen Klassifikationsversuche abgesehen, ist vielleicht durch mein mehr populäres Buch „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“ verschuldet. Daher sei ausdrücklich bemerkt: die kleine Schrift gibt nicht, wie ich gelesen habe, alles Wesentliche der vorliegenden Arbeit. Wenn ich auch das, was in ihr steht, selbstverständlich für richtig halte, so bleibt die Gedankenführung schon wegen der unvermeidlichen Kürze dort u n v o l l s t ä n d i g. Wer sich mit meinen Ansichten wissenschaftlich auseinandersetzen will, muß ihre vollständige Darstellung kennen. Dann wird er sehen, warum das vorliegende Buch nur unter dem Gesichtspunkt beurteilt werden darf, ob es das gibt, was sein Titel unzweideutig bezeichnet: eine l o g i s c h e Einleitung in die h i s t o r i s c h e n Wissenschaften. Daß mein Gedankengang nicht ganz einfach ist, weiß ich, aber daran hätte auch eine weitgehende Umgestaltung nicht viel ändern können. Ich

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durfte die Probleme nicht einfacher erscheinen lassen, als sie sind. Zur Erleichterung der Uebersicht habe ich die Verweisungen im Texte vermehrt und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis vorangestellt. Auch war es mir nach jahrelanger Arbeit an meinem System der Philosophie möglich, besonders im Schlußabschnitt über Geschichte und Weltanschauung manches schärfer als früher zu formulieren. Abgesehen von zahlreichen Verbesserungen und kleineren Zusätzen, die über die meisten Abschnitte verstreut sind und nicht aufgezählt werden können, mußte ich im übrigen das Buch lassen, wie es war. Das darf wohl auch als berechtigt gelten bei Gedanken, die zwar vielen Widerspruch erregt, aber zugleich manche Zustimmung gefunden haben, und die jedenfalls nicht ganz unbeachtet geblieben sind. Freilich liegt die Frage nahe, ob die alte Schrift, welche mit vollem Bewußtsein aus einer bestimmten historischen Situation heraus entworfen wurde, noch in die neue Zeit hineinpaßt. Die ersten grundlegenden Kapitel sind vor mehr als einem Vierteljahrhundert veröffentlicht. Soweit es ohne einschneidende Umformung möglich war, habe ich wie schon bei der zweiten Auflage auf die veränderte Situation der Philosophie und der Einzelwissenschaften Rücksicht zu nehmen gesucht. Doch wird man vielleicht finden, daß es mir nicht überall gelungen sei, den neuen Erscheinungen gerecht zu werden, und daher will ich wenigstens in bezug auf einige Punkte, für deren Erörterung sich im Texte keine Gelegenheit bot, an dieser Stelle sagen, weshalb ich meine Ausführungen nicht für veraltet halte. | Das erste Kapitel behandelt die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt. Sein Gedankengang ist logisch, d. h. formal, und der Inhalt der naturwissenschaftlichen Theorien dient daher lediglich als verdeutlichendes Beispiel. Da jedoch Form und Inhalt der Wissenschaften in naher Beziehung zueinander stehen, kann man erwarten, daß die Beispiele mit Rücksicht auf den neuesten Stand der Spezialforschung gewählt sind. Sie aber bleibt im Unterschied von ihrer logischen Struktur inhaltlich stets im Wandel, und daraus ergaben sich schon bei der Bearbeitung der zweiten Auflage Schwierigkeiten. Wie ich im allgemeinen versucht habe, sie zu überwinden, ist aus dem Texte zu ersehen. Nur ein besonderer Fall sei hier hervorgehoben. Für die allgemeinste Theorie der Körperwelt hatte ich zur Verdeutlichung ihrer logischen Struktur vor fünfundzwanzig Jahren die Mechanik von Heinrich Hertz herangezogen, und sie dient auch jetzt noch diesem Zweck. Nun glauben heute aber viele, daß durch die sogenannte R e l a t i v i t ä t s t h e o r i e , die sich hauptsächlich an den Namen von Einstein knüpft, ein völliger Umsturz der Ansichten für die allgemeinste Theorie des Physischen herbeigeführt worden sei. Muß daher ein Buch über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, welches diesen Wandel unberücksichtigt läßt, nicht als veraltet erscheinen?

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Die Relativitätstheorie wird heute sogar in Tageszeitungen mit erstaunlicher Sicherheit erörtert und von ahnungslosen Gemütern mit allen möglichen Fragen der Philosophie, besonders mit dem Relativismus in Verbindung gebracht, mit dem sie nichts zu tun hat. Ich gestehe gern, daß mein mathematisches und physikalisches Wissen nicht umfassend genug ist, um mir ein Urteil über ihre f a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e Bedeutung zu gestatten. Doch glaube ich trotzdem, so weit in ihren Gehalt eingedrungen zu sein, daß ich ihre l o g i s c h e S t r u k t u r verstehe und daher behaupten darf, es werde an meinen wesentlichen Gedanken durch sie nichts geändert, ja sie gebe sogar eine Bestätigung dessen, was ich über die Logik der Naturwissenschaften ausgeführt habe. Im Grunde liegt für dies Buch alles einfach. Man muß nur stets festhalten: die Relativitätstheorie betrifft nicht das Universum, sondern bleibt ihrem Wesen nach auf das physische Sein im Raume beschränkt, und sie bringt diesen Teil der Welt unter quantitativ bestimmte Begriffe. Da sie das mit der „klassischen“ Mechanik gemeinsam hat, ist bereits damit der Punkt entschieden, auf den es hier ankommt. Die sinnlich-anschauliche Wirklichkeit der Körper, welche sich, so wie wir sie unmittelbar kennen, an keiner Stelle n u r | quantitativ bestimmt zeigt, geht in die Begriffe der Relativitätstheorie ebensowenig ein wie in irgendeine andere mit quantitativ bestimmten Begriffen arbeitende naturwissenschaftliche Theorie der raumerfüllenden körperlichen Realität. Insofern bleibt das, was ich über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ausgeführt habe, durch die neueste Wendung der Physik unangefochten. Ja noch mehr. Falls die Relativitätstheorie recht hat, darf die Welt der „letzten Dinge“, die im dreidimensionalen Raum sich bewegen, nicht schon als die l e t z t e Stufe der begrifflichen Abstraktion angesehen werden, zu der eine generalisierende Theorie der Materie kommt, sondern der Entwurf eines Weltbildes von der Art, wie es sich aus der Mechanik von Hertz ergibt, ist erst der vorletzte Schritt, und die Physik entfernt sich somit schließlich n o c h weiter von der empirisch anschaulichen Sinnenwelt als bisher. Das aber bedeutet für dieses Buch: der Grundgedanke seines ersten Kapitels tritt noch klarer zutage. An das wirkliche „Leben“ kommen wir mit den Begriffen der Naturwissenschaft so wenig heran, daß wir es vielmehr um so weiter hinter uns zurücklassen, je vollkommener im logischen Sinne unsere Begriffe werden. Dies für die Relativitätstheorie in derselben Weise wie für die klassische Mechanik zu zeigen, hätte zu sachlich schwierigen Erörterungen geführt, die den Umfang der Arbeit vergrößern mußten, ohne ihren Inhalt zu vertiefen, und weil überdies denen, die mit den Grundlagen der neuesten Physik nicht vertraut sind, eine Ergänzung in solcher Richtung wohl nicht ganz verständlich geworden wäre, glaubte ich von ihr absehen zu sollen. Der zweite Punkt, in dem die wissenschaftliche Situation sich seit der ersten Auflage wesentlich geändert hat, betrifft den Zustand der P s y c h o -

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l o g i e. Vielleicht wird man daher an meiner Verwendung des Ausdruckes „psychologisch“ Anstoß nehmen. Was heute unter diesem Namen geht, ist sehr mannigfaltig und unbestimmt. Welches das Arbeitsgebiet der Wissenschaft sei, die man Psychologie nennt, läßt sich schwer sagen. Wird doch das Wort vielfach für Bestrebungen gebraucht, die mit Wissenschaft nichts mehr zu tun haben. Wenn z. B. Bismarck von der „internationalen Psychologie“ spricht, war er wohl nicht der Meinung, die Vertrautheit mit ihr könne durch theoretische Untersuchungen wesentlich gefördert werden. Doch auch von solchen und verwandten Sprachgewohnheiten abgesehen bleibt das Bild bunt genug, das die als psychologisch bezeichneten Wissenschaften darbieten. Früher erhoffte man von einer experimentellen Grundlegung für sie sehr | viel. Davon ist man wohl wieder mehr zurückgekommen. Aber man versteht heute auch sonst noch unter Psychologie oft etwas wesentlich anderes als vor einem Vierteljahrhundert. Trotzdem möchte ich daran festhalten, Psychologie nur die Wissenschaft zu nennen, die sich auf das reale Seelenleben beschränkt, wie es zeitlich in einzelnen Individuen abläuft und dort als empirisches Faktum zu konstatieren ist. Insbesondere finde ich es unzweckmäßig, alles als Psychologie zu bezeichnen, was nicht zu den Körperwissenschaften gehört. Es gibt, wie im folgenden ausführlich erörtert ist, Unkörperliches, das n i c h t psychisch real ist und sich daher einer realwissenschaftlichen psychologischen Untersuchung grundsätzlich entzieht. Freilich ist es niemandem verboten, die Worte psychisch und psychologisch auch in weiterer Bedeutung zu verwenden, aber zweckmäßig scheint ein solcher Sprachgebrauch nicht. Wir müssen für die Wissenschaft vom zeitlich ablaufenden, empirisch wirklichen Seelenleben einen besonderen Te r m i n u s haben, und dementsprechend benutze ich das Wort Psychologie. Für die philosophischen Prinzipienfragen gibt es nichts Wichtigeres als die Trennung der realen psychophysischen Sinnenwelt von dem Reich des Irrealen, das ihr Sinn und Bedeutung verleiht. Die Scheidung sollte auch in der Terminologie ihren unzweideutigen Ausdruck finden. Unter Psychologie ist deshalb hier insbesondere niemals Werttheorie oder Sinndeutung auf Grund von Wertgeltungen verstanden. Meinen Sprachgebrauch kann man selbstverständlich bekämpfen, doch an der fundamentalen Scheidung von wirklichen seelischen Vorgängen und unwirklichen Wertgebilden wird dadurch nichts geändert. Das ist zu beachten, falls man nicht bei einem Wortstreit stehen bleiben, sondern zu dem vordringen will, was sachlich wesentlich ist. Ja ich glaube, auch meine Terminologie werden nur die anfechten, die noch nicht gelernt haben, Reales und Irreales auseinanderzuhalten. Wer Klarheit über diese Unterscheidung besitzt, muß sehen, daß sie nicht allein für die Philosophie von Bedeutung ist, und er wird dann Max Weber zustimmen, der auch als Soziologe sagt: „Der Irrtum liegt im Begriff des Psy-

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chischen: was nicht physisch sei, sei psychisch. Aber der S i n n eines Rechenexempels, den jemand meint, ist doch nicht psychisch.“ Das sollte man endlich für j e d e s Sinngebilde anerkennen. Vielleicht wird die Psychologie dadurch weniger „interessant“, doch darauf kommt es hier nicht an. Mit der Verwendung der Ausdrücke Psychologie und psychologisch hängt eine allgemeinere terminologische Frage zusammen, nämlich der Gebrauch der Worte W i r k l i c h k e i t und R e a l i t ä t . Beide | bedeuten hier dasselbe, und zwar werden sie sowohl für das physische als auch für das psychische Sein benutzt, wie es abgesehen nicht allein von seiner wissenschaftlich begrifflichen Umformung, sondern auch von allem daran haftenden Wert und Sinn in reiner Tatsächlichkeit besteht. Vielleicht liegt bloß Reales oder bloß Wirkliches uns unmittelbar niemals in solcher Reinheit vor, aber wir haben danach zu suchen und jedenfalls einen Begriff davon zu bilden, falls wir zur Klarheit über das Wesen der Realwissenschaften kommen wollen. Daher bezeichne ich im folgenden als wirklich oder real den methodologisch noch unbearbeiteten und wertfreien Stoff der Einzelforschung. Meinen sich hieraus ergebenden Wirklichkeitsbegriff wird man vielleicht positivistisch nennen und sagen, daß, weil er aus Zeiten stammt, in denen positivistische Tendenzen vorherrschten, in meiner Terminologie eine Konzession an den Positivismus stecke. Nur darf man dabei nicht übersehen, wie weit die hier vertretenen Ansichten von allem Positivismus entfernt sind. Suche ich doch zu zeigen, daß sogar die unmittelbar gegebene Welt sich nicht als bloß wirklich im Sinne des Positivismus begreifen läßt. Gewiß steht es jedem frei, nicht den wissenschaftlich noch unbearbeiteten Stoff der Realwissenschaften „wirklich“ zu nennen, sondern dies Wort für Gebilde vorzubehalten, von denen man glaubt, daß ihr Inhalt real existierend dem Inhalt unserer B e g r i f f e vom Wirklichen genau entspreche, und bekennt man sich zu einem solchen B e g r i f f s r e a l i s m u s , so muß man gerade das, was für mich wirklich ist, für nicht wahrhaft real erklären. Das sollte man aber auch konsequent durchführen, und dabei käme man zu Ergebnissen eigner Art. Das Papier z. B., auf dem dies Buch gedruckt ist, darf dann so, wie wir es sehen, nicht wirklich heißen, und ebensowenig gebührt dieser Name den psychischen Akten unseres Wahrnehmens. Solange man sowohl solche Gebilde als auch das, was den Inhalt unserer Begriffe davon ausmacht, real nennt, wird man zu keiner klaren und konsequenten Ausdrucksweise gelangen. Wir stehen hier vor einem Entweder-Oder, dem wir nicht ausweichen dürfen, und weil ich kein wissenschaftliches Werk kenne, in dem die Ablehnung des positivistischen Wirklichkeitsbegriffs terminologisch überall durchgeführt ist, halte ich an der positivistischen Te r m i n o l o g i e fest, d. h. ich nenne dasselbe wirklich, was der Positivismus als das Wirkliche bezeichnet, um auf diese Weise am sichersten sowohl jeden positivistischen

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Begriffsnominalismus als auch jeden metaphysischen Begriffsrealismus zu vermeiden. | Doch auch damit ist noch nicht alles gesagt, was zur Verständigung über die hier gebrauchte Ausdrucksweise wünschenswert erscheint. Es gibt nämlich außer dem begriffsrealistischen Wirklichkeitsbegriff noch einen anderen, umfassenderen, von dem der bisher gekennzeichnete einen besonderen Fall bildet, und den man allgemein w e r t r e a l i s t i s c h nennen kann. Er kommt zum Ausdruck in dem Satz von Hegel: was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig. Selbstverständlich hat Hegel nicht daran gedacht, Gegenstände wie dies Papier, das wir alle wirklich nennen, für vernünftig zu erklären, und er mußte ihm daher wie ein konsequenter Begriffsrealist die wahre Wirklichkeit absprechen. Meinte er doch: schon einem gewöhnlichen Gefühl werde eine z u f ä l l i g e E x i s t e n z nicht den e m p h a t i s c h e n Namen eines Wirklichen verdienen! Dies eine Wort zeigt bereits, daß nicht allein Vernunft, sondern auch Wirklichkeit für Hegel zwar nicht eine Norm oder ein Sollen, wohl aber einen We r t bedeutet, denn allein vom Werthaften oder Sinnerfüllten kann man sagen, daß es einen emphatischen Namen verdient. Dem Wertfreien gegenüber gibt es Emphase in keiner Art. Es liegt also in der Konsequenz des berühmten Hegelschen Satzes, entweder nur Wert- oder Sinnhaftes, das in diesem Buche irreal genannt wird, als „wirklich“ anzuerkennen, oder höchstens dem wert- oder sinnerfüllten Realen die Bezeichnung wirklich zuzugestehen. Gegen solche Terminologie wäre wiederum nichts einzuwenden, falls sie sich konsequent durchführen ließe, aber das hat wohl sogar Hegel selber nicht getan, um von andern Wertrealisten nicht zu reden. Deshalb halte ich nicht nur dem Begriffsrealismus, sondern jedem Wertrealismus gegenüber terminologisch an dem positivistischen Wirklichkeitsbegriff fest und suche von dem bloß Wirklichen alle „emphatischen“ Bedeutungen fernzuhalten, wie das dem Wesen der empirischen Realwissenschaften vom physischen und psychischen Sein entspricht. Freilich führt auch das zu Formulierungen, die manchem paradox klingen werden, aber da es eine Terminologie, die mit keiner Sprachgewohnheit in Konflikt kommt, bei der Verwendung der Ausdrücke wirklich und real nicht gibt, gilt es, sich für das kleinste Uebel zu entscheiden. Unter diesem Gesichtspunkt stelle ich als maßgebend für die Ausdrucksweise des Buches im Gegensatz zu Hegels Sprachgebrauch die Sätze auf:

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was vernünftig ist, das ist nicht nur wirklich, und was nur wirklich ist, das ist noch nicht vernünftig. | XXII

Wenn man das beachtet, wird man jedenfalls wissen, was ich meine, wo ich vom Wirklichen oder Realen spreche.

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Mit dem Wirklichkeitsbegriff ist endlich noch meine Stellung zu dem heute viel erörterten „Rationalismus“ verknüpft. Als ich vor fünfundzwanzig Jahren die ersten Kapitel dieses Buches veröffentlichte und darin das Wirkliche als Grenze aller wissenschaftlichen Begriffsbildung zu erweisen suchte, wurde ich wegen meines I r r a t i o n a l i s m u s angegriffen. Neuerdings, besonders seit meinem Buch über die Philosophie des Lebens, dessen Grundgedanken übrigens schon vor zehn Jahren in der Zeitschrift „Logos“ standen, schilt man mich einen R a t i o n a l i s t e n . Tempora mutantur. Ich selbst glaube, mich in meiner Stellung zum Rationalismus nicht geändert zu haben und weder Irrationalist noch Rationalist zu sein. Alles bloß Wirkliche trägt für mich freilich ein irrationales Gepräge. Aber der Name Irrationalismus paßt für meinen philosophischen Standpunkt nicht, da ich weit davon entfernt bin, die Welt in ihrer Totalität mit der bloß wirklichen, irrationalen Welt zu identifizieren. Ich zweifle nicht daran, daß es eminent rationale Gebilde wie die Begriffe gibt, die zwar niemals das Wirkliche selbst seinem ganzen Inhalt nach in sich aufzunehmen vermögen, trotzdem aber für das Wirkliche theoretisch oder rational gelten. Insbesondere meine ich, daß Wissenschaft erst durch Begriffe und insofern erst durch „ratio“ zustande kommt: Doch rechtfertigt dieser Umstand andererseits die Bezeichnung meiner Ansicht als rationalistisch ebenfalls nicht, denn selbst abgesehen vom Realen halte ich die theoretischen oder rationalen Sinngebilde nicht für die einzigen, die gelten, und suche daher zu zeigen, daß die Philosophie auch die außertheoretischen oder irrationalen Werte berücksichtigen muß, falls sie wahrhaft universal werden will. Ich erkenne demnach das Irrationale nicht allein im Realen, sondern auch im Irrealen oder Geltenden an und lehne jeden Standpunkt ab, auf den die Bezeichnung des Rationalismus paßt. Insofern mag man mich einen A n t i r a t i o n a l i s t e n nennen. Aber auch dann bleibt es dabei: mit Schlagworten wie Rationalismus und Irrationalismus ist nichts gesagt, was mich trifft. Mein Bestreben geht überall, auch in meinem Buch über die Philosophie des Lebens, dahin, den irrationalen wie den rationalen Bestandteilen der Welt in gleicher Weise gerecht zu werden, obwohl in der Kampfschrift gegen die Modeströmungen des Irrationalismus die Bedeutung des Rationalen in den Vordergrund zu stellen war. Freilich scheint mir auch die Anerkennung des Irrationalen w i s s e n s c h a f t l i c h nicht anders möglich als dadurch, daß man B e - | g r i f f e davon bildet, denn was wir nicht irgendwie begriffen haben und mit rational verständlichen Worten zu bezeichnen vermögen, davon können wir in der Wissenschaft überhaupt nicht reden, mag der Gehalt dessen, wovon wir unsere Begriffe bilden, auch noch so überrational sein. Insofern muß jeder theoretische Mensch, der Wissenschaft treibt, sich, zumal im Gegensatz zu den romantischen Verstiegenheiten und dem weichlichen Aesthetentum un-

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serer Tage, das in Deutschland meist auf ein müdes Nietzsche-Epigonentum herauskommt, mit Entschiedenheit zur Klarheit und durchdringenden Kraft des rationalen Denkens bekennen. Will man schon das als Rationalismus bezeichnen, dann gibt es überhaupt keine Wissenschaft, die nicht rationalistisch verfährt. Die Ueberzeugung, daß, obwohl die rationalen Faktoren nicht mehr als einen kleinen Teil der Welt ausmachen, die Wissenschaft trotzdem keine andere Aufgabe haben kann, als zur begrifflichen Klarheit theoretischer Einsichten zu kommen und insofern das, was sie behandelt, mit der ratio zu beherrschen, hat mich schon früh mit dem Manne geistig verbunden, dessen Andenken die neue Auflage dieses Buches gewidmet ist. Auch darüber sei hier noch ein Wort gesagt, da die Widmung nicht nur einem Gefühl persönlicher Freundschaft Ausdruck geben möchte. Meine näheren Beziehungen zu M a x We b e r reichen in die Zeit zurück, in der wir beide in Freiburg am Beginn unserer akademischen Tätigkeit standen. Weber war stets nicht allein Mann der Wissenschaft, sondern zugleich Politiker, und seine glühende Vaterlandsliebe wie sein mächtiges Temperament machten es ihm nicht leicht, in der von ihm auf dem Katheder vertretenen, historisch gerichteten Volkswirtschaftslehre das theoretisch Begründbare von Einflüssen überrationaler Lebensmächte zu trennen. Um so intensiver wurde in ihm, dessen Intellekt nicht minder stark war als sein Wille, das Bedürfnis, zur Klarheit auch darüber zu kommen, was zumal in der Geschichte „Wissenschaft“ im strengen Sinne bedeute. Das gemeinsame Interesse an dieser Frage, die ich von anderer, rein theoretischer Seite in Angriff genommen hatte, führte uns als junge Männer geistig zusammen. Zunächst freilich kamen wir bald in eine gewisse Opposition. Windelbands Rede über Geschichte und Naturwissenschaft, die damals erschien, erregte Webers Widerspruch. Das „idiographische“ Verfahren, meinte er, komme auf Aesthetizismus hinaus. Auch nachdem er die drei ersten Kapitel des vorliegenden Buches gelesen hatte und sah, daß ich für die Geschichte nicht wie Windelband „Gestalten“, sondern individuelle B e g r i f f e forderte, | hielt er meinen Versuch einer Logik der Geschichte nicht für d u r c h f ü h r b a r. Er sagte mir oft, ich werde diese Arbeit nie abschließen. Das bisher Ausgeführte sei zwar richtig, stelle mich aber vor eine unlösbare Aufgabe, denn Geschichte sei als reine Wissenschaft nicht zu verstehen. Erst als ich ihm 1902, nachdem er Freiburg längst verlassen hatte, die beiden letzten Kapitel über historische Begriffsbildung und historische Objektivität vorlegte, überzeugte er sich als einer der ersten davon, daß auf Grund meines Begriffes der theoretischen Wertbeziehung das begriffliche Verfahren der wissenschaftlichen Geschichte als das einer individualisierenden Kulturwissenschaft zutreffend gekennzeichnet sei. Die methodologischen Arbeiten,

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in denen er dann selber bald darauf diese Einsicht für seine eigene Wissenschaft fruchtbar machte, bedeuten für mich bis heute den schönsten Erfolg meiner Bemühungen um die Aufklärung des logischen Wesens aller Historie. So war es mir Bedürfnis, in dankbarer Erinnerung an die unvergeßliche Freiburger Zeit des Werdens meiner Gedanken den Namen Webers mit diesem Buch zu verknüpfen. Aus seinem Widerspruch hatte ich viel gelernt, als ich es schrieb. Doch die sachlichen Beziehungen reichen noch weiter. Weber scheint mir, falls man den unvergleichlichen Mann überhaupt einordnen will, unter die großen Historiker zu gehören. Aber es lebte in ihm zugleich ein starkes Bedürfnis nach systematischer Konstruktion, wie es sich bei Historikern selten findet. Das hat ihn besonders in späteren Jahren dazu geführt, denselben Stoff, den er geschichtlich durchforschte, auch generalisierend und insofern ungeschichtlich darzustellen. So kam er dazu, seine letzten Arbeiten als „Soziologie“ zu bezeichnen und damit dem seit Comte viel gebrauchten und auch mißbrauchten Namen eine neue Bedeutung zu verleihen. Ein hartes Geschick, mit dessen lastender Sinnlosigkeit man sich schwer abzufinden vermag, riß ihn mitten aus intensivster und extensivster Schöpfertätigkeit in seinem neuen Wirkungskreise heraus. So mußte das Werk dieses Forschers, der als ganzer Mann wie wenige geeignet war, ein ganzes Werk zu gestalten, Fragment bleiben, als ob unsere schwache Zeit nichts Ganzes mehr ertrage. Doch liegt genug von dem, was seine aufs höchste gesteigerte Produktivität in der letzten Zeit geschaffen hat, vor, daß wir die Umrisse des imposanten Systems zu sehen vermögen, und gerade für die Wissenschaftslehre, wie ich sie anstrebe, gibt es nicht viel, was lehrreicher wäre als dieser gewaltige Torso, aus dem sich erkennen läßt, wie ein fast überreiches Material zum Teil völlig irrationaler Art von der Macht des | menschlichen Geistes rational bezwungen werden kann. Man sollte Weber nicht einen Philosophen nennen, falls man ihn wissenschaftlich charakterisieren will. Das Wort paßt auf ihn nur in sehr vagem Sinne. Er selbst hat wissenschaftlich philosophisch arbeiten nicht gewollt, wie er oft hervorhob. Vollends wird man der Bedeutung des einzigen Mannes nicht gerecht, wo man ihn, wie selbst Troeltsch es tut, zu den „Neukantianern“ zählt, oder gar neben Windelband und mir als „die dritte Hauptfigur“ der südwestdeutschen „Schule“ bezeichnet. Wir könnten stolz darauf sein, wenn das richtig wäre, aber Weber gehörte wissenschaftlich, um mit Goethe zu reden, zu keiner Innung. Darin besteht vielmehr seine wissenschaftliche Größe, daß er eine K u l t u r w i s s e n s c h a f t schuf, die in ihrer Verbindung von G e s c h i c h t e und S y s t e m a t i k in keines der üblichen methodologischen Schemata passen will und grade dadurch der S p e z i a l f o r s c h u n g neue Bahnen weist. Das wollte ich hervorheben in dem Vorwort zu einem Buch, in dem ich den Versuch mache, die reiche

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Fülle der v e r s c h i e d e n e n Formen zum Bewußtsein zu bringen, in denen das wissenschaftliche Leben sich zu entfalten vermag. So oft es galt, mir an einem lebendigen Beispiel die Weite gegenwärtig zu halten, deren der menschliche Intellekt auch bei strengster Beschränkung auf das von einer Spezialdisziplin begrifflich Erfaßbare fähig ist, habe ich mich an keinem Werke besser orientieren können als an dem von Max Weber. Daß ich meine Arbeit nicht mehr der stets regen sachlichen und persönlichen Anteilnahme des Freundes vorlegen, sondern nur seinem Andenken widmen darf, ist für mich tief schmerzlich noch aus einem besonderen Grunde. Während ich, als er noch lebte, den ersten Teil meines Systems der Philosophie niederschrieb, habe ich mir keinen Leser mehr als ihn gewünscht. Er hatte sich von der wissenschaftlichen Philosophie und ihren heutigen Möglichkeiten eine etwas einseitige Meinung gebildet, d. h. er glaubte eigentlich nur an die „Logik“. Daher stand er auch meinem Plan einer universalen wissenschaftlichen Weltanschauungslehre auf Grund eines umfassenden Systems der Werte, ein Versuch, von dem meine Wissenschaftslehre nur einen Teil bildet, in ähnlicher Weise „skeptisch“ gegenüber wie einst in Freiburg meinem Plan einer Logik der Geschichte, obwohl ihm selbstverständlich jeder Relativismus der modernen philosophischen Schwächlinge sehr fern lag. Es kam eine starke und berechtigte Abneigung hinzu gegen alles, was er „Gartenlaube“ nannte, d. h. gegen jeden wissenschaftlichen Feuilletonismus. Das machte ihn bedenklich gegen eine Philosophie der Kunst, | der Religion oder gar der Liebe auf werttheoretischem Fundament. Doch er, dessen Persönlichkeit nicht zum mindesten deswegen so hoch ragte, weil er einer so wundervollen unpersönlichen Sachlichkeit fähig war, hatte sich nie unbelehrbar gezeigt. Noch in seinem letzten Brief an mich gab er seiner Teilnahme an den Fortschritten der Ausarbeitung meines Systems intensiven Ausdruck. Es ist mir nicht mehr vergönnt gewesen, ihn durch mein ausgeführtes Werk davon zu überzeugen, daß auch eine streng wissenschaftlich verfahrende Philosophie sich heute nicht auf „Logik“ zu beschränken braucht ... Doch was sein Verlust p e r s ö n l i c h für mich bedeutet, davon will ich schweigen. Wer jemals auch nur einen Hauch vom Geiste dieses Mannes verspürt hat, der ebenso groß in seiner Herzensgüte wie in seiner Verstandesschärfe war, wird ahnen, was mir die durch fast ein Menschenalter hindurch sich erstreckenden, von äußeren Schicksalen zwar wiederholt unterbrochenen, aber im Innern nie getrübten sachlichen und persönlichen Beziehungen zu Weber gewesen sind, und er muß dann begreifen, daß davon in angemessener Weise nicht leicht zu reden ist. Heidelberg, im Oktober 1921.

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Der Neudruck weist gegenüber der letzten, vor sieben Jahren erschienenen Doppelauflage im Text keine wesentlichen Abweichungen auf. Ich habe die Schrift wieder genau durchgesehen und in sprachlichen Einzelheiten verbessert, den Sinn der Sätze jedoch durchweg unverändert gelassen. Nach wiederholter Umarbeitung konnte ich nicht hoffen, daß es mir gelingen werde, meine Meinung jetzt noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen als früher. Nur an einer Stelle ist der Begriff des logischen „Ideals“ einer „rein“ w i s s e n s c h a f t l i c h e n Geschichte etwas genauer bestimmt. Ich wollte damit Einwendungen von Friedrich Meinecke begegnen, der sich, was für den Wandel in der Zeitstimmung sehr charakteristisch ist, auch als Historiker nicht auf die rein theoretische Wertbeziehung beschränken, sondern das Recht zur wertenden Stellungnahme gegenüber der Vergangenheit wahren möchte, ein Recht, das in Frage zu stellen, mir fern gelegen hat, über dessen Bedeutung aber Klarheit bestehen sollte. Ergänzungen oder Erweiterungen, wie ich sie in der vorletzten Auflage mit Rücksicht auf die i n h a l t l i c h e n Bestimmungen des geschichtlichen Stoffs, die mir ebenso wichtig sind wie die formalen, vorgenommen hatte, um den ungerechtfertigten Vorwurf des „Formalismus“ zu entkräften, schienen mir nicht mehr notwendig zu sein. Wer durch die Abschnitte VII-IX des vierten Kapitels und besonders durch die Ausführungen über die irrealen Sinngebilde und das historische Verstehen nicht davon überzeugt wird, daß meine Logik der Geschichte keinen e i n s e i t i g formalen Charakter trägt, d. h. nicht in anderer Weise formal ist, als j e d e logische Untersuchung es sein muß, den würde ich auch durch eine weitere Ausführung des früher Gesagten wohl nicht von seiner Meinung abbringen. Logik bleibt unter allen Umständen Lehre von den Formen des wissenschaftlichen Denkens und kann den Inhalt in seinen sachlichen Eigentümlichkeiten nur so weit | berücksichtigen, wie diese für die Besonderheiten der verschiedenen Denkformen bedeutsam sind. Auch der Polemik gegen neuerdings hervorgetretene abweichende Ansichten durfte ich mich, wenigstens im Text, enthalten und das darüber zu Sagende in einen Anhang verweisen, denn Argumente, welche eine wesentliche Aenderung der wissenschaftlichen Problemlage bedeuten, sind, so viel ich sehe, in der letzten Zeit nicht hervorgetreten. Damit will ich nicht etwa behaupten, daß die jüngste Literatur über das Wesen der Geschichte wertlos sei. Im Gegenteil, das Problem der historischen Wissenschaft fördert noch immer sehr interessante Arbeiten zutage, und das ist bei dem Kampf mit der nie zu ignorierenden Vergangenheit, den

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wir heute fast alle bei unserm Wirken für Gegenwart und Zukunft zu führen haben, sehr begreiflich. Die bedeutendste Schrift, die hier in Betracht kommt, dürfte das 1922 erschienene erste Buch des groß angelegten Werkes von Ernst Troeltsch über den Historismus und seine Probleme sein, in dem „das logische Problem der Geschichtsphilosophie“ behandelt wird. Eine Auseinandersetzung mit dieser endgültigen Fassung der Gedanken von Troeltsch, die sich aufs engste mit dem Thema meines Buches berühren, lag nahe. Ja, eine solche Aufgabe lockte mich um so mehr, als die freundliche Teilnahme, die Troeltsch schon vor einem Menschenalter für meine ersten Publikationen über Geschichtslogik zeigte, und auf Grund deren sich auch sehr erfreuliche persönliche Beziehungen entwickelten, für mich neben der geistigen Gemeinschaft mit Max Weber zu dem Besten gehört, was meine wissenschaftliche Arbeit mir gebracht hat. Aber schließlich ließ ich nach reiflicher Ueberlegung auch das, was ich über Troeltsch zu sagen habe, unverändert, und ich möchte nur ausdrücklich sagen, was mich dabei geleitet hat. Sachlich entschied vor allem der Umstand, daß Troeltsch die wichtigsten Gedanken, die das logische Problem der Geschichte betreffen, schon vor dem Erscheinen seines großen Werkes in einzelnen Abhandlungen publiziert hatte, und ich daher bereits in der Auflage von 1921 zu ihnen Stellung nehmen konnte. Dazu kam jedoch noch etwas anderes. Polemik gegen einen verehrten Toten, der sich nicht mehr wehren kann, hat immer etwas Mißliches und scheint mir erst dann gerechtfertigt zu sein, wenn die über jeder persönlichen Rücksicht stehende Sache sie unbedingt fordert. Konnte ich nun in diesem Falle durch eine neue Auseinandersetzung gerade mit Troeltsch auf eine größere sachliche Klärung als bisher hoffen? Die Antwort darauf möchte ich mit | einigen Sätzen von Troeltsch selbst geben, durch die er begründet hat, weshalb er in seinem letzten Werke eine „Replik“ gegen mich für „unmöglich“ hielt. Dabei hebe ich die Worte, auf die es vor allem ankommt, durch den Druck hervor. „Ich stimme“, sagt Troeltsch, „mit Rickert in wesentlichen Punkten überein und habe von ihm die stärksten Anregungen empfangen, weshalb ich auch hier überall von ihm ausgehe. A b e r u n s e r e A r t i s t n u n e i n m a l g r u n d v e r s c h i e d e n . Ich glaube s e h e n zu können, was er n u r d e n k e n zu können meint.“ Dazu brauche ich nicht viel zu sagen. Mit dem Unterschied von „sehen“ w o l l e n und „denken“ w o l l e n hat Troeltsch den Punkt, der uns trennt, zutreffend gekennzeichnet, und das bedeutet zugleich: bei so entgegengesetzten A b s i c h t e n ist eine volle Verständigung wohl ausgeschlossen. Ich kann das einschränkende „nur“, das Troeltsch zu dem Worte „denken“ hinzufügt, bei der Beurteilung eines l o g i s c h e n Problems, das doch auch er klären will, von vornherein nicht als berechtigt anerkennen. Eine logische

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Einleitung in die historischen Wissenschaften, wie ich sie anstrebe, muß vielmehr gerade das zu d e n k e n suchen, was der Historiker „nur“ sieht. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Jede einzelwissenschaftliche Arbeit besteht in ihrer Totalität aus „Sehen“ u n d „Denken“, und dementsprechend ist ihr sachlicher Gehalt stets eine Ve r b i n d u n g von „Anschauung“ und „Begriff“. Diesen Dualismus kann man nicht mehr leugnen. Die Logik aber hat auch das Ve r h ä l t n i s von Anschauung und Begriff zu d e n k e n oder auf B e g r i f f e zu bringen, und falls sie dies Ziel erreichen soll, bleibt ihr nichts anderes übrig, als nicht allein das Denken, sondern auch das Sehen zum Gegenstand des Denkens zu machen. Wer dabei nicht mitgehen, sondern sich auf das Sehen beschränken w i l l , ist selbstverständlich, so weit er wirklich sieht, in unbezweifelbarem Recht und jedenfalls nicht zu „widerlegen“. Aber die logischen Fragen werden dann für ihn zurücktreten, und auf seinem Wege darf daher auch die Logik der Geschichte nicht hoffen, vorwärtszukommen. Heute, wo man in weiten Kreisen auf allen Gebieten nach „Intuition“ strebt, ja vielfach das „diskursive“ Denken geradezu verachtet, hört man solche Wahrheiten freilich nicht gern. Sie sind eminent unmodern. Wahr aber bleiben sie trotzdem, und man sollte nur wünschen, daß alle sich über die „Grundverschiedenheiten“ der A b s i c h t e n , die man in der Wissenschaft entweder durch Sehen oder durch Denken ver- | folgen kann, so klar wären wie Troeltsch in dem zitierten Satz. Dann unterbliebe mancher fruchtlose Streit. Vermehrt ist die neue Auflage durch einen A n h a n g und durch ein alphabetisch geordnetes R e g i s t e r. Ueber beide ein kurzes Wort. Der Anhang enthält eine ältere Arbeit von mir, die ich geschrieben habe, als mein Buch noch nicht abgeschlossen war. Warum ich sie jetzt unverändert wieder drucken lasse, habe ich in einem Nachwort dazu gesagt. Ich bemerke auch an dieser Stelle: wer mein Buch noch nicht kennt, sondern nur etwas d a r ü b e r gelesen hat, wird gut tun, den Anhang z u e r s t zu lesen und damit weit verbreiteten Mißverständnissen meiner Absichten entgehen, die durch die Art meiner Darstellung mit verschuldet sein mögen, die aber dann allein bestehen bleiben können, wenn man sich auf die ersten Teile meines Buches beschränkt. Ich habe den berechtigten Wunsch, daß man sein Urteil so lange suspendieren sollte, bis man meinen Gedankengang v o l l s t ä n d i g kennt, schon im Vorwort zur ersten Auflage 1902 ausgesprochen. Der Anhang wird den Leser von vorneherein orientieren. Zur Orientierung über meine Absichten kann auch das alphabetische Register dienen. Es macht auf den ersten Blick deutlich, daß man nicht hoffen darf, durch irgendeine der üblichen einfachen Formeln den Inhalt des Buches zu erschöpfen. Mein Bestreben geht überall dahin, zu zeigen, wie

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Vorwort zur fünften Auflage

k o m p l i z i e r t die Probleme der Geschichtslogik sind, und wie wenig zu ihrer Klärung mit den herkömmlichen Schlagworten und angeblichen Alternativen zu leisten ist. Diese meine Meinung tut sich bereits kund, wenn man sich im Sachverzeichnis die Schlagworte mit ihren, sie differenzierenden und bestimmenden Zusätzen ansieht. Das Register hat Herr Franz Josef Böhm auf Grund intimster Kenntnis meiner Gedankengänge aus der angegebenen Intention heraus gemacht und sich damit für den Leser des Buches ein großes Verdienst erworben. Mir ist früher schon oft der Wunsch nach einem Register ausgesprochen worden. Für die vorzügliche Erfüllung dieses Wunsches möchte ich Herrn Böhm auch an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank sagen. Im übrigen muß ich auf die Vorreden zu den früheren Auflagen verweisen, die nicht ohne Grund wieder abgedruckt sind. Hier habe ich nur noch zu bemerken, daß ich mein wiederholt umgearbeitetes Buch jetzt in seiner endgültigen Form vorlege. Selbst wenn ich noch eine neue Auflage erleben sollte, würde ich das alte Werk so lassen, wie es | ist. Mir sind andere Arbeiten wichtiger. In den „Grenzen“ habe ich stets eine logische Spezialarbeit gesehen. Die ganze Kraft, die mir in meinem Alter noch zur Verfügung steht, gehört nun der Ausarbeitung von umfassenderen, systematischen Gedanken, die sich nicht auf Fragen der Logik beschränken. Heidelberg, Anfang Oktober 1928. Heinrich Rickert.

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| INHALTSVERZEICHNIS.

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Aus dem Vorwort zur ersten Auflage . . Vorwort zur zweiten Auflage. . . . . . Vorwort zur dritten und vierten Auflage . Vorwort zur fünften Auflage . . . . . .

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Seite . VII . X . XIV XXVII

Einleitung.

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Philosophie und Geschichte 1. — Grenzen der Naturwissenschaft 5. — Kein Ignorabimus 7. — Kein Historismus 8. — Philosophie und Erkenntnistheorie 9. — Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus 13. — Die Soziologie 14. — Das Problem des Fortschritts 16. — Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 19. — Der historische Begriff 20. — Logik der Geschichte 21. — Erweiterter Begriff des Begriffs 23. — Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt 25. — Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft 26. — Natur und Geschichte 27. — Die historischen Kulturwissenschaften 29. — Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie 30. Erstes Kapitel. Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt. I. D i e M a n n i g f a l t i g k e i t d e r K ö r p e r w e l t u n d i h r e Ve re i n f a c h u n g d u r c h d i e a l l g e m e i n e Wo r t b e d e u t u n g . . . Erkennen als Abbilden 32. — Extensive und intensive Unübersehbarkeit 33. — Das homogene Kontinuum 36. — Das heterogene Kontinuum 37. — Die Ueberwindung der Unübersehbarkeit 38. — Wort und Wortbedeutung 39. — Der wissenschaftliche Begriff 40. — Begriff und Urteil 42. — Primitiver Begriff und generalisierende Beschreibung 44.

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II. D i e B e s t i m m t h e i t d e s B e g r i f f s . . . . . . . . . . . . Begriff und Begriffsbildung 45. — Wortbedeutung und Anschauung 46. — Die Unbestimmtheit des Begriffsinhalts 47. — Die Definition als Begriffsbestimmung 48. — Relative und absolute Bestimmtheit 49. — Das Ideal der einfachen Begriffe 51.

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III. D i e G e l t u n g d e s B e g r i f f s . . . . . . . . . . . . . . . Die empirische Allgemeinheit 53. — Urteilsakt und Urteilsgehalt 54. — Die Urteilsgeltung 56. — Die unbedingte Geltung des

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Orig.-Inhaltsverzeichnis

Begriffs 57. | — Das Naturgesetz 58. — Die klassifikatorische Begriffsbildung 59. — Das Ideal des naturwissenschaftlichen Begriffs 61. — Das Generalisieren 63. — Naturgesetze und Gattungsbegriffe 64. IV. D i n g b e g r i f f e u n d R e l a t i o n s b e g r i f f e . . . . . . . . . Auflösung der Dinge in Relationen 66. — Die letzte Naturwissenschaft 68. — Logisch vollkommene Dingbegriffe 70. — Die letzten Dinge 71. — Begriffe einfacher Dinge 72. — Naturwissenschaft und Mathematik 75. — Die Verdrängung des heterogenen durch das homogene Kontinuum 78. — Der Dingbegriff als Relationsbegriff 79. — Moderne und antike Begriffstheorie 80.

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V. D i e m e c h a n i s c h e N a t u r a u f f a s s u n g . . . . . . . . . . Die Körperwelt als Mechanismus 83. — Logisches Ideal und faktische Naturforschung 84. — Die theoretische Mechanik 87. — Die Physik und die letzten Dinge 89. — Die Energetik 93. — Die Chemie 98. — Die Organismen 101.

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VI. B e s c h r e i b u n g u n d E r k l ä r u n g . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung 102. — Naturbeschreibung und Naturerklärung 104. — Die erklärenden Naturwissenschaften 105. — Begriff der Beschreibung 107. — Vollständige Beschreibung 108. — Die Klassifikation 109. — Die Feststellung von Tatsachen 114. — Das Faktische als Theorie 117.

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Zweites Kapitel. Natur und Geist. I. P h y s i s c h u n d p s y c h i s c h . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede des Psychischen vom Physischen 124. — Subjekt und Objekt 127. — Drei Begriffe des Subjekts 130. — Das Innere 131. — Das Bewußtsein 133. — Das erkenntnistheoretische Subjekt 136. — Unmittelbare Realität der Körper 142. — Das Material der empirischen Psychologie 147. — Die psychologische Objektivierung 148.

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II. D i e g e n e r a l i s i e r e n d e E r k e n n t n i s d e s S e e l e n l e b e n s . . Psychologie als Naturwissenschaft 149. — Unübersehbarkeit des Seelischen 151. — Das psychologische Generalisieren 153. — Die psychologische Begriffsbestimmung 155. — Psychologische Gesetze 157. — Das logische Ideal der Psychologie 159. — Der psychophysische Materialismus 160. — Die psychischen Elemen-

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Orig.-Inhaltsverzeichnis

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te 161. — Psychologie und Quantifizierung 163. — Der Leistungszusammenhang des Psychischen 165. — Allgemeine Psychologie und psychologische Spezialdisziplinen 167.

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III. N a t u r w i s s e n s c h a f t u n d G e i s t e s w i s s e n s c h a f t . . . . . Der umfassendste Naturbegriff 169. — Natur als das Wirkliche im Allgemeinen 170. — Seelenleben als Natur 172. — Metaphysik der Natur 175. — Begriff der Geisteswissenschaft 178. — Die Bedeutungen des Wortes Geist 179. — Hegels Geist 180. — Der unwirkliche Geist 184. |

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Drittes Kapitel. Natur und Geschichte. I. D i e n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e B e g r i f f s b i l d u n g u n d d i e empiri sche Wirkli chkeit . . . . . . . . . . . . . . . Begriff und Anschauung 191. — Psychologie und Anschauung 192. — Körperwissenschaften und Anschauung 194. — Begriff und Individualität 197. — Die Individualität des Wirklichen 198. — Das Wirkliche als Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 200. — Der Begriffsrealismus 203. — Atom und Individuum 204. — Die Weltformel 207. — Der Sinn der allgemeinsten Naturgesetze 213. — Erkennen als Urteilen 214. — Geltung der Begriffe für das Wirkliche 215. II. D e r l o g i s c h e B e g r i f f d e s H i s t o r i s c h e n . . . . . . . . Begreifen als Umformen 217. — Das Begreifen des Individuellen 218. — Die Geschichte 219. — Das Problem einer Wissenschaft des Individuellen 220. — Wirklichkeitswissenschaft 225. — Individualität und Irrationalität 226. — Das Wirkliche als Natur und als Geschichte 227. — Der logische Begriff des Historischen 228. — Die Individualität alles Wirklichen 230. — Sein und Werden 232.

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III. D i e h i s t o r i s c h e n B e s t a n d t e i l e i n d e n N a t u r w i s s e n s c h a f t e n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Relativität des Allgemeinen und Besonderen 239. — Das System der Körperwissenschaften 241. — Seine Gliederung nach den relativ historischen Bestandteilen 242. — Die absolut unhistorische Mechanik 244. — Das Geschichtliche in der Physik 245. — Das Geschichtliche zweiter Ordnung in der Chemie 247. — Die historische Biologie 251. — Die generalisierende Biologie 253. — Die historischen Bestandteile in den psychologi-

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Orig.-Inhaltsverzeichnis

schen Wissenschaften 256. — Die logische Struktur der Soziologie 257. IV. N a t u r w i s s e n s c h a f t u n d G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t . . . Historische und naturwissenschaftliche Biologie 259. — Die Entwicklungsmechanik 261. — Historische und naturwissenschaftliche Soziologie 262. — Das absolut Historische 264. — Die logisch entgegengesetzten Grundtendenzen der empirischen Realwissenschaften 267. — Der deutsche Idealismus und die Geschichte 268. — Das Problem der Geschichte bei Windelband, Harms, Naville und Simmel 269. — Abschluß des negativen Teils und Wendung zum positiven 274.

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Vi e r t e s K a p i t e l . Die historische Begriffsbildung.

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I. D a s P r o b l e m d e r h i s t o r i s c h e n B e g r i f f s b i l d u n g . . . . Das Ganze der geschichtslogischen Fragen 283. — Quellenmaterial und Tatsachenmaterial 284. — Tatsachenfeststellung und Begriffsbildung in der Geschichte 285. — Die Unvollständigkeit des historischen Tatsachenmaterials 287. — Die historische Vereinfachung 292. — Die historische Begriffsbildung 296. — Formales Verfahren der Geschichtslogik 300. |

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II. D a s h i s t o r i s c h e I n d i v i d u u m . . . . . . . . . . . . . Anschauung und Individualität 303. — Das erste Allgemeine der Geschichte 304. — Darstellung des Individuellen durch Allgemeines 305. — Die Unteilbarkeit des Individuums 308. — Verbindung von Unteilbarkeit und Einzigartigkeit im Körperlichen 309. — Uebertragung auf das Seelische 317. — Das historische Individuum 320. — Wertung und Wertbeziehung 321. — Das zweite Allgemeine der Geschichte 324. — Der Begriff des Typus 325. — Die wertbeziehende Wirklichkeitsauffassung 328. — Das logische Ideal der rein wissenschaftlichen Geschichte 333. — Die drei Stufen in der Bestimmung des Historischen 337.

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III. D i e w e r t b e z i e h e n d e B e g r i f f s b i l d u n g . . . . . . . . . Die Ueberwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit durch den historischen Begriff 340. — Geschichte und Teleologie 343. — Die metaphysische Teleologie 344. — Die rationalistische Teleologie 345. — Die empirische Allgemeingültigkeit der historischen Begriffe 347. — Die anschauliche Erfüllung der individuellen Begriffe 349. — Geschichte und Kunst 355. — Die unbedingt allgemeine Geltung der Geschichte 357.

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IV. D e r h i s t o r i s c h e Z u s a m m e n h a n g . . . . . . . . . . . Das dritte Allgemeine der Geschichte 360. — Allgemeiner Gattungsbegriff und Gattung als individuelle Totalität 361. — Das letzte historische Ganze 364. — Unterordnung unter allgemeine Begriffe und Einordnung in umfassendere Totalitäten 368. — Verhältnis von Inhalt und Umfang bei naturwissenschaftlichen und historischen Begriffen 371. — Der kausale Zusammenhang und die Geschichte 373. — Kausalprinzip, Naturgesetz und individuelle Kausalität 375. — Die drei Arten des Zufälligen 378. — Kausalgleichung und Kausalungleichung 382. — Die Theorie des Milieu 385. — Erkenntnis individueller Kausalzusammenhänge 388. — Allgemeine Kausalbegriffe als Mittel historischer Darstellungen 390.

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V. D i e g e s c h i c h t l i c h e E n t w i c k l u n g . . . . . . . . . . . Die Vieldeutigkeit des Wortes Entwicklung 396. — Entwicklung als Werden 397. — Entwicklung als Veränderung 399. — Entwicklungsgesetze 401. — Die astronomische Erkenntnis 402. — Die Entwicklung des Neuen 407. — Die Begriffsentwicklung 408. — Die metaphysisch-teleologische Entwicklung 411. — Mechanismus und Teleologie in der Biologie 412. — Die konditional-teleologische Entwicklung 417. — Die wertbezogene Entwicklung der Geschichte 422. — Der Fortschritt 424. — Die wertende Geschichte 427. — Rein wissenschaftliche Darstellung der geschichtlichen Entwicklung 428. — Die sieben Entwicklungsbegriffe 430. — Das historische Kontinuum 432. — Primär und sekundär historisches Material 433. — Das historisch Wirksame 434. — Die Begrenzung der historischen Entwicklungsreihen 436.

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VI. D i e n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n B e s t a n d t e i l e i n d e n h i s t o r i s c h e n W i s s e n s c h a f t e n . . . . . . . . . . . . . . 438 Absolut und relativ historische Begriffe 438. — Allgemeine historische Begriffe, die nicht relativ historisch sind 439. — Das relativ historische Individuum 442. — Die Möglichkeit, nur historische Durchschnitts- | typen zu bilden 447. — Die Individualität der allgemeinen Begriffsinhalte 449. — Die unwissenschaftliche Bevorzugung des Allgemeinen 451. — Politische Geschichte und Kulturgeschichte 455. — Die Möglichkeit historischer Gesetze 458. — Das relativ Historische in den Körperwissenschaften 459. — Geschichte des Lichts 460. — Geschichte der Organismen 462. — Die biologische Methode der Geschichte 466. —

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Orig.-Inhaltsverzeichnis

Natürliche Epochen der Völker 468. — Generalisierende Darstellung von Teilentwicklungen der Geschichte 469. — Der Widersinn der historischen Gesetze 470. — Die Geschichte der Zukunft 471. — Vier Arten des Allgemeinen in der Geschichte 473. — Die viergliedrige Reihe des Allgemeinen und des Besondern in den Begriffen der Realwissenschaften 476. — Beispiele für generalisierende und individualisierende Darstellungen 477. — Logische Einteilung der letzten Ziele, nicht wirkliche Teilung der faktischen Wissenschaft 478.

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VII. G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t u n d S e e l e n l e b e n . . . . . . . Zusammenhang von formalen und materialen Unterschieden der Wissenschaften 479. — Das Vorwiegen des Seelischen im historischen Material 480. — Die Lücken in der Kenntnis der geschichtlichen Tatsachen 483. — Geschichte und Psychologie 484. — Vier Arten dieses Verhältnisses 486. — Die alte Psychologie als Grundlage der Geschichte 487. — Die neue Psychologie 488. — Vieldeutigkeit des Wortes psychologisch 490. — Individualpsychologie und Sozialpsychologie 492. — Psychologie als Hilfswissenschaft der Geschichte 495. — Geschichtswissenschaft und Geisteswissenschaft 498. — Das historische Individuum als psychophysisch 499. — Gründe für das Vorwiegen des Seelischen im historischen Material 503. — Das Werten als psychisches Sein 504. — Der Begriff des historischen Zentrums 505. — Die Notwendigkeit des historischen Zentrums 507. — Zusammenhang der geschichtlichen Auswahlprinzipien mit dem Inhalt des geschichtlichen Stoffes 510. — Der sachliche Begriff der Geschichte 511. — Wert und Geist 513.

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VIII. D i e h i s t o r i s c h e n K u l t u r w i s s e n s c h a f t e n . . . . . . . Das Seelenleben sozialer Individuen als historisches Material 515. — Natur und Kultur 519. — Die geschichtlichen Kulturgemeinschaften 521. — Der formale Begriff der Kulturwissenschaft 523. — Kein Gegensatz zur politischen Geschichte 526. — Das umfassendste historische Zentrum 527. — Das umfassendste historische Objekt überhaupt 529. — Das Problem der eigentlichen Geschichte 531.

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IX. D i e i r r e a l e n stehen . . . Das irreale Sinn und die

S i n n g e b i l d e u n d d a s g e s c h i c h t l i c h e Ve r. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Material der Geschichte 533. — Der unwirkliche reale Kultur 534. — Zusammenhang des histori-

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schen Materials mit der historischen Methode 538. — Der sachliche Gegensatz von sinnfreier Natur und sinnvoller Geschichte 540. — Noch einmal Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften 542. — Einheit und Ganzheit der sinnvollen Kulturobjekte 545. — Die Allgemeinheit der irrealen Sinngebilde 549. — Zeitgeist und Volksseele 551. — Allgemeines und Individuelles im irrealen Sinn 552. — Die Individualität des Sinnes 554. — Die individualisierende Darstellung sinnvollen Seelenlebens | 555. — Verstehen und Erklären 557. — Verstehen und Nacherleben 558. — Das Problem des historischen Verstehens 559. — Individualisierendes und generalisierendes Verstehen 561. — Das Problem des individualisierenden Nacherlebens 563. — Die Unzugänglichkeit der fremden Seele 564. — Verwechslung des irrealen Sinnes mit dem realen psychischen Sein 568. — Die metaphysische Lösung 571. — Der Sinn als Brücke 572. — Durch Sinnverständnis zum Nacherleben des Seelischen 574. — Der wirklich lebendige Sinn 576. — Das Hineinversetzen der eigenen in die fremde Seele 577. — Das Nacherleben der fremden Individualität 578. — Der absolut individuelle Sinn 579. — Seine Unablösbarkeit vom Realen 580. — Untrennbarkeit von Nacherleben und Verstehen 582. — Der freischwebende Sinn 583. — Das Wunder des Verstehens 585. — Historisches Nacherleben als anschauliche Erfüllung individueller Begriffe 588. — Vergegenwärtigung des Vergangenen 589. — Das Nacherleben des Irrationalen 591. — Das Nacherleben des rational Verständlichen 593. — Geisteswissenschaftliche Psychologie 594. — Die drei Faktoren des zentralen historischen Materials und ihre Einheit 596. — Generalisierende Wissenschaft der irrealen Sinngebilde und Theorie der Werte 597. — Abweisung ontologischer Lösungen des Problems 598. — Darstellung von Volksseelen und Zeitgeistern 600. — Die verstehende Geschichte als Realwissenschaft 602. — Das Nacherleben der realen Einzelseele 604. — Das Nacherleben der realen Volksseele 606. — Die Grenzen der Geschichtslogik 607. — Zusammenfassung 610. X. D i e K l a s s i f i k a t i o n d e r W i s s e n s c h a f t e n . . . . . . . . Natürliche Klassifikationen der Wissenschaften 612. — Das philosophische Problem einer Gliederung der wissenschaftlichen Darstellungen 614. — Die vier Haupttendenzen der realwissenschaftlichen Begriffsbildung 616. — Die Mannigfaltigkeit des wissenschaftlichen Lebens 617. — Die normativen Disziplinen

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Orig.-Inhaltsverzeichnis

619. — Die Teilung der spezialwissenschaftlichen Arbeit 620. — Die Einheit der Wissenschaft 621. Fünftes Kapitel. Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie.

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I. D i e n a t u r a l i s t i s c h e G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e . . . . . Der naturwissenschaftliche Standpunkt 624. — Das Naturgesetz der Geschichte 625. — Kulturentwicklungsformeln als Wertformeln 629. — Comtes soziale Dynamik 629. — Lamprechts Kulturzeitalter 632. — Die natürlichen Werte 633. — Darwinistische Geschichtsphilosophie 634. — Die Geschichtsphilosophie des Psychologismus 638. — Naturalismus und Wertphilosophie 640.

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II. D i e e m p i r i s c h e O b j e k t i v i t ä t . . . . . . . . . . . . . Empirische Allgemeinheit der Naturbegriffe 645. — Willkür der Auslese des Wesentlichen 646. — Geschichte als reine Erfahrungswissenschaft 647. — Der konsequente Empirismus 650. — Die überempirischen Voraussetzungen der Gesetzeswissenschaften 653. — Die überempirischen Faktoren der wissenschaftlichen Geschichte 655. |

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III. D i e m e t a p h y s i s c h e O b j e k t i v i t ä t . . . . . . . . . . . Begriffe als Abbilder absoluter Wirklichkeiten 657. — Die metaphysische Objektivität der generalisierenden Wissenschaften 658. — Die metaphysische Objektivität der individualisierenden Geschichte 660. — Kritik der Geschichtsmetaphysik 662. — Die Geschichtsfeindlichkeit des konsequenten metaphysischen Denkens 663. — Geschichte und Irrationalismus 665. — Kritik der Naturmetaphysik 667. — Begriffsrealismus als Wertrealismus 668. — Begriff und Idee 671.

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IV. D i e O b j e k t i v i t ä t d e r We r t e . . . . . . . . . . . . . . Vorstellendes und wertendes Subjekt 673. — Formaler und materialer Subjektivismus 675. — Das wertende Subjekt und die Erkenntnisformen 676. — Das wertende Subjekt und das Erkenntnismaterial 677. — Realwissenschaftliche Objektivität und theoretische Wertgeltung 678. — Die unbezweifelbaren Voraussetzungen der Gesetzeswissenschaften 679. — Die theoretischen Voraussetzungen der Geschichte 681. — Die Wertvoraussetzungen der Geschichte des Naturerkennens 682. — Natur als wissenschaftliches Kulturprodukt 684. — Intellektualismus des Wertens

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685. — Unbezweifelbarkeit als theoretisches Wertkriterium 686. — Intellektualismus und Voluntarismus 688. — Die überlogische Basis des realen Erkennens 689. — Der autonome Wille zur Wahrheit 690. — Form der Autonomie und Inhalt der Kulturwerte 692. — Notwendige Beziehung des Realen auf den Wert der Autonomie 694. — Die empirische Objektivität der Geschichte und die formalen Werte 695. V. G e s c h i c h t e u n d We l t a n s c h a u u n g . . . . . . . . . . . Logik der Geschichte und Weltanschauungsfragen 697. — Philosophie als Wertlehre 698. — Das Problem der Wertgeltung 699. — Werte und Normen 700. — Formale und materiale Wertgeltung 702. — Wertlehre und Geschichte 704. — Theoretische Philosophie und Natur 705. — Ethik und soziale Autonomie 706. — Wissenschaftliche Ethik und Normgebung 707. — Ethik und Natur 709. — Ethik und Individualität 710. — Allgemeingültigkeit der individuellen Normen 711. — Ethische Bedeutung des Durchschnittlichen 713. — Ethischer Individualismus und Sozialismus 714. — Ethische Bedeutung der Nation 715. — Das Humanitätsideal 716. — Das Uebernationale und die historische Stufenfolge 717. — Das Menschliche als ethische Form 718. — Die einschränkende Bedeutung des Natürlichen in der Ethik 720. — Naturrecht und Rationalismus 721. — Normatives und historisches Recht 723. — Die Grenzen der geschichtswissenschaftlichen Begriffsbildung 725. — Das religiöse Wertproblem 727. — Das Heilige 728. — Die Macht des Geltenden und die überbegriffliche Wertrealität 729. — Die metaphysischen Wertprobleme 730. — Religiöser Glaube und geschichtliches Leben 732. — Der Formalismus der rationalen Metaphysik 733. — Die Relativität des Historischen 734. — Die Unvermeidlichkeit des historischen Elementes in aller Kultur 735.

Anhang. I. Die vier Arten des „Allgemeinen“ in der Geschichte (1901) . . . . II. Nachwort 1928 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Im wissenschaftlichen Leben unserer Zeit nehmen historische Untersuchungen einen breiten Raum ein. Kommt in der P h i l o s o p h i e die Rücksicht auf die Geschichte ebenfalls zu dem ihr gebührenden Ausdruck? Man hat es behauptet. In einer vielgelesenen Schrift, die nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihren äußeren Erfolg für die philosophischen Interessen und Ansichten der letzten Zeit zumal in Deutschland recht charakteristisch ist, wird unter den Richtungen, in denen sich die Philosophie zu bewegen scheine, auch die R i c h t u n g a u f d i e G e s c h i c h t e genannt, ja, sie wird sogar als ein Zug bezeichnet, der der ganzen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, im Gegensatz zu der voraufgegangenen mathematisch-naturwissenschaftlichen Periode, das Gepräge gebe.1 Ist wirklich in der g a n z e n Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, ist vollends in der Philosophie der Gegenwart viel von diesem Zuge zu merken? Vor allem: hat man das Wesen der Geschichte p h i l o s o p h i s c h zu verstehen gesucht, d. h. so, daß ihre Bedeutung auch für die Probleme einer umfassenden Weltanschauungslehre zutage tritt? Oder sollte in der angeführten Behauptung nicht mehr ein Wunsch als eine Tatsache zum Ausdruck gekommen sein? Einige Denker der ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatten allerdings begonnen, sich philosophisch mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Ja, niemals ist eine Weltanschauung so historisch orientiert gewesen wie die des deutschen Idealismus. Kann man aber sagen, daß das noch weiter zutreffe? Auch in Frankreich entwickelte ungefähr zu derselben Zeit, in der Hegel seine Philosophie der Geschichte vortrug, Comte Gedanken, die den historischen Wissenschaften ihren Platz in dem Ganzen der Erkenntnis anweisen und ihre richtige Behandlung feststellen wollten. Doch ist es hier nicht, trotz manches wertvollen Ansatzes, beim bloßen Wollen geblieben? Zum mindesten wird man nicht behaupten können, daß die Wirksamkeit der Comteschen | Gedanken geeignet war, die Richtung auf die Geschichte im G e g e n s a t z zu der voraufgegangenen naturwissenschaftlichen Periode zu stärken. Wenn Comte die historische Wissenschaft zur „Soziologie“ machen wollte, so verlangte er damit, daß sie wie eine Naturwissenschaft verfahre. Da konnte sein direkter und noch mehr sein, hauptsächlich durch englische Autoren vermittelter, indirekter Einfluß nur dazu beitragen, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch in Deutschland den großen historischen Zug wieder zu verdrängen, den 1

P a u l s e n , Einleitung in die Philosophie. 1892. Vorwort, S. IX. In drei Jahrzehnten sind von diesem Buche fünfunddreißig Auflagen erschienen, und es wird wohl auch jetzt noch gelesen.

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die Philosophie des deutschen Idealismus gezeigt hatte. Nur die empirische Geschichtsforschung trat die Erbschaft dieses Idealismus an und nahm infolgedessen einen mächtigen Aufschwung. Die Philosophie aber, soweit sie für das allgemeine Geistesleben überhaupt noch eine Bedeutung hatte, kam ganz und gar unter den Einfluß der Naturwissenschaften. Die Worte weiterblickender Denker verhallten ungehört. Und nun gar die Philosophie der Gegenwart? Bedürfte es für den unhistorischen Charakter des Geistes, der weite Kreise beherrscht, noch eines Beweises, so würde eine Hindeutung auf die Tatsache genügen, daß von den deutschen Philosophen in den letzten Jahrzehnten vor allen Schopenhauer und die Denker, die sich mehr oder weniger an ihn anschließen, beachtet und gelesen worden sind. Freilich hat Schopenhauer den philosophisch entscheidenden und logisch grundlegenden Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Geschichte, wenigstens nach einer Seite hin, mit dem Scharfblick des Hasses so früh gesehen und so klar formuliert wie wenige Denker der Neuzeit. Aber trotzdem ist seine Verständnislosigkeit für das geschichtliche Leben kaum zu überbieten. Weil die Geschichte nicht wie die Naturwissenschaft verfahren kann, spricht Schopenhauer ihr den Charakter als W i s s e n s c h a f t ab, und es läßt sich in der Tat mit seiner Weltanschauung ein p h i l o s o p h i s c h e s Interesse für das geschichtliche Leben nicht vereinigen. Das Erlahmen des historischen Sinnes in der Philosophie einerseits, die Vorliebe für die Naturwissenschaft oder für die naturwissenschaftliche Phrase andererseits waren notwendige Bedingungen für den späten Erfolg Schopenhauers, der Gedanken des deutschen Idealismus nur soweit zu Gehör brachte, als er sie in einer ebenso unglücklichen wie dem Geschmack der Zeit zusagenden physiologischen Terminologie reproduzierte. Am wenigsten aber darf der Einfluß, den auch die phantastisch-spiritualistischen Elemente der Schopenhauerschen Philosophie gehabt haben und in mannigfaltigen Umbildungen noch heute ausüben, über die Situation hinwegtäuschen: „ A l l e S c h w ä r - | m e r e i ist und wird notwendig N a t u r philosophie“, das hat schon Fichte richtig erkannt.2 Bei den Nachfolgern Schopenhauers in der Gunst der Mode ist ebenfalls wenig von einer Richtung auf die Geschichte zu merken. Man braucht nur an Nietzsche oder gar an Spengler3 zu denken, und besonders auffallend ist es, wie fremd auch Bergson der Geschichtswissenschaft gegenübersteht, obwohl er die Grenzen der Naturwissenschaft in mancher Hinsicht so deutlich erkannt hat wie wenige.

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Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Achte Vorlesung: von der Reaktion eines solchen Zeitalters gegen sich selber durch Aufstellung des Unbegreiflichen als höchsten Prinzips. [In:] S. W. [Bd.] VII, S. 118. 3 Der Untergang des Abendlandes. 1918. Wie ungeschichtlich der Gedanke an eine „Morphologie der Weltgeschichte“ ist, wird sich im folgenden ergeben.

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So mag man es denn beklagen oder sich darüber freuen, der Tatsache wird man sich nicht verschließen dürfen: die historischen Wissenschaften haben auf die P h i l o s o p h i e der neuesten Zeit nur einen geringen Einfluß ausgeübt, von einer Richtung auf die Geschichte im Gegensatz zur Naturwissenschaft findet sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im philosophischen Bewußtsein gerade der Gegenwart nur wenig. Die Meinung vielmehr, daß alle echte Wissenschaft im Grunde Naturwissenschaft sei, ja der Glaube an eine „naturwissenschaftliche Weltanschauung“ ist wieder einmal weit verbreitet und beherrscht auch solche Denker, die sich dessen nicht ausdrücklich bewußt sind. Nur das ist festzustellen, daß im Gegensatz zu der voraufgegangenen mathematisch-naturwissenschaftlichen Periode in der Philosophie mehr biologistische und psychologistische Tendenzen in den Vordergrund getreten sind. Im Prinzip jedoch steht der Biologismus und Psychologismus dem historischen Denken notwendig so verständnislos gegenüber wie der Mechanismus. Allerdings, die unbesonnenste Form, die eine im wesentlichen von naturwissenschaftlichen Interessen beeinflußte Philosophie annehmen kann, die Metaphysik des Materialismus, darf wohl als eine überwundene Episode in der geistigen Entwicklung der neuesten Zeit betrachtet werden, denn heute hat die Meinung, daß die Welt nur Körper sei und alles seelische Leben also eine besondere Form physischer Veränderung darstelle, in Kreisen, die ernsthafte Beschäftigung mit philosophischen Problemen anstreben, so gut wie keine Geltung mehr. Im Gegenteil, die Ansichten über das Verhältnis von psychischen und körperlichen Vorgängen werden von einem Dualismus beherrscht, wie Descartes ihn nicht schärfer ausgebildet hat, einem Dualismus, der auch durch den | modernen Spinozismus nur als scheinbar überwunden angesehen werden darf. Die Eigenart des Seelenlebens wird zugegeben, ja der prinzipielle Unterschied der physischen und der psychischen Vorgänge, insbesondere die Unmöglichkeit, das Psychische auf das Physische zurückzuführen, gilt heute als nahezu selbstverständlich. Sogar die Materialisten scheuen den Namen und nennen sich „Monisten“, ohne angeben zu können, warum. Der Glaube an die unbedingte und ausschließliche Herrschaft der Naturwissenschaft ist aber durch die Anerkennung einer u n k ö r p e r l i c h e n Realität noch nicht erschüttert, und es ist auch nicht einzusehen, wie er dadurch allein erschüttert werden könnte. So entschieden man die materialistischen Spekulationen ablehnt, so streng hält man fest an der naturwissenschaftlichen M e t h o d e . Die wissenschaftlichen Erfolge, die mit ihrer Hilfe auf dem Gebiete der körperlichen Natur errungen sind, scheinen eine Bürgschaft dafür zu bieten, daß man bei der Erforschung des Unkörperlichen, d. h. des Seelischen, ebenfalls naturwissenschaftlich verfahren dürfe und müs-

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se. Eine Naturwissenschaft des „geistigen“ Lebens, eine ihrer Methode nach naturwissenschaftliche Psychologie gilt vielen als die einzig wissenschaftliche Psychologie, und diese Meinung bestimmt dann auch die Auffassung vom Wesen der Geschichte als Wissenschaft. Die der Erfahrung zugängliche Wirklichkeit scheint durch die Einteilung in körperliche und seelische Vorgänge erschöpft. Daher glaubt man, weil die Psychologie eine Naturwissenschaft geworden ist, mit gutem Grunde behaupten zu dürfen, daß es eine andere als die naturwissenschaftliche Methode für die Erfahrungswissenschaften überhaupt nicht geben könne. Soll also die Geschichte eine echte Wissenschaft sein, so wird sie sich ebenfalls endlich der in den Naturwissenschaften, zumal in der Biologie, erprobten Methode zu bedienen haben, und eine wissenschaftliche Behandlung des historischen Lebens, das doch seelisches Leben ist, muß um so sicherer gelingen, je mehr die Erforschung der menschlichen Seele nach naturwissenschaftlicher Methode vorgeschritten sein wird. Mit Rücksicht auf diese Meinung kann man dann allerdings sagen, daß, insofern man in einer naturwissenschaftlichen Biologie oder Psychologie das unfehlbare Mittel zu besitzen glaubt, die Geschichte zum Range einer „exakten“ Wissenschaft zu erheben, eine Erforschung des geschichtlichen Lebens als Wissenschaft vielleicht noch niemals mit größerer Z u v e r s i c h t unternommen worden ist als in unsern Tagen. Aber nur deswegen herrscht diese Zuversicht, weil man die Ge- | schichte selbst zu einer Naturwissenschaft glaubt machen zu können, wie die Biologie es ist, und ob das Vorhandensein solcher Ueberzeugungen als eine Richtung der Philosophie auf die Geschichte zu bezeichnen ist, dürfte zum mindesten als Problem behandelt werden. Wer Geschichte und Naturwissenschaft in philosophischer Hinsicht als Gegensätze ansieht, für den wird sich vielmehr gerade hier am deutlichsten zeigen, daß das Denken unserer Tage unhistorisch ist, auch dort, wo ein lebhaftes Interesse für die Erforschung des geschichtlichen Lebens zu bestehen scheint, oder daß man das Wesen der Geschichtswissenschaft philosophisch gänzlich verkennt. Doch, es ist nicht notwendig, die heutige Denkart genauer zu schildern. Im allgemeinen hat es für den, der über philosophische Probleme zur Klarheit zu kommen wünscht, wenig Zweck, darüber nachzudenken, welche Strömungen in seiner Zeit das Bewußtsein weiterer Kreise beherrschen. So ist es auch überflüssig, Vermutungen darüber anzustellen, ob die gekennzeichnete Tendenz in der Zunahme begriffen ist, oder ob sie ihren Höhepunkt bereits überschritten hat. Was kommen wird, hängt von dem ab, was die Männer der Wissenschaft tun werden. Daß der Glaube an einen allgemeinen „Zeitgeist“, für den das Individuum nur unselbständiges „Organ“ ist, allein aus einer einseitig naturwissenschaftlichen Auffassung der Wirk-

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lichkeit entspringen kann, ist einer der Sätze, die im folgenden begründet werden sollen. Jedenfalls darf kein Verständiger sich scheuen, seine Ansichten auszusprechen, auch wenn er glaubt, daß die „allgemeine“, d. h. am meisten verbreitete Geistesrichtung des Tages für ihre Anerkennung nur wenig günstig gestimmt ist. Trotzdem kann in einer Hinsicht auch er von dieser Strömung beeinflußt werden, und zwar besonders dann, wenn er den Versuch macht, seine Gedanken für andere niederzuschreiben. Das, was er zu sagen hat, wird dann leicht die Form eines Kampfes gegen die herrschenden Meinungen annehmen, oder er kann wenigstens einen solchen Kampf sich zum A u s g a n g s p u n k t seiner Untersuchungen wählen. Vor allem muß es ihm darauf ankommen, die S c h r a n k e n der wissenschaftlichen Richtung, die nichts anderes neben sich dulden möchte, aufzuzeigen. Damit will er gewissermaßen das Feld frei machen für das, worauf es ankommt. Ist ihm dies gelungen, so wird er am ehesten hoffen dürfen, auch für die Gedanken Gehör zu finden, die ihm am Herzen liegen. So wird in unserem Falle selbst der zunächst von der Naturwissenschaft und ihrer Methode sprechen, der meint, daß es noch anderes | als sie im wissenschaftlichen Leben gibt, und daß die Philosophie auch dieses andere zu beachten und zu verstehen hat. Solchen Ueberlegungen verdanken die folgenden Ausführungen die Form, in der sie auftreten. Aus der Ueberzeugung, daß der Mangel an philosophischem Verständnis für das Wesen der Geschichte zu den folgenschwersten Uebelständen in der Philosophie unserer Zeit gehört, sind sie entsprungen. Als der beste Weg, diese Ueberzeugung andern mitzuteilen, erschien ein Versuch, auf die Einseitigkeit des naturwissenschaftlichen Denkens hinzuweisen und zunächst einmal die Lücke aufzuzeigen, die selbst eine in höchster Vollendung gedachte, die körperliche und seelische „Natur“ gleichmäßig umfassende Wissenschaft notwendig in dem Ganzen der Erfahrungswissenschaften lassen muß. Erst wenn dies geschehen ist, wird es möglich sein, auch den Glauben zu zerstören, man könne mit einer n u r an den Naturwissenschaften orientierten Philosophie zur Klarheit über das vordringen, was wir mit einem nicht sehr glücklichen, aber schwer zu entbehrenden Ausdruck als unsere „Weltanschauung“ zu bezeichnen gewohnt sind. Es gilt mit andern Worten, die Methoden der Erfahrungswissenschaften in ihrer V i e l s e i t i g k e i t zu begreifen, bevor man die Aufgaben der wissenschaftlichen Philosophie in Angriff nimmt. Vielleicht gibt es einen kürzeren Weg, um zu einer umfassenden Weltanschauungslehre zu gelangen.4 4

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Ihn habe ich in der „Allgemeinen Grundlegung der Philosophie“ zu gehen versucht, die den ersten Teil meines Systems der Philosophie, 1921, bildet. Auch in diesem Buch sind jedoch dem Verhältnis der Philosophie zur Geschichte eingehende Erörterungen gewidmet. Vgl. besonders das sechste Kapitel über die Philosophie und die geschichtliche Kultur.

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Bei der heutigen Lage scheint der eingeschlagene Weg aber der sicherste zu sein. Daher unternehmen wir, um über das Wesen und die philosophische Bedeutung der historischen Wissenschaften zur Klarheit zu kommen, eine Untersuchung über die G r e n z e n d e r N a t u r w i s s e n s c h a f t . Ein solches Unternehmen ist jedoch nach mehreren Seiten hin Mißverständnissen ausgesetzt, die von vorneherein abzuwehren notwendig erscheint. Zunächst liegt nichts uns ferner als die Absicht, die moderne Naturwissenschaft selbst in ihrer Bedeutung irgendwie herabzusetzen. Gerade unsere Zeit hat auf diesem Gebiete so großartige Erfolge erlebt, daß jedes einzuschränkende Wort nur den Eindruck verständnisloser Nörgelei hervorrufen könnte. Und wenn die Naturwissenschaft die Popularität, die sie besitzt, vielleicht mehr den äußeren Erfolgen der Technik | als ihrem rein wissenschaftlichen Gehalt verdankt, so bleibt wahrlich, auch abgesehen von allen praktischen Errungenschaften, immer noch genug übrig, das nicht zu hoch gepriesen werden kann. Ganz unabhängig aber von dieser großen Bedeutung ist der Anspruch der Naturwissenschaft – auch wenn wir das Wort in dem denkbar weitesten Sinne nehmen, den wir später genauer festzustellen haben – als die e i n z i g e Wissenschaft angesehen zu werden. Man kann mit staunender Bewunderung die Leistungen moderner Naturforscher verfolgen, ja auch ihre Bedeutung für die Philosophie sehr hoch einschätzen und trotzdem meinen, daß es eine beklagenswerte Verarmung im geistigen Leben der Menschen herbeiführen muß, wenn die Meinung entsteht, daß durch naturwissenschaftliche Untersuchungen mit Einschluß der Psychologie das wissenschaftliche Leben überhaupt erschöpft sein soll, daß die Naturwissenschaft in a l l e n Fragen das entscheidende Wort zu sprechen habe. Also, nicht etwa gegen die Naturwissenschaften, sondern lediglich gegen ihre A l l e i n h e r r s c h a f t und vollends gegen den Versuch, ausschließlich auf sie eine Philosophie als Weltanschauungslehre aufzubauen, wendet sich unsere Untersuchung. Ein zweites Mißverständnis liegt in einer andern Richtung. Von „Grenzen des Naturerkennens“ zu reden, ist unserer Zeit geläufig, und gerade von naturwissenschaftlicher Seite aus sind Erörterungen unter diesem Titel populär gemacht worden. Da wird es gut sein, von vorneherein zu sagen, daß das Folgende mit Untersuchungen dieser Art so gut wie nichts gemeinsam hat. Es sollen sich, so hat man geglaubt, mit unabweisbarer Notwendigkeit im Zusammenhange naturwissenschaftlicher Forschungen Probleme ergeben, von denen sich zeigen lasse, daß sie ebenso notwendig für alle Zeiten unlösbar bleiben müssen, und über die zu grübeln, der menschliche Geist daher unterlassen möge. Ein besonnenes Denken sollte sich Problemen gegenüber, die in Wahrheit Probleme sind, zur Behauptung ihrer Unlösbarkeit

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nicht leicht entschließen. Das viel genannte „Ignorabimus“ ist nur das Produkt einer falschen Fragestellung. Es geht gerade aus jener einseitig naturwissenschaftlichen Denkweise hervor, die nicht zu begreifen vermag, daß für eine weiterblickende Auffassung dort Probleme von ganz anderer Art vorliegen, wo sie Grenzen des Naturerkennens und damit Grenzen des Erkennens überhaupt sieht. Doch es genügt, wenn wir hervorheben, daß unsere Absicht jedenfalls nicht auf das Konstatieren unlösbarer Probleme gerichtet ist. Im Gegenteil: n i c h t d a ß z u v i e l , s o n d e r n d a ß z u w e n i g g e f r a g t w i r d , ist unsere Sorge. Auf | Probleme möchten wir hinweisen, die im Zusammenhang naturwissenschaftlicher Untersuchungen nicht entstehen können, da sie erst für den sichtbar werden und der Lösung wert erscheinen, der sich vom Banne des einseitig naturwissenschaftlichen Denkens befreit hat. Daß sie diese Probleme nicht sehen, geschweige denn etwas zu ihrer Lösung beitragen kann, daß sie deshalb das Untersuchungsgebiet des menschlichen Geistes ungebührlich verengt, als Grundlage einer wahrhaft umfassenden Weltanschauungslehre also vollends untauglich ist, das ist unser Einwand gegen die Naturwissenschaft, das ist der Gesichtspunkt, unter dem wir von ihren Grenzen sprechen. Endlich ist noch eine Vermutung gleich an dieser Stelle abzuwehren. Wer für das Recht und die Eigenart der Geschichte eintritt, und vollends wer auf ihre Bedeutung für die Fragen der Weltanschauung hinweist, setzt sich leicht dem Verdacht aus, daß er dem H i s t o r i s m u s huldige. Auch diese Tendenz liegt uns ganz fern. Ja, die Meinung, es habe die Philosophie sich n u r auf geschichtliche Wissenschaften zu stützen oder sich gar in historisches Denken aufzulösen, bekämpfen grade wir auf das entschiedenste. Grenzen der Geschichte bestehen so gut wie Grenzen der Naturwissenschaft, und nur wegen der heute weit verbreiteten Ueberschätzung der Naturwissenschaft gehen wir von ihren Grenzen aus. Insbesondere gibt es eine „historische Weltanschauung“ ebensowenig, wie es eine naturwissenschaftliche Weltanschauung geben kann. Wir treten hier zunächst nur für das Recht und die Eigenart der Geschichte als E r f a h r u n g s w i s s e n s c h a f t ein. Wir wollen zeigen, daß eine naturwissenschaftliche Behandlung der Geschichte ihrem Wesen widerstrebt und ihren Sinn vernichtet. Die Philosophie selbst vermag weder die naturwissenschaftliche noch die geschichtliche Methode anzuwenden. Sie muß vielmehr gegenüber a l l e n Einzelwissenschaften ihre Selbständigkeit wahren. Der Historismus ist sogar für sie noch gefährlicher als der Naturalismus, denn die Geschichte gibt für sich allein nicht nur eine einseitige, sondern im Grunde genommen überhaupt keine „Weltanschauung“, die diesen Namen verdient. Aller Historismus kommt, wenn er konsequent ist, auf Relativismus, ja Nihilismus hinaus, oder er verdeckt seine Nichtigkeit und Leerheit

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dadurch, daß er willkürlich diese oder jene besondere Gestalt des geschichtlichen Lebens herausgreift, um aus ihr den Inhalt für eine Weltanschauung zu nehmen, deren Horizont dann noch viel enger zu sein pflegt als der naturalistische. Die Geschichte muß ihrem Wesen nach im Geschichtlichen und damit im zeitlich Be- | dingten sich halten. Die Philosophie hat immer die Aufgabe, über das Geschichtliche zum Zeitlosen oder Ewigen hinauszugehen. Wenn wir also auch aus den angegebenen Gründen den Kampf gegen die Einseitigkeit des methodologischen Naturalismus voranstellen, so soll doch gerade die Untersuchung über das Wesen der Geschichtswissenschaft uns dazu führen, daß wir einsehen: dann allein wird die Philosophie Fortschritte machen, wenn sie einerseits nicht n u r die Naturwissenschaften, sondern a u c h die Geschichtswissenschaften berücksichtigt, andererseits aber zugleich versucht, einen Standpunkt über b e i d e n zu gewinnen. Damit ist unser Unternehmen, die Grenzen der Naturwissenschaft aufzuzeigen, wohl vor Mißverständnissen genügend geschützt. Von einer Lücke in dem Ganzen der Erfahrungswissenschaften haben wir gesprochen, und diese Lücke soll im Interesse einer umfassenden Weltanschauungslehre aufgezeigt werden. Um zu diesem Ziele vorzudringen, stellen wir eine Untersuchung über die wissenschaftlichen M e t h o d e n an. Wieder kommen wir damit zu einem Punkte, an dem unsere Gedanken mit vollem Bewußtsein, wenn auch in anderer Hinsicht, von dem gegenwärtigen Zustande der Philosophie abhängig sind. In letzter Linie handelt es sich hier um Probleme, die die allgemeine Welt- und Lebensanschauung betreffen, wie es für die Philosophie überhaupt nur solche Probleme gibt. Unsere Untersuchung aber ist in allen ihren wesentlichen Teilen eine l o g i s c h e oder methodologische und erkenntnistheoretische, und sie kommt zu den allgemeinen Fragen der Welt- und Lebensauffassung erst da, wo die logische Betrachtung gewissermaßen von selbst in eine weitergreifende übergeht. Also nicht etwa wissenschaftliche Klarheit über die Welt- und Lebensauffassung selbst will dieses Buch geben, sondern nur die Mittel sucht es aufzuzeigen, mit denen eine allseitige und umfassende, durch keine naturwissenschaftlichen Vorurteile und Einseitigkeiten begrenzte Weltanschauungslehre zu gewinnen ist. Ein solches Verfahren kann leicht den Eindruck einer schwächlichen, unsicheren, entnervten Denkverfassung machen. Wozu das Hin- und Herreflektieren über den Weg zur Philosophie, statt eines kühnen Zugreifens? In der Tat, der logisch-erkenntnistheoretische Zug, der die moderne Philosophie charakterisiert, und der gerade in vielen ihrer besten Leistungen am deutlichsten hervortritt, hat vielleicht dazu beigetragen, sie dem Interesse weiterer Kreise zu entfremden. Auch dürfte für die | Philosophie in Gestalt der Erkenntnistheorie zunächst wenigstens nicht viel Hoffnung bestehen,

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wieder einen wesentlichen direkten Einfluß auf weitere Kreise zu erlangen. Diese Art des Philosophierens ist nicht nur schwierig, sondern sie muß dem flüchtigen Blicke auch in hohem Maße unergiebig für die Lösung der Weltanschauungsprobleme erscheinen. Daß es nun endlich mit den erkenntnistheoretischen Untersuchungen genug sei, das ist ja von verschiedenen Seiten verkündet worden. Ja, vielleicht wird sogar mancher, der glaubt, eine Lösung philosophischer Probleme nur mit Hilfe einer Untersuchung über das logische Wesen der Wissenschaft in Angriff nehmen zu können, selber bisweilen von dem Gefühl ergriffen werden, wie matt und farblos und nüchtern solche Bestrebungen im Vergleich mit den Gedankensystemen sind, in denen man zur Blütezeit des deutschen Idealismus ein Bild der Welt zu entwerfen und eine Lebensanschauung darauf zu gründen versucht hat. Welch ein Glanz und welch ein Zauber für Gefühl und Phantasie! Dagegen ist unter allen Theorien die Erkenntnistheorie besonders „grau“. Eine Stimmung des Neides mag uns überkommen, wenn wir lesen, wie Hegel den Mut der Wahrheit als die erste Bedingung des philosophischen Studiums proklamierte und seinen Hörern einschärfte, daß dem Mute des Erkennens Widerstand zu leisten, das verschlossene Wesen des Universums keine Kraft in sich habe. Man wird es vielleicht niemandem verdenken dürfen, wenn ihm bei der Erinnerung an diese Zeiten unsere so sehr „vorsichtige“ Philosophie nicht besonders begeisternd erscheint. Sollen wir nicht versuchen, die Vergangenheit wieder zurückzurufen und, alle Erkenntnistheorie überspringend, uns wieder mutig in das Erkennen des Universums stürzen? Sollen wir nicht endlich aufhören, „Analytiker“ zu sein, und zur „Synthese“ fortschreiten? Werden wir nicht gerade auf diesem Wege am sichersten auch allen naturwissenschaftlichen oder psychologischen ebenso wie allen geschichtlichen Einseitigkeiten entgehen? Wer die geistigen Bewegungen im neunzehnten Jahrhundert kennt, wird das nicht wollen. Vielleicht kommt einmal für die Philosophie wieder eine andere Zeit. Für heute scheint das erkenntnistheoretische Verfahren ihr ganz unentbehrlich. Wir wissen, nach wie kurzer Zeit jene stolzen Gedankensysteme des deutschen Idealismus ihre Herrschaft über die Geister verloren haben, und das erfolgte nicht nur aus äußerlichen Gründen. Der philosophische Mut hatte die Kraft des Universums doch erheblich unterschätzt. Eine Zeit der philosophischen Feigheit brach an, unter deren Nachwirkungen wir bis heute zu leiden haben. | Ja, es gibt gerade in unsern Tagen noch einen besonderen Grund, in der Philosophie vorsichtig zu sein und recht lange bei der Analyse zu verweilen, ehe man zur Synthese übergeht. Jene Periode des Rückschlags scheint, wenigstens in der jüngeren Generation, endgültig vorüber. Die Teilnahme an allgemeinen Weltanschauungs-Problemen wächst immer mehr. Die Zeit des

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reinen Spezialistentums, d. h. eines Wissenschaftsbetriebes, der jede umfassendere Ueberlegung grundsätzlich als „unwissenschaftlich“ meidet, hat, wenn nicht alles täuscht, ihren Höhepunkt überschritten. Wir wagen uns, mögen auch Naturwissenschaft und Psychologie dabei noch meist im Vordergrunde stehen, wieder an zentrale philosophische Fragen heran. Es hat gewiß lediglich eine äußerliche Bedeutung, wenn in unsern Tagen die Unfähigkeit zu weitergreifendem Nachdenken an d e n Stellen mit Hebeln und Schrauben eifrig herumhantieren darf, an denen sonst der menschliche Geist zu energischer Besinnung auf die Weltanschauungsprobleme sich zu sammeln, berufen war. Ueber die Forderung, man müsse, ehe man sich an die philosophischen Probleme mache, ihnen erst in einer der speziellsten Spezialwissenschaften, in der experimentellen Psychologie, die „exakte“ Grundlage schaffen, kann schnell zur Tagesordnung, d. h. zur Philosophie übergegangen werden. Aber gerade weil diese „unexakte“ Stimmung, in der eine Philosophie allein gedeihen kann, nämlich die antispezialistische Stimmung, wieder aufkommt, ist jedes unkritische Darauflosgehen um so bedenklicher. Nur vorsichtig und langsam, jeden Schritt überlegend und rechtfertigend, werden wir dauernd vorwärts kommen. Vor jede Behauptung über die Sache stellen wir eine Untersuchung darüber, inwiefern die Wissenschaft hier das Recht habe, etwas auszusagen. Jedes Problem der allgemeinen Welt- und Lebensanschauung verwandelt sich daher für uns zunächst in ein Problem der Logik, der Erkenntnistheorie. Das kann man vielleicht als eine Art Zugeständnis bezeichnen, das wir dem zum Teil noch spezialistischen Zeitgeiste machen, denn unter allen Teilen der Philosophie trägt die Erkenntnistheorie am meisten den Charakter einer Spezialwissenschaft. Wie es sich aber damit auch verhalten möge: der Mut des Erkennens ist uns nun einmal gebrochen, wenigstens der Mut in dem Sinne, wie Hegel ihn besaß. Erkenntnistheorie ist für uns Sache des guten Gewissens geworden, und wir mögen niemand hören, der eine Rechtfertigung seiner philosophischen Gedanken durch sie unterläßt. Vielleicht erscheint dies späteren, glücklicheren Zeiten als ein Zeichen der Schwäche. Die heute schon über diese „Schwäche“ sich hinaus- | wähnen, haben den Beweis noch nicht erbracht, daß auch auf anderem Wege die philosophische W i s s e n s c h a f t zu fördern ist. Die metaphysischen Konstruktionen des Weltalls, die wir in unsern Tagen erleben müssen, zeigen entweder eine bedenkliche Aehnlichkeit mit älteren, meist viel lehrreicheren Gedankengebilden, oder sie sind Produkte des übelsten Dilettantismus. Auch der Umstand, daß manche jetzt wenigstens die große Ve r g a n g e n h e i t kennen und sich daher statt an die schwächlichen Modernisierungen lieber an die Originale, z. B. an dieses oder jenes System des deutschen Idealismus, halten, darf uns in unserer erkenntnistheoretischen Vorsicht nicht

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irremachen. Was nicht von Grund aus selbständig erworben, sondern aus der Vergangenheit lediglich aufgenommen ist, kann in unserer Zeit nicht wirklich „lebendig“ werden. Dogmatische Restaurationsversuche sind philosophisch ebenso wertlos wie die Beschränkung auf die exakte Spezialwissenschaft. Die Verächter erkenntnistheoretischer Untersuchungen müssen heute alle als Schwärmer erscheinen, die der Gewinnung einer umfassenden Welt- und Lebensanschauungslehre auf wissenschaftlicher Grundlage noch gefährlicher sind, als jene allzu genügsamen und bescheidenen Naturen, die mehr als ein Spezialistentum in der Wissenschaft überhaupt nicht wollen. So hat auch die Philosophie unserer Zeit ihre Scylla und ihre Charybdis. Zwischen dogmatischer Schwärmerei und skeptischem oder borniertem Spezialistentum hindurch muß sie ihren Weg machen, oder sie wird überhaupt keinen Weg machen. Wir brauchen nicht jenen Mut der früheren Zeit, der bisweilen ein Uebermut war. Wir brauchen nicht „kühne“ metaphysische Konstruktionen des Weltalls, die sich auf irgendeine nicht weiter zu begründende „Intuition“ stützen. Solche Versuche können die Philosophie, die wissenschaftliche Weltanschauungslehre sein will, nur in Mißkredit bringen. Wir brauchen vielmehr Mut, uns immer wieder auf den beschwerlichen und dornenvollen Weg der Logik und Erkenntnistheorie zu wagen, den Platon und Kant gegangen sind. Hier liegen die wichtigsten Aufgaben für eine Philosophie, die in bewußtem Zusammenhange mit den großen Denkern der Vergangenheit, unbekümmert um die Moden des Tages, an den alten Problemen weiterarbeitet. Wenn dies geschieht, besteht auch keine Gefahr, daß die großen Z i e l e aus dem Auge verloren werden, die zu erreichen, stets als der eigentliche Sinn philosophischen Forschens angesehen worden ist. Auch unser Weg soll zur Klarheit über die Fragen der umfassenden Welt- und | Lebensauffassung hinführen. Das ist eine Aufgabe, die keine Zeit vernachlässigen darf. Niemals über das Ziel, nur über den Weg können in einer Philosophie, die diesen Namen verdient, verschiedene Meinungen entstehen. Weil aber der Weg, den wir hier einschlagen, längere Zeit über das letzte Ziel, dem wir zustreben, im Unklaren lassen kann, wird es gut sein, von vorneherein auch auf dies Ziel hinzuweisen, und zwar in einer Art, die unabhängig ist von der besonderen Form, in die wir später unser Problem zu kleiden, und in der wir es zu lösen versuchen wollen. Wir möchten mit andern Worten andeuten, zu welchen von den philosophischen Fragen unsere Arbeit in nächster Beziehung steht, die immer von neuem das Nachdenken des menschlichen Geistes beschäftigt haben. Dieses Nachdenken bewegt sich in großen Gegensätzen. Für uns handelt es sich darum, den Gegensatz, soweit er die Bedeutung des Historischen für eine philosophische Weltanschauungslehre betrifft, in möglichst bekann-

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ter, ja trivialer Form festzustellen. Wir knüpfen daher wieder an die bereits erwähnten Philosophen an, deren Stellung zum historischen Leben für ihre Weltanschauung besonders charakteristisch ist. Von ihnen hat Schopenhauer ein p o s i t i v e s Verhältnis zur Geschichte überhaupt nicht. Er lehnt sie als Wissenschaft ab und scheidet daher für unsere Betrachtung aus. Hegel und Comte dagegen können uns als Typen für die zwei Richtungen gelten, in denen das große Entweder-Oder der Weltanschauung gerade in der Art, wie die Geschichte von ihnen behandelt wird, seinen Ausdruck findet.5 Was ist für Hegel die Weltgeschichte? Die ursprüngliche Geschichte, in der der Autor selbst erzählt, was er erlebt hat, und allenfalls das Erlebte durch Berichte anderer ergänzt, oder in der auch eine Uebersicht über die ganze Geschichte eines Volkes, eines Landes, oder sogar der Welt gegeben wird, genügt Hegel nicht. Auch die verschiedenen Arten der reflektierenden Geschichte, die pragmatische, die die Vergangen- | heit zur Gegenwart in Beziehung setzt, die kritische Untersuchung der Geschichte auf ihre Glaubwürdigkeit, die Entwicklungsgeschichte gewisser Sonderbegriffe in Kunst, Religion, alles das kann den Philosophen nicht befriedigen. Für ihn ist es eine Voraussetzung, daß die Geschichte nicht einfach bloß ablaufe, sondern einen S i n n habe, daß Ve r n u n f t die Welt beherrsche. Den Plan in der Geschichte aufzuzeigen und darzustellen, ihren „Geist“ zu erkennen, das ist die eigentlich philosophische Aufgabe. Und weil nun für Hegel das Wesen des Geistes Freiheit ist im Gegensatz zur Materie, der Geist aber nur frei ist, insofern er sich selbst frei weiß, so will Hegel die Weltgeschichte zeigen als den Prozeß, in dem der Geist zum Bewußtsein seiner selbst und damit zur Freiheit kommt. Auf diesen Werdegang wird jedes historische Ereignis bezogen und dadurch das Ganze zu einer Einheit zusammengeschlossen. Die Hegelsche Geschichtsphilosophie gilt heute manchem für veraltet und bis zu einem gewissen Grade vielleicht mit Recht. Zunächst steht und fällt sie, wie Hegel selbst sehr wohl weiß, mit seinem eigenen metaphysischen System, das den Sinn der Geschichte inhaltlich bestimmt. Aber davon abgesehen wird man geneigt sein, noch weiter zu fragen, wer uns verbürge, 5

Der Unterschied von Logik der Geschichte und Geschichtsphilosophie im üblichen Sinne bleibt in diesen einleitenden Bemerkungen absichtlich unberücksichtigt. In welche Teile die Philosophie der Geschichte zerfällt, wenn wir das Wort im umfassendsten Sinne nehmen, habe ich in meiner Abhandlung über „Geschichtsphilosophie“ zu zeigen versucht. (Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer. 1905, 2. Aufl. 1907. Diese Arbeit ist 1924 als selbständiges Buch erschienen unter dem Titel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine Einführung. 3., umgearbeitete Aufl.) Mit Rücksicht auf Mißverständnisse, wie sie sich sogar bei E. Troeltsch finden, möchte ich hier nur bemerken, daß für mich die Philosophie der Geschichte nicht mit der Logik der Geschichte zusammenfällt, und daß es schon aus diesem Grunde nicht angeht, mich zu den Vertretern einer bloß „formalen“ Geschichtsphilosophie zu rechnen.

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daß überhaupt ein „Sinn“, eine „Vernunft“, ein „Plan“ in der Geschichte vorhanden und für den Menschen erkennbar sei. Hiermit ist dann die Möglichkeit jeder Behandlung der Geschichte, die der Hegels im Prinzip ähnlich sieht, zum mindesten in Frage gestellt; und solange ihr ein erkenntnistheoretischer Unterbau fehlt, muß sie solchen Einwürfen gegenüber machtlos sein. Völlig anders mutet uns Comtes Stellung zur Geschichte an. Dabei müssen wir uns freilich auf eine Tendenz seines Denkens, die neben andern besteht, beschränken und nicht fragen, ob er sie überall konsequent durchgeführt hat. Wir dürfen das, denn diese Tendenz allein ist in der weiteren Entwicklung der Geschichtsphilosophie wirksam geworden. Wir können sie kurz die naturalistische nennen. Bei der Geschichte handelt es sich für Comte darum, daß sie ebenso wie die andern Wissenschaften „positiv“ werden soll. Eine positive Forschung aber kennt nur Tatsachen und ihre Gesetze. Zu dieser Einsicht haben sich die Naturwissenschaften größtenteils bereits durchgerungen. Es kommt darauf an, daß man endlich im geschichtlichen Leben der Menschheit ebenfalls nur die Tatsachen und die Naturgesetze sucht. Das „Gesetz“ aller historischen Entwicklung glaubt Comte dann ebenso genau zu kennen, wie Hegel um den „Sinn“ der Geschichte weiß. | Auch Comtes Soziologie gegenüber wird man nicht nur darauf hinweisen, daß sie mit seiner bekannten Formel von den drei Stadien, dem theologischen, dem metaphysischen und dem positiven, steht und fällt, sondern auch hier wird sich die erkenntnistheoretische Frage nicht abweisen lassen, ob es denn überhaupt Naturgesetze für die Geschichte gebe, oder zum mindesten, ob solche Gesetze für den menschlichen Geist erkennbar seien. Comte hat diese Frage nicht gestellt, ja, er hat die logische Struktur seines Grundgesetzes in hohem Maße unklar gelassen, und nur dem in einem einseitig naturwissenschaftlichen Denken Befangenen kann dies weniger anfechtbar erscheinen als Hegels „unkritische“ Art. In Wahrheit ist Comtes Geschichtsphilosophie der Erkenntniskritik gegenüber genau so wehrlos wie die des deutschen Idealisten, so „modern“ sie vielen heute noch scheinen mag. Die Philosophie als Wissenschaftslehre muß daher z u n ä c h s t sowohl Hegels als auch Comtes Art, die Geschichte philosophisch zu behandeln, ablehnen. Dadurch ist aber nicht ausgeschlossen, daß Hegel und Comte uns dennoch als typische Vertreter für die beiden Richtungen in der Geschichtsphilosophie gelten können, zwischen denen auch unsere Untersuchung eine Entscheidung zu treffen haben wird. Im Anschluß an ihre Lehren wollen wir uns daher das Problem, um das es sich handelt, klarmachen. Es fehlt an Schlagworten, um den Gegensatz in seiner allgemeinsten Form eindeutig zu bezeichnen. Für die Richtung, für die Comte uns typisch ist,

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kann man allenfalls das Wort Naturalismus verwenden. Es paßt auf das Bestreben Comtes, die Geschichte zur Soziologie, d. h. zu einer Wissenschaft zu machen, die nach Art der Naturwissenschaft verfährt. Ob Comtes „Gesetz“ von den drei Stadien seinem logischen Wesen nach in Wahrheit ein Naturgesetz ist, geht uns zunächst nichts an. Wie aber sollen wir die andere Richtung nennen? Das Wort Idealismus ist zu unbestimmt und vieldeutig, um ohne nähere Erklärung gebraucht zu werden. Wir begnügen uns deshalb damit, den Gegensatz durch die Negation zu bestimmen, was für diese vorläufige Orientierung ausreicht. Wir können auch die Begriffe der Immanenz und der Transzendenz einführen. Es handelt sich nämlich darum, daß die eine Denkart sich lediglich an eine Welt halten will, von der sie glaubt, daß sie ihr unmittelbar als Wirklichkeit sinnlich gegeben ist. Die andere Richtung dagegen sucht die Wirklichkeit, in der wir leben, die immanente Welt, die wir sehen und mit Händen greifen können, zu einer anderen in Beziehung zu setzen, die uns jedenfalls nicht sinnlich gegeben ist, | ja sie meint, daß der Schwerpunkt des Lebens in einem Sichversenken in die Beziehungen der natürlichen Sinnenwelt zu jener anderen, übernatürlichen oder übersinnlichen Welt zu suchen sei. Es versteht sich von selbst, wie in der Stellung zur Geschichte, die Comte einerseits, Hegel andererseits hat, diese verschiedenen Ansichten zum Ausdruck kommen müssen, falls sie konsequent entwickelt werden. Hier der Begriff einer in sich geschlossenen, sich selbst genügenden, von immanenten Gesetzen beherrschten Realität, dort die Wirklichkeit als Ablauf von Ereignissen, der gegliedert wird durch die Beziehungen, in denen er zu einem transzendenten Prinzip steht. Hier daher die Welt, weil unter allgemeinen Gesetzen stehend, eine N a t u r, die im Grunde genommen immer dieselbe ist, ein K r e i s l a u f gleichgültig gegen die Fülle der Einzelgestaltungen, die entstehen und vergehen und als ein Vergängliches nichtig sind. Dort die Wirklichkeit, sinnvoll gegliedert im besonderen mit Rücksicht auf das transzendente Prinzip, eine einmalige E n t w i c k l u n g verschiedener Stufen, von denen jede in ihrer Eigenart ihre Bedeutung hat. Wenn der Naturalismus im Recht ist, dann bleibt in der Tat die Geschichtsforschung nur in Form der Soziologie möglich, d. h. als Lehre von den allgemeinen N a t u r g e s e t z e n , die gleichmäßig jeden Ablauf der geschichtlichen Wirklichkeit beherrschen. Anders, wenn die empirische Wirklichkeit in Beziehung gesetzt werden darf zu einer Welt „über“ ihr. Dann gewinnt auch das E i n m a l i g e in seiner individuellen E i g e n a r t Interesse, je nach der Stellung, die es zu jener anderen Welt einnimmt. Dann hat es einen Sinn, den Plan oder die Vernunft des Ganzen der geschichtlichen Entwicklung zu deuten.6 6

Es sei schon hier bemerkt, daß der für uns wichtige Gegensatz sich nicht auf den Unterschied von Natur und Geist zurückführen läßt, solange man unter „Geist“ das psychische Sein oder das immanente reale Seelenleben versteht. Dieses kann man ebenso wie die Körper unter den

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Am klarsten wird vielleicht der Gegensatz der Ansichten an einem speziellen Problem. Gibt es einen F o r t s c h r i t t in der Geschichte? Das ist eine von den verschiedensten philosophischen Richtungen oft verhandelte Frage, deren Beantwortung keine Philosophie des historischen Lebens sich ganz entziehen kann. Auch Comte hat seine soziale | Dynamik als Lehre vom Fortschritt bezeichnet. Wir müssen aber doch wohl das Wort Fortschritt in dem Sinne verstehen, daß, wo etwas das Fortgeschrittene genannt wird, damit ein We r t unterschied zwischen verschiedenen Zuständen gemacht werden soll, so daß der Fortschritt zugleich eine We r t s t e i g e r u n g bedeutet. Sonst würde die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte kein sonderliches Interesse bieten, denn daß alles in der Geschichte sich verändert, ist selbstverständlich. Kann der Naturalismus, wenn er konsequent verfährt, solche Wertunterschiede der verschiedenen Veränderungsstufen machen, die mehr als willkürliche Bedeutung haben? Kann vollends das Gesetz Comtes, falls es in Wahrheit ein Naturgesetz sein soll, zugleich ein Fortschrittsgesetz sein? Muß jede rein immanente Wertung, über die der Naturalismus seinem Wesen nach nicht hinauskommt, nicht als etwas Vergängliches, ja für die Wissenschaft Nichtiges erscheinen? Oder muß man sich zum mindesten nicht darauf beschränken, zu sagen, daß Fortschritt das ist, was nach naturnotwendigen Gesetzen kommen wird, und daß das Spätere daher unter allen Umständen auch das Fortgeschrittene ist? Verliert dann aber nicht das Wort Fortschritt den angegebenen Sinn als Wertsteigerung? Hier ist noch nicht der Platz, solche Fragen zu entscheiden. Nur das soll hervorgehoben werden, daß für den Naturalismus eine Schwierigkeit besteht, die für die andere Richtung, da sie die Wirklichkeit zu einer „außerhalb“ ihr liegenden Welt in Beziehung setzt, nicht vorhanden ist. Denn die transzendente Welt gibt einen M a ß s t a b für eine mehr als willkürliche und vorübergehende Wertung der verschiedenen Zustände und damit die Möglichkeit, den Fortschritt in Wahrheit als eine Wertsteigerung zu verstehen. Dem Einmaligen und Besonderen ist dann seine Stelle anzuweisen als Stufe im Entwicklungsprozeß nach einem Ziele hin, das nicht nur selbst objektive Bedeutung hat, sondern zugleich diese Bedeutung auch auf das Ganze, durch das es verwirklicht wird, überträgt. So ist bei der Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte die Entscheidung über immanente oder transzendente Weltanschauung nicht zu umgehen. Wie gesagt, das eigentliche Thema unserer Untersuchung bildet diese Frage nicht, und das Problem ist hier absichtlich nur ganz im allgemeinen, Begriff des natürlichen Kreislaufes bringen. Erst wenn das Wort „Geist“ zur Bezeichnung eines transzendenten Faktors oder eines We r t p r i n z i p s dienen soll, bekommt der Unterschied von Natur und Geist eine Bedeutung für die hier wesentlichen Fragen. Geistig ist dann mehr als psychisch. Vgl. dazu in meinen „Problemen der Geschichtsphilosophie“ besonders den Abschnitt: Natur und Geist, S. 13 ff.

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in einer die verschiedensten Ausprägungen umfassenden und daher noch unbestimmten Form angedeutet worden. Aber schließlich soll unsere Untersuchung uns an einen Punkt führen, wo wir genötigt sind, auch dazu Stellung zu nehmen, ob wir mit einer immanenten Welt- | anschauung auskommen, oder ob nicht ein Transzendentes unentbehrlich ist. Dann wird der Sinn dieser Frage noch genauer zu bestimmen sein. Daß wir notwendig an einen solchen Punkt gelangen, scheint diesen logischen Untersuchungen ihre allgemeine philosophische Berechtigung zu verleihen, und daher sei endlich auch jetzt schon wenigstens eine Andeutung über die Richtung vorweggenommen, in der unsere letzte Entscheidung sich bewegen muß. Eine Behandlung der Geschichte vom naturalistischen Standpunkt aus erscheint uns als ein prinzipieller Irrweg, wie sich nach dem vorher Gesagten von selbst versteht. Wir werden eingehend zu zeigen haben, daß Geschichtsforschung als Naturwissenschaft eine in sich unmögliche, logisch sich widersprechende Aufgabe ist. Damit ist zugleich gesagt, daß unser Standpunkt Verwandtschaft zeigt mit jener anderen, supranaturalen Denkweise, für die Hegel uns Typus war. Allerdings, nur Ve r w a n d t s c h a f t . Die meisten bisher gemachten Versuche in dieser Richtung und insbesondere auch das System Hegels leisten nicht das, was sie leisten sollen, ja, konsequent zu Ende gedacht, müssen sie zu einem Resultat führen, dem alle Unmöglichkeiten des Naturalismus anhaften. Aber das meinen wir in der Tat, wenn überhaupt Geschichte als Wissenschaft getrieben werden soll, so sind transzendente Annahmen unentbehrlich. Ja, wir werden zeigen können: ein rein immanenter Naturalismus ist überhaupt logisch undurchführbar. Die Wissenschaftslehre zwingt uns zu der Anerkennung, daß auf transzendenten Voraussetzungen j e d e Wissenschaft ruht. Die Naturwissenschaften mögen sich darüber täuschen können, weil der Gebrauch des Transzendenten in ihnen so selbstverständlich geworden ist, daß man ihn meist völlig übersieht. Die historischen Wissenschaften werden sich auf ihre transzendenten Faktoren ausdrücklich zu besinnen haben. In dem Nachweis ihrer Unentbehrlichkeit mündet die Logik in eine allgemeine Weltanschauungslehre. Diese Andeutungen können genügen, um im a l l g e m e i n e n über Charakter und Ziel unserer Untersuchung zu orientieren und den philosophischen Rahmen zu zeichnen, innerhalb dessen sie sich bewegen soll. Nun wenden wir uns der Formulierung unseres s p e z i e l l e n P r o b l e m s zu. Schon die Umwandlung einer allgemeinen Frage der Welt- und Lebensauffassung in eine logische erschien als Beschränkung unserer Aufgabe. Wir müssen darin jetzt noch einen Schritt weiter gehen. Nicht in einem | umfassenden und nach allen Seiten hin ausgeführten S y s t e m der Wissenschaftslehre stellen wir die Grenzen der Naturwissenschaft fest, um von dort aus zur Klarheit über das Wesen der Geschichte vorzudringen. Insbesondere

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beabsichtigen wir nicht, hier das viel behandelte Problem einer „Klassifikation“ a l l e r Wissenschaften zu lösen, sondern nur einen b e s o n d e r e n F a l l greifen wir heraus. Doch haben wir ihn so gewählt, daß sich daran das allgemeine logische Prinzip zeigen und die wesentlichen Fragen systematisch behandeln lassen. Das gilt sowohl für die Grenzen der Naturwissenschaft als auch für die logischen Grundbegriffe der historischen Disziplinen. Es ist der Logik geläufig, zwischen wissenschaftlicher U n t e r s u c h u n g und D a r s t e l l u n g zu scheiden. Nimmt man das zweite Wort nicht in einem äußerlichen Sinne, wonach es nur die sprachliche Formulierung der Gedanken bedeutet, sondern versteht man darunter die logische Form, die mit Notwendigkeit die E r g e b n i s s e der wissenschaftlichen Arbeit annehmen, so können wir sagen, daß es uns hier nicht darauf ankommt, den Prozeß des wissenschaftlichen Forschens und Beweisens in seiner logischen Struktur darzulegen, sondern daß wir im wesentlichen nur eines der D a r s t e l l u n g s m i t t e l logisch zu verstehen suchen. Das ist im folgenden sorgfältig im Auge zu behalten, wenn man die Absicht unserer Untersuchung nicht von vorneherein mißverstehen will. Für die Form, in der die Resultate der wissenschaftlichen Untersuchung gewissermaßen niedergelegt werden, brauchen wir in der Naturwissenschaft den Namen des B e g r i f f s . Begriffsbildung in unserem Sinne bildet immer einen wenigstens relativen A b s c h l u ß einer Untersuchung, d. h. im Begriff stellt sich das als fertig dar, was durch die Forschung geleistet ist. Insofern als jede naturwissenschaftliche Arbeit sich auf Begriffsbildung als ihr Z i e l richtet, scheint eine Einsicht in ihr Wesen uns in hohem Grade geeignet, das Wesen der naturwissenschaftlichen Methode überhaupt hervortreten zu lassen, insbesondere soweit ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Behandlung der Geschichte in Frage steht. Eine Untersuchung darüber, auf welchen Gebieten die Bildung von Begriffen nach naturwissenschaftlicher Methode einen Sinn hat, und auf welchen Gebieten sie diesen Sinn notwendig verlieren muß, d. h. also eine Untersuchung über d i e G r e n z e n d e r n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n B e g r i f f s b i l d u n g haben wir uns daher, unserer früher angedeuteten Absicht entsprechend, zur Aufgabe gemacht. Sie soll uns zunächst die L ü c k e aufzeigen, die auch eine zu höchster Vollkommenheit gebrachte Natur- | wissenschaft mit Einschluß der Psychologie als der Wissenschaft vom „natürlichen“, empirisch realen Seelenleben notwendig in unserm Wissen lassen muß, und so auf das hinführen, was durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung, selbst wenn nur die Ziele der Erfahrungswissenschaften in Betracht kommen, nicht bewältigt werden kann. Ist diese Frage erledigt, so suchen wir zu zeigen, welche Art von Wissenschaft geeignet ist, die Lücke in den E r f a h r u n g s w i s s e n s c h a f t e n aus-

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zufüllen. Wir glauben, daß den h i s t o r i s c h e n Disziplinen diese Aufgabe zufällt. In den positiven Ausführungen über die Geschichte werden wir besonders das hervorzuheben haben, was den logischen G e g e n s a t z der beiden Methoden klarmacht. Dadurch wird zunächst die prinzipielle Bedeutung der Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung noch mehr hervortreten. Sodann aber muß der Gegensatz auch Licht werfen auf wesentliche Eigentümlichkeiten des historischen Verfahrens selbst und besonders wieder der historischen Darstellung oder des „historischen Begriffes“, wenn dieser Ausdruck im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Begriff gestattet ist. Doch ist darauf zu achten, daß wir hier unter historischen Wissenschaften zunächst noch nicht die Geschichte im engeren Sinne meinen. Wir können bei den Worten „historisch“ und „Geschichte“ in den grundlegenden Feststellungen dieses Buches nur logische, und das heißt f o r m a l e Begriffe im Auge haben, also nicht an die durch ihr besonderes Material charakterisierten historischen Wissenschaften denken. Wer hierauf nicht achtet, wird den Kernpunkt unserer Ausführungen ebensowenig verstehen wie der, welcher nicht an die Beschränkung der Untersuchung auf den Begriff denkt, und deshalb seien sowohl über den Plan einer „Logik der Geschichte“ im allgemeinen als auch über den Sinn des Wortes „Begriff“ in den historischen Disziplinen im besonderen noch einige Bemerkungen vorausgeschickt, die von vorneherein Mißverständnissen über das Ziel unseres Unternehmens vorbeugen sollen. Der Begriff der „Geschichte“, mit dem wir ihre Logik zu b e g i n n e n haben, war früher, z. B. in der Philosophie von Christian Wolff und der deutschen Aufklärung, durchaus üblich, so wenig man auch das Problem sah, das uns beschäftigt. In neuerer Zeit hat man sich an eine Terminologie gewöhnt, die das Wort Geschichte nur in einem engeren Sinne verwendet. Deshalb kann manches von dem, was wir sagen, paradox klingen. Aber das ist im Interesse einer reinlichen Herausarbeitung der logischen Probleme nicht zu vermeiden, und wir haben um so weniger Grund, solche scheinbaren Paradoxien zu scheuen, als wir nur einen | alten, wohl begründeten Sprachgebrauch wieder aufnehmen. Falls wir über das Verhältnis der Geschichte zur Naturwissenschaft l o g i s c h e Klarheit gewinnen wollen, darf der Begriff des Historischen, von dem wir dabei ausgehen, nur ein formaler sein. Das sollte man eigentlich für selbstverständlich halten, und doch scheint gerade die Anerkennung dieses l e i t e n d e n P r i n z i p e s u n s e r e r g a n z e n U n t e r s u c h u n g auf den stärksten Widerstand zu stoßen. Von allem möglichen wird in der „Logik der Geschichte“ geredet, nur nicht von ihrer logischen Struktur. Mit solchen weitverbreiteten, aber darum nicht begründeten Gewohnheiten wollen wir prinzipiell brechen, ja, darin sehen wir den

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Hauptwert unseres Unternehmens. Wir möchten für die Logik ein fast ganz von ihr vernachlässigtes Gebiet erobern, indem wir fragen, worin der Begriff der Geschichte als W i s s e n s c h a f t besteht. Nur die Antwort auf diese Frage hat ein selbständiges logisches Interesse, und der Begriff der Wissenschaft läßt sich logisch nur f o r m a l bestimmen. Aus diesem Grunde dürfen wir zu B e g i n n unserer Arbeit die Geschichte besonders auch nicht als „Geisteswissenschaft“ nehmen, wie das üblich ist. Ja, sogar den, wie wir später sehen werden, sachlich am meisten zutreffenden Ausdruck „Kulturwissenschaft“ haben wir v o r l ä u f i g zu meiden, denn diese und andere Termini bezeichnen alle das M a t e r i a l , das die Geschichte untersucht, nicht die l o g i s c h e Struktur einer historischen Darstellung, die uns hier interessiert. Wie man das Recht einer solchen F r a g e s t e l l u n g mit wissenschaftlichen Gründen bestreiten will, ist nicht einzusehen. Mit anders orientierten Untersuchungen über das Wesen der Geschichte braucht ihre Logik darum nicht, wie man zu glauben scheint, in K o n f l i k t zu kommen. Zum mindesten hat sie n e b e n ihnen einen theoretischen Eigenwert. Gewiß kann man auch von den Unterschieden in den S t o f f e n ausgehen, die die Wissenschaften behandeln, um dann zu zeigen, wie z. B. die Kenntnisnahme des s e e l i s c h e n Lebens in der Geschichte andere Schwierigkeiten bietet und deshalb andere Methoden der Untersuchung verlangt als die Kenntnisnahme der körperlichen Natur. Dabei mag man dann mit Recht Begriffe wie den des historischen „Verstehens“ zum Unterschiede von dem des naturwissenschaftlichen „Erklärens“ in den Vordergrund stellen. Indem wir eine l o g i s c h e Untersuchung der Geschichte versuchen, bestreiten wir die Berechtigung solcher Unterscheidungen in keiner Weise. Ja, auch wir werden schließlich die Probleme, die dabei auftauchen, ein- | gehend behandeln, und es bedeutet schon aus diesem Grunde ein Mißverständnis unserer Bestrebungen, wenn man sagt, daß sie n u r formale Geschichtsphilosophie enthalten. Der I n h a l t der Geschichte ist uns ebenso wichtig wie ihre F o r m . Von den sachlichen Eigentümlichkeiten des historischen Materials wird daher s p ä t e r ausführlich zu reden sein. Wir können derartige Fragen nicht zum A u s g a n g s p u n k t e nehmen, weil wir eben L o g i k der Geschichte treiben wollen. Daß man bisher nicht gewöhnt ist, das Problem der Geschichtswissenschaft logisch oder formal zu behandeln, und deshalb logisch sekundäre Fragen voranstellt, ist gewiß kein Einwand gegen unsern Versuch. Am wenigsten kann eine bloß „historische“ Uebersicht oder eine Klassifikation der verschiedenen Einzeldisziplinen nach der Verschiedenheit ihrer S t o f f e , wie sie in manchen Systemen der „Logik“ üblich ist, oder das Bestreben, diejenigen Wissenschaften möglichst nahe zusammenzubringen, deren Vertreter in besonders hohem Maße bei ihrer Arbeit aufeinander an-

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gewiesen sind, das letzte Ziel einer P h i l o s o p h i e der Wissenschaften sein. So leicht darf man sich die Sache schon deswegen nicht machen, weil man auf diesem Wege nie darüber zur Klarheit kommen wird, inwiefern die Geschichte als wissenschaftliche E r k e n n t n i s zu gelten hat. Freilich ist manches von dem, was man heute „Geschichte“ nennt, nicht Wissenschaft oder m e h r als Wissenschaft, und worauf das beruht, ist gewiß ebenfalls ein Problem der Wissenschaftslehre. Aber es gilt von a l l e n Wissenschaften, daß sie so, wie sie als historische Tatsachen vorliegen, in k e i n logisches Schema restlos eingehen, denn es wirken in aller wissenschaftlichen Forschung mehr oder weniger auch atheoretische Motive mit, und gerade das, wodurch die Geschichte über die wissenschaftliche Erkenntnis eventuell hinausgeht, oder auch hinter ihr zurückbleibt, kann erst dann verstanden werden, wenn man den Begriff der Geschichte als W i s s e n s c h a f t vorher auf logischem Wege bereits gefunden hat. Es schadet, um endlich noch dies zu erwähnen, auch gar nichts, falls die Logik dazu kommen sollte, das in einen formalen Gegensatz zu bringen, was in dem Wissenschaftsbetriebe, wie er als Faktum vorliegt, stets auf das engste miteinander verknüpft ist. Der Vorwurf, daß eine solche Betrachtungsweise die Wissenschaften in „unnatürlicher“ Art „zerreiße“, wäre ebenso berechtigt wie der Vorwurf, daß der Anatom einen Körper zerschneide, um ihn wissenschaftlich zu begreifen. Eine Gliederung der Wissenschaften nach ihren Stoffen oder nach ihren | alogischen Bestandteilen überhaupt mag gewiß auch ihre Bedeutung haben, aber sie liegt eben nicht auf dem Wege einer L o g i k der Geschichte, ja, sie kann sogar als Vorarbeit dafür erst dann brauchbar werden, wenn man, mit logischen Begriffen schon ausgerüstet, sie zu benutzen versteht. Nur auf logischem Wege wird man den Unterschied von Naturwissenschaft und Geschichte sogar mit Rücksicht auf ihre sachlichen Eigentümlichkeiten philosophisch verstehen, d. h. begreifen, was die Geschichtswissenschaft für eine erkenntnistheoretisch fundierte Philosophie bedeutet. Der Umstand, daß sich die Wissenschaften unter andern Gesichtspunkten auch anders einteilen lassen, als es hier geschieht, bedeutet für unser Unternehmen nicht das Geringste. Den logischen Begriff der Geschichte in dem später zu verwendenden, denkbar umfassendsten formalen Sinn kann selbstverständlich erst die folgende Untersuchung bestimmen. Hier sei nur noch bemerkt, daß entsprechend der Beschränkung bei der Untersuchung der Naturwissenschaft es uns auch für die Geschichte weniger auf den Prozeß des Forschens als auf die Form der Darstellung, d. h. auf die logische Struktur der geschichtswissenschaftlichen E r g e b n i s s e ankommt. Diese allein können die Lücken im naturwissenschaftlichen Begreifen der Wirklichkeit ausfüllen und sind daher das eigentlich philosophisch Interessante. Wir werden aus diesem

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Grunde es auch nicht als Einwand gegen unsere Theorie ansehen, wenn man bestreitet,7 daß der wissenschaftliche B e w e i s in den sogenannten „Geisteswissenschaften“ nach anderer Methode geführt wird, oder daß die Auffindung seiner A u s g a n g s p u n k t e sich anders vollzieht als auf dem Gebiete der Naturwissenschaften. Solche Probleme stehen hier gar nicht zur Diskussion. Von ihnen wäre in andern Teilen eines Systems der Wissenschaftslehre zu handeln, und dort würde sich dann gewiß ergeben, daß der Prozeß des Forschens und Beweisens in allen empirischen Wissenschaften weitgehende Gemeinsamkeiten zeigt. Das ist aber für unsern Zweck nur von untergeordneter Bedeutung. Hier soll, wie wir schon sagten, lediglich das Wesen des h i s t o r i s c h e n B e g r i f f e s festgestellt werden. Das muß man immer im Auge behalten, um den Sinn dieses Buches nicht von vorneherein zu mißdeuten. Der Umstand, daß ein solcher Ausdruck im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Begriff nicht üblich ist, braucht nicht zu stören. Das hängt mit dem unlogischen oder alogischen Charakter der bisher | fast allein betriebenen „Geschichtslogik“ zusammen, von dem wir schon gesprochen haben. Wer die Geschichte mit Rücksicht auf das von ihr dargestellte M a t e r i a l verstehen will, hat keine Veranlassung, von „historischen Begriffen“ zu reden. Wir wählen dies Wort, um auch in der Terminologie den logischen Charakter der Untersuchung durchzuführen und außerdem die verschiedenen Probleme, die Naturwissenschaft und Geschichte uns stellen, parallel behandeln zu können. In dem, was wir als historischen Begriff bezeichnen, muß besonders der w i s s e n s c h a f t l i c h e Charakter der Geschichte seinen Ausdruck finden, und schließlich kann, insofern der gesamte Prozeß der wissenschaftlichen Arbeit auch hier von ihrem Ziele beherrscht ist, schon aus einer Untersuchung über die Darstellung in den historischen Wissenschaften sich das für ihre logische Eigenart überhaupt Wesentliche, zumal im Unterschied von der Eigenart der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, wenigstens in seinen Grundzügen ergeben. In diesem Sinne und nur in ihm versuchen wir im folgenden eine l o g i s c h e E i n l e i t u n g i n d i e h i s t o r i s c h e n W i s senschaften. Die Scheidung in naturwissenschaftliche und historische Begriffe muß, obwohl sie nicht geläufig ist, um so mehr vorgenommen werden, als in den Abschnitten der Logik, die der Lehre vom Begriff im a l l g e m e i n e n gewidmet sind, wir fast ausschließlich d i e Begriffsbildung in Betracht gezogen finden, die wir als naturwissenschaftliche bezeichnen zu müssen glauben, und daher die Lehre vom Begriff bisher einen ganz einseitigen Charak7

Vgl. A. R i e h l , Logik und Erkenntnistheorie. Die Kultur der Gegenwart. I, 6. 1907. S. 101.

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ter trägt. Doch können wir uns nicht einmal für den naturwissenschaftlichen Begriff ohne weiteres auf unbestrittene Sätze der allgemeinen Logik berufen, denn besonders seit Sigwart in seinem, die neueren logischen Bewegungen noch immer in hohem Grade beeinflussenden Werke8 der Lehre vom Begriff den Platz an der Spitze des Systems genommen hat, den sie in der traditionellen Logik besaß, ist es noch nicht wieder gelungen, ihr eine allgemein anerkannte Stellung und Gestaltung zu geben. Was überhaupt ein „Begriff“ sei, oder wofür man diesen Ausdruck am passendsten zu verwenden habe, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Sowohl für die einfachsten logischen Bestandteile oder die Elemente als auch für die kompliziertesten logischen Gebilde wird das Wort Begriff gebraucht. Die ursprünglichsten, nicht weiter analysierbaren Wortbedeutungen soll es bezeichnen und zugleich die letzten Verdichtungen wissenschaftlicher Theorien. Ja, die Vieldeutigkeit des Wortes Begriff ist so groß, | daß man neuerdings den Terminus geradezu vollständig vermieden hat. Man freut sich, „ohne jede Hilfe auch nur des Worts Begriff“ 9 Probleme erörtern zu können, die früher als die Hauptprobleme der Lehre vom Begriff gegolten haben. Es kommt selbstverständlich auf das Wo r t „Begriff“ nicht an. Man möge es wegen seiner zu Unklarheiten führenden Vieldeutigkeit durch mehrere eindeutige Termini ersetzen. Trotzdem wird man sich wohl schwer entschließen können, die Ausdrücke Begriff, begreifen, begrifflich in der Logik ganz zu entbehren, und vielleicht gelingt es, etwas mehr Einheit und Klarheit in die Behandlung dieser Fragen zu bringen, wenn wir mit Bewußtsein das in einer logischen Spezialuntersuchung tun, was die Logik in ihrem allgemeinen Teil fast ausnahmslos ohne ausdrückliche Hervorhebung getan hat, nämlich wenn wir uns zunächst einmal völlig auf den n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Begriff beschränken, d. h. ganz davon absehen, wie weit das, was wir behandeln, zum Wesen des wissenschaftlichen Begriffes überhaupt gehört. Dann erst werden wir die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung feststellen und von da aus in das Wesen des historischen Begriffes eindringen können. In einer Klarlegung des logischen Wesens der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung haben wir also den A u s g a n g s p u n k t unserer Untersuchung gewonnen. Wie vorher die allgemeine Tendenz, so wollen wir jetzt auch die Gliederung unseres weiteren Gedankenganges in ihren Hauptzügen wenigstens andeuten. Wo überhaupt neben der Naturwissenschaft eine andere Art wissenschaftlicher Arbeit anerkannt wird, pflegt die Scheidung fast ausnahmslos durch den Gegensatz der G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n und der Natur8 9

Logik, 1873–78, 4. Aufl., 1911. B e n n o E r d m a n n , Logik I. 1892, 2. Aufl., 1907, S. 255.

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wissenschaften bezeichnet zu werden. Wird die Natur so vom Geist getrennt, dann ist unter „Geist“ in vielen Fällen das gesamte unkörperliche als das p s y c h i s c h e Sein gemeint, und dementsprechend muß man dann unter dem Worte Natur die Körperwelt verstehen. In diesem Sinne wurde der Terminus „Geisteswissenschaft“ von John Stuart Mill in die Logik eingeführt und hat sich in ihr erhalten. Wir akzeptieren mit Rücksicht auf die Vieldeutigkeit der Worte „Natur“ und „Geist“ v o r l ä u f i g diese Ausdrucksweise und versuchen, um allen unnötigen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, die naturwissenschaftliche Begriffsbildung z u e r s t nur in ihrer Anwendung auf dem Gebiete kennenzulernen, das Objekt der Naturwissenschaften im | engeren Sinne ist, die Gesamtheit der k ö r p e r l i c h e n Dinge und Vorgänge. Oder genauer: wir achten zunächst nicht darauf, wie weit das, was von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung für die Körperwelt gilt, auch dann richtig bleibt, wenn es sich um die Darstellung des „geistigen“ als des psychischen oder seelischen Lebens handelt. Deswegen wird in dem e r s t e n K a p i t e l von der b e g r i f f l i c h e n E r k e n n t n i s d e r K ö r p e r w e l t durch die Naturwissenschaften die Rede sein. Wir verfolgen dabei das Wesen des naturwissenschaftlichen Begriffes durch die verschiedenen Stadien seiner logischen Vollkommenheit hindurch und suchen so die Methode, durch die faktisch die Körperwelt begriffen wird, in ihrer logischen Struktur klarzulegen. Von den Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ist in diesem Zusammenhange noch ganz abzusehen. Dann fragen wir, ob diese Grenzen vielleicht dort beginnen, wo die Körperwelt aufhört. Die meisten der historischen Wissenschaften haben es faktisch mit s e e l i s c h e n Vorgängen zu tun, wie niemand bezweifeln kann. Insofern sind sie also auch den sogenannten Geisteswissenschaften im Sinne Mills zuzurechnen. Darum muß ausdrücklich entschieden werden, ob sie in ihrer Eigenschaft als Wissenschaften vom realen psychischen Sein die naturwissenschaftliche Methode der Begriffsbildung nicht anwenden können. Diese Frage gestaltet sich zu dem Problem, ob die Eigenart des wirklichen seelischen Lebens überhaupt, wie es in der Erfahrung jedem gegeben ist, der für die Körperwelt brauchbaren naturwissenschaftlichen Begriffsbildung eine prinzipielle logische Grenze entgegengestellt, und ob demnach der Gegensatz von N a t u r und G e i s t als der von Körper und Seele einer l o g i s c h e n Gliederung der Wissenschaften zugrunde gelegt werden darf, ganz unabhängig davon, welche sachliche Bedeutung er für die Einteilung nach den Stoffen besitzt. Die Antwort hierauf hat das z w e i t e K a p i t e l zu geben. Wir werden darin sehen, daß nichts einer klaren Einsicht in das Wesen der historischen Wissenschaften mehr hinderlich gewesen ist als die Einführung des Gegen-

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satzes von physischen und psychischen Vorgängen in die logischen Probleme der Geschichtswissenschaft. Gewiß ergeben sich aus dem Wesen des realen Seelischen Modifikationen der Methoden, die bei der Darstellung der Körperwelt angewendet werden. Aber nur um Modifikationen handelt es sich, und diese sind unwesentlich im Vergleich zu dem prinzipiellen logischen Gegensatz, der bei der Darstellung der Natur einerseits, der Geschichte andererseits entsteht. | Deswegen scheint es notwendig, daß man auch in der Terminologie sich dieser Einsicht anschließt und, wenigstens solange man unter „Geist“ das p s y c h i s c h e Leben versteht, wie es wirklich in der Zeit abläuft, in der Logik nicht mehr von einer Einteilung in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften spricht, falls man damit zu einem Verständnis des geschichtlichen Denkens kommen will. Es muß ein logisches Einteilungsprinzip vorangestellt werden, das zwar gewiß nicht an die S t e l l e des sachlichen Unterschiedes von Körper und Seele treten kann, denn sachliche Unterschiede lassen sich niemals durch formale e r s e t z e n , wohl aber allen materialen Differenzen l o g i s c h v o r a u s g e h t . Den logischen Unterschied von N a t u r und G e s c h i c h t e möglichst scharf herauszuarbeiten, ist dann die Aufgabe des d r i t t e n K a p i t e l s . Wir kommen damit zu dem Kernpunkt unserer Untersuchung. Es wird sich zeigen, daß hier in Wahrheit ein l o g i s c h e r G e g e n s a t z vorliegt, der mit dem sachlichen von Physisch und Psychisch nur in einer Verbindung von sekundärer Bedeutung steht. So muß klar werden: die Naturwissenschaften und die Geschichtswissenschaften lassen sich ihrem a l l g e m e i n s t e n logischen Begriff nach überhaupt nicht dadurch unterscheiden, daß die einen es mit andern S t o f f e n als die anderen zu tun haben. Es kann vielmehr derselbe Vorgang einer wissenschaftlichen Bearbeitung und Darstellung durch beide Methoden unterzogen werden. Daran wird das allgemeinste logische Wesen der Geschichte und zugleich der logische Unterschied von naturwissenschaftlicher und historischer Begriffsbildung deutlich. Um ihn möglichst rein hervortreten zu lassen, versuchen wir, uns über das Wesen der historischen Darstellung, soweit es angeht, zuerst an solchen Fällen klar zu werden, bei denen wir uns das historische Interesse auf körperliche Dinge und Vorgänge gerichtet denken. Auf diesem ungewohnten Wege wird sich zeigen, wie die gesamte empirische Wirklichkeit sowohl Objekt einer naturwissenschaftlichen als auch einer im logischen oder formalen Sinne historischen Darstellung werden könnte, und wie daher der Begriff der Geschichte sich von allen Besonderheiten des historischen Materials ablösen läßt. In dem wirklichen Wissenschaftsbetriebe der „Geschichte“ im engeren Sinne, dem wir uns dann endlich im v i e r t e n K a p i t e l zuwenden, und den wir nun auf Grund der vorher gewonnenen Begriffe in seiner logischen Struktur zu verstehen hoffen dürfen, stellt sich allerdings die Sache erheb-

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lich anders als in der rein logischen Konstruktion. Es gibt | Gebiete, die ausschließlich nach naturwissenschaftlicher, es gibt solche, die ausschließlich nach historischer Methode dargestellt werden, und es gibt endlich solche, die sowohl der Darstellung durch eine Naturwissenschaft als auch durch eine historische Wissenschaft unterworfen sind. Die Darlegung der Gründe hierfür muß das logische Wesen der historischen Begriffsbildung in der s a c h l i c h e n Bedeutung des Worts „Geschichte“ verständlich machen, d. h. zeigen, wie die Wissenschaften verfahren, die heute als Geschichtswissenschaften und zugleich als Geisteswissenschaften bezeichnet werden. Es kommt uns hauptsächlich darauf an, zu verstehen, welche Gebiete eine historische Darstellung nicht nur ermöglichen, sondern auch e r f o r d e r n . Wir werden also untersuchen, wie weit die rein logischen oder formalen Unterschiede in einem Z u s a m m e n h a n g e mit den sachlichen Unterschieden der wissenschaftlich darzustellenden Stoffe stehen, und bei dieser Gelegenheit uns auch der Aufgabe zuwenden, die gewöhnlich als einzige Aufgabe der Geschichtslogik betrachtet wird. Es muß sich jedoch ergeben, daß selbst jetzt nicht etwa der Begriff des „Geistes“ als der des s e e l i s c h Wirklichen, sondern der Begriff der K u l t u r für die historische Begriffsbildung im engeren Sinne von ausschlaggebender Bedeutung ist, und daß, wenn wir überhaupt einen nicht nur logischen, sondern auch sachlichen Gegensatz zweier Gruppen von Erfahrungswissenschaften feststellen wollen, die historischen K u l t u r wissenschaften den Naturwissenschaften entgegenzusetzen sind. Dieser Unterschied hat an die S t e l l e der üblichen Einteilung in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu treten, sobald es gilt, die Wissenschaften in der Weise nach ihrem M a t e r i a l zu gliedern, daß dabei auch das s a c h l i c h e Wesen der historischen Disziplinen zutage tritt. Ja, es läßt sich dartun, daß der Ausdruck Geisteswissenschaft für die Geschichte wohl niemals üblich geworden wäre, wenn „Geist“ immer n u r das Psychische und nicht zugleich einen Teil dessen bedeutet hätte, was mit dem Worte „Kultur“ besser bezeichnet wird. Doch können die sachlichen Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Disziplinen erst am Schluß des vierten Kapitels ganz verstanden werden. Vorher suchen wir auch das Problem der historischen Begriffsbildung soweit wie möglich formal zu behandeln, und wir werden dabei hauptsächlich die Begriffe des historischen I n d i v i d u u m s , des historischen Z u s a m m e n h a n g e s und der historischen E n t w i c k l u n g rein logisch erörtern. Damit kommen wir zu einer Einsicht in | das Wesen der „individualisierenden“ Begriffsbildung, die die Geschichte im Gegensatz zur „generalisierenden“ Begriffsbildung der Naturwissenschaft zeigt, und es ergibt sich dann durch Kreuzung des formalen und des sachlichen Unterschiedes statt der üblichen Zweiteilung zunächst eine V i e r t e i l u n g der Erfahrungswissenschaften

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wenigstens als m ö g l i c h . Die Natur im Gegensatz zur Kultur kann nämlich nicht nur generalisierend, sondern auch individualisierend, und ebenso kann die Kultur sowohl individualisierend als auch generalisierend dargestellt werden. Uns kommt es jedoch, da dieses Buch, wie stets zu beachten ist, nicht eine erschöpfende K l a s s i f i k a t i o n a l l e r W i s s e n s c h a f t e n geben, sondern lediglich das Wesen der Geschichte als Wissenschaft verstehen will, in der Hauptsache auf die h i s t o r i s c h e n K u l t u r w i s s e n s c h a f t e n an. Das wichtigste logische Ergebnis ist, daß die individualisierende Begriffsbildung dieser Disziplinen auf einer bisher übersehenen und doch für die logische Struktur der Geschichte geradezu entscheidenden „theoretischen Wertbeziehung“ beruht, die die Naturwissenschaft nicht kennt. Die Unentbehrlichkeit des We r t p r i n z i p e s für das geschichtliche Denken ist es zugleich, die den Ausdruck Kulturwissenschaft zur Bezeichnung der historischen Disziplinen im engeren Sinne am geeignetsten macht, denn aus dem Begriff des K u l t u r w e r t e s allein läßt sich verstehen, warum Kulturleben durch naturwissenschaftliche Darstellungen niemals zu e r s c h ö p f e n ist, sondern, auch abgesehen von allen Problemen, die es der Philosophie stellt, eine empirisch historische Darstellung durch individualisierende Begriffsbildung v e r l a n g t . Geisteswissenschaften könnte man die historischen Disziplinen im engeren, sachlichen Sinne nur dann mit Recht nennen, wenn das Wort „Geist“ als Bezeichnung für einen We r t begriff gebraucht werden, also grade nicht das bloß wirkliche p s y c h i s c h e Sein meinen soll. Wie schon erwähnt, werden wir schließlich zur Behauptung der Notwendigkeit t r a n s z e n d e n t e r Annahmen geführt, und zwar hängen diese ebenfalls mit dem Begriff des Wertes und der Kulturwissenschaft zusammen. Die Frage, ob Geschichte in dem Sinne als wissenschaftliche „Erkenntnis“ gelten kann wie die Naturwissenschaft, kommt dabei in Betracht. Wir werden so zu g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n Erörterungen in der üblichen Bedeutung geführt, d. h. zu Problemen, wie sie in dem früher berührten Gegensatz von Hegel und Comte vorliegen, und die wir uns besonders deutlich an dem Fort- | schrittsbegriff klar machen konnten, der ja ebenfalls ein Wertbegriff ist. Ihre Behandlung setzt die vorangegangenen methodologischen Ausführungen über das Wesen der naturwissenschaftlichen und der historischen Begriffsbildung voraus, und zugleich ist ihnen noch ein festerer Halt an einigen Sätzen aus der allgemeinen Wissenschaftslehre und Erkenntnistheorie zu geben. Diese Aufgabe hat das fünfte und l e t z t e K a p i t e l zu lösen. Es soll zugleich die Einwürfe und Bedenken zu beseitigen versuchen, die sich vielleicht bei den vorangegangenen methodologischen Ausführungen hier und da ergeben mögen, und die erst in dem dann erreichten systematischen Zusammenhange ihre Erledigung finden können. Auch die

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Frage, was die Naturwissenschaft und was die Geschichte für die P h i l o s o p h i e bedeuten, und in welchem Sinne man von einer naturwissenschaftlichen und einer geschichtlichen We l t a n s c h a u u n g sprechen kann, läßt sich erst dann behandeln. Das Urteil über die Richtigkeit der in diesem Buche vorgetragenen Ansichten sollte man deswegen bis zum Schluß suspendieren. Die Wahrheit ist auch hier das Ganze.

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„Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist.“ Goethe.

Wir wissen, daß unsere erste Aufgabe darin besteht, das Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung festzustellen. Wir wollen sie aber zunächst nur soweit kennenlernen, als sie für die Erkenntnis der Körperwelt von Bedeutung ist, also völlig davon absehen, was sie mit der Darstellung des psychischen Seins oder eventuell auch mit der des geschichtlichen Lebens gemeinsam hat. Wir betrachten dabei, ohne unsere methodologischen Ausführungen in den Zusammenhang eines Systems der Logik zu stellen und so unser Verfahren ausdrücklich zu begründen, den Begriff als M i t t e l zu einem naturwissenschaftlichen Z i e l . Das ist dadurch gerechtfertigt, daß alle Wissenschaften Begriffe von A u f g a b e n sind, und daß ihre Bestandteile sich daher auch als Mittel zur Lösung dieser Aufgaben verstehen lassen müssen. Von vorneherein ist damit ferner gesagt, daß wir das Wort Begriff niemals für Gebilde gebrauchen, die darin aufgehen, als Tatsachen vorhanden zu sein, sondern lediglich für solche Bestandteile, die etwas für das wissenschaftliche Erkennen l e i s t e n . Unsere erste Frage hat also zu lauten: worin besteht die Aufgabe des naturwissenschaftlichen Begriffes, und wodurch löst er sie? So werden wir sein logisches „Wesen“ aus einer Leistung für das Erkennen verstehen.

I. Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt und ihre Ve r e i n f a c h u n g d u r c h d i e a l l g e m e i n e Wo r t b e d e u t u n g . Um eine Antwort zu finden, gehen wir von einer jedem geläufigen Meinung aus. Der Mensch steht einer körperlichen „Wirklichkeit“ gegenüber, auf die seine Erkenntnis sich richtet. Diese Wirklichkeit selbst | machen wir hier nicht zum Problem, sondern setzen sie als Material der Erfahrungswissenschaften voraus. Eine solche Trennung der Probleme läßt sich in einer Spezialuntersuchung nicht vermeiden. Wir kümmern uns also zunächst nicht darum, ob die Wirklichkeit ein vom erkennenden Subjekt in jeder Hinsicht

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losgelöstes Sein bildet, das „im Bewußtsein“ entweder ganz oder zum Teil ebenso sich darstellt, wie es unabhängig davon existiert, oder ob die Körperwelt nur die „Erscheinung“, die Auffassungsweise einer andern, uns völlig unbekannten, absolut realen Welt von „Dingen an sich“ ist, oder endlich ob die uns unmittelbar gegebene empirische Wirklichkeit die einzige ist, die wir anzunehmen ein Recht haben, und ihr daher ein „dahinterliegendes“ reales Sein nicht entsprechen kann. Wir begnügen uns damit, daß jeder von einer Körperwelt weiß als von einer in Raum und Zeit ausgebreiteten Wirklichkeit anschaulicher Gestaltungen, und daß die Wissenschaft von den Körpern, soweit sie empirisch verfährt, als Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen jedenfalls nur diese e i n e Wirklichkeit kennt, die wir empirische Wirklichkeit nennen wollen. Gewiß steckt in diesem Begriff noch ein erkenntnistheoretisches Problem von großer Bedeutung.10 In einer methodologischen Untersuchung aber wird der Ausdruck nicht zu Mißverständnissen führen. Doch müssen wir uns eine in anderer Richtung liegende Eigentümlichkeit der körperlichen Erfahrungswelt zum Bewußtsein bringen, die zutage tritt, sobald wir den Versuch machen, sie zu erkennen. Stellen wir uns dabei die Aufgabe, die anschauliche Wirklichkeit g e n a u so wie sie ist, a b z u b i l d e n , d. h. a l l e s , was wir von ihr wissen können, auszusagen, so stoßen wir auf Schwierigkeiten, die sich bald als unüberwindliche Hindernisse für eine derartige Erkenntnis herausstellen, und in denen dann die von uns gemeinte Beschaffenheit der Körperwelt zum Ausdruck kommt. Die eine dieser Schwierigkeiten ist jedem bekannt. Die körperliche Welt hat keinen für uns erreichbaren Anfang in der Zeit und keine für uns erreichbare Grenze im Raum. Sie bietet sich vielmehr als eine zeitlich und räumlich unübersehbare Mannigfaltigkeit von Gestaltungen dar, von denen jede von jeder anderen quantitativ und qualitativ verschieden ist. Alle diese Gestaltungen, so wie sie sind, einzeln zu erkennen, ist eine für den endlichen Menschengeist prinzipiell unlösbare Aufgabe. Jeder Versuch in dieser Richtung | wäre geradezu widersinnig, denn, wie groß wir auch die Anzahl der Einzelgestaltungen annehmen mögen, die abzubilden uns gelingen könnte, es stände ihnen immer noch eine prinzipiell unübersehbare Mannigfaltigkeit von unerkannten Dingen und Vorgängen gegenüber, und es dürfte unter dieser Voraussetzung niemals von einem Fortschritt in der Erkenntnis der gesamten körperlichen Welt gesprochen werden. Das ist so einfach, daß es keiner weiteren Erörterung bedarf.

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Vgl. über den Begriff der „objektiven Wirklichkeit“ das fünfte Kapitel meines Buches: Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie. 6. Aufl., 1928.

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Doch auch ein Verzicht auf das Ganze, d. h. eine Beschränkung auf einen Teil der Körper, würde dem Bedürfnis nach g e n a u e m Abbild durch die Erkenntnis wenig helfen, und damit stoßen wir auf eine zweite Schwierigkeit, die nicht minder wichtig, aber viel weniger beachtet worden ist als die soeben dargestellte, und in der noch eine andere Eigentümlichkeit der Körperwelt zum Ausdruck kommt. Jeder einzelne anschauliche Körper nämlich, den wir aus der unübersehbaren Fülle herausgreifen, bietet uns, so einfach wir ihn auch wählen mögen, immer noch eine Mannigfaltigkeit dar, und wir werden, wenn wir uns an eine nähere Untersuchung machen, finden, daß diese Mannigfaltigkeit um so größer zu werden scheint, je mehr wir uns in sie vertiefen. Wir meinen damit nicht nur die Mannigfaltigkeit, die jedem Dinge dadurch anhaftet, daß es in einer unübersehbaren Fülle von Beziehungen zu andern Dingen steht. Auch wenn wir eine einzelne anschauliche Gestaltung von allen ihren Beziehungen loslösen, stoßen wir in dem kleinsten Teile der Körperwelt, den wir für sich betrachten, wieder auf eine Mannigfaltigkeit, von der wir niemals wissen können, ob wir sie erschöpft haben, und die deshalb im Prinzip ebenso unübersehbar ist wie das Körperganze. Achten wir, um uns dies klarzumachen, bei irgendeinem Gegenstand z. B. auf das, was wir von ihm sehen, auf die Oberfläche, die er unserm Auge darbietet, so haben wir schon darin eine Mannigfaltigkeit, die sogar in zweifacher, in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht, für ein genau abbildendes Erkennen unerschöpflich ist. Jede Fläche können wir in beliebig viele Teile zerlegen, und wenn wir auch den kleinsten Teil, den wir noch wahrnehmen, genau untersucht haben, so bürgt nichts dafür, daß bei noch weiterer Zerlegung wir nicht etwas Neues entdecken werden, das sich uns bisher entzogen hat. Außerdem ist, weil ja jede Fläche eine Farbe hat, und wir nie konstatieren können, ob es eine absolut gleichmäßige Färbung der kleinsten wahrnehmbaren Fläche gibt, eine Anzahl von Farbennuancen auf ihr möglich, die erschöpfend einzeln zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, ebenfalls ein unausführbares Unternehmen ist. | So wird deutlich, daß man sogar den kleinsten Teil der Körperwelt nicht abbildend, genau so wie er ist, erkennen kann. Sollen, um die Ausdrücke Humes zu gebrauchen, unsere „Ideen“ im strengen Sinne des Wortes Kopien von „Impressionen“ sein, so stehen wir selbst bei größter Einschränkung des Erkenntnisgebietes vor einer prinzipiell unlösbaren Aufgabe. Von den beiden angegebenen Schwierigkeiten, die einer abbildenden Erkenntnis der Körperwelt im Wege stehen, ja sie in zweifacher Weise unmöglich machen, kann eine Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ausgehen. Wir wollen, um bequeme Ausdrücke zu haben, die Eigentümlichkeit der Wirklichkeit, die in Frage kommt, wenn unsere Erkenntnis auf das

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Ganze gerichtet ist, als ihre „extensive“, und die Eigentümlichkeit, die jede einzelne anschauliche Gestaltung uns darbietet, als ihre „intensive“ Unübersehbarkeit bezeichnen. Wir können dann, um das Resultat dieser Ueberlegungen zusammenzufassen, sagen, daß, wenn es überhaupt eine Erkenntnis der körperlichen Wirklichkeit für den endlichen Menschengeist geben soll, sie nur so zustande kommen kann, daß dabei die Unübersehbarkeit der extensiven und der intensiven Mannigfaltigkeit des anschaulich gegebenen Materials irgendwie beseitigt oder überwunden wird. In dieser Ueberwindung zum Zwecke der wissenschaftlichen Erkenntnis der Körperwelt sehen wir hier die Aufgabe und die Leistung des naturwissenschaftlichen B e g r i f f e s , und in der Art, wie er diese Aufgabe löst, werden wir daher sein Wesen zu erfassen suchen. Es ist dies jedenfalls einer der Wege, auf dem sich die logische Struktur der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung verstehen lassen muß. Bevor wir jedoch auf die Ueberwindung der unübersehbaren Mannigfaltigkeit durch den naturwissenschaftlichen Begriff näher eingehen, wollen wir einigen Mißverständnissen vorbeugen, die sich an die von uns gebrauchten Ausdrücke knüpfen können. Selbstverständlich ist es, daß das Wort „intensiv“ in diesem Zusammenhange nicht nur die qualitative, sondern auch die quantitative Mannigfaltigkeit bezeichnen soll, die uns jede einzelne, wenn auch noch so kleine, anschauliche Wirklichkeit darbietet. Zwar ist es bedenklich, ein Wort in einer Bedeutung zu gebrauchen, die sich mit der herkömmlichen nicht ganz deckt, aber andere Ausdrücke, etwa äußerliche und innerliche Mannigfaltigkeit, die wir hätten wählen können, schienen in anderer Hinsicht nicht weniger bedenklich zu sein. Jedenfalls handelt es sich dabei nur um eine terminologische Frage. Was gemeint ist, wird nach den vorangegangenen Ausführungen nicht mehr mißverstanden werden. | Ferner müssen wir ausdrücklich hervorheben, daß die Begriffe extensiv und intensiv in diesem Zusammenhange r e l a t i v sind. Ich kann dieselbe Mannigfaltigkeit sowohl als extensiv als auch als intensiv bezeichnen, je nachdem ich den betreffenden Teil der Körperwelt als aus mehreren Einzeldingen bestehend oder als ein einheitliches Ding ansehe. In dem als e i n Ding aufgefaßten Sternenhimmel z. B. muß ich die verschiedenen Weltkörper seine intensive Mannigfaltigkeit nennen, kann aber auch den Anblick, der sich mir bietet, als eine extensive Mannigfaltigkeit von Weltkörpern auffassen, von denen dann jeder einzelne wieder eine intensive Mannigfaltigkeit besitzt. Ja, es ist eine Betrachtung der Wirklichkeit denkbar, bei der der Unterschied von extensiv und intensiv seinen Sinn ganz zu verlieren scheint. Fasse ich die ganze Körperwelt als ein einheitliches, d. h. einziges Ding auf, so ist ihr gegenüber nicht mehr von extensiver, sondern nur noch von intensiver Mannigfaltigkeit zu reden. Doch ist es klar, daß solche Möglichkeiten

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der Auffassung nichts an dem ändern, was für uns von Bedeutung ist, nämlich, daß wir uns der anschaulichen Körperwelt gegenüber zum mindesten immer vor einer unübersehbaren intensiven Mannigfaltigkeit befinden, die genau so, wie sie wirklich ist, in keine abbildende Erkenntnis eines endlichen Subjekts einzugehen vermag. Etwas größere Schwierigkeiten dürfte jedoch vielleicht die Fernhaltung eines anderen Mißverständnisses bereiten. Wir haben die Unübersehbarkeit der Wirklichkeit ausdrücklich mit ihrer Räumlichkeit und Zeitlichkeit in Verbindung gebracht, und wir mußten dies, um zeigen zu können, daß j e d e r Körper in seiner Mannigfaltigkeit unerschöpflich ist. Da könnte man nun sagen, es sei hier eine Uebertragung der von dem Mathematiker sogenannten „Unendlichkeit“ von Raum und Zeit oder genauer sowohl des Begriffes vom unendlich Großen als auch vom unendlich Kleinen auf die in Raum und Zeit vorhandene empirische Wirklichkeit vorgenommen, und eine solche Uebertragung sei unzulässig. Die quantitative Unendlichkeit nämlich, von der in der Mathematik doch allein geredet werden kann, sei nichts Wirkliches, sondern lediglich das Produkt begrifflicher Ueberlegungen. Es handele sich besonders bei der intensiven Unübersehbarkeit eines Körpers nur um die Möglichkeit, jedes räumliche und zeitliche Kontinuum als aus einer unendlichen Menge diskreter Punkte zusammengesetzt zu denken. Daß dagegen diesen Punkten auch etwas Reales in der Körperwelt entspreche, und daß daher die wirkliche Körperwelt selbst als eine unübersehbare Mannig- | faltigkeit angesehen werden müsse, sei eine willkürliche Annahme. Zum mindesten hätten wir eine Eigentümlichkeit der Körperwelt, von der wir bei unserer Begriffstheorie a u s g e h e n wollen, durch eine begriffliche Ueberlegung selbst erst geschaffen und damit von vornherein die empirische Realität begrifflich umgewandelt. In einem gewissen Sinne ist diese letzte Behauptung richtig, und es kann auch gar nicht anders sein. Solange wir die Wirklichkeit n u r anschauen oder „erleben“, ohne irgend etwas von ihr erkannt zu haben, w i s s e n wir selbstverständlich auch noch n i c h t s von ihr und können daher auch nicht von ihrer Unübersehbarkeit sprechen. Erst wenn wir darauf reflektieren, daß das, was wir erleben oder anschauen, erkannt werden soll, kann uns seine extensive und intensive Mannigfaltigkeit zum ausdrücklichen Bewußtsein kommen. Mit mathematischer Unendlichkeit ist jedoch diese Unübersehbarkeit der Wirklichkeit darum nicht identisch. Freilich beriefen wir uns, um nachzuweisen, daß wir nie imstande sein werden, die gegebene Mannigfaltigkeit zu erschöpfen, auch auf die Möglichkeit, jedes räumliche und zeitliche Gebilde immer weiter zu zerlegen, denn so allein können wir von a l l e r Wirklichkeit in Raum und Zeit zeigen, daß sie unübersehbar ist. So allein bleibt unsere Behauptung von der Unübersehbarkeit des Wirklichen

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nicht eine unbegründete Behauptung. Doch muß hiervon ebenfalls sorgfältig die Ueberlegung getrennt werden, daß jedes räumliche und zeitliche Kontinuum als aus einer unendlichen Menge diskreter Punkte zusammengesetzt zu denken sei. Das geht uns in diesem Zusammenhange noch gar nichts an. Wir konstatieren lediglich, daß eine erschöpfende Aussage über die in der Wirklichkeit vorhandene räumliche und zeitliche Mannigfaltigkeit für uns u n m ö g l i c h ist. Damit können wir uns begnügen. Mag die Ueberzeugung von der Unausführbarkeit einer erschöpfenden Darstellung auch mit dem Wesen des Raumes und der Zeit insofern zusammenhängen, als die Körperwelt eine im Raum befindliche und in der Zeit sich verändernde Wirklichkeit ist, so muß doch das an der Körperwelt, was uns unfähig macht, diese Wirklichkeit uns in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, von dem Begriffe eines in unendlich viele Teile zerlegbaren Kontinuums, wie die Mathematik ihn bildet, streng geschieden werden. Ja, wir können geradezu sagen, daß unser Begriff der Wirklichkeit und der mathematische Begriff, wie später noch klarer werden wird, in einem G e g e n s a t z zueinander stehen. Ein mathematisches Kontinuum, wie der Raum oder die Zeit es ist, ist h o m o g e n und | daher gar nicht in dem angegebenen Sinne „unübersehbar“ wie die Wirklichkeit. Das, was uns zum Bewußtsein kommt, wenn wir an die abbildende Erkenntnis der in Raum und Zeit befindlichen Wirklichkeit denken, besteht darin, daß diese Wirklichkeit an jeder Stelle a n d e r s ist als an jeder anderen, und daß wir daher nie wissen, wieviel des Neuen und Unbekannten sie uns noch zeigen wird. Wir können das Wirkliche deshalb im Unterschiede vom unwirklichen mathematischen homogenen Kontinuum auch ein h e t e r o g e n e s K o n t i n u u m nennen, und lediglich mit der Unmöglichkeit, ein solches Kontinuum genau so, wie es ist, erschöpfend abzubilden, haben wir es zu tun. Solange wir unter der Unübersehbarkeit der Wirklichkeit nichts weiter als die für uns unerschöpfbare anschauliche Mannigfaltigkeit und damit ihre „Irrationalität“ gegenüber dem Versuch, sie restlos mit dem „Verstande“ zu durchdringen, verstehen, sind wir gegen jeden Einwand gesichert, der uns vorwirft, daß wir den wissenschaftlichen Begriff zur Lösung einer Aufgabe bestimmen, die selbst erst durch eine die Wirklichkeit umgestaltende begriffliche Bearbeitung entstanden ist. An der Ohnmacht unseres Intellektes und an der Unausführbarkeit eines auf genaues Abbilden gerichteten Erkenntnisstrebens bringen wir uns die Unübersehbarkeit des Wirklichen zum Bewußtsein. Sie braucht in diesem Gedankenzusammenhange nur als das „objektive“ Gegenbild unserer Unfähigkeit dargestellt zu werden, wie es sich auch sonst mit ihr verhalten mag.11 11

Auf die interessante Frage, die R. H ö n i g s w a l d in seiner Abhandlung: „Zur Wissenschaftstheorie und -systematik. Mit besonderer Rücksicht auf Heinrich Rickerts ‚Kulturwissen-

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Jetzt wenden wir uns der Frage zu, wie die Ueberwindung der extensiven und der intensiven Mannigfaltigkeit des heterogenen Kontinuums durch die wissenschaftliche Erkenntnis trotzdem zustande | kommt. Wenn wir das Wirkliche irrational genannt haben, so soll das nicht bedeuten, daß es absolut irrational ist, sondern lediglich, daß es für einen Verstand, der es abbildend erkennen will, sich als irrational darstellt. In anderer Hinsicht muß es sich rationalisieren lassen, falls Erkenntnis davon überhaupt möglich sein soll. Und nun können wir weiter gehen und sagen: die Erkenntnis würde niemals möglich sein, falls wir im wissenschaftlich noch ungeschulten Zustande nur Kenntnisse besäßen, deren Bedeutung darin aufgeht, daß sie sich auf diese oder jene einzelne reale Gestaltung der Körperwelt beziehen. Das ist aber nicht der Fall. Lange vielmehr, bevor wir an eine wissenschaftliche Erforschung gehen, besitzen wir Wo r t e , mit denen wir nicht nur je eine einzelne anschauliche Wirklichkeit, sondern auch eine M e h r h e i t von ihnen zugleich bezeichnen können. Die Worte kann man insofern a l l g e m e i n nennen, als sie sich auf a l l e die verschiedenen Objekte der Mehrheit beziehen. Doch steckt ihre Allgemeinheit nicht in dem Klange des Wortes selbst, denn der ist ja, für sich betrachtet, jedesmal ein individueller akustischer oder optischer Eindruck, und der extreme Nominalismus, der das Denken mit dem Sprechen identifizieren möchte, verdient schon aus diesem Grunde keine weitere Widerlegung. Es muß vielmehr zu den einzelnen Lauten oder Lautkomplexen, die das wirkliche Wort ausmachen, und die wir hören, oder zu den Wortbildern, die wir sehen, noch etwas anderes hinzutreten, d. h. die Worte müssen allgemeine B e d e u t u n g e n haben, die von uns v e r s t a n d e n werden, und nicht auf die Worte, sondern auf die mit ihnen verknüpften allgemeinen Wortbedeutungen kommt es hier an. Sie sind es nämlich, in denen schon das v o r w i s s e n s c h a f t l i c h e Denken ein Mittel besitzt, mit dem es zwar noch nicht die Unübersehbarkeit der Körperwelt wissenschaftlich zu überwinden, wohl aber einen Teil ihrer extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit in hohem Maße zu v e r e i n f a c h e n und dadurch zu übersehen imstande ist. Die extensive Mannigfaltigschaft und Naturwissenschaft‘“ aufgeworfen hat, ob mein Satz von der „heterogenen Kontinuität“ des Wirklichen nur die logische Valenz eines E m p e i r e m s habe, gehe ich an dieser Stelle absichtlich nicht ein. Sie würde nur im Zusammenhange mit dem oben bereits abgewiesenen Problem der „objektiven Wirklichkeit“ zu behandeln sein, und ich kann eine Erörterung hier um so mehr unterlassen, als Hönigswald selber hervorhebt, es dürfe „keine Rede davon sein ..., daß die angedeuteten Folgen für Rickert selbst irgendwie bedenklich werden könnten“. Siehe: Kantstudien, Bd. XVII. 1921, S. 70. Anderen Bedenken, die H ö n i g s w a l d gegen meine Ansichten erhebt, würde ich ebenfalls erst mit Rücksicht auf meinen Begriff der objektiven Wirklichkeit und die Unterscheidung von konstitutiven und methodologischen Formen gerecht werden können, die ich in meinem Buch über den Gegenstand der Erkenntnis dargelegt habe, und sie müssen daher hier, wo ich mich auf die m e t h o d o l o g i s c h e n Fragen beschränke, unerörtert bleiben.

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keit der uns umgebenden Wirklichkeit läßt sich dadurch verringern, daß wir mit e i n e m bedeutungsvollen Worte eine Vielheit von anschaulichen wirklichen Dingen zugleich auffassen. Die intensive Mannigfaltigkeit jedes einzelnen wirklichen Dinges wird dadurch überwunden, daß wir, ohne uns das Ding seinem ganzen anschaulichen Inhalt nach ausdrücklich vergegenwärtigt zu haben, was unmöglich wäre, es doch mit Sicherheit einer Wortbedeutung unterordnen. Wir nehmen also durch die Wortbedeutung mit einem Schlage den Inhalt einer Mehrheit von anschaulichen Gestaltungen gewisser- | maßen in uns auf, und wir bilden doch nur einen kleinen Teil, vielleicht sogar nichts, von diesem unübersehbaren mannigfaltigen anschaulichen Inhalte dabei ab. Was die allgemeinen Wortbedeutungen eigentlich „sind“, und worauf ihre Fähigkeit, die Wirklichkeit vereinfachend zu übersehen, beruht, danach fragen wir zunächst noch nicht. Daß diese Fähigkeit vorhanden ist, oder daß die Wortbedeutungen das l e i s t e n , worauf es hier ankommt, davon kann jeder in jedem Augenblicke sich überzeugen, und das mag vorläufig genügen, da allein ihr Leistungsbegriff in Frage steht. Nur eine Ansicht über ihr Wesen müssen wir ausdrücklich zurückweisen. Ebenso wie sie nicht mit dem wirklichen Worte zusammenfallen, sind sie auch von dem realen p s y c h i s c h e n Sein zu unterscheiden, durch das sie gemeint oder verstanden werden. Sie selbst können überhaupt kein psychischer Vorgang in einem realen erkennenden Subjekte sein. Das geht schon daraus hervor, daß sie sonst auch als Bedeutungen ebenso oft wirklich vorhanden sein müßten, wie erkennende Subjekte sie verstehen oder meinen. Solch eine reale Vielheit der verstandenen Wortbedeutung aber gibt es nicht. Die Bedeutung, die ein Wort hat, ist vielmehr, wie oft sie auch gemeint oder verstanden sein mag, in einem sinnvollen Satze immer ein und d i e s e l b e , und diese i d e n t i s c h e Bedeutung allein meinen wir, wenn wir sagen, daß in ihrem Inhalt der Inhalt der wirklichen Mannigfaltigkeit bereits vereinfacht ist. Wie psychische Vorgänge, die ebenso wie die wirklichen Worte stets individuelle und unübersehbar mannigfaltige Wirklichkeiten sind, logische Allgemeinheit besitzen und die Mannigfaltigkeit der Körperwelt vereinfachen sollten, wäre überhaupt nicht einzusehen. Das Negative also steht jedenfalls fest: Wortbedeutungen sind weder wirkliche Worte noch psychische Realitäten wie die des Meinens oder Verstehens. Im Anschluß hieran läßt sich noch einem Mißverständnisse vorbeugen. Macht man sich nämlich auch nur dies Negative der logischen Gebilde klar, so wird man unsere Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, die von der Vereinfachung des gegebenen wirklichen Materiales durch die elementaren Wortbedeutungen ausgeht, nicht mit heute weit verbreiteten Ansichten verwechseln, die ebenfalls Wert auf die Einfachheit des Begriffs-

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inhaltes legen. Man hat bekanntlich das moderne Allheilmittel des Darwinismus auch zur Erklärung der logischen Allgemeinheit des Begriffes verwenden wollen, und es mag nun richtig sein, daß die Vereinfachung der Wirklichkeit durch das Denken die | Orientierung in der Welt erleichtert, so daß also der Besitz von allgemeinen Wortbedeutungen in der Tat zu einer wichtigen Waffe im „Kampf ums Dasein“ werden kann. Der sogenannte Pragmatismus, der auf diesem darwinistischen Gedanken beruht, würde dann ebenfalls mit Recht sagen, daß der Wert, den die Wortbedeutungen haben, darin besteht, daß sie die sonst unübersehbare anschauliche Mannigfaltigkeit überwinden. Von einem solchen „praktischen“ Wert der Wortbedeutungen reden wir hier jedoch gar nicht. Wir betrachten sie vielmehr als logische, also rein t h e o r e t i s c h e Gebilde mit Rücksicht darauf, daß sie im Dienst der Erkenntnis stehen, und wir wollen nur zeigen, daß mit jeder E r k e n n t n i s eine Vereinfachung der anschaulichen Wirklichkeit verknüpft sein muß, weil ihre unübersehbare Mannigfaltigkeit in keinen Begriff eingeht. Die Vereinfachung als solche ist daher auch, wie sich genauer zeigen wird, noch nicht das logische Gut, das wir beim Erkennen suchen. Dieses kann nur in dem stecken, was wir als theoretische G e l t u n g der Begriffe später zu erörtern haben. Mit dem wissenschaftlichen Begriff bringen wir die Wortbedeutung hier deswegen in Verbindung, weil in ihr sich bereits eine Vereinfachung von der Art darstellt, daß sie geeignet ist, um als Mittel dem Zwecke der Erkenntnis zu dienen. Jeder Gedanke an irgendwelchen „Nutzen“, den die Einfachheit des Erkenntnisinhaltes besitzt, liegt den logischen Ueberlegungen also vollständig fern. Zugleich freilich läßt sich in diesem Zusammenhange auch verstehen, weshalb der sonderbare Einfall, die theoretische Wahrheit der Erkenntnis sei pragmatistisch mit ihrer Nützlichkeit zu identifizieren, für mehr als einen Scherz gehalten worden ist. Wir müssen sowohl im theoretischen als auch im praktischen Interesse der Orientierung die Wirklichkeit vereinfachen, und bei einer Verwechslung der beiden Arten von Vereinfachung kann der Gedanke aufkommen, es sei die nützliche Vereinfachung, die im Dienste des praktischen Lebens steht, schon theoretische Erkenntnis. Abgesehen von dieser leicht zu durchschauenden Verwechslung aber haben unsere Ueberlegungen mit irgendeiner denkökonomischen oder pragmatistischen „Erkenntnistheorie“ nicht das geringste zu tun. Solange die Vereinfachung der körperlichen Mannigfaltigkeit durch die Wortbedeutungen lediglich von einem nicht durch logische Ziele geleiteten Denken vorgenommen wird, geht sie uns hier überhaupt noch nichts an. Verwendet man die Wortbedeutung dagegen zur wissenschaftlichen Erkenntnis, so haben wir darin die primitivste Form, die | wir als die dem naturwissenschaftlichen B e g r i f f eigentümliche Leistung ansehen wollen:

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er vereinfacht die Wirklichkeit und bringt dadurch ihre Mannigfaltigkeit in eine Form, in der sie in unsere Erkenntnis einzugehen vermag. In dieser Leistung erfassen wir das allgemeinste logische „Wesen“ des primitiven naturwissenschaftlichen Begriffes. Mit den Ausdrücken der traditionellen Logik können wir die Leistung auch so charakterisieren: im U m f a n g des Begriffes wird die extensive, im I n h a l t die intensive Mannigfaltigkeit des gegebenen wirklichen Materials überwunden. Was unter der Ueberwindung der extensiven Mannigfaltigkeit durch den Umfang zu verstehen ist, bedarf wohl keiner näheren Erklärung mehr. Was die Ueberwindung der intensiven Mannigfaltigkeit durch den Begriffsinhalt bedeutet, kann man sich vielleicht nicht besser klarmachen, als wenn man das Verhalten des wissenschaftlichen Menschen mit dem vergleicht, das der künstlerische Mensch der körperlichen Wirklichkeit gegenüber an den Tag legt. Wir haben dabei insbesondere den bildenden Künstler im Auge.12 Er haftet mit seinem Interesse an der a n s c h a u l i c h e n Gestaltung der Dinge. Auch er fühlt sich der Mannigfaltigkeit der Anschauung gegenüber ohnmächtig, ein Gefühl, das jeder kennt, der einmal nach der Natur zu zeichnen auch nur versucht hat. Auch er weiß, daß die Anschauung für ihn unerschöpflich ist, und er muß sie ebenfalls vereinfachen. Aber es bleibt für ihn zugleich doch immer die A n s c h a u u n g , die er festzuhalten, ja in seiner Weise gestaltend zu entwickeln sucht. Er glaubt vielleicht sogar, sich seinem Ziele um so mehr zu nähern, je mehr er sich in die Anschauung selbst vertieft, und wenn auch das Produkt seiner Bemühungen schließlich oft eine außerordentlich große Vereinfachung der Anschauung darstellt, so muß es doch immer eine anschauliche Vereinfachung sein, um die es sich für ihn handelt. Als gelungen wird ein Kunstwerk nur dann gelten, wenn es wenigstens den Schein des unerschöpflichen Reichtums hervorruft, den die Wirklichkeit selbst an jeder Stelle besitzt, und doch zugleich diesen unerschöpflichen Reichtum in einer gewissen Hinsicht überwunden hat. Ganz anders der wissenschaftliche Mensch. Bis zu einem hohen Grade sind ihm die Einzelheiten der anschaulichen Gestaltung gleichgültig. | Alle, die nicht künstlerisches Interesse an der Wirklichkeit nehmen, wissen von der anschaulichen Gestaltung selbst der Dinge, mit denen sie täglich umgehen, meist überraschend wenig. Nur soweit praktische Bedürfnisse dafür vorhanden sind, merken sie darauf, und der wissenschaftliche Mensch hat das allerdings mit ihnen gemeinsam, daß nicht die Anschauung als solche für ihn in Frage kommt, so weit seine Beobachtung sich auf sie auch erstre12

Vgl. die sehr interessanten Schriften von C o n r a d F i e d l e r : Ueber die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst, 1876, und: Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, 1887. Wieder abgedruckt in: Schriften über Kunst, herausg. von Hans Marbach, 1896.

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cken und so viel Unbekanntes und Neues er aus ihr auch zutage fördern mag. Vielmehr ist ebenfalls ein Bedürfnis, und zwar das theoretische Bedürfnis nach Erkenntnis, maßgebend für seine Teilnahme am Anschaulichen. Er v e r l ä ß t daher die Anschauung, sobald er sie sich soweit ausdrücklich zum Bewußtsein gebracht hat, daß er sich über ihr Verhältnis zum Inhalt seiner Begriffe klar zu werden vermag. Er muß aber einen M a ß s t a b dafür haben, w a n n er die Anschauung verlassen, d. h. in ihren Einzelheiten unbeachtet lassen darf. Sonst würde er mit der Untersuchung auch nur eines einzigen Objektes wegen dessen unübersehbarer Mannigfaltigkeit niemals fertig werden. Ohne Begriffe in dem angegebenen Sinne wäre also eine Erkenntnis selbst der kleinsten und einfachsten körperlichen Wirklichkeit unmöglich. Begriffsbildung, d. h. Verwendung der allgemeinen Wortbedeutungen zu einem logischen Zweck, ist notwendig verknüpft mit jedem in Worten ausdrückbaren Urteil über die Wirklichkeit. Der Gedanke an eine unmittelbare oder im strengen Sinne „intuitive“ Erkenntnis im G e g e n s a t z e zur begrifflichen ist daher als widersinnig von vornherein abzulehnen. B l o ß e s Anschauen oder „im Bewußtsein haben“ oder „Erleben“, wie man mit Vorliebe sagt, ist unter keinen Umständen schon Erkennen, so sehr diese Begriffe auch von der älteren und neueren Philosophie durcheinandergemengt werden mögen. Es gibt allerdings Urteile, die sich auf einzelne Anschauungen b e z i e h e n . Verständlich aber sind sie nur, wenn sie von hinweisenden Gebärden begleitet werden, wenn man also die gemeinte Anschauung direkt aufzeigen kann. Jedes Urteil, das für sich verständlich ist – und die Urteile, die wissenschaftliche Bedeutung haben sollen, müssen dies ausnahmslos sein –, verwendet allgemeine logische Gebilde, in denen sowohl eine Anzahl verschiedener Anschauungen zusammengefaßt als auch immer nur ein Teil des Inhaltes der zusammengefaßten Anschauung enthalten ist.13 | Der Umstand, daß es Urteile gibt, die sich nur auf ein einzelnes Ding beziehen w o l l e n , hebt diese Behauptung ebenfalls nicht auf. Eine Vereinfachung der Wirklichkeit liegt auch dann vor, wenn mit Hilfe der Wortbedeutung das zusammengefaßt wird, was e i n wirkliches Ding an Mannigfaltigkeit in verschiedenen E i n z e l a n s c h a u u n g e n unter verschiedenen Umständen darbietet. Ja, sollte sogar mit einem Worte eine einzige, vollkommen individuelle anschauliche Gestaltung der Wirklichkeit g e m e i n t sein, so würde das Urteil, wenn es ohne eine auf die betreffende Anschauung hinweisende Gebärde verstanden werden soll, doch aus allgemeinen Begriffen bestehen und könnte nur durch eine bestimmte K o m b i n a t i o n 13

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Daß hierbei die Sätze nicht in Frage kommen, in denen als Subjekte oder Prädikate die Wörter als solche, als diese bestimmten Lautkomplexe gemeint sind, versteht sich von selbst. Vgl. S i g w a r t , Logik [Bd.] I, 4. Aufl., S. 317.

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von Wortbedeutungen dazu auffordern, an eine einzige wirkliche Anschauung zu denken.14 Die Anschauung selbst aber würde auch gegenüber dieser Kombination von Wortbedeutungen immer noch ein unübersehbar großes Plus an Inhalt besitzen. Hieraus ergibt sich dann sogleich, daß die allgemeinen Wortbedeutungen für j e d e denkbare wissenschaftliche Begriffsbildung, also nicht nur für die naturwissenschaftliche von Bedeutung sein müssen, und das hat selbstverständlich für die Methodenlehre jeder Wissenschaft entscheidende Wichtigkeit. Auf die Konsequenzen jedoch, die sich daraus für die Begriffsbildung in der Geschichte ergeben, kommen wir erst später. Hier brauchen wir auf die Fälle, in denen eine einzige individuelle Wirklichkeit gemeint ist, nicht einzugehen, denn im Zusammenhange einer abschließenden naturwissenschaftlichen D a r s t e l l u n g , auf die wir uns beschränken, werden solche Urteile aus Gründen, die sich bald ergeben müssen, sich nicht finden, und welche Bedeutung sie innerhalb der naturwissenschaftlichen U n t e r s u c h u n g haben, können wir dahingestellt sein lassen. Auch Begriffe, die nur die verschiedenen Gestaltungen eines einzigen Dinges umfassen, kommen in der naturwissenschaftlichen Darstellung selten vor und bieten kein wesentliches Interesse für diesen Teil der Wissenschaftslehre. Sie werden uns ebenfalls erst beschäftigen, wenn wir uns der Bedeutung des Begriffes in den historischen Wissenschaften zuwenden. | Hier ist in bezug auf die elementaren Wortbedeutungen nur noch folgendes hervorzuheben. Selbst in den einfachsten Urteilen, mit denen wir, wie man zu sagen pflegt, nichts weiter tun als die Wirklichkeit b e s c h r e i b e n , nehmen wir immer eine weitgehende Vereinfachung vor, und wenn die Beschreibung einem wissenschaftlichen Zwecke dient, so muß auch sie als eine logische Bearbeitung und Umformung der Wirklichkeit mit Hilfe der Wortbedeutungen bezeichnet werden. Weil ein Urteil über die Wirklichkeit nur mit Hilfe eines „Begriffes“ in dem angegebenen Sinne, also einer primitiven Wortbedeutung möglich ist, können wir auch sagen, daß alles Angeschaute in ein Urteil als Glied einer Klasse eingeht. Jedes Urteil, das sein Objekt in anderer Weise als mit einem hinweisenden „dies“ bezeichnet, setzt daher, wenn es verständlich ist, bereits eine Klassifikation voraus, mag sie logisch betrachtet auch noch so unvollständig, unsystematisch und lückenhaft sein. 14

Es ist ein Verdienst Vo l k e l t s , in seinen Ausführungen über den Begriff (Erfahrung und Denken, 1886, S. 317 ff.), mit denen ich auch im folgenden (mehr allerdings im Resultat als in der Begründung) in wesentlichen Punkten übereinstimme, wieder entschieden darauf hingewiesen zu haben, daß der Begriff allgemein oder, wie er sagt, eine Vorstellung vom Gemeinsamen ist. Die Frage nach der Möglichkeit einer individualisierenden Begriffsbildung in der Geschichte wird dadurch, wie wir zeigen können, nicht berührt.

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Aus diesem Grunde ist es unmöglich, daß, wie Sigwart meint,15 einer Klassifikation des Gegebenen der Entwurf eines nach Raum und Zeit vollständigen Weltbildes im Ideale der Erkenntnis vorangehen müsse. Das Ideal einer vollständigen Kenntnis des Einzelnen, falls darunter eine Kenntnis der gesamten unübersehbaren Wirklichkeit verstanden wird, kann vielmehr in der Logik überhaupt keine Stelle haben. Ja, wir dürfen sagen, daß Urteile, die nur elementare Wortbedeutungen benutzen, um einen Gegenstand zu beschreiben, für das naturwissenschaftliche Begreifen lediglich als Vorstufen von logischem Interesse sind. In einem naturwissenschaftlichen Zusammenhange greifen wir fast niemals beliebig irgendeine elementare Wortbedeutung heraus. Wir w ä h l e n sie zu einem bestimmten Zweck und benutzen die in ihr vollzogene Vereinfachung der anschaulichen Mannigfaltigkeit so, daß dadurch die Wortbedeutung einen logischen Wert erhält. Eine solche Verwendung liegt dann immer schon auf dem Wege zu einer wissenschaftlichen Begriffsbildung, und dieser Umstand rechtfertigt es auch, daß wir bereits Gebilde, die sich von den elementaren Wortbedeutungen inhaltlich noch nicht unterscheiden, als „Begriffe“ bezeichnen. Wir setzen damit elementare Wortbedeutungen und Begriffe durchaus nicht gleich. Die Allgemeinheit der elementaren Wortbedeutungen allein genügt noch nicht, um sie zu einem wissenschaftlichen Begriff zu machen. Darin stimmen wir mit Sigwart vollkommen überein. Wir nen- | nen die Wortbedeutungen erst dann naturwissenschaftliche Begriffe, wenn die durch sie vollzogene Vereinfachung der Anschauung in der angegebenen Weise in den Dienst des naturwissenschaftlichen Erkennens tritt und so durch ihre Allgemeinheit ein logisches Ziel erreicht, eine wissenschaftliche Leistung vollbracht wird. Wir glauben zu dieser Bezeichnung um so mehr Recht zu haben, als auch die ausgebildeten Begriffe der Naturwissenschaft, so sehr sie sich von den elementaren Wortbedeutungen unterscheiden mögen, ihren logischen Wert zum größten Teil derselben Leistung verdanken, die wir als das wesentliche Charakteristikum schon der primitivsten Begriffsbildung ansehen, nämlich der Vereinfachung der intensiven und extensiven Mannigfaltigkeit der wirklichen Dinge durch Umsetzung der Anschaulichkeit in die logische Form der Allgemeinheit, die der Begriff besitzt. Zu zeigen, daß im G e n e r a l i s i e r e n das Wesen auch der logisch vollkommensten naturwissenschaftlichen Begriffsbildung besteht, wird im folgenden unsere Aufgabe sein.

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Logik [Bd.] II, 4. Aufl., S. 9.

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II. Die Bestimmtheit des Begriffes.

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Wir haben bisher die Verwendung der elementaren Wortbedeutungen zum Zweck der wissenschaftlichen Erkenntnis körperlicher Vorgänge kennen gelernt, und wir müssen jetzt auch zeigen, warum es sich dabei nur um den ersten A n s a t z zur Bildung eines wissenschaftlichen Begriffes handeln kann. Die Wortbedeutungen bedürfen, um logisch vollkommene Begriffe zu sein, d. h. um die Aufgabe, die sie haben, zu erfüllen, einer weiteren logischen Bearbeitung. Ja, erst damit setzt das ein, was wir im eigentlichen Sinne des Wortes Begriffs b i l d u n g nennen dürfen. Die elementaren Wortbedeutungen „bilden“ wir nicht, sondern finden sie fertig vor. Nur die Art, wie wir sie wählen und verwenden, macht sie zu „Begriffen“ im wissenschaftlichen Sinne, und nur insofern kann man schon bei ihnen von Begriffsbildung reden. Dabei aber darf es, wie gesagt, nicht sein Bewenden haben. Um die Notwendigkeit und die Art ihrer weiteren Bearbeitung zu verstehen, müssen wir zunächst ihr Wesen uns noch etwas genauer vergegenwärtigen. Wir sind davon ausgegangen, daß es so etwas wie allgemeine Wortbedeutungen gibt, und dazu haben wir ein gutes Recht. Wenn die Worte keine Bedeutungen hätten, so würden wir sie nicht verstehen, ja gar nicht von sinnlosen Buchstaben- oder Lautkomplexen unterscheiden | können. Was aber ist das, was zu dem an sich bedeutungslosen Wortbild oder Wortklang hinzutritt? Wir wollen dies Problem für unsere Zwecke so stellen, daß wir nur fragen: können wir der empirischen Anschauung beim Verstehen der Worte gänzlich entbehren? Warum diese Frage von Bedeutung wird, ist klar. Müssen wir sie verneinen, so kommt mit der Anschauung auch unübersehbare Mannigfaltigkeit in den Begriff, und sein Wert, der ja gerade in deren Ueberwindung bestehen soll, muß wieder zweifelhaft werden. In der Beseitigung auch dieser Mannigfaltigkeit wäre dann eine weitere logische Bearbeitung der elementaren Begriffe zu suchen, die n u r Wortbedeutungen sind. Doch scheint die Anschauung der Wirklichkeit beim Verstehen der Wortbedeutungen keine wesentliche Rolle zu spielen. Viele werden geneigt sein, mit Schopenhauer,16 Liebmann,17 Riehl,18 Husserl 19 und andern anzunehmen, daß wir zum mindesten nicht alle Worte, die wir verstehen, in anschauliche Bilder umsetzen, denn es würde dann ein so schnelles Verständnis, wie es tatsächlich stattfindet, nicht möglich sein. Neuerdings hat man 16 17 18 19

Die Welt als Wille und Vorstellung. Erstes Buch, § 9, S. W. (Grisebach) Bd. 1, S. 77 ff. Zur Analysis der Wirklichkeit, 1876, 2. Aufl., 1880, S. 471 ff. Beiträge zur Logik, 1892. Logische Untersuchungen, II, 1901, 2. Aufl. 1913 [Bd. II.1], S. 61 ff.

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für diese nicht gerade überraschende Tatsache sogar Beweise durch psychologische „Experimente“ versucht. Aber sie läßt das Problem der Wortbedeutung, wenn es sich um die Leistung des wissenschaftlichen Begriffes handelt, doch nur um so schärfer hervortreten. Es mag richtig sein: wir wissen bei den meisten Worten, die wir verstehen und in der Wissenschaft benutzen, nicht genau anzugeben, was der Inhalt ihrer Bedeutung ist. Gerade der Umstand, daß ein Streit darüber entstehen konnte, was zum Worte hinzukommt, um ihm Bedeutung zu geben, beweist dies auf das Unzweideutigste. Mag nun aber auch die Unmöglichkeit einer genauen Bedeutungsangabe für das tägliche Leben nicht störend sein, so liegt es doch anders bei Worten, die als Zeichen von Begriffen einem wissenschaftlichen Zweck dienen sollen. Da genügt es nicht, daß die Worte verstanden werden, ohne daß wir wissen wodurch, denn unter dieser Bedingung sind Mißverständnisse niemals völlig ausgeschlossen. Wir können daher bei der vielleicht richtigen, aber rein negativen Behauptung nicht stehen bleiben, daß wir keine Anschauung brauchen, um die Worte zu verstehen. Die Wissenschaft wird, um Sicherheit in der Anwendung der Wortbedeutungen für jeden Fall herbei- | zuführen, darauf ausgehen, den Inhalt, den sie haben sollen, auch ausdrücklich zum Bewußtsein zu bringen. Versuchen wir dies aber, dann drängt sich, wenigstens in vielen Fällen, doch wieder Anschauung mit ihrer unübersehbaren Mannigfaltigkeit vor, und eine solche Vergegenwärtigung der Bedeutung genügt im wissenschaftlichen Interesse offenbar nicht. Die Mannigfaltigkeit des Inhalts führt eine Unsicherheit, ein Schwanken mit sich, und die Wortbedeutung, deren Inhalt wir uns in der angegebenen Weise vergegenwärtigt haben, verdankt dann ihre Fähigkeit, die Mannigfaltigkeit der Dinge zu vereinfachen, solange sie ein logisch nicht weiter bearbeitetes Gebilde ist, nur der U n b e s t i m m t h e i t ihres Inhaltes. Oder genauer, da eine Wortbedeutung, soweit sie überhaupt verstanden wird, auch als bestimmt verstanden werden muß: das Wort bekommt, wenn wir seine Bedeutung uns ausdrücklich zu vergegenwärtigen suchen, statt einer oft m e h r e r e Bedeutungen, und wir wissen dann nicht, welche von ihnen gemeint ist. Doch dürfen wir dies Auftauchen und Verschwinden verschiedener Bedeutungen beim Hören oder Lesen eines Wortes, um einen bequemen Ausdruck zu haben, wohl kurz seine „unbestimmte Bedeutung“ nennen und dementsprechend auch von „unbestimmten Begriffen“ reden. Wir können dann sagen: mag die Unbestimmtheit der Wortbedeutungen oder Begriffe bei ihrer Verwendung im täglichen Leben so gering sein, daß bisweilen der Schein entsteht, sie sei überhaupt nicht vorhanden, so bleibt sie doch unter logischen Gesichtspunkten ein Mangel. Sie hindert uns nicht nur, den Umfang des Begriffes mit Sicherheit anzugeben, sondern es kann ein Begriff mit unbestimmtem Inhalt in dem

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angegebenen Sinne auch für die Ueberwindung der intensiven Mannigfaltigkeit der Einzelgestaltungen nur wenig leisten. Es gilt also, die Mannigfaltigkeit, auf der die Unbestimmtheit beruht, aus dem Inhalte der Wortbedeutung zu entfernen und den Teil zu isolieren, auf den es in der Wissenschaft allein ankommt. Es gilt mit andern Worten, den Begriffsinhalt so weit von der Anschauung loszulösen, daß jede störende Mannigfaltigkeit beseitigt wird. Nur so werden wir logisch vollkommene Begriffe bilden, die einen bestimmten Inhalt haben, oder genauer: nur die Worte sind zur Bildung von wissenschaftlichen Urteilen brauchbar, deren Bedeutung e i n e ist, und die zugleich eine soweit genau angebbare Bedeutung besitzen, daß keine Verwechslung mit andern Bedeutungen droht. Sigwart hat deshalb durchaus recht, wenn er die B e s t i m m t h e i t als eine wesentliche Eigenschaft des logisch vollkommenen Begriffes hervorhebt. Auch Volkelt nennt den | Begriff die bestimmte Vorstellung vom Gemeinsamen. Wir haben hier versucht, die Notwendigkeit der Bestimmtheit aus der L e i s t u n g des Begriffes abzuleiten, die er in einem wissenschaftlichen Zusammenhange vollbringen muß. Und wie werden wir die störende Mannigfaltigkeit los, die das Wort vieldeutig und damit den Begriff in dem angegebenen Sinne unbestimmt macht? Das Mittel dazu ist einfach, und es wird fortwährend verwendet. Wir „definieren“ den Begriff, d. h. wir sagen ausdrücklich, woraus sein Inhalt besteht. Wir geben z. B., wenn wir eine beobachtbare Mannigfaltigkeit von Einzelgestaltungen vor uns haben, genau an, was diesen verschiedenen Gestaltungen gemeinsam ist, und wir fassen dieses Gemeinsame dann in den Begriffsinhalt zusammen, während wir das, wodurch die verschiedenen Gestaltungen sich voneinander unterscheiden, als unwesentlich weglassen. Mit solchen Aussagen aber kommen wir zugleich zu etwas ganz Neuem. Die Begriffsbestimmung kann nämlich nur dadurch vorgenommen werden, daß wir an die Stelle des e i n e n Wortes einen S a t z treten lassen, der von uns verstanden wird. In der Bedeutung oder in dem Sinn dieses Satzes haben wir dann den Inhalt des Begriffes bestimmt vor uns. Das soll freilich nicht heißen, daß bei der Verwendung des so bestimmten Begriffes in wissenschaftlichen Ausführungen jedesmal beim Hören des betreffenden Wortes die Aussage, die den Inhalt seiner Bedeutung angibt, ausdrücklich verstanden wird. Nur die Möglichkeit muß da sein, daß, sobald über den Inhalt von Begriffen ein Zweifel besteht, bestimmende Aussagen auftreten und verstanden werden können. Nur das meinen wir, daß, wo das Bedürfnis nach ausdrücklicher Vergegenwärtigung genau bestimmter Begriffsinhalte besteht, diese nicht durch Angabe einzelner Worte, sondern durch Aussagen zu geschehen hat. Ja, wir müssen noch eine Einschränkung machen. Wir wollen zunächst nur feststellen, daß die Inhaltsangabe eines Begriffes und

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jede wirkliche Vergegenwärtigung seines Inhaltes die äußerliche F o r m einer Aussage annehmen muß. Die Frage, ob wir es dabei auch mit „Urteilen“, d. h. mit Sätzen, deren logischer Gehalt w a h r genannt werden kann, zu tun haben, lassen wir zunächst dahingestellt. Hier kam es nur darauf an, zu zeigen, welches Mittel wir anwenden, um die beiden an einen Begriff zu stellenden Anforderungen, die Allgemeinheit und die Bestimmtheit, miteinander zu vereinigen, falls das, was wir beim Lesen oder Hören eines einzelnen Wortes verstehen, nicht eindeutig ist. | Doch beseitigt dieses Mittel wirklich den Mangel, der den logisch unbearbeiteten Wortbedeutungen anhaftet? Das scheint insofern nicht der Fall zu sein, als jede einzelne Bedeutung der verschiedenen Worte, aus denen der bestimmende Satz besteht, also auch jedes der Begriffs e l e m e n t e , deren Gesamtheit nun den Inhalt des Begriffes ausmacht, wenn er bestimmt ist, wiederum eine noch nicht bestimmte Wortbedeutung sein muß und daher, sobald ihr Inhalt ausdrücklich vergegenwärtigt wird, mit derselben Mannigfaltigkeit und Unbestimmtheit behaftet sein kann wie der durch sie zu bestimmende Begriff selbst. Zwar läßt diese Unbestimmtheit der sogenannten „Merkmale“ des Begriffes sich dadurch beseitigen, daß wir die Worte in den zur Bestimmung des Begriffes dienenden Sätzen wiederum nach ihrer Bedeutung bestimmen, indem wir in neuen Aussagen deren Elemente ebenfalls genau angeben. Aber, da auch diese neuen Elemente als allgemeine Wortbedeutungen in dem angegebenen Sinne „unbestimmt“ sein können, daß ein Wort mehrere Bedeutungen hat, und weil dieser Uebelstand bei jeder neuen Bestimmung sich eventuell wiederholt, so scheinen wir vor die Aufgabe gestellt, eine endlose Reihe von Begriffsbestimmungen vorzunehmen, um einen völlig bestimmten Begriffsinhalt zu erreichen. Das aber heißt, daß wir auch durch die Umsetzung des Begriffsinhaltes in den Sinn von Aussagen nicht imstande sind, Begriffe mit völlig bestimmtem Inhalt zu bilden, daß also selbst diese Begriffe die störende Mannigfaltigkeit nicht in logisch vollkommener Weise überwinden. In der Tat, eine rein formale Betrachtung, die ohne Einschränkung an jeden Begriff die Anforderung absoluter Bestimmtheit stellt, oder die nur solche Worte in naturwissenschaftlichen Sätzen verwenden will, deren logische Gestalt absolut eindeutig ist, verlangt etwas Unmögliches. Solange aber die Bestimmtheit des Begriffes nichts als Sicherheit seiner Anwendung oder seiner Leistung garantieren soll, braucht die Begriffsbestimmung nur so weit zu gehen, daß die Unbestimmtheit des Inhaltes nicht mehr einen störenden Einfluß auf den Gang der wissenschaftlichen Untersuchung auszuüben vermag. Ist, so müssen wir fragen, zur Erreichung dieses Zieles immer eine a b s o l u t e Bestimmtheit erforderlich? Offenbar nicht. Nur bestimmter müssen wir die Begriffsinhalte machen können, als es in vielen Fällen die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen ist, die

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sich mit einem Worte verknüpfen, und dem steht nichts im Wege. Schon von vorneherein ist das, was wir die Unbestimmtheit der Wortbedeutungen nennen, in gewisse Grenzen eingeschlossen, da wir ihnen | ja nicht alles Beliebige unterordnen können, und es kommt darauf allein an, diese Grenzen zu verengern. Das aber kann auch durch Angabe von Begriffselementen oder Wortbedeutungen, die für sich nicht vollkommen bestimmt sind, in hohem Maße erreicht werden. So wird z. B. der Jurist 20 bei der elementaren und in dem angegebenen Sinne unbestimmten Bedeutung des Wortes „Ehe“, bei dem man an sehr verschiedene Inhalte denken kann, zwar nicht stehen bleiben, sondern den Begriff durch Angabe der die Ehe betreffenden Gesetzesbestimmungen ausdrücklich feststellen. Er wird jedoch dabei nicht vermeiden können, mit Wortbedeutungen wie Mann und Weib zu operieren, und wenn er bei ihnen von einer ausdrücklichen Begriffsbestimmung absieht, so darf er das, weil durch die Unbestimmtheit d i e s e r Wortbedeutungen der Begriff der Ehe niemals eine für den Juristen störende Unbestimmtheit erhält. So läßt sich, wenn das Beispiel auch nicht den Naturwissenschaften entnommen ist, doch ganz im allgemeinen zeigen, was Verminderung der Unbestimmtheit eines Begriffes durch Angabe von selbst unbestimmten Wortbedeutungen als Begriffselementen heißt. Wo die Grenze der für die logische Begriffsleistung unschädlichen Unbestimmtheit liegt, kann selbstverständlich für die verschiedenen Wissenschaften erst unter Berücksichtigung ihrer sachlichen Eigentümlichkeiten im einzelnen festgestellt werden. Die Sonderdisziplinen müssen sich hierin sehr verschieden verhalten, entsprechend den verschiedenen Erkenntnisaufgaben, die sie sich stellen. Hier genügt es, daß aus dem Mangel absoluter Bestimmtheit kein allgemeiner Einwand gegen unsere Gedanken hergeleitet werden darf. Daher sei nur für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung, die uns hier ja allein interessiert, noch einiges hinzugefügt. In vielen Fällen wird sich die Sache so darstellen, daß die Wortbedeutungen, die der eine Teil der Naturwissenschaft nicht durch Aussagen zu bestimmen braucht, weil ihre Bestimmtheit für seine Zwecke ausreicht, von einem andern Teile der Naturwissenschaft zu weiterer begrifflicher Bearbeitung aufgenommen werden, während dieser Teil wiederum einen andern Teil seiner Wortbedeutungen einer dritten Naturwissenschaft zur begrifflichen Bearbeitung überläßt, usw. Oft bilden die Wortbedeutungen, mit denen die eine Wissenschaft, trotz ihrer Unbestimmtheit, sicher arbeitet, gerade die schwierigsten Probleme für eine andere Disziplin. Man kann versuchen, unter diesem Gesichtspunkt eine systema- | tische Anordnung der einzelnen Naturwissenschaften vorzunehmen. Dann hätte man mit de20

Vgl. S i g w a r t s Kritik meiner Doktordissertation: Zur Lehre von der Definition, 1888, in den Göttingischen gelehrten Anzeigen, 1890, Nr. 2, S. 55.

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nen zu beginnen, in denen die meisten unbearbeiteten Wortbedeutungen vorkommen, d. h. in denen es sich im wesentlichen nur um eine sogenannte Beschreibung handelt. Doch würde man finden, daß schon die gewöhnlich als beschreibende Naturwissenschaften bezeichneten Wissenszweige mit Wortbedeutungen, deren Inhalt bei dem Versuch, ihn zu vergegenwärtigen, n u r eine unmittelbare Anschauung bildet, dann allein auskommen, wenn sie Dinge unter einen Begriff bringen, die eine weitgehende anschauliche Aehnlichkeit miteinander haben. Diese ist aber nicht in allen Fällen maßgebend. Ein Denken, das lediglich mit solchen Wortbedeutungen operiert, wird z. B. eine Blindschleiche zu den Schlangen, einen Delphin zu den Fischen zählen. Ein Begriff, der die Blindschleiche mit der Eidechse, den Delphin mit dem Hunde zusammenfaßt, kann keine elementare Wortbedeutung mehr sein, deren Inhalt sich noch anschaulich vergegenwärtigen ließe. Die Elemente schon dieser Begriffe müssen vielmehr ausdrücklich angegeben werden. Von hier aus könnte man dann zu andern Wissenschaften aufsteigen, die um so höher stehen, je mehr in ihnen die Unbestimmtheit der anschaulichen Mannigfaltigkeit beseitigt und durch logisch bearbeitete, in der Form von Aussagen darstellbare Begriffe ersetzt ist. Doch, es wird erst dann möglich sein, diesen Gedanken zu voller Klarheit zu bringen, wenn wir die Frage behandeln, wie weit die Aussagen, durch welche die Elemente eines Begriffes angegeben werden, nicht nur die äußere Form von Sätzen, sondern auch den logischen Gehalt von Urteilen haben, die wahr sind. Erst dann kann das eigentliche Wesen des Begriffes sich enthüllen, das mit der Bestimmtheit ebensowenig wie mit der bisher allein betrachteten Allgemeinheit der elementaren Wortbedeutungen erschöpft ist. Das bloße Wortverständnis darf, wie sich zeigen wird, überhaupt noch gar nicht als das Verständnis eines l o g i s c h e n Sinnes oder als Erkenntnis gelten. Alles, was wir bisher ausgeführt haben, hat daher lediglich eine vorläufige Bedeutung. Den Gedanken an eine Rangordnung der verschiedenen Wissenszweige schon hier zu streifen, veranlaßt der Umstand, daß er uns auch in bezug auf die Bestimmtheit des Begriffes vor eine neue Schwierigkeit führt. Gerade wenn wir an den Zusammenhang der einzelnen Disziplinen in der Naturwissenschaft denken, müssen wir zweifelhaft werden, ob die Meinung, eine Spezialwissenschaft benutze unbestimmte Wortbedeutungen, die sie einer anderen zu begrifflicher Bearbeitung überläßt, uns befriedigen kann. Die verschiedenen Teile der Naturwissen- | schaft stellen zwar von verschiedenen Seiten her die Wirklichkeit dar und können als Sonderdisziplinen sich nur begrenzte Aufgaben stellen. Aber sie sind doch zugleich, weil die Körperwelt als ein einheitliches Ganzes zu betrachten ist, alle auch als Glieder eines wissenschaftlichen Systems anzusehen. Es wird danach schließlich eine

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Wissenschaft geben müssen, die die Aufgabe der Begriffsbestimmung, also der Beseitigung aller sich eindrängenden störenden Mannigfaltigkeit, zu E n d e zu führen sucht, weil sie es mit Begriffselementen zu tun hat, deren Bearbeitung sie keiner andern Wissenschaft mehr zuschieben kann. Und diese Wissenschaft würde ihre Aufgabe erst dann gelöst haben, wenn sie n u r mit Begriffen arbeitete, deren Elemente sowohl allgemein als auch zugleich absolut bestimmt sind. Damit kommen wir also doch wieder zu der oben abgewiesenen Forderung der absoluten Bestimmtheit des allgemeinen Begriffsinhaltes zurück. Allerdings stehen wir ihr jetzt insofern anders gegenüber, als sie nicht mehr an jeden Begriff gestellt werden darf. Aber sie erscheint in der Tat als der Gedanke eines Zieles, dem die allgemeinste und insofern grundlegende Naturwissenschaft sich immer mehr anzunähern hat. Wir müssen – das läßt sich nicht leugnen – als letztes naturwissenschaftliches I d e a l Begriffe erstreben, deren Elemente vollkommen frei von unbestimmter Mannigfaltigkeit sind, wie sie die Anschauung der empirischen Wirklichkeit mit sich führt, und das heißt nichts anderes, als daß wir als Ideal e i n f a c h e Elemente der Begriffe aufzustellen haben. Die Beantwortung der Fragen jedoch, wie weit diese letzten idealen Begriffselemente erreichbar sind, und ob sie sich unserer Theorie in jeder Hinsicht einordnen, wollen wir für einen späteren Zusammenhang aufschieben. Wir können es, da diese Begriffe gewissermaßen nur einen Grenzfall darstellen. Zunächst drängt sich uns eine wichtigere allgemeine Frage auf, die das Wesen aller naturwissenschaftlichen Begriffe betrifft.

III. Die Geltung des Begriffs.

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Wäre mit Begriffen, die den vorher dargestellten Anforderungen genügen, eine vollkommene Ueberwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit des Wirklichen oder auch nur eine Annäherung an dieses Ziel möglich? Nehmen wir einmal an, es gelänge der Naturwissenschaft, absolut einfache und bestimmte Begriffselemente zu finden, aus denen sich alle anderen Begriffe für die körperliche Wirklichkeit auf- | bauen lassen, würde sie damit auch nur die intensive Mannigfaltigkeit irgendeiner Einzelgestaltung wissenschaftlich zu überwinden imstande sein? Offenbar nicht, denn um die Erkenntnis eines Körpers so zu Ende zu führen, daß keine anschauliche und unübersehbare Mannigfaltigkeit darin mehr unbegriffen bleibt, brauchen wir nicht nur einfache und bestimmte Begriffselemente, sondern auch eine vollkommen übersehbare A n z a h l von ihnen, d. h. wir müssen die Ueberzeugung gewinnen können, daß keine weitere Untersuchung des be-

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treffenden Einzelobjektes uns nötigen wird, die Begriffselemente beliebig weiter zu vermehren. Um uns aber einem solchen Zustand auch nur n ä h e r n zu können, bietet der Begriff, soweit wir ihn bisher kennengelernt haben, noch kein Mittel. Und doch müssen wir einen solchen Zustand des Wissens als letztes Ziel aufstellen, falls es überhaupt einen Fortschritt der Erkenntnis auf ein Ziel hin geben soll. Also hat noch etwas bisher Unbeachtetes zu den angegebenen Eigenschaften des naturwissenschaftlichen Begriffes hinzuzutreten. Das wird sogleich klarer werden, wenn wir nicht nur die intensive, sondern auch die extensive Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit ausdrücklich in Betracht ziehen. Ja, wir wollen uns zunächst einmal auf ihre Ueberwindung beschränken. Wir können dies, da ja das Erkenntnisstreben der Naturwissenschaft, wenigstens in letzter Hinsicht, niemals auf Einzelnes, sondern immer auf ein extensiv unübersehbares Ganzes von Körpern gerichtet ist. Dann ergibt sich folgendes. Unsere Begriffe sind stets an einer nur begrenzten Anzahl von Einzelgestaltungen oder eventuell auch an einer einzigen gebildet. Das unbegrenzte Körperganze ist seinem Wesen nach niemals direkter Gegenstand der Beobachtung. Wir müssen also voraussetzen, daß schon ein Teil uns über alle Teile Aufschluß gibt, d. h. daß es uns möglich ist, am Teil Begriffe zu bilden, die zur Erkenntnis des Ganzen dienen. Der Physiker z. B. sucht eventuell durch Analyse eines einzigen Experimentes einen Begriff zu finden, der unübersehbar Mannigfaltiges umfaßt. Dieser Gedanke führt uns weiter. Wir hatten bisher immer nur die Vereinfachung einer Mannigfaltigkeit überhaupt behandelt. Jetzt, wo wir die Mannigfaltigkeit der Körperwelt im Sinne von Unerschöpflichkeit oder Unübersehbarkeit nehmen, muß klar sein, warum die dargestellte Vereinfachung für deren Ueberwindung noch nichts leistet. Die Allgemeinheit der elementaren Wortbedeutungen bleibt stets empirisch begrenzt, und die Bestimmung ihres Inhaltes durch Umsetzung in die Form von Aussagen ändert hieran nichts. Soll eine Ueberwindung der | unübersehbaren Fülle der Körperwelt durch Beobachtung eines extensiv begrenzten Materials möglich sein, so müssen wir Begriffe bilden können, unter deren Umfang notwendig eine unbegrenzte Anzahl von Einzelgestaltungen fällt. Sonst schrumpft jede naturwissenschaftliche Leistung gegenüber der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Körperwelt zur Bedeutungslosigkeit zusammen. Etwas genauer können wir diesen Gedanken formulieren, wenn wir wieder daran erinnern, daß wir die Körperwelt sowohl räumlich als auch zeitlich unübersehbar denken. Wir machen in der Naturwissenschaft notwendig die Voraussetzung, daß wir mit Begriffen, die an einem uns naheliegenden Bruchstück gebildet sind, etwas erfaßt haben, das in jeder beliebigen Entfernung von uns sich wiederholen kann. Daraus ergibt sich, daß der Inhalt des

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Begriffes von jeder Bestimmung, die sich n u r auf diesen oder jenen Raumteil bezieht, frei sein muß. Und genau ebenso verhält es sich mit der Zeit. Der Inhalt eines Begriffes, der zur Erfassung des Körperganzen dienen soll, darf nichts enthalten, das ihn an eine besondere Zeit bindet. Erst dann gilt von ihm das Wort Schopenhauers, daß er frei von der Gewalt der Zeit ist. Es ist nicht einzusehen, wie die Begriffe, die nur die bisher betrachteten Eigenschaften besitzen, das, was hier verlangt wird, leisten sollen. Eine Allgemeinheit z. B., wie sie durch Vergleichung direkt beobachtbarer Objekte, durch Weglassen der Unterschiede und Zusammenfassung des Gemeinsamen zustande kommt, kann nicht in den Dienst einer Erkenntnis der unübersehbaren Mannigfaltigkeit gestellt werden. Was aber fehlt der bisher betrachteten Allgemeinheit noch? Um eine Antwort darauf zu gewinnen, führen wir den Gedanken weiter, daß der wissenschaftlich brauchbare Begriffsausdruck die Form von Aussagen haben, oder genauer jederzeit imstande sein muß, diese Form anzunehmen. Bisher haben wir es unentschieden gelassen, ob die Begriffsbestimmung mehr als diese äußere Form zeigt, d. h. aus s o l c h e n Aussagen besteht, die etwas als w a h r behaupten oder Urteilsgehalt besitzen. Ist, so wollen wir jetzt fragen, die Begriffsbestimmung oder die Zusammenfügung der Begriffselemente auch ihrem logischen Gehalt nach ein Urteil, oder täuscht, wie Riehl 21 ausgeführt hat, ihre sprachliche Einkleidung uns über ihren eigentlichen Charakter? Vorher müssen wir jedoch den Begriff des Urteils ebenso wie früher den der Wortbedeutung vor Verwechslungen schützen. Wir trennten das Wort von der Bedeutung, die an ihm haftet, und diese von dem | psychischen Akte des Verstehens oder Meinens. Kommt nun das Urteil als Inhalt eines Begriffes in Frage, so kann es ebenfalls nicht nur nicht der Satz, sondern auch nicht der psychische Akt des Verstehens oder des Meinens sein, den wir Urteil nennen. Das vielmehr, w a s verstanden oder gemeint wird, wenn wir einen Satz hören oder aussprechen, ist für uns das logisch Wesentliche am Urteil, und wir müssen es von dem wirklichen Akte des Urteilens scharf absondern. Es kann so wenig ein psychischer Vorgang sein, wie die Bedeutung des Wortes es ist, und zwar aus denselben Gründen. Wir wollen das identische Etwas, das von verschiedenen Subjekten oder auch von einem Subjekt in verschiedenen psychischen Akten als d a s s e l b e gemeint oder verstanden wird, und das daher nicht mit den v e r s c h i e d e n e n psychischen Realitäten zusammenfallen kann, zur Vermeidung von Mißverständnissen auch mit einem besonderen Terminus bezeichnen. Wir könnten es den logischen „Sinn“ des Urteils nennen, um es von der bloßen „Bedeu21

Beiträge zur Logik, 1892.

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tung“ des Wortes, die dann zu einem bloßen Gliede dieses „Sinnes“ geworden ist, zu trennen.22 Aber es ist noch ausdrücklich hinzuzufügen, daß wir mit „Sinn“ hier allein den für sich bestehenden, vom Urteilsakte in jeder Hinsicht unabhängigen, „transzendenten“ Urteilssinn meinen, denn es kann auch von einem dem Urteilsakte innewohnenden oder „immanenten“ Sinn gesprochen werden. Am besten wird es sein, wenn wir das logische Gebilde, das gemeint oder verstanden ist, als den logischen U r t e i l s g e h a l t bezeichnen, und unsere Frage läßt sich dann so formulieren, ob der logisch vollkommene Begriff nur aus Wortbedeutungen besteht oder aus dem Gehalt von Urteilen, der w a h r genannt werden kann, und als dessen bloße Glieder nun die Wortbedeutungen zu betrachten wären. Für den, der im Urteil nichts anderes als eine Zusammenstellung von Wortbedeutungen sieht, ist die Frage bereits beantwortet. Die Unterscheidung von Begriff und Urteil hat dann lediglich die Bedeutung der sprachlichen Unterscheidung von Wort und Satz.23 Der logische Gehalt ist in beiden derselbe. Anders aber liegt die Sache, wenn man meint, daß | die bloße Verknüpfung von Wortbedeutungen noch keinen Urteilsgehalt gebe, sondern daß zu ihr ein anderes Moment hinzutreten müsse, das als das der „Geltung“ zu bezeichnen ist. Erst Gebilde, die gelten, können wahr sein und daher einen Urteilsgehalt ausmachen. Also, wir wollen wissen, ob Begriffe ihrem logischen Gehalt nach g e l t e n , wenn wir fragen, ob sie aus Urteilen bestehen. Das Problem wird durch den Umstand kompliziert, daß in der sprachlich vollzogenen Begriffsbestimmung, der Definition,24 die Urteile, die den Begriff bilden, noch nicht zu einem sprachlichen Ausdruck kommen, dessen Form sich mit der Struktur des logischen Gehaltes deckt, denn sie sind in einen Satz zusammengefaßt, und zwar so, daß dieser direkt nicht den Inhalt des Begriffes, sondern die Bedeutung des mit dem Begriff verknüpften Wortes angibt. Deshalb muß hervorgehoben werden, daß der Bedeutungsangabe des Wortes nicht der Urteilsgehalt entspricht, der für uns in Frage kommt. Aber sogar das beseitigt nicht alle Unklarheiten in der Fragestellung. Die 22

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Vgl. meine Abhandlung: Zwei Wege der Erkenntnistheorie. Transzendentalpsychologie und Transzendentallogik. [In:] Kantstudien, [Bd.] XIV, 1909, S. 199 f. Die Trennung des wirklichen psychischen Urteilens von dem immanenten Urteilssinn wie dem transzendenten Urteilsgehalt habe ich ferner in der Abhandlung: Urteil und Urteilen, [in:] Logos, [Bd.] III, 1912, S. 230 ff. durchzuführen versucht. Eine eingehende Erörterung dieser Probleme enthält mein Buch: Der Gegenstand der Erkenntnis. 6. Aufl. 1928. Vgl. W i n d e l b a n d , Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil. [In:] Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, 1884, S. 170 f. Das Wort ist bisher absichtlich vermieden. Ich habe es früher als gleichbedeutend mit Begriffsbildung oder Begriffsbestimmung gebraucht (Zur Lehre von der Definition 1888, 2. Aufl., 1915), gebe aber S i g w a r t gern zu, daß man es auch für den sprachlichen Satz verwendet, der die Bedeutung zweier Ausdrücke gleichsetzt. Doch werden dadurch sachlich die Ausführungen meiner Doktor-Dissertation nur unwesentlich modifiziert.

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Hauptschwierigkeit liegt vielmehr darin, daß, selbst wenn die Sätze, die den Inhalt des Begriffes angeben, ausdrücklich vollzogen werden, man meinen kann, die Begriffsbildung bestehe lediglich in einer Zusammenstellung von Begriffselementen oder Merkmalen, ohne daß dadurch schon irgend etwas über die Geltung gerade dieses Zusammen als eines Zusammen g e h ö r i g e n ausgesagt werde. Dann könnte man noch immer nicht behaupten, daß der Begriffsinhalt aus dem Gehalt von wahren oder gültigen Urteilen besteht. Doch, es wird nun zwar niemand leugnen, daß es möglich ist, Begriffselemente oder Merkmale zusammenzustellen, ohne daß an ihnen Wahrheit haftet, und daß solche Begriffsbildungen, die man dann wenig glücklich „Nominaldefinitionen“ nennt, nur die Form von Aussagen haben, die keine gültigen Urteile sind, ist allerdings selbstverständlich. Aber dieser Umstand darf uns den wesentlichen Punkt nicht verhüllen. Wir behandeln hier den Begriff nur insoweit, als er ein für die Erkenntnis der Natur logisch b e d e u t u n g s v o l l e s Glied in einem wissenschaftlichen Leistungszusammenhange ist, und da ist die M ö g l i c h k e i t einer Begriffsbildung durch bloßes Zusammenstellen von Merkmalen ohne deren Zusammengehörigkeit für unser Problem von keiner | wesentlichen Bedeutung. Wir haben vielmehr zu fragen, ob die Wissenschaft nicht überall die A u f g a b e hat, Begriffe zu bilden, die ihrem Inhalt nach dem logischen Gehalt von Urteilen gleichzusetzen sind. Entscheidend für die Antwort ist in unserm Zusammenhange der Umstand, daß erst dann, wenn wir die Begriffe, um einen auch von Riehl 25 früher gebrauchten Ausdruck zu benutzen, als „potentielle Urteile“ auffassen, sie fähig sind, die Unübersehbarkeit der anschaulichen Mannigfaltigkeit wissenschaftlich zu überwinden. Wir sahen, wie die Voraussetzung der höchsten Leistung des naturwissenschaftlichen Begriffes darin besteht, daß er von allen besonderen räumlichen und zeitlichen Bestimmungen frei ist, um so auf jede Gestaltung der Wirklichkeit zu passen, welche räumlichen und zeitlichen Bestimmungen sie auch haben möge. Er muß mit anderen Worten nicht allein empirische, sondern unbegrenzte oder unbedingte Allgemeinheit besitzen. Die Allgemeinheit der Wortbedeutung oder des „Gattungsbegriffes“ im traditionellen Sinne, der durch Vergleichung mehrerer direkt beobachtbarer Objekte, also durch Zusammenfassung des Gemeinsamen zustande kommt, und mit Hilfe dessen wir eine extensiv übersehbare Mannigfaltigkeit vereinfachen, bleibt immer empirisch begrenzt, und es ist 25

Vgl. Kritizismus, [Bd.] II 1, 1879, S. 224. In der 2. Aufl. (1925, [Bd.] II, S. 259) heißt es statt „potentielle Urteile“ jetzt „ p o t e n t i e l l e D e f i n i t i o n e n “ , und diese Aenderung begründet Riehl so: „Während jedes Urteil die objektive Gültigkeit, Wahrheit und Wirklichkeit von seinem Inhalt behauptet, fehlt dieses entscheidende Merkmal den bloßen Definitionen.“

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nicht einzusehen, wie die Umsetzung in die bloße F o r m von Aussagen oder die Begriffsbestimmung daran etwas ändern sollte. Die bisher betrachteten Begriffe können wegen ihrer lediglich empirischen Allgemeinheit den letzten Zielen der Naturwissenschaft also nicht dienen. Völlig anders dagegen verhalten sich allgemeine U r t e i l e der Erkenntnisaufgabe gegenüber. Wir nehmen an, daß wir in der Naturwissenschaft nicht bloß empirisch allgemeine, sondern auch unbedingt allgemeine Urteile zu bilden imstande sind, d. h. Urteile, deren Gehalt für alle Vorgänge und Dinge gilt, wo und wann auch immer sie sich finden mögen. Daraus ergibt sich dann, daß die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit durch diese, von der bisher allein betrachteten verschiedenen Allgemeinheit, die Urteile haben können, wohl zu überwinden ist. Wir nennen solche Urteile, die etwas über nicht direkt erfahrene Wirklichkeit enthalten, N a t u r g e s e t z e , und wir können daher auch sagen, daß wir eine unübersehbare Fülle von unübersehbar mannigfal- | tigen Einzelgestaltungen nur unter der Voraussetzung mit einem Begriff erfassen werden, daß sein Inhalt aus Urteilen besteht, in deren logischem Gehalt ein Naturgesetz steckt. Solche Begriffe sind dann von den Allgemeinbegriffen der traditionellen Logik oder den Merkmalskomplexen mit Rücksicht auf ihren Erkenntniswert prinzipiell verschieden. Dies Ergebnis läßt sich, soweit es sich um die Erkenntnis des Körperganzen, d. h. um die Ueberwindung der extensiven Mannigfaltigkeit handelt, auch so ausdrücken. Mit Begriffen, die bloße Zusammenstellungen von Merkmalen sind, also mit den Gattungsbegriffen der traditionellen Logik, die durch empirische Vergleichung zustande kommen, kann nur die Klassifikation eines eng begrenzten, übersehbaren Teiles der Wirklichkeit versucht werden. Eine die ganze Körperwelt umfassende Klassifikation mit Hilfe solcher Merkmalskomplexe oder Gattungsbegriffe aber wäre erst möglich, wenn wir alle ihre Gestaltungen einzeln kennten, d. h. uns im Besitze jenes, wie wir gesehen haben, nicht einmal annäherungsweise erreichbaren Ideals eines vollständigen Weltbildes befänden. So wenig jenes Ideal annäherungsweise erreichbar ist, so wenig wird die Naturwissenschaft eine bloße Klassifikation auch nur anstreben, wenn sie sich selbst versteht. Ein wertvolles Glied in den auf die Erkenntnis des Ganzen der Körperwelt gerichteten Leistungszusammenhängen kann vielmehr eine Wissenschaft nur sein, wenn sie s c h o n i n d e n e r s t e n A n s ä t z e n z u d e n B i l d u n g e n i h r e r Begriffe das endgültige Ziel aller Naturwissenschaft im Auge hat, die Einsicht in die naturgesetzliche Notwendigk e i t d e r D i n g e . Hat sie aber dieses Ziel im Auge, dann wird sie überall die rein klassifikatorische Begriffsbildung sobald wie möglich zu verlassen streben, d. h. sich n i e m a l s b e i B e g r i f f e n b e g n ü g e n , d i e b l o ß e

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M e r k m a l s k o m p l e x e s i n d , sondern es wird j e d e Z u s a m m e n fassung von irgendwelchen Elementen zu einem Begriff i m m e r u n t e r d e r Vo r a u s s e t z u n g g e s c h e h e n , d a ß d i e z u s a m mengefaßten Elemente entweder direkt in einem natur gesetzlich notwendigen, d. h. unbedingt allgemeingültigen Zusammenhange stehen oder in ihrer Zusammenstellung w e n i g s t e n s Vo r s t u f e n z u s o l c h e n B e g r i f f e n a b g e b e n , i n d e nen ein naturgesetzlich notwendiger Zusammenhang zum A u s d r u c k k o m m t . Das ist bei aller naturwissenschaftlichen Begriffs- | bildung gewissermaßen die stillschweigende Voraussetzung.26 Es können daher nicht n u r Wortbedeutungen oder deren Komplexe in der F o r m von Definitionen, sondern es muß stets auch der G e h a l t von U r t e i l e n , d. h. von logischen Gebilden, die w a h r sind, gemeint oder verstanden werden, wenn ein logisch vollkommener naturwissenschaftlicher Begriff vorliegt, und sobald wir voraussetzen, daß die Begriffe schon in ihrer primitivsten Form der naturwissenschaftlichen Erkenntnis des Körperganzen dienen sollen, ist auch von ihnen das für den Urteilsgehalt charakteristische Moment der allgemeinen G e l t u n g nicht loszulösen. Die Bestandteile des Begriffes g e h ö r e n zusammen und werden in ihrer Zusammengehörigkeit vom bejahenden Urteilsakte anerkannt. So verhält es sich wenigstens bei den positiven Erkenntnissen, auf die wir uns hier beschränken können. Wie aber steht es, wenn wir von einer Erkenntnis des Körperganzen absehen und die Begriffsbildung ins Auge fassen, die bei der wissenschaftlichen Bearbeitung eines begrenzten Ausschnittes der Wirklichkeit, eines extensiv übersehbaren Gebietes eine Rolle spielt? Liegt hier die Sache nicht anders? Sind hier Begriffe nicht bloße Komplexe von elementaren Wortbedeutungen oder Merkmalen, ohne daß ein Moment der Geltung oder der Zusammengehörigkeit hinzutritt? Wir sahen, daß die Begriffe dann bloße Merkmalskomplexe sein würden, wenn sie n u r der Klassifikation dienten, und es mag nun wohl vorkommen, daß eine rein klassifikatorische Begriffsbildung auch als Ziel auf irgendeinem Gebiete der Naturwissenschaft in Angriff genommen wird. Aber, abgesehen davon, daß eine solche Klassifikation fast immer ein vorläufiger Notbehelf ist, entziehen sich sogar diese Fälle unserer Theorie nicht, wenn sie nur zu wirklich wissenschaftlicher Arbeit in irgendwelcher wesentlichen Beziehung stehen. Es gibt ja bei genauerer Betrachtung im Grunde doch kein wissenschaftliches Gebiet, auf dem die Begriffsbildung 26

Ich möchte mit Rücksicht auf später noch zu erörternde Einwände und Mißverständnisse, denen meine Ausführungen begegnet sind, bemerken, daß diese Sätze wörtlich bereits in der e r s t e n Auflage dieses Buches (1896) stehen. Ich habe sie später nur durch den Druck mehr hervorgehoben.

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ganz ausschließlich der Klassifikation dient. Jedenfalls ist eine rein willkürliche Klassifikation ohne wissenschaftlichen Wert. Was aber heißt willkürliche Klassifikation? Eine Klassifikation ohne jede Geltung bleibt immer willkürlich. Eine notwendige Klassifikation kann nur mit Rücksicht auf eine Theorie vorgenommen werden, die aus wahren Urteilen besteht, oder es wird wenigstens durch die Bildung | eines Begriffes und durch die Unterordnung der einzelnen Dinge und Vorgänge unter ihn schon der Anfang zu einer Theorie der Dinge oder Vorgänge gemacht, die wahr sein will. Dann aber ist die Zusammenstellung gerade dieser Begriffselemente mit Rücksicht auf die Theorie notwendig und gilt. Der Inhalt des Begriffes ist somit nicht ein bloßer Merkmalskomplex, sondern es wird implicite auch ein wahrer Urteilsgehalt gemeint oder verstanden. Der Begriff ist also in diesem Falle, wo es sich um die Erkenntnis eines Teiles der Wirklichkeit handelt, ebenfalls dem Gehalt eines gültigen Urteils logisch äquivalent. Die überzeugendste Fassung können wir diesem Gedanken vielleicht in folgender Weise geben. Nehmen wir an, daß uns eine völlig übersehbare Reihe von Dingen vorliegt, die wissenschaftlich zu klassifizieren unsere Aufgabe wäre. Könnten wir uns ohne irgendwelche Voraussetzungen an diese Arbeit machen, so würden wir finden, daß uns auch bei einer übersehbaren Anzahl von Körpern eine unübersehbare Anzahl von Prinzipien für ihre Klassifikation zur Verfügung stände, und wir würden daher ohne weiteres nicht wissen, welches Prinzip wir wählen sollen. Das klingt vielleicht sonderbar und ist doch unzweifelhaft richtig. Denken wir nur daran, daß auch jede Einzelgestaltung der Körperwelt eine nie zu erschöpfende, unübersehbare Mannigfaltigkeit zeigt. Da muß es, wenn wir ohne leitenden Gesichtspunkt an die Sache gehen, willkürlich sein, was aus dieser Mannigfaltigkeit wir herausgreifen, um ein Prinzip zur Vergleichung der Dinge untereinander zu gewinnen. Jeder körperliche Vorgang ist jedem andern in unübersehbar vielen Beziehungen gleich und in ebenso vielen Beziehungen ungleich. Was dies verkennen läßt, ist der Umstand, daß durch die Wortbedeutungen, die wir besitzen, uns nur ein kleiner Teil der Gleichheiten und Ungleichheiten ausdrücklich zum Bewußtsein kommt. Mit Worten ist von den vielen möglichen Klassifikationen der Körper stets nur ein kleiner Teil ausführbar. Wir haben uns aber immer gegenwärtig zu halten, daß wir in den Wortbedeutungen die körperliche Wirklichkeit bereits in hohem Maße vereinfacht besitzen, und daß dieser von wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus zum größten Teil zufällig vollzogene Prozeß der Vereinfachung eigentlich überall erst der logischen oder wissenschaftlichen Rechtfertigung bedürfte. Nicht nur müssen wir einen Grund dafür haben, daß wir unter den durch die elementaren Wortbedeutungen möglichen Klassifikationen einer den Vorzug geben, sondern auch dafür, daß wir überhaupt eine von diesen Klassifi-

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kationen wählen und nicht eine aus der unübersehbaren Fülle, die sonst noch möglich sind. | Doch brauchen wir diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Wenn wir nur nicht vergessen, daß selbst bei größter Einschränkung des Erkenntnisgebietes wir immer vor einer Unübersehbarkeit stehen, die durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung erst zu überwinden ist, so müssen wir zu der Einsicht kommen, daß die Erkenntnis eines Bruchstückes der Körperwelt keine prinzipiell andere Aufgabe bildet als die Erkenntnis des körperlichen Weltganzen. Die intensive Unübersehbarkeit der Einzelgestaltungen bedarf zu ihrer Ueberwindung ebenfalls der unbedingten Allgemeinheit, die in den sogenannten Naturgesetzen zum Ausdruck kommt, weil nur ein unbedingt allgemeingültiges Urteil die Willkür bei der Begriffsbildung beseitigt. Diese Naturgesetze fallen inhaltlich mit denen zusammen, die uns zur Ueberwindung der extensiven Mannigfaltigkeit der Körperwelt dienen. Eine mehr als willkürliche Begriffsbildung überwindet in ihrer höchsten Vollendung daher beide Arten der unübersehbaren Mannigfaltigkeit. Wird ein einzelner Körper völlig begriffen, so ist darin zugleich etwas erfaßt, was für das Körperganze oder für alle seine Teile gilt. In der Ueberwindung der intensiven Mannigfaltigkeit eines Körpers wird immer auch ein Stück der extensiven Mannigfaltigkeit des Körperganzen mit überwunden. So verstehen wir auch die Bedeutung des Experimentes und der Methode, die auf die Analyse eines Einzelfalles ausgeht, um dadurch zu Naturgesetzen zu kommen. Der Einzelfall, der untersucht wird, hätte gar kein Interesse, wenn er nicht als Repräsentant für das Ganze oder für alle Fälle in Betracht käme. Man kann dies aber auch umkehren und sagen, daß eine wahrhaft wissenschaftliche begriffliche Erkenntnis eines Einzelvorganges durchaus an ein Erkenntnisstreben, das auf das Ganze der Körperwelt geht, gebunden ist, weil das unbedingt allgemeine Urteil, das für alle Teile des Ganzen gilt, für die Ueberwindung der intensiven Unübersehbarkeit jedes Einzelvorganges ebenfalls nicht entbehrt werden kann. So, sehen wir, muß das letzte Bestreben der Naturwissenschaft darauf ausgehen, Begriffe von unbedingt allgemeiner Geltung, d. h. Begriffe, die Naturgesetze enthalten, zu finden. Gewiß bildet die Beziehung der Welt der Bedeutungen auf die Welt der Anschauungen unser Erkennen, wenigstens soweit es sich um ein Erkennen der Naturwissenschaften handelt. Aber gerade darum können die Bedeutungen nicht bloße Bedeutungen einzelner Worte, sondern müssen ihrem logischen Gehalte nach Urteile sein, die Gesetze enthalten oder sie vorbereiten. Denn die Welt der Bedeutungen oder des Urteilsgehaltes muß begrenzt sein im | Gegensatz zur unbegrenzten Welt der Anschauungen, und erst in Form des geltenden Gesetzes haben wir ein Begrenztes, das sich auf Unbegrenztes beziehen läßt. So ergibt sich

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die letzte Eigenschaft der Begriffe, ihre unbedingt allgemeine Geltung, wiederum aus ihrem logischen Wesen, d. h. daraus, daß sie das Mittel zur Ueberwindung der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Körperwelt sind. Sie würden ohne unbedingte Geltung nicht das leisten, was sie im Dienste der Erkenntnis zu leisten haben. Der Umfang eines Gesetzesbegriffes schließt eine unübersehbare extensive Mannigfaltigkeit ein; der Inhalt sagt uns, was aus der unübersehbaren intensiven Mannigfaltigkeit für die Erkenntnis in Betracht kommt oder wesentlich ist, und er ermöglicht uns daher, auch diese Mannigfaltigkeit naturwissenschaftlich vollkommen zu übersehen. Doch auch hiermit ist das Ideal der Begriffsbildung noch nicht ganz abgeschlossen. Wir müssen nicht nur Gesetzesbegriffe bilden können, von denen jeder einzelne eine unübersehbare Mannigfaltigkeit überwindet, sondern auch voraussetzen, daß eine vollkommen übersehbare Reihe von Gesetzesbegriffen alle Einzelgestaltungen der unübersehbaren Wirklichkeit umfaßt. Es wäre ja denkbar, daß es eine unübersehbar große Menge verschiedener Gesetzesbegriffe gäbe, und unter dieser Voraussetzung wäre wiederum eine Erkenntnis des Körperganzen in allen seinen Teilen nicht einmal annähernd erreichbar. Aber hier ist nur eine Voraussetzung noch notwendig, die sich von der, daß wir überhaupt Gesetzesbegriffe bilden können, die unbedingte Allgemeinheit besitzen, nicht prinzipiell unterscheidet. Zu einer übersehbaren Reihe von Naturgesetzen kommen wir, wenn wir sozusagen eine Gesetzmäßigkeit der Gesetze annehmen, d. h. einen letzten Gesetzesbegriff für gültig halten, der die verschiedenen Naturgesetze umfaßt, oder genauer, wenn wir voraussetzen, daß wir auch die Gesetzmäßigkeit immer mehr zu vereinfachen imstande sind und uns dadurch der Bildung eines letzten Gesetzesbegriffes immer mehr annähern. Auf jeden Fall muß e i n letzter Begriff als Abschluß der Naturerkenntnis gefordert werden, und zwar aus rein logischen Gesichtspunkten. Es ist nicht richtig, daß diese Forderung nur einem ästhetischen Bedürfnisse entspringt, und daß eine Mehrzahl letzter Begriffe dem wissenschaftlichen Erkenntnisstreben genügen kann. Ergeben sich nämlich schließlich mehrere letzte Begriffe als ein Unbegreifliches, so können wir niemals wissen, ob nicht noch eine unbegrenzte Anzahl von neuen letzten Begriffen bei weiterer Forschung hinzutreten wird, und eine Ueberwindung der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Körperganzen ist dann | durch nichts gewährleistet. Wissen wir dagegen, warum mehrere letzte Begriffe sich ergeben, dann ist jene Mehrheit noch gar nicht die letzte, sondern erst die vorletzte Stufe, und im Wissen vom Grunde einer Mehrheit von letzten Gesetzesbegriffen haben wir dann den einen, in Wahrheit letzten Begriff. Er paßt auf alle Einzelgestaltungen der Körperwelt, in ihm ist alle unübersehbare Mannigfaltigkeit überwunden. Ob er jemals gefunden wer-

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den wird, geht uns in diesem Zusammenhange selbstverständlich nichts an. Jedenfalls bildet er das denkbar höchste logische I d e a l der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, und ein Ideal allein wollen wir hier konstruieren. Auf welchem Wege die unbedingt allgemeinen Naturbegriffe oder die Naturgesetze von der Wissenschaft g e f u n d e n werden, haben wir entsprechend der Beschränkung unserer Aufgabe in diesem Zusammenhange nicht zu untersuchen. Es kommt nur auf die logische Struktur der f e r t i g e n Begriffe an, damit wir dann später feststellen können, in welchem Verhältnis sie zur empirischen Wirklichkeit stehen, und mit welchem Rechte man in ihnen die einzigen wissenschaftlichen Begriffe erblickt. Auf die logische Struktur der F o r s c h u n g gehen wir hier nirgends ein. Allein das war bei den unbedingt allgemeinen Begriffen oder den Naturgesetzen von Bedeutung, daß es zu ihrer Bildung nicht wie bei den bloß empirischen Gattungsbegriffen einer Ve r g l e i c h u n g mehrerer direkt gegebener Objekte bedarf, für die sie gelten sollen, denn gerade darauf beruht ihre Leistung, daß sie über das direkt Beobachtbare hinausgehen und auch für solche Dinge und Vorgänge gelten, die niemals „erfahren“, d. h. selber wahrgenommen werden können. Tatsächlich liegt denn auch in einigen Teilen der Naturwissenschaft die Sache so, daß der Begriff des allgemeinen Naturgesetzes sich durch Analyse eventuell eines e i n z i g e n Objektes f i n d e n läßt. Wie das möglich ist, brauchen wir in diesem Zusammenhange jedoch ebenfalls nicht zu fragen. Nur darauf kommt es an, daß der a n einem einzigen Objekte gefundene Begriff trotzdem f ü r eine unübersehbare Menge von nicht beobachteten Objekten gültig sein muß, und daß gerade in dieser unbedingt a l l g e m e i n e n Geltung sein logisches Wesen besteht. Wenn wir früher sagten, daß die Naturwissenschaft durch ihre Begriffe g e n e r a l i s i e r e , so darf das selbstverständlich nicht etwa so verstanden werden, daß sie sich auf Vergleichung mehrerer g e g e b e n e r Objekte zu beschränken habe, bei denen sie dann das individuell Verschiedene wegläßt, um nur das Gemeinsame übrig zu be- | halten. Wir haben im Gegenteil zu zeigen versucht, daß die Naturwissenschaft mit empirischer Vergleichung nicht auskommt. Auf die Unterschiede, die sich bei der Bildung von Gattungsbegriffen im engeren Sinne und von Gesetzesbegriffen ergeben, näher einzugehen, hatten wir aber trotzdem keine Veranlassung. Es wäre sogar geradezu falsch gewesen, in diesem Zusammenhange zwischen der generalisierenden Abstraktion und der Analyse des einzelnen Falles einen Unterschied von der Art zu machen, daß n u r das erste Verfahren „generalisiere“. So eng dürfen wir den Begriff des Generalisierens nicht fassen. Es kommt uns nicht allein auf die durch Vergleichung entstandene Allgemeinheit an, wenn wir von Generalisieren sprechen, sondern auf die allgemeine Geltung

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des Begriffsinhaltes überhaupt gegenüber allen besonderen und einzelnen Vorgängen, für die er gebildet ist, und für die er daher gelten soll. Ja, gerade das ist uns wichtig, daß auch d i e Begriffe, die durch Analyse eines einzelnen Falles gebildet sind, in der Naturwissenschaft von allem absehen, was sich n u r an diesem einzelnen Falle findet, und daher ebenfalls generalisieren. In d i e s e r Hinsicht sind sie von dem durch Vergleichung gebildeten Gattungsbegriffe in ihrer logischen Struktur nicht verschieden. Sie haben wohl eine andere A r t von Allgemeinheit, aber allgemein sind auch sie. Sie würden jeden naturwissenschaftlichen Sinn verlieren, wenn sie das geben wollten, was nur an dem Einzelfalle, den sie analysieren, zu finden ist. Vollends besteht h i e r keine Veranlassung, der generalisierenden Abstraktion eine „isolierende“ als prinzipiell davon verschieden gegenüberzustellen. Es hat vielmehr, wie wir das später noch sehen werden, j e d e Bildung eines naturwissenschaftlichen Begriffes das Resultat, daß sich ihm die Vorgänge, für die er gelten soll, nur als isoliert gedachte Exemplare unterordnen lassen. Man kann daher geradezu sagen, daß die naturwissenschaftliche Begriffsbildung unter allen Umständen mit einer isolierenden Abstraktion zusammenfällt, und umgekehrt hat jede isolierende Abstraktion auch das Ergebnis, daß die begrifflich isolierten Gegenstände als Exemplare allgemeiner Begriffe gedacht werden. Aber das alles ist zunächst unwesentlich und soll nur den Einwänden begegnen, die man gegen die Behauptung, daß a l l e Naturwissenschaft generalisiere, gemacht hat.27 Wir mußten für unsere Zwecke einen ganz | a l l g e m e i n e n Begriff des naturwissenschaftlichen Begriffes zu gewinnen suchen und uns darauf beschränken, die verschiedenen Stadien der Vollkommenheit aufzuzeigen, die die logische Struktur der fertigen Begriffe mit Rücksicht auf Allgemeinheit und Bestimmtheit besitzt. Da wir nicht die Struktur der Forschung, sondern die der D a r s t e l l u n g untersuchen, konnten wir ferner auch solche Verschiedenheiten, die z. B. die antike Logik von der im Interesse der modernen Naturwissenschaft umzugestaltenden Logik trennen, nicht in den Vordergrund bringen, denn dann wäre unsere Feststellung des Wesens der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung einseitig geworden. Wir mußten die antike B e g r i f f s bildung ebenso wie die moderne in den Rahmen unserer Untersuchung aufnehmen. Daraus folgt aber nicht etwa, daß wir deshalb innerhalb des Rahmens der antiken Logik stehen geblieben sind. Im Gegenteil, gerade darin, daß wir den Begriff in 27

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Diese Einwände sind am ausführlichsten von F r i s c h e i s e n - K ö h l e r begründet: Über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, [in:] Archiv für systematische Philosophie, [Bd.] XII u. XIII, 1906 u. 1907 und: Wissenschaft und Wirklichkeit, 1912, S. 139 ff. Vgl. ferner: A. R i e h l , Logik und Erkenntnistheorie, | 1907. Kultur der Gegenwart I, 6, und: E. C a s s i r e r, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1910, S. 292 ff.

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seiner logisch vollkommensten Gestalt nicht als eine „allgemeine Vorstellung“, sondern als ein dem unbedingt allgemeinen U r t e i l s g e h a l t logisch äquivalentes Gebilde betrachtet haben, und daß also weniger die quantitative Allgemeinheit des „Gattungsbegriffes“ im engeren Sinne als die Allgemeinheit der Geltung des Naturgesetzes das Wichtige für uns wurde, haben wir das Wesen der modernen Gesetzeswissenschaft gegenüber der antiken Auffassung implicite auf das schärfste zum Ausdruck gebracht. Der antike Begriff darf nur als eine Vorstufe zu dem modernen Begriff des Naturgesetzes gelten.28 | Der Unterschied unserer Begriffstheorie von der der antiken Logik wird vollends zutage treten, wenn wir im folgenden noch einen weiteren Unterschied innerhalb der naturwissenschaftlichen Begriffe beachten, an den sich ein naheliegender Einwand gegen unsere Theorie knüpfen kann. 28

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Ich habe diesem Abschnitt einige Bemerkungen hinzugefügt, die streng genommen sachlich nicht notwendig sind. Ich wollte wenigstens allgemein, d. h. ohne Polemik gegen besondere Formulierungen, die zu weit geführt hätte, den Punkt zur Sprache bringen, an den die meisten Einwände gegen die erste Auflage dieses Buches anknüpfen. Sie kommen in der Hauptsache darauf hinaus, daß ich nur den antiken Gattungsbegriff berücksichtige und daher das „analytische“ Verfahren der modernen Naturwissenschaft ignoriere. Dieser Einwand trifft mich nicht. Schon in der ersten Auflage habe ich auf das schärfste zwischen empirisch und unbedingt allgemeiner Geltung unterschieden, und darauf allein konnte es in diesem Zusammenhange ankommen. Verschiedenheiten in dem Prozeß des F i n d e n s brauchen für die logische Struktur der f e r t i g e n Begriffe nicht von ausschlaggebender Bedeutung zu sein, und diese Struktur allein entscheidet darüber, w a s erkannt wird. Besonders ist die Meinung zurückzuweisen, ein naturwissenschaftlicher Gesetzesbegriff, den man a n einem einzigen Vorgange gebildet hat, sei darum weniger generalisierend als ein Begriff, der durch Vergleichung mehrerer empirisch gegebener Objekte entstanden ist. Die Allgemeinheit der durch Analyse gebildeten Gesetzesbegriffe ist sozusagen n o c h „allgemeiner“ als die Allgemeinheit der nur durch empirische Vergleichung entstandenen Gattungsbegriffe, und deswegen muß man gerade bei | Gesetzesbegriffen von generalisierender Begriffsbildung sprechen. Ein logischer Unterschied besteht freilich zwischen den mathematisch formulierten Naturgesetzen und den Gattungsbegriffen im engeren Sinne, die auf empirischer Vergleichung beruhen. Aber er kann vollends nicht die Behauptung aufheben, daß alle Naturwissenschaft, die Gesetze sucht, auf Generalisieren hinauskommt. Das werden wir später ausführlich zeigen. Doch will ich schon an dieser Stelle auf die oben erwähnte Abhandlung hinweisen, die R. H ö n i g s w a l d in den Kantstudien veröffentlicht hat: „Zur Wissenschaftstheorie und -systematik. Mit besonderer Rücksicht auf Heinrich Rickerts ‚Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft‘.“ H ö n i g s w a l d zeigt hier in völlig überzeugender Weise, daß besonders die Einwände, die von C a s s i r e r gegen meine Ansichten erhoben sind, sich nicht halten lassen, ja den eigentlichen Sinn meiner Ausführungen vollkommen verkennen. Soweit ich sehe, sind damit zugleich auch die Einwände von R i e h l und von F r i s c h e i s e n - K ö h l e r mitgetroffen. Dies scheint mir um so bemerkenswerter, als H ö n i g s w a l d in anderer Hinsicht gar nicht mit mir einverstanden ist und besonders den Ueberzeugungen R i e h l s näher steht als den meinigen. An ein Zitat aus meinem Buche (vgl. oben S. 58 f. und die Anmerkung), das auch C a s s i r e r anführt, und das allein ihm hätte zeigen können, weshalb seine Einwände mich nicht treffen, fügt H ö n i g s w a l d die Bemerkung: „Mit voller Klarheit ergibt sich aus diesen Sätzen, daß auch Rickert das letzte Kriterium für die Valenz wissenschaftlicher Begriffsbildung nicht in der „Quantität des Urteilssubjektes“, sondern in derjenigen „Qualität“ der Verknüpfung erblickt, welche als Allgemeingültigkeit die spezifische Korrelation der Elemente des Urteils selbst definiert“. (Kantstudien, [Bd.] XVII, S. 40.)

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Je entschiedener wir nämlich hervorheben, daß erst mit Begriffen, die Gesetze enthalten, also unbedingt allgemeinen Urteilen logisch äquivalent sind, die Ueberwindung der unübersehbaren körperlichen Mannigfaltigkeit zu erreichen ist, um so deutlicher muß eine bisher absichtlich unbeachtet gelassene Schwierigkeit zutage kommen, die sich der Durchführung unserer Gedanken entgegenzustellen scheint. Sigwart hat sie gegenüber unserer unter andern Gesichtspunkten bereits früher vertretenen Meinung, daß der Begriff seinem logischen Gehalt nach aus Urteilen bestehe, hervorgehoben.29 Seine Ausführungen beziehen sich auf die Begriffslehre im allgemeinen. So viel Richtiges darin liegt, sagt | er, daß der Begriff als Vereinigungspunkt von Urteilen zu fassen sei, so gehe doch diese Theorie zu weit. Was sollen, wenn jeder Begriff ein Komplex von Urteilen ist, die Subjekte und Prädikate d i e s e r Urteile sein? Mögen auch für die wissenschaftliche Bearbeitung an Stelle der Merkmale der unmittelbaren Anschauung Kausalgesetze treten, so müssen diese Gesetze doch v o n irgend etwas gelten. Zugegeben, daß z. B. der Begriff der Gravitation identisch ist mit dem Gravitationsgesetz, so ist er es nur darum, weil er kein D i n g b e g r i f f , sondern ein R e l a t i o n s b e g r i f f ist. Auch er setzt aber stets gravitierende Massen, also Dingbegriffe voraus, so gut wie der früher als Beispiel bereits erwähnte Begriff der Ehe Mann und Weib voraussetzen mußte. Unsere Theorie würde demnach nur für die Relationsbegriffe gelten. Die Dingbegriffe könnten niemals zu logisch vollkommenen Begriffen in unserem Sinne werden, obwohl sie doch notwendige Voraussetzungen der Relationsbegriffe sind. Ist ein solcher Einwand nicht berechtigt? Wir beschränken uns auf das, was aus diesen Ausführungen für den naturwissenschaftlichen Begriff in Frage kommt. Der Begriff der Ehe, an dem wir zeigen konnten, wie ein Begriff auch durch Angabe von unbestimmten Elementen bestimmter werden kann, hat hier kein Interesse mehr, da er ein juristischer Begriff ist. Aber auch bei der Beschränkung auf die Naturwissenschaft muß die von Sigwart geforderte Scheidung der Dingbegriffe von den Relationsbegriffen in der Tat als notwendig zugegeben werden. Wir haben den Einwand, der sich hieraus gegen unsere Theorie herleiten läßt, bereits gestreift, als wir darauf hinwiesen, wie schon die Begriffs b e s t i m m u n g , solange es sich um Begriffe von anschaulichen Dingen handelt, nur mit selbst unbestimmten Elementen vorgenommen werden kann, wie also 29

Vgl. S i g w a r t s Kritik meiner Schrift: Zur Lehre von der Definition. [In:] Göttingische gelehrte Anzeigen, 1890, Nr. 2, S. 54 f.

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der naturwissenschaftliche Begriff dann aus Elementen besteht, die nicht einmal formal vollkommene Begriffe sind. Schon daraus ersahen wir, daß eine vollständige Auflösung aller Wortbedeutungen auch nur in die äußerliche Form von Urteilen unmöglich ist. Jetzt, wo es sich auch um den Gehalt der Begriffe handelt, tritt eine der früher erörterten entsprechende Schwierigkeit auf. Körperliche Dinge sind a n s c h a u l i c h . Die Begriffe von ihnen enthalten daher, sobald wir den Versuch machen, uns den Gehalt der Worte, die sie bezeichnen, ausdrücklich mit Rücksicht auf die gemeinten anschaulichen Dinge zu vergegenwärtigen, entweder selbst anschauliche Elemente oder müssen jedenfalls auf Anschauungen bezogen werden. Denken wir nun die anschaulichen Dinge in die Beziehungen aufgelöst, in denen ihre Teile zueinander stehen, und verwandeln wir dem- | entsprechend die Worte in Sätze oder die Wortbedeutungen in Urteile, die die Elemente des Begriffes ausdrücklich angeben, so brauchen wir dazu wiederum Wortbedeutungen, die sich auf anschauliche Dinge beziehen, usw., und so scheinen wir auch in diesem Zusammenhang vor die Aufgabe gestellt, eine unendliche Reihe von immer neuen Begriffsbildungen, d. h. Auflösungen von Wortbedeutungen in Urteile zu vollziehen. Wir werden die Dingbegriffe nicht los und mit ihnen auch die empirische Anschauung der Wirklichkeit nicht, die wir durch die Begriffsbildung überwinden wollen. Indem wir jedoch den Einwurf so formulieren, sind wir bereits auf dem Wege, seine Bedeutung wenigstens für die Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung erheblich einzuschränken. Allerdings spielen Begriffe von anschaulichen Dingen in den Naturwissenschaften eine große Rolle, und es muß das bei vielen Wissenschaften auch immer so bleiben. Dieser Umstand aber beweist nichts gegen unsere Ansicht. Es könnte sein, daß solche Begriffe nur dort vorhanden sind, wo es der Naturwissenschaft entweder noch nicht gelungen ist, ihre Begriffe zur logischen Vollkommenheit durchzubilden, oder wo diese Durchbildung für die besonderen Zwecke der Wissenschaft überhaupt nicht notwendig wird. Hier können und dürfen wir nur fragen, wie es mit den Dingbegriffen steht, wenn es sich um das l o g i s c h e I d e a l des naturwissenschaftlichen Begriffes handelt. Allerdings müssen wir voraussetzen, daß die Naturwissenschaft, selbst wenn wir sie uns noch so weit vorgeschritten denken, an der Meinung, die Körperwelt bestehe aus Dingen, unter allen Umständen festhält, so daß n i e m a l s ein naturwissenschaftlicher Begriff von der Körperwelt gebildet werden kann, in dem a l l e Dingbegriffe fehlen. Aber auch dieser Umstand hebt unsere Theorie nicht auf. Es könnte sich nämlich erstens bei der Rolle, die der Dingbegriff in einer logisch vollkommen gedachten Naturwissenschaft spielt, wieder nur um einen Grenzfall handeln, und es könnte ferner sogar in dem Grenzfall ein Begriff von solcher Art in Betracht kommen, daß er, obwohl Ding-

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begriff, unserer Theorie doch nicht widerspricht. Wir werden daher diese beiden Möglichkeiten zu erwägen haben, ehe wir uns über die Bedeutung des angeführten Einwurfes entscheiden. Denken wir, um zunächst zu sehen, in welchem Umfange eine logisch vollkommene Naturwissenschaft noch mit Dingbegriffen arbeiten müßte, wieder an die früher erwähnte Anordnung der verschiedenen Teile der Naturwissenschaft, bei der wir von Disziplinen, die viel relativ unbestimmte allgemeine Wortbedeutungen verwenden, zu solchen aufsteigen, | in denen diese primitiven Begriffe immer mehr zurücktreten und durch solche ersetzt werden, deren Bestandteile in der Form von Aussagen genau anzugeben sind. Jetzt, wo es sich nicht um die formale Bestimmtheit, sondern darum handelt, wie weit der Inhalt der naturwissenschaftlichen Begriffe aus dem gültigen Gehalt von Urteilen besteht, und wie weit er Wortbedeutungen beibehalten muß, die anschauliche Dinge bezeichnen, können wir dem Gedanken einer Anordnung der verschiedenen Naturwissenschaften eine andere Wendung geben. Jeder Begriff von empirisch anschaulichen Dingen bezieht sich noch auf eine unübersehbare Mannigfaltigkeit. Es steckt also darin etwas, das nur hingenommen, nicht in seiner naturgesetzlichen Notwendigkeit erfaßt werden kann, ein dunkler Kern gewissermaßen, welcher der „Erklärung“, der Auflösung in die Beziehung seiner Elemente zueinander harrt. Wenn daher auch viele Wissenschaften mit Dingbegriffen arbeiten, so ist doch zu sagen, daß je mehr Dingbegriffe sie benutzen, sie desto weiter von dem Ziele entfernt sind, dem die Naturwissenschaft in ihrer Totalität zustrebt: der Einsicht in den naturgesetzlichen Zusammenhang der Wirklichkeit. Welche Rolle also die Kategorie des Dinges in einer abgeschlossen gedachten Theorie der Körperwelt auch spielen mag, so unterliegt es doch jedenfalls keinem Zweifel, daß die Naturwissenschaft danach strebt und streben muß, die starren und festen Dinge immer mehr aufzulösen, sie als nach Gesetzen entstehende und vergehende Vorgänge zu begreifen, und das heißt nichts anderes, als die Dingbegriffe so weit wie möglich in Relationsbegriffe umzuwandeln. Ist man tatsächlich von diesem Ziele noch recht weit entfernt, und müssen z. B. alle Untersuchungen, die es mit Organismen zu tun haben, bei Dingbegriffen stehen bleiben, die bis jetzt auch keine andere Wissenschaft in Relationsbegriffe umwandeln kann, so hat doch die Logik keinen Grund, diesen Zustand als einen dem logischen Ideal entsprechenden anzusehen. Wenn er für die Zwecke der Spezialwissenschaften genügt, ja, solange eine Spezialwissenschaft diese besondere Spezialwissenschaft bleiben will, notwendig ist, so muß er als Unvollkommenheit empfunden werden, sobald wir die verschiedenen Naturwissenschaften als Glieder eines einheitlichen Systems ansehen. Gerade dies aber wollen wir hier tun, und unter diesem

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Gesichtspunkt lassen sich dann im logischen Ideal die verschiedenen Naturwissenschaften so angeordnet denken, daß die Dingbegriffe, mit denen der eine Teil arbeitet, und solange er über die besondere Aufgabe, die er sich stellt, nicht hinaussieht, arbeiten muß, wie z. B. die Biologie mit den Begriffen von Organismen, | von einem andern Teil, der sich umfassendere Aufgaben stellt, übernommen und in Relationsbegriffe umgewandelt werden, daß dann dieser Teil seine Dingbegriffe einer noch allgemeineren Naturwissenschaft übergibt usw., bis schließlich eine die ganze Körperwelt umfassende allgemeinste Theorie die Arbeit der Begriffsbildung vollendet. Wäre dies Ziel erreicht, so würde die an der Spitze des angedeuteten Systems stehende Disziplin mit einer einzigen, sogleich zu erörternden Ausnahme nur noch mit Relationsbegriffen arbeiten. Die Dingbegriffe, die die andern Naturwissenschaften innerhalb ihrer Gebiete beibehalten können und müssen, wären in dieser Theorie, die wir als die „ l e t z t e N a t u r w i s s e n s c h a f t “ bezeichnen wollen, in Relationsbegriffe aufgelöst. Falls jemand die absichtlich rein logisch gehaltenen Ausführungen sich schon jetzt an einem Beispiel zu verdeutlichen wünscht, kann er an die Tendenz denken, das gesamte körperliche Sein und Geschehen als Mechanismus zu begreifen. Eine r e i n mechanische Theorie, in einem später noch genau zu fixierenden Sinne, würde dann dem Ideal der „letzten Naturwissenschaft“ logisch am nächsten stehen. Doch zunächst fassen wir ganz allgemein diese Gedanken so zusammen, daß zwar in der Tat Begriffe, die aus Urteilen bestehen, immer auch Relationsbegriffe sein müssen, also nicht mehr Begriffe von Dingen sein können, daß aber gerade deswegen erst Relationsbegriffe die logisch vollkommenen Begriffe sind. Was in den Naturwissenschaften noch an Dingbegriffen vorhanden ist, hängt, von der einen schon erwähnten Ausnahme abgesehen, damit zusammen, daß von verschiedenen S e i t e n her die Körperwelt von verschiedenen Wissenschaften in Angriff genommen wird, und daß die Spezialwissenschaften, selbstverständlich mit Recht, sich immer eine beschränkte Aufgabe in der Erkenntnis stellen. Solange sie dies tun, brauchen sie nicht alle ihre Begriffe zur denkbar höchsten logischen Vollkommenheit durchzubilden, ja, sie können es gar nicht. Sie müssen überall dort bei Dingbegriffen stehen bleiben, wo für ihre begrenzten Ziele keine Probleme mehr vorliegen. Sobald wir jedoch an den Zusammenhang der verschiedenen Naturwissenschaften denken und im Auge behalten, daß alle einzelnen Teile zu einer allgemeinen Theorie der Körperwelt in Beziehung zu bringen sind, dürfen wir sagen: Begriffe von Dingen sind immer noch naturwissenschaftliche Probleme; erst Relationsbegriffe bahnen die Lösung dieser Probleme an, und wenn sie unbedingt allgemeine Urteile, d. h. Naturgesetze enthalten, sind sie Problemlösungen.

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So würde z. B. unter dem Gesichtspunkte der Tendenz, die gesamte | Körperwelt mechanisch zu begreifen, der Dingbegriff des Organismus zu einem Problem, bei dem die Biologie, solange sie Biologie bleiben und die Organismen a l s Organismen behandeln will, zwar notwendig zu fragen aufhört, dessen Lösung aber durch einen Begriff mechanischer Relationen von einer andern Wissenschaft sehr wohl versucht werden könnte. Jedenfalls ist es unter diesem Gesichtspunkt kein prinzipieller Einwand mehr gegen unsere Ausführungen, daß Begriffe, die aus Urteilen bestehen, Relationsbegriffe sein müssen. Für das logische I d e a l der naturwissenschaftlichen Begriffe in einer „letzten“ Naturwissenschaft bleibt unsere Theorie gültig, denn es handelt sich bei diesem Ideal nur noch um Relationsbegriffe. Die Rolle, die in einer logisch vollkommen gedachten Naturwissenschaft die Dingbegriffe spielen würden, ist zum mindesten sehr klein. Aber, wie gesagt, es gibt eine Ausnahme. Ebenso wie bei der Erörterung über die formale Bestimmtheit der Begriffe muß auch hier wieder gerade die Erinnerung an den Zusammenhang und die Rangordnung der verschiedenen Naturwissenschaften darauf führen, daß der Gedanke an eine immer weiter fortschreitende Umsetzung der Dingbegriffe in Relationsbegriffe uns schließlich doch nicht zu befriedigen vermag. Diese Umsetzung läßt sich nicht bis ins Unendliche durch eine Reihe von immer neuen Wissenschaften fortführen. Wie in dem früheren Zusammenhang so kommen wir auch hier zu dem Gedanken an eine Wissenschaft, die am Ende der Reihe steht und daher ihre Dingbegriffe keiner andern Wissenschaft mehr zur Auflösung in Relationsbegriffe zuschieben kann. Eine solche letzte Naturwissenschaft hätte als logische Idealwissenschaft alle naturwissenschaftlichen Probleme zu lösen, die die anderen Naturwissenschaften zurückschieben müssen. Sie würde also alle Dingbegriffe ohne jede Ausnahme zu beseitigen haben, falls wirklich die Lösung aller Probleme mit der Bildung von Relationsbegriffen zusammenfällt. Weil wir aber voraussetzen, daß eine vollständige Beseitigung der Dingbegriffe in einem naturwissenschaftlichen Körperbegriff nicht einmal als Ideal aufzustellen ist, so bedarf in der Tat unsere Theorie noch einer Erweiterung. Auch die letzte Naturwissenschaft hätte, in höchster Vollendung gedacht, noch immer mit Begriffen von Dingen zu arbeiten, und so muß es, wenn eine logisch vollkommene allgemeine Theorie der Körperwelt möglich sein soll, auch logisch vollkommene naturwissenschaftliche Dingbegriffe geben. Insofern bleibt der Einwand, mit dem wir uns hier abzufinden haben, berechtigt, wenn auch n u r insofern. | Wir könnten nun zwar sagen, daß es sich jetzt wieder um einen Grenzfall handelt, der unsere Theorie im allgemeinen unberührt läßt. Zur völligen Klarlegung unseres Gedankenganges wird es jedoch gut sein, auch die Frage nach der Begriffsbildung in der letzten Naturwissenschaft, die wir bei

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der Erörterung der Bestimmtheit der Begriffe zurückgeschoben haben, ausdrücklich zu behandeln. Wir haben dazu um so mehr Veranlassung, als dadurch nicht allein die Frage nach der Begriffs b e s t i m m u n g endgültig erledigt, sondern zugleich unsere gesamte Theorie, wonach die naturwissenschaftliche Begriffsbildung eine Vereinfachung des Inhaltes der empirischen körperlichen Mannigfaltigkeit einschließt, erst vollkommen überzeugend und abschließend entwickelt werden kann. Wir werden sehen, inwiefern es eine Ueberwindung der unübersehbaren Mannigfaltigkeit nicht allein durch Gesetzesbegriffe, sondern auch durch Dingbegriffe gibt, die aber von solcher Art sind, daß sie unsere Theorie nur bestätigen. Nehmen wir, um dies zu zeigen, an, es sei der Naturwissenschaft gelungen, die allgemeinsten Gesetze zu finden, die ausnahmslos alles körperliche Geschehen beherrschen, es seien damit die Dingbegriffe so weit wie möglich zurückgedrängt und in Relationsbegriffe aufgelöst, es sei also durch die letzte Naturwissenschaft ein Begriff von der Körperwelt gebildet, in dem nur noch d i e Dingbegriffe vorkommen, die durch keinen weiteren Fortschritt der empirischen Wissenschaft mehr beseitigt werden können. Die Dinge, aus denen nach diesem Begriff die Körperwelt dann besteht, und von denen alle die Gesetze gelten, die die letzte Naturwissenschaft gefunden hat, können wir als die „ l e t z t e n D i n g e “ bezeichnen. Wie müssen die Begriffe von ihnen gestaltet sein, falls die höchste Aufgabe der Naturwissenschaft, eine vollkommen allgemeine Theorie der Körperwelt, als gelöst betrachtet werden soll? Wir suchen diese Frage allein aus den bisher gemachten Voraussetzungen über die Aufgabe des naturwissenschaftlichen Begriffes zu beantworten. Dabei lassen wir es zunächst dahingestellt, ob Dinge, die dem von uns konstruierten logischen Ideal entsprechen, wirklich existieren, und ob die Naturwissenschaft das logische Ideal jemals erreichen kann. Nur die logischen Voraussetzungen gilt es aufzuzeigen, unter denen eine abschließende, keine Probleme mehr zurücklassende Erkenntnis der Körperwelt möglich sein würde. Erst in einem späteren Zusammenhange, wenn wir zu den Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kommen, wird sich zeigen, inwiefern „letzte Dinge“ als Realitäten n i c h t zu erreichen, und inwiefern daher die Naturwissen- | schaft nie abzuschließen ist. Aber diese Gedankenreihe schieben wir hier noch zurück und konstruieren lediglich das logische Ideal Zu diesem Zwecke gehen wir von der Z e i t l i c h k e i t der körperlichen Vorgänge aus. Alle Dinge, die wir kennen, verändern sich, und jede Veränderung durchläuft als heterogenes Kontinuum eine unübersehbare Anzahl verschiedener Stadien. Die hiermit verbundene Mannigfaltigkeit darf den „letzten Dingen“ nicht anhaften. Sie müssen daher unveränderlich sein, und

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zwar nicht nur für eine begrenzte Zeit, sondern auch in jeder Vergangenheit und jeder Zukunft, denn eine unbedingt allgemeine Theorie der Körperwelt soll auf alle Zeiten anwendbar sein. Wir haben also anzunehmen, daß die letzten Dinge ungeworden und unvergänglich sind, da jedes Werden oder Vergehen Veränderung in Vergangenheit oder Zukunft und damit wieder eine unübersehbare Mannigfaltigkeit einschließt. Mit der Unveränderlichkeit ist die Unteilbarkeit gegeben, da jede Teilung Veränderung wäre, und wenn die Dinge unteilbar sind, kann schließlich eines von dem andern auch nicht quantitativ verschieden sein, denn dann wäre das eine größer als das andere, und das größere wäre noch teilbar. Die letzten Dinge sind also untereinander quantitativ gleich, soweit von Quantität bei einem Unteilbaren zu reden ist. Die Gleichheit und Unveränderlichkeit der letzten Dinge läßt sich ebenso aus der R ä u m l i c h k e i t der Körperwelt herleiten. Alle uns in der Wahrnehmung gegebenen Dinge sind räumlich teilbar, und ihre Teilbarkeit schließt unübersehbare Mannigfaltigkeit ein. Die letzten Dinge also müssen, falls diese Mannigfaltigkeit begreiflich sein soll, als unteilbar angenommen werden. Damit ist dann wieder auch ihre quantitative Gleichheit gefordert, wie wir das soeben gesehen haben. Doch hat es keinen Zweck, die verschiedenen Wege zu verfolgen, auf denen sich dieselben Bestimmungen über die letzten Dinge einer idealen Körpertheorie gewinnen lassen. Nur die Qualität bedarf noch einer ausdrücklichen Erörterung. Selbstverständlich ist es zwar, daß jedes einzelne letzte Ding nicht allein alle quantitative, sondern auch alle qualitative Mannigfaltigkeit von sich ausschließen muß, denn jede qualitative Mannigfaltigkeit eines Körpers wäre notwendig mit Veränderung oder wenigstens Teilbarkeit verbunden. Bliebe es aber trotzdem nicht möglich, daß die verschiedenen letzten Dinge voneinander qualitativ verschieden sind? Es läßt sich zeigen, daß auch diese Mannigfaltigkeit ausgeschlossen ist, und daß wir also j e d e Verschiedenheit in den letzten Dingen zu | entfernen genötigt sind. Man könnte freilich meinen, daß für unsern Zweck die Annahme einer begrenzten und übersehbaren Anzahl von Klassen letzter Dinge genüge, von denen jede eine besondere Qualität zeigte, denn es ließe sich dann die unübersehbare Fülle von Qualitäten der gegebenen Welt aus dieser übersehbaren Anzahl begreifen, und in der Tat wird unter dieser Voraussetzung eine Naturwissenschaft möglich, die eine sehr hohe logische Vollkommenheit ihrer Begriffe besitzt. Aber sobald wir an das Ideal einer a b s o l u t allgemeinen Theorie der Körperwelt denken, können wir uns mit dieser immerhin großen Vereinfachung doch nicht begnügen. Es reicht nicht aus, daß eine begrenzte Anzahl von verschiedenen Qualitäten der letzten Dinge uns als eine empirische Tatsache gegeben ist, bei der wir stehen bleiben

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müssen, sondern wir haben eine Theorie zu erstreben, die uns davor sichert, daß wir irgendwo im Raume und irgendwann in der Zeit auf neue, eventuell unübersehbar viele Qualitäten treffen, die unter keinen unserer Begriffe zu bringen sind. Eine solche Sicherheit ist erst dann erreichbar, wenn alle qualitativ voneinander verschiedenen Dinge sich unter einen Begriff bringen lassen, der jede denkbare Qualität umfaßt. Dieser Begriff darf dann keine Bestandteile mehr enthalten, die Begriffe qualitativ voneinander verschiedener Dinge sind, weil sonst für diese Dinge ein neuer Begriff notwendig wäre, usw. Das aber heißt nichts anderes, als daß Dinge, die untereinander noch irgendwie verschieden sind, niemals „letzte Dinge“ in dem Sinne sein können, wie ein absolut allgemeiner Begriff von der Körperwelt sie fordert. Es müssen sich also alle voneinander verschiedenen Körper begreifen lassen mit Hilfe eines Begriffes von Dingen, die untereinander in jeder Hinsicht gleich sind. Das Resultat, zu dem wir kommen, läßt sich auch so darstellen. Falls jede Mannigfaltigkeit der Körperwelt in einer umfassenden Theorie übersehbar werden soll, sind die letzten Dinge, aus denen die Körperwelt besteht, als in jeder Hinsicht e i n f a c h anzunehmen. Einfache Dinge oder „Atome“ im l o g i s c h e n Sinn des Wortes sind uns in der empirischen Anschauung aber niemals gegeben. Die bisher betrachteten Dingbegriffe waren immer Begriffe von anschaulichen, also unübersehbar mannigfaltigen Dingen. Schon aus diesem Grunde konnte der vorher betrachtete Prozeß der Begriffsbildung nur mit einer Beseitigung der Dingbegriffe zusammenfallen. Sobald es sich nun aber um die letzten Dinge handelt, also eine Beseitigung des Dingbegriffes ausgeschlossen ist, muß man daher zur Bildung von Begriffen einfacher | Dinge kommen. Dingbegriffe behält somit zwar auch die „letzte Naturwissenschaft“ bei, aber es dürfen nicht mehr Begriffe von a n s c h a u l i c h e n Dingen sein. In einfache, nicht anschauliche Dinge müssen alle mannigfaltigen, anschaulichen Dinge sich auflösen lassen. Dies Resultat entspricht genau dem, wozu wir bei Betrachtung der Gesetzesbegriffe gelangten, und auch der Grund ist derselbe, der uns in dem früheren Zusammenhang nicht bei einer Mehrheit letzter Gesetzesbegriffe stehen bleiben ließ. E i n Gesetzesbegriff war notwendig, unter den alle andern Gesetzesbegriffe als seine Arten fallen. E i n Dingbegriff allein darf bleiben, unter den sich alle verschiedenen körperlichen Dinge in der Welt müssen bringen lassen. Beides sind rein logische Forderungen, denn in einem solchen Körperbegriff allein wäre alle Mannigfaltigkeit der anschaulichen Wirklichkeit vollkommen überwunden und die Körperwelt als Ganzes begreiflich gemacht. Nur auf einen Punkt weisen wir noch hin, um den so gewonnenen Begriff zu vervollständigen. Er enthält nämlich noch immer eine Mannigfaltigkeit,

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ja in doppelter Hinsicht sogar ist sie vorhanden. Wenn auch jedes „letzte Ding“ für sich vollkommen einfach und jedem andern gleich ist, so bleibt doch die A n z a h l der letzten Dinge unbegrenzt, oder falls dies bestritten werden sollte, weil der Begriff einer unbegrenzten Anzahl einen Widerspruch enthält, jedenfalls unübersehbar groß, und ferner können die unübersehbar vielen Dinge auch in unübersehbar viele Beziehungen zueinander treten. In diese Anzahl der letzten Dinge und der Beziehungen, in denen sie zueinander stehen, hat sich die Unübersehbarkeit der unmittelbar gegebenen anschaulichen Körperwelt gewissermaßen zurückgezogen. Daß das geschieht, ist notwendig, denn irgendwo muß sie ihren Platz finden. Wir würden es als eine Fälschung durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung ansehen, wenn das unübersehbare körperliche All sich in den Begriffen als eine begrenzte Wirklichkeit darstellte. Trotzdem stört s o l c h e Mannigfaltigkeit der letzten Dinge und die ihrer Beziehungen zueinander uns nicht mehr. Woran liegt das? Die Beantwortung dieser Frage führt auf ein Problem, das erschöpfend zu behandeln, in diesem Zusammenhange nicht unsere Aufgabe ist, auf das wir aber, um die Auseinandersetzung zu einem Abschluß zu bringen, wenigstens hinweisen müssen. Es handelt sich um die Bedeutung der M a t h e m a t i k für die Begriffsbildung der Naturwissenschaft. Wir haben bisher die mathematischen Begriffe nicht berücksichtigt, denn wir wollen ja nur die Erkenntnis der empirischen Wirklichkeit | durch die Naturwissenschaft verstehen, und die Mathematik handelt nicht von realen, sondern von idealen Objekten. Trotzdem stellt sie sich in den Dienst der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, und soweit dies der Fall ist, müssen wir sie beachten. Der entscheidende Punkt ist der, daß den mathematischen Objekten die Art von Mannigfaltigkeit fehlt, die jede empirische wirkliche Anschauung besitzt. Dasselbe aber gilt auch von der Welt der letzten Naturwissenschaft, von den letzten Dingen und ihren Beziehungen zueinander, und aus diesem Grunde ist die Mannigfaltigkeit dieser Welt nicht mehr störend. Die Anzahl der letzten Dinge ist zwar unbegrenzt groß, aber wir kennen das „Gesetz“ der Zahlenreihe, d. h. wir wissen, daß, wie weit wir auch zählen mögen, uns niemals noch etwas prinzipiell Neues in ihr begegnen kann.30 Es genügt daher, wenn die Vereinfachung der Körperwelt soweit vollzogen wird, daß nur noch die Mannigfaltigkeit der Zahlenreihe übrig bleibt, und falls die letzten Dinge einfach und untereinander 30

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Hierbei ist allerdings die Voraussetzung gemacht, daß gewisse neuere mathematische Begriffe, wie die der „transfiniten Zahlen“, auf die Wirklichkeit nicht anwendbar sind. Doch wird wohl auch niemand meinen, es habe einen Sinn zu sagen, daß ein Körper aus ω oder ω + n letzten Dingen besteht. Vgl. G. C a n t o r, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, und B. K e r r y, System einer Theorie der Grenzbegriffe, S. 38 ff.: Die Unendlichkeit der Anzahlenreihe.

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vollkommen gleich sind, ist das der Fall. Dann kann ihre Anzahl, die das Weltganze oder irgendeinen Teil der Körperwelt bildet, jede b e l i e b i g e Größe haben, denn jede Anzahl fällt unter einen Begriff, der die Eigenschaft hat, jede beliebige Größe zu umfassen. Jeder Vorgang der Körperwelt läßt sich dann, wie wir jetzt sagen können, unter den Begriff von Komplexen letzter Dinge bringen, die sich, was die Dinge betrifft, nur noch durch deren Anzahl voneinander unterscheiden und daher mathematisch vollkommen begreiflich sind. Schon hierin wird das Prinzip der mathematischen Naturwissenschaft, soweit es für uns in Betracht kommt, deutlich. Doch nicht nur in der Anzahl der D i n g e bleibt eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit übrig, sondern sie ist, wie bereits gesagt, auch in der Verschiedenheit der B e z i e h u n g e n , in denen die letzten Dinge zueinander stehen, und in dem Wechsel dieser Beziehungen vorhanden. Zwar haben wir das Mittel zu ihrer Ueberwindung bereits in den Gesetzesbegriffen gefunden, die unbedingt allgemeinen Urteilen logisch äquivalent sind. Aber erst nachdem wir die Natur der letzten Dinge kennen, läßt sich genauer zeigen, in welcher Weise auch die Vielheit ihrer Beziehungen für die Naturwissenschaft übersehbar wird. | Es handelt sich, wie wir wissen, um eine Körperwelt in Raum und Zeit. Da qualitative Verschiedenheiten in den letzten Dingen nicht mehr vorhanden sein können, muß sich auch alle Verschiedenheit und aller Wechsel in den Beziehungen dieser letzten Dinge auf verschiedene räumliche und zeitliche Bestimmungen zurückführen lassen, d. h. es muß auch aus den Beziehungen der Dinge zueinander jede qualitative Mannigfaltigkeit entfernt gedacht werden. Oder: das Unveränderliche kann nur seine L a g e im R a u m verändern, also aller Wechsel in den Beziehungen der letzten Dinge zueinander muß B e w e g u n g sein. Nun ist zwar wieder eine unbegrenzte Anzahl von verschiedenen Bewegungen anzunehmen. In diese Mannigfaltigkeit zieht sich die Unübersehbarkeit des empirischen Wechsels in demselben Sinne zurück wie vorher die unübersehbare Mannigfaltigkeit der vielen Einzelgestaltungen in die unbegrenzt große Zahl der letzten Dinge. Aber diese Mannigfaltigkeit der Bewegungen ist ebenfalls nicht in dem Sinne unübersehbar wie die empirische anschauliche Wirklichkeit. Auch die Bewegungen der letzten Dinge sind vielmehr darstellbar als mathematische Größen, denen die Mannigfaltigkeit der empirischen Anschauung fehlt. Sie lassen sich in R e i h e n so angeordnet denken, daß sie ein Kontinuum bilden, und daß der Begriff eines solchen Kontinuums die Bewegungen jeder beliebigen Größe umfaßt. Auch hier kommen wir also dazu, daß jede Beziehung letzter Dinge zueinander unter den Begriff einer homogenen kontinuierlichen Reihe zu bringen ist, d. h. es löst sich auch unter diesem Gesichtspunkt die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Körperwelt in eine nur noch mathema-

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tisch bestimmte und daher übersehbare Mannigfaltigkeit auf. Denn so weit wir auch eine solche Reihe verfolgen mögen, es kann uns in ihr ebensowenig wie in der Zahlenreihe etwas prinzipiell Neues oder Unbekanntes begegnen, sobald wir das Gesetz der Reihe kennen. Wir stehen ihr also prinzipiell anders gegenüber als der anschaulichen empirischen Wirklichkeit, von der wir nie wissen können, ob in ihr noch etwas prinzipiell Neues vorkommt. Die Fülle aller Bewegungen wird in einem System mathematisch formulierter Bewegungsgesetze vollkommen begrifflich beherrscht. Damit sind wir endlich zu einem Abschluß des Körperbegriffes gelangt, den wir, gleichviel ob er inhaltlich jemals zu erfüllen ist, als l o g i s c h e s I d e a l der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung aufstellen müssen, und dem sich wenigstens anzunähern, die logisch notwendige Aufgabe der Naturwissenschaft von der Körperwelt ist. Kehren wir nun noch einmal zu einem Gedanken zurück, den wir zu | Beginn dieser Untersuchung andeuteten. Wir mußten dort dem Mißverständnisse vorbeugen, daß die von uns behauptete unübersehbare Mannigfaltigkeit der anschaulichen Wirklichkeit nichts anderes sei als der Begriff eines in unendlich viele mathematische Punkte zerlegbaren homogenen Kontinuums. Jetzt ist vollends deutlich, w i e weit die beiden Arten von „Unendlichkeit“, von denen wir die eine als die Unübersehbarkeit der empirischen Anschauung, die andere als die mathematisch-begriffliche Unendlichkeit bezeichnen können, voneinander abliegen. Wir müssen sie unter methodologischen Gesichtspunkten geradezu in einen Gegensatz zueinander bringen. Durch die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften v e r d r ä n g e n wir die Unübersehbarkeit, welche die h e t e r o g e n e , kontinuierliche, anschauliche Wirklichkeit uns darbietet, und die uns in unserer Unfähigkeit, sie in allen ihren Einzelheiten zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, klar wird. Wir setzen an ihre S t e l l e den von ihr prinzipiell verschiedenen mathematischen Begriff eines aus beliebig vielen Teilen bestehenden h o m o g e n e n Kontinuums, die nur noch quantitativ, nicht mehr qualitativ voneinander verschieden sind, und wir können es daher geradezu als die letzte und abschließende Aufgabe der begrifflichen Bearbeitung der Körperwelt bezeichnen, aus jeder unübersehbaren, heterogenen, qualitativen Mannigfaltigkeit der empirischen wirklichen Anschauung eine übersehbare, homogene, mathematische, quantitative Unendlichkeit zu machen. Unübersehbar bleibt die Wirklichkeit, die uns unmittelbar gegeben ist, deswegen, weil jeder ihrer unbegrenzt vielen Teile von allen andern verschieden ist, also seine einzigartige individuelle Gestaltung besitzt. Wir können nie wissen, ob wir bei weiterer Zerlegung nicht noch auf etwas prinzipiell Neues stoßen. Uebersehbar dagegen ist die mathematische, quantitative Unendlichkeit einer homogenen kontinuierlichen Reihe deswegen, weil wir

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jedes beliebige Glied der Reihe herausgreifen können und in ihm bereits alles haben, was für sämtliche Glieder der Reihe in Betracht kommt. Etwas prinzipiell Neues, noch Unbekanntes kann in einer solchen homogenen Reihe uns daher niemals begegnen. Hätten wir also die unübersehbare und insofern „irrationale“ empirische Wirklichkeit mit einem Begriffsnetz, wie die letzte Naturwissenschaft es bilden muß, überzogen, dann wäre damit die empirische Wirklichkeit so weit „rational“ geworden, wie sie überhaupt rational zu werden vermag. Endlich wenden wir uns jetzt der Frage zu, wie weit der Begriff der letzten Dinge, den auch eine logisch vollkommene allgemeine Theorie | der Körperwelt nicht entbehren kann, sich unserer Theorie einordnen läßt, nach der das logische Ideal des naturwissenschaftlichen Begriffes aus dem Gehalt von gültigen U r t e i l e n besteht, die ihn bestimmen und zugleich durch ihre Geltung ihm die notwendige unbedingte Allgemeinheit verleihen. Für die Beantwortung dieser Frage kommt vor allem der Umstand in Betracht, daß der Inhalt eines Begriffes, der sich nicht auf empirisch anschauliche Dinge bezieht, selbst ebenfalls nicht aus anschaulichen Momenten bestehen wird. Zunächst ersehen wir daraus, inwieweit mit solchen Dingbegriffen das abschließende Ideal einer vollständigen Begriffs b e s t i m m u n g zu erreichen ist. Wollen wir uns den Inhalt des Begriffes der letzten Dinge ausdrücklich vergegenwärtigen, so müssen wir alles das v e r n e i n e n , was uns von den in der empirischen Anschauung gegebenen Dingen bekannt ist. Die letzten Dinge sind daher nicht teilbar, nicht veränderlich, nicht geworden, nicht vergänglich usw. Auch das scheinbar positive Merkmal der Einfachheit ist, auf Körper angewendet, ebenfalls eine Negation. Durch Verneinung also wird aus dem Inhalte dieses Begriffes alles ausgeschlossen, was Unbestimmtheit mit sich führen könnte. Die Bestimmung ist zwar durchweg negativ, aber doch vollkommen eindeutig, denn es handelt sich hier, wie bei allen brauchbaren negativen Begriffen, um eine zweigliedrige Disjunktion. Alle Dinge, die uns gegeben sind, sind mannigfaltig und zeigen alles, was die letzten Dinge nicht enthalten. Es ist deshalb ganz ausgeschlossen, daß der Begriff des letzten Dinges jemals mit dem Begriff eines anderen Dinges verwechselt wird. Mit dem Worte „letztes Ding“ bleibt jetzt nur e i n e Bedeutung, also ein genau bestimmter Begriff verbunden. Der Begriff des letzten Dinges vollendet demnach zunächst unsere Theorie insofern, als mit seiner Hilfe eine vollkommene B e s t i m m t h e i t der Begriffe gewonnen werden kann. Noch wichtiger aber ist etwas anderes. Wenn der Begriff der letzten Dinge seinem Inhalte nach dadurch zu vergegenwärtigen ist, daß wir alles das verneinen, was wir von der empirischen Anschauung der Wirklichkeit kennen, so setzt sich auch dieser Begriff, sobald wir seinen Inhalt denken, eben-

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so wie die andern logisch vollkommenen Begriffe der Naturwissenschaft, aus dem Gehalt von lauter U r t e i l e n zusammen. Als das Ding, von dem diese Urteile etwas aussagen, bleibt nur etwas übrig, das inhaltlich zu vergegenwärtigen, wir uns vergeblich bemühen, und das wir auch, wenn wir uns den Inhalt des Begriffes vollständig zum Bewußtsein gebracht haben, als anschauliches Ding gar nicht zu | denken brauchen. So können wir sagen, daß wir hier im Grunde genommen ebenfalls einen R e l a t i o n s b e g r i f f vor uns haben, und nur dadurch unterscheidet sich dieser Relationsbegriff von andern Relationsbegriffen, daß wir ihn so behandeln, als ob er ein Dingbegriff wäre. Wir müssen von einem „Dinge“ sprechen, weil wir uns die Körperwelt nicht anders als aus Dingen bestehend denken können, aber lediglich der Gehalt der Urteile, die wir über das Ding fällen, und ihre Geltung kommt in einem wissenschaftlichen Zusammenhange noch in Betracht. Von den Dingen selbst ist nichts als die F o r m der Dinghaftigkeit überhaupt geblieben. Aller Inhalt steckt in den Relationen der Dinge zueinander. So geht es der Naturwissenschaft mit ihren letzten Dingen nicht anders, wie es ihr mit allen Dingen geht: sie löst den Inhalt ihrer Begriffe in den Gehalt von Urteilen auf. Ja, gerade dieser, unserer Theorie scheinbar widersprechende Grenzfall macht die Sache am deutlichsten. Ist die Naturwissenschaft bei ihren letzten Dingbegriffen angelangt, so kann sie n u r noch den Gehalt von Urteilen denken. Damit ordnet sich dieser Grenzfall unserer Theorie restlos ein: der Inhalt a l l e r logisch vollkommenen naturwissenschaftlichen Begriffe besteht aus dem Gehalt von gültigen Urteilen. Zugleich wird so von neuem deutlich, wie unsere Theorie die m o d e r n e Auffassung der Naturwissenschaft zum Ausdruck bringt im Gegensatz zur a n t i k e n Meinung, auf deren Boden die traditionelle Logik erwachsen ist. Ja, das ist geradezu die Pointe dieser Ausführungen über Ding- und Relationsbegriffe, daß wir mit dem antiken Gattungsbegriff, der ein Dingbegriff ist, bei einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Körperwelt nicht auskommen. Wir müssen den Gedanken, der Begriff sei eine bloße Vorstellung vom Gemeinsamen, ganz fallen lassen. Ein kurzer historischer Rückblick wird das bisher Gesagte mit Rücksicht hierauf vielleicht noch klarer machen. Wie die Begriffslehre beschaffen war, die Sokrates vortrug, werden wir mit absoluter Sicherheit nicht feststellen. Für die Zukunft entscheidend war die Wendung, die Platons Ideenlehre dem Nachdenken über logische Fragen gab. Aristoteles ist in dieser Hinsicht von Platon durchaus abhängig.31 Das einzelne individuelle Ding ist als solches auch diesen Denkern für die Er31

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Vgl. W i n d e l b a n d , Geschichte der alten Philosophie, 1888, 2. Aufl., 1894, S. 149. Die dritte Auflage ist von A. Bonhöffer bearbeitet, 1912.

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kenntnis ohne Bedeutung, es existiert sogar nach Platon eigentlich nicht. Die wahre Wirklichkeit ist eine Welt von allgemeinen „Gestalten“. Die Ideen sind allgemeine Realitäten und als | solche bilden sie den Gegenstand der Erkenntnis. Mochte man sie nun mehr transzendent oder mehr immanent auffassen, das Ziel des Erkennens konnte nur darin bestehen, die Urbilder zu reproduzieren. Die Bedeutung des Begriffes war daher in einem Nachbild zu finden. Seine Aufgabe bestand darin, den wahrhaft real seienden Gegenstand der Erkenntnis wiederzugeben. Ganz gewiß ist es daher unrichtig, wenn Lotze32 in einem der tiefsinnigsten Kapitel seiner Logik die platonische Idee als das interpretiert, was g i l t , im Gegensatze zu dem, was real i s t . Gerade dieser Gedanke ist unplatonisch, wenn wir das Wort Gelten im Gegensatz zum realen Sein gebrauchen. Die Ideen sind nach Platon das wahrhaft Wirkliche, und die Begriffe spiegeln es so wider, wie es real existiert. Um so wertvoller dagegen ist die Lotzesche Unterscheidung für eine Logik, in der die Tendenzen der modernen Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, wie sie sich seit den Zeiten der Renaissance entwickelt hat, zum Ausdruck kommen sollen. Anschauliche Gebilde wie die griechischen Begriffe „sind“. Urteile „sind“ nicht, sondern „gelten“, wobei wir selbstverständlich den logischen Gehalt der Urteile, nicht den wirklichen Urteilsakt meinen, der hier für uns nicht in Betracht kommt. Wohl bleibt also der moderne Naturforscher Platoniker, insofern sein Interesse immer auf das A l l g e m e i n e gerichtet ist, aber die Allgemeinheit darf er nicht mehr in einem nach Art der Antike gedachten Gattungsbegriff von R e a l i t ä t e n finden. Wir kennen keine „allgemeinen Wirklichkeiten“ mehr neben oder in den einzelnen w i r k l i c h e n Dingen. Wir können daher mit unsern Begriffen auch keine Realitäten a b b i l d e n wollen. Die individuellen, einzelnen Dinge sind für uns die Wirklichkeit, und zwar die einzige Wirklichkeit, die wenigstens für die empirische Wissenschaft in Betracht kommt. Das Allgemeine, das sie erfaßt, kann darum nicht als abbildendes Nachbild gedacht werden, sondern wir wollen, wenn wir uns recht verstehen, jene unbedingt allgemein gültigen Urteile vollziehen, in deren Gehalt wir das auffassen, was wir die die Natur beherrschenden Gesetze nennen. Das Allgemeine, wie die Naturwissenschaft es sucht, gibt es für uns nur noch in der Form des Geltens, und die individuellen Einzeldinge interessieren uns in der Naturwissenschaft insofern, als sie Ausdruck eines allgemeinen, immer gültigen Verhaltens sind. Unsere naturwissenschaftlichen Begriffe können dementsprechend nicht bloße Wortbedeutungen sein, deren wissenschaftlicher Wert darauf beruht, daß sie Abbilder von | Realitäten sind, sondern sie müssen das Wissen von Gesetzen oder wenigstens die Vorstufen zu einem 32

Logik, 1874, 2. Aufl. 1880, S. 505 ff.: Die Ideenwelt.

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solchen Wissen enthalten. Jedes Wissen aber besitzt den Gehalt eines Urteils. Nur als einer besonderen Form des Urteils oder genauer als einem dem Urteilsgehalt logisch äquivalenten Gebilde kommt daher dem Begriff eine wesentliche Bedeutung im modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß zu. So gliedert sich unsere Begriffstheorie leicht in einen größeren Zusammenhang ein, der gerade das moderne Denken zum Ausdruck bringt. Seine weitere Verfolgung würde uns jedoch zu einer erkenntnistheoretischen oder transzendental-philosophischen Deutung des Körperbegriffes führen, den die Naturwissenschaft zu bilden hat, um die Mannigfaltigkeit der empirischen Anschauung zu überwinden. Es müßte dann gefragt werden, wie weit von einer R e a l i t ä t der „letzten“, nicht mehr anschaulichen Dinge geredet werden kann, und eine solche Deutung gehört nicht mehr in diese Gedankenreihe.33 Hier handelt es sich nur um die Feststellung und Begründung der naturwissenschaftlichen Methode und um die Aufzeigung der Ideale, denen die Naturwissenschaft sich auf dem Boden des empirischen Realismus mit Hilfe dieser Methoden zu nähern hat.

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Wir haben versucht, den Ausführungen dieses Kapitels, soweit es möglich war, einen rein logischen, also f o r m a l e n Charakter zu geben. Nur von zwei inhaltlich bestimmten Voraussetzungen machten wir Gebrauch. Aus der Tatsache einerseits, daß wir eine den Raum heterogen und kontinuierlich erfüllende und in der Zeit sich ebenso verändernde anschauliche Mannigfaltigkeit von Körpern vor uns haben, die man wegen ihrer extensiven und intensiven Unübersehbarkeit niemals abbildend erkennen kann, und aus der Forderung andererseits, daß diese Mannigfaltigkeit trotzdem eingefangen werden soll in ein vollkommen | übersehbares System von Begriffen, haben wir das logische Ideal einer absolut allgemeinen, d. h. für alle Körper zutreffenden und für alle erkennenden Subjekte gültigen Theorie der Körperwelt konstruiert. 33

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Ihre weitere Entwicklung würde zur Ablehnung jeder metaphysischen oder begriffsrealistischen Auffassung naturwissenschaftlicher Theorien führen und eine Bestätigung des transzendental-idealistischen und empirisch-realistischen Standpunktes geben, den ich in meinem Buch über den Gegenstand der Erkenntnis (6. Aufl., 1928) begründet habe. Ueber die „Irrealität“ der „letzten“ Wirklichkeitselemente vgl. auch mein System der Philosophie, I, S. 172 ff. Alle diese Ausführungen wenden sich gegen den Versuch, das theoretisch wahrhaft Reale in ein unbekanntes Jenseits zu verlegen und damit die Welt, in der wir „leben“, theoretisch zu entwirklichen.

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Streng genommen haben wir sogar erst bei der Erörterung des Unterschiedes von Dingbegriffen und Relationsbegriffen den Umstand benutzt, daß die gegebene Mannigfaltigkeit aus ausgedehnten und raumerfüllenden Dingen, also aus K ö r p e r n besteht. Der Inhalt der vorangegangenen Erörterungen war so formuliert, daß die Momente der empirischen Allgemeinheit, der Bestimmtheit und der unbedingt allgemeinen Geltung des Begriffes ohne ausdrückliche Rücksicht auf die Eigenart der Körperwelt gewonnen wurden. Wir können uns auf diesen Umstand berufen, wenn es sich in dem folgenden Kapitel um die Frage handelt, wie weit die naturwissenschaftliche Begriffsbildung auch zur Bearbeitung des psychischen oder realen „geistigen“ Lebens brauchbar ist. Diese Frage von vornherein soweit wie möglich im Zusammenhang mit der begrifflichen Bearbeitung der Körperwelt zu behandeln, schien nur deswegen nicht angemessen, weil der Begriff des Materials der Psychologie nicht so selbstverständlich ist und jedenfalls wissenschaftlich nicht so feststeht wie der einer anschaulich gegebenen Körperwelt. Was die Physiker zu behandeln haben, wissen sie alle. Was „eigentlich“ Material der Psychologie ist, darüber sind die Psychologen durchaus nicht einig. Um Mißverständnissen vorzubeugen, weisen wir jedoch schon hier ausdrücklich darauf hin, daß nur einige spezielle Eigentümlichkeiten, nicht aber die allgemeinen Charakteristika des naturwissenschaftlichen Begriffes aus einer sachlichen Besonderheit der Körperwelt abgeleitet sind. Gerade deshalb verweilen wir auch noch etwas bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, soweit sie sich n u r auf die Körperwelt bezieht. Wir sind zuletzt zu einem Ergebnis gelangt, das zwar rein logisch konstruiert ist und deswegen auch nichts anderes als ein logisches Ideal sein kann, von dem sich aber trotzdem zeigen läßt, daß die faktisch vorhandenen Naturwissenschaften sich ihm mehr oder weniger a n z u n ä h e r n versuchen. Ja, man könnte sogar meinen, die allgemeinste Disziplin von der Körperwelt wäre faktisch die „letzte Naturwissenschaft“, die wir logisch konstruiert haben. So lehrt ja die Mechanik: die Welt, die sich uns in der Anschauung als eine unübersehbar mannigfaltige darbietet, ist im Grunde genommen immer und überall d i e s e l b e . Alle Verschiedenheit und aller Wechsel beruht auf der Bewegung eines unveränderlichen Substrats im Raume, und diese Bewegung wird beherrscht von allgemeinen Gesetzen, die aufzusuchen, | mathematisch zu formulieren und in ein einheitliches System zu bringen, die Aufgabe der Wissenschaft ist. Kurz, die körperliche Natur ist zu begreifen als M e c h a n i s m u s . Angesichts dieser Uebereinstimmung ist zunächst dem Mißverständnis vorzubeugen, als meinten wir, daß logischen Ueberlegungen, wie wir sie angestellt haben, die Grundbegriffe der mechanischen Naturauffassung ihr Dasein verdanken. Im Gegenteil, wir wissen, daß diese Begriffe auf einem

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andern Wege entstanden sind, den wir zum Teil deutlich verfolgen können, der uns aber in diesem Zusammenhange nicht interessiert. Wir gingen hier von dem Gedanken aus, daß jede begriffliche Erkenntnis der Körperwelt mit einer Vereinfachung der Wirklichkeit verbunden ist. Das war ein logisch-methodisches Hilfsmittel, um uns die Notwendigkeit gewisser formaler Eigentümlichkeiten der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zum Bewußtsein zu bringen. Die Absicht der Vereinfachung ist nicht etwa, wie der Pragmatismus behaupten könnte, der Gesichtspunkt, der auch den Spezialforscher leitet, oder von deren Verwirklichung gar die inhaltliche Wahrheit seiner Ergebnisse abhängt. Wir lassen es sogar ausdrücklich dahingestellt, ob wir hier den einzigen Gesichtspunkt gewonnen haben, unter dem das logische Ideal einer allgemeinen Theorie der Körperwelt zu betrachten ist. Es reicht aus, wenn dies nur ein richtiger Gesichtspunkt unter andern ist, sich also auf diesem Wege überhaupt die logische Struktur des Ideals der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zum Bewußtsein bringen läßt. Wir haben grade diesen Gesichtspunkt gewählt, weil wir so am besten das klar legen konnten, was wir später bei einer Aufzeigung der G r e n z e n der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung brauchen werden. Eine erschöpfende Darstellung der naturwissenschaftlichen Methode in ihrer ganzen logischen Struktur liegt, wie immer wieder zu beachten ist, nicht in unserm Plan. Die Bedeutung des dargestellten Teiles für unsere spätere Aufgabe, das Wesen der h i s t o r i s c h e n Begriffsbildung zu entwickeln, kann erst in dem Zusammenhange des dritten Kapitels klar werden. Hier bringen wir jetzt den auf logischem Wege gefundenen allgemeinen Begriff der Körperwelt noch ausdrücklich zu einigen Begriffen der wirklichen Naturwissenschaft in Beziehung. Dafür haben wir mehrere Gründe. Indem wir dabei etwas weniger abstrakt verfahren, wird unser Gedankengang vielleicht leichter verständlich, ja, er kann sogar an Ueberzeugungskraft gewinnen, wenn wir zeigen, wie weit er mit den Theorien der empirischen Wissenschaften sich in Uebereinstimmung | befindet. Ferner müssen wir auf die vorhandene Forschung auch deshalb Bezug nehmen, weil es so scheinen könnte, als seien unsere logischen Ausführungen nicht allgemein genug, d. h. als umfasse unser Begriff der Körperwelt nicht alle die allgemeinen Begriffe, zu denen die Wissenschaft gelangt ist, sondern stehe mit einigen von ihnen sogar in Widerspruch. Neuerdings ist nämlich von naturwissenschaftlicher Seite die mechanische Naturauffassung zum Gegenstand von Angriffen gemacht worden. Wir haben daher zu zeigen, daß, wo ein solcher Widerspruch vorhanden ist, er sich nicht gegen empirisch begründete oder begründbare Theorien, sondern gegen logische Mängel dieser Theorien richtet. Doch können wir im allgemeinen mehr Uebereinstimmung als Widerspruch konstatieren. Endlich verweilen wir auch gerade w e g e n der Ueber-

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einstimmung zwischen dem logisch konstruierten Ideal und einigen faktisch vorhandenen spezialwissenschaftlichen Theorien noch etwas bei diesem Punkte. Wir müssen uns darüber klar werden, daß in den empirischen Wissenschaften nur von einer A n n ä h e r u n g an das Ideal, nicht etwa von seiner wirklichen Erreichung die Rede sein darf, denn gerade das ist für das Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zur Geschichte von ausschlaggebender Bedeutung. Die folgenden Ausführungen werden selbstverständlich von dem logisch zufälligen Stande der Naturwissenschaft abhängig, d. h. während das bisher Gesagte nur dadurch modifiziert oder widerlegt werden kann, daß eine logische Inkonsequenz darin nachgewiesen wird, sind Einzelheiten dieses Abschnittes durch Wandlungen in den empirischen Disziplinen umzustoßen und können daher schnell veralten. Das mag als Uebelstand erscheinen, und es kommt noch etwas anderes hinzu, das das Mißliche unseres Unternehmens verstärkt. Auch jetzt ist unsere Aufgabe in der wiederholt angedeuteten Weise begrenzt, d. h. unter den Theorien der Naturwissenschaft werden wir nicht solche wählen, die, zur Bearbeitung spezieller Probleme gebildet, einer Einordnung in das Ganze der Wissenschaft noch harren und auch als Materialsammlungen für umfassendere Theorien angesehen werden können, sondern wir suchen Gedankengänge auf, die als theoretischer A b s c h l u ß der Wissenschaft gedacht sind oder wenigstens auf ihn hindeuten. Dabei wird es sich meist um Ansichten handeln, in denen hypothetische Elemente eine große Rolle spielen, und die deshalb besonders stark dem Wandel unterworfen sind. Wir müssen sogar solche Gebiete bevorzugen, auf denen zu arbeiten, mancher Einzelforscher eine Abneigung empfinden mag, | weil er sich hier auf einem noch allzu unsicheren Boden bewegt. Doch ist andererseits zu bemerken, daß die Stellung der L o g i k zu stark mit hypothetischen Faktoren durchsetzten Theorien eine wesentlich andere sein darf als die des Mannes der Spezialwissenschaft, falls für ihn nicht ebenfalls logische Interessen maßgebend sind. Was dem Fachmanne nämlich als voreilige Hypothese, ja vielleicht als Phantasma erscheint, ist unter logischen Gesichtspunkten deshalb interessant, weil daraus oft besser als aus gesicherten Einzelergebnissen Klarheit über die allgemeinsten Tendenzen und letzten Z i e l e der Wissenschaft gewonnen werden kann. Gerade das ist für uns von Interesse, in welcher Richtung sich die Spezialforscher selbst den A b s c h l u ß ihrer Wissenschaft oder wenigstens ihre zukünftige Entwicklung denken. Wenn sie Gedanken darüber Ausdruck geben, gehen sie damit eigentlich über ihre Tätigkeit, die sie als Spezialforscher haben, hinaus und wenden sich selbst implicite wenigstens der Konstruktion logischer Ideale zu. Insbesondere die Theoreme anerkannt bedeutender Forscher sind unter diesem Gesichtspunkt als persönliche Kundgebungen wichtig, und

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sie behalten ihren Wert selbst dann, wenn sie sich inhaltlich als verfehlt herausstellen sollten. Können wir in derartigen Gedankengebilden nur eine logische Struktur entdecken, die mit unserm logischen Ideale übereinstimmt, so dürfen wir in ihnen schon eine Bestätigung unserer Ansichten sehen. Wir gehen ja nirgends darauf aus, den allgemeinen Theorien der Naturwissenschaft sogenannte „philosophische Konsequenzen“ zu entnehmen, sondern wir wollen ihre l o g i s c h e S t r u k t u r verstehen. Unser Unternehmen ist also unbedenklich, sobald wir ausdrücklich den Vorbehalt machen, daß die in Betracht gezogenen Theorien der Naturwissenschaft nicht als i n h a l t l i c h richtig vorausgesetzt sind. Es soll dieser Abschnitt überhaupt mehr zur Erläuterung und Bestätigung als zur Erweiterung des bisher Gesagten dienen, ja etwas prinzipiell Neues können wir gar nicht gewinnen wollen. Unter diesem Gesichtspunkte wird es sich dann auch rechtfertigen, was im ersten Augenblick vielleicht fremdartig erscheint, daß wir nicht n u r an den gegenwärtigen Zustand der Wissenschaften von der Körperwelt uns halten, sondern die in der ersten Auflage dieses Buches vor mehreren Jahrzehnten veröffentlichten Ausführungen in der Hauptsache unverändert lassen und auf die Fortschritte der Naturwissenschaft der späteren Zeit höchstens soweit Rücksicht nehmen, als notwendig ist, um zu zeigen: an ihrer logischen Struktur hat sich nichts Wesentliches geän- | dert. Gerade der Umstand, daß das logische Ideal, das den früher aufgestellten Theorien zugrunde lag, auch noch in den modernsten Gedanken steckt, muß unseren Ausführungen Ueberzeugungskraft geben. So machen wir uns, soweit das überhaupt möglich ist, von dem logisch zufälligen Stadium im historischen Entwicklungsgange der Naturwissenschaft frei. Von den verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen ist es die theoretische M e c h a n i k , die dem logischen Ideal am meisten entspricht. Sie behandelt nichts mehr, das n u r hier oder dort, n u r dann oder jetzt im Raume oder in der Zeit zu finden ist, sondern ihre Begriffe sind absolut allgemein, soweit die Körperwelt überhaupt in Frage kommt. Jedes beliebige Stück oder alle Teile des Ganzen, jede intensive oder extensive physische Mannigfaltigkeit will sie begreifen und so in einem völlig übersehbaren System das Unübersehbare erfassen. Damit kommt sie genau auf das Ziel der „letzten Naturwissenschaft“ hinaus. Ja, wir finden sogar einen Versuch, sie in ihren Grundbegriffen so zu gestalten, daß sie noch in besonderer Hinsicht dem von uns konstruierten Ideale einer logisch vollkommenen Körperwissenschaft entspricht. Die „Prinzipien der Mechanik“ von Heinrich Hertz34 unternehmen es, „alle einzelnen besonderen Gesetze dieser Wissenschaft aus einem einzigen 34

Gesammelte Werke, Bd. III.

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Grundgesetz abzuleiten“, wie Helmholtz in seinem Vorwort zu diesem Werke es als ein Charakteristikum des Systems ausdrücklich hervorhebt.35 In Rücksicht auf die Relationsbegriffe ist also hier die Körperwelt genau in dem Sinne „vereinfacht“, wie dies aus logischen Gründen gefordert schien. Es ist der Versuch gemacht, einen letzten Gesetzesbegriff zu finden, als dessen Arten alle anderen Gesetze zu verstehen sind. Und mit den Dingbegriffen steht es nicht anders. Außer den Gesetzesbegriffen bleiben in diesem System nur Raum, Zeit und Masse als nicht weiter ableitbare Begriffe übrig. Der Begriff der Kraft oder der Energie ist als selbständige Grundvorstellung beseitigt: er tritt nur „als eine mathematische Hilfskonstruktion“ auf, als „das nur gedachte Mittelglied zwischen zwei Bewegungen“.36 Raum und Zeit sind für eine allgemeine Theorie der Körperwelt keine Probleme, da nicht Raum und Zeit, sondern die Welt i n Raum und Zeit begriffen werden soll. Es findet sich also von naturwissenschaftlichen Begriffen in diesem System neben dem e i n e n Gesetzesbegriff, der alle andern Relationen | der Dinge umfaßt, nur der e i n e Dingbegriff der „Masse“, unter den alle andern Dingbegriffe gebracht werden. Deshalb können wir, ohne auf Einzelheiten weiter einzugehen, in diesem System den Versuch einer in unserm Sinne logisch vollkommenen Theorie der unübersehbaren physischen Mannigfaltigkeit konstatieren. Zugleich aber wird noch etwas anderes klar. Wenn dieses System sich nicht nur als logisch vollkommen, sondern auch als inhaltlich richtig erwiese, wäre etwa in ihm die Aufgabe gelöst, eine letzte Naturwissenschaft so zu gestalten, daß sie die Dingbegriffe auch der andern Wissenschaften bis auf den einen Massebegriff in Relationsbegriffe umsetzt, d. h. wäre damit im Prinzip die Arbeit, die gesamte Körperwelt durch Begriffe vollkommen zu vereinfachen, abgeschlossen und daher mit Rücksicht hierauf die Naturwissenschaft zu Ende? Selbstverständlich ist das nicht der Fall, und es muß für uns von Interesse sein, zu sehen, was schon unter rein formalen Gesichtspunkten der Hertzschen Mechanik zur Lösung dieser Aufgabe noch fehlt. Die Vereinfachung der Körperwelt ist in ihr sozusagen teuer erkauft. Ihr Massebegriff umfaßt zwar die unübersehbare Mannigfaltigkeit, macht sie aber, soweit es sich um die unmittelbar gegebene Wirklichkeit handelt, in Rücksicht auf das allein begreiflich, was sich schon in der empirischen Anschauung als Bewegung oder Ruhe der Körper darstellt, und sucht sonst nur jenes „verborgene Etwas“, das „hinter den Schranken unserer Sinne“ als „heimlicher Mitspieler“ wirken soll, als Bewegung und Masse zu verstehen.37 Aus der sichtbaren 35 36 37

a. a. O. [S.] XIX. H e r t z , a a. O. S. 34. Vgl. H e r t z , a. a. O. S. 30.

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und greifbaren, kurz aus der gesamten empirischen Mannigfaltigkeit der Körperwelt wird also das herausgegriffen, was aus den angegebenen Gründen am leichtesten einer vollkommenen Vereinfachung durch die Begriffsbildung zugänglich ist: die Gesamtheit des Quantitativen. Daraus aber ergibt sich, daß für eine mehr als willkürliche Vereinfachung dessen, was sich uns in der Körperwelt nicht unmittelbar als Bewegung darstellt, hier noch so gut wie nichts getan ist. Es werden, um wieder Worte von Helmholtz38 zu gebrauchen, „noch große Schwierigkeiten zu überwinden sein bei dem Bestreben, aus den von Hertz entwickelten Grundlagen Erklärungen für die einzelnen Abschnitte der Physik zu geben“. Mit anderen Worten: die optischen, akustischen, thermischen, elektrischen Vorgänge stehen noch als eine Mannigfaltigkeit vor uns, die nicht durch einen Gesetzesbegriff wissenschaftlich überwunden, sondern in der allgemeinen Bedeutung des Wortes „Masse“ | i g n o r i e r t ist. An dem Ausdruck haftet, wenn auch nicht für die theoretische Mechanik, so doch in bezug auf die qualitative Mannigfaltigkeit der im engeren Sinn physikalischen Dinge und Vorgänge, eine u n b e s t i m m t e allgemeine Wortbedeutung. Weil die Sätze der Mechanik nicht anwendbar sind auf die leuchtende, tönende, warme, elektrische Körperwelt, so geben sie uns auch keine durchgebildeten mechanischen Begriffe von Licht, Schall, Wärme, Elektrizität. Dem entspricht der Zustand der P h y s i k . Sie ist von dem hier aufgestellten logischen Ideal weit entfernt. Sie unterscheidet verschiedene Gebiete, von denen fast jedes seine besonderen Gesetze hat. Ihre Relationsbegriffe sind daher nicht in ein einheitliches System gebracht, und ebensowenig ist sie zu einer Einheitlichkeit in den Dingbegriffen vorgeschritten. Wohl faßt sie im a l l g e m e i n e n Licht und Schall als Bewegung auf, aber der Begriff eines einheitlichen gemeinsamen Substrats dieser Bewegungen, der Begriff des „letzten Dinges“, ist nicht ausgebildet. Von einer absolut allgemeinen Theorie der gesamten körperlichen Mannigfaltigkeit ist also keine Rede. Zwischen der reinen Mechanik und der Physik im engeren Sinne klafft vielmehr eine große Lücke. So gewiß aber der Zustand der Physik mit Rücksicht auf das logische Ideal unvollkommen ist und es bis zu einem gewissen, später genau festzustellenden Grade für immer bleiben muß, so gewiß geht andererseits das Streben dahin, die Unvollkommenheit immer mehr einzuschränken und eine Theorie zu bilden, die in der R i c h t u n g auf die von uns sogenannte letzte Naturwissenschaft liegt. Darauf kommt es hier an. Es gilt, die Mannigfaltigkeit in den Ding- und Relationsbegriffen der Physik immer mehr zu vereinfachen, also einen gemeinsamen Dingbegriff zu finden, der Mecha38

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nik und Physik mehr miteinander verbindet. Es gilt ferner, auch Relationsbegriffe aufzustellen, die nicht nur einzelne Gebiete der physikalischen Mannigfaltigkeit umfassen. Diese Tendenz bestätigt wiederum unsere logischen Ausführungen. Jede Entdeckung, die etwas Gemeinsames zwischen zwei scheinbar prinzipiell voneinander verschiedenen Vorgängen feststellt, wird als epochemachender Fortschritt der Wissenschaft begrüßt. Um ein Beispiel zu haben, können wir wieder an Heinrich Hertz erinnern, und zwar an das, was er über die Beziehungen zwischen Licht und Elektrizität gelehrt hat. Sowohl in Rücksicht auf die Relationsbegriffe als auch auf die Dingbegriffe liegt hier ein großer Fortschritt in der Vereinfachung der physikalischen Theorien vor. Ja, Hertz hat | im Zusammenhang mit diesen Untersuchungen bereits eine Theorie der physikalischen Mannigfaltigkeit angedeutet, die sich nicht allein in der Richtung auf das von uns logisch konstruierte Ideal bewegt, sondern sich mit ihm in ihrer logischen Struktur sogar vollständig deckt, d. h. er hat auf einen Weltbegriff hingewiesen, durch dessen Ausbildung die mechanische Naturauffassung nicht n u r das schon in der Anschauung als Bewegung Gegebene begreifen könnte. Unmittelbar anschließend an die Frage nach dem Wesen der elektrischen Kräfte im Raum erhebt sich nämlich für Hertz die „gewaltige Hauptfrage“ nach dem Wesen des Aethers, d. h. des „raumerfüllenden Mittels“, woraus a l l e körperlichen Dinge und Vorgänge bestehen sollen: „Immer mehr gewinnt es den Anschein, als überrage diese Frage alle andern, als müsse die Kenntnis des Aethers uns nicht allein das Wesen der ehemaligen Imponderabilien offenbaren, sondern auch das Wesen der alten Materie selbst und ihrer innersten Eigenschaften, der Schwere und Trägheit. Die Quintessenz uralter physikalischer Lehrgebäude ist uns in den Worten aufbewahrt, daß alles, was ist, aus dem Wasser, aus dem Feuer geschaffen sei. Der heutigen Physik liegt die Frage nicht mehr fern, ob nicht alles, was ist, aus dem Aether geschaffen sei“.39 In welchem Zusammenhange diese Sätze mit unsern Ausführungen stehen, bedarf kaum der ausdrücklichen Hervorhebung. Zunächst bestätigen sie das logische Ideal des „letzten Dinges“. Als aus Teilen des „Aethers“ zusammengesetzt, müßte, wenn eine Theorie in diesem Sinne ausgebildet wäre, alle Mannigfaltigkeit der Körperwelt gedacht werden. Es käme nur darauf an, die verschiedenen Aetherbewegungen, die wir als Licht oder Wärme, Elektrizität oder Schall bezeichnen, unter einen allgemeinen Begriff zu bringen. Dann hätten wir diese physikalische Mannigfaltigkeit nicht mehr in einer unbestimmten Wortbedeutung ignoriert, sondern als gesetzmäßige Bewegung von letzten Aetherteilen begriffen. Auch die Körperatome oder 39

H. H e r t z , Ueber die Beziehungen zwischen Licht und Elektrizität, S. 26 f.

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die Massenatome im engeren Sinne, als Bestandteile der ponderabeln Materie, waren anzusehen als „Verdichtungszentren“ oder quantitativ besonders bestimmte Modifikationen des „Aethers“ und daher, ebenso wie Schall und Wärme, Licht und Elektrizität, als besondere Formen der Aetherbewegung erfaßt. Oder: es wäre, um ganz modern zu sprechen, nicht nur alle „Materie“, im U n t e r s c h i e d e vom Aether, als Elektrizität zu denken,40 sondern auch die Elektrizität selbst erschiene dann als Aethermodifikation. | Im Aether hätten wir also den Dingbegriff, der die Brücke schlüge über jene Kluft zwischen Mechanik und Physik, die heute noch besteht, d. h. in ihm wäre, um in unserer Terminologie zu reden, jenes logisch geforderte „letzte Ding“ gefunden, mit Hilfe dessen es gelingen müßte, alle Mannigfaltigkeit der Körperwelt ohne Willkür mechanisch zu überwinden. Damit soll selbstverständlich weder über die „Kontinuitätshypothese“ noch über die „Atomistik“, insofern sie zu ihr in Gegensatz tritt, s a c h l i c h irgend etwas entschieden werden. Faßt man das Substrat, aus dem die Körperwelt besteht, als kontinuierlich auf, so kann man als von e i n e m „letzten Dinge“ reden. Das aber widerspricht unsern Ausführungen nicht. Auch die Kontinuitätshypothese muß ihr Substrat irgendwie als aus Teilen bestehend denken und kann daher den Begriff des „Atoms“ im logischen Sinne des Wortes, d. h. als Begriff des „letzten“ Teiles nicht gänzlich entbehren.41 Die Vielheit „letzter Dinge“, von der wir reden, bliebe also identisch mit der Vielheit der „Atome“ des Aethers, gleichviel ob zwischen diesen Atomen sich leerer Raum befindet oder nicht. Selbstverständlich gebrauchen wir dabei das Wort „Atom“ n u r im l o g i s c h e n Sinne, reflektieren also gar nicht darauf, daß es in physikalischen und chemischen Theorien eine andere, und zwar viel engere Bedeutung hat. Die oft recht komplizierten „Atome“ der speziellen naturwissenschaftlichen Theorien kommen hier nicht in Frage. Nur das wollten wir zeigen, daß die Hertzsche Ansicht, es sei a l l e s aus dem Aether entstanden, eine Theorie voraussetzt, die sich in ihrer logischen Struktur mit dem von uns aufgestellten Ideal der letzten Naturwissenschaft in Hinsicht auf die letzten Dinge genau deckt. Und ebenso wie die Hertzschen Gedanken mit unsern Ausführungen über die Dingbegriffe übereinstimmen, stehen sie auch mit denen über die Relationsbegriffe in Harmonie. Wären nämlich alle Aetherbewegungen aus dem einen Grundgesetz der Hertzschen Mechanik zu begreifen, so hätten wir einen logisch vollkommenen Körperbegriff, dem nicht nur alle denkbaren physischen Dinge und Vorgänge als Komplexe letzter Dinge sich unterordnen ließen, sondern nach dem sie auch alle von einem letzten Gesetze beherrscht wären. Die Frage, ob der Inhalt des Hertzschen Grundgesetzes 40 41

Vgl. P. L e n a r d , Ueber Aether und Materie, 1910. Vgl. hierzu: Wu n d t , Logik, [Bd.] II, 3. Aufl. S. 447 ff.

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wirklich „einfach“ ist oder bei näherer Untersuchung sich als ein Komplex von mehreren Gesetzen herausstellt, ist für die logische Tendenz der Hertzschen Mechanik ohne Be- | deutung und betrifft nur ihre inhaltliche Richtigkeit. Darauf allein kommt es an, daß nach Hertz jeder prinzipielle Fortschritt in den allgemeinen Theorien der Körperwelt einen Schritt in der Richtung auf unser logisches Ideal hin bedeuten muß. Selbstverständlich ist die Berufung auf dieses eine Beispiel kein zwingender Beweis. Aber darum handelt es sich hier auch nicht, und es hat deshalb keinen Zweck, die Beispiele zu häufen. Nur das sei bemerkt, daß die „monistische“ Tendenz, die wir bei Hertz finden, in der neuesten Physik nicht etwa verlassen ist. Zunächst deckt sich die Elektronentheorie in ihrer logischen Struktur vollständig mit unsern Ausführungen. Die gesamte Materie wird durch sie als ein Komplex von Dingen gedacht, die untereinander keine Verschiedenheit mehr zeigen und zugleich von einheitlichen Bewegungsgesetzen beherrscht sind. Freilich haben wir in den Elektronen noch nicht „letzte Dinge“ im logischen Sinn, was schon daraus hervorgeht, daß man vielfach nur die „Materie“ als aus ihnen bestehend denkt und diese dann in einen Gegensatz zum Aether bringt. Das tun auch Physiker, die Hertz nahe stehen. Nach Lenard z. B. besteht die Körperwelt aus Aether und Elektrizität, ja, es taucht bei ihm sogar der Gedanke auf, daß es möglich sei, hinter dem Aether und seinen Teilen noch einen andern Aether anzunehmen.42 Die Physik der Materie und die Physik des Aethers stehen sich gegenwärtig als zwei große Gebiete gegenüber.43 Die Wissenschaft ist eben noch nicht fertig, und sie wird es vermutlich niemals sein. Der alte Gedanke aber, daß in der Naturwissenschaft das letzte, höchste Ziel, „die Zusammenfassung der bunten Mannigfaltigkeit der physikalischen Erscheinungen in ein einheitliches System, womöglich in eine einzige Formel“ sei, tritt darum nicht zurück. Ja, für Planck44 scheint sogar schon jetzt „der ursprüngliche Gegensatz zwischen Aether und Materie etwas im Schwinden begriffen zu sein“. Er sagt: „Elektrodynamik und Mechanik stehen sich gar nicht so ausschließend gegenüber, wie das in weiteren Kreisen gewöhnlich angenommen wird“, und vollends kommt das für uns Wesentliche in den folgenden Sätzen zum Ausdruck: „Die Mechanik bedarf zu ihrer Begründung prinzipiell nur Begriffe des Raumes, der Zeit und dessen, was sich bewegt, mag man es nun als Substanz oder als Zustand bezeichnen. Die nämlichen Begriffe kann aber auch die | Elektrodynamik nicht entbehren. Eine passend verallgemeinerte Auffassung der Mechanik könnte daher sehr wohl auch die Elektrodynamik 42 43

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a. a. O. S. 36 f. P l a n c k , Die Einheit des physikalischen Weltbildes. [In:] Physikalische Zeitschrift, 1909, S. 62 ff. a. a. O. S. 64.

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mit umschließen, und in der Tat sprechen mancherlei Anzeichen dafür, daß diese beiden, schon jetzt teilweise ineinander übergreifenden Gebiete sich schließlich zu einem einzigen, zur allgemeinen Dynamik, vereinigen werden“. Solche sachlichen Gedanken stimmen in ihrer logischen Struktur ebenso wie die von Hertz mit unsern logischen Ausführungen genau überein. Daneben aber finden sich, wie bereits angedeutet, in der modernen Naturwissenschaft Theorien, die sich in anderer Richtung bewegen, und zumal vom „Aether“ wollen hervorragende Physiker nichts wissen. Es wird daher noch mehr zur Erläuterung beitragen, wenn wir uns auch mit der Richtung auseinandersetzen, die unseren logischen Konstruktionen zu widersprechen scheint. Doch wollen wir uns hier ebenfalls auf ein Beispiel beschränken und wählen zu diesem Zweck eine Theorie, die recht weit von den Hertzschen Gedanken abweicht. Können wir nachweisen, daß sogar sie nicht geeignet ist, unsere logischen Ausführungen zu erschüttern, so werden damit die zwischen ihr und den Ansichten von Hertz liegenden Theorien ebenfalls als erledigt gelten dürfen. Ostwald hat mit seiner „Energetik“ sich auf das Entschiedenste gegen die Ansicht gewendet, daß die Auflösung der Erscheinungen in ein System bewegter Massenpunkte das Ziel sei, das die Naturerklärung erreichen könne. Er will die „mechanistische Weltauffassung“ beseitigen und durch die „energetische“ ersetzen, d. h. an Stelle des Begriffs der Materie oder der bewegten Masse soll der Begriff der Energie treten. Der allgemeinste Weltbegriff würde sich danach so gestalten, daß „alles Geschehen in der Welt nur in Aenderungen der Energie im Raum und in der Zeit besteht, und daß somit diese drei Größen die allgemeinsten Grundbegriffe sind“.45 Zunächst sehen wir, wie auch diese Ansicht in wesentlichen Punkten mit den allgemeinsten Ergebnissen unserer logischen Ausführungen harmoniert. Wir finden bei Ostwald wiederholt den Gedanken sogar ausdrücklich formuliert, daß es die Aufgabe der Wissenschaft sei, die unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt gedanklich zu bewältigen, und obwohl er das, was lediglich ein M i t t e l für die Wissenschaft ist, für ihren Z w e c k hält und damit ein bedenkliches „prag- | matistisches“ Element in seine Theorien hineinbringt, ändert das doch an der Uebereinstimmung seiner Gedanken mit den unsrigen in der für uns wichtigen Hinsicht nichts. Daß Ostwald sich ferner nicht darüber klar ist, warum die Vereinfachung der Welt in einer Umwandlung der Wirklichkeit durch die Begriffsbildung besteht, sondern zu meinen scheint, in der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit 45

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O s t w a l d , Lehrbuch der allgemeinen Chemie, [Bd.] II, 1: Chemische Energie, 2. Aufl., S. VI. Eine populäre Darstellung in dem Vortrage: Die Ueberwindung des wissenschaftlichen Materialismus. 1895.

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selbst ein Einfaches und Beständiges vorfinden zu können, geht mehr auf die erkenntnistheoretische Deutung der naturwissenschaftlichen Theorien als auf die Gestaltung dieser Theorien selbst und kann daher hier ebenfalls unberücksichtigt bleiben. Ja, in gewisser Hinsicht scheint die Energetik unsern Ansichten sogar weiter entgegen zu kommen als die mechanische Naturauffassung, nämlich in bezug auf die Beseitigung der Dingbegriffe. Diese sind hier so vollständig in Relationsbegriffe aufgelöst, als ob es eine Grenze dafür nicht gäbe, also die Notwendigkeit, den Begriff eines „letzten Dinges“ übrig zu behalten, für die Naturwissenschaft gar nicht bestände, denn der Energiebegriff soll doch wohl kein Dingbegriff mehr sein. Wird der Begriff der Masse vollständig durch den der Energie ersetzt und in der Energie das gesehen, was die eigentliche „Realität“ der Körperwelt bildet, dann sieht es in der Tat so aus, als sei hier eine allgemeine physikalische Theorie ausgebildet, die n u r noch mit Relationsbegriffen arbeitet. Danach wäre unsere Einschränkung in bezug auf die Umsetzung der Dingbegriffe in Relationsbegriffe gar nicht nötig gewesen. Hätten wir diese Einschränkung nicht gemacht, so würde die Energetik noch mehr als die Aethertheorie, wie Hertz sie sich denkt, die Richtigkeit unserer logischen Deduktionen bestätigen. Wir könnten es also bei dem Gesagten bewenden lassen und uns auch auf die Energetik als eine mit unserm logischen Ideal übereinstimmende allgemeine Theorie der Körperwelt berufen, in der sogar der Begriff des letzten Dinges beseitigt sei. Der Meinung, daß das Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung mit einer Vereinfachung der gegebenen Mannigfaltigkeit durch Umwandlung der Dingbegriffe in Relationsbegriffe verknüpft ist, widerspricht die Energetik jedenfalls nicht. Trotzdem wollen wir zu zeigen versuchen, daß die vollständige Beseitigung der Dingbegriffe durch die Energetik nur scheinbar gelungen ist und unsere Einschränkung also durchaus notwendig war. Doch müssen wir dabei einen Vorbehalt machen. Es kann hier nicht unsere Sache sein, über die Bedeutung zu urteilen, die die Energetik für die Lösung spezieller Probleme besitzt. Die Wissenschaft hat oft Wege zu gehen, die nicht mit denen übereinzustimmen brauchen, die von logi- | schen Gesichtspunkten aus als die kürzesten erscheinen. Nur mit Rücksicht auf das letzte I d e a l , zu dem eine umfassende Theorie hinstrebt, muß die Logik mit der empirischen Wissenschaft zusammentreffen, sonst aber ist es sehr wohl möglich, daß unter Umständen eine logisch vollkommene Theorie für vorläufige Zwecke innerhalb der Spezialwissenschaft noch ganz ungeeignet ist. Es würde daher nichts gegen unsere Ausführungen beweisen, wenn eine Aethertheorie im Sinne von Hertz sich für die zu einer bestimmten Zeit gegebenen Probleme der Naturwissenschaft unfruchtbarer erwiese als die Energetik von Ostwald. Die Aethertheorie könnte darum immer noch ihre Bedeutung als Darstel-

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lung des letzten Z i e l e s der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung behalten. Was wir zeigen wollen, ist lediglich dies, daß die Energetik nicht zu einer abschließenden Theorie der Körperwelt gelangt, sondern, um absolut allgemein zu werden, wenigstens solange sie auf dem Boden des empirischen Realismus bleiben oder die Körperwelt im dreidimensionalen Raum als die „wahre“ Wirklichkeit betrachten will, schließlich auch darauf hinauskommen muß, alles körperliche Geschehen als Bewegung „letzter Dinge“, also mechanisch zu begreifen. Zunächst kann eine empirische Wissenschaft, wie wir bereits hervorgehoben haben, niemals den Begriff von Dingen g a n z entbehren. Das „raumerfüllende Mittel“, v o n dem alle Gesetze gelten, wird immer ein Ding sein oder aus Dingen bestehen. Wenn also die Energie das eigentlich „Reale“ der Körperwelt sein soll, dann muß sie selbst als ein körperliches Ding oder als aus Dingen bestehend gedacht werden. Die Behauptung Ostwalds, von materiellen Dingen wüßten wir nichts, wir erführen oder „fühlten“ immer nur die Energie,46 führt völlig aus dem Gebiete der Physik hinaus, im günstigsten Falle zu einer erkenntnistheoretischen Deutung im Sinne des transzendentalen Idealismus, von der wir hier gänzlich absehen, oder aber wie bei Ostwald zu spiritualistisch gefärbten metaphysischen Dogmen, die die Naturwissenschaft nur verwirren und im übrigen durch die Philosophie längst widerlegt sind. Wenn Ostwald die Physik auf das beschränken will, was er und die andern Menschen „fühlen“, so wandelt er damit die physischen Objekte in p s y c h i s c h e Vorgänge um. Das ist keine Naturwissenschaft, sondern schlechte „Philosophie“. Vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt aus braucht man einen körperlichen „Träger“ der körperlichen Eigenschaften, und es ist physikalisch ganz gleichgültig, welche erkenntnistheoretische Deutung man diesem Begriff des Trägers geben will. | Soll aber das Wort „fühlen“ vielleicht nicht die Bedeutung haben, daß der Inhalt des Gefühlten dadurch zu etwas, das kein Körper mehr ist, umgedeutet wird? Nun, dann ist es lediglich als eine Aenderung in der Te r m i n o l o g i e zu betrachten, wenn man an die Stelle des Wortes Materie das Wort Energie setzt. Sachlich bleibt dann alles beim alten. Die Energie ist dann ein neuer Name für das körperliche Ding, das als eigentliche Realität der gesamten körperlichen Welt zugrunde liegt, und diese Terminologie ist keine glückliche. Besonders in der populären Darstellung, die Ostwald der Energetik gegeben hat, gehen naturwissenschaftliche, erkenntnistheoretische und metaphysische Gedankengänge bunt durcheinander. Allerdings ist auch die mechanische Auffassung der Körperwelt, so wie sie gewöhnlich verstanden wird, von metaphysischen Elementen nicht frei, aber es herrscht in ihr eine 46

Die Ueberwindung des wissenschaftlichen Materialismus, S. 29.

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materialistische Metaphysik, die in naturwissenschaftlichen Untersuchungen über die Körperwelt unschädlich ist und einer spiritualistischen Metaphysik bei weitem vorgezogen werden muß. Auf jeden Fall hat eine empirisch-naturwissenschaftliche allgemeine Theorie der Körperwelt materielle Dinge beizubehalten, von denen sie annimmt, daß aus ihnen die Körperwelt besteht, und von denen alle Gesetze gelten. Noch deutlicher zeigt sich, daß bei Festhaltung des empirischen Standpunktes und konsequenter Entwicklung die Energetik in ihrer logischen Struktur schließlich mit einer mechanischen Theorie zusammenfällt, sobald wir darauf achten, was ihr fehlt, um sie zu einer a l l g e m e i n e n Theorie der Körperwelt zu machen. Sie benutzt eine Mehrheit von verschiednen Energieformen, von denen jedoch die eine in die andere sich soll umwandeln können. Will sie nun die Umwandlung der einen Energieform in eine andere so begreiflich machen, daß in dem früher angegebenen Sinne keine Mannigfaltigkeit mehr unbegriffen bleibt, so muß sie schließlich alle verschiedenen Energieformen auf e i n e zurückführen. Bleibt aber nur eine allen Formen zugrunde liegende Energie übrig, wie sollen dann die verschiednen Formen zu begreifen sein, wenn nicht als nur durch ihre räumliche Anordnung und Bewegung voneinander verschiedene Komplexe von „letzten“ Energieelementen? Will man also die Umwandlung nicht für unbegreiflich erklären, so muß man die Körperwelt in ein System bewegter letzter Teile auflösen, die untereinander vollständig gleich sind. Ob man dann aber dieses Substrat als Aether oder als Energie bezeichnet, ist mit Rücksicht auf eine allgemeine Theorie der Körperwelt wiederum eine mehr terminologische Frage. | Jedenfalls wird auch durch die Energetik eine vollständige Auflösung der Dingbegriffe in Relationsbegriffe nicht möglich, und die Annahme bewegter Massenteilchen bleibt für eine allgemeine Theorie der Körperwelt bestehen. Wohl mag man diese „letzten Dinge“ bei der Einzelforschung ignorieren können und sein Augenmerk nur auf die Maßbestimmungen richten, durch die die Aequivalenz verschiedener Naturvorgänge ausgedrückt wird, wohl mag also die Energetik den Begriff der Masse aus ihren Berechnungen entfernen, und es kann das für spezielle naturwissenschaftliche Zwecke auch ein Vorteil sein: es sind doch stets letzte Dinge als das Beharrende im Wandel der Vorgänge stillschweigend vorausgesetzt. Auch wenn wir den theoretischen Wert der Energetik für einen vorläufigen Fortschritt in den Wissenschaften von der Körperwelt noch so hoch anschlagen müßten, könnte die energetische niemals die mechanische Naturauffassung ganz verdrängen. Diese bleibt vielmehr zum mindesten als letztes Ziel, dem wir uns, auf welchen Umwegen auch immer, annähern müssen, in voller Geltung. Und darauf allein kommt es für uns an. Die Energetik wird nie mehr als ein vielleicht notwendiger Umweg zu diesem letzten Ziele sein. Das ist übrigens

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insofern wohl auch die Meinung von Ostwald selbst, als nach ihm die Energetik „voraussichtlich als ein besonderer Fall noch allgemeinerer Verhältnisse erscheinen“ wird. Nur meint er, daß wir „von deren Form zur Zeit kaum eine Ahnung haben können“.47 Nachdem wir gesehen haben, welche Gestalt das Ideal einer letzten Naturwissenschaft in dem tatsächlich vorhandenen Wissenschaftsbetriebe angenommen hat und annehmen muß, werfen wir noch einen Blick auf das Verhältnis, in dem die einzelnen Te i l e der Naturwissenschaft zu dieser letzten Wissenschaft stehen, um damit auch den Gedanken einer Anordnung der verschiedenen naturwissenschaftlichen Spezialdisziplinen nach der logischen Vollkommenheit ihrer Begriffe an Beispielen zu verdeutlichen. Im Prinzip wird dieser Gedanke bereits klar, sobald wir an das Verhältnis der Physik im engeren Sinne zu einer allgemeinen Theorie der Körperwelt etwa im Sinne der Aethertheorie von Hertz denken. Beschäftigt sich die Physik nur mit einzelnen Gebieten der Körperwelt, so kann sie bei einigen Begriffen der logischen Vollkommenheit entbehren, d. h. bei Wortbedeutungen stehen bleiben, die noch anschauliche Mannigfaltigkeit enthalten. Die Optik und die Lehre von der Elektrizität haben Großes geleistet, ehe ein gemeinsamer Begriff für Licht und Elek- | trizität gefunden war. Werden die verschiedenen Teile der Physik dagegen in Beziehung zu einer allumfassenden Theorie der Körperwelt gesetzt, so muß das Bedürfnis entstehen, a l l e ihre Begriffe unter einheitliche Relations- oder Gesetzesbegriffe zu bringen und jede Wortbedeutung, die noch anschauliche Mannigfaltigkeit enthält, zu beseitigen. Andererseits würden jedoch, auch wenn solche Umwandlung der Begriffe gelungen wäre, die Untersuchungen, die nur innerhalb eines Ausschnittes der Wirklichkeit angestellt werden, und die für diesen Ausschnitt gefundenen Gesetze ihren selbständigen theoretischen Wert nicht verlieren. Es könnte mit anderen Worten eine allgemeine Theorie der Körperwelt niemals die speziellen physikalischen Theorien überflüssig machen oder die Physik g a n z in reine Mechanik auflösen. Warum das so ist, wird sich wieder erst in einem späteren Zusammenhange vollständig klarlegen lassen, in dem wir die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung feststellen und dabei sehen, was auch für eine in höchster Vollendung gedachte Theorie der Materie immer u n b e g r e i f l i c h bleiben muß, solange sie sich auf w i r k l i c h e Körper bezieht. Hier, wo es sich um die allgemeinsten Tendenzen dieser Begriffsbildung handelt, suchen wir lediglich zu zeigen, wie jede Spezialwissenschaft über sich hinausstrebt, um wenigstens Zusammenhang mit einer rein mechanischen Auffassung der Natur zu gewinnen. Nur insoweit 47

Die Ueberwindung usw., S. 35.

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haben wir daher auch das Verhältnis der Physik im engeren Sinne zu einer absolut allgemeinen Theorie der Körperwelt in Betracht gezogen, und wir müssen auf spätere Ausführungen als Ergänzung dieser Gedankenreihe hinweisen. Dasselbe Verhältnis, wie es zwischen Physik und Mechanik besteht, zeigt sich uns, wenn wir jetzt einen Blick auf die Begriffe der C h e m i e werfen. Dabei lassen wir jedoch das außer Betracht, was man als „physikalische Chemie“ bezeichnet, denn es kommt hier allein auf eine Wissenschaft an, die ausdrücklich von den qualitativen Verschiedenheiten der Materie handelt. Wir wollen nur auch das über die Q u a l i t ä t der letzten Dinge Gesagte an einem Beispiel erläutern. Wie die physikalische Mannigfaltigkeit gegenüber der mechanischen, so bieten die spezifisch chemischen Eigenschaften eine n e u e anschauliche Mannigfaltigkeit gegenüber den beiden bisher betrachteten dar. Von den Qualitäten der sogenannten ponderablen Stoffe ist nicht nur in der reinen Mechanik, sondern auch in der Physik bei Betrachtung der Körper willkürlich abstrahiert. Die Chemie, die wir hier meinen, stellt sich als besondere Wissenschaft die Aufgabe, auch diese Mannig- | faltigkeit begrifflich zu bearbeiten. Durch den Begriff des chemischen „Elementes“ als des Begriffes der unzersetzbaren Stoffe, aus denen alle bekannten Stoffe bestehen, hat sie es bereits zu einer sehr großen Vereinfachung der gegebenen Mannigfaltigkeit gebracht, und sie kann sich für ihre speziellen Zwecke bei einer Vereinfachung dieser Art wohl begnügen. Die unübersehbare Fülle der gegebenen Stoffe ist auf eine relativ kleine Anzahl von Grundstoffen zurückgeführt. Unter Begriffe von gesetzmäßig erfolgenden Kombinationen dieser Grundstoffe kann alle chemische Mannigfaltigkeit, die der Erfahrung direkt zugänglich ist, gebracht werden. Dabei arbeitet aber die Chemie andrerseits doch noch immer mit einer verhältnismäßig großen Anzahl von Dingbegriffen, denn ihre Elemente stehen als eine Mannigfaltigkeit verschiedener Dinge unvermittelt nebeneinander, ja, es werden sogar immer wieder neue „Elemente“ entdeckt. Es gibt also noch keinen abgeschlossenen Gesetzesbegriff, unter den die Mannigfaltigkeit der chemischen Elemente zu bringen wäre, oder der gar eine Einordnung jedes neu auftauchenden chemischen Elementes gestattete. Aehnlich wie zwischen der rein mechanischen und der im engeren Sinne physikalischen Wissenschaft, z. B. der Optik oder der Akustik, ist noch keine Verbindung zwischen der chemischen Betrachtung und einer mechanisch-physikalischen Theorie hergestellt. Aber ebenso ist auch das Streben nach der Bildung eines Begriffes in der Chemie vorhanden, der die Aufstellung von unbedingt allgemeinen Sätzen über die chemische Mannigfaltigkeit ermöglicht, und es kommt in diesem Streben wieder genau die Tendenz zum Ausdruck, die wir aus logischen

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Gründen gefordert haben. Ja, in neuester Zeit dürfen wir von mehr als einem bloßen Streben sprechen, denn diese Bemühungen haben bereits die glänzendsten Erfolge gezeitigt. Die qualitativ voneinander verschiedenen und daher als rein tatsächliche Mannigfaltigkeit nebeneinander stehenden chemischen Elemente versuchte man zunächst, in eine geordnete R e i h e zu bringen. Dies ist ermöglicht, seitdem die Eigenschaften der Elemente als eine periodische Funktion ihrer Atomgewichte angesehen werden dürfen. Das Atomgewicht weist jedem Element seinen Platz in einem „wohlgeordneten Gefüge“ mit Notwendigkeit an. Damit aber hängt etwas Weiteres zusammen. „Die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit a l l e r chemischen Elemente zu e i n e r Reihe, welcher seit der Auffindung des Periodengesetzes kaum irgendein Chemiker sich mehr verschließt, hat ... die Ueberzeugung befestigt, daß ihnen allen ein g e m e i n s a m e s E t w a s innewohne, und da- | mit die einstige Zerlegung der Elemente zu einem festen, wenn auch vielleicht fernen Ziele der wissenschaftlichen Forschung gestempelt“.48 Die Chemie hat also einen Begriff gebildet, unter den jedes Element sich als ein durch das Atomgewicht, d. h. nur noch q u a n t i t a t i v bestimmtes Glied einer Reihe bringen läßt. Denken wir nun diese Theorie bis zur größten Vollkommenheit durchgeführt, so würde auch für die Chemie schließlich als das „gemeinsame Etwas“ in allen Elementen nur noch ein einziger Dingbegriff übrig bleiben, der Begriff eines „Urelementes“, das in verschiedener Anzahl und Anordnung in den heute noch als „Elementen“ betrachteten verschiedenen Stoffen auftritt. Als aus einer Menge zwar in unbegrenzter A n z a h l vorhandener, untereinander aber völlig gleicher Urelementsatome bestehend würde dann die gesamte Mannigfaltigkeit aller überhaupt möglichen chemischen Vorgänge zu denken sein. Setzen wir nun weiter, was im logischen Interesse gestattet ist, um ein Schema zu erhalten, den Begriff des Urelementes in Beziehung zu einer allgemeinen Theorie der Materie im Sinne der Aethertheorie von Hertz, so müßte das Urelement als die besondere Art der Aethermodifikation gedacht werden, die wir ponderable Materie nennen, und die Gesetze endlich, unter denen die verschiedenen chemischen Stoffe sich bilden, müßten nun selbstverständlich dieselben mechanischen Gesetze sein, welche die Aetherbewegungen überhaupt beherrschen. Dann wäre auch die gesamte chemische Mannigfaltigkeit in einer rein mechanischen Naturauffassung untergebracht und dadurch vollständig begriffen. Eine genauere Darstellung des jetzigen Standes der Wissenschaft mit Rücksicht auf dieses logische Schema würde hier zu weit führen. Wer die Fortschritte auf dem Gebiete der Chemie kennt, weiß ohnehin, daß gerade die neueste Forschung sich ihrer logischen Struktur nach in der hier 48

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angedeuteten Richtung bewegt, ja, daß sie viele Gedanken, die vor kurzem noch als „ferne Ziele“ oder als phantastische Spekulationen erschienen, in wohl begründete naturwissenschaftliche Theorien umgewandelt hat. Jedoch könnte andererseits, selbst wenn die Chemie noch so weit fortgeschritten wäre, wiederum d e n Darstellungen, die es mit den einzelnen chemischen Elementen zu tun haben, ihr Charakter als selbständige Wissenschaft so wenig genommen werden wie der Optik oder Akustik gegenüber der reinen Mechanik. Die Chemie im engeren Sinne bleibt bei den gegebenen Eigenschaften der chemischen Stoffe stehen und überläßt ihren letzten Dingbegriff, den chemischen Stoff überhaupt | oder das Urelement, einer andern Naturwissenschaft, die ihn in einen Relationsbegriff umzuwandeln hätte. Nur darauf kommt es hier an, daß, falls einmal eine allgemeine Theorie der Körperwelt vollendet wäre, in ihr auch alle Begriffe der Chemie, ebenso wie die der Physik, in Relations- oder Gesetzesbegriffe aufgelöst werden könnten. Aber, selbst wenn wir uns alle diese Theorien vollkommen ausgebildet denken, wäre damit ein A b s c h l u ß der naturwissenschaftlichen Arbeit doch noch nicht erreicht. Immer neue Mannigfaltigkeiten bietet uns die in der empirischen Anschauung gegebene Wirklichkeit dar, die einer Unterordnung unter die hier betrachteten Begriffe bisher sich entziehen. Vor allem stellt die Welt der O r g a n i s m e n die Wissenschaft vor neue Fragen. Sind auch lebende Körper mechanisch zu begreifen? Das heißt: kann man einen Organismus noch anders ansehen als daraufhin, daß er ein Organismus ist, und läßt sich also d i e s e l b e Wirklichkeit, die von der B i o l o g i e als Organismus bezeichnet wird, unter a n d e r e n Gesichtspunkten vielleicht auch als Mechanismus denken? Soll die mechanische Körpertheorie absolut allgemein, d. h. für a l l e Körper gelten, so wird man nicht umhin können, diese Frage zu bejahen. Doch wir verfolgen diese Gedanken hier zunächst nicht weiter. Ein anderer Zusammenhang wird uns von neuem auf sie führen, und erst in ihm können wir den Gedanken der systematischen Gliederung aller verschiedenen Naturwissenschaften zu Ende bringen. Wir müssen dazu nämlich den Begriff des „Historischen“ in seiner weitesten, rein logischen Bedeutung schon gewonnen haben.49 Er spielt bereits in den Gedanken einer allmählichen E n t s t e h u n g der verschiedenen chemischen Elemente aus einem 49

Im Zusammenhang damit läßt sich dann auch erst das Problem verstehen, wie weit von einer R e a l i t ä t der „letzten Dinge“ zu reden ist. Auf keinen Fall dürfen aus der Annahme von „Atomen“ im logischen Sinne, die „unerfahrbar“ sind, irgendwelche Konsequenzen auf ihre t r a n s z e n d e n t e Wirklichkeit gezogen und daraus Gründe für den erkenntnistheoretischen „Realismus“ abgeleitet werden, wie man das öfter versucht hat. Elektronen sind nicht „letzte Dinge“, wie wir sie verstehen, und über i h r e Realität kann daher allein die Physik, nie die Erkenntnistheorie entscheiden wollen.

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Urelement hinein, und er ist vollends unentbehrlich für die Klarlegung der logischen Prinzipien der Biologie, die ja heute vielfach unter dem Zeichen der Entwicklungs g e s c h i c h t e steht. Hier kam es zunächst darauf an, zu sehen, wie weit sich unsere Theorie der Dingbegriffe und Relationsbegriffe an einigen Beispielen aus Physik und Chemie klarlegen ließ. |

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Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung können wir so zusammenfassen. Wir haben die Vereinfachung des Inhaltes der empirischen Wirklichkeit durch den naturwissenschaftlichen Begriff als ein Mittel betrachtet, mit dem der endliche Mensch die unübersehbare Mannigfaltigkeit zu überwinden und damit die Körperwelt in seine Erkenntnis aufzunehmen vermag. Drei verschiedene Stadien konnten wir unterscheiden, in denen die Begriffe ihrer Aufgabe in immer höherem Maße gerecht werden. Das e r s t e fällt mit den elementaren Wortbedeutungen zusammen, die wir verstehen, lange ehe wir Wissenschaft treiben. Was an ihnen für uns in Frage kommt, ist ihre empirische A l l g e m e i n h e i t , d. h. der Umstand, daß sie auf eine Mehrheit verschiedener anschaulicher und individueller Gestaltungen bezogen werden können. Einen theoretischen Wert und damit ein Recht auf den Namen „Begriff“ erhalten sie aber erst durch den Zusammenhang, in den sie gebracht werden, oder durch den wissenschaftlichen Zweck, dem sie dienen. Sie sind daher, für sich betrachtet, gegenüber dem Unterschied von Naturwissenschaft und Geschichte noch indifferent, wie wir später sehen werden. Erst bei ihrer Verwendung in wissenschaftlichen Darstellungen und bei ihrer weiteren Ausbildung treten die logischen Gegensätze der Methoden zutage. Ohne Rücksicht hierauf können wir die allgemeinen Wortbedeutungen nur als Begriffs e l e m e n t e , nicht als selbständige wissenschaftliche Begriffe betrachten. Wir sahen sodann, wie die primitive Wortbedeutung nur in wenigen Fällen den logischen Zweck des Begriffes in der Naturwissenschaft vollkommen erfüllt. Da ihr Inhalt bei dem Versuch, ihn ausdrücklich zu vergegenwärtigen, eine anschauliche Mannigfaltigkeit zeigen kann, und wir dann nicht genau wissen, was aus deren Fülle in unsere Erkenntnisse aufzunehmen ist, muß das Bedürfnis entstehen, die „wesentlichen“ Bestandteile des Begriffes ausdrücklich herauszuheben. Die so geforderte B e s t i m m t h e i t , die neben die empirische Allgemeinheit als z w e i t e Eigenschaft des naturwissenschaftlichen Begriffes tritt, ist nur durch Aussagen zu gewinnen, die

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wir verstehen. Es kommt durch sie ein Begriff zustande, wie ihn die traditionelle Logik als einen Komplex von „Merkmalen“ kennt, ein Gebilde, das aber unter logischen | Gesichtspunkten, d. h. auf die Bedeutung hin angesehen, die es für den Zweck der Wissenschaft hat, nur eine höhere Stufe der ersten Leistung des Begriffes darstellt. Es gestatten auch die Begriffe in diesem zweiten Stadium nur eine Ordnung und Vereinfachung, d. h. eine sogenannte K l a s s i f i k a t i o n einer extensiv übersehbaren anschaulichen Mannigfaltigkeit von Dingen und Vorgängen. Das d r i t t e Stadium des Begriffes ermöglicht einen Abschluß der in den beiden ersten begonnenen Arbeit. Die Naturwissenschaft stellt nicht nur Merkmale nebeneinander und bildet empirische Gattungsbegriffe, um so den Inhalt des Begriffes bestimmt zu machen, sondern sie faßt notwendig zusammen g e h ö r i g e Elemente zusammen und bahnt damit eine Art der Begriffsbildung an, die schließlich zu unbedingt allgemeinen Begriffen oder Naturgesetzen zu führen vermag. Auf den Unterschied der Gesetzesbegriffe von den empirischen Gattungsbegriffen noch näher einzugehen, haben wir in diesem Zusammenhang keine Veranlassung. Es genügt, wenn wir sehen, wie es möglich ist, nicht nur eine extensiv übersehbare Mannigfaltigkeit zu vereinfachen, sondern eine Ordnung und Vereinfachung der Welt zu schaffen, die die unübersehbare Fülle der Gestaltungen umfaßt und damit die Ueberwindung der anschaulichen Mannigfaltigkeit vollendet. Der logisch vollkommene Begriff muß nicht nur das einer übersehbaren Anzahl von Anschauungen Gemeinsame und dies Gemeinsame bestimmt enthalten, er muß also nicht ein empirischer Gattungsbegriff sein, sondern unbedingt allgemeine G e l t u n g besitzen. Diese Geltung ist aber immer die Geltung eines Urteilsgehaltes. Auch in den Begriffen von Dingen steht für die Naturwissenschaft schließlich nur die Geltung der das Ding betreffenden Urteile in Frage. Wiederholt haben wir hervorgehoben, daß es in diesen Untersuchungen über die Erkenntnis der Körperwelt allein darauf ankommt, die Methode der Naturwissenschaft mit Rücksicht auf ihre Z i e l e zu verstehen. Da wir uns auf die Begriffsbildung beschränkt, also nur eine Seite dieser Methode in Betracht gezogen haben, mußte und durfte unsere Darstellung e i n s e i t i g werden. Es versteht sich von selbst, daß nicht jede naturwissenschaftliche Untersuchung von vorneherein ausschließlich die Tendenz hat, von der Mannigfaltigkeit der Gestaltungen möglichst s c h n e l l zur Auffassung der allgemeinsten Gesetze überzugehen. Gewiß sucht die Naturwissenschaft auch der Mannigfaltigkeit der einzelnen Dinge gerecht zu werden, ja, fast überall ist die genaue Beobachtung und Analyse des Einzelnen für die Ausbildung | der allgemeinen Theorien die unentbehrliche G r u n d l a g e . Lediglich das meinen wir, daß so entstehende Kenntnisse in der Naturwissenschaft nie-

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mals bloßer Selbstzweck, sondern immer auch Mittel oder Vorstufen zur Bildung allgemeiner Begriffe sind, die Gesetze enthalten, und jedenfalls brauchen wir hier nicht näher auf sie einzugehen, wo wir unsere Untersuchung nur auf die letzten Ziele der Naturwissenschaft richten. Doch könnte man meinen, daß, abgesehen von dieser beabsichtigten und berechtigten Einseitigkeit, unsere Darstellung auch in bezug auf die Begriffsbildung selbst einseitig geblieben sei, und daß sie insbesondere die Bedeutung der rein empirischen Gattungsbegriffe unterschätze. Wir haben nämlich bisher eine Unterscheidung nur flüchtig gestreift, die nicht selten in logischen Untersuchungen eine wichtige Rolle spielt, die Unterscheidung von N a t u r b e s c h r e i b u n g und N a t u r e r k l ä r u n g . Vielleicht wird man daher gegen unsere Ausführungen den Vorwurf erheben, daß sie allein die Begriffe d e r Naturwissenschaften im Auge gehabt, die erklären wollen, die Begriffsbildung bei der Beschreibung dagegen vernachlässigt hätten. Auch die Beschreibung sei doch Naturwissenschaft, habe aber andere Ziele als die Erklärung, und dementsprechend seien ihre Begriffe gesondert zu betrachten. Es gehe nicht an, sie, wie wir es getan haben, n u r als Vorarbeit der Erklärung zu behandeln und damit dem empirischen Gattungsbegriff seine selbständige Bedeutung zu rauben. Ja, ein noch weiter gehender Einwand ist möglich. Hat man doch behauptet, daß a l l e Naturwissenschaft auf „Beschreibung“ der Wirklichkeit beschränkt sei, und daß die Naturwissenschaft gar nicht „erklären“ könne. Dann würde die Naturwissenschaft ausschließlich empirische Gattungsbegriffe bilden, die uns als Vorarbeit gelten. Stellt also die Behauptung, daß alles in der Naturwissenschaft Beschreibung sei, unsere Resultate nicht wieder in Frage? Wir meinen allerdings, daß eine p r i n z i p i e l l e Unterscheidung zwischen Beschreibung und Erklärung, wo es sich um die letzten Z i e l e der Naturwissenschaft handelt, nicht gemacht werden darf. Ja, in gewisser Hinsicht war das der Hauptzweck dieser Untersuchungen, zu zeigen, wie alle Bestrebungen der Naturwissenschaft auf ein Ziel gerichtet sind, für das „Beschreibung“ ein wenig glücklich gewählter Name ist. Die Behauptung vollends, daß a l l e Naturwissenschaft n u r Beschreibung sei und niemals etwas anderes werden könne, scheint uns gänzlich unhaltbar. Wir glauben also nicht, daß ein Hinweis auf den Unterschied von Beschreibung und Erklärung eine wesentliche Bedeu- | tung für unsere Theorie besitzt. Doch kann andererseits nicht in Abrede gestellt werden, daß nicht ohne weiteres alle Naturwissenschaft als Erklärung anzusehen ist, und daß daher der Unterscheidung von Beschreibung und Erklärung in gewisser Hinsicht auch ein Unterschied zweier verschiedener Arten von Naturwissenschaft entspricht. Weil nun auf diese Unterscheidung vielfach ein besonderer Wert gelegt wird, ja die Behauptung, die Wissenschaft könne nichts tun als beschreiben, als

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besondere Entdeckung gilt, ist es vielleicht gut, wenn wir uns mit den beiden Behauptungen, daß entweder a l l e Naturwissenschaft Beschreibung sei und zur Bildung von mehr als empirischen Gattungsbegriffen nicht kommen könne, oder daß die Beschreibung wenigstens von der Erklärung getrennt werden müsse, soweit ausdrücklich auseinandersetzen, als dabei die Bildung der Begriffe in Frage kommt. Prinzipiell Neues haben wir darüber allerdings nicht mehr zu sagen. Das Folgende ist hauptsächlich als eine zusammenfassende Uebersicht dieses Kapitels und als Entwicklung einiger Konsequenzen mit Rücksicht auf das Verhältnis von Beschreibung und Erklärung anzusehen, wobei wir die wesentlichen Resultate unserer Untersuchung über die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt uns in einer Form zu vergegenwärtigen suchen, in der wir sie auch in unseren weiteren Ausführungen brauchen werden. Da Beschreibung und Erklärung in einen Gegensatz zueinander gebracht werden sollen, wollen wir zuerst kurz angeben, was nach unserer Theorie unter einer naturwissenschaftlichen E r k l ä r u n g zu verstehen ist. Dann wird es am leichtesten möglich sein, den Begriff der naturwissenschaftlichen Beschreibung in seinem Verhältnis zu dem der Erklärung festzustellen. Etwas „erklären“ kann für uns nichts anderes heißen als es in dem angegebenen Sinne b e g r e i f e n , und zwar entspricht es wohl auch dem Sprachgefühl, wenn wir jedes Begreifen ein Erklären im weitesten Sinne des Wortes nennen. Bisweilen geben wir uns schon mit einer Erklärung zufrieden, die ein Ding mit einem uns bekannten Namen bezeichnet, also nichts tut, als daß sie es einer allgemeinen Wortbedeutung unterordnet. So ist die „Milchstraße“ am Himmel „erklärt“, wenn uns gesagt wird, daß sie ein Haufen von „Sternen“ sei. Die Erklärung befriedigt noch mehr, wenn aus der Mannigfaltigkeit eines Vorganges, die wir zunächst nur hinnehmen konnten, bestimmte „Merkmale“ ausdrücklich herausgehoben sind, und wir zugleich auf andere uns bekannte Vorgänge hingewiesen werden, bei denen diese Merkmale sich ebenfalls | finden. Dann läßt sich recht eigentlich von einer „Erklärung“ in dem Sinne reden, daß in einer unerschöpflichen und unübersehbaren, also unklaren Mannigfaltigkeit die „wesentlichen“ Bestandteile übersehbar, also k l a r hervortreten. Es kann daher schon jede Unterordnung unter einen Begriff im ersten oder zweiten Stadium zu einer Erklärung werden. In diesem weitesten Sinne jedoch werden wir hier, wo wir die Erklärung in einen Gegensatz zur Beschreibung bringen wollen, das Wort nicht gebrauchen dürfen, da wir eine Erklärung sonst gar nicht von einer naturwissenschaftlichen Beschreibung unterscheiden könnten. Ohne Verwendung von Begriffen ist, wie wir wissen, k e i n naturwissenschaftliches Urteil möglich. Gäbe jeder Begriff schon eine Erklärung, so wäre jedes naturwis-

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senschaftliche Urteil mit einer Erklärung verknüpft. Wir werden also das Wort Erklärung nur für eine besondere A r t des Begreifens verwenden, und zwar wollen wir sagen, daß eine naturwissenschaftliche Erklärung erst dort vorliegt, wo es gelungen ist, einen Vorgang unter einen Begriff im dritten Stadium zu bringen, d. h. unter ein Naturgesetz von u n b e d i n g t allgemeiner Geltung. Wir wissen dann, warum das, was wir erklären wollen, so sein muß, wie es ist. Erklärt in diesem Sinne wird das auffallende Farbenspiel, das entsteht, wenn die Sonne eine Regenwand bescheint, sobald wir den Vorgang des Regenbogens unter die allgemeinen Gesetzesbegriffe der Brechung von Lichtstrahlen unterordnen können. Aus der gegebenen Mannigfaltigkeit sind dann d i e Elemente herausgehoben, die sich in einem immer und überall vorkommenden Zusammenhange befinden, und wir haben also eine Einsicht in die „Notwendigkeit“ des Regenbogens beim Bescheinen einer Regenwand durch die Sonne gewonnen. Was die Bildung von Naturgesetzen sonst noch Neues gegenüber der bloßen Beschreibung leistet, geht uns in diesem Zusammenhange nichts an. Wir wollen ja keine ausgeführte Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung geben, sondern nur die z w e i A r t e n von A l l g e m e i n h e i t unterscheiden, welche die allgemeinen Wortbedeutungen und die Merkmalskomplexe einerseits, die Naturgesetze andererseits haben. Eine Erklärung durch die Allgemeinheit der Notwendigkeit ist um so vollkommener, je umfassender und allgemeiner die verwendeten Gesetzesbegriffe sind. Die „letzten“ Gesetze der Natur würden die Fähigkeit haben, alles in diesem Sinne zu erklären. Ein Organismus z. B. ist unerklärt und muß bis zu einem gewissen Grade in der B i o l o g i e immer unerklärt bleiben, wie wir später noch genauer sehen werden. Er | läßt als Organismus sich nicht zugleich als Mechanismus denken und hebt sich daher als Ausnahme aus der sonst mechanisch gedachten Körperwelt heraus. Eine Erklärung aber hätten wir, wenn es gelungen wäre, d i e s e l b e Wirklichkeit, die wir sonst als Organismus bezeichnen, unter die allgemeinsten mechanischen Begriffe der körperlichen Natur zu bringen. Sie wäre dann nur noch ein besonderer Fall des immer und überall vor sich gehenden mechanischen Geschehens und stände in einer Reihe mit allen andern Teilen der unübersehbaren extensiven Mannigfaltigkeit. Aus ihrer intensiven Mannigfaltigkeit wäre das als ihr „Wesen“ herausgehoben, was sie in Zusammenhang mit dem a l l g e m e i n s t e n „Wesen“ der Körper überhaupt bringt. Eine andere oder bessere Erklärung als die Unterordnung unter die allgemeinsten Gesetzesbegriffe vermag die Naturwissenschaft nicht zu geben. Die Einsicht in die „Notwendigkeit“ eines Vorganges muß bei ihr immer in der Kenntnis der Gesetze bestehen, die ihn beherrschen. Nur soweit sich etwas einem Gesetze unterordnen läßt, ist es überhaupt erklärbar. Auch darauf kommt

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es hier nicht an, ob die zur Erklärung verwendeten Gesetze u n m i t t e l b a r notwendig erscheinen oder erst b e w i e s e n werden müssen. Allein das Begreifen mit Hilfe einer m e h r als e m p i r i s c h e n Allgemeinheit haben wir beim „Erklären“ im Auge. Was werden wir nun im Gegensatze zu einer solchen Erklärung unter einer naturwissenschaftlichen B e s c h r e i b u n g verstehen? Ganz im allgemeinen müssen wir mit diesem Worte jede Art von Darstellung der Wirklichkeit bezeichnen, die o h n e die Anwendung von unbedingt allgemeingültigen Urteilen, d. h. Gesetzesbegriffen vorgenommen wird. Die Beschreibung würde, da auch sie ohne Begriffe im weiteren Sinne nicht auskommen kann, dann also Begriffe im ersten oder zweiten Stadium, und zwar n u r diese, benutzen. In anderer Weise können wir sie von der Erklärung nicht abgrenzen, und wir glauben auch, daß dieser Unterschied fast immer gemeint ist, wo überhaupt die naturwissenschaftliche Beschreibung in einen Gegensatz zur Erklärung gebracht wird. Die Erklärung bedarf stets Begriffe von mehr als empirisch allgemeiner Geltung. Die Beschreibung der Dinge dagegen glaubt, ohne ein überempirisches Element auskommen zu können. Jedenfalls liegt diese Unterscheidung, mehr oder weniger klar, der Behauptung zugrunde, daß die Naturwissenschaft etwas anderes als Beschreibung zu geben, überhaupt nicht imstande sei und auf jede Erklärung, d. h. Einsicht in einen „notwendigen“ Zusammenhang verzichten müsse. Die mehr als empirische Geltung der Gesetzesbegriffe ist es, die für gewisse logische | Richtungen einen Stein des Anstoßes bildet, und die man gerne beseitigen möchte. Deshalb, weil die Beschreibung des überempirischen Elementes nicht zu bedürfen scheint, soll sie also an die Stelle der Erklärung treten. Wenn nun aber die Naturwissenschaft auf Beschreibung eingeschränkt und trotzdem von ihr eine Darstellung der Körperwelt in dem Sinne verlangt wird, daß nicht nur vereinzelte, hier und dort vorgefundene Tatsachen, sondern die a l l e n körperlichen Dingen und Vorgängen gemeinsamen Elemente beschrieben werden sollen, so ist nach unseren früheren Ausführungen über die unübersehbare Mannigfaltigkeit leicht einzusehen, daß lediglich durch eine neue Terminologie der eigentliche Kernpunkt des Problems v e r d e c k t wird. Das Problem steckt gerade in der Ausdehnung der „Beschreibung“ auf a l l e Teile der Körperwelt, d. h. in dem Begriffe einer v o l l s t ä n d i g e n Beschreibung der Natur. Auf diese Vollständigkeit hat denn auch G. Kirchhoff,50 an den die Versuche, die Naturwissenschaft auf Beschreibung einzuschränken, meist anknüpfen, ausdrücklich hingewiesen. Er bezeichnet es als Aufgabe der Mechanik: „die in der Natur vor sich 50

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gehenden Bewegungen v o l l s t ä n d i g und auf die einfachste Weise zu beschreiben.“ Schon hieraus ersehen wir: die bloße Vermeidung des Wo r t e s „Erklärung“ wird schwerlich an dem Umstande etwas ändern, daß eine „vollständige Beschreibung“ der Körperwelt wegen der intensiven und extensiven Unübersehbarkeit der Dinge ohne Anwendung von m e h r als empirisch allgemeinen Begriffen als Ziel der Naturwissenschaft logisch unmöglich ist. Am deutlichsten zeigt sich dies, sobald man daran denkt, daß auch der M e c h a n i k nur die Aufgabe einer „Beschreibung“ zugestanden werden soll. Meint man damit, die Geltung der mechanischen Sätze sei eingeschränkt auf d i e Bewegungsvorgänge, die bisher einzeln direkt beobachtet werden konnten? Dann allerdings wären die mechanischen Begriffe lediglich empirisch allgemein, und dann hätte es einen Sinn, die Mechanik eine „Beschreibung“ zu nennen. Aber so kann es doch niemand im Ernste meinen. Die Mechanik verliert jeden Sinn, falls ihre Sätze nicht für a l l e Körper ohne Ausnahme gelten, auch für die, die niemals direkt beobachtet sind und niemals direkt beobachtet werden können. Wenn ihre Begriffe aber diese Geltung haben sollen, müssen sie auch mehr als empirisch allgemein sein. Nimmt man also das Wort Erklärung so, wie es in der Naturwissenschaft allein gebraucht werden | darf, dann hat es keinen Sinn, es für die Mechanik und alle die Wissenschaften zu vermeiden, die mit einem Material arbeiten, das in seiner extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit niemals auch nur annähernd im einzelnen vollständig berücksichtigt, und das daher erst durch Gesetzesbegriffe ohne Willkür in ein übersehbares Begriffssystem gebracht werden kann. Damit also, daß man sagt, auch die Mechanik habe nur zu beschreiben, ist im Grunde genommen n i c h t s gesagt. Die beliebte Berufung auf einen großen Physiker kann daran nichts ändern. Das logische Problem, das der Begriff der „vollständigen Beschreibung“ enthält, durfte Kirchhoff als P h y s i k e r ignorieren. Dem L o g i k e r aber ist es nicht gestattet, sich bei einem solchen vieldeutigen Schlagworte zu beruhigen. Mit der Behauptung, daß a l l e Naturwissenschaft Beschreibung sei, brauchen wir uns daher nicht weiter zu beschäftigen. Es handelt sich dabei lediglich um einen Wo r t s t r e i t , und zwar um den Versuch, eine verwirrende Terminologie einzuführen. Wir sollten vielmehr unter Beschreibung die Art wissenschaftlicher Darstellung verstehen, die ohne jede Anwendung von Gesetzesbegriffen ihr Material zu bearbeiten sucht. Doch hat das Wort Beschreibung auch dann noch z w e i Bedeutungen, die wir ebenfalls voneinander scheiden müssen. Es gibt nämlich erstens Beschreibung im Sinne der sogenannten „deskriptiven Naturwissenschaften“. Diese sehen in der vollständigen K l a s s i f i k a t i o n einer gegebenen exten-

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siven Mannigfaltigkeit das Ziel ihrer Begriffsbildung. Sodann gibt es endlich eine Art von Beschreibung, die eine systematische Darstellung und begriffliche Gliederung einer extensiven Mannigfaltigkeit überhaupt nicht anstrebt, sondern sich lediglich auf die Beobachtung und Analyse e i n z e l n e r Vorgänge und ihrer intensiven Mannigfaltigkeit richtet. Sie beschränkt sich darauf, das zu konstatieren, was hier oder dort wirklich existiert, und man kann sie auch als das Beschreiben oder Feststellen von Ta t s a c h e n bezeichnen. Das Verhältnis beider Arten von Beschreibung zueinander und zur Erklärung suchen wir, soweit die naturwissenschaftliche Begriffsbildung dabei in Frage kommt, jetzt klarzulegen. Wir haben früher bemerkt, daß eine bloße Klassifikation in der modernen Naturwissenschaft fast immer nur als wissenschaftliche Vorarbeit zu betrachten sein wird. Davon sehen wir hier natürlich ab, denn solange wir daran festhalten, daß das Wissen von unbedingt allgemeinen Urteilen als letztes Ziel a l l e r naturwissenschaftlichen Forschung zu- | grunde liegt, können sich die Begriffe einer Klassifikation nur graduell von den Gesetzesbegriffen unterscheiden, und eine besondere Untersuchung darüber wäre unter dieser Voraussetzung nicht mehr notwendig. Da wir aber hier annehmen wollen, daß die „deskriptiven Wissenschaften“ n u r auf eine Klassifikation ihrer Objekte ausgehen, und wir sie daher in Rücksicht auf ihre letzten Ziele von den erklärenden Wissenschaften trennen, so müssen wir jetzt fragen, ob sie von diesen dann auch in ihrer logischen Struktur so weit abweichen, daß ihre Begriffe von den bisher betrachteten prinzipiell verschieden sind. Wir suchen, um diese Frage zu beantworten, die Begriffsbildung der Beschreibung an einigen Beispielen kennenzulernen. Zoologie und Botanik können in der Weise betrieben werden, daß sie nur auf eine Klassifikation der vorhandenen Pflanzen und Tiere ausgehen. Selbstverständlich ist zunächst, daß auch sie dann die g e s a m t e Mannigfaltigkeit ihres Materials im Einzelnen ebensowenig wie eine erklärende Naturwissenschaft berücksichtigen können, d. h. eine Beschreibung, die jedes einzelne Tier oder jede einzelne Pflanze darzustellen sucht, bleibt für sie unmöglich. Dennoch ist hier zweifellos eine wenigstens annähernd v o l l s t ä n d i g e begriffliche Bearbeitung der ihnen gegebenen Mannigfaltigkeit ohne unbedingt allgemeingültige Begriffe erreichbar. Die Gründe dafür müssen wir aus der Natur ihres Materials verstehen. Dann werden wir eine Einsicht in das Wesen ihrer Begriffsbildung erhalten. Um zunächst die extensive Mannigfaltigkeit in Betracht zu ziehen, so ist die Untersuchung auf ein kleines Bruchstück der Körperwelt gerichtet, das räumlich und zeitlich in bestimmten Grenzen liegt. Während die Begriffe der Optik für das Licht jedes beliebigen Weltkörpers ebenso gültig sein

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müssen wie für das der neben uns stehenden Lampe, hat es die deskriptive Zoologie oder Botanik allein mit den Tieren oder den Pflanzen zu tun, die in gewissen Zeitabschnitten auf der Erde vorkommen. Was als Tier oder Pflanze zu betrachten ist, darf ferner von vornherein, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, schon als bekannt vorausgesetzt werden, d. h. nur bestimmte Gestaltungen der Körperwelt, die man eben Tiere oder Pflanzen nennt, sind für die deskriptive Wissenschaft von Bedeutung. So ist ihr Material extensiv verhältnismäßig klein. Die Kenntnis bestimmter Formen gestattet die Auswahl der wesentlichen Gebilde aus der Mannigfaltigkeit der Dinge. Das empirische Feststellen aller verschiedenen Formen wird damit ein Ziel, dem man sich wenigstens anzunähern vermag. Das ist der wesentliche Punkt: | die e x t e n s i v e Mannigfaltigkeit der Körper ist hier n i c h t prinzipiell u n ü b e r s e h b a r. Die Gesetzesbegriffe können daher bei ihrer Ueberwindung entbehrt werden. Doch diese relative Begrenztheit der extensiven Mannigfaltigkeit reicht noch nicht aus, um die Vereinfachung ohne Gesetzesbegriffe ganz zu verstehen. Es bleibt die i n t e n s i v e Mannigfaltigkeit der einzelnen Dinge, und diese ist hier wie überall prinzipiell unübersehbar. Wie ist aus ihr ohne unbedingt allgemeine Begriffe das für die Begriffsbildung Wesentliche herauszuheben und ein Prinzip für die Klassifikation zu gewinnen? Wir müssen dabei folgendes berücksichtigen. An die unübersehbare Mannigfaltigkeit, die mit der Veränderung der Dinge zusammenhängt, und die wir die zeitliche nennen können, denkt eine deskriptive Naturwissenschaft wenig. Sie kümmert sich in der Hauptsache nur um die momentan vorhandenen Formen, die ihr als unveränderlich gelten, oder deren Veränderungen für sie wenigstens nicht in Betracht kommen. Zwar beachtet sie in gewisser Hinsicht auch den Wechsel. So weiß die Botanik wohl, daß ein Kirschbaum ein anderer ist zur Zeit der Blüte als im Winter, aber es handelt sich dabei um Veränderungen, deren verschiedene Stadien sich im Ablauf eines Jahres wiederholen. Meist werden nur wenige Stadien einer Reihe, und zwar solche, die immer wiederkehren, aus dem Wandel der Formen herausgegriffen. So bleibt allein die intensive Mannigfaltigkeit der räumlichen Gestaltung als unübersehbar übrig, und auch sie ist hier nicht unüberwindlich. Weil es sich für die deskriptiven Wissenschaften um schon vorher bestimmte Formen der Körper handelt, die innerhalb gewisser Grenzen feststehen, geben diese Formen auch das Mittel, um durch rein empirische Ve r g l e i c h u n g der verschiedenen Dinge miteinander aus ihrer intensiven Mannigfaltigkeit das in Rücksicht auf die Formen Wesentliche wiederum ohne Anwendung von unbedingt allgemeinen Begriffen herauszuheben und so die Mannigfaltigkeit zu überwinden. Trotzdem enthält auch das Material der deskriptiven Wissenschaften, besonders in bezug auf die extensive Mannigfaltigkeit, eine Unübersehbarkeit.

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Man kann ja nie wissen, ob nicht irgendwo auf der Erde sich noch eine Form findet, die von allen bisher bekannten gänzlich abweicht und doch zu den Tieren oder Pflanzen gezählt werden muß. Da bedarf es dann noch besonderer Mittel, um ein Begriffssystem zu schaffen, das nicht allein alle direkt gegebenen Formen umfaßt, sondern auch die Einordnung der neu auftauchenden Tiere oder Pflanzen | ohne Anwendung von Gesetzesbegriffen ermöglicht. Diese Mittel müssen wir ihrem logischen Wesen nach ebenfalls verstehen. Sehen wir uns daraufhin z. B. ein botanisches System an. Da werden Begriffe geschaffen, von denen der eine das kontradiktorische Gegenteil des andern bildet. Durch solche zweigliedrigen Disjunktionen ist es dann leicht möglich, a l l e denkbaren Pflanzen zu umfassen. Die Pflanzen müssen nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten alle entweder Blüten tragen oder keine haben, die Blüten tragenden müssen entweder fruchtbildende oder nacktsamige sein, usw. usw. Erst dann geht das Begriffssystem in die Brüche, wenn ein Körper auftaucht, von dem sich nicht mehr sagen läßt, ob er überhaupt noch eine Pflanze sei. Interessant ist unter logischen Gesichtspunkten ferner auch der Gedanke, die A n z a h l der Staubgefäße aus der Mannigfaltigkeit der Blüten herauszugreifen und dadurch die Pflanzen zu klassifizieren. Hier beruht die Vereinfachung der Mannigfaltigkeit in gewisser Hinsicht auf demselben Prinzip, das wir bei den denkbar vollkommensten Begriffen der erklärenden Wissenschaften vorfanden. J e d e Pflanze, die überhaupt Staubgefäße hat, ist in diesem Begriffssystem unterzubringen, da in der bloßen Anzahl niemals etwas prinzipiell Neues und daher auch niemals etwas stecken kann, das geeignet ist, das System umzuwerfen. Auf diese Weise also wird, um das Begriffssystem auf Erscheinungen auszudehnen, die noch nicht direkt beobachtet sind, gewissermaßen ein Surrogat für die dabei sonst unentbehrlichen Gesetzesbegriffe geschaffen. Doch versteht es sich zugleich wohl von selbst, daß es sich hier n u r um ein Surrogat handeln kann, und daß von einer Einführung der Mathematik in die Botanik durch eine solche Klassifikation nicht geredet werden darf. Diese Bemerkungen über die beschreibenden Naturwissenschaften mögen genügen, um das zu zeigen, worauf es ankommt. Wir sehen, wie die Eigenschaften der Begriffe sich auch bei ihnen durchweg daraus verstehen lassen, daß sie als Mittel zur Ueberwindung und Vereinfachung einer extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit dienen. Die Begriffe müssen jedenfalls a l l g e m e i n und b e s t i m m t sein. Was ihnen im Vergleich zu den bisher betrachteten Begriffen allein fehlt, ist die u n b e d i n g t allgemeine G e l t u n g , und sie kann deshalb fehlen, weil sie zur Erreichung des hier angestrebten Zweckes nicht notwendig ist. Das bleibt der in diesem Zusammenhang wesentliche Unterschied. Aber wir können nicht einmal sagen, daß die

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Begriffe der beschreibenden Wissenschaften nun überhaupt keine „Geltung“ | besäßen und daher wenigstens in dieser Hinsicht von den Gesetzesbegriffen prinzipiell verschieden seien. Sobald sie nämlich den Zweck erfüllen, zu dem sie gebildet sind, „gelten“ auch sie mit Rücksicht auf einen solchen Zweck. Dieser ist nun freilich n u r Vereinfachung, aber darauf allein kommt es in diesem Zusammenhang an, denn wir haben ja auch die u n b e d i n g t e Geltung der Gesetzesbegriffe als Mittel zur Vereinfachung der Mannigfaltigkeit in Betracht gezogen. Insofern ist also die Begriffsbildung in den beschreibenden Wissenschaften der in den erklärenden Wissenschaften analog. Trotzdem bleibt selbstverständlich ein prinzipieller Unterschied. Die „Geltung“ dieser Begriffe ist anderer A r t , denn sie besteht nur so lange, als man nicht daran denkt, daß das Reich der Pflanzen oder der Tiere nicht wirklich etwas Starres und in sich Abgeschlossenes bildet, sondern vermutlich einen Anfang und ein Ende hat und jedenfalls als Glied des Naturganzen zu betrachten ist. Sobald dies aber geschieht, muß jedes Begriffssystem einer lediglich beschreibenden Naturwissenschaft als willkürlich erscheinen, und dementsprechend werden die Begriffe ihre „Geltung“ verlieren. Die von der Deskription geleistete Vereinfachung hat dann ihren Wert n u r als Vereinfachung, d. h. es wird durch sie nicht wie durch die Begriffe von Gesetzen etwas erkannt, dessen Geltung auch unabhängig von der betreffenden Begriffsbildung besteht. Zugleich aber existieren dann die „deskriptiven“ Wissenschaften als solche, die andere Z i e l e als die Erklärung haben, überhaupt nicht mehr, d. h. die Beschreibung geht durch Einführung von Gesetzesbegriffen in eine Erklärung oder in einen Versuch dazu über. Davon müssen wir hier absehen. Auch im Gegensatz zur Erklärung behält die Beschreibung ihren Wert überall dort, wo das zu beschreibende Material eine Vereinfachung seiner Mannigfaltigkeit ohne Gesetzesbegriffe gestattet, denn für ein solches Material kann die Beschreibung etwas leisten, das der Erklärung durch Gesetzesbegriffe durchaus entspricht, und deshalb dürfen die dabei verwendeten Begriffe, wenn sie ihren Zweck erfüllen, auch nicht mehr als r e i n willkürlich angesehen werden. Ganz ist allerdings die Willkür ohne Anwendung von Gesetzesbegriffen nie zu vermeiden, aber sie liegt bei den deskriptiven Wissenschaften doch nur darin, daß die bloße Klassifikation einer Mannigfaltigkeit starrer Formen als wissenschaftliches Z i e l betrachtet wird, d. h. sie liegt in der Zwecksetzung und nicht in der Begriffsbildung selbst. Unter dem Gesichtspunkt, daß im allgemeinen aus dem Ziel der Vereinfachung das Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zu | verstehen ist, bildet also das Vorhandensein der deskriptiven Wissenschaften keinen Einwand gegen die Richtigkeit unserer Begriffstheorie. Auch diesen Begrif-

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fen kommt, wie allen andern, neben der Allgemeinheit und Bestimmtheit eine gewisse Geltung zu, wenn sie den Zweck der Vereinfachung erfüllen. Der Unterschied ist nur der, daß diese Geltung keine vom erkennenden Subjekt u n a b h ä n g i g bestehende ist wie die der Naturgesetze. Da dies aber nicht die A l l g e m e i n h e i t betrifft, so sind die Begriffe der deskriptiven Wissenschaften von den Gesetzesbegriffen der erklärenden Wissenschaften in dieser Hinsicht nicht prinzipiell verschieden, und wir hatten keine Veranlassung, sie gesondert zu behandeln. Auch die Beschreibung, die wir jetzt kennengelernt haben, fällt mit einer g e n e r a l i s i e r e n d e n Begriffsbildung zusammen. So bleibt schließlich nur noch die Art von Beschreibung übrig, die die Resultate der Beobachtung und Analyse e i n z e l n e r Vorgänge darstellt oder auch, wie man zu sagen pflegt, sich darauf beschränkt, Ta t s a c h e n zu konstatieren. Zunächst müssen wir begreifen, wie eine solche Beschreibung überhaupt m ö g l i c h ist. Von selbst versteht sich das nicht, denn wir haben früher gesehen, daß ohne Begriffe eine Aufnahme der Wirklichkeit in unsern Geist, also Erkenntnis, in keinem Fall stattfinden kann. Die dem Begriff eigentümliche Leistung, die Vereinfachung der anschaulichen Mannigfaltigkeit, erwies sich als ein jedem wissenschaftlichen Denken wesentliches Moment. Da alles wissenschaftliche Denken begriffliches Denken ist, bleibt es etwas anderes als ein Anschauen oder „Vorstellen“ der Wirklichkeit. Wenn nun aber auch aus diesem Grunde jede Beschreibung zu einer Vereinfachung der Wirklichkeit führt, so kann andererseits doch der Versuch gemacht werden, die durch die elementaren Wortbedeutungen entstehende Vereinfachung einzuschränken und soweit wie möglich wieder aufzuheben. Das geschieht dann dadurch, daß man, wie wir es ebenfalls schon einmal andeuteten, durch eine bestimmte K o m b i n a t i o n von allgemeinen Wortbedeutungen dazu auffordert, an die Mannigfaltigkeit einzelner wirklicher Anschauungen zu denken, und selbstverständlich ist eine solche Beschreibung des Einzelnen durchaus nicht wertlos. Ja, vielleicht wird mancher geneigt sein, den Ausdruck Beschreibung ausschließlich für eine Darstellung dieser Art zu verwenden. Nur muß man sich dann darüber klar werden, daß in dieser Bedeutung der Ausdruck „Beschreibung“ keine Bezeichnung für eine naturwissenschaftliche Begriffsbildung sein kann, oder genauer, | daß in derartigen Beschreibungen die Naturwissenschaft noch keinen A b s c h l u ß findet. Das, was durch sie geleistet wird, kann vielmehr nur als Vorarbeit einer erklärenden oder auch einer deskriptiven Naturwissenschaft gelten. Es wird durch sie tatsächliches Material gesammelt, das später einer weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung unterzogen werden soll. Ja, wir können noch weiter gehen. Auch dieses tatsächliche Material muß immer schon unter einem bestimmten G e s i c h t s p u n k t gesammelt wer-

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den, denn es ist niemals möglich, A l l e s an einer einzelnen, anschaulich gegebenen Mannigfaltigkeit zu beschreiben. Selbst die lediglich als Vorarbeit für weitere wissenschaftliche Begriffsbildung in Betracht kommende Beschreibung geht unter allen Umständen darauf aus, die Wirklichkeit zu vereinfachen. Mag sie bei der Beobachtung des Einzelnen auch noch so viel von dem Material zum ausdrücklichen Bewußtsein bringen, das der praktische Mensch des Lebens an den Dingen übersieht, und das nur für die theoretische Wissenschaft Interesse hat, so kann ihr Bestreben doch nie auf die Darstellung der g e s a m t e n anschaulichen Mannigfaltigkeit gerichtet sein. Eine unübersehbare Fülle der Anschauung wird vielmehr sogar bei genauester Beobachtung durch die vollkommensten technischen Mittel von der Beschreibung als „unwesentlich“ beiseite gelassen und geht also in keinen Begriff ein. So kann z. B. eine noch so genaue Beschreibung einzelner Tiere oder Pflanzen stets nur „Merkmale“ liefern für die verschiedenen Arten und Gattungen der Tier- oder Pflanzenklassen, und auch sie hat also in der Naturwissenschaft die Bildung von a l l g e m e i n e n Begriffen zum Ziel. Wenn wir das übersehen, so liegt es daran, daß in den deskriptiven Wissenschaften zu dem rein naturwissenschaftlichen Interesse bisweilen ein ä s t h e t i s c h e s Interesse an der anschaulichen Mannigfaltigkeit der Dinge tritt, und daß dann unwillkürlich die Beschreibung in eine nicht mehr rein wissenschaftliche Schilderung der anschaulichen intensiven Mannigfaltigkeit übergeht. Sehr feine Bemerkungen finden wir bei K. Möbius über diese „ästhetische Betrachtung der Tiere“.51 „Wenn Zoologen“, sagt er, „ihren Schriften Abbildungen beifügen, gehen sie ... über die Grenzen der begrifflich erkennund darstellbaren Gesetze der tierischen Natur hinaus in das Gebiet des ästhetisch anschaulichen Individuellen.“ Dies Einmischen alogischer Mo- | mente in die Wissenschaft darf uns die logische Struktur der beschreibenden Begriffsbildungen nicht verhüllen. In der Naturwissenschaft wandeln wir immer, auch durch das Feststellen von „Tatsachen“, die Wirklichkeit um. Es ergibt sich daraus, wie wenig mit der heute so beliebten Behauptung gesagt ist, die Naturwissenschaft habe es überhaupt nur mit „Tatsachen“ zu tun. Die Logik muß gegenüber solchen vieldeutigen Schlagworten der wissenschaftlichen Mode sich besonders mißtrauisch verhalten. Je öfter sie gebraucht werden, um so weniger ist meist mit ihnen anzufangen, wo es sich um logische Klärung handelt. Ebenso wie das Wort Beschreibung wird besonders das Wort Tatsache nicht selten dazu benutzt, Probleme zu verdecken und zu ignorieren, anstatt zur Aufhellung der wissenschaftlichen Methode zu dienen. 51

Math. u. naturwiss. Mitt. a. d. Sitzungsberichten d. königl. preuß. Akademie d. Wiss. zu Berlin. 1895, XLV, S. 458.

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Noch in einem anderen Zusammenhange läßt sich zeigen, weshalb eine „Tatsache“ nicht etwas so Einfaches ist, wie man vielfach meint. Erst als k o n s t a t i e r t e Tatsache wird sie theoretisch relevant, und in ihrer Konstatierung steckt, weil es sich dabei immer um ein Urteil, also auch um die Anerkennung einer über den individuellen Bewußtseinsinhalt hinausweisenden „Urteilsnotwendigkeit“ handelt, ein erkenntnistheoretisches oder, wenn man will, ein metaphysisches Problem.52 Hier erscheinen die Tatsachen und ihre Beschreibung vollends problematisch. Versteht man unter „Tatsache“ einen einzelnen wirklichen anschaulichen Vorgang, so kann man sagen, daß für Tatsachen, so wie sie sind, in den Begriffen der Naturwissenschaft kein Platz ist. Verlangt man, daß eine naturwissenschaftliche Beschreibung der Tatsachen a l l e s das geben soll, was wir sehen, hören usw., so wird man sagen müssen, daß wir mit naturwissenschaftlichen Begriffen „Tatsachen“ gar nicht beschreiben können. Man darf nicht meinen, daß man in einer naturwissenschaftlichen Untersuchung imstande sei, statt mit abstrakten Begriffen mit Tatsachen zu arbeiten, die etwas von den Begriffen prinzipiell Verschiedenes wären. Ja, sogar der Satz, daß die Untersuchung statt mit Abstraktionen mit dem „unmittelbar Vorgefundenen“ a n f a n g e n solle, verlangt streng genommen etwas Unmögliches. Nur gewisse Arten von Begriffsbildungen kann man vermeiden wollen, aber mit allgemeinen Begriffen muß man die naturwissenschaftliche Arbeit immer schon b e g i n n e n , selbst wenn ihr Ziel nur Klassifikation einer begrenzten Mannigfaltigkeit ist. Dazu kommt noch etwas anderes. Hat die Beschreibung des Einzel- | nen in der Naturwissenschaft als bloße Vorarbeit entweder für eine Erklärung oder für eine Klassifikation zu gelten, so geht schon der Begriff im ersten Stadium, d. h. die unwillkürlich entstandene Wortbedeutung, sobald sie in einer Beschreibung logisch verwertet wird, darauf aus, Zusammen g e h ö r i g e s zu umfassen. In seiner primitivsten Form also, als Bestandteil des einfachsten ausdrücklich vollzogenen naturwissenschaftlichen Urteils, das eine Tatsache konstatiert, gibt der naturwissenschaftliche Begriff nicht nur die zum Urteilen überhaupt notwendige primitive Klassifikation, sondern er muß, als Vorbereitung zu einer in dem angegebenen Sinne g ü l t i g e n Klassifikation, fast immer schon mit Rücksicht auf eine „Theorie“ gebildet werden. Dann aber enthält er auch in diesem Stadium implicite bereits „Geltung“, und man wird daher sagen dürfen, daß sogar in d e n Begriffen ein Urteilsgehalt steckt, in denen es noch nicht einmal zu einer ausdrücklichen „prädikativen“ Zerlegung ihres Inhaltes gekommen ist, die also noch nicht einmal die äußere Form eines Urteils gewonnen haben. Das Moment der 52

Vgl. meine Schrift: Der Gegenstand der Erkenntnis, 6. Aufl. 1928.

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Geltung ist mithin auch von den primitivsten Begriffen nicht ganz loszulösen, falls sie in einem naturwissenschaftlichen Zusammenhange vorkommen. Nicht anders steht es schließlich mit der B e s t i m m t h e i t . Auch die elementaren Wortbedeutungen müssen, wo sie theoretisch verwertet werden, Bestimmtheit haben. Denn wir nennen ja die Wortbedeutungen erst dann Begriffe, wenn ihre logische Verwendung möglich ist. Diese Verwendung aber würde in keinem Falle möglich sein, falls die Unbestimmtheit der Wortbedeutungen grenzenlos wäre. So sehen wir, daß j e d e r Begriff der Naturwissenschaft im ersten Ansatz schon a l l e s das enthält, was sich in den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffen ausdrücklich entfaltet, d. h. der naturwissenschaftliche Begriff ist stets nicht nur empirisch allgemein, sondern sucht sich auch der Bestimmtheit und Geltung wenigstens a n z u n ä h e r n . Da nun ohne Begriffe ein naturwissenschaftliches Denken überhaupt nicht möglich ist, so zeigt dieses sich niemals auf ein genaues Abbild der Wirklichkeit, sondern auf ein Erfassen allgemein gültiger Urteile gerichtet. Das bloße Faktum, so meint man wohl, soll der Begriff vertreten, und man stellt dann der Naturwissenschaft die Aufgabe, Fakta zu beschreiben. Aber das einzelne Faktum geht als solches, wie wir gesehen haben, auch in d i e naturwissenschaftlichen Urteile, die „Tatsachen konstatieren“, gar nicht ein. Insofern gilt für die Logik der Naturwissenschaften das Wort: „Das Höchste wäre zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist.“ | Daß bei Goethe, der auch in der Wissenschaft Künstler war und daher überall sich soweit wie möglich an die Anschauung zu halten suchte, dieser Satz einen anderen, ja geradezu den entgegengesetzten Sinn haben soll, darf uns nicht hindern, ihn in diesem Zusammenhange zu verwenden. Denn es ist kein Zufall, daß er dem Wortlaut nach zum Ausdruck einer Meinung gebraucht werden kann, die Goethe, übrigens aus nicht immer ganz gewürdigten Gründen, bekämpfte. Der künstlerische, oder wie wir auch sagen dürfen, der „griechische“ Mensch überhaupt, konnte meinen, daß die „Theoria“ schon in dem steckt, was er s i e h t . Der moderne wissenschaftliche Mensch muß sich darüber klar werden, daß der Gehalt der Erkenntnis sich zwar auf Sichtbares bezieht, selbst aber „unsichtbar“ bleibt. Nicht ob man sie sehen oder hören kann, sondern allein ob sie g i l t , ist das für die Erkenntnis maßgebende Moment.53 53

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Die Ueberschätzung der „Anschauung“ im Verhältnis zu Urteil und Begriff hat seit der ersten Auflage dieses Buches in der Theorie der Wissenschaft eher zu- als abgenommen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem modernen „Intuitionismus“ findet sich in meiner Schrift: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. 1920. 2. Aufl. 1922.

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Erstes Kapitel · Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt

Hiermit können wir die Untersuchung über die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt abschließen. Was für unsere Zwecke notwendig war, haben wir gezeigt. Wir erinnern uns, in welchem Zusammenhange diese Erörterungen angestellt wurden. Wir wollen die G r e n z e n der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kennenlernen, um daraus das Wesen d e r Wissenschaften zu verstehen, die von der Logik bisher zu wenig berücksichtigt worden sind, d. h. die Einseitigkeit der naturwissenschaftlichen Logik suchen wir zu überwinden. Weil aber die Logik sich ihrer Einseitigkeit nur selten bewußt ist, konnten wir ihr auch für den naturwissenschaftlichen Begriff nicht ohne weiteres allgemein anerkannte Sätze entnehmen und mußten daher zunächst einmal das Wesen des naturwissenschaftlichen Begriffes selbst wenigstens n a c h e i n e r S e i t e h i n , die mit seiner Eigenschaft als Mittel zur Vereinfachung der Wirklichkeit zusammenhängt, kennenlernen. Wir haben in dieser vorbereitenden Untersuchung ein näheres Eingehen auf Einzelheiten und eine ausführlichere Darstellung nicht gescheut, denn je gründlicher wir das We s e n der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nach dieser einen Seite hin verstehen, um so leichter werden wir ihre G r e n z e n festzustellen imstande sein. Es wäre nun möglich, von hier aus sogleich zur Aufzeigung dieser Grenzen überzugehen. Ja, wiederholt wurde der Punkt, auf den es dabei ankommt, bereits angedeutet. Ueberall, so konnten wir zeigen, geht | die Naturwissenschaft, mag sie die Dinge erklären oder beschreiben wollen, auf das A l l g e m e i n e , und ihre gesamte Begriffsbildung ist von dieser g e n e r a l i s i e r e n d e n Tendenz beherrscht. Sobald das Besondere oder das Individuelle als solches Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses wird, ist mit ihren Begriffen nur wenig anzufangen. Schon in seiner ursprünglichen Form kommt der naturwissenschaftliche Begriff an die Einzeldinge in ihrer I n d i v i d u a l i t ä t nicht heran, und je vollkommener er ausgebildet wird, desto weiter entfernt er sich von ihnen, um immer Allgemeineres und weniger Individuelles zu umfassen. Doch bevor wir diesen Gedanken weiter führen, müssen wir noch eine andere Frage beantworten.

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„Naturae leges et regulae sunt ubique et semper eaedem, atque adeo una eademque etiam debet esse ratio rerum qualiumcumque naturam intelligendi.“ Spinoza.

Wir haben uns bisher bei der Klarlegung des Wesens der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung absichtlich auf ihre Bedeutung für die Erkenntnis der k ö r p e r l i c h e n Dinge und Vorgänge beschränkt, d. h. wir haben, dem in der Einleitung entwickelten Plane entsprechend, die Ausdrucksweise akzeptiert, nach der unter „Natur“ die physische Welt zu verstehen ist. Die behandelte Methode des Begreifens ist zuerst bei der wissenschaftlichen Bearbeitung von Körpern ausgebildet worden und ließ sich daher auch am leichtesten verstehen, wenn sie zunächst nur mit Rücksicht hierauf logisch entwickelt wurde. Nachdem dies geschehen ist, müssen wir unsere Betrachtung e r w e i t e r n . Da wir die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kennenlernen, d. h. feststellen wollen, bei welcher Art von wissenschaftlicher Arbeit sie nicht angewendet werden kann, ist es unsere Aufgabe, zu untersuchen, ob das reale M a t e r i a l , mit dem es andere empirische Wissenschaften zu tun haben, Eigentümlichkeiten aufweist, die die Anwendung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ausschließen und daher eine andere logische Form der wissenschaftlichen Darstellung erfordern. Dadurch wird dann entschieden werden können, wieweit es überhaupt in dem den empirischen Wissenschaften zugänglichen wirklichen Stoff s a c h l i c h e Unterschiede von solcher Art gibt, daß sie einer logischen Gliederung der Wissenschaften zugrunde zu legen sind. Die Frage, mit welchem Rechte noch andere wirkliche Objekte als Körper für die empirische Wissenschaft als „gegeben“ behauptet werden, übergehen wir hier. Die Ansicht, die kein anderes als körperliches | Sein anerkennen will, hat nur noch wenige ernsthafte Vertreter, und eine Auseinandersetzung mit ihr dürfen wir hier um so mehr unterlassen, als auch der Materialist durch seine metaphysischen Ueberzeugungen nicht gehindert werden kann, unsern weiteren Untersuchungen zuzustimmen. Die Probleme, die in diesem Kapitel behandelt werden, gibt es für ihn überhaupt nicht, denn falls er Recht hat, ist von vornherein klar, daß die Grenzen für die naturwissen-

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schaftliche Begriffsbildung nicht in dem Wesen irgendwelcher besonderen wirklichen S t o f f e der Untersuchung bestehen und das allgemeinste Prinzip für die Einteilung der Wissenschaften nicht in einem sachlichen Unterschiede des r e a l e n wissenschaftlichen Materials liegen kann. Dies allein aber wollen wir im zweiten Kapitel nachweisen. Ein Materialist kann also die folgenden Ausführungen überschlagen und sogleich zum dritten Kapitel übergehen. Worin besteht nun das andere w i r k l i c h e Material der empirischen Wissenschaften, das für uns noch in Frage kommt? Wenn überhaupt außer der Körperwelt etwas als real existierend anerkannt wird, so ist es das, was man als s e e l i s c h e s oder auch als g e i s t i g e s Sein zu bezeichnen pflegt. Seele und Geist, ebenso wie seelisch und geistig, wollen wir z u n ä c h s t , wie es heute noch vielfach üblich ist, als gleichbedeutend gebrauchen. Es werden zwar die Wörter „Geist“ und „geistig“ auch in einem anderen Sinne angewendet, der sich mit dem von Seele und seelisch nicht deckt, ja, es können die beiden Begriffe geradezu in einen Gegensatz zueinander treten, besonders wenn man unter „Geist“ etwas Unwirkliches oder etwas mehr als bloß Wirkliches versteht. Davon sehen wir jedoch fürs erste ab, da keine Einigkeit darüber herrscht, was unter „Geist“ zu verstehen ist, falls es nicht soviel wie seelisches oder psychisches Leben bedeutet. Wir setzen also voraus, daß unter dem Geistigen wie unter dem Seelischen ein w i r k l i c h Seiendes verstanden wird, und ferner, daß mit der Zweiteilung in körperliches und seelisches oder physisches und psychisches Geschehen die R e a l i t ä t , die den empirischen Wissenschaften zugänglich ist, e r s c h ö p f t sein soll, also a l l e s Wirkliche als seelisch oder geistig bezeichnet wird, was nicht Körper ist, soweit es überhaupt zur empirischen Wirklichkeit gehört. Mit unwirklichen Gegenständen, die es vielleicht auch gibt, haben wir es hier noch nicht zu tun. Unsere Frage kann demnach nur lauten, ob und wie weit bei der Erforschung des wirklichen seelischen oder geistigen Lebens dieselbe Art der Begriffsbildung gestattet ist wie bei der Erforschung der Körper. | In diesem Sinne allein ist der sachliche Gegensatz, dessen logische Bedeutung uns im folgenden beschäftigen wird, der von N a t u r und G e i s t . 54 54

In den Jahrzehnten, die vergangen sind, seit diese Ausführungen zum erstenmal gedruckt wurden, hat die Neigung wieder zugenommen, den „Geist“ vom realen seelischen oder psychischen Sein, wie es in den einzelnen wirklichen Subjekten zeitlich abläuft, zu s c h e i d e n . Man sieht erfreulicherweise endlich immer mehr ein, daß sich die Welt in ihrer To t a l i t ä t nicht begreifen läßt, falls man nichts anderes als Physisches oder Psychisches anerkennt, und man greift nach dem Worte „Geist“, um das zu bezeichnen, was weder das eine noch bloß das andere ist. Insofern kann eine, wenn auch nur vorläufige Identifikation des Geistigen mit dem Psychischen als gewaltsam erscheinen. Doch ist andererseits eine allgemein anerkannte Bedeutung für das Wort „Geist“ noch nicht zu finden, und es bleibt daher der Wissenschaftslehre zunächst nichts anderes übrig, als zu fragen, wie das geistige Leben zu erforschen ist, wenn es lediglich als reales psychisches Sein in Betracht kommt. Erst im vierten Kapitel, wo

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Der Unterschied von Physisch und Psychisch muß auch deshalb für uns wichtig werden, weil wir die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung mit der Absicht feststellen, eine Einsicht in das Wesen der g e s c h i c h t l i c h e n Wissenschaften zu gewinnen. Die meisten historischen Disziplinen haben es, wenigstens vorwiegend, mit p s y c h i s c h e n Vorgängen zu tun, und wenn überhaupt ein prinzipieller Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Geschichte anerkannt wird, so macht man als Grund für die Notwendigkeit einer besonderen historischen Methode meist den Umstand geltend, daß die Geschichte eine „Geisteswissenschaft“ sei. Dabei wird dann freilich unter „Geist“ nicht immer dasselbe wie das reale „seelische“ Leben verstanden, sondern es herrscht oft über das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander große Unklarheit. Gerade deshalb aber müssen wir uns v o r l ä u f i g auf die Frage nach der Bedeutung des realen psychischen Lebens für die Methode der Begriffsbildung beschränken. Ist also der Umstand, daß die Geschichte s e e l i s c h e Vorgänge behandelt, entscheidend für die logische Struktur ihrer Darstellung, und führt daher das Voranstellen dieses Umstandes auf den richtigen Weg, wo es gilt, eine Einsicht in das logische Wesen der historischen Begriffsbildung zu gewinnen? Diese Frage läßt sich nur entscheiden, wenn wir wissen, in welchem Verhältnis die naturwissenschaftliche Begriffsbildung zum seelischen Leben überhaupt steht. Setzt etwa das psychische Sein als solches der | Naturwissenschaft eine Grenze? Das heißt nicht: läßt sich aus Körpern seelisches Leben erklären? Mit diesem Problem und mit den bei seiner Behandlung sich eventuell ergebenden „Grenzen der Naturwissenschaft“ wollen wir es ja hier nicht zu tun haben. Sondern nur das interessiert uns, ob das wirkliche seelische Leben, wie es faktisch in der Zeit abläuft, durch dieselbe f o r m a l e Art der Begriffsbildung dargestellt werden kann wie die Körperwelt. Die umfassendste Wissenschaft vom seelisch Wirklichen nennt man allgemein P s y c h o l o g i e . Auf die Methode der psychologischen Begriffsbildung müssen wir also jetzt unser Augenmerk richten. Daß die Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode betrieben werden könne und müsse, ist eine weit verbreitete Meinung. Trotzdem dürfen wir sie nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen, denn es fehlt daneben gerade in neuester Zeit nicht an Stimmen, die dieser Ansicht entgegentreten, und besonders mit Rücksicht darauf, daß die Psychologie die Grundlage für die sogenannten Geisteswissenschaften, also auch für die Gewir das Reich der Werte wie das Unwirkliche überhaupt mit heranziehen, um das Wesen der historischen Wissenschaften zu verstehen, ist die Frage, was der Geist im Unterschiede vom wirklichen psychischen Leben bedeutet, in Angriff zu nehmen. Vgl. dazu auch in meinen „Problemen der Geschichtsphilosophie“, 3. Aufl., den Abschnitt: Natur und Geist, S. 13 ff.

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schichte sein soll, hat man die naturwissenschaftliche Behandlung des Seelenlebens bekämpft. Ist es wirklich das reale Seelenleben, für das diese Ausführungen gelten, oder werden nicht vielmehr logische Besonderheiten, die in den h i s t o r i s c h e n Wissenschaften allerdings vorhanden sind, mit Unrecht auf den Umstand zurückgeführt, daß diese Wissenschaften es mit p s y c h i s c h e n Vorgängen zu tun haben? Um zu dieser Frage Stellung zu nehmen, versuchen wir das seelische Dasein in seinen sachlichen Eigentümlichkeiten so weit kennenzulernen, als notwendig ist, um zu sehen, in welcher Hinsicht es unter logischen Gesichtspunkten in einen Gegensatz zur Körperwelt gebracht werden kann. Wir haben also zunächst die Begriffe des P h y s i s c h e n und des P s y c h i s c h e n in ihrem Verhältnis zueinander mit Rücksicht darauf zu bestimmen, ob das reale M a t e r i a l der Psychologie als solches bereits einen für den logischen Gegensatz der Begriffsbildung bedeutsamen Unterschied von dem Material der Naturwissenschaften, dem Physischen, aufweist. Nachdem wir zu einer Verneinung dieser Frage gekommen sind, können wir zu einer Untersuchung über die b e g r i f f l i c h e E r k e n n t n i s d e s S e e l e n l e b e n s übergehen, und schließlich müssen wir auf Grund dieser Erörterungen uns darüber klar werden, ob und in welchem Sinne es überhaupt möglich ist, unter logischen Gesichtspunkten einen Gegensatz von G e i s t e s w i s s e n s c h a f t | und N a t u r w i s s e n s c h a f t aufzustellen, solange man unter einer „Geisteswissenschaft“ eine Disziplin versteht, die reales seelisches Sein erforscht. Haben wir gezeigt, daß der s a c h l i c h e Unterschied von Natur und Geist, d. h. von P h y s i s c h und P s y c h i s c h , für eine umfassende logische Gliederung der Begriffsbildung in den empirischen Wissenschaften unbrauchbar ist, dann wenden wir uns endlich im dritten Kapitel dem l o g i s c h e n Gegensatz zu, in dem Natur und G e s c h i c h t e zueinander stehen. Dies zweite Kapitel soll also im wesentlichen nur zeigen, wo die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung n i c h t liegen. Es sind Untersuchungen hierüber um so notwendiger, je mehr die Ansicht verbreitet ist, daß der Gegensatz von Physisch und Psychisch von prinzipieller Bedeutung auch für die logische Struktur der wissenschaftlichen Begriffsbildung sein müsse.

I. Physisch oder Psychisch. Als es im Beginn des ersten Kapitels darauf ankam, das Material der Naturwissenschaften zu charakterisieren, brauchten wir nur darauf hinzuwei-

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sen, daß jedem eine Körperwelt als eine in Raum und Zeit ausgebreitete Wirklichkeit von anschaulichen Dingen und Vorgängen bekannt ist. Der Hinweis auf eine solche Tatsache reicht, wo es sich um die Begriffsbestimmung des Seelenlebens im Gegensatz zur Körperwelt handelt, nicht aus. Es läßt sich überhaupt nicht ohne weiteres eindeutig angeben, worin das Material der Psychologie besteht. Ihrem Wortlaut nach handelt diese Wissenschaft von der Seele, aber von „Seelen“ weiß die heutige Psychologie, soweit sie eine empirische Wissenschaft ist, nichts, denn Seelen sind uns niemals in der Art wie Körper in der Erfahrung gegeben. Sie kennt vielmehr nur sogenannte „psychische“ oder „seelische“ Vorgänge, und so üblich auch diese Ausdrücke geworden sind, so müssen wir uns doch klar machen, daß, wenn die Seele etwas Unbekanntes ist, die davon abgeleiteten Wörter seelisch oder psychisch ebenfalls nichts als bloße Namen sein können, die in keiner Weise den Begriff der darunter fallenden Vorgänge inhaltlich angeben. Avenarius55 hat daher durchaus recht, wenn er sagt: „der Ausdruck psychisch ist rein konventionell; an sich selbst ist er nach der Elimination der Seele nichtssagend.“ | Nun wissen wir zwar, falls wir unser Urteil nicht irgendwelchen Theorien zuliebe gänzlich getrübt haben, genau, daß, wo jemand von einem „Begehren“ oder von einem „Schmerz“ spricht, er damit etwas meint, das nicht ein Körper ist. Wir zweifeln ferner auch nicht daran, daß es eine Fülle von realen Vorgängen gibt, die ebenso wie das Begehren oder der Schmerz sich von jedem körperlichen Vorgang in unzweideutiger Weise unterscheiden lassen und zugleich im Gegensatze zu allen Körpern etwas Gemeinsames haben. Worin aber dieses Gemeinsame der verschiedenen sogenannten psychischen Vorgänge, und worin sein Unterschied von dem allem körperlichen Sein Gemeinsamen besteht, darüber gehen die Meinungen auseinander, und jedenfalls gibt es keine von allen anerkannte Begriffsbestimmung des Psychischen, die wir einer Untersuchung über die Begriffsbildung der Psychologie zugrunde legen könnten. Auch wir denken hier nicht daran, eine solche Definition zu versuchen, aber wir müssen aus den angeführten Gründen zu der Frage, was eigentlich das reale Seelenleben sei, wenigstens so weit Stellung nehmen, als notwendig ist, um nachzuweisen, daß gewisse U n t e r s c h i e d e zwischen physischen und psychischen Vorgängen, die eine gemeinsame Methode der wissenschaftlichen Behandlung, insbesondere eine im l o g i s c h e n Sinne n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e Begriffsbildung in der Psychologie unmöglich machen würden, mit Unrecht behauptet worden sind. 55

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Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie I. [In:] Vierteljahrsschrift für wiss. Philosophie. Bd. XVIII, 1894, S. 141.

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Im wesentlichen können wir uns dabei auf die Klarlegung e i n e s entscheidenden Punktes beschränken. Es stützen sich nämlich die Ansichten von der Unmöglichkeit einer naturwissenschaftlichen Psychologie nicht selten auf die Behauptung, daß das psychische Sein dem erkennenden Subjekte u n m i t t e l b a r e r gegeben sei als die Körperwelt, und zwar wird diese Ansicht gerade dort vertreten, wo der Gegensatz von Natur und Geist als maßgebend für die Gliederung der Wissenschaften und für die Eigentümlichkeiten ihrer Methode gilt. In den Naturwissenschaften sind uns, sagt z. B. Dilthey,56 „die Tatsachen von außen, durch die Sinne, als Phänomene und einzeln gegeben“, wogegen sie in den Geisteswissenschaften „von innen, als Realitäten und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten“. Auch die Gedanken von Wundt, der seiner wissenschaftlichen Haltung nach | sonst von Dilthey weit entfernt ist, bewegen sich in einer ähnlichen Richtung. Er stellt der Naturwissenschaft die Aufgabe, die „Objekte“ zu untersuchen, wobei sie von dem „Subjekte“ zu abstrahieren habe, und meint, daß deshalb „ihre Erkenntnisweise eine mittelbare und ... abstrakt begriffliche“ sei. Die Psychologie dagegen hebe diese Abstraktion wieder auf, „um die Erfahrung in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit zu untersuchen“. Ihre Erkenntnisweise sei demnach „im Gegensatz zu derjenigen der Naturwissenschaft eine unmittelbare und ... anschauliche“.57 Es bedarf keiner Auseinandersetzung, weshalb gerade diese und ähnliche Ansichten hier für uns von Bedeutung sind. Wenn sie richtig wären, müßten wir in der Tat einen prinzipiellen Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychologie mit Rücksicht auf die logische Struktur ihrer Begriffsbildung machen, denn wir haben ja zu zeigen versucht, daß eine begriffliche Erkenntnisweise, die man als u n m i t t e l b a r und a n s c h a u l i c h bezeichnen kann, in den Naturwissenschaften von der Körperwelt n i c h t angewendet wird. Ist es, so müssen wir also fragen, richtig, daß die Psychologie das wirkliche, in der Zeit ablaufende empirische Seelenleben in der Weise „unmittelbar“ und „anschaulich“ zu erkennen hat, daß ihre Begriffsbildung in einen l o g i s c h e n Gegensatz zur Begriffsbildung der Naturwissenschaften zu bringen ist? Wir sind weit davon entfernt, zu leugnen, daß den Ausführungen, zu denen wir hier Stellung zu nehmen haben, ein berechtigter Gedanke insofern zugrunde liegt, als eine nach naturwissenschaftlicher Methode betriebe56

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Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Sitzungsberichte der königl. preußischen Akademie der Wiss. 1894, S. 1313. Aehnliche Gedanken durchziehen diese und andere Abhandlungen Diltheys. Wu n d t , Ueber die Definition der Psychologie, 1896. [In:] Philosophische Studien, Bd. XII, S. 11 f. Vgl. auch: Logik, 3. Aufl., Bd. III, 1908.

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ne Psychologie in der Tat außerstande sein würde, uns das zu leisten, was wir von einer Wissenschaft verlangen müssen, die Grundlage der h i s t o r i s c h e n Disziplinen sein soll, ja wir wollen selbst später zu zeigen suchen, warum eine methodisch naturwissenschaftlich verfahrende Psychologie solcher Aufgabe, die man ihr stellen zu müssen glaubt, nicht gewachsen sein kann. Aber damit scheint uns noch gar nicht bewiesen zu sein, daß das S e e l e n l e b e n als s o l c h e s sich der im logischen Sinne naturwissenschaftlichen Begriffsbildung entzieht, solange man darunter nichts anderes als eine empirische zeitliche Realität versteht. Es sind vielmehr die Fragen nach der Methode der P s y c h o l o g i e und nach der Bedeutung dieser Wissenschaft für eine Grundlegung der „Geisteswissenschaften“, also auch der G e - | s c h i c h t e , sorgfältig voneinander zu trennen. Wir müssen die Begriffsbildung der Psychologie zunächst ganz o h n e Rücksicht darauf untersuchen, was diese Wissenschaft für die sogenannten Geisteswissenschaften zu leisten imstande ist. Nur so wird sich ein unbefangenes Urteil über sie gewinnen lassen, und wir haben zu einer solchen Trennung der Probleme um so mehr Veranlassung, als die fast allgemein gemachte und, wie es scheint, als selbstverständlich geltende Voraussetzung, die Psychologie müsse die Grundlage für die h i s t o r i s c h e n Wissenschaften sein, gerade das Dogma ist, das wir hier in F r a g e stellen wollen. Unterscheidet sich das reale psychische Sein, das wir alle kennen, als solches wirklich in einer für die Logik der Begriffsbildung bedeutsamen Weise von der Körperwelt? Insbesondere: ist es unmittelbarer gegeben als diese, und wird deshalb die Art seiner begrifflichen Bearbeitung eine andere sein? Man kann versuchen, die Bejahung dieser Frage so zu begründen, daß man sagt: Während das Material der Naturwissenschaften aus einer Welt von O b j e k t e n besteht, die als etwas Fremdes an das Subjekt herantreten, hat es die Psychologie im Gegensatz dazu mit dem unmittelbar bekannten S u b j e k t selbst zu tun. Diese Entgegensetzung von Subjekt und Objekt ist jedenfalls nicht direkt falsch, denn die „Seele“, d. h. den Inbegriff der psychischen Vorgänge, darf man sehr wohl im Gegensatz zu den körperlichen Objekten ein „Subjekt“ nennen. So unbedenklich eine solche Terminologie aber auch sein mag, so nichtssagend ist sie zugleich unter logischen Gesichtspunkten, falls man nicht genau anzugeben vermag, in welcher Bedeutung man in diesem Zusammenhange die Wörter „Subjekt“ und „Objekt“ gebraucht. Die beiden Ausdrücke sind sehr vieldeutig, und nicht auf jede ihrer Bedeutungen läßt die Begründung eines methodologischen Unterschiedes in der wissenschaftlichen Begriffsbildung sich stützen. Ja, wir meinen, daß die Ansichten, denen wir hier entgegentreten, im wesentlichen auf einer Unklarheit über die Begriffe von Subjekt und Objekt und über ihr Verhältnis zueinander beruhen. Wir müssen daher, um über die l o g i s c h e

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Tragweite des angedeuteten Unterschiedes zwischen Naturwissenschaft und Psychologie ins klare zu kommen, auf die verschiedenen Bedeutungen der Wörter „Subjekt“ und „Objekt“ etwas näher eingehen. Daß Erörterungen dieser Art notwendig sind, wo es sich um die Feststellung des M a t e r i a l s einer empirischen Wissenschaft handelt, kann auffallen. Im vorigen Kapitel haben wir jede erkenntnistheore- | tische Deutung des realen Seins der Körperwelt abgelehnt und, um unsere Untersuchungen möglichst einfach zu machen, an der Vermeidung solcher Deutungen bisher absichtlich festgehalten. Vielleicht wird man schon aus dem Umstande, daß das in diesem Zusammenhange nicht mehr möglich ist, einen prinzipiellen Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychologie herleiten wollen. Doch ist dabei zunächst zu bedenken, daß die Psychologie erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit anfängt, sich als empirische Spezialwissenschaft von der Philosophie loszulösen, und daß man sich daher nicht wundern darf, wenn in ihr philosophische und erkenntnistheoretische Elemente noch eine größere Rolle spielen als in den Wissenschaften von der Körperwelt, für die sich der Prozeß der Loslösung zum größten Teile längst vollzogen hat. Darüber, was der empirisch-psychologischen Behandlung zugänglich, ja darüber, was ein w i r k l i c h e r p s y c h i s c h e r Vo r g a n g ist, herrscht heute noch große Unklarheit. Wir mußten schon früher dem Irrtum vorbeugen, daß die „Bedeutung“ eines Wortes oder der logische „Gehalt“ eines Urteils, der von mehreren Individuen als d e r s e l b e verstanden wird, eine psychische Wirklichkeit sein könne, wie viele es für selbstverständlich halten. Psychisch wirklich sollten nur solche Vorgänge genannt werden, die in dem nicht-körperlichen Leben e i n z e l n e r I n d i v i d u e n als Realitäten zeitlich ablaufen. Sonst verliert der Begriff einer psychischen „Wirklichkeit“ jeden klaren Sinn. Könnte man daher z. B. zeigen, daß die Bedeutung eines Wortes und der logische Gehalt eines Urteils oder irgendwelche anderen „unwirklichen“ S i n n g e b i l d e sich nicht nach naturwissenschaftlicher Methode behandeln lassen, so wäre damit über die Unmöglichkeit einer naturwissenschaftlichen P s y c h o l o g i e noch nicht das geringste gesagt, denn wir dürfen eben die „Bedeutungen“ von Worten und den „Gehalt“ von Urteilen nicht zu den psychischen Wirklichkeiten zählen. Psychisch sind nur die realen Vorgänge, durch die sie gemeint oder verstanden werden. Wollte man „seelisch“ auch irreale Sinngebilde nennen und ihre Erforschung ebenfalls zu den Aufgaben der „Psychologie“ rechnen, dann würde eine Wissenschaft dieses Namens entstehen, nach deren einheitlicher Methode zu fragen, keinen rechten Sinn mehr hätte. Daß wirkliche und unwirkliche Gegenstände nach demselben Verfahren zu untersuchen und darzustellen sind, muß von vornherein als unwahrscheinlich gelten. Ja, auch abgesehen davon, brauchen wir jedenfalls Klarheit über die logische Struktur der Darstellung des see-

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lisch wirklichen Lebens, wie es in der Zeit abläuft, denn die Geschichte nennt man | doch wohl meist deshalb eine „Geisteswissenschaft“, weil man glaubt, daß ihr Stoff zeitlich verlaufendes psychisches Wirkliches sei. Schon aus diesen Erwägungen wird deutlich, warum das Gebiet der empirischen Psychologie erst ausdrücklich abgesteckt werden muß, falls man über die Methode ihrer Begriffsbildung zur Klarheit kommen will, und die erkenntnistheoretischen Ueberlegungen, die diesem Zwecke dienen sollen, müssen hier um so unbedenklicher erscheinen, als sie nur einige störende metaphysische Behauptungen und Ueberreste veralteter Philosopheme zu beseitigen haben, von denen nicht so sehr die moderne Psychologie selbst, wohl aber ihre Methodenlehre sich noch immer nicht ganz frei gemacht hat. Abgesehen davon dürfen wir sagen, daß ein p r i n z i p i e l l e r Unterschied in bezug auf die Notwendigkeit erkenntnistheoretischer Untersuchungen für die Psychologie einerseits und die Körperwissenschaften andererseits nicht besteht. Auch in den Körperwissenschaften finden wir Gebiete, in denen der Mangel an erkenntnistheoretischen Ueberlegungen nicht nur die hier ziemlich harmlose Metaphysik des Materialismus gedeihen läßt, sondern ebenso wie in der Psychologie zu durchaus störenden und verwirrenden metaphysischen Behauptungen führt. Das ist besonders dann der Fall, wenn es sich um die letzten und abschließenden Fragen nach der allgemeinen Natur der Körperwelt handelt. So ist uns z. B. in Ostwalds „Energetik“ der Gedanke begegnet, daß wir von materiellen Dingen nichts wüßten, sondern immer nur die Energie „fühlten“. Diese Meinung wird dort allein entstehen, wo es an erkenntnistheoretischer Klarheit fehlt, und zwar handelt es sich dabei im wesentlichen um dieselben Begriffe, die wir auch hier erörtern wollen, nämlich um die Begriffe von Subjekt und Objekt. Sind also sogar in den Wissenschaften von der Körperwelt zuweilen erkenntnistheoretische Ueberlegungen unentbehrlich, damit aus der Naturwissenschaft nicht wie bei Ostwald eine spiritualistische Metaphysik wird, so darf es gewiß nicht auffallen, wenn wir in Untersuchungen über das Verhältnis des Psychischen zum Physischen ohne sie nicht auskommen. Endlich, und das ist das Wichtigste, wird sich ergeben, daß auch der Begriff der Körperwelt lediglich so lange selbstverständlich und eindeutig ist, als man sein Verhältnis zum Begriff des Seelenlebens nicht berücksichtigt, daß dagegen, sobald dies geschieht, das körperliche Sein nicht selten mit Eigenschaften ausgestattet wird, von denen die empirischen Wissenschaften nichts wissen. Wir werden uns im folgenden daher ebenso bemühen müssen, den Begriff der realen Körperwelt vor | falschen Auffassungen zu schützen wie den des wirklichen Seelenlebens davon frei zu halten, ja, es wird die erste Aufgabe sogar die schwierigere sein. So, sehen wir, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychologie mit Rück-

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sicht auf ihr Verhältnis zur Erkenntnistheorie in keiner Weise. Daß wir die erkenntnistheoretischen Ueberlegungen im ersten Kapitel entbehren konnten, lag allein daran, daß wir gar nicht an das Verhältnis der Körperwelt zum Seelenleben zu denken brauchten. Bei einer Klarlegung der verschiedenen Bedeutungen, die die Worte Subjekt und Objekt haben, achten wir vor allem auf drei Begriffspaare, deren Verwechslung miteinander schon in vielen Fällen die Quelle zahlreicher Irrtümer geworden ist.58 Subjekt wird erstens der b e s e e l t e K ö r p e r genannt im Gegensatz zu der ihn r ä u m l i c h umgebenden Außenwelt. Ferner kann das Wort die S e e l e a l l e i n bezeichnen, im Gegensatz zu dem Körper, zu dem sie gehört. Und drittens nennt man endlich Subjekt auch das B e w u ß t s e i n , das bei Kant als „Bewußtsein überhaupt“ oder als „transzendentale Apperzeption“ in erkenntnistheoretischem Zusammenhang eine Rolle spielt, das Bewußtsein, das die ganze „immanente“, körperliche u n d seelische Welt umfaßt, und zu dem dann Objekte, die „nicht bewußt“ im Sinne von „transzendent“ sind, in Gegensatz gebracht werden. Welcher dieser drei Subjektbegriffe darf mit dem Material der empirischen Psychologie, d. h. mit den „psychischen“ Vorgängen gleichgesetzt werden, wie sie als erfahrbare Realitäten in der Zeit ablaufen? Daß der beseelte K ö r p e r nicht das Subjekt sein kann, das Gegenstand der Psychologie ist, sollte sich von selbst verstehen, und die Ausscheidung dieses Subjektbegriffes wird jedenfalls keine prinzipiellen Schwierigkeiten machen. Trotzdem müssen wir auf den Gegensatz, in dem der beseelte Körper zu der ihn räumlich umgebenden Außenwelt steht, mit ein paar Worten eingehen, denn auch er spielt in den Begriffsbestimmungen des Psychischen eine nicht unwesentliche Rolle. Nicht immer ist man sich nämlich darüber klar, daß in einer empirischen Wissenschaft das Wort „Seele“ nur als zusammenfassender Name für die psychischen Vorgänge gebraucht werden darf. Es wird vielmehr die Seele nicht selten als ein Ding gedacht, das wie ein Körper einen bestimmten Ort im Raume einnimmt, und zwar soll sie sich i n n e r h a l b des Körpers befinden, der für beseelt gilt. Im Gegensatz zu einer | r ä u m l i c h e n Seele kann man dann die den beseelten Körper umgebenden Dinge die A u ß e n w e l t nennen und zu ihr natürlich auch die fremden beseelten Körper zählen. Da nun ferner aber der eigene Körper vom örtlichen Standpunkte fremder Seelen ebenfalls als „Außenwelt“ zu betrachten ist, so überträgt sich der Name Außenwelt schließlich auf alle K ö r p e r überhaupt. Die Seelen allein bleiben unter dieser Voraussetzung im Gegensatz zur Außenwelt das „Innere“, und die Bezeichnung des Seelenlebens als der I n n e n w e l t gewinnt so einen guten Sinn. 58

Vgl. zu dem Folgenden meine Schrift: Der Gegenstand der Erkenntnis, 6. Aufl. 1928.

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Heute jedoch hat es die empirische Psychologie aufgegeben, von einem Seelending zu reden, das räumlich innerhalb des Körpers existiert, und damit ist implicite ausgeschlossen, daß wir das Psychische räumlich an einen bestimmten Ort innerhalb eines Raumteiles verlegen. Die Voraussetzungen, die den Gegensatz von Körper und Seele mit dem von „Außenwelt“ und „Innenwelt“ zusammenfallen lassen und dieser Identifizierung allein einen verständlichen Sinn verleihen, sind somit alle verschwunden. Die sprachlichen Bezeichnungen haben wir trotzdem beibehalten. Die Körper werden noch immer die „Außenwelt“, das Seelenleben wird noch immer das „Innenleben“ genannt, als handle es sich dabei um den Gegensatz, in dem ein Raumteil zu den ihn umgebenden anderen Raumteilen steht. Die Sprache des täglichen Lebens bietet uns eine Fülle von Ausdrücken, deren Verwendung sich auf die Gleichsetzung der seelischen Vorgänge mit der Innenwelt zurückführen läßt. Insbesondere hat sich auch der We r t unterschied, den wir gewohnt sind, zwischen seelischem und körperlichem Sein zu machen, und der die Psychologie als empirische Wirklichkeitswissenschaft nichts angeht, auf das Innen und Außen der Dinge übertragen. Was „äußerlich“ und „oberflächlich“ ist, gilt uns wenig, und was „gründlich“ sein soll, muß „tief“ bis ins „Innere“ der Dinge vordringen. Selbstverständlich wird es keinem Verständigen einfallen, den Gebrauch solcher Bilder zu tadeln. Es würde wenig von unserer Sprache übrigbleiben, wenn wir alle die Wendungen aus ihr verbannen wollten, die, aus einer Anschauung räumlicher Verhältnisse stammend, später auch dort sich einstellen, wo nicht mehr etwas Räumliches gemeint sein kann. Ganz anders aber liegt die Sache doch, wenn es sich um die Verwendung solcher Wörter in der wissenschaftlichen Terminologie handelt und dann wie in unserem Falle die nur bildlich gemeinte Ausdrucksweise gerade durch ihren Nebensinn großen Einfluß auf die wissenschaftlichen Theorien bekommt, so daß Ansichten entstehen, | als gebe es nicht nur eine Körperwelt draußen und ein Seelenleben drinnen, sondern außerdem noch zwei ganz verschiedene „Sinne“, um etwas von diesen beiden Welten zu erfahren. Durch den „äußeren Sinn“ sollen wir von den Körpern, durch den „inneren Sinn“ von dem Seelenleben wissen. Ja, schließlich begegnen uns die Ausdrücke äußere und innere Erfahrung zur Bezeichnung des Unterschiedes von Physisch und Psychisch in wichtigen und entscheidenden Gedankengängen philosophischer Schriften. Dadurch erhält die Terminologie eine Bedeutung, die ihr unter keinen Umständen zugestanden werden darf. Man ist in Gefahr, zu vergessen, daß man in B i l d e r n redet, und mit aller Entschiedenheit müssen wir demgegenüber daran festhalten, daß die Termini Innenwelt und Außenwelt einen eigentlichen und sachlich zutreffenden Sinn allein dann haben, wenn sie auf zwei verschiedene Teile der räumlichen Welt bezogen werden. Gerade diese Bedeu-

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tung aber kann n i c h t gemeint sein, sondern ist vielmehr sorgfältig zu vermeiden, wo mit dem Worte „Innenwelt“ das Seelenleben im G e g e n s a t z zur Körperwelt bezeichnet wird. Wäre es daher nicht am besten, in logischen und psychologischen Untersuchungen den Terminus Innenwelt für das Seelenleben überhaupt nicht zu verwenden und damit zugleich die Unterscheidung der beiden verschiedenen „Sinne“ und Arten des Erfahrens fallen zu lassen? Gewiß hat es einen guten Sinn, das seelische Leben in einen besonders engen Zusammenhang mit d e n körperlichen Vorgängen zu bringen, die sich unter der Haut des Menschen in seinen inneren Organen abspielen, aber auch unter dieser Voraussetzung ist das Seelische doch höchstens das vom Innern „Abhängige“ und niemals das Innere selbst. Halten wir also daran fest, daß das I n n e r e des Menschen sein Gehirn, seine Nerven, seine Muskeln, seine Eingeweide sind, aber nicht sein Seelenleben, und machen wir uns klar, daß der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der den beseelten Leib und die ihn räumlich umgebende Außenwelt bezeichnet, für die Unterscheidung des psychischen vom physischen Leben ohne sachliche Bedeutung bleiben muß. Er darf eine Rolle nur in der physiologischen Psychologie oder in der Psychophysik spielen, wo ausdrücklich die Beziehungen der körperlichen und der seelischen Vorgänge zueinander in Betracht gezogen werden. Wir wollen daher das Subjekt in diesem Sinne als das p s y c h o p h y s i s c h e bezeichnen, um es von dem psychologischen Subjekt zu unterscheiden, das Gegenstand der Psychologie ist. | Auf jeden Fall werden wir, falls Psychologie und Körperwissenschaft dadurch voneinander getrennt werden sollen, daß die Körper uns „von außen“, die psychischen Vorgänge dagegen „von innen“ gegeben seien, nicht anzuerkennen brauchen, daß auf Grund solcher Unterscheidung irgendwelche Gegensätze in den M e t h o d e n der beiden Wissenschaften angenommen werden dürfen. Es ist vielmehr logisch bedeutungslos, wenn versichert wird, die Psychologie und die Geisteswissenschaften hätten es mit dem Innenleben, die Körperwissenschaften dagegen mit der Außenwelt zu tun.59 In den meisten Fällen wird übrigens mit der Unterscheidung von Außenund Innenwelt auch wohl nur gemeint, daß das Psychische uns u n m i t t e l b a r e r gegeben sei als das Physische, und über die Berechtigung dieser Unterscheidung ist durch die Ablehnung des Gegensatzes von Innen- und Außenwelt noch nichts gesagt. Wir müssen uns vielmehr, um dem tieferen Sinne der hier zu erörternden Unterscheidung näher zu kommen, jetzt dem an dritter Stelle genannten Subjektbegriffe und seinem Verhältnis zum Material der Psychologie zuwenden, nämlich dem Begriffe des Subjekts als 59

Auch über den Begriff des „Inneren“ als des Gegenstandes der Psychologie finden sich bei Av e n a r i u s (a a. O. S. 150 ff.) treffende Bemerkungen.

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des „ B e w u ß t s e i n s “. Es gilt, auch diesen Subjektbegriff von dem des Seelenlebens zu trennen, mit dem er nicht selten gleichgesetzt wird. Die beseelten Wesen, so sagt man, haben Bewußtsein oder sind bewußt im Gegensatze zu den unbewußten und daher seelenlosen Körpern. Die Entstehung des Seelenlebens wird dementsprechend als identisch mit der Entstehung des Bewußtseins angesehen. Ist dagegen ein Wesen bewußtlos, so empfindet, will, fühlt es auch nicht, d. h. es ist kein seelisches Leben mehr vorhanden. Beim Schlaf verläßt das Bewußtsein den Menschen, dann schläft auch die Seele, und wenn beim Tode das Bewußtsein für immer entwichen ist, dann kommt auch das Seelenleben niemals wieder. Aus allen diesen Sätzen geht deutlich hervor, daß es dem Sprachgebrauch durchaus entspricht, Bewußtsein und Seele einander gleichzusetzen, und wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn das seelische Leben nicht selten geradezu als Bewußtseinsvorgang d e f i n i e r t wird. Auch wir wollen zunächst einmal diese Definition als berechtigt gelten lassen und zusehen, was daraus für unser Problem folgt. Auf keinen Fall kann bestritten werden, daß das Wort Bewußtsein zur Begriffsbestimmung des Psychischen in e i n e r Hinsicht brauchbarer ist als das Wort Innenleben. Während nämlich dieses, falls es | nicht auf einen Raumteil angewendet wird, gar keine eigentliche Bedeutung mehr hat, verstehen wir es unter allen Umständen, wenn wir das Psychische als Bewußtsein bezeichnet hören. Zwar vermögen wir vielleicht nicht näher anzugeben, was das Wort bedeutet, aber wir sind doch sicher, daß jeder weiß, was wir damit meinen, ebenso wie dann, wenn wir etwas einen Körper nennen, und gerade dieser Umstand scheint für die Zwecke der Psychologie den Ausdruck Bewußtsein ebenso geeignet zu machen wie das Wort Körper als Namen für die nicht bewußte Wirklichkeit. Eines jedoch dürfen wir dabei nicht außer acht lassen. Dieser Begriff des Psychischen hat Konsequenzen, die weit über das Gebiet der Psychologie hinausführen. Das Wort Bewußtsein ist sozusagen weniger harmlos als das Wort Körperwelt. Die Verständlichkeit seiner Bedeutung geht nämlich so weit, daß wir es nicht mehr recht zu verstehen vermögen, wenn uns gesagt wird, es gäbe etwas, das n i c h t „im Bewußtsein“ ist. Wir kennen u n m i t t e l b a r k e i n e Wirklichkeit, die wir zum Bewußtsein in jeder Hinsicht in Gegensatz bringen können, ja, wir finden, daß a l l e s , was wir erfahren oder erleben, sich „im Bewußtsein“ abspielt. Die Körperwelt kann daher, so wie sie uns g e g e b e n ist, ebenfalls nichts anderes als Bewußtseinsinhalt sein. Daraus aber folgt, daß, wenn wir die psychischen Vorgänge als Bewußtseinsvorgänge definieren, wir sagen müssen, daß die gesamte uns unmittelbar gegebene und aus der Erfahrung bekannte Körperwelt a u c h unter den Begriff des P s y c h i s c h e n fällt.

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Haben wir das aber einmal akzeptiert, dann treibt uns die Begriffsbestimmung n o c h einen Schritt weiter. Da niemand im Ernste meinen kann, daß ein Unterschied zwischen körperlichem und seelischem Sein überhaupt nicht bestehe, d. h. daß die Körperwelt n u r ein psychischer Vorgang sei, scheint die Annahme unvermeidlich, die Körper seien m e h r als das, was wir als anschauliche Welt von räumlichen Dingen und Vorgängen unmittelbar im Bewußtsein erfahren, ja, wir müssen sogar behaupten, daß die Körper eigentlich gar nicht das s i n d , was wir von ihnen u n m i t t e l b a r kennen. Das Erfahrene oder Erlebte an ihnen ist vielmehr nur ihre „Erscheinung“ im Seelenleben, und daraus ergibt sich dann jene Auffassung von dem prinzipiellen Unterschied zwischen dem Material der Psychologie und dem der Körperwissenschaften, von der wir ausgegangen sind. Ist a l l e s unmittelbar gegebene Sein zugleich Bewußtsein und j e d e r Bewußtseinsvorgang etwas Psychisches, dann kann in der Tat n u r das Seelenleben u n m i t t e l b a r gegeben sein. | Die Gleichsetzung des psychischen Seins mit dem Bewußtsein hat uns also zu einer Unterscheidung von Seelenleben und Körperwelt geführt, die auf dem erkenntnistheoretischen Gebiete liegt, und gerade wenn wir unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten diesen Gedanken verfolgen, scheint die ausgesprochene Konsequenz unentfliehbar zu sein. Daß jedes unmittelbar gegebene Objekt, also auch die Körperwelt, soweit wir sie erfahren haben, notwendig zu denken ist in bezug auf ein Subjekt, das ist ein Satz, der in fast keiner Erkenntnistheorie ganz fehlt, und gegen den sich auch nicht viel wird einwenden lassen. Setzt man nun aber d i e s e s Subjekt, wie es üblich ist, mit dem Bewußtsein gleich, so folgt daraus auch, daß die gegebenen Körper nur f ü r ein Bewußtsein oder als Vorgänge i m Bewußtsein existieren, und wird weiter dieses Bewußtsein als identisch mit dem Seelenleben angesehen, so läßt sich die Behauptung nicht vermeiden, daß, falls die Körperwelt nicht ein psychischer Vorgang sein soll, was absurd ist, sie für uns nur als P h ä n o m e n existiert. Das seelische Leben allein ist uns dann als Bewußtseinsvorgang zugleich direkt in seiner R e a l i t ä t gegeben. Ja, noch deutlicher wird die Notwendigkeit erscheinen, das Seelenleben als Realität, die Körper dagegen, soweit wir sie unmittelbar kennen, als Phänomene gelten zu lassen, wo die Identifizierung von Subjekt, Bewußtsein und Seele in der Formulierung auftritt, daß die Körperwelt nur in m e i n e m Bewußtsein gegeben ist, oder daß i c h das Subjekt bin, auf das sie bezogen werden muß. Wenn nämlich „mein Bewußtsein“ zu aller Erfahrung gehört, dann wird nicht allein alle Erfahrung psychisch, sondern sie wird auch abhängig von m i r. Wollte ich dann das Sein der Körperwelt nicht als etwas betrachten, das mir nur „erscheint“, dessen wahre Realität also der unmittelbaren Erfahrung v e r b o r g e n ist, so würde dadurch nicht nur die

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selbständige Existenz einer Körperwelt von mir bestritten werden müssen, sondern es dürfte dann überhaupt nichts existieren als m e i n Seelenleben. Es ist bekannt, welche Rolle solche Erwägungen in der Erkenntnistheorie gespielt haben. Wer unter diesen Voraussetzungen kein anderes körperliches Sein als das unmittelbar erfahrene anerkennen will, muß dahin getrieben werden, daß der Solipsismus der Weisheit letzter Schluß ist, und wer vor solchen Absurditäten zurückschreckt, wird dann doch lieber die lediglich phänomenale Existenz der unmittelbar gegebenen Körperwelt zugestehen. Kurz, wir scheinen von verschiedenen Seiten zu der Ansicht ge- | nötigt zu werden, die, wie wir sahen, von Dilthey und Wundt vertreten wird, und wir müssen fragen: ist nicht die prinzipielle Unterscheidung des physischen und des psychischen Seins in Rücksicht auf unmittelbare Realität und Phänomenalität in mehrfacher Hinsicht wohl begründet? Wird nicht das Psychische schon von vornherein als M a t e r i a l ganz anders erfahren als das Physische? In der Tat, die angedeuteten Konsequenzen sind unentfliehbar, w e n n einmal die Voraussetzung zugestanden ist, auf der sie beruhen. Ist aber diese Vo r a u s s e t z u n g richtig? Darf das „Subjekt“, das zu allem unmittelbar gegebenen Sein notwendig gehört, und das man als Bewußtsein bezeichnen kann, d e m Subjekt und d e m Bewußtsein gleichgesetzt werden, welches das Material der empirischen Psychologie bildet? Haben wir mit andern Worten ein Recht dazu, dadurch, daß wir das Seelische mit dem Bewußtsein identifizieren, dem Seelenleben a l l e i n die Unmittelbarkeit des Gegebenseins zuzuerkennen? Solche Fragen, glauben wir, sind durchaus zu verneinen. Es läßt sich zeigen, daß noch ein dritter Subjektbegriff in diesen Gedankengängen eine Rolle spielt, der, wie schon Kants „Bewußtsein überhaupt“, das Produkt einer erkenntnistheoretischen Ueberlegung ist, und der mit dem Gegenstande der Psychologie nicht mehr zu tun hat als mit dem Material der Körperwissenschaften. Wir könnten uns hier einfach auf Kant berufen, der den metaphysischen Umdeutungen der empirischen Realität in ein psychisches Sein ein für allemal ein Ende bereitet und damit jeden dogmatischen „Idealismus“, d. h. jede spiritualistische Identifizierung der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit mit dem Seelischen, wie sie in den Ansichten Diltheys und Wundts wieder zutage tritt, bereits vernichtet hat. Aber es wird vielleicht gut sein, das, was wir meinen, unabhängig von Kant zu sagen. Wir nennen deshalb das Bewußtsein, das zu j e d e r empirischen Realität gehört, um es von den beiden andern Subjekten zu unterscheiden, das e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e S u b j e k t und suchen nun sein Verhältnis zu den andern Subjekten, besonders zum psychologischen, genau festzustellen. Dabei werden wir ein ebenso viel behandeltes wie schwieriges Problem streifen müssen, ohne jedoch näher darauf einzugehen, als für unsern Zweck

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notwendig ist. Am einfachsten kommen wir zum Ziele, wenn wir noch einmal auf den Begriff des psychophysischen Subjekts und sein Verhältnis zum psychologischen zurückgreifen und zeigen, daß zwischen dem psychologischen und dem erkenntnistheoretischen | Subjekt in gewisser Hinsicht ein analoges Verhältnis besteht wie zwischen den beiden vorher betrachteten. Fassen wir zu diesem Zwecke einmal das Subjekt als das percipiens, das Objekt dagegen als das perceptum auf. Das dürfte einer weit verbreiteten Ansicht entsprechen. Als percipiens können wir dann zunächst das psychophysische Subjekt betrachten, insofern die es räumlich umgebende Außenwelt sein perceptum ist. Als percipiens kann auch die Seele für sich allein erscheinen, im Gegensatz zu ihrem als perceptum gedachten Leibe wie zur gesamten Körperwelt überhaupt. Darin aber haben wir noch nicht alle Auffassungen, die möglich sind. Wir können nicht allein einmal unsern g e s a m t e n Leib zusammen mit der Seele als percipiens, das andere Mal dagegen n u r die Seele als percipiens und den gesamten Leib als perceptum ansehen, sondern außerdem noch verschiedene Begriffspaare von percipiens und perceptum bilden, die zwischen diesen beiden Extremen liegen. Zunächst brauche ich nur einen Te i l meines Leibes als perceptum zu denken und kann dabei einen andern Teil, zusammen mit der Seele, noch als percipiens ansehen. Ich kann ferner den Teil des Leibes, den ich zum percipiens rechne, immer k l e i n e r werden lassen und so allmählich dazu kommen, daß schließlich a l l e s Körperliche zum perceptum geworden, also nur noch das Seelische als percipiens übrig geblieben ist. Es läßt sich mit andern Worten ein schrittweiser Uebergang von einem Subjekte zum andern finden durch eine Mehrheit verschiedener Begriffspaare von Subjekt und Objekt oder percipiens und perceptum hindurch, in denen einerseits der Begriff des percipiens oder des Subjektes sich immer mehr verengert, während andererseits der Begriff des perceptum oder des Objektes einen immer größeren Umfang erhält. Von d e m psychophysischen Subjekt, das zusammen mit der Seele den g a n z e n Leib umfaßt, führt eine R e i h e von andern psychophysischen Subjektbegriffen, in denen das Physische immer kleiner wird, uns schließlich zum rein psychologischen Subjekt, das gar nichts Körperliches mehr enthält, allmählich hinüber. Der Begriff des psychologischen Subjekts läßt sich dann geradezu so definieren, daß man ihn als das Endglied oder den „Grenzbegriff“ der angegebenen Reihe von psychophysischen Subjektbegriffen bezeichnet, in der das als percipiens aufgefaßte Körperliche immer mehr verschwindet und schließlich zu nichts geworden ist. Der Gedanke dieser Reihenbildung und der damit zusammenhängenden Definition des psychologischen Subjekts ist an sich jedoch hier nicht wesentlich. Wir haben ihn nur angedeutet, um zu zeigen, daß die Reihe | mit

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dem Begriffe der Seele als des Subjekts oder des percipiens nicht abgeschlossen zu sein braucht, sondern daß man sie über das psychologische Subjekt h i n a u s in einer analogen Weise wie bisher noch weiter verfolgen kann. Wenn dies geschieht, so wird sie für uns von Interesse, denn dann muß uns der n e u e Teil der Reihe allmählich zu dem Begriffe eines Subjekts hinführen, das in derselben Weise das Endglied der Reihe von psychologischen Subjekten bildet, wie das vorher betrachtete psychologische Subjekt Endglied der dargestellten Reihe von psychophysischen Subjekten war. Wir wollen also den Begriff des erkenntnistheoretischen Subjekts ebenfalls dadurch zu definieren suchen, daß wir in ihm das Endglied oder den „Grenzbegriff“ einer R e i h e von Subjektbegriffen sehen. So werden wir ihn ebenso sicher von dem psychologischen Subjektbegriffe unterscheiden, wie wir diesen von dem psychophysischen unterscheiden konnten. Die Tatsache, von der wir dabei ausgehen, wird nicht bestritten werden. Es kann nicht allein die Seele oder das psychologische Subjekt in seiner G e s a m t h e i t als das percipiens im Gegensatze zu den Körpern oder den Objekten als dem perceptum aufgefaßt werden, sondern es läßt sich auch i n dem psychologischen Subjekt selbst ein percipiens und ein perceptum, ein Subjekt und ein Objekt unterscheiden. Könnten wir nämlich nur unsern Körper und nicht auch unser Seelenleben zu einem perceptum, zu einem Objekte machen oder es objektivieren, so würde es auch keine empirische Wissenschaft von ihm geben. Auf der Möglichkeit einer Scheidung des Seelischen selbst in percipiens und perceptum beruht die Möglichkeit einer empirischen Psychologie. Das heißt aber nicht, daß dabei percipiens und perceptum d a s s e l b e sind, denn das wäre logisch unsinnig. Selbstwahrnehmung oder Selbstbeobachtung im strengen Sinne des Wortes sind in sich widerspruchsvolle Begriffe. Das Beobachtende muß stets etwas a n d e r e s als das Beobachtete, das percipiens etwas anderes als das perceptum sein. Subjekt bleibt daher bei dem, was man Selbstwahrnehmung oder Selbstbeobachtung nennt, immer nur ein Te i l des Seelenlebens, während ein anderer Teil das Objekt bildet, welches wahrgenommen oder beobachtet wird, ebenso wie in der vorher betrachteten psychophysischen Reihe ein Teil des Leibes Objekt werden konnte, während ein anderer Teil noch zum Subjekt gehörte. Ohne diese Annahme würde es nicht verständlich, wie wir „uns selbst“ objektivieren und Psychologie als Wissenschaft treiben können. Um nun von hier aus zum Begriffe des erkenntnistheoretischen Sub- | jekts zu kommen, brauchen wir nur noch einen Schritt weiter zu gehen. Sollen wir unser g a n z e s Seelenleben kennenlernen, so muß es möglich sein, j e d e n Teil des psychologischen Subjekts auch als Objekt, als perceptum zu betrachten, oder genauer: was n i e zum Objekt in diesem Sinne zu machen ist, kann, weil es sich der empirischen Wissenschaft entzieht, auch

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nicht zu d e m Subjekt gerechnet werden, welches das Material der empirischen Psychologie bildet, und gerade dies ist der Punkt, auf den alles ankommt. Einen Uebergang zu dem von uns gesuchten dritten Subjektbegriff gewinnen wir nämlich dadurch, daß wir den Prozeß der Objektivierung des Seelenlebens ständig weiter fortgesetzt denken, so daß, während das Objekt im Seelenleben sich immer mehr vergrößert, das Psychische im Subjekt immer kleiner wird, so wie in der vorher betrachteten Reihe das Physische allmählich aus dem Subjekt verschwand. Und denken wir uns schließlich den Prozeß der Objektivierung v o l l e n d e t , oder nehmen wir an, daß das Material der Psychologie, d. h. das psychologische Subjekt g a n z zum Objekt geworden ist, was faktisch freilich nie auf einmal geschehen kann, so erhalten wir als notwendigen K o r r e l a t b e g r i f f zu d i e s e m Objekt oder als Endglied und „Grenzbegriff“ der psychologischen Subjektreihe den Begriff eines percipiens, für das a l l e s empirische Sein perceptum bildet, eines Subjekts, für das nicht nur die gesamte Körperwelt, sondern auch alles Seelenleben, das Material der empirischen Psychologie werden kann, zum Objekt geworden ist, eines Subjekts also, das seinem Begriffe nach k e i n empirisches Sein mehr enthält, weder physisches noch psychisches, daher auch niemals als empirische Wirklichkeit gedacht und vollends nicht Gegenstand einer empirischen Wissenschaft werden kann, von dem sich aber trotzdem ein genau bestimmter und eindeutiger B e g r i f f bilden läßt. Dies percipiens allein bezeichnen wir als das e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e Subjekt. Von ihm darf gesagt werden, daß die gesamte empirische Welt sein Objekt ist, und nennen wir es Bewußtsein, so müssen wir a l l e s gegebene Sein, das physische ebenso wie das psychische, als B e w u ß t s e i n s i n h a l t bezeichnen. Von dem psychologischen Subjekt aber ist dieses „Bewußtsein“ sorgfältig zu unterscheiden, denn es enthält ebensowenig Psychisches, wie das psychologische Subjekt Physisches enthält. Ja, nur deswegen, weil es n i c h t s Psychisches mehr enthält und überhaupt keine empirische Wirklichkeit mehr ist, kann es als das zur g e s a m t e n empirischen Wirklichkeit gehörende Bewußtsein angesehen werden, mit Rücksicht auf | das dann das gegebene Sein in seiner Totalität zum „Bewußtseinsinhalt“ wird. Wir haben in ihm lediglich einen erkenntnistheoretischen Formbegriff, nicht den Begriff einer stets aus Form u n d Inhalt bestehenden Realität. Oder: es ist in diesem Bewußtsein die Seite der empirischen Realität b e g r i f f l i c h a b g e l ö s t , die wir auch ihre „Bewußtheit“ nennen können, um damit die Unwirklichkeit eines abstrakt gedachten Momentes zu kennzeichnen. Dem psychologischen Subjekte eine solche Rolle zuzuerteilen, würde zum logischen Widersinn führen. Der Begriff eines Wirklichen unter anderem Wirklichen darf nie der Begriff eines allem Wirklichen, das wir kennen, gemeinsamen formalen Momentes sein.

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Im Grunde genommen ist auch dieser Gedanke des Bewußtseins als des erkenntnistheoretischen Subjektes einfach, ja selbstverständlich.60 Die Schwierigkeit, die ihm anhaftet, besteht nur darin: die Objektivierung des gesamten Seelenlebens kann nicht in der Weise vorgenommen werden, daß das erkenntnistheoretische Subjekt als eine Realität übrig bleibt, die dem psychologischen Subjekt als einer ebensolchen Realität gegenübergestellt werden dürfte, wie dies bei der Trennung des psychophysischen von dem psychologischen Subjekte möglich war. Es ist vielmehr die Trennung des psychologischen Subjekts vom erkenntnistheoretischen n u r begrifflich vollziehbar, d. h. es kann zwar j e d e r Te i l des Seelenlebens Objekt werden, aber wir dürfen nicht voraussetzen, daß alle Teile des Seelenlebens auf einmal und zu gleicher Zeit zu objektivieren sind. Es bleibt vielmehr, soweit es sich um Wirkliches handelt, ein Teil des psychologischen Subjektes immer mit dem erkenntnistheoretischen verbunden, oder das erkenntnistheoretische Subjekt tritt niemals isoliert auf, solange wir unter Subjekt eine Realität verstehen. Wir müssen, um Mißverständnissen vorzubeugen, dies mit allem Nachdruck hervorheben. Es könnte sonst nämlich die Frage auftauchen, ob wir etwa meinen, daß das erkenntnistheoretische Subjekt d a s Subjekt sei, das Psychologie treibe. Selbstverständlich wird die psychologische Untersuchung und Darstellung niemals vom erkenntnistheoretischen Subjekt geführt, sondern dazu ist immer ein psychologisches Subjekt nötig. Wenn der Psychologe „sich selbst“ beobachtet, wie man sich | auszudrücken pflegt, so beobachtet eben faktisch, wie wir bereits sagten, ein Te i l seines Seelenlebens einen a n d e r n Teil. Das beobachtende Subjekt verliert also niemals seine empirische Realität. Wir müssen zugleich aber auch betonen, daß dieser Umstand für das, worauf es uns hier ankommt, ohne Bedeutung ist. Die b e g r i f f l i c h e Scheidung des erkenntnistheoretischen vom psychologischen Subjekt bleibt unanfechtbar, und der Begriff des erkenntnistheoretischen Subjekts selbst muß wenigstens soweit klar geworden sein, daß er nicht mit den beiden andern Subjektbegriffen verwechselt werden wird. Mehr aber als dies brauchen wir für unsere Zwecke einer Zerstörung der spiritualistisch-metaphysischen Dogmen nicht. Was das erkenntnistheoretische Subjekt denn nun eigentlich „sei“, wenn es weder ein psychophysisches noch ein psychologisches Subjekt ist, ja überhaupt keine empirische Wirklichkeit haben kann, oder was wir unter der für sich gedachten Form des bewußten Wirklichen zu denken haben, das geht uns in diesem Zusammenhange weiter nichts an. 60

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Sollte ihn jemand trotzdem schwierig finden, so muß ich auf das erste Kapitel meiner Schrift über den „Gegentand der Erkenntnis“ verweisen. Dort ist (6. Aufl. S. 15–60) eingehender erörtert, was hier nur soweit zur Sprache zu kommen brauchte, als es für den Begriff des Psychischen und die Methode der Psychologie Bedeutung besitzt.

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Kehren wir nun mit dem Begriff des nicht-psychophysischen und nicht-psychologischen Subjekts oder Bewußtseins noch einmal zu der Gedankenreihe zurück, aus der sich mit Notwendigkeit zu ergeben schien, daß das Seelenleben die einzige unmittelbare Realität sei, und daß der Körperwelt eine Existenz nur als Phänomen zukomme. Zunächst, sehen wir, ist es offenbar unrichtig, dem Satze, daß alles Wirkliche nur in Rücksicht auf ein Subjekt, d. h. als Bewußtseinsinhalt existiert, die Form zu geben, daß die Körperwelt nur in m e i n e m Bewußtsein auftritt, oder daß i c h das Subjekt bin, für das allein sie vorhanden ist. In jedem empirischen Ich ist vielmehr Subjekt und Objekt oder Bewußtseinsform und Bewußtseinsinhalt zu scheiden, und alles, was zum i n d i v i d u e l l e n Ich gehört, muß im Prinzip zum Objekte gerechnet oder zum mindesten als objektivierbar gedacht werden. Das Bewußtsein im erkenntnistheoretischen Sinne enthält von m i r als einer bestimmten individuellen Person nichts, und lediglich auf dieses formale unpersönliche überindividuelle Bewußtsein darf die Körperwelt bezogen und deswegen Bewußtseinsinhalt genannt werden. Konsequenzen wie Solipsismus und dergleichen, zu deren Vermeidung die Annahme einer lediglich phänomenalen Existenz der Körperwelt als notwendig erscheinen konnte, sind damit hinfällig geworden. Das individuelle Ich ist mit d e m Bewußtsein, als dessen Inhalt die ganze empirische Welt gelten kann, so wenig identisch, daß es für dieses Subjekt lediglich ein Objekt unter andern Objekten bildet. Es ist also falsch | zu sagen, daß die unmittelbar gegebene Wirklichkeit m e i n Bewußtseinsinhalt, oder daß die Welt „meine Vorstellung“ sei, wie es mit Schopenhauer heute noch vielen als selbstverständlich gilt. Darin steckt ein metaphysisches Dogma. Ebensowenig darf aus dem Satze, nach dem jede uns bekannte Wirklichkeit ein Bewußtseinsvorgang ist, geschlossen werden, daß sie ein p s y c h i s c h e r Vorgang sei. Das Bewußtsein, von dem allein wir sagen können, daß es alle bekannte Wirklichkeit umfaßt, enthält ja, wie es von allen individuellen Bestandteilen frei ist, auch nichts Psychisches mehr. Es hat mit dem Unterschied von Psychisch und Physisch noch gar nichts zu tun, denn es ist ein Subjekt nicht im Gegensatz zu Körpern, sondern zu a l l e n empirischen Objekten überhaupt. Auch daraus, daß das erkenntnistheoretische Subjekt, das begrifflich zu jedem Gegenstande der Erfahrung gehört, immer nur zusammen mit einem Stück des individuellen Seelenlebens wirklich vorkommt, folgt keineswegs, daß alle Gegenstände der unmittelbaren Erfahrung etwas Psychisches sind. Falls endlich das Wort „Bewußtsein“ für das erkenntnistheoretische Subjekt gebraucht wird, muß man die Erfahrungswelt zwar in ihrer Gesamtheit als Bewußtseinsinhalt bezeichnen, aber das Bewußtsein ist dann eben nur der Name für alle in der Erfahrung gegebene Wirklichkeit, und wenn unter

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dieser Voraussetzung die Körper auch Bewußtseinsinhalte zu nennen sind, so hören sie darum doch durchaus nicht auf, i h r e u n m i t t e l b a r e R e a l i t ä t a l s K ö r p e r z u b e h a l t e n . Die mit der falschen Identifizierung von Bewußtheit und seelischem Leben verbundene Gleichsetzung des Psychischen mit dem „unmittelbar Gegebenen“ ist gänzlich ungerechtfertigt, und es sind daher durch die Trennung der verschiedenen Subjektbegriffe alle Gründe, Physisch und Psychisch in der Weise auseinanderzuhalten, daß das eine nur Phänomen, das andere allein Realität sei, ebenfalls fortgefallen. Das Physische und das Psychische haben wir, wie man sie auch sonst definieren mag, jedenfalls b e i d e als gleich unmittelbar „im Bewußtsein“ gegeben anzusehen. Die Definition des Psychischen a l l e i n durch den Bewußtseinsinhalt genügt nicht nur nicht, sondern sie muß zu Mißverständnissen führen, solange nicht hinzugefügt wird, daß es außer dem Psychischen noch einen andern wirklichen Bewußtseinsinhalt gibt: die Körperwelt. Das Bewußtsein kann in einer Definition des Psychischen höchstens das genus proximum sein und ihm die Stelle unter den empirischen Realitäten überhaupt anweisen. Die spezifische | Differenz muß erst gefunden werden. Die Definition des Psychischen als der Bewußtseinsvorgänge ist mit andern Worten viel zu w e i t und daher ganz ungeeignet, um das Seelische gegen die Körperwelt abzugrenzen. Alles, was aus d i e s e r Definition für den Begriff des Psychischen sich ergibt, wird vielmehr auch für den Begriff des Physischen gültig: das Physische ist ebenfalls eine unmittelbar gegebene Realität, d. h. d a s Physische, das den Körperwissenschaften als M a t e r i a l vorliegt. Ja, wir können sogar, um zu zeigen, wie wenig das Physische als nur mittelbar im Vergleiche zum Psychischen bezeichnet werden darf, noch einen Schritt weiter gehen. Wollte man überhaupt zwischen den physischen und psychischen Vorgängen mit Rücksicht darauf, daß sie mehr oder weniger unmittelbar gegeben sind, einen Unterschied machen, so würde man sagen müssen, daß die Körperwelt d e r Teil des Bewußtseinsinhaltes ist, der von a l l e n Menschen gemeinsam unmittelbar erfahren oder erlebt werden kann. Seelisches Leben dagegen ist jedem Einzelnen nur soweit unmittelbar gegeben, als es sein e i g e n e s Seelenleben bildet, und das übrige kennen wir nur m i t t e l b a r, entweder durch die Deutung von unmittelbar gegebenen körperlichen Vorgängen oder vielleicht auch, was hier nicht näher zu erörtern ist, durch das „Verständnis“ von zwar ebenfalls unmittelbar erlebten, aber nicht-psychischen, irrealen S i n n gebilden, die wir mit andern Individuen ebenso gemeinsam haben wie die Körperwelt. Eventuell ließe sich dann der Satz begründen, daß das Seelenleben das e i n z i g e Reale ist, das grundsätzlich nur zum kleinen Teil unmittelbar erlebt werden kann, während alle andern realen Objekte, im Prinzip wenigstens, allen Menschen

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gemeinsam als unmittelbare Gegebenheiten zugänglich sind. Ob sich jedoch aus diesem Umstande prinzipielle Unterschiede für die Methode der Begriffsbildung in der Psychologie im Gegensatz zu der in den Körperwissenschaften ergeben, lassen wir dahingestellt. Wir haben die Andeutung über die Ausnahmestellung des Seelenlebens allein deshalb gemacht, um zu zeigen, w i e falsch es ist, das Psychische allein mit dem unmittelbaren realen Sein zu identifizieren im Gegensatz zur Körperwelt, die uns lediglich mittelbar bekannt sein soll. Nur einen Umstand wollen wir noch erwähnen, der ebenfalls dazu beitragen kann, die Ansichten über das Verhältnis, in dem das Material der Psychologie unter logischen Gesichtspunkten zu dem Material der Naturwissenschaften steht, zu trüben, und der vielleicht gerade den Mann der empirischen Wissenschaft bisweilen in die Irre führt. | Es sollte sich von selbst verstehen, daß, wenn man im logischen Interesse feststellen will, wie der Begriff des Psychischen sich zu dem des Physischen verhält, man dabei das Physische nur so nehmen darf, wie es sich uns als noch nicht wissenschaftlich umgeformtes M a t e r i a l darbietet, ebenso wie man doch das Psychische nimmt in der Gestalt, wie es vorgefunden wird. Diese Bedingung aber ist durchaus nicht immer erfüllt. An die Stelle der Körperwelt, wie sie als empirische Wirklichkeit unmittelbar gegeben ist, tritt unwillkürlich d e r Begriff der Körperwelt, wie ihn die Naturwissenschaft mehr oder weniger bereits b e a r b e i t e t hat. Wir haben nun gesehen, wie dieser Prozeß der Bearbeitung von vornherein darauf gerichtet ist, die Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit der körperlichen Dinge und Vorgänge, die ihnen als Bewußtseinsinhalten zukommt, immer mehr zu verdrängen, so daß schließlich eine rein quantitative Welt an die Stelle der gegebenen qualitativen empirischen Realität tritt. Vergleicht man dann die naturwissenschaftliche B e g r i f f s w e l t des Mechanischen mit dem unmittelbar gegebenen r e a l e n Material der Psychologie, dann muß selbstverständlich der Anschein entstehen, als ob Physisches und Psychisches in bezug auf die Unmittelbarkeit prinzipiell voneinander verschieden wären. Daß aber ein solcher begriffsrealistischer Vergleich in der Methodenlehre unberechtigt ist, bedarf keiner näheren Begründung. Nur die wissenschaftlich noch n i c h t bearbeitete Körperwelt ist das M a t e r i a l der Naturwissenschaften, und sie allein darf mit der ebenfalls wissenschaftlich noch nicht bearbeiteten Welt des Seelenlebens verglichen werden, die das Material der Psychologie bildet. Selbstverständlich sollen unsere Ausführungen nicht alle erkenntnistheoretischen Probleme erledigen, die sich in diesem Zusammenhange aufdrängen können und müssen. So könnte man z. B. noch die Frage stellen, mit welchem Rechte wir überhaupt von einem Unterschied von Physisch und

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Psychisch reden, solange wir uns an den unmittelbar gegebenen „Bewußtseinsinhalt“ halten. Stellt nicht schon seine Spaltung in zwei verschiedene Arten des realen Seins, in die des Physischen und die des Psychischen, eine begriffliche U m f o r m u n g des unmittelbar gegebenen Materials dar, ja, liegt die Tendenz dieser Umformung nicht bereits in derselben Richtung, in der die spezifisch n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e Umformung des unmittelbar gegebenen Stoffes zu suchen ist? Geht nicht mit andern Worten der körperwissenschaftlichen Begriffsbildung eine Formung des gegebenen Inhaltes voran, ohne die es noch keinen Sinn hat, das Physische dem Psychischen entgegenzusetzen? | Die Antwort auf solche Fragen können wir in diesem Zusammenhange nicht geben, und wir brauchen es auch nicht. Es kommt uns hier ja n u r darauf an, den erkenntnistheoretischen oder besser den metaphysischen Gegensatz von Realität und Phänomenalität, von Unmittelbarkeit und Nichtunmittelbarkeit aus den Begriffsbestimmungen des Psychischen und des Physischen fernzuhalten. Sollte die Spaltung des Wirklichen in Physisches und Psychisches erst das Produkt einer begrifflichen Bearbeitung des unmittelbar Gegebenen sein und daher im unmittelbar Erlebten selbst noch keine Stelle haben, so bleiben doch diese beiden „Welten“, wenn sie einmal getrennt sind, mit Rücksicht auf die Unmittelbarkeit und Realität auf d e m s e l b e n erkenntnistheoretischen Niveau, und das allein wollten wir klarstellen. Die physische Welt ist n i c h t w e n i g e r „unmittelbar“ und in ihrer Unmittelbarkeit n i c h t w e n i g e r „real“ als die psychische Welt. Die Form, in die wir dieses Resultat gekleidet haben, enthält freilich für viele wahrscheinlich einen starken Zusatz von Paradoxie. Die Gleichsetzung der Körperwelt mit einem Teil des unmittelbaren Bewußtseinsinhaltes klingt ebenso sonderbar wie die Behauptung, daß das Psychische nicht mit dem Bewußtsein ohne weiteres identifiziert werden dürfe. Aber das Fremdartige solcher Sätze beruht nur auf der dabei verwendeten Terminologie, d. h. auf dem Umstand, daß die Ausdrücke, die wir nicht entbehren können, vieldeutig sind. Der Satz, daß das begrifflich noch unbearbeitete Material der Körperwissenschaften nicht mehr und nicht weniger unmittelbar und real ist als das begrifflich noch unbearbeitete Material der Psychologie, kann nicht mehr paradox klingen, sobald man an die Tätigkeit denkt, die die Männer der Naturwissenschaften und die Psychologen wirklich ausüben. Sie alle gehen von unmittelbar gegebenen Bewußtseinstatsachen aus und steigen von diesen allmählich zu ihren Begriffssystemen empor. Der Physiker würde ebensowenig wie der Psychologe seine wissenschaftlichen Untersuchungen b e g i n n e n können, wäre ihm sein M a t e r i a l nicht unmittelbar „im Bewußtsein“ gegeben. Jedenfalls wollen wir hier s a c h l i c h etwas im Grunde genommen Einfaches, nämlich die Behauptung der u n m i t t e l b a r e n R e a l i t ä t d e r K ö r -

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p e r w e l t zum Ausdruck bringen, die die stillschweigende Voraussetzung aller Naturwissenschaft ist, und die keine spiritualistische Metaphysik beseitigen wird. Nachdem wir einmal festgestellt haben, daß das Wort „Bewußtsein“ zwei ganz verschiedene Bedeutungen hat, nämlich einmal die Unmittelbarkeit des Seins überhaupt | und sodann das spezifisch psychische Sein bezeichnet, können wir, wo Mißverständnisse möglich sind, das Wort Bewußtsein auch vermeiden und uns auf die Abwehr der Behauptung beschränken, es besitze, weil die Erfahrungswelt ein Bewußtseinsvorgang sei, nur das Seelenleben unmittelbare Realität. Wir halten daran fest, daß das Wort „psychisch“ seinen Sinn verliert, wenn es nicht auf einen Te i l der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit beschränkt wird, und betonen, daß die unmittelbar gegebene Körperwelt das einzige M a t e r i a l der empirischen Naturwissenschaften bildet. Was man unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten als realen Bewußtseinsinhalt zu bezeichnen gewohnt ist, nennen wir, um jede spiritualistische Auffassung unmöglich zu machen, die e m p i r i s c h e W i r k l i c h k e i t . Darunter verstehen wir den uns unmittelbar gegebenen anschaulichen Inhalt, den wir alle als wirklich bezeichnen oder in der Form „Wirklichkeit“ denken. Um die Möglichkeit einer Scheidung in Realität und Phänomenalität kümmern wir uns nicht weiter, nachdem wir ihre Bedeutungslosigkeit für unser methodologisches Problem dargetan haben. Ob ihr überhaupt irgendeine Berechtigung zukommt, lassen wir dahingestellt. Es genügt, wenn wir zeigen können, weshalb durch sie jedenfalls nicht das Physische vom Psychischen getrennt werden darf. Wir finden, wenn wir wissenschaftlich zu denken beginnen, eine Wirklichkeit vor, die aus Körpern besteht und aus andern Gebilden, die wir psychisch nennen, d. h. jeder Mann der Spezialwissenschaft findet diese Wirklichkeit vor, wenn er mit seiner spezialwissenschaftlichen Erforschung der Objekte anfängt. Das allein ist in diesem Zusammenhange von Bedeutung. Von einer näheren Begriffsbestimmung des Psychischen sehen wir ab, ja, wir wollen sogar ausdrücklich hervorheben, daß dieser Begriff durch unsere Untersuchungen in keiner Weise i n h a l t l i c h bestimmt sein soll. Wir wissen, daß das Psychische ein Teil der empirischen Wirklichkeit ist so gut wie die Körper, und wir beschränken uns im übrigen darauf, zu sagen, daß als psychisch alle unmittelbar gegebenen oder erfahrenen w i r k l i c h e n Objekte zu gelten haben, die n i c h t physisch sind. Diese negative Bestimmung reicht hier aus, da wir in der e m p i r i s c h e n W i r k l i c h k e i t nur entweder physische oder psychische Realitäten kennen. Nehmen wir, um das Resultat dieser Ausführungen zusammenzufassen, endlich noch ausdrücklich Stellung zu der Formulierung, von der wir ausgegangen sind. Der Unterschied der Psychologie von der Naturwissenschaft

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sollte darin bestehen, daß das Material der einen die | Objekte sind, die als etwas Fremdes an das Subjekt herantreten, die andere es dagegen mit dem unmittelbar gegebenen Subjekt selbst zu tun hat. Wir wissen jetzt, unter welchen Bedingungen allein dieser Satz eine Bedeutung für die Logik gewinnen könnte. Versteht man unter Subjekt das psychophysische Subjekt, so wird man das „Innenleben“ prinzipiell von der „Außenwelt“ unterscheiden wollen. Denkt man an das erkenntnistheoretische Subjekt, so scheint das „Bewußtsein“ als das allein unmittelbar gegebene „Sein“ in einen Gegensatz zu der nur als „Erscheinung“ gegebenen Welt der Körper zu treten. Diese beiden Subjektbegriffe kommen jedoch, wie wir gesehen haben, für die P s y c h o l o g i e nicht in Betracht. Nicht das Subjektive als das „Innere“ ist ihr Gegenstand, denn zu dieser Behauptung hätte nur der Materialismus ein Recht, der in Vorgängen im Gehirn und Nervensystem das Seelische erblickt. Nicht das Subjektive als „Bewußtseinsinhalt“ ist Gegenstand der Psychologie, denn diese Definition setzt die gesamte empirische Realität dem Seelenleben gleich und würde allein von einem spiritualistisch-metaphysischen Standpunkt aus berechtigt sein. Außerdem müßte man als Konsequenz solcher Ansicht behaupten, daß die Psychologie die einzige Wissenschaft ist, die es mit unmittelbar gegebenem Material zu tun hat, also als die einzige empirische Wissenschaft gelten kann. Beide Begriffsbestimmungen sind aus einer metaphysischen Auffassung entsprungen und haben daher hier keine Stelle. Vielmehr darf als psychisch nur das bezeichnet werden, was wir als psychologisches Subjekt von den beiden andern Subjekten unterscheiden konnten, und was durchweg objektivierbar ist. So allein gewinnen wir einen Standpunkt, von dem aus eine Begriffsbestimmung des Psychischen für eine empirische Psychologie möglich wird. Halten wir hieran fest, dann wissen wir auch, daß der Satz, die Psychologie habe es mit „Subjekten“, die Naturwissenschaft dagegen mit „Objekten“ zu tun, soweit er richtig ist, für die logische Struktur der Begriffsbildung noch nichts bedeutet. Gewiß untersucht die Naturwissenschaft Objekte im erkenntnistheoretischen Sinn, und wenn sie Körperwissenschaft ist, so kommt auch das psychologische Subjekt für sie entweder gar nicht oder nur als etwas, wovon sie absehen muß, in Frage. Das erkenntnistheoretische Subjekt gehört zwar zum Begriff jeder empirischen Wirklichkeit, doch die Einzelwissenschaften haben auch von ihm zu abstrahieren. Ganz falsch aber wäre es, zu sagen, daß wegen dieser Abstraktion von allen Subjekten die Erkenntnisweise der Körperwissenschaft eine mittelbare und abstrakt begriffliche sei im | Gegensatz zur psychologischen Erkenntnis, die unmittelbar ihr Material erfaßt. Nicht die Ignorierung des psychologischen und nicht die Ignorierung des erkenntnistheoretischen Subjekts nötigt zur Bildung von Begriffen, die an Stelle der Anschauung treten, sondern die Grün-

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de allein, die wir im vorigen Kapitel ausführlich dargelegt haben, sind für die logische Struktur der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung maßgebend. Man kann auch körperliche Vorgänge, so wie sie anschaulich gegeben sind, in der Weise zu „beschreiben“ versuchen, daß dadurch ein anschauliches Bild von ihrer unmittelbaren individuellen Wirklichkeit entsteht und jeder Gedanke an die begriffliche Welt der Naturwissenschaft dabei ganz ferngehalten wird. Aber man kann das immer nur mit einzelnen, i n d i v i d u e l l e n Dingen und Vorgängen tun, und warum solche Beschreibungen für die Naturwissenschaft höchstens als Vorarbeiten von Bedeutung sind und selten in ihr vorkommen, haben wir gesehen. Wie verhält es sich nun mit den Subjekten in der Psychologie? Wie die Naturwissenschaft sich um das psychologische Subjekt nicht kümmert, so hat die Psychologie von den körperlichen Vorgängen abzusehen, und eine Abstraktion vom erkenntnistheoretischen Subjekt muß sie ebenfalls vornehmen, denn sonst wäre sie keine empirische Wissenschaft. Alles, was sie untersuchen soll, muß auch die Psychologie zum O b j e k t machen, und wenn die Trennung des psychologischen Materials vom erkenntnistheoretischen Subjekt schwieriger auszuführen sein mag, so ist sie darum doch nicht minder notwendig. Doch verliert durch die Abstraktion vom erkenntnistheoretischen Subjekt das Material der Psychologie ebensowenig von seiner Unmittelbarkeit wie das Material der Körperwissenschaften. Auch hier ist ein unmittelbares Erfassen einzelner individueller psychischer Objekte selbstverständlich möglich. Man kann unmittelbar erlebte psychische Wirklichkeiten in derselben Weise wie die physischen „beschreiben“, so daß dadurch anschauliche Bilder psychischer Wirklichkeiten entstehen. Ja, man kann auch fremdes Seelenleben, das auf einem Umweg bekannt wird, ebenfalls in solchen individualisierenden Beschreibungen darstellen. Soll nun aber hier die nicht-naturwissenschaftliche Art von Beschreibung einzelner Tatsachen die einzige Art der Erkenntnis sein? Soll die objektivierte Welt des Psychischen nicht vielmehr ebenso wie die objektivierte Welt des Physischen in ihrer G e s a m t h e i t untersucht und zum mindesten einer generalisierenden „Beschreibung“ nach Art der Naturwissenschaften, eventuell auch einer naturwissenschaftlichen „Erklärung“ unterzogen | werden, die für a l l e psychischen Realitäten gilt, also ebenfalls generalisierend verfahren muß? Es liegt nicht der mindeste Grund vor, diese Frage zu verneinen. Daß wir nicht unser ganzes Seelenleben auf einmal zum Objekte zu machen imstande sind, kann gewiß kein Hindernis für seine naturwissenschaftliche Bearbeitung sein, denn auch die körperliche Wirklichkeit ist niemals in ihrer Totalität zugleich erfahrbar. Nachdem wir also festgestellt haben, daß in dem M a t e r i a l der Psychologie als solchem sich nichts findet, was seine naturwissenschaftliche oder generalisierende Darstellung von vornherein als

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weniger möglich erscheinen läßt als die der Körperwelt, müssen wir uns jetzt der Frage zuwenden, ob solche Behandlung durch eine generalisierende Begriffsbildung nicht nur m ö g l i c h , sondern auch inwieweit sie n o t w e n d i g ist, falls von einer wissenschaftlichen Erkenntnis des realen Seelenlebens überhaupt soll die Rede sein können, oder falls wir voraussetzen, daß es wissenschaftliche Psychologie gibt.

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Daß zwischen den Methoden der Körperwissenschaften und denen der Psychologie erhebliche Unterschiede bestehen, wird niemand in Abrede stellen. Schon der Umstand, daß die für jede empirische Wissenschaft notwendige Objektivierung ihres Materials in der Psychologie mit Schwierigkeiten verbunden ist, welche die Wissenschaften von der Körperwelt nicht kennen, daß man ferner immer noch allzu geneigt ist, irreale Sinngebilde wie die „Bedeutung“ von Worten, den „Gehalt“ von Urteilen oder auch den ästhetischen „Gegenstand“ an Kunstwerken und Wertgebilde, die an andern Kulturgütern haften, für psychische Wirklichkeiten zu halten, obwohl sie gewiß nicht zeitlich ablaufende Vorgänge in nur einem individuellen Seelenleben sind, muß sich auch für die Methode der Psychologie mehr oder weniger geltend machen, und es ist gewiß eine interessante Aufgabe, die logischen Eigentümlichkeiten, die sich hieraus besonders für die Auffindung und Abgrenzung des von der Psychologie zu untersuchenden Materials ergeben, im einzelnen zu verfolgen. Auf diesen Teil der psychologischen Arbeit kommt es aber für uns nicht an. Wir setzen vielmehr, der wiederholt hervorgehobenen Begrenzung unserer Aufgabe entsprechend, das psychologische | Material in dem angegebenen Sinne als wissenschaftlich zugänglich und von allem Nicht-Psychologischen geschieden voraus als wirklich gegeben und fragen nach der logischen Struktur der Begriffe, mit denen die Psychologie dies Material darstellt. Daß die verschiedenen Teile der wissenschaftlichen Tätigkeit, insbesondere Untersuchung und Darstellung, gerade in dieser Wissenschaft vielleicht noch weniger als anderswo faktisch voneinander geschieden werden können, hindert uns nicht, sie begrifflich auch hier zu trennen und abgesondert voneinander zu betrachten. Wir könnten, wenn wir diesen Versuch nicht unternehmen wollten, überhaupt zu keinem für unsere Zwecke befriedigenden Ergebnis kommen. Zweifellos sind nun aber ferner auch mit Rücksicht auf die Begriffsbildung oder Darstellung der Psychologie erhebliche logische Unterschiede

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von der Begriffsbildung und Darstellung der Körperwissenschaften vorhanden. Wir wollen hier nichts weniger als eine unkritische Uebertragung der Methoden von einem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit auf ein anderes befürworten, sondern wir meinen, daß die Eigenarten der Methoden im E i n z e l n e n sich immer an den Eigenarten des zu bearbeitenden Materials zu entwickeln haben. Diese Meinung darf uns jedoch nicht hindern, zu fragen: sind die bei der begrifflichen Bearbeitung der Körperwelt und des Seelenlebens sich ergebenden logischen Unterschiede von so p r i n z i p i e l l e r Bedeutung, daß sie eine Gliederung der gesamten empirischen Wissenschaften in die zwei Hauptgruppen der Natur- und Geisteswissenschaften zu begründen vermögen, oder gibt es nicht vielmehr noch einen viel tiefer gehenden l o g i s c h e n Gegensatz der wissenschaftlichen Arbeit, im Vergleich zu dem die Unterschiede zwischen der Begriffsbildung der Körperwissenschaft und der der Psychologie so weit unwesentlich erscheinen, daß wir ein Recht haben, diese Wissenschaften unter l o g i s c h e n Gesichtspunkten als zusammengehörig anzusehen und daher von einer nach „naturwissenschaftlicher“ Methode verfahrenden Psychologie zu sprechen? Eine solche Wissenschaft würde dann unter logischen Gesichtspunkten selbst als „Naturwissenschaft“ zu bezeichnen sein. Indem wir die Frage nach dem logisch tiefergehenden Unterschiede der wissenschaftlichen Methoden vorläufig zurückschieben, versuchen wir zunächst zu zeigen, in welchen Punkten die begriffliche Bearbeitung und Darstellung des Seelenlebens mit der der Körperwelt ü b e r e i n s t i m m e n muß. Zu diesem Zwecke genügt es, wenn wir zusehen, wie weit die Ausführungen des ersten Kapitels über die begriffliche Erkennt- | nis der Körperwelt auf die Erkenntnis des realen Seelenlebens übertragen werden können. Wir haben festzustellen, daß die psychischen Vorgänge ebenso wie die physischen in einer anschaulichen Mannigfaltigkeit bestehen, und daß diese ebenso wie die der Körperwelt in doppelter Hinsicht, d. h. extensiv und intensiv, unübersehbar ist. Dies gilt gewiß, wenn wir zunächst die Gebilde in Betracht ziehen, die uns im eigenen Seelenleben direkt zugänglich sind. Wir besinnen uns, daß wir in der Vergangenheit eine unübersehbare Anzahl von verschiedenen seelischen Vorgängen erlebt haben, und wir finden ferner in jedem Augenblicke der Gegenwart eine in ihren Einzelheiten unübersehbare Fülle von psychischem Dasein vor. Kein Psychologe kann daran denken, a l l e die Wahrnehmungsakte und Erinnerungsbilder, die er gehabt, a l l e die Neigungen und Abneigungen, die er erfahren, a l l e die Schmerzen und Freuden, die ihn bewegt haben, einzeln und ausdrücklich in seine Wissenschaft aufzunehmen. Jeder Versuch, diese Gesamtheit auch nur annäherungsweise durch eine genau a b b i l d e n d e Erkenntnis zu erfassen, ist hier ebenso widersinnig und aussichtslos wie gegenüber den Körpervorgängen.

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Wer unter Erkenntnis des Seelenlebens ein vollständiges Abbild versteht, muß auf eine Erkenntnis des Ganzen, d. h. a l l e r seiner Teile jedenfalls verzichten. Und ebensowenig wie in der Naturwissenschaft von den Körpern würde auch hier ein Verzicht auf die Kenntnis a l l e r Vorgänge und die Beschränkung auf einen begrenzten Te i l von ihnen etwas ändern, denn selbst unter dieser Voraussetzung ständen wir noch vor einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit. Jedes einzelne seelische Geschehen, das wir erleben, ist, so einfach wir es auch wählen mögen, doch immer sehr kompliziert. Kein Gefühl gleicht dem andern, keine Willensäußerung wiederholt sich genau, wie sie schon einmal war, sondern jeder Vorgang hat seine Eigentümlichkeit, die nur auf einer großen Mannigfaltigkeit beruhen kann. Ja, irgendeinen psychischen Vorgang sich in allen seinen Einzelheiten so zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, daß wir sicher sein können, alles daran begriffen zu haben, ist ganz unmöglich. Bereits die Tatsache, daß jedes seelische Leben in der Zeit verläuft, beweist dies, denn jeder Vorgang macht dabei eine unübersehbar große Anzahl von verschiedenen Stadien durch, und wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß nicht auch hier überall ein heterogenes Kontinuum vorliegt, das vollständig in einen Begriff zu bringen, prinzipiell unmöglich ist. | Wenn man von psychologischer Seite hiergegen eingewendet hat, die „psychische anschauliche Mannigfaltigkeit“ sei „nichts weniger als unübersehbar“, ja, wenn diese Mannigfaltigkeit sogar „für recht beschränkt angesehen“ wird,61 oder wenn man behauptet, daß „die begriffliche Beschreibung nirgends einen anschaulichen Rest zurücklasse, der nicht selbst wieder begrifflich charakterisiert werden kann“,62 so ist dabei, wie so oft, die Mannigfaltigkeit der für eine wissenschaftliche Theorie w e s e n t l i c h e n Unterschiede mit der w i r k l i c h e n Mannigfaltigkeit des psychischen Seins selbst verwechselt, oder man muß glauben, die psychische Realität sei aus den psychologischen Begriffsinhalten zusammengesetzt wie ein Sandhaufen aus einzelnen wirklichen Körnern. Wo solche rationalistisch-metaphysischen Vorurteile herrschen, und wo man die Begriffselemente mit den Bestandteilen der Realität identifiziert, wird man zu einer Klarheit über die Fragen der Methodenlehre niemals kommen. Man muß lernen, den Inhalt der wissenschaftlichen B e g r i f f e überall, also auch in der Psychologie, von dem Inhalt der w i r k l i c h e n Bestandteile des psychologischen Materials zu scheiden, für das die Begriffe gelten sollen. Dann kann man nie die r e a l e n Bestandteile, sondern allein die irrealen B e g r i f f s e l e m e n t e für übersehbar halten. Auch mein eigenes mir unmittelbar gegebenes Seelenleben ist in 61 62

Vgl. M a r b e in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Bd. 111, S. 266 ff. M ü n s t e r b e r g , Grundzüge der Psychologie, I. 1900, S. 38.

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dem denkbar kleinsten Zeitraum gegenüber seiner begrifflichen Erfassung insofern „irrational“, als es nicht r e s t l o s in Begriffe eingeht. Also bleibt, selbst wenn wir an die Mannigfaltigkeit des fremden Seelenlebens noch gar nicht denken, das Resultat in bezug auf die Möglichkeit einer genau abbildenden Erkenntnis der Psychologie dasselbe, zu dem wir früher bei der Betrachtung der wissenschaftlichen Erkenntnis der Körperwelt gekommen waren. Das reale psychische Material ist prinzipiell unübersehbar und bedarf daher, falls es überhaupt in die Erkenntnis eingehen soll, einer vereinfachenden Umformung durch den psychologischen Begriff. Gehen wir sodann vom eigenen Seelenleben auf das fremde über, so werden wir sagen müssen, daß eine genau abbildende Erkenntnis der psychischen Mannigfaltigkeit in allen ihren Teilen noch in einem anderen Sinn unmöglich ist, als dies bei den Körpern der Fall war. Die Gesamtheit der seelischen Vorgänge aller verschiedenen Wesen ist nicht nur | in ihrer intensiven und extensiven Mannigfaltigkeit unerschöpflich, sondern es wird auch aus ihrer unübersehbaren Fülle dem einzelnen Forscher nur ein verhältnismäßig kleiner Teil als unmittelbare Anschauung direkt zugänglich, eben der, welcher sein eigenes Seelenleben bildet, und wenn wir auch manches fremde Seelenleben so unmittelbar zu kennen glauben wie das eigene, so bleibt, ganz abgesehen davon, wie weit dieser Glaube berechtigt ist, uns doch bei weitem der größte Teil aus der Gesamtheit der psychischen Vorgänge in seiner Unmittelbarkeit völlig unbekannt, d. h. er ist direkter Beobachtung prinzipiell entzogen. Das, wofür wir bei uns selbst kein Analogon finden, werden wir niemals auch nur zu erraten imstande sein, und es ist daher für die Wissenschaft als Material so gut wie nicht vorhanden. Schon aus diesem Grunde bleibt es unmöglich, in eine Psychologie, die doch nicht das individuelle Seelenleben eines einzelnen Mannes darstellen soll, die psychischen Vorgänge, so wie wir sie unmittelbar anschauen, aufzunehmen. Es könnte dabei von der extensiven psychischen Mannigfaltigkeit, sogar wenn sie nicht unübersehbar groß wäre, nur ein kleiner Teil berücksichtigt werden, und die intensive Mannigfaltigkeit dieses Teiles wäre in ihrer Eigenart ganz von der Eigenart des betreffenden Forschers abhängig, also notwendig von allem verschieden, was sonst noch in der Welt an psychischem Leben vorhanden ist. Es würde danach jeder Psychologe, gerade wenn er darauf ausginge, das ihm direkt zugängliche oder erschließbare Seelenleben in Form eines genauen Abbildes darzustellen und es auf diese Weise „unmittelbar“ zu erkennen, eine Psychologie zustande bringen, die sich von der jedes andern Psychologen notwendig unterschiede. Wir brauchen diese Gedanken nicht näher auszuführen, denn alles, was wir im ersten Kapitel für die unmittelbar gegebene Körperwelt nachgewiesen haben, muß, soweit es hier wesentlich ist, auch für die Welt der realen

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psychischen Vorgänge gelten. Es ergibt sich daraus jedenfalls, daß eine unmittelbare und anschauliche Erkenntnisweise in der Psychologie ebensowenig ausführbar ist wie in der Körperwissenschaft. Wenn daher Dilthey63 sagt: „es bedarf einer psychologischen Systematik, in welcher die ganze Inhaltlichkeit des Seelenlebens Raum findet“, so verlangt er damit etwas, dessen Verwirklichung im Interesse der sogenannten Geisteswissenschaften, insofern sie h i s t o r i s c h e Wissenschaften sind, vielleicht sehr wünschenswert wäre, aus Gründen, die uns später noch zu beschäftigen haben, er verlangt aber zugleich etwas, | das zu erreichen, prinzipiell unmöglich ist. Nur darin stimmen wir Dilthey zu, daß die naturwissenschaftlich verfahrende, generalisierende Psychologie in der Tat nicht Grundlage der „Geisteswissenschaften“ sein kann, wenigstens wo es sich um historische Wissenschaften handelt. Aber daraus folgt gar nicht, daß der Unterschied von „Natur“ und „Geist“ auch die Bedeutung eines l o g i s c h e n Gegensatzes hat, solange man dabei den Unterschied von Physisch und Psychisch ins Auge faßt. Es ergibt sich vielmehr daraus nur, daß, wenn der Historiker ein „Kenner des Seelenlebens“ sein muß, er sich dabei nicht auf eine systematische Wissenschaft vom Seelenleben stützen kann, sondern daß die „Psychologie“, die er braucht, falls man sie überhaupt so nennen will, mit d e r Psychologie, die als Wissenschaft getrieben wird, nur wenig gemeinsam hat. Bruchstücke des unmittelbar erfahrbaren oder erschließbaren Seins mögen so, wie sie hier und da in der Anschauung mannigfaltig existieren, durch eine die Phantasie anregende „Beschreibung“ wenigstens annähernd in ihrer Anschaulichkeit zu reproduzieren sein. Die Gesamtheit des Seelenlebens aber entzieht sich ebenso wie die der Körperwelt jeder Darstellung, in der ihre „ganze Inhaltlichkeit“ Raum finden soll. Sie ist prinzipiell unerschöpflich, und nicht einmal eine Annäherung an ein Ziel dieser Art ist möglich. Die Psychologie muß vielmehr auf jeden Fall eine begriffliche Umformung des ihr gegebenen Materials vornehmen, und diese Umformung kann wegen seiner extensiven und intensiven Unübersehbarkeit ebenso wie in den Körperwissenschaften nur eine Vereinfachung sein. Damit kommen wir zu der Frage, in welcher logischen R i c h t u n g solche Umformung zu geschehen hat. Zunächst berücksichtigen wir wieder nur die Mannigfaltigkeit, die dem Psychologen in seinem eigenen Seelenleben unmittelbar gegeben ist. Daß sie im Prinzip in derselben Art begriffen werden muß wie die Mannigfaltigkeit der Körper, ergibt sich, was die empirische Allgemeinheit und die Bestimmtheit der Begriffe betrifft, bereits aus den Ausführungen des ersten Kapitels. Wenn wir uns früher auch auf die Erkenntnis der Körperwelt be63

a. a. O. S. 1326.

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schränkten, so haben wir unsere Gedanken doch absichtlich, soweit es möglich war, schon dort so formuliert, daß unsere Ergebnisse für die begriffliche Erkenntnis j e d e r sinnlich anschaulichen und unübersehbaren Mannigfaltigkeit gültig sein mußten. Mit dem Nachweis, daß das Psychische ebenso wie das Physische als eine unübersehbare anschauliche Mannigfaltigkeit vorliegt, ist also bereits die Notwendigkeit einer „naturwissenschaftlichen“, d. h. generalisie- | renden Begriffsbildung in der Psychologie wenigstens zum Teil erwiesen. Soll auch nur die Totalität des eigenen Seelenlebens in eine Theorie gebracht werden, dann müssen schon bei der primitiven Beschreibung die allgemeinen Wo r t b e d e u t u n g e n so gewählt werden, daß sie die gegebene Anschauung g e n e r a l i s i e r e n d v e r e i n f a c h e n. Gewiß wird auch hier die Beschreibung stets darauf ausgehen, viel mehr aus der anschaulichen Mannigfaltigkeit zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, als der praktische Mensch davon bemerkt. Der wissenschaftlich nicht Geschulte kennt das Material, das in die psychologischen Theorien eingehen soll, oft noch gar nicht, und es ist gerade die Aufgabe des Psychologen, durch eine geschulte Selbstbeobachtung oder durch das Experiment oder durch irgendwelche andern Mittel dieses Material b e m e r k e n zu lassen. Aber wenn das geschehen ist, kann es sich niemals um eine Beschreibung des Materials handeln, die dazu anregt, eine einmalige i n d i v i d u e l l e Mannigfaltigkeit vorzustellen oder nachzuerleben. Auch hier muß die Beschreibung, falls sie im Dienste einer Erforschung des gesamten Seelenlebens stehen soll, eine „naturwissenschaftliche“ Beschreibung in dem früher angegebenen Sinne sein, d. h. mit Begriffen arbeiten, die den generalisierenden körperwissenschaftlichen Begriffen im ersten Stadium l o g i s c h g l e i c h a r t i g sind. Ferner wird sich in der Psychologie zeigen, daß die Wortbedeutungen bei dem Versuch, sich ihren Inhalt ausdrücklich zu vergegenwärtigen, wegen ihrer U n b e s t i m m t h e i t den wissenschaftlichen Zwecken der Begriffsbildung nicht genügen und daher ebenso wie in den Körperwissenschaften durch eine Umsetzung in die Form von Urteilen zu genau bestimmten Begriffen gemacht werden müssen. Diese Bestimmung, die den Begriff in das zweite Stadium überführt, ist sogar in der Psychologie meist von noch größerer Bedeutung als in den Wissenschaften von der Körperwelt. Aus Gründen, die wieder mit den Schwierigkeiten einer Objektivierung des realen psychischen Materials zusammenhängen, ist es oft schwer, die psychologischen Begriffe scharf gegeneinander abzugrenzen, und es wird daher eine wesentliche Aufgabe der Psychologie, zunächst einmal durch Begriffsbestimmung eine möglichst eindeutige Te r m i n o l o g i e zu schaffen. Auch diese Art der Begriffsbildung kann aber von der generalisierenden körperwissenschaftlichen in ihrer l o g i s c h e n Struktur nicht prinzipiell verschieden sein.

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Es ist daher jetzt, nachdem wir sowohl in bezug auf die unübersehbare Mannigfaltigkeit und ihre Ueberwindung durch die allgemeine | Wortbedeutung als auch in bezug auf die Bestimmtheit des Begriffes eine formale Uebereinstimmung zwischen Körperwissenschaft und Psychologie konstatieren konnten, nur noch mit Rücksicht auf das dritte Moment des generalisierenden körperwissenschaftlichen Begriffes, die unbedingt allgemeine G e l t u n g , eine besondere Erörterung notwendig. Da kann man nun meinen, daß die Psychologie im Gegensatz zur Körperwissenschaft niemals über eine B e s c h r e i b u n g des Seelenlebens mit Hilfe eines Systems bestimmter Begriffe hinauskomme, d. h. als bloß deskriptive Wissenschaft außerstande sei, die seelischen Vorgänge durch Unterordnung unter Gesetzesbegriffe zu „erklären“. Wir könnten zugeben, daß eine solche Behauptung zutrifft, denn selbst unter dieser Voraussetzung würde in bezug auf die logische Struktur der Begriffsbildung kein p r i n z i p i e l l e r Unterschied zwischen Körperwissenschaft und Psychologie bestehen. Die psychologischen Begriffe könnten dann zwar nicht u n b e d i n g t allgemein, wie die Gesetzesbegriffe, wohl aber in dem Sinne wie die Begriffe der deskriptiven Zoologie oder Botanik allgemein „gelten“, nämlich mit Rücksicht auf den Zweck, zu dem sie gebildet sind, das ganze Seelenleben in ein geschlossenes Begriffssystem einzufangen. Die Psychologie käme so niemals über jene Art von Vorläufigkeit hinaus, die wir bei den deskriptiven Körperwissenschaften erörtert haben. Mit dieser Einschränkung aber wäre immer noch die Begriffsbildung der Psychologie der der Körperwissenschaften insofern logisch gleichartig, als in beiden die Erkenntnis auf keinen Fall anschaulich oder unmittelbar genannt werden dürfte. Nur ein g r a d u e l l e r Unterschied der Geltung wäre zwischen beiden Arten der Darstellung anzuerkennen. Eine genauere Betrachtung jedoch zeigt, daß nicht einmal dieser Unterschied in dem Maße vorhanden ist, wie es scheinen kann, falls man die Bildung von psychologischen Gesetzesbegriffen nicht für möglich hält. Selbst wenn nämlich die Psychologie mehr als eine vollständige Klassifikation der seelischen Vorgänge nicht gäbe, wäre sie trotzdem nicht eine Wissenschaft im Sinne der deskriptiven Zoologie oder Botanik, sondern sie stünde, was die Geltung ihrer Begriffe betrifft, den erklärenden Körperwissenschaften zum mindesten n ä h e r als jene. Hier kommt für die Methodenlehre der schon einmal hervorgehobene Umstand in Betracht, daß jedem Forscher nur das eigene Seelenleben d i r e k t zugänglich ist, und zwar ergibt sich jetzt, daß dieser Umstand weit davon entfernt ist, zwischen der Begriffsbildung der Psychologie | und der der Körperwissenschaften einen prinzipiellen logischen Gegensatz zu begründen. Handelt es sich nämlich in der deskriptiven Zoologie oder Botanik um eine Klassifikation, die den Anspruch erheben darf, einigermaßen vollstän-

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dig zu sein, so ist dabei, wie wir gesehen haben, eine einmal vorhandene und in der angegebenen Weise beobachtbare Mannigfaltigkeit vorausgesetzt, die in ein Begriffssystem gebracht werden soll, und zur Erreichung dieses Zweckes sind, wie wir wissen, Begriffe von lediglich empirisch allgemeiner Geltung ausreichend. Für eine Mannigfaltigkeit von Tieren oder Pflanzen aber, die nicht direkt beobachtet werden könnte, würden die Begriffe einer bloßen Klassifikation nicht viel bedeuten. Wären z. B. auf irgendeinem andern Planeten Organismen in ein System von nur empirisch allgemeinen Begriffen gebracht, so läge, selbst wenn wir die dort Wissenschaft treibenden Wesen als uns ähnlich annehmen, kein Grund vor, zu glauben, daß dieses Begriffssystem mit dem unsrigen irgendwie übereinstimmt, während doch in den erklärenden Wissenschaften die Gesetzesbegriffe für Licht oder Schall auf allen Weltkörpern dieselben sein müssen, wo uns ähnliche Wesen überhaupt Licht und Schall kennen. Sollte also die Zoologie oder die Botanik über Organismen irgend etwas aussagen, dessen Geltung über die direkt beobachteten Tiere und Pflanzen unserer Erde hinausgeht, so müßte auch sie mehr als bloße Beschreibung und Klassifikation in dem angegebenen Sinne anstreben. In einer ähnlichen Lage wie der Zoologe oder Botaniker sich den Organismen fremder Weltkörper gegenüber befindet, würde sich aber der Psychologe gegenüber dem Seelenleben fremder Menschen befinden, falls er auf bloße Beschreibung und Klassifikation, die rein empirisch ist, beschränkt bliebe. Er könnte dann nur Begriffe bilden, deren Geltung über das direkt erfahrbare eigene Seelenleben nicht hinausreicht, und solche Begriffe hätten für die Psychologie als Wissenschaft vom Seelenleben überhaupt keinen Wert. Es soll doch auch in die sogenannte deskriptive Psychologie das den verschiedenen Seelen G e m e i n s a m e eingehen. So verstehen wir: ein Begriffssystem, das an einem kleinen Teil des Seelenlebens, dem eigenen, gebildet werden muß und doch gelten soll für eine Mannigfaltigkeit, die niemals direkt zu beobachten ist, kann nicht aus bloßen Merkmalskomplexen oder rein empirischen Gattungsbegriffen in dem früher angegebenen Sinne bestehen. Der Psychologe wird vielmehr stets danach streben, seinen Begriffen eine mehr als empirisch allgemeine Geltung zu verleihen. Welche We g e er hierzu | einzuschlagen hat, kann wieder dahingestellt bleiben, denn nur auf die logische Struktur des gewonnenen R e s u l t a t s kommt es uns an. Die Begriffe, die an dem eigenen Seelenleben gebildet sind, müssen gelten für das Seelenleben überhaupt; sonst ist eine Psychologie als Wissenschaft von dem g e s a m t e n psychischen Sein nicht möglich. Dieser Gedanke läßt sich auch so ausdrücken. Man hat gesagt, daß alle Psychologie im Grunde genommen Individualpsychologie sei,64 und das ist 64

S i g w a r t , Logik [Bd.] II, 4. Aufl., S. 200.

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richtig, weil wir auf die Beobachtung des eigenen individuellen Seelenlebens beschränkt sind, also in der Tat psychologische Begriffe immer nur Begriffe von solchen Tätigkeiten oder Vorgängen sein können, welche die Reflexion auf uns selbst wirklich entdeckt hat. Der Psychologe ist demnach, was die unmittelbare Erfahrung betrifft, zwar immer auf sich selbst angewiesen als auf dieses eine bestimmte Individuum. Aber es bleibt ebenso richtig, daß er in der Wissenschaft nicht sich selbst, sondern das Seelenleben im allgemeinen darzustellen sucht, d. h. die sogenannte „Individualpsychologie“ ist niemals Psychologie des Individuums, und es sollte daher dieser Ausdruck vielleicht besser fallen gelassen werden, da er zu Mißverständnissen führen kann. Wollte man die Erfahrung nicht in eben der Weise überschreiten, wie dies in den erklärenden Körperwissenschaften geschieht, so würde, da jedes Individuum sich von jedem andern unterscheidet, der Inhalt jeder deskriptiven Psychologie von dem jeder andern verschieden sein müssen. Betrachtet man die psychologischen Systeme unserer Zeit, so wird man allerdings vielleicht meinen, daß die Wissenschaft über diesen Zustand noch nicht sehr weit hinausgekommen ist. Als ein logisches I d e a l wird man ihn jedoch wohl nicht hinstellen wollen. Damit aber ist klar: auch die Psychologie sucht zur Allgemeinheit und Bestimmtheit ihrer Begriffe eine u n b e d i n g t e Geltung hinzuzufügen, und das heißt nichts anderes, als daß der Gehalt der psychologischen Begriffe dem Gehalt von mehr als empirisch allgemeinen Urteilen logisch äquivalent sein muß. So ist nachgewiesen, daß sowohl die Ziele der psychologischen Begriffsbildung als auch die Mittel, mit denen sie ihre Zwecke zu erreichen sucht, in formaler Hinsicht dieselben sind wie die, welche wir bei der Betrachtung der Wissenschaften von der Körperwelt kennengelernt haben, d. h. empirische Allgemeinheit, Bestimmtheit und unbedingte Geltung ihrer Begriffe strebt die Psychologie in demselben Sinne an wie die Körperwissenschaften, ja sogar die Begriffe einer scheinbar bloß deskriptiven Psychologie von empirischer | Allgemeinheit stehen wegen ihrer mehr als rein empirischen Geltung den Begriffen der erklärenden Körperwissenschaften logisch näher als die Begriffe der deskriptiven Zoologie oder Botanik denen der Mechanik oder Physik. Eine Frage haben wir jedoch bisher noch nicht berücksichtigt. Als wir von der begrifflichen Erkenntnis der Körperwelt handelten, beschränkten wir uns nicht auf die Ableitung der empirischen Allgemeinheit, der Bestimmtheit und der unbedingten Geltung, die jeder naturwissenschaftliche Begriff mehr oder weniger besitzen muß, sondern machten den Versuch, das Ideal einer a b s c h l i e ß e n d e n Theorie der Körperwelt logisch zu konstruieren. Mit Rücksicht hierauf war es dann möglich, zu zeigen, auf welchem Wege die Naturwissenschaft nicht nur relativ bestimmte und gültige

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Begriffe bilden, sondern sich einer absoluten Bestimmtheit und unbedingt allgemeinen Geltung ihrer Begriffe anzunähern vermag. Stimmt auch die logische Struktur einer „letzten“ Wissenschaft, durch die alle Probleme der allgemeinsten Psychologie zu lösen wären, mit dem logischen Ideale der letzten Körperwissenschaft überein, und ist es möglich, wenigstens die Richtung des Weges anzugeben, der in der Psychologie zur Annäherung an ein solches logisches Ideal führt? Erst die Beantwortung dieser Frage scheint unsere Untersuchung zu einem systematischen Abschluß zu bringen. Wir können uns dabei aber nicht mehr auf die Ausführungen des ersten Kapitels berufen, weil dort die logische Konstruktion der letzten Naturwissenschaft nur mit ausdrücklicher Rücksicht auf s a c h l i c h e Besonderheiten der Körperwelt, insbesondere darauf, daß es sich um eine den Raum erfüllende Wirklichkeit handelt, möglich war. Es würde also bei der Erörterung der psychologischen Idealwissenschaft und der Konstruktion eines logisch vollkommenen Begriffssystems der Psychologie auch Rücksicht auf sachliche Eigentümlichkeiten des Psychischen zu nehmen sein. Schon aus diesem Grunde müssen wir von einer solchen Idealbildung hier absehen. Es fehlt uns ein allgemein anerkannter Begriff des Psychischen, der für die Konstruktion einer „letzten“ psychologischen Disziplin inhaltlich genügend bestimmt ist. Die Psychologie ist als reine W i r k l i c h k e i t s wissenschaft noch zu wenig ausgebildet, um eine allgemeingültige logische Erörterung ihrer letzten Ziele zu ermöglichen. Es wird auch wahrscheinlich noch lange dauern, bis hier nur einigermaßen der Grad von Uebereinstimmung gewonnen ist, der in bezug auf diese Fragen in den Körperwissenschaften als erreicht angesehen | werden darf, und das hängt wieder damit zusammen, daß in der Psychologie neben psychischen Wirklichkeiten, die sie vielfach allein zu behandeln g l a u b t , tatsächlich Gebilde untersucht werden wie der irreale S i n n z. B. der wissenschaftlichen Sätze, der Kunstwerke, der ethischen Willenshandlungen usw. Deren psychologisch unfaßbarer Wert- und Geltungscharakter kann in eine Wissenschaft vom w i r k l i c h e n Seelenleben nur Verwirrung bringen, solange nicht seine Idealität oder Unwirklichkeit und damit seine Unvergleichbarkeit mit den realen, zeitlich ablaufenden psychischen Vorgängen gründlich durchschaut ist. Trotzdem wollen wir die Frage nach dem letzten Ideal der Psychologie wenigstens so weit behandeln, daß wir den Satz, diese Wissenschaft habe, soweit sie sich auf empirisch wirkliches Material beschränkt, nach naturwissenschaftlicher Methode zu verfahren, vor Mißverständnissen schützen. Das allein meinen wir: w e n n in der Psychologie ein Begriffssystem aufgestellt werden soll, welches alle realen seelischen Vorgänge zu umfassen hat, dann kann es sich in seiner l o g i s c h e n Struktur nicht prinzipiell von dem der

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Körperwissenschaft unterscheiden. Mit der Frage jedoch, o b eine „letzte“ psychologische Wissenschaft überhaupt möglich ist, haben wir es hier nicht zu tun. Nur darauf kommt es an, zu zeigen, daß, auch falls diese Frage verneint werden muß, es nicht angeht, die Begriffsbildung der Psychologie in einen prinzipiellen logischen Gegensatz zur Begriffsbildung der Körperwissenschaften zu bringen. Man darf insbesondere nicht glauben, man habe den nicht-naturwissenschaftlichen Charakter der Psychologie schon dargetan, wenn man zeigt, daß es Theorien gibt, die sich im einzelnen z u eng an die Theorien der Körperwissenschaften anlehnen und dadurch das psychische Sein in seiner Eigenart nicht zu Recht kommen lassen. Die Uebereinstimmung der logischen Struktur hat nichts mit äußerlicher Nachahmung der allgemeinsten körperwissenschaftlichen Theorie und ihrer schematischen Uebertragung auf das psychische Leben zu tun. Auf die Versuche, das psychische Leben im Zusammenhang mit den körperlichen Vorgängen, d. h. mit Hilfe physiologischer Theorien in ein geschlossenes Begriffssystem zu bringen, brauchen wir näher nicht einzugehen. Auch wo sie nicht auf dem Boden einer materialistischen Metaphysik unternommen werden, beruhen sie auf dem Gedanken, daß, weil das Psychische in irgendeiner Weise als „abhängig“ vom Physischen anzusehen ist, die für die Körperwelt festgestellte Gesetzmäßigkeit auf das Seelenleben übertragen und dieses durch eindeutige Zu- | ordnung, gewissermaßen auf einem Umwege über die Körperwelt, unter Gesetzesbegriffe gebracht und erklärt werden könne. Die Methode dieses „psychophysischen Materialismus“, wie man im Gegensatz zum metaphysischen das Prinzip solcher Forschungen genannt hat, muß, was sie auch zur Kenntnis des Seelenlebens beizutragen vermögen, einen im logischen Sinne naturwissenschaftlichen Charakter tragen, und da eine große Anzahl von Psychologen den „Parallelismus“ des Physischen und des Psychischen, wenn auch nicht als metaphysische Ueberzeugung, so doch als methodischen Leitfaden vertreten, ist hiermit bereits ein großer Teil der faktisch vorhandenen psychologischen Begriffsbildung als in seinem logischen Wesen naturwissenschaftlich oder generalisierend erwiesen. Wir brauchen daher nur noch zu fragen, wie sich eine Theorie gestaltet, die darauf ausgeht, das psychische Sein o h n e ausdrückliche Rücksicht auf seine Abhängigkeit von der Gesetzmäßigkeit des physischen Seins in einem Begriffssystem zu umfassen. Auch dabei ist von vorneherein klar, daß man sich bemühen wird, das gesamte Seelenleben unter e i n e n einheitlichen Begriff zu bringen, ebenso wie die letzte Naturwissenschaft die Körperwelt unter den einen Begriff des Mechanismus zu bringen sucht. Von „letzten Dingen“ kann zwar für die Psychologie keine Rede sein, aber Begriffe von „Elementen“, d. h. einfachen Bestandteilen des Seelenlebens wird man bilden, aus denen alle unüberseh-

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bare Mannigfaltigkeit bestehen soll. Falls sich e i n letzter Begriff von solchen Elementen nicht finden läßt, der dem letzter körperlicher Dinge entspricht, so daß sich der Parallelismus im Prinzip als undurchführbar erweist, wird man die Mehrheit der elementaren Faktoren doch so klein wie möglich, jedenfalls aber als begrenzt denken, denn erst dann kann aus Gründen, die wir aus dem ersten Kapitel bereits kennen, eine in Wahrheit a l l g e m e i n e Theorie des Seelenlebens zustande kommen, in der j e d e r psychische Vorgang seinen Platz findet. Daß es psychologische Theorien von dieser logischen Struktur gibt, läßt sich nicht bezweifeln. Schon in früheren Zeiten hat man z. B. versucht, alles Seelenleben als aus „Empfindungen“ bestehend zu denken, und neuerdings sind solche Bestrebungen wieder aufgenommen. Der Wille, so meint man, sei durchaus nichts, was sich von den Vorstellungen prinzipiell unterscheidet, sondern er müsse wie sie als ein Komplex von Empfindungen begriffen werden, und ebenso soll es sich mit den Gefühlen der Lust oder der Unlust, wie überhaupt mit allen psychischen Vorgängen, verhalten. Besonders in den „einfachen Empfin- | dungen“, von denen man redet, hätte also die Psychologie einen Begriff, der dem des „letzten Dinges“ in der Körperwissenschaft logisch entspricht, und ebenso wird auch eine Vereinheitlichung der Relationsbegriffe angestrebt: die Beziehungen, in denen die Empfindungen zueinander stehen, sollen durchweg unter den Begriff der „Assoziation“ fallen. Damit wäre dann das gesamte, unübersehbar mannigfaltige Seelenleben überall als Komplex von Empfindungen aufzufassen, die von Assoziationsgesetzen beherrscht sind. Es wäre also in allen seinen Teilen unter einen einheitlichen Begriff gebracht und somit überall als dasselbe zu denken. Freilich ist gerade die Assoziationspsychologie neuerdings etwas in Mißkredit gekommen, aber an der logischen Struktur der allgemeinen psychologischen Theorien ändert dieser Umstand nichts. Das kann man z. B. an Münsterbergs Arbeiten verfolgen. Er hatte die Assoziationspsychologie verlassen, und trotzdem blieben seine Schriften nach wie vor von dem Ideale eines psychologischen Begriffssystems geleitet, dessen logische Uebereinstimmung mit dem Ideale der mechanischen Körperauffassung in die Augen springt. Andererseits können wir hier gerade bei solchen Theorien nicht stehen bleiben, denn sie sind nicht allgemein anerkannt, und es darf nicht so aussehen, als sei der naturwissenschaftliche Charakter der Psychologie n u r dann gewahrt, wenn versucht wird, das gesamte Seelenleben aus letzten einfachen Elementen aufzubauen, die nicht mehr voneinander verschieden sind und nur noch durch ihre Anordnung voneinander abweichen. Doch haben wir nicht so sehr die Einwände im Auge, die von seiten einer vorsichtigen Spezialforschung gegen dieses Ideal erhoben werden können, denn bei einer so

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jungen Wissenschaft ist die „Vorsicht“ vielleicht nicht immer die Mutter d e r Weisheit, die zu wertvollen Hypothesen führt. Bedenklicher ist schon, daß gerade die Uebereinstimmung der logischen Struktur, die gewisse psychologische Theorien mit der Mechanik zeigen, den Verdacht erregt, hier sei doch allzu äußerlich die körperwissenschaftliche Methode auf das Seelenleben übertragen. Vor allem jedoch ist dies entscheidend: ob die Auffassung des Seelenlebens als eines Komplexes von Empfindungen oder von irgendwelchen andern Elementen wissenschaftlichen Wert hat, das kann nur die Psychologie selbst, niemals die Logik sagen. Wir sehen daher von den Theorien, die das gesamte psychische Sein als Empfindungskomplex oder ähnlich aufzufassen versuchen, hier vollständig ab. Wir können es, denn eine für unsern Zweck wesentliche Frage wird hierdurch nicht berührt. Ist die Bildung e i n e s „letzten“ psychologischen Begriffes, unter den | a l l e psychischen Vorgänge fallen, der Psychologie versagt, und bleiben z. B. die „Vorstellungen“, die „Gefühle“ und die „Willensakte“, oder auch irgendwelche andere psychische Vorgänge, als „letzte“ Arten für immer unvermittelt nebeneinander stehen, dann kommt eben die Psychologie niemals über den Zustand hinaus, in dem z. B. die Physik sich befindet, so lange sie Licht, Schall, Elektrizität usw. nicht unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen vermag, und dieser Umstand vermag den naturwissenschaftlichen Charakter der psychologischen Theorien nicht aufzuheben. Allerdings, in einer Hinsicht werden die Begriffe der Psychologie für immer sich von denen der Körperwissenschaft unterscheiden. Bei der begrifflichen Bearbeitung des Physischen kann, wie wir sahen, eine vollständige Ueberwindung aller anschaulichen Unübersehbarkeit allein dadurch erreicht werden, daß man in der letzten Naturwissenschaft jede qualitative Mannigfaltigkeit beseitigt und lediglich eine q u a n t i t a t i v e Mannigfaltigkeit einfacher Dinge beibehält, deren einzige Veränderung dann ebenfalls als rein quantitativ, nämlich als Bewegung, angesehen wird. Erst in solchem Begriffssystem ist auch die absolute Bestimmtheit der Begriffe erreichbar. Die Unmöglichkeit, in der Psychologie dies Ideal anzustreben, wird man in den Vordergrund stellen, wo es sich darum handelt, Psychologie und Naturwissenschaft voneinander zu trennen, und es läßt sich gewiß nicht leugnen, daß hier ein Unterschied besteht. Die Körper erfüllen den Raum. Abstrahieren wir von allen Qualitäten, so behalten wir immer noch den Begriff des Raumerfüllenden überhaupt übrig. Ein solches Substrat ist zwar nicht mehr empirisch anschaulich, aber der Begriff davon hat einen selbständigen Inhalt. Das Psychische dagegen erfüllt niemals einen Raum. Das ist nahezu das einzige, was wir, ohne auf Widerspruch zu stoßen, von ihm aussagen können. Insofern also bleibt das Psychische vom Physischen prinzipiell getrennt, und es ist anzunehmen, daß dieser Unterschied auch Einfluß auf die psychologische Begriffsbildung hat.

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Freilich schließt er für sich allein die Bildung von quantitativ bestimmten Begriffen in der Psychologie noch nicht aus, und so wenig praktische Bedeutung dieser Umstand haben mag, so wird es doch gut sein, ihn wenigstens mit einem Worte zu erwähnen. Nimmt das psychische Sein auch keinen Raum ein, so erfüllt es doch als Wirklichkeit immer eine Zeitstrecke, und es wäre unter rein logischen Gesichtspunkten denkbar, d. h. nicht widersinnig, daß man versuchte, alle qualitativen Unterschiede auch hier auf quantitative zeitliche Unterschiede zu- | rückzuführen, z. B. den Begriff eines psychischen Substrates zu bilden, dessen Elemente nur noch in dem Rhythmus ihres zeitlichen Ablaufes sich voneinander unterscheiden, sonst aber ebenso wie die „letzten Dinge“ der Körperwissenschaft einander gleich sind. Da jedoch noch nirgends der geringste Ansatz zu einer derartigen Theorie des Psychischen vorliegt, hat es keinen Zweck, auf solchen Gedanken näher einzugehen. Er wurde nur der systematischen Vollständigkeit wegen erwähnt. Abgesehen hiervon ist zuzugeben, daß sich nicht ersehen läßt, auf welchem Wege die Psychologie jemals die qualitativen Unterschiede aus ihren Begriffen loswerden und insofern zu einem Ideale kommen sollte, das dem der körperwissenschaftlichen Begriffsbildung gleicht. Was den Raum erfüllt, d. h. die Körperwelt, ist bisher wenigstens die einzige Wirklichkeit, bei der eine logisch vollkommene Vereinfachung durch Quantifikation als Ziel der Begriffsbildung aufgestellt werden kann. Folgt aber hieraus etwa, daß auch logisch ein prinzipieller Unterschied zwischen Körperwissenschaft und Psychologie gemacht werden muß? Das ist gewiß nicht der Fall, denn wäre die Möglichkeit einer quantifizierenden Begriffsbildung als entscheidend für die Frage anzusehen, ob eine Wissenschaft im logischen Sinne Naturwissenschaft ist, dann müßte der Begriff der Naturwissenschaft erheblich verengert werden, und zwar so, daß er auf einen großen Teil der Wissenschaften von der Körperwelt ebenfalls nicht mehr angewendet werden könnte. Eine vollkommen allgemeine Theorie der Körperwelt muß zwar auf Quantifikation ihres Materials ausgehen, und unter dem Gesichtspunkte dieses logischen Ideals sind auch die Begriffe der übrigen Wissenschaften der rein mechanischen Naturauffassung insofern unterzuordnen, als sie ihr nicht widersprechen dürfen. Ebenso entschieden aber haben wir andererseits hervorgehoben, daß die Einzelwissenschaften, die ihre Untersuchung beschränken, ihren selbständigen theoretischen Wert gegenüber der rein mechanischen Körperauffassung niemals verlieren können, ja, eine Wissenschaft von Körpern, die n u r mit Quantitäten arbeitet, würde aufhören, eine Wissenschaft von wirklichen Körpern zu sein. In vielen Naturwissenschaften spielt die Quantifikation in der Begriffsbildung überhaupt eine geringe Rolle, und zwischen diesen Disziplinen und der Psychologie besteht daher logisch kein prinzipieller Unterschied.

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Nur das eine also bleibt: die denkbar vollkommenste Vereinfachung aller anschaulichen Mannigfaltigkeit ist zwar der Psychologie versagt, aber soweit wie möglich sucht auch die Psychologie sich einer generali- | sierenden Vereinfachung ihres Materials durch die Begriffsbildung anzunähern, und auf diese Tendenz kommt es uns in diesem Zusammenhange allein an. Es genügt, wenn wir zeigen können, daß sie den Wissenschaften von der Körperwelt und den psychologischen Disziplinen gemeinsam ist. Doch damit werden sich die Gegner einer naturwissenschaftlich verfahrenden Psychologie vielleicht noch nicht zufrieden geben. Sie können darauf hinweisen, daß, wenn auch das Material der Psychologie, was seine Unmittelbarkeit betrifft, uns ebenso gegeben ist wie das Material der Physik, das Psychische doch stets in einem eigenartigen Z u s a m m e n h a n g e auftrete, den das Physische nicht kennt, und der notwendig zerstört werden muß, wo man versucht, das Psychische unter naturwissenschaftliche Begriffe zu bringen. Diesen Zusammenhang aber, wird man sagen, kann man nicht zerstören, ohne daß man dadurch das Wesen des Psychischen in seiner Eigenart überhaupt vernichtet. So wird man z. B. meinen, daß das Seelische in seiner Mannigfaltigkeit immer eine der organischen ähnliche oder mit ihr identische Einheit eines Leistungszusammenhanges zeige, und daß diese nie aufgehoben werden dürfe, falls man nicht den Charakter des Psychischen selbst aufheben wolle. Jeder Versuch, das Psychische in der Weise in seine letzten Elemente zu zerlegen oder zu „atomisieren“, wie die Naturwissenschaft das bei der Körperwelt tut, sei daher unwissenschaftlich. Es würde demnach nicht genügen, daß man in der Psychologie an qualitativen Unterschieden festhält wie in der Chemie, sondern man müßte überhaupt darauf verzichten, das Psychische anders als in seinem Zusammenhange zu begreifen, und dadurch unterschiede sich jede psychologische Theorie prinzipiell von einer Theorie der Körperwelt. Was an solchen Behauptungen richtig ist, haben wir hier in seinem ganzen Umfange nicht zu prüfen. Wir lassen es dahingestellt, ob es eine Art Einheit und Zusammenhang gibt, die das Psychische als Material der empirischen Wissenschaft prinzipiell vom Physischen unterscheidet, und wir fragen vollends nicht, worin diese Einheit besteht, ob sie mit Recht als eine der organischen verwandte oder mit ihr identische angesehen werden darf. Wir können nämlich zugeben, daß, wer die Vergleichbarkeit des Physischen mit dem Psychischen in dem angegebenen Sinne bestreitet, im Recht ist, denn an dem naturwissenschaftlichen Charakter der Psychologie, wie wir ihn verstehen, wird dadurch nichts geändert. Ja, gerade die Behauptung, daß a l l e s Seelenleben einen „organischen“ Zusammenhang oder irgendeine andere Einheit bilde, | die nie zerstört werden dürfe, weist auf den Punkt hin, auf den es ankommt. Es darf damit nicht die Einheit dieser oder jener Persön-

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lichkeit als einer bestimmten Individualität gemeint sein, denn diese oder jene bestimmte i n d i v i d u e l l e Einheit kann gerade nicht j e d e m Seelenleben zukommen. Es handelt sich also um eine allgemeine Einheitsform, die überall zu konstatieren ist, und eine solche weist nicht n u r das Psychische auf. Auch die Körperwissenschaften von den lebendigen Organismen sehen sich vor ein Material gestellt, das wegen seines „Zusammenhanges“ keine Art von Mechanisierung und Atomisierung verträgt, solange es a l s organisches Leben dargestellt werden soll. Nur i n dem Zusammenhange, in dem die Glieder eines Organismus stehen, machen sie einen Organismus aus, und die Biologie würde daher, wenn sie von diesem Zusammenhange abstrahierte, aufhören, Biologie, d. h. Wissenschaft von Organismen zu sein. Trotzdem wird man nicht bestreiten, daß diese Disziplin nach naturwissenschaftlicher, d. h. generalisierender Methode verfährt. So richtig es also auch sein mag, daß die Psychologie oft in unkritischer Weise Eigentümlichkeiten, die sich aus dem besonderen Material gewisser körperlicher Vorgänge für die Begriffsbildung ergeben, auf die Behandlung des Seelenlebens übertragen hat, sowenig kann dieser Umstand daran etwas ändern, daß die logische Struktur der psychologischen Begriffsbildung im allgemeinen mit der der körperwissenschaftlichen Begriffsbildung zusammenfällt. Die Psychologie wäre, falls sie die Zusammenhänge des Seelenlebens nicht zerstören dürfte, freilich nicht eine Naturwissenschaft in dem Sinne, wie die Physik oder die Chemie es ist, aber mit der Biologie bliebe sie dennoch auf demselben logischen Niveau. Sie würde stets darauf bedacht sein, allgemeine Begriffe zu bilden, unter die alle verschiedenen Zusammenhänge des Psychischen sich bringen lassen, ebenso wie die Biologie nach einem Begriffssystem strebt, das für alle verschiedenen biologischen „Einheiten“ gilt. Faßt man den Begriff der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nicht zu eng, sondern stellt man, wie wir es getan haben, dabei das Generalisieren in den Vordergrund, ganz unabhängig davon, ob es sich um ein Generalisieren nach Art der Physik oder der Biologie handelt, so gibt es kein Hindernis, auch von der Psychologie zu sagen, daß sie bei ihren Darstellungen logisch nach Art der Naturwissenschaft verfährt. Man muß nur hinzufügen, daß die Struktur ihrer Begriffe eventuell mehr der der biologischen als der der physikalischen Wissenschaft verwandt ist. Auf jeden Fall bleibt es ihre Aufgabe, in einem übersehbaren, geschlossenen System von all- | gemeinen Begriffen das unübersehbar mannigfaltige Seelenleben in allen seinen Teilen unterzubringen. Nur ein Punkt bedarf endlich noch einer ausdrücklichen Erörterung. In welchem Verhältnis steht die allgemeine Theorie des Seelenlebens zur Gesamtheit der psychologischen Sonderdisziplinen? Ist alle Arbeit nur auf Ausbildung der letzten Theorie gerichtet, oder gliedert sich die Forschung

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auch hier in der Weise, daß es verschiedene Teile gibt, die einer allumfassenden Theorie des Seelenlebens mehr oder weniger fernstehen? Man braucht nur die Frage zu stellen, um einzusehen, daß die logische Struktur der psychologischen Disziplinen im wesentlichen wieder mit der übereinstimmt, die wir bei den Wissenschaften von der Körperwelt kennen gelernt haben. Selbst wenn es gelungen wäre, alles Seelenleben zu begreifen als bestehend aus e i n e m einheitlichen psychischen Substrat, das überall unter denselben Gesetzen steht, würde damit eine besondere Psychologie, z. B. des Willens oder des Gefühls, sowenig ihre wissenschaftliche Bedeutung verlieren wie die Optik oder Akustik durch eine alles physische Sein umfassende Theorie des Aethers. Es behält einen guten Sinn, die Mannigfaltigkeit eines Teiles des Seelenlebens für sich in ein spezielles Begriffssystem zu bringen und den allgemeinsten Begriff, innerhalb dessen Umfang man sich dabei bewegt, einer umfassenderen psychologischen Theorie zu weiterer Bearbeitung zu überlassen. Das für besondere Gebiete Gefundene muß gültig bleiben, wie auch schließlich die umfassendste Theorie sich gestalten mag. Genau wie bei den Wissenschaften von der Körperwelt ist es also möglich, die Gesamtheit der verschiedenen psychologischen Disziplinen einerseits als ein einheitliches Ganzes zu betrachten, dessen Glieder alle dazu beitragen, das Wesen des Seelenlebens im allgemeinen zu erforschen, andererseits aber auch den verschiedenen Einzeldisziplinen, die sich beschränkte Aufgaben innerhalb eines besonderen Gebietes stellen, eine für sich bestehende theoretische Bedeutung zuzuschreiben, die sie durch keine noch so weit ausgebildete allgemeine Theorie verlieren können. Ein näheres Eingehen auf diese Gliederung unterlassen wir h i e r ebenso wie bei den Körperwissenschaften. Um ihr Prinzip völlig klarzulegen, brauchen wir nämlich den Begriff des Historischen, durch den auch erst, wie wir früher bemerkten, die logische Gliederung der Körperwissenschaften vollkommen klar werden kann. Vorläufig fassen wir das Resultat dieses Abschnittes dahin zusammen, daß die psychischen Vorgänge nicht nur eine Art der begrifflichen Bearbeitung z u l a s s e n , die der bei den Körpervorgängen anzuwen- | denden logisch prinzipiell gleicht, sondern daß für die Psychologie die im angegebenen Sinne naturwissenschaftliche Begriffsbildung auch u n e n t b e h r l i c h wird, sobald man eine Erkenntnis des ganzen Seelenlebens in allen seinen unübersehbar mannigfaltigen Teilen anstrebt. Mag die Psychologie, weil ihre Begriffe zum Inhalte immer Qualitäten haben, jene vollkommenste Form der Vereinfachung, die in der Zurückführung aller qualitativen Mannigfaltigkeit auf eine rein quantitative besteht, niemals erreichen können, mag nicht einmal auf dem Umwege über die Psychophysik indirekt eine Annäherung an diese Form der begrifflichen Bearbeitung möglich sein, die absolut bestimmte und

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absolut allgemeine Begriffe hervorbringt, so trennt dies die Psychologie doch nur von den höchsten Zielen der theoretischen Physik, nicht aber von den Zielen d e r Naturwissenschaften, die niemals in die theoretische Physik aufzugehen vermögen, wie z. B. die Biologie. Es bleibt vielmehr das Verfahren der Psychologie dem dieser Naturwissenschaften logisch durchaus gleichartig, und zwar nicht nur, wenn man in ihr eine erklärende Gesetzeswissenschaft sieht, sondern auch, wenn man sie auf eine Beschreibung der seelischen Vorgänge beschränkt. Als Gesetzeswissenschaft kann die Psychologie es vielleicht niemals weiter bringen als die Biologie, die nicht in Physik oder Chemie übergehen will. Doch ändert dies an ihrem naturwissenschaftlichen Charakter nichts. Man müßte ja sonst aus denselben Gründen sich weigern, die Biologie, die bei den Organismen als Organismen stehen bleibt, eine Naturwissenschaft zu nennen. Und ebensowenig spielt der Gegensatz zwischen erklärenden und beschreibenden Wissenschaften hier eine ausschlaggebende Rolle, da er sich für uns überhaupt als relativ dargestellt hat. Wie wenig ihm eine prinzipielle Bedeutung für die allgemeinste Gliederung der Wissenschaften zukommt, wird sich noch klarer zeigen, wenn wir im dritten Kapitel den logischen Gegensatz entwickeln, der in den methodologischen Erörterungen über Natur- und Geisteswissenschaften zwar selten ganz fehlt, aber ebenso selten zu voller begrifflicher Schärfe herausgearbeitet und in das Zentrum der Untersuchung gestellt wird. Ehe wir zu ihm übergehen, nehmen wir noch auf Grund der bisherigen Erörterungen ausdrücklich zu der Frage Stellung, welche logische Bedeutung die Begriffe Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft haben können, so lange unter „Geist“ nichts anderes als das wirkliche psychische Sein verstanden wird, das in den einzelnen Individuen zeitlich abläuft. |

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III. Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Wir versuchen zunächst, den Begriff der Naturwissenschaft in seiner logischen Bedeutung festzustellen, und gehen dabei von dem Begriff der N a t u r aus. Im Beginne der Untersuchung haben wir dies Wort als gleichbedeutend mit K ö r p e r w e l t gebraucht, aber zweifellos ist dies nicht seine einzige und jedenfalls nicht seine logische Bedeutung. Ja, es werden nicht viele geneigt sein, die völlige Gleichsetzung von Natur und Körperwelt zu billigen, denn es ist nicht einzusehen, warum nicht auch das psychische Leben zur Natur gerechnet werden soll. Wir haben hier um so mehr Veranlassung, auch nach den andern Bedeutungen des Wortes „Natur“ zu fragen, als der Begriff, wenn er nur die Körperwelt umfaßt, für eine l o g i s c h e

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Gliederung der wissenschaftlichen Methoden nicht von wesentlicher Bedeutung werden kann. Ist die Methode der Naturwissenschaften nicht auf die Körperwelt beschränkt, so hat es, falls Natur die Körperwelt bezeichnet, in der Wissenschaftslehre keinen Sinn mehr, von einer „naturwissenschaftlichen“ als der k ö r p e r wissenschaftlichen Methode zu reden. Dann wäre es besser, körperwissenschaftliche Methode und körperwissenschaftliche Begriffsbildung zu sagen, denn so würden keine Mißverständnisse darüber entstehen, was eigentlich gemeint ist. Soll der Ausdruck Naturwissenschaft als l o g i s c h e r Terminus überhaupt eine Verwendung finden, so muß das Wort Natur noch anders gebraucht werden als zur Bezeichnung des Physischen. Der Ausdruck Natur gehört, ebenso wie z. B. der Ausdruck Subjekt, zu denen, deren Bedeutung erst dann bestimmt ist, wenn man sagt, wozu sie in einem Gegensatz stehen. Wird die Natur vom Seelenleben unterschieden, so ist selbstverständlich nur die Körperwelt damit gemeint. Außer diesem Gegensatz aber sprechen wir nicht nur von Natur und Geist, sondern auch von Natur und Geschichte, Natur und Kunst, Natur und Sitte, Natur und Kultur, Natur und Gott. Ja, es ließen sich wohl noch mehr Paare finden, in denen die Natur das eine Glied bildet. Aber die genannten genügen, um uns die Vieldeutigkeit des Wortes zum Bewußtsein zu bringen. Zugleich sehen wir, daß Natur die Bedeutung des körperlichen Seins n u r dann hat, wenn sie im Gegensatz zum Seelischen steht, oder wenn „geistig“ nichts anderes als psychisch bedeutet. Man wird daher sagen müssen, daß in diesem Falle die Bedeutung un- | gebührlich verengt ist. Im Gegensatz zur Geschichte, zur Kultur, zur Kunst, zur Sitte, zu Gott usw. ist auf keinen Fall mit Natur n u r etwas Körperliches gemeint, ja vielleicht würde der Gegensatz von Natur und Geist nicht üblich sein, wenn unter „Geist“ nicht noch etwas ganz anderes verstanden werden könnte als das nicht-körperliche reale Sein. Jedenfalls gehört in den übrigen Gegensatzpaaren, auf die wir zunächst allein reflektieren wollen, da das Wort Geist eine allgemein anerkannte und bestimmte Bedeutung heute nicht hat, das bloße Seelenleben oder die psychische Wirklichkeit gerade so gut zur Natur wie die Körperwelt, und der Begriff der Natur ist also anwendbar auf a l l e der Erfahrung unmittelbar zugänglichen realen Objekte, insofern wir nur entweder psychische oder physische Vorgänge als empirische Wirklichkeiten kennen. Unter diesen Umständen ist es begreiflich, daß man unter Natur vielfach die e m p i r i s c h e W i r k l i c h k e i t ü b e r h a u p t verstanden hat. Der Gegensatz zu ihr würde dann entweder eine Wirklichkeit anderer Art als die uns unmittelbar gegebene und bekannte Sinnenwelt, oder auch etwas NichtWirkliches sein können. Doch ist dies wiederum nicht die Bedeutung, die das Wort „Natur“ im Gegensatz zu den vorher genannten Begriffen zeigt.

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Ein Werk der bildenden Kunst z. B. oder ein anderes Kulturerzeugnis ist auch ein Stück der empirischen Wirklichkeit, und man wird es trotzdem nicht Natur nennen. Als Bezeichnung für die g e s a m t e empirische Wirklichkeit hätte also das Wort Natur eine zu w e i t e Bedeutung und könnte außerdem in einer logischen Gliederung der empirischen Wissenschaften ebensowenig eine Rolle spielen wie dann, wenn es nur für die Körperwelt verwendet wird. Wir wollen ja hier zunächst lediglich die Wissenschaften von der empirischen Wirklichkeit gliedern, und sie wären dann a l l e Naturwissenschaften. Wir müssen also, falls die Worte Natur und Naturwissenschaft in einem logischen Zusammenhange, den wir auf die Gliederung der empirischen Wissenschaften beziehen, als Termini mit l o g i s c h e r Bedeutung gebraucht werden sollen, noch nach einer dritten Bedeutung des Wortes Natur suchen. Eines ist dabei von vorneherein klar. Wenn das Wort Natur, für die Körperwelt allein angewendet, eine zu enge, für die empirische Wirklichkeit überhaupt angewendet, dagegen eine zu weite Bedeutung hat, und wenn selbstverständlich seine Gleichsetzung mit dem Seelenleben oder mit der metaphysischen Realität oder dem Nicht-Wirklichen nicht in Frage kommt, so bleibt nichts anderes übrig, als daß es die empirische | Wirklichkeit unter einem bestimmten logischen G e s i c h t s p u n k t bezeichnet, wobei wir jedoch wieder davon absehen, wie weit schon die Trennung in psychische und physische Vorgänge erst unter einem bestimmten „Gesichtspunkt“ durchgeführt werden kann. Allerdings ist es nicht möglich, eine Bedeutung für das Wort zu finden, die a l l e s das umfaßt, was es in den verschiedenen angeführten Gegensätzen bezeichnet, aber in den meisten Fällen wird darunter doch die Wirklichkeit verstanden werden können unter dem Gesichtspunkt, daß sie, wie wir dies in der Einleitung bereits angedeutet haben, als ein in sich geschlossenes, von rein immanenten Gesetzen beherrschtes Sein und Geschehen betrachtet wird. Natur ist „das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist“, sagt Kant. An diese l o g i s c h e Bedeutung wollen wir anknüpfen. „Natürlich“ nennen wir im Gegensatze zur Kunst oder zur Kultur überhaupt das, was von selbst wird, also nicht „künstlich“ gemacht ist. „Natürlich“ ist ferner das, was in sich ruht und sich selbst genügt, ohne Rücksicht auf Schön und Häßlich, Gut und Böse oder irgendwelche anderen Wertpaare. So bildet die Natur denn auch den Gegensatz zu den Sitten oder zu Gott. Stets ist sie das gegensatzlos, insbesondere wertindifferent Gedachte, sich überall Gleichbleibende und immer Wiederkehrende. Wenn wir also das Wort als einen logischen Terminus in der Wissenschaftslehre gebrauchen wollen, so dürfen wir sagen, daß N a t u r d i e e m p i r i s c h e W i r k l i c h k e i t i s t mit Rücksicht auf ihren allgemeinen begrifflichen Zusam-

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m e n h a n g . Das ist dann genau dieselbe Bedeutung wie in dem Ausdruck n a t u r wissenschaftliche Methode, denn sollen die Objekte als Exemplare a l l g e m e i n e r Begriffe angesehen werden, so muß man von der verschiedenen Bedeutung, die sie mit Rücksicht auf Werte oder durch ihre Beziehung zu etwas Uebernatürlichem haben, absehen. Sonst würden sie nicht n u r Gattungsexemplare sein, von denen jedes an die Stelle jedes anderen treten könnte. Am deutlichsten zeigt sich diese Bedeutung in dem Ausdruck N a t u r g e s e t z : das Natürliche als das Natur n o t w e n d i g e ist das, was sein muß, und das zu billigen oder zu mißbilligen, daher keinen Sinn hat. Das Naturgesetz ist aber, wie wir gesehen haben, nichts anderes als die denkbar vollkommenste Form der begrifflichen Allgemeinheit, die unbedingt gilt. Daher können wir ganz allgemein die „Natur“ der Objekte auch das nennen, was in die allgemeinen Begriffe der Naturwissenschaften eingeht, oder uns am kürzesten dahin ausdrücken: die | Natur ist die sinnlich empirische Wirklichkeit mit Rücksicht auf das A l l g e m e i n e . So gewinnt das Wort eine logische Bedeutung. Unter „Allgemeinheit“ ist dabei selbstverständlich nur die Allgemeinheit des naturwissenschaftlichen Begriffes zu verstehen, die sowohl eine empirische als auch eine unbedingt gültige sein kann, und von der andere Arten der Allgemeinheit später noch zu trennen sein werden. Wenn wir diese Terminologie akzeptieren, läßt sich zugleich dem Satze, daß es „naturwissenschaftliche Psychologie“ gibt, noch ein anderer Sinn verleihen als bisher. Wir haben gezeigt, wie die Methode, die bei der Darstellung der Körperwelt ausgebildet worden ist, auch bei der Darstellung des Seelenlebens angewendet werden kann, ja muß, falls es sich um eine allgemeine Theorie des Seelenlebens handelt. Von naturwissenschaftlicher Psychologie konnten wir unter dieser Voraussetzung insofern reden, als die Psychologie nach der in den Naturwissenschaften üblichen Methode betrieben wird. Verstehen wir nun aber unter Natur die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine, so muß die Psychologie auch deshalb eine Naturwissenschaft genannt werden, weil sie die Wissenschaft von der „Natur“ des Seelenlebens ist, d. h. die Wissenschaft vom Seelenleben, insofern es aufgefaßt wird als im Gegensatz stehend nicht nur zur Körperwelt, sondern auch zur Kunst, zur Kultur, zur Sitte, zur Geschichte usw., d. h. als ein in sich ruhender, alles aus sich selbst hervorbringender, von immanenten Gesetzen beherrschter, ohne Rücksicht auf Werte und Wertgegensätze betrachteter Zusammenhang. Als Natur sehen wir das Seelenleben an, sobald es als Ganzes mit Rücksicht auf das Allgemeine zu begreifen ist, und wir müssen es von jeder Bedeutung, die es mit Rücksicht auf Werte, ebenso von allen Beziehungen, die es zu etwas Uebernatürlichem hat, loslösen, weil wir es

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sonst überhaupt nicht unter ein System allgemeiner Begriffe bringen können, für das die psychischen Wirklichkeiten Gattungsexemplare sein sollen. Etwas anderes dürfen sie in einer allgemeinen Theorie des Seelenlebens niemals bedeuten. Dies also und nur dies meinen wir, wenn wir die Psychologie zu den Naturwissenschaften rechnen. Wir können die Methode ihrer Begriffsbildung auch, falls das Wort Naturwissenschaft zu sehr an die Körperwelt erinnert, g e n e r a l i s i e r e n d nennen, um so jedem Konflikt mit dem Sprachgebrauch und jedem Mißverständnis zu entgehen, denn das war für uns ja das Wesentliche an der körperwissenschaftlichen Begriffsbildung, daß sie generalisierend ihre Objekte darstellt, und darauf | allein, daß dies auch die Psychologie tun muß, wenn sie eine Wissenschaft vom gesamten Seelenleben sein will, kommt es uns in diesem Zusammenhange an. Doch wäre es andrerseits wünschenswert, daß man sich daran gewöhnte, in der Logik Körperwissenschaft und Psychologie unter den umfassenden Begriff der Naturwissenschaft zu bringen. So allein ist eine konsequente logische Verwendung des Wortes Natur möglich. N u r in dem Ausdrucke „Natur w i s s e n s c h a f t “ hat das Wort „Natur“ in seiner Bedeutung eine Nuance, die es mit der Körperwelt in besonders nahe Beziehung bringt. Im übrigen ist nicht einzusehen, warum das Seelenleben weniger „natürlich“ sein soll als das körperliche Dasein, und deshalb sollte man auch das Wort Naturwissenschaft entsprechend anwenden. Der Sprachgebrauch würde sich dann dem Umstande fügen, daß das Seelenleben nach derselben Methode wie die Körperwelt, nämlich generalisierend und mit Rücksicht auf seinen „natürlichen“ gesetzmäßigen Zusammenhang, unabhängig von aller Bedeutung, die es in seiner Besonderheit durch Beziehung zu Werten oder zu Uebernatürlichem besitzt, erforscht wird. Auch das Seelenleben wird und vergeht wie die körperliche Natur von selbst. Es kann angesehen werden ohne Rücksicht auf Gut und Böse und jedes andere Wertpaar. Es unterscheidet sich seinem allgemeinen Begriffe nach von der Kultur, der Kunst, der Sitte usw. genau wie die Körperwelt. Es ist also wie die Körperwelt auch eine „Natur“, und es muß davon Naturwissenschaft wie von den Körpern geben. Eine Rechtfertigung dieses Sprachgebrauches werden vollends die späteren Ausführungen über den Gegensatz von Natur und G e s c h i c h t e bringen. Sie haben zu zeigen, daß der generalisierenden Begriffsbildung und der dadurch entstehenden Auffassung der Wirklichkeit als Natur eine prinzipiell andere Auffassung der Wirklichkeit entspricht, durch welche die realen Objekte zur Geschichte werden. Hier begnügen wir uns mit dem Hinweis darauf, daß wir einen gemeinsamen Terminus brauchen für alle Wissenschaften, die nach der an der Körperwelt erprobten generalisierenden Me-

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thode betrieben werden, und daß unter den vorhandenen Worten, die wir wählen könnten, das Wort „Naturwissenschaft“ das bei weitem geeignetste ist. Wir werden es also überall dort verwenden, wo man die Objekte daraufhin ansieht, daß sie einen in sich ruhenden, naturgesetzmäßigen Zusammenhang bilden, und wo man darauf ausgeht, die Wirklichkeit in ein Begriffssystem zu bringen, in dem der gesetzmäßige und allgemein-begriffliche Zusammenhang, also | das „Wesen“ oder die „Natur“ der Dinge, zum Ausdruck kommt. Der Satz aber, daß auch das reale Seelenleben Natur ist, treibt uns sogleich noch einen Schritt weiter. Soll die gesamte der Erfahrung zugängliche Wirklichkeit entweder psychisch oder physisch sein, und gibt es demnach, falls wir recht haben, in ihr überhaupt nichts, das nicht als Natur angesehen und einer Bearbeitung durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung unterzogen werden kann, dann muß sich die Frage erheben, ob denn das die einzige Möglichkeit ist, die Wirklichkeit als Natur zu erforschen, daß wir dabei entweder n u r das Physische oder n u r das Psychische in Betracht ziehen. Umfaßt der allgemeinste Begriff der Natur nicht vielmehr Körperwelt u n d Seelenleben zusammen als seine Teile? Ist die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit nicht ein einheitliches G a n z e s , das als Natur zu begreifen, eine berechtigte und notwendige Aufgabe ist, und müßte dann nicht eine Wissenschaft vorhanden sein, die sich auf die g e s a m t e Natur, d. h. sowohl in ihrer Körperlichkeit als auch in ihrem psychischen Charakter bezieht? Das ist zweifellos eine Frage, die sich nicht ohne weiteres abweisen läßt. Es ist neben der Körperwissenschaft und der Psychologie, die beide dadurch charakterisiert sind, daß sie einen prinzipiellen Unterschied zwischen physisch und psychisch machen, eine dritte Wissenschaft wenigstens denkbar, die darauf ausgeht, die unmittelbar gegebene Mannigfaltigkeit der gesamten Wirklichkeit durch Begriffe zu vereinfachen und in ein einheitliches System zu bringen, also die Natur oder das Wesen der Wirklichkeit überhaupt generalisierend darzustellen. Eine Wissenschaft, die sich solche Aufgaben stellt, schwebt wohl vielen vor, die von „Metaphysik“ reden. Die Bezeichnung ist freilich wenig angemessen, denn das U e b e r sinnliche könnte eine solche Disziplin grade nicht erforschen. Aber sie könnte in der Tat den Charakter einer „monistischen“ Ontologie tragen, insofern für sie die Trennung des Physischen vom Psychischen nicht wesentlich wäre, und von den hier angedeuteten Gesichtspunkten aus würde es dann möglich sein, einer solchen „Metaphysik“ Probleme zu stellen, die berechtigte wissenschaftliche Fragen enthalten. Nur das ist hervorzuheben, daß man nicht glauben darf, diese Wissenschaft wäre nun in der Lage, die Wirklichkeit als Ganzes u n m i t t e l b a r

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zu erkennen und sich dadurch prinzipiell von den Erfahrungswissenschaften zu unterscheiden. Eine „intuitive“ Erkenntnis, die nicht allgemeine Begriffe bildet, gibt es nicht, solange man das Wort Erkennen für ein theoretisches Verhalten verwendet und dieses theoretische Ver- | halten auf ein Ganzes gerichtet denkt. Daran kann auch der Umstand, daß man die Wirklichkeit „Leben“ nennt oder sie mit dem unmittelbar „Erlebten“ gleichsetzt, nichts ändern, denn das Wort Leben bedeutet entweder so viel wie das Unmittelbare und ist dann nichtssagend, d. h. die „Metaphysik des Lebens“ würde darauf hinauskommen, daß das Unmittelbare das Unmittelbare, das unmittelbar Erlebte das unmittelbar Erlebte ist, oder: das Wort Leben bezeichnet einen inhaltlich näher bestimmten Begriff, und dann kann dieser grade n i c h t mehr mit dem der unmittelbar gegebenen Anschauung überhaupt seinem Inhalte nach zusammenfallen. Ueber die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Welt der Begriffe und der Welt der realen Anschauung kommt k e i n e Erkenntnis des Wirklichkeitsganzen hinweg. Ja, die „Metaphysik“ in dem angegebenen Sinne müßte sich bei ihrer Begriffsbildung sogar einer Methode bedienen, die in ihrer logischen Struktur mit der in den Naturwissenschaften angewendeten übereinstimmt, d. h. sie müßte versuchen, das Wesen der Wirklichkeit überhaupt in einem die gesamte Mannigfaltigkeit umfassenden gültigen System von durchweg allgemeinen Begriffen auszudrücken, ebenso wie dies die Wissenschaften von den Körpern für die physische Welt und die Psychologie für das Seelenleben anstreben. Das Wirklichkeitsganze wäre auch für sie nur so zu erkennen, daß sie allgemeine Begriffe bildet, die auf jeden Teil anwendbar sind. Dadurch allein wäre sie von den Körperwissenschaften und von den psychologischen Disziplinen unterschieden, daß für sie die Wirklichkeit noch nicht in physische und psychische Vorgänge zerfällt. Bildete sie aber ein solches System von allgemeinen Begriffen, so wäre, wenigstens unter rein l o g i s c h e n Gesichtspunkten, gegen sie nichts einzuwenden. Ja, es hätte einen guten Sinn, von einer Wissenschaft, die Derartiges unternimmt, zu sagen, daß sie in demselben Sinne „Erfahrungswissenschaft“ sei wie die allgemeine Physik oder die Psychologie, und so verstehen wir, daß kein Geringerer als Eduard Zeller für die „Metaphysik als Erfahrungswissenschaft“ eintreten konnte. Mit Recht sagt er, daß, wer die Möglichkeit des Wissens grundsätzlich einräume, kein Recht habe, „dasselbe hinsichtlich seines Umfanges oder seiner Sicherheit in unverrückbare Schranken einzuschließen“.65 Doch haben wir diese Ausführungen nur gemacht, um den denkbar umfassendsten B e g r i f f e i n e r g e n e r a l i s i e r e n d e n W i s s e n s c h a f t , die die gesamte Wirklichkeit als „Natur“ darstellt, zu | entwickeln. Vielleicht 65

Archiv für systematische Philosophie, I, 1895, S. 12.

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würde sich bei genauerer Untersuchung ergeben, daß es leichter ist, das angedeutete Problem zu stellen als in erfolgreicher Weise an seiner Lösung zu arbeiten. Wir müssen sogar, um Mißverständnissen vorzubeugen, noch einige einschränkende Zusätze machen. Eine „Metaphysik“ in dem hier angegebenen Sinne würde immer nur auf die begriffliche Bearbeitung dessen gerichtet sein, was O b j e k t werden kann in der Bedeutung, die die Erkenntnistheorie mit diesem Worte verbindet, wenn sie alles Wirkliche in einen logischen Gegensatz zum erkenntnistheoretischen Subjekt oder zur Form der Bewußtheit bringt. Von diesem Subjekt hätte auch die allgemeinste Ontologie zu abstrahieren, und sie wäre zwar den andern Erfahrungswissenschaften insofern übergeordnet, als sie umfassender ist als diese, der Erkenntnistheorie aber durchaus untergeordnet. Es ist ferner nicht einzusehen, wie diese Ontologie eine „Philosophie der Natur“ und eine „Philosophie des Geistes“ unter sich befassen soll derart, daß die eine die Körperwissenschaften, die andere die Psychologie zu einem Abschluß zu bringen hat. Was für die Körperwelt und das Seelenleben von einer Erfahrungswissenschaft überhaupt zu leisten ist, das haben die Wissenschaften von den Körpern und die Psychologie als Naturwissenschaften selbst zu leisten, und in der Weise allein können diese Wissenschaften in die Philosophie übergehen, daß ihre „letzten“ Begriffe durch e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e Erörterungen, z. B. mit Rücksicht auf das erkenntnistheoretische Subjekt, klarzulegen sind, oder daß man die theoretischen Werte, die als logische Voraussetzungen der wissenschaftlichen Forschung nicht entbehrt werden können, für sich in ihrem formalen Charakter herausarbeitet. Dann aber greift eine völlig andere Methode als die der Erfahrungswissenschaften Platz, und man darf solche Untersuchungen nicht mehr in dem angegebenen Sinne „metaphysisch“ nennen. Der Metaphysik als Erfahrungswissenschaft kann eine besondere Aufgabe n u r damit gestellt werden, daß sie ohne Rücksicht auf den Gegensatz von Physisch und Psychisch die Wirklichkeit einheitlich oder „monistisch“ zu begreifen hat, und es ist sehr zweifelhaft, ob sie dann imstande sein wird, mit den Begriffen zu arbeiten, die von den andern Erfahrungswissenschaften mit Rücksicht entweder auf die Körper oder das Seelenleben a l l e i n gebildet worden sind. Wäre das aber nicht der Fall, so würde schon dieser Umstand es ausschließen, daß sie eine besondere Philosophie des Geistes und eine besondere Philosophie der Natur, durch welche Psychologie und Physik zum Abschluß gebracht werden, unter sich befaßte. | Ja, wir müssen sogar noch einen Schritt weiter gehen. Es ist sehr wohl denkbar, daß die Wirklichkeit sich naturwissenschaftlich, d. h. generalisierend n u r dann begreifen läßt, wenn man eine prinzipielle Scheidung der physischen oder raumerfüllenden und der psychischen oder nicht-raum-

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erfüllenden Wirklichkeit zugrunde legt. Dann aber wäre eine allgemeine Ontologie als Wissenschaft von wirklichen Objekten überhaupt, die weder psychisch noch physisch sind, nicht mehr möglich. Alles, was sich generalisierend vom Wirklichen aussagen läßt und die realen Objekte in ihrer Totalität umfaßt, fände dann entweder in den Körperwissenschaften oder in den psychologischen Disziplinen seine Stelle. Eine generalisierende Wissenschaft vom Wirklichkeitsganzen wäre dann notwendig an die prinzipielle Scheidung des Physischen vom Psychischen gebunden. Doch alle diese Gedanken haben wir hier nicht weiter zu verfolgen oder gar zur Entscheidung zu bringen.66 Uns kommt es nur darauf an, zu zeigen, wo die Grenzen der Naturwissenschaft n i c h t liegen. Wir wollen ihr alle Rechte einräumen, die sie nur irgend beanspruchen kann, und deshalb allein haben wir versucht, zu zeigen, daß, w e n n es eine „Metaphysik“ gibt als Wissenschaft der gesamten Wirklichkeit, es sehr wohl möglich ist, daß sie nach naturwissenschaftlicher Methode generalisierend betrieben wird. Es soll dadurch deutlich werden, w i e wenig die Grenzen für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung a l l e i n aus den Eigenschaften des M a t e r i a l s hergeleitet werden dürfen, das der Wissenschaft als wirklich zur Bearbeitung vorliegt. Wir nehmen das Wort Natur in diesem denkbar weitesten Sinne, um später den Begriff der Geschichte um so sicherer dagegen abgrenzen zu können und zu zeigen, daß, selbst wenn alle Körperwissenschaften, alle psychologischen Disziplinen und außerdem noch eine „Metaphysik“ in dem angegebenen Sinne nach generalisierender oder naturwissenschaftlicher Methode in | denkbar höchster Vollendung ausgebildet wären, damit noch nicht ein einziges Problem der Geschichtswissenschaften gelöst, ja, noch nicht einmal als Problem begriffen zu sein brauchte. Bevor wir jedoch zu dem logischen Gegensatz von Natur und Geschichte übergehen, durch den ein ebenso umfassender Begriff des Historischen zu gewinnen ist wie der Begriff der Natur, den wir jetzt erhalten haben, richten wir schließlich noch den Blick auf den Begriff der G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n , um das logische Verhältnis, in dem sie zu den Naturwissenschaften stehen, ausdrücklich festzustellen. 66

Den Versuch, dies zu tun, habe ich in dem ersten Teil meines Systems der Philosophie (1921) gemacht. Vgl. dort das vierte Kapitel: Die Philosophie und die wirkliche Welt, S. 163 ff. In unserem jetzigen Gedankenzusammenhang sollte nichts anderes als der denkbar umfassendste Begriff der „Natur“ und der ihm entsprechende denkbar umfassendste Begriff der „naturwissenschaftlichen“ Methode entwickelt werden. Allein deshalb habe ich die Idee einer naturwissenschaftlich verfahrenden „Metaphysik“ als Erfahrungswissenschaft herangezogen. In meinem System der Philosophie suche ich zu zeigen, daß nach Aufteilung der realen Welt an die Einzeldisziplinen eine Wissenschaft vom b l o ß Wirklichen als Aufgabe der Philosophie nicht mehr übrig bleibt, sondern daß alle p h i l o s o p h i s c h e n Wirklichkeitsprobleme, soweit sie die empirische Wirklichkeit betreffen, sich in We r t p r o b l e m e verwandeln.

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Verwenden wir das Wort Naturwissenschaft so, daß es jede Wissenschaft bezeichnet, die ihre Objekte mit Rücksicht auf das Allgemeine, also generalisierend betrachtet und, soweit es möglich ist, in Gesetzesbegriffen ihr Wesen zu erfassen sucht, und soll ferner das Wort „geistig“ dasselbe bedeuten wie seelisch oder psychisch, also real, aber nicht-körperlich, so können wir es jetzt als selbstverständlich bezeichnen, daß der Ausdruck Geisteswissenschaften keine ausgezeichnete l o g i s c h e Bedeutung haben darf. Da das Seelenleben so gut wie die Körperwelt als „Natur“ darzustellen ist, müßten die Geisteswissenschaften, insofern sie Wissenschaften vom wirklichen Seelenleben sind, als Wissenschaften von der „Natur des Geistes“ nach naturwissenschaftlicher Methode, d. h. generalisierend ihre Begriffe bilden und ihren Stoff darstellen. Oder: der Umstand, daß eine Wissenschaft es mit geistigen als seelischen Vorgängen zu tun hat, kann für sich a l l e i n niemals einen prinzipiellen Unterschied der Methode begründen, denn der „Geist“ ist, solange das Wort nichts anderes als psychisch bedeutet, ebenso wie die Welt der Körper gegenüber den letzten logischen Unterschieden der Begriffsbildung indifferent. Nennt man daher die Geschichte eine Geisteswissenschaft und bestimmt als ihr Objekt einen Teil des realen Seelenlebens, wie es zeitlich in einzelnen Menschen abläuft, so wird es unmöglich, logisch die Begriffsbildung der Geschichte prinzipiell von der der Naturwissenschaft zu scheiden. Das ist das Ergebnis, zu dem alle unsere bisherigen Ausführungen hinstreben. Die Geschichte, die reales, zeitlich verlaufendes Seelenleben erforscht, darf unter dieser Voraussetzung nur als ein Teil der psychologischen Disziplinen angesehen werden, und es ist nicht einzusehen, warum sie nicht versuchen soll, das geistige oder seelische Leben der Völker und Menschen unter allgemeine Begriffe zu bringen und wenn möglich seine Gesetze kennen zu lernen, also es als „Natur“ darzustellen. Wir begreifen es daher sehr gut, daß J. St. Mill, der wohl als erster | eine systematische „Logik der Geisteswissenschaften“ unternahm, in der Uebertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Geisteswissenschaften den einzigen Weg sah, um auch sie zu echten Wissenschaften zu machen. Er konnte mit Recht in dem realen Seelenleben als solchem nichts entdecken, das eine andere Methode als die in den Naturwissenschaften erprobte erforderte. Die Logik der Geisteswissenschaften mußte also für ihn zu einem bloßen Anhang der Logik der Naturwissenschaften werden. Solange man keinen andern Gegensatz als den von solchen Wissenschaften, die es mit physischem Sein, und solchen, die es mit psychischen Vorgängen zu tun haben, kennt, ist es konsequent, zu behaupten, daß a l l e Wissenschaften mit Rücksicht auf die logische Struktur ihrer Darstellung oder Begriffsbildung „Naturwissenschaften“ sind. Die Geschichte kann dann nichts anderes als ein Teil der Natur sein. Geht man also vom Begriff der Geisteswissen-

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schaften bei einer Gliederung der Wissenschaften aus, so wird man einen konsequenten methodologischen Naturalisten niemals davon überzeugen, daß er im Unrecht ist. Aber ebenso sicher ist es auch, daß man dann das l o g i s c h e Problem, um das es sich hier handelt, noch gar nicht gesehen hat. So kommen wir zu dem Resultat: der Unterschied von Natur und Geist bleibt für eine logische Gliederung der wissenschaftlichen Begriffsbildung und Darstellung, die das Wesen der G e s c h i c h t e verstehen will, gänzlich unbrauchbar, solange man ihn mit dem Unterschied von Physisch und Psychisch gleichsetzt. Ja, er ist geradezu verwirrend, weil er die Aufmerksamkeit von dem Punkte ablenkt, auf den in der Logik alles ankommt, und sie auf einen logisch sekundären Unterschied richtet. Wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, daß der Brauch, die Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften einzuteilen, nicht entstanden wäre, wenn das Wort „Geist“ nur die bisher berücksichtigte Bedeutung des Psychischen, und das Wort Natur nur die Bedeutung des Physischen oder Körperlichen hätte. Auf die Vieldeutigkeit des Wortes Natur haben wir bereits hingewiesen. Wir müssen jetzt einen Blick auch auf die verschiedenen Bedeutungen werfen, die das Wort „Geist“ besitzt, um zu zeigen, w i e nichtssagend der Terminus Geisteswissenschaft ohne nähere Bestimmung des Begriffes Geist ist. Zunächst hat das Wort Geist zwei der Bedeutungen, die das Wort Subjekt haben kann, d. h. außer der Seele ist unter Geist auch das erkenntnistheoretische Subjekt zu verstehen. Die Natur im Gegensatz zum Geist wäre dann wieder die gesamte empirische Wirklichkeit, die | Welt der realen Objekte überhaupt. Da wir die Wissenschaftslehre gegen die Erfahrungswissenschaften dadurch abgrenzen können, daß jene ausdrücklich auf das erkenntnistheoretische Subjekt reflektiert, während diese ausdrücklich davon abstrahieren, würde man die Wissenschaftslehre als die Geisteswissenschaft im Gegensatze zu d e n Naturwissenschaften bezeichnen können, zu denen dann a l l e empirischen Wissenschaften, mit Einschluß sogar der Metaphysik im angegebenen Sinne, zu rechnen wären. Solch ein Gegensatz mag mehr oder weniger mitklingen, wo auf die Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften Wert gelegt wird. Besonders kann man so die Philosophie als die Geisteswissenschaft den Naturwissenschaften gegenüberstellen. Doch ist diese Terminologie gewiß nicht glücklich. Der Gegensatz von Natur und Geist wäre dann für eine Einteilung der e m p i r i s c h e n Wissenschaften gänzlich unbrauchbar geworden, denn alle Wissenschaften, die sich auf reale O b j e k t e im erkenntnistheoretischen Sinne dieses Wortes beschränken, wären danach zu den Naturwissenschaften zu rechnen, und unter diesen Begriff fiele dann nicht allein die Psychologie, sondern auch die Geschichte.

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Sie hat es wie alle empirischen Wissenschaften mit realen Objekten, nicht mit dem „Geist“ als dem erkenntnistheoretischen Subjekt zu tun. Das Wort Geist hat aber noch eine dritte Bedeutung, die sich weder mit der des psychischen Seins überhaupt, noch mit der des erkenntnistheoretischen Subjektes deckt, sondern in der es eine b e s o n d e r e A r t des psychischen Seins bezeichnet, ja eventuell auch die nicht-psychischen Gebilde, die mit dem seelisch Wirklichen verknüpft sein müssen, um es zu dieser besonderen Art zu machen, und auf einer solchen Bedeutung beruht es zweifellos vor allem, wenn die Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften üblich geworden ist. Man weiß, welche Rolle der Ausdruck Geist z. B. in der Hegelschen Philosophie spielt. Drei verschiedene Arten von Geist kennt Hegel, den subjektiven, den objektiven und den absoluten Geist. Von ihnen ist jedoch allein der erste allenfalls mit dem zu identifizieren, was wir psychisch nennen, und dieser subjektive Geist steht nach Hegel n i c h t im Gegensatz zur Natur, sondern er wird „Naturgeist“ genannt. Nur insofern, als aus ihm etwas anderes werden kann als Natur, ist er in einen Gegensatz zu ihr zu bringen. Erst wenn der Geist aus der Form der Subjektivität heraustritt, d. h. wenn er aufhört, mit dem bloß Psychischen identisch zu sein, wird er nach Hegel Geist im Gegensatz zur Natur. Als „objektiver“ Geist ist er dann Recht, Moralität und Sittlich- | keit, als „absoluter“ Geist Kunst, Religion und Philosophie. Die Wissenschaften, die von solchen Gegenständen handeln, kann man wohl als Geisteswissenschaften bezeichnen, aber sie müßten dann durchaus in einen G e g e n s a t z zur Lehre vom subjektiven Geist, d. h. zur Psychologie gebracht werden. Soweit die Hegelsche Terminologie dazu beigetragen hat, das Wort Geisteswissenschaft gebräuchlich zu machen, ist es daher eigentlich eine Art von M i ß v e r s t ä n d n i s , wenn man die Wissenschaften, deren Objekte p s y c h i s c h e Vorgänge sind, als Geisteswissenschaften bezeichnet und auch die Psychologie zu ihnen rechnet. Dies Mißverständnis sollte man endlich beseitigen. Im Zusammenhange mit der Hegelschen Terminologie hat das Wort Geisteswissenschaft gewiß einen guten Sinn, ja, insofern Recht, Moralität usw. Produkte der G e s c h i c h t e sind, und die Geisteswissenschaften also das Seelenleben auf einer besonderen Stufe seiner historischen Entwicklung zu behandeln hätten, stände dieser Begriff der Geisteswissenschaft mit dem der Geschichtswissenschaft in der Tat in engster Beziehung. Lehnt man aber die Bedeutung, die Hegel mit dem Worte Geist verbindet, ab, so wird man in der Wissenschaftslehre auch das Wort Geisteswissenschaft im Gegensatze zu der Wissenschaft vom bloß Psychischen und damit überhaupt fallen lassen müssen. Der Ausdruck psychologische Disziplin ist dann eindeutiger.

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Ganz ist allerdings in der deutschen Sprache das Gefühl dafür nicht geschwunden, daß Geist auch etwas bedeutet im G e g e n s a t z zum bloß Psychischen, daß also eine Geisteswissenschaft etwas ist, was der Psychologie geradezu entgegengestellt werden muß. Wenn jemand z. B. eine „Darstellung der psychischen Vorgänge in den Spinnen“ oder Untersuchungen über „das Seelenleben der Protisten“ zu den Geisteswissenschaften rechnen wollte, würde man dies als eine unhaltbare Terminologie empfinden. Das ist Naturwissenschaft, würde man sagen. Dann aber sollte man auch weiter gehen und die Psychologie überhaupt eine Naturwissenschaft nennen. Und umgekehrt, wenn jemand wie z. B. Eucken ein Buch schreibt über den „Kampf um einen geistigen Lebensinhalt“, so weiß jeder von vorneherein, daß damit nicht ein Kampf um einen psychischen Lebensinhalt gemeint ist. Den hat jedes Tier, und darum braucht man nicht zu kämpfen. Auch Dilthey ist neuerdings bei seiner Abgrenzung der Geisteswissenschaften dazu gekommen, den Sinn, in dem er das Wort Geist gebrauchen will, so anzugeben: „es ist derselbe, in welchem Montesquieu vom Geist der Gesetze, Hegel vom objektiven Geist oder Ihering vom Geist des römischen Rechtes ge- | sprochen hat“.67 Es bezeichnet also das Wort Geist auch für uns heute wieder ein psychisches Leben von besonderer Art, zum mindesten wird es menschliches Seelenleben sein müssen, das wir geistig nennen, und dies ist ebenfalls ein Grund, weshalb das Wort Geisteswissenschaft sich im Gegensatz zur Naturwissenschaft erhalten hat. Doch sollen diese Bemerkungen durchaus nicht den Terminus für die Logik retten oder seine Verwendung rechtfertigen, sondern nur erklären, warum es vielleicht manchem schwer wird, sich von dem Ausdruck Geisteswissenschaft zu trennen. Daß er aus der Sprache überhaupt verschwinden wird, ist unwahrscheinlich, und darauf kommt es im Grunde genommen auch nicht an. Nur in der L o g i k sollte man ihn nicht zur Bezeichnung der nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen gebrauchen, weil er zu unbestimmt geworden ist und vor allem immer das Mißverständnis hervorrufen kann, als seien mit den Geisteswissenschaften die Wissenschaften vom psychischen Leben oder die psychologischen Disziplinen gemeint, und als gehöre daher die Psychologie selbst zu den Geisteswissenschaften und nicht zu den Wissenschaften von der Natur. Ferner wird man dann zu der ebenfalls ganz unhaltbaren Ansicht geführt, als müsse die Psychologie die eigentliche „Grundlage“ für die Geisteswissenschaften in dem Sinne sein, wie die Mechanik es für die Körperwissenschaften ist. Daß diese Ansicht sich nicht halten läßt, haben auch diejenigen eingesehen, die wie Dilthey trotzdem den Ausdruck Geisteswissenschaft nicht aufgeben wollen. Sie schädigen jedoch 67

D i l t h e y, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Abhandlungen der königl. preuß. Akademie der Wissenschaften, 1910, S. 11.

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mit der Festhaltung an dem vieldeutigen Terminus ihre eigene Sache, denn sie unterstützen immer wieder den Irrtum, daß es bei den nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen auf den psychischen Charakter des zu bearbeitenden Materials ankomme, und doch ist gerade dieser psychische Charakter, wenn man das Wort Geist in dem Sinne wie Montesquieu, Hegel oder Ihering verwendet, etwas, von dem man nicht a u s g e h e n darf, um über die logische Struktur der nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen, besonders der Geschichte, Klarheit zu gewinnen. Vielleicht bekommt das Wort Geist einmal im Gegensatz nicht nur zur physischen, sondern auch zur psychischen Natur wieder einen Sinn, der allgemein anerkannt und verständlich ist. Ja wir finden heute schon Bestrebungen, ihm einen solchen besonderen Sinn zu verleihen. Dagegen ist im Prinzip auch nichts einzuwenden. Doch kann von einer allgemein | anerkannten Bedeutung des Wortes „Geist“ im Gegensatz zum Psychischen bisher keine Rede sein. Wir haben um so mehr Veranlassung, das Wort in der Wissenschaftslehre, wenigstens vorläufig, zu vermeiden, als andere unzweideutige Termini uns zur Verfügung stehen. Das Wort G e s c h i c h t e , von dem wir später reden werden, bezeichnet den l o g i s c h e n , das Wort K u l t u r den s a c h l i c h e n Gegensatz zur Natur in ausreichender Weise, wo es gilt, die Hauptgruppen der empirischen Wissenschaften zu unterscheiden. Das schließt nicht aus, daß für die G e s c h i c h t s wissenschaften, soweit sie sich mit psychischen Vorgängen beschäftigen, als M a t e r i a l fast ausschließlich eine A r t des Psychischen in Betracht kommt, für die man, mit Rücksicht auf die früher übliche Terminologie, auch den Ausdruck des Geistigen im Gegensatz zum bloß Psychischen verwenden könnte. Eine solche Verwendung aber setzt Begriffsbestimmungen voraus, die uns erst im folgenden beschäftigen werden. Dort wird sich auch zeigen, warum, wenn man nach einem Worte sucht, welches das M a t e r i a l der Geschichtswissenschaften bezeichnet, das Wort Geist hinter dem leichter verständlichen Ausdruck Kultur zurückzutreten hat. Schon das, was Hegel Geist im höheren Sinne, d. h. objektiven oder absoluten Geist nannte, fällt in gewisser Hinsicht mit dem zusammen, was wir unter Kultur verstehen, und deshalb hat jetzt auch Dilthey in dem oben angeführten Satze unsern Begriff der Kulturwissenschaften, obwohl er unsere Te r m i n o l o g i e noch bekämpft, der S a c h e nach akzeptiert, so daß wir ihn nicht mehr zu den prinzipiellen Gegnern der hier versuchten Gliederung der Wissenschaften rechnen dürfen.68 68

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Das ist vollends von Schülern Diltheys, besonders von E d u a r d S p r a n g e r zu sagen. Vgl. seine Abhandlung: Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie. (Festschrift, Johannes Volkelt zum 70. Geburtstag dargebracht, 1918, S. 357 ff.). Doch können diese Fragen erst im vierten Kapitel behandelt werden. Hier galt es nur, den A u s -

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Schließlich sei noch einmal ausdrücklich auf einen Gedanken wenigstens kurz hingewiesen, der sich ebenfalls an den Begriff der Geisteswissenschaft anknüpfen läßt, der uns aber noch weiter von der üblichen Einteilung in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften fortführt. Man kann gewiß mit Recht sagen, daß das Interesse der Geschichtswissenschaften im engeren, sachlichen Sinne des Wortes sich nur selten auf die Körperwelt als solche richtet, sondern in letzter Hinsicht stets | etwas grundsätzlich Unkörperliches im Auge hat. Ist aber dieses bereits wiederholt gestreifte Gebiet darum auch als „psychisch“ zu betrachten? Solange man allein Physisches oder Psychisches als Material der Wissenschaften kennt, wird man diese Frage nicht verstehen und das Geistige nur als eine besondere Art des Psychischen vom Körperlichen trennen. Doch gerade darauf kommt es an, ob wir uns nicht entschließen müssen, ein Gebiet der Forschung anzuerkennen, das w e d e r körperlich n o c h seelisch genannt werden darf. Wir sind auf ein solches Reich gestoßen, als wir im ersten Kapitel die „Bedeutungen“ der Worte und den „Gehalt“ der wahren Urteile von den psychischen Akten, durch die sie verstanden oder gemeint werden, scheiden mußten. Wir konnten in dem gewiß unkörperlichen logischen „Sinn“ schon deswegen keine psychische Realität sehen, weil er von mehreren Individuen g e m e i n s a m verstanden wird, während es doch zum Wesen des Psychischen gehört, daß es allein in e i n e r Seele wirklich vorkommt und keinem Zweiten angehört. Haben wir nun Grund, ein solches, von beliebig vielen Individuen als identisch erlebbares Reich n u r für das Logische anzuerkennen? Gehört nicht vielmehr alles das, was Hegel „objektiven Geist“ nennt, also Recht, Moralität, Sittlichkeit, ebenso Kunst, Religion und vielleicht noch mehr, seinem „Gehalt“ nach auch in eine Sphäre, die weder als körperlich noch als psychisch zu bezeichnen ist? Alle diese Gebilde werden von verschiedenen Individuen g e m e i n s a m erlebt, ja nur soweit sie irgendwie einer M e h r h e i t von Menschen angehören und dadurch über das bloß Seelische hinausragen, spielen sie in der Geschichte aus Gründen, die wir kennen lernen werden, eine wesentliche Rolle. Das Psychische, das in den einzelnen Individuen wirklich abläuft, kann dadurch allein geschichtlich bedeutsam werden, daß es mit einer Welt nicht-psychischer Sinngebilde in Verbindung steht. Nie dagegen fallen die psychischen Vorgänge selbst mit der den verschiedenen Individuen gemeinsamen Welt zusammen. Falls daher das „Wirkliche“ durch die Einteilung in Psychisches und Physisches erschöpft ist, muß der objektive „Gehalt“ des gangspunkt für eine Logik der Geschichte sicherzustellen und dafür zu sorgen, daß nicht logisch sekundäre Fragen in den Vordergrund treten, die sich auf den Unterschied von physisch und psychisch beziehen. Wir müssen von der Ueberschätzung der methodologischen Bedeutung dieses Unterschiedes uns endlich befreien.

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rechtlichen, staatlichen, sittlichen, künstlerischen und religiösen Lebens, ebenso wie der logische Gehalt wahrer Urteile, als „unwirklich“ bezeichnet werden, und etwas Unwirkliches wäre es dann auch, worauf die historischen Wissenschaften, soweit sie „Geisteswissenschaften“ sind, stets Rücksicht nehmen, wenn sie die geschichtliche Wirklichkeit erforschen. Will man nun dieses Unwirkliche „Geist“ nennen, dann wäre in der Tat die Geschichte mit Recht als Geisteswissenschaft zu bezeichnen. Ein solches Geistiges aber fiele so | wenig mit dem Psychischen zusammen, daß es nicht einmal mehr eine seiner besonderen A r t e n darstellt, sondern es müßte zum Psychischen in einen ebenso prinzipiellen Gegensatz wie zur Körperwelt gebracht werden. Der „Geist“ wäre dann von der gesamten Natur, der psychischen ebenso wie der physischen, prinzipiell zu trennen, und die Geisteswissenschaften lägen der Psychologie prinzipiell nicht näher als den Körperwissenschaften. Doch wir haben den Gedanken an ein unwirkliches Reich des „Geistigen“, das verschiedene Individuen gemeinsam erleben, hier nur deshalb erwähnt, um die wichtigsten Gründe wenigstens zu berühren, die es manchem erschweren, den Ausdruck Geisteswissenschaft fallen zu lassen. Auf eine positive Bestimmung können wir hier noch nicht eingehen. Sie wird sich erst gewinnen lassen, wenn der Begriff der Geschichtswissenschaft in formaler und materialer Hinsicht schon feststeht. Auf keinen Fall ist aus einem noch ganz problematischen Begriff des „Geistes“ der Begriff der Geschichte zu entwickeln. Von dem eingeschlagenen Wege kann uns also der angedeutete Gedanke nicht abbringen. Ebenso ist der sachliche Zusammenhang zwischen Geschichte und Kultur, den wir angedeutet haben, erst klar zu machen, nachdem wir den logischen Begriff des Geschichtlichen schon kennen. Zum A u s g a n g s p u n k t e darf deshalb die Logik unter k e i n e n Umständen den Satz nehmen, daß es außer den Naturwissenschaften noch andere Wissenschaften gibt, die auch „Unkörperliches“ in ihrem Gegenstand finden. Insbesondere aber sollte die Meinung über die Methode der Psychologie die Ansichten über die historische Methode nicht mehr beeinflussen, damit nicht von vorneherein alles in Verwirrung kommt. Das muß durch den bloßen Hinweis auf ein Reich des „Geistes“, das weder physisch noch psychisch real ist, vollends klar geworden sein. Im übrigen bleibt unser Gedankengang auch dann richtig, wenn sich ergeben sollte, daß von einer unwirklichen „geistigen“ Welt als Material der Geschichtswissenschaft nicht geredet werden darf. Nur darauf kommt es an: der Begriff des Geistigen ist, falls er nicht mit dem des Psychischen zusammenfällt, ganz problematisch geworden und daher zum Ausgangspunkt für eine Logik der Geschichte ungeeignet. Hiermit schließen wir die Ausführungen über den Gegensatz von Natur und Geist. Sie waren im wesentlichen n e g a t i v und sollten nichts anderes

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sein. Vielleicht findet man, daß wir z. T. rein terminologischen Fragen eine allzu eingehende Erörterung gewidmet haben, und in der Tat mag der Mann der Einzelwissenschaft solche Ueberlegungen ent- | behren können. Für die Wissenschaftslehre jedoch sind sie nicht gleichgültig. Nur allzu leicht schleicht sich mit einer unangemessenen Terminologie auch eine falsche Theorie ein, oder zum mindesten findet der Gegner in der Terminologie eine Stelle, wo er mit seinen Angriffen einsetzen kann. Das Wort Geisteswissenschaften fordert Mißverständnisse und Angriffe geradezu heraus, nachdem die Psychologie sich zu einer Naturwissenschaft im logischen Sinne des Wortes gestaltet hat. Für eine Bekämpfung des einseitig naturwissenschaftlichen Denkens bleibt es daher wichtig, hervorzuheben, daß die Frage, ob die Geschichte in ihrer Eigenschaft als G e i s t e s wissenschaft, d. h. als Darstellung seelischen Lebens, der Behandlung durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung entzogen sei, v e r n e i n t werden muß, daß vielmehr auch das Seelenleben in seiner unübersehbaren Mannigfaltigkeit notwendig unter ein System von allgemeinen Begriffen zu bringen ist wie die Körperwelt durch die Naturwissenschaft, und daß überhaupt k e i n e der Erfahrung zugängliche Wirklichkeit durch ihre sachlichen Eigentümlichkeiten einer Bearbeitung durch die naturwissenschaftliche oder generalisierende Begriffsbildung prinzipielle Schranken setzt. So werden alle Angriffe gegen eine selbständige logische Stellung der G e s c h i c h t s wissenschaften von vorneherein gegenstandslos, die sich darauf stützen, daß, weil die Gesamtwirklichkeit ein einheitliches Ganzes sei, auch der h i s t o r i s c h e M e n s c h als Glied der Natur betrachtet werden müsse und seine Schicksale im Laufe der Geschichte einer naturwissenschaftlichen Behandlung nicht entzogen werden dürften. Gegen Argumente solcher Art, die fast die einzigen sind, mit denen heute noch eine naturwissenschaftliche Universalmethode vertreten wird, ist vom Standpunkte der „Geisteswissenschaften“ allerdings nichts einzuwenden, und Verfechter der naturwissenschaftlichen Universalmethode wie Comte, Mill, Spencer und ihre Nachfolger können dann leicht als Sieger erscheinen. Ja, noch mehr, es i s t in der Tat der Mensch und die menschliche Gesellschaft a u c h als Glied der Natur anzusehen, und es besteht nicht der geringste Grund, der naturwissenschaftlichen Methode in d i e s e r Hinsicht irgendwelche Schranken zu setzen. Das M a t e r i a l , das in der Geschichte vorliegt, kann durchweg als Natur aufgefaßt und einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung unterworfen werden. Das sollte man niemals bestreiten. Tatsächlich gibt es ja solche generalisierenden Darstellungen des „geschichtlichen Lebens“. Nur darf das, was bei einer g e n e r a l i s i e r e n d e n Behandlung des gesellschaftlichen Menschen herauskommt, niemals G e s c h i c h t e genannt werden. | Das zu zeigen, müssen wir nun im folgenden versuchen. Eine notwendige Vorarbeit dazu war der Nachweis, daß die Eigenart des s e e l i s c h e n Le-

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bens für die Logik der Geschichtswissenschaft zunächst nicht in Betracht kommen darf. Die Aufmerksamkeit muß sich vielmehr zuerst einer Gedankenreihe zuwenden, die von den sonst in den Vordergrund geschobenen Streitfragen völlig unabhängig ist, und die sich gar nicht auf Unterschiede in dem M a t e r i a l bezieht, das den empirischen Wissenschaften zur Bearbeitung vorliegt. Auf diesem Wege allein wird es dann möglich sein, die Selbständigkeit der historischen Wissenschaften l o g i s c h zu begründen, d. h. die Form der ihnen eigentümlichen Begriffsbildung zu verstehen. Vielleicht erscheint der Weg, den wir zu diesem Ziele eingeschlagen haben, etwas umständlich. Doch wenn es nur gelingt, auf ihm mit Sicherheit vorwärts zu kommen, wollen wir diesen Vorwurf uns gern gefallen lassen.

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| Drittes Kapitel. NATUR UND GESCHICHTE. „Die Wissenschaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen. Sie wäre demnach eine Wissenschaft von Individuen ....“ Schopenhauer.

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Wenn wir nun aber kein Recht haben, unter logischen Gesichtspunkten die Geisteswissenschaften prinzipiell von den Naturwissenschaften zu trennen, warum suchen wir dann überhaupt noch nach einer anderen als der naturwissenschaftlichen Methode der Begriffsbildung, und worin kann sie bestehen? Deutet nicht gerade die Ablehnung eines logischen Gegensatzes von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft darauf hin, daß diejenigen recht haben, die die Naturwissenschaft für die einzige Wissenschaft halten, und daß es Grenzen der Naturwissenschaft, die eine andere Art der Begriffsbildung notwendig machen, nicht gibt? Werden wir nicht im folgenden höchstens zu den Grenzen der w i s s e n s c h a f t l i c h e n B e g r i f f s b i l d u n g ü b e r h a u p t kommen? Indem wir uns der Beantwortung dieser Fragen zuwenden, gelangen wir endlich zu den Hauptgedanken der Arbeit. Alle bisherigen Ausführungen hatten den Zweck, zu ihnen hinzuführen, und der erste entscheidende Schritt muß sich jetzt als eine im Grunde genommen selbstverständliche, manchem vielleicht allzu selbstverständliche Konsequenz ergeben. Selbstverständlich wird das zunächst Folgende schon deswegen sein, weil es noch rein logisch ist, und weil alles rein Logische, sobald man es überhaupt einmal verstanden hat, sich „von selbst versteht“. Ueber den Weg, den wir einzuschlagen haben, um weiter zu kommen, werden wir nicht im Zweifel sein. Da wir wissen, daß die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nicht durch Reflexion auf sachliche Eigentümlichkeiten des Materials festgestellt werden können, die nur dieser oder jener Te i l der empirischen Wirklichkeit uns darbietet, so haben wir darauf allein zu achten, i n w e l c h e m Ve r h ä l t n i s | d i e n a t u r w i s senschaftliche oder generalisierende Begriffsbildung zur e m p i r i s c h e n Wi r k l i c h k e i t ü b e r h a u p t s t e h t . Sind wir uns darüber klar geworden, so suchen wir zu zeigen, daß das, was aus rein logischen Gründen niemals in einen naturwissenschaftlichen Begriff einzugehen vermag, nämlich die „Individualität“ der empirischen Wirklichkeit, wenn sie überhaupt wissenschaftlich behandelt werden soll, nur in Wissenschaften darzustellen ist, die wir als g e s c h i c h t l i c h be-

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zeichnen müssen, denn der Begriff dessen, was der Naturwissenschaft eine Grenze setzt, der Begriff des Einmaligen und Individuellen, fällt mit dem B e g r i f f d e s H i s t o r i s c h e n im denkbar weitesten, d. h. rein formalen, logischen Sinne dieses Wortes zusammen. So gewinnen wir einen l o g i s c h e n Gegensatz von Natur und Geschichte. Daß er in seiner umfassendsten Gestalt nicht mit dem Gegensatz zu identifizieren ist, den man gewöhnlich meint, wenn man von Natur und Geschichte spricht, haben wir bereits in der Einleitung auf das Nachdrücklichste hervorgehoben. Dieser Umstand braucht aber die logische Untersuchung nicht zu stören: unser Gegensatz s o l l umfassender als der übliche sein, und a l l m ä h l i c h erst kann von ihm aus der Begriff dessen bestimmt werden, was im engeren Sinne heute „Geschichte“ heißt. Deshalb darf man die s p ä t e r zu dem allgemeinsten Begriff der Geschichte notwendig hinzuzufügenden Determinationen nicht etwa als „Zugeständnisse“ oder als Akkomodationen an die herkömmliche Meinung ansehen. Es liegt vielmehr im Wesen unserer logischen Untersuchung, daß wir z u n ä c h s t einen mit Rücksicht auf die allein heute so genannten „Geschichtswissenschaften“ z u allgemeinen Begriff der Geschichte bilden, der durch die späteren Ausführungen erst seine Ausgestaltung und Bestimmung erwartet, um auf die wirklich vorhandenen historischen Disziplinen anwendbar zu sein. Wir gewinnen daher v o r l ä u f i g für den Begriff der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne nur wenig, aber für eine logisch begründete Methodenlehre ist unser rein logischer Begriff der Geschichte trotzdem unentbehrlich, denn nur mit seiner Hilfe können die logischen Unterschiede der Wissenschaften in ihrer prinzipiellen Bedeutung klar werden. Haben wir so den allgemeinsten logischen Gegensatz von Natur und Geschichte herausgearbeitet, der als solcher einer Gliederung der Wissenschaften ohne weiteres noch n i c h t zugrunde gelegt werden kann, so können wir uns der Aufgabe zuwenden, das Prinzip für eine logische | Gliederung der tatsächlich v o r h a n d e n e n empirischen Wissenschaften zu gewinnen. Zunächst wird sich dabei ergeben, daß die Begriffe von Natur und Geschichte, wenn wir sie so umfassend und formal nehmen, wie es hier vorläufig geschieht, in gewisser Hinsicht relativ sind, und daß daher h i s t o r i s c h e B e s t a n d t e i l e a u c h i n d e n N a t u r w i s s e n s c h a f t e n eine Rolle spielen, ja sogar die logische Gliederung der Naturwissenschaften selbst bedingen. Erst mit Hilfe des logischen Begriffes vom Historischen wird also auch die rein logische Struktur der Naturwissenschaften in ihrer M a n n i g f a l t i g k e i t ganz klar werden. Darin können wir aber nicht etwa einen Einwand gegen unsere Theorie, sondern lediglich eine Bestätigung dafür erblicken, daß nur mit den logi-

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schen Begriffen von Natur und Geschichte, nicht mit den sachlichen Unterschieden von Natur und Geist in der Wissenschaftslehre vorwärts zu kommen ist. Historische Bestandteile im allgemeinsten logischen Sinne des Wortes werden wir dann sowohl in den Körperwissenschaften als auch in den psychologischen Disziplinen finden, und das darf vollends nicht auffallen, denn ebenso wie unser Begriff der Natur Physisches und Psychisches gleichmäßig umfaßt, muß auch der im Gegensatz zu ihm gebildete logische Begriff des Historischen in seiner weitesten Bedeutung noch unabhängig von dem Unterschiede von Körper und Geist oder Seele sein. Wir finden also mehr oder weniger historische Bestandteile in a l l e n Wissenschaften, die die Wirklichkeit als Natur in dem angegebenen Sinne betrachten, d. h. wir wollen ein solches I n e i n a n d e r und Z u s a m m e n der beiden logischen Faktoren nicht etwa, wie man sonderbarerweise geglaubt hat, bestreiten, sondern ausdrücklich zum Bewußtsein bringen. Trotzdem aber läßt sich schließlich zeigen, daß die Relativität der Begriffe Natur und Geschichte und ihr Zusammen in den verschiedensten naturwissenschaftlichen Disziplinen ihre Bedeutung für die l o g i s c h e Gliederung der empirischen Wissenschaften nicht antastet. Denn wie man den Begriff der Geschichtswissenschaften auch näher bestimmen mag, um zu dem zu kommen, was man üblicherweise unter diesem Worte versteht, so ist eine naturwissenschaftliche oder generalisierende Darstellung der G e s c h i c h t e unter allen Umständen ausgeschlossen, und daher müssen n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e und g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e Begriffsbildung stets in einem prinzipiellen logischen Gegensatz zueinander bleiben. Mit dieser Einsicht gewinnen wir zuerst den Begriff eines wissenschaftlichen Z i e l e s , das durch die | naturwissenschaftliche Art der Begriffsbildung nie erreichbar ist, und mit dem Hinweis auf ein solches Ziel wollen wir uns in diesem Kapitel begnügen. N u r als der Begriff einer bisher ungelösten A u f g a b e soll also zunächst der Begriff der Geschichtswissenschaft gewonnen werden. Erst im vierten Kapitel gehen wir zu p o s i t i v e n Bestimmungen über das Wesen der historischen Begriffsbildung über und suchen im Gegensatz zu den Eigenarten der naturwissenschaftlichen Darstellung die logischen Grundbegriffe und Voraussetzungen einer historischen Darstellung zu entwickeln. Dann endlich wird es auch möglich sein, d e n Begriff der Geschichte zu bestimmen, an den man heute allein denkt, wenn man von historischen Wissenschaften spricht, denn wir werden dann auch von dem M a t e r i a l reden können, mit dem die Geschichtswissenschaft es zu tun hat. Dies Material wird sich uns als die K u l t u r ergeben im Gegensatz zur Natur, und damit kommen wir zu einem s a c h l i c h e n Gegensatze, der selbstverständlich nicht ohne weiteres mit dem logischen Gegensatz von Geschichte und Natur zusam-

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menfallen kann. Die Ausführungen des dritten Kapitels aber müssen noch rein f o r m a l bleiben, weil es eben der Sinn unserer Untersuchung ist, das rein Logische überall von dem Material auf das schärfste zu sondern. Erst wenn solche Sonderung einmal konsequent durchgeführt ist, läßt sich wieder auch an eine Ve r e i n i g u n g des Formalen und des Materialen, d. h. an eine Aufzeigung der Beziehungen denken, die zwischen den formalen und den materialen Unterschieden in den Wissenschaften bestehen, und die zu leugnen selbstverständlich niemand versuchen wird.

I. Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung u n d d i e e m p i r i s c h e Wi r k l i c h k e i t . Was also ist es, das der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung die Grenze setzt, über die sie aus logischen oder f o r m a l e n Gründen niemals hinauszukommen vermag? Das ist unsere e r s t e Frage, die darum nicht die einzige zu bleiben braucht. Um sie zu beantworten, richten wir unser Augenmerk auf das, was durch die Umformung und Vereinfachung in den Darstellungen und Systemen der Naturwissenschaften oder der generalisierenden Disziplinen notwendig v e r l o r e n geht. Wir betrachten demnach jetzt gewissermaßen die Kehrseite der naturwissenschaftlichen Begriffsbil- | dung und gehen zu diesem Zwecke von dem Verhältnis aus, in dem sie zur A n s c h a u l i c h k e i t der empirischen Welt steht. Erst dann werden wir uns d e m zuwenden, was man die I n d i v i d u a l i t ä t der empirischen Wirklichkeit nennen kann, und auf dessen Verhältnis zu den Begriffen der naturwissenschaftlichen Darstellung es uns hauptsächlich ankommt. Schon die Beschreibung, die allgemeine Wortbedeutungen verwendet, sieht ab von der anschaulichen Mannigfaltigkeit, die jedes einzelne Gebilde uns unmittelbar darbietet. Allerdings wird der Begriffsinhalt in vielen Fällen noch durch Anschauungen vertreten, aber, wie wir wissen, kann diese Vertretung wegen ihrer unbestimmten Mannigfaltigkeit in einem wissenschaftlichen Leistungszusammenhange geradezu störend werden, und sie zu beseitigen, ist daher, wie wir zeigen konnten, eine weitere Aufgabe, die die Begriffsbildung sich stellen muß. Ist auch diese Aufgabe durch die Begriffsbestimmung gelöst, so läßt sich der Inhalt des Begriffes durch eine Anschauung nicht mehr in adäquater Weise vergegenwärtigen. Sollten dabei noch gewisse anschauliche Reste stehen bleiben, so verschwinden sie doch um so mehr, je weiter die Begriffsbildung fortschreitet, und denken wir schließlich das logische Ideal einer naturwissenschaftlichen Theorie erreicht, so finden

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wir in dem Inhalt der Begriffe nichts mehr von d e r Anschauung, welche die Erfahrung unmittelbar darbietet. Wir können daher geradezu sagen, daß die logische Vollkommenheit eines naturwissenschaftlichen Begriffes von dem Grade abhängt, in dem die empirische oder sinnliche Anschauung aus seinem Inhalte entfernt ist. Obwohl dieser Satz nur eine selbstverständliche Konsequenz aus früheren Ausführungen zum Bewußtsein bringt, wollen wir ihn doch noch etwas genauer erläutern. Man könnte nämlich meinen, daß er nicht für alle Naturwissenschaften in gleicher Weise zutreffe. Zunächst wird man vielleicht die P s y c h o l o g i e ausnehmen wollen, und es ist in der Tat schwer, zu zeigen, daß ihre Begriffe, wenn sie im naturwissenschaftlichen Sinne logisch vollkommen wären, keine anschaulichen Elemente mehr enthalten würden. Denn ein Ideal logisch vollkommener Begriffe, das sich allgemeiner Anerkennung erfreut, gibt es für diese Wissenschaft bisher nicht. Wer meint, daß es unmöglich ist, das gesamte psychische Leben generalisierend unter einen einheitlichen Begriff zu bringen, und z. B. psychische Gebilde wie „Vorstellung“, „Gefühl“ und „Wille“ oder irgendeine andere Mehrheit von Gruppen seelischer Vorgänge als die letzten Klassen betrachtet, die unter keinen umfassenderen Begriff | von wissenschaftlicher Fruchtbarkeit zu bringen sind, der wird allerdings die empirische Anschauung niemals gänzlich aus den psychologischen Darstellungen entfernen wollen. Der Inhalt der „letzten“ Begriffe ist dann dadurch zu gewinnen, daß man an irgendeinen anschaulichen psychischen Vorgang denkt, der zu je einer der letzten Klassen gehört. Den allgemeinsten Begriff eines psychischen Realen überhaupt kann man unter dieser Voraussetzung ebenfalls nur so bilden, daß man entweder eine Vorstellung oder ein Gefühl oder einen Willensakt als Stellvertretung des Begriffsinhaltes auftauchen läßt und sich zugleich darauf besinnt, daß es nicht darauf ankommt, welchen Vorgang man gerade zu diesem Zwecke gewählt hat. Einen selbständigen wissenschaftlichen Inhalt hat dann also der allgemeinste Begriff des Psychischen nicht mehr. Anders aber steht es, wenn man versucht, alles psychische Leben unter einen einheitlichen Begriff zu bringen, der unabhängig von diesen Bestandteilen ist, d. h. wenn man z. B. meint, daß in den Gefühlen und Willensakten, wie überhaupt in allen psychischen Vorgängen, kein psychisches „Element“ vorkommen kann, das nicht in irgendwelchen „Vorstellungen“ ebenfalls enthalten ist, und diese Behauptung, um wieder auf die bereits herangezogene Theorie zurückzugreifen, darauf stützt, daß alle psychischen Vorgänge als Komplexe von einfachen „Empfindungen“ zu begreifen seien. In einem solchen Begriffe des Seelenlebens wäre nun kein anschauliches Element mehr enthalten, denn sollen die Empfindungen in Wahrheit die „letzten“ Elemente a l l e s Seelenlebens sein, dann müssen sie wie die letzten körper-

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lichen Dinge als etwas, das einfach ist, definiert werden, und damit wäre der Begriff eines Psychischen gebildet, das niemals anschaulich gegeben sein kann. Falls also eine psychologische Theorie überhaupt darauf ausgeht, alle psychischen Vorgänge unter Begriffe zu bringen, die nur noch die „einfachen“ Bestandteile des Psychischen enthalten, muß auch sie bestrebt sein, aus ihnen immer mehr das zu entfernen, was uns in der Anschauung als psychisch gegeben ist. Für die generalisierende naturwissenschaftliche Psychologie bleibt es daher jedenfalls richtig, daß in ihre primitiveren Begriffe immer nur ein Teil der empirischen Anschauung eingeht, der darin lediglich die Rolle der Stellvertretung spielt, und daß ein Fortschritt in der logischen Vollkommenheit der Begriffsbildung mit einer Entfernung dieser sinnlich empirischen Anschauung aus dem Inhalte der Begriffe zusammenfällt. Stärkere Bedenken jedoch werden vielleicht der Behauptung ent- | gegenstehen, es fehle auch den Begriffen, in denen die Naturwissenschaft von der K ö r p e r welt denkt, an empirischer Anschauung um so mehr, je vollkommener sie sind. Nicht selten wird ja gerade die Anschaulichkeit der Naturwissenschaften von den Körpern als ihr besonderer Vorzug hervorgehoben, ja, es läßt sich sogar die Behauptung vertreten, die Körperwelt werde für uns um so anschaulicher, je weiter die naturwissenschaftliche Begriffsbildung fortschreite, und es müsse insbesondere eine vollkommene naturwissenschaftliche, d. h. rein mechanische Erklärung eines physischen Vorganges geradezu mit seiner Veranschaulichung identifiziert werden. Danach bleibt es z. B., kann man sagen, solange eine mechanische Theorie fehlt, ganz unanschaulich, wodurch aus der Mischung zweier chemischer Stoffe unter bestimmten Bedingungen ein dritter Stoff entsteht, der mit den beiden andern gar keine anschauliche Aehnlichkeit mehr besitzt. Gelingt es dagegen, alle Vorgänge solcher Art auf Bewegung letzter Dinge zurückzuführen, dann sind sie dadurch zugleich anschaulich geworden. Gerade der Körperbegriff der letzten Naturwissenschaft scheint also erst eine Anschauung von den Vorgängen der Körperwelt zu geben, die wir in der unmittelbaren Erfahrung noch nicht besitzen. Selbstverständlich sind wir weit davon entfernt, der mechanischen Naturwissenschaft die Anschaulichkeit überhaupt abzusprechen, und nur d a s meinen wir, daß der wesentliche Inhalt ihrer Begriffe, sobald wir von allen Stellvertretungen absehen, mit d e r Anschauung, die wir aus der Erfahrungswelt unmittelbar kennen, um so weniger zu tun hat, je weiter wir die mechanische Naturauffassung in dem früher angegebenen Sinne als vollendet denken. Um uns dies klar zu machen, brauchen wir in dem mechanischen Körperbegriff wieder nur die Relationsbegriffe von den Dingbegriffen zu scheiden. Daß der Begriff des „letzten Dinges“ nichts Anschauliches mehr umfaßt, wissen wir. Anders verhält es sich allerdings mit den Rela-

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tionsbegriffen, wenn wir voraussetzen, daß alle Beziehungen zwischen den Körpern aus Bewegungen bestehen, denn was eine Bewegung ist, kennen wir aus der empirischen Anschauung. Dennoch gibt es zwischen den Bewegungen, die wir aus ihr kennen, und denen, die im Inhalte der Begriffe der letzten Naturwissenschaft gedacht werden, einen erheblichen Unterschied. Empirisch anschaulich ist immer nur die Bewegung eines sinnlich gegebenen Körpers. Da es sich aber in einer rein mechanischen Naturauffassung um die Bewegung von Körpern handelt, die sinnlich nicht gegeben sein können, so enthalten auch die Relationsbegriffe der letzten Naturwissenschaft | nichts mehr, was in dem Sinne anschaulich ist wie die empirische Wirklichkeit. Die Anschaulichkeit im Inhalte eines vollkommen mechanischen Weltbegriffes bleibt vielmehr nur noch mathematisch oder quantitativ bestimmt und fällt also mit der stets qualitativ mannigfaltigen s i n n l i c h e n Anschauung der Erfahrungswelt nie zusammen. Wir kommen hier wieder auf jenen Gegensatz des Homogenen und des Heterogenen zurück, der uns schon früher einmal beschäftigt hat. Wenn wir von einer Anschauung der empirischen Wirklichkeit reden, so ist allein die heterogene, niemals die unsinnlich homogene Anschauung mathematischer Gebilde gemeint. Der homogenen Anschauung der Mathematik fehlt es an der prinzipiellen Unübersehbarkeit, die das Charakteristikum der heterogenen sinnlich anschaulichen empirischen Wirklichkeit ist. Nur von der heterogenen sinnlichen Anschauung also behaupten wir, daß sie in die Begriffe der Naturwissenschaft nicht eingeht. Dabei wollen wir nicht in Abrede stellen, daß man oft geneigt ist, an die Stelle der rein mechanischen naturwissenschaftlichen Begriffe solche treten zu lassen, die noch empirisch sinnlich anschauliche Momente enthalten. Statt den Begriff einfacher oder letzter Dinge zu bilden, denken wir leicht an sehr kleine, aber doch immer noch sinnlich anschauliche Körper und setzen so an die Stelle des in Wahrheit sinnlich unanschaulichen Körperbegriffs das in hohem Maße anschauliche Bild einer Menge von sichtbaren Kugeln oder dergleichen, die aufeinander stoßen, voneinander abprallen, sich eventuell anziehen usw. Es soll ferner auch nicht geleugnet werden, daß die Möglichkeit einer solchen empirisch-anschaulichen Stellvertretung bei der allmählichen Entstehung der mechanischen Naturauffassung neben der mathematischen Anschaulichkeit dieses Weltbegriffes von großer Bedeutung gewesen ist. Ja, noch heute würde die mechanische Naturauffassung vielleicht nicht so populär sein, wenn sich ihren Begriffen nicht diese sinnlich anschauliche Stellvertretung unterschieben ließe. Es ist sogar schließlich nicht zu bestreiten, daß das sinnlich anschauliche Bild in vielen Fällen das naturwissenschaftliche Verständnis erleichtern und fördern kann. Es fehlt ja in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Begriffen das, was sonst leicht

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das Auftreten von empirischen Anschauungen als störend für die sichere Anwendung der Begriffe erscheinen läßt. Weil wir wissen, daß diese Begriffe rein quantitativ sind, also eigentlich von a l l e r empirischen Anschauung frei sein sollten, können wir niemals im Zweifel darüber sein, welche Teile der Anschauung als wesentlich zu gelten haben und welche nicht. Ebenso wie in der Mathematik selbst vermag | die zur Erleichterung des Denkens herangezogene Mannigfaltigkeit der empirischen sinnlichen Anschauung daher niemals eine unwissenschaftliche Unbestimmtheit der Begriffe herbeizuführen. Aber dies alles soll nur erklären, warum über die Anschaulichkeit des naturwissenschaftlichen Weltbegriffes verschiedene Meinungen bestehen können, und es muß im übrigen zeigen, daß, wenn wir von den stellvertretenden Bildern absehen, das Ziel der letzten Körperwissenschaft, ebenso wie das der andern Naturwissenschaften, in einer Entfernung der sinnlichen Anschauung aus dem Inhalte ihrer Begriffe besteht. Das Resultat, zu dem wir bei Beantwortung der Frage gekommen sind, welches Verhältnis die naturwissenschaftliche Begriffsbildung zur Anschaulichkeit der Wirklichkeit hat, bleibt daher für jede Naturwissenschaft in derselben Weise gültig. Einen Gegensatz zwischen dem Inhalt der B e g r i f f e einerseits und der sinnlich anschaulichen W i r k l i c h k e i t andererseits möglichst scharf herauszuarbeiten, ist gerade der Sinn und der Zweck der Naturwissenschaft. Die Erzeugung einer derartigen Kluft ist das notwendige Resultat jeder Betrachtung der Wirklichkeit als „Natur“, d. h. mit Rücksicht auf das Allgemeine. Welches auch immer der Inhalt der Begriffe sein mag, zur empirischen Welt des sinnlich Anschaulichen steht er in um so entschiedenerem Gegensatze, je weiter fortgeschritten im logischen Sinne die naturwissenschaftliche Begriffsbildung ist.69 | 69

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Sehr zutreffend wird das Verhältnis der physikalischen Theorie zur unmittelbar anschaulichen Wirklichkeit auch von dem Physiker P l a n c k dargestellt. (Die Einheit des physikalischen Weltbildes. [In:] Physikalische Zeitschrift X, 1909, S. 62 ff.) Planck zeigt, wie „die wissenschaftliche Forschung in allen ihren Gebieten entweder an unmittelbar praktische Bedürfnisse oder an besonders auffällige Naturerscheinungen anknüpft“, und wie dann die „Vereinfachung“ durch die Wissenschaft „sich begleitet zeigt von einem auffallenden Zurücktreten des menschlich-historischen (!) Elements in allen physikalischen Definitionen“. „In der physikalischen Akustik, Optik und Wärmelehre sind die spezifischen Sinnesempfindungen geradezu ausgeschaltet. Die physikalischen Definitionen des Tons, der Farbe, der Temperatur werden heute keineswegs mehr der unmittelbaren Wahrnehmung durch die entsprechenden Sinne entnommen, sondern Ton und Farbe werden durch die Schwingungszahl bzw. Wellenlänge definiert, die Temperatur theoretisch durch die dem zweiten Hauptsatz der Wärmetheorie entnommene Temperaturskala, in der kinetischen Gastheorie durch die lebendige Kraft der Molekularbewegung, praktisch durch die Volumenänderung einer thermometrischen Substanz bzw. durch den Skalenausschlag eines Bolometers oder Thermoelements; von der Wärmeempfindung ist aber bei der Temperatur in keinem Fall mehr die Rede.“ Auch „in der modernen Definition der Kraft erscheint die spezifische Sinnesempfindung ebenso eliminiert wie in derjenigen der Farbe der Farbensinn“. Planck ist sich dabei der Tragweite dieses Umstandes vollständig bewußt: „Bedenkt man“, sagt er, „daß doch die Empfindungen

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Damit hängt nun aber etwas anderes unmittelbar zusammen, das die Bedeutung dieses Gegensatzes für unser Problem erst völlig klar macht. Nicht mit der homogenen mathematischen, wohl aber mit der heterogenen empirisch-sinnlichen Anschauung, welche die naturwissenschaftliche Begriffsbildung aus ihren Darstellungen entfernt, ist das verbunden, was wir die „Individualität“ der Wirklichkeit nennen, falls dieses Wort das Wirkliche selbst bezeichnen soll, und deswegen muß die Beseitigung der empirischen Anschauung, so wie sie von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung vollzogen wird, stets zugleich Entfernung des individuellen Charakters der gegebenen Wirklichkeit aus dem Inhalt der Begriffe bedeuten. Oder: ebenso wie von der empirischen Anschauung enthalten auch von dem Individuellen die naturwissenschaftlichen Begriffe um so weniger, je vollkommener im logischen Sinne sie werden. Das Individuelle im strengen Sinne fehlt bereits ihrer primitivsten Form, und schließlich kommt die Naturwissenschaft darauf hinaus, daß alles Wirkliche im Grunde genommen ein und dasselbe ist, also gar nichts Individuelles mehr enthält. Dies für die verschiedenen Wissenschaften im einzelnen ausführlicher zu zeigen, ist nicht notwendig. Wir sahen: welchen Teil der durchweg anschaulichen und individuellen wirklichen Welt, in der wir leben, man auch betrachten möge, so hat man nach naturwissenschaftlicher Ansicht, wenn es sich um Körper handelt, überall Bewegung von Atomen vor sich, und für das Seelenleben wird eine analoge Auffassung wenigstens versucht. Ist irgend etwas naturwissenschaftlich begriffen, so ist im Begriff mit der Mannigfaltigkeit der empirischen Anschauung zugleich alles das verloren gegangen, was es zu einem r e a l e n I n d i v i d u u m macht. Um die Tragweite dieses Ergebnisses zu würdigen, stellen wir noch genauer fest, was „Individuum“ und „Individualität“ in diesem Zusammenhange heißt. Wir sind gewöhnt, bei den Wörtern vor allem an Persönlichkeiten zu denken. Das kommt hier zunächst nicht in Frage, sondern der Begriff des Individuums, den wir im Auge haben, ist, ent- | sprechend der allgemeinen logischen Tendenz unserer Bestimmungen, viel umfassender, so daß das menschliche Individuum nur eine seiner Arten bildet. Wir müssen uns darauf besinnen, daß j e d e r körperliche oder seelische Vorgang, so wie wir ihn unmittelbar erfahren oder erleben, ein „Individuum“ ist, d. h. ein Gebilanerkanntermaßen den Ausgangspunkt aller physikalischen Forschung | bilden, so muß diese bewußte Abkehr von den Grundvoraussetzungen immerhin erstaunlich, ja paradox, erscheinen. Und dennoch liegt kaum eine Tatsache in der Geschichte der Physik so klar zutage wie diese. Fürwahr, es müssen unschätzbare Vorteile sein, welche einer solchen prinzipiellen Selbstentäußerung wert sind!“ Ich konnte es mir nicht versagen, diese Sätze hier zu zitieren, um zu zeigen, daß man auch in p h y s i k a l i s c h e n Kreisen von der Richtigkeit dessen überzeugt ist, worauf meine l o g i s c h e Deutung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sich stützt. Eine bessere B e s t ä t i g u n g meiner stark angefochtenen „irrationalistischen“ Aufstellungen läßt sich nicht denken.

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de, das nur einmal an dieser einen bestimmten Stelle des Raumes und der Zeit wirklich vorkommt, von allen andern körperlichen oder seelischen Vorgängen verschieden, sich niemals wiederholt und daher, wenn es zerstört wird oder vergangen ist, der realen Welt für immer verloren geht. Freilich gibt es, auch wenn wir von den Persönlichkeiten absehen, noch einen zweiten Begriff des Individuums, der nicht mit dem hier gemeinten des einmaligen und besonderen Wirklichen überhaupt zusammenfällt, und der uns später ausführlich beschäftigen wird. Aber um die Besonderheit, Einzigartigkeit und Einmaligkeit jeder Wirklichkeit zu bezeichnen, benutzen wir ebenfalls das Wort Individualität, und die nie wiederkehrende Besonderheit, Einzigkeit und Einmaligkeit jeder b e l i e b i g e n Wirklichkeit wollen wir zunächst allein hervorheben, um das zu kennzeichnen, was in einen naturwissenschaftlichen Begriff nicht eingehen kann, weil es mit der sinnlich empirischen Anschauung verschwindet. Wir sagen damit im Grunde genommen etwas Selbstverständliches, und doch wird dies Selbstverständliche leicht übersehen. Wir sind geneigt, die Individualität als das, was einzig und von allem anderen verschieden ist, lediglich mit einem Te i l e der Wirklichkeit zu verbinden, und gerade die Naturwissenschaft hat uns hieran gewöhnt. Wenn wir nämlich in ihr von der individuellen Gestaltung der Dinge absehen, stört uns dies in den meisten Fällen nicht, und zumal wenn es sich um Körper handelt, merken wir es kaum. Uns interessiert es nicht, daß jedes Blatt an einem Baum anders aussieht als die Blätter daneben, daß kein Stück eines chemischen Stoffes, welches in eine Retorte geworfen wird, irgendeinem andern Stücke „desselben“ Stoffes genau gleicht und niemals wieder vorkommt. Der gemeinsame Name genügt uns zur Bezeichnung, und wir kümmern uns dementsprechend nur um das, was vorhanden sein muß, falls der Name angewendet werden soll, d. h. wir setzen unwillkürlich den Inhalt der anschaulichen Wirklichkeit in den Inhalt von allgemeinen Begriffen um und meinen dann, daß, weil wir immer wieder etwas finden, das dem Inhalte dieser Begriffe entspricht, auch das Wirkliche selbst sich wiederhole oder einem anderen Realen gleich sei. Dies aber ist in Wahrheit nie der Fall, und sobald wir daran denken, muß die Tragweite der Tatsache, daß jede naturwissenschaftliche oder | generalisierende Begriffsbildung die Anschaulichkeit und Individualität der einmaligen empirischen Wirklichkeit ignoriert, uns zum Bewußtsein kommen. Geht nämlich nichts Individuelles und Anschauliches in den Inhalt der Begriffe ein, dann folgt daraus, daß auch vom W i r k l i c h e n , so wie es wirklich ist, in ihnen nichts erhalten bleibt, wobei unter dem „Wirklichen“ selbstverständlich nichts anderes zu verstehen ist als die unmittelbar gegebene oder erfahrene Wirklichkeit, in der wir sinnlich leben. Die Kluft zwi-

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schen den Begriffen und den Individuen, die durch die Naturwissenschaft hervorgebracht wird, ist demnach eine Kluft zwischen den Begriffen und der empirischen Wirklichkeit in ihrer Einmaligkeit und Besonderheit überhaupt. Eine generalisierend verfahrende naturwissenschaftliche Darstellung meint nicht mehr dieses oder jenes besondere Wirkliche, sondern sieht von allem ab, was die Objekte zu diesen besonderen Wirklichkeiten und damit überhaupt erst zu etwas Wirklichem macht. Wir kommen also zu folgendem Resultat. Die Wirklichkeit können wir ihrem Inhalt nach wohl unmittelbar „erleben“ oder „erfahren“, aber sobald wir den Versuch machen, sie durch die Naturwissenschaft zu begreifen, entweicht uns immer gerade das von ihr, woraus sie als Wirklichkeit besteht. Nur mit dem unmittelbaren Leben, niemals mit den Begriffen der Naturwissenschaft kommen wir an das inhaltlich erfüllte Wirkliche heran. Der Umstand, daß das Wort „Wirklichkeit“ auch der Name für die F o r m sein kann, die wir dem unmittelbar erlebten anschaulichen und individuellen Inhalt beilegen, ist in diesem Zusammenhange ohne Bedeutung. Wir nennen wirklich den I n h a l t , der sinnlich anschaulich und individuell ist, und so wird klar, wie alles, was wir von dem Verhältnisse der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zur Anschaulichkeit und Individualität sagen konnten, auch von ihrem Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit selbst gelten muß. Je vollkommener wir unsere naturwissenschaftlichen Theorien und Darstellungen ausbilden, desto weiter entfernen wir uns von der einmaligen, anschaulichen und individuellen Wirklichkeit, d. h. von dem Wirklichen überhaupt, und desto sicherer geht es uns bei der Arbeit, sowohl mit Rücksicht auf seine Anschaulichkeit als auch mit Rücksicht auf seine Individualität, unter den Händen verloren. Das läßt sich für die verschiedenen Stadien des naturwissenschaftlichen Begriffs leicht feststellen. Benutzen wir gewisse elementare Wortbedeutungen, so behalten wir in ihnen vom Inhalt des Wirklichen noch relativ viel. Die anschaulichen Vertretungen der Begriffe, die von der | anschaulichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit ein Bild geben, drängen sich fortwährend heran. Aber sie kümmern uns nicht, sondern sie stören uns sogar. Und wenn wir die naturwissenschaftlichen Theorien vollendet denken, dann reden wir von Dingen oder Vorgängen, von denen wir geradezu alles das verneinen, was die unmittelbare Erfahrung uns von der Wirklichkeit überall auf Schritt und Tritt darbietet, und was allein als empirisch wirklich bezeichnet werden darf. Auch gilt dieser Abstand vom Wirklichen für den Inhalt von solchen Begriffen, die durch die Analyse einzelner Vorgänge entstehen, ebenso wie für die Begriffe, die durch empirische Vergleichung mehrerer Objekte zustande kommen, und wir können daher hier in aller Kürze sagen: was die Begriffe der Naturwissenschaft noch von dem Inhalte der anschaulichen

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und individuellen Wirklichkeit besitzen, das ist auch noch nicht naturwissenschaftlich begriffen. Hat man dagegen einen logisch vollkommenen naturwissenschaftlichen Begriff gebildet, so ist aller sinnlich anschauliche und individuelle Wirklichkeitsinhalt in dem angegebenen Sinne aus ihm verschwunden. Damit haben wir eine allgemeine Antwort auf die Frage erhalten, die im Mittelpunkt dieses Kapitels steht. D a s , w a s d e r n a t u r w i s s e n s c h a f t lichen Begriffsbildung die Grenze setzt, über die sie niemals hinwegzukommen vermag, ist nichts anderes als die e i n m a l i g e e m p i r i s c h e W i r k l i c h k e i t s e l b s t , so wie wir sie in ihrer A n s c h a u l i c h k e i t und I n d i v i d u a l i t ä t unmittelbar sinnlich erleben. – Das Ergebnis dieser Untersuchung mag zunächst paradox klingen. Die Begriffe der Naturwissenschaft, so wird man fragen, sollen um so vollkommener sein, je weniger sie von der Wirklichkeit enthalten, zu deren Erkenntnis wir sie gebildet haben? Das kann nicht richtig sein, denn unter dieser Voraussetzung hätte ja die Naturwissenschaft ihr Ziel verfehlt. Sie soll uns doch zum Wirklichen hinführen, nicht aber von ihm entfernen. Ihr Ergebnis darf daher nicht ein System von Begriffen sein, dessen Inhalt im Gegensatze zu dem der empirischen Wirklichkeit steht. Ja, noch aus einem andern Grunde scheint dieses Resultat falsch. Nicht nur theoretische Erwägungen sprechen dagegen, sondern auch die Tatsache, daß wir mit Hilfe der Naturwissenschaft uns in der Wirklichkeit orientieren und sie sogar vorausberechnen können. Solche und ähnliche Gedanken werden sich sogleich unsern Ausführungen entgegenstellen, und wir müssen sie daher sowohl mit Rücksicht auf | den Begriff der Naturwissenschaft als auch mit Rücksicht auf den der Wirklichkeit noch etwas vervollständigen. Was den Begriff der Naturwissenschaft betrifft, so können wir darauf allein hinweisen, daß es selbstverständlich jedem frei steht, unter dem Wort „Naturwissenschaft“ das zu denken, was er will, und daß man daher unsere Definition ablehnen kann, nach der die Naturwissenschaft, um das Ganze einer unübersehbaren Wirklichkeit zu erkennen, diese mit Rücksicht auf das Allgemeine zu betrachten und wenn möglich ihre Gesetze zu finden habe. Zugleich dürfen wir aber die Tatsache konstatieren, daß die Wissenschaften, die Naturgesetze zu erkennen suchen, meist als Naturwissenschaften bezeichnet werden, und wir wissen, daß solche Gesetzeswissenschaften nicht den Sinn haben können, die Wirklichkeit in ihrer Anschaulichkeit und Individualität selbst in ihre Theorien aufzunehmen. Der Inhalt eines Gesetzesbegriffes ist wie der jedes naturwissenschaftlichen Begriffes allgemein. Der Inhalt jeder empirischen Wirklichkeit dagegen ist individuell. Diese Kluft ist niemals zu überbrücken, denn auf ihr beruht geradezu der

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Sinn der Erkenntnis des Wirklichen als Natur. Daher muß für jede wissenschaftliche Arbeit, die irgendein Stück der Wirklichkeit systematisch mit allgemeinen Begriffen darstellen will, das Ergebnis unserer Ausführungen als gültig anerkannt werden. Der Versuch einer Systembildung ist aus rein logischen Gründen unzertrennlich verknüpft mit einem Absehen von der individuellen und anschaulichen realen Gestaltung, und ebenso sicher bleibt es, daß alle Wirklichkeit, die wir kennen, lediglich aus anschaulich und individuell gestalteten Gebilden besteht. Daß daher die empirische Wirklichkeit, so wie sie individuell und anschaulich ist, in kein naturwissenschaftliches Begriffssystem eingeht und somit die Grenze jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis bildet, darf nicht bestritten werden, und das ist das einzige, worauf es in diesem Zusammenhange ankommt. Es liegt im B e g r i f f des Naturgesetzes, daß es nichts darüber sagt, was einmal hier oder dort, jetzt oder dann in nie wieder vorkommender Einzigartigkeit und Individualität wirklich geschieht. Das kann man schon daran zum Bewußtsein bringen, daß jedes Naturgesetz sich völlig adäquat in einem sogenannten „hypothetischen“ Urteil formulieren läßt: w e n n das eine geschieht, dann geschieht auch das andere. Die Namen für das eine und das andere sind dabei stets Namen für allgemeine Begriffe. In welcher anschaulichen und individuellen Gestaltung, in welcher Anzahl, zu welcher Zeit, an welchem Orte die Objekte, die unter die allgemeinen Begriffe fallen, | wirklich vorkommen, darüber kann und will das Naturgesetz nichts sagen, ja es würde sofort aufhören, ein Naturgesetz zu sein, falls es solche individuellen Objekte darstellen wollte, und da nur die einmaligen anschaulichen und besonderen Objekte in bestimmter Zahl, an bestimmten Orten und zu bestimmter Zeit wirklich sind, so kann und will das Naturgesetz auch nichts über das Wirkliche selbst sagen, so wie es anschaulich und individuell existiert. Sobald es auf das „wenn – dann“ im Naturgesetz ankommt, steht das o b überhaupt nicht mehr ausdrücklich in Frage, sondern es wird nur stillschweigend vorausgesetzt, daß es Wirkliches gibt, welches unter die im Gesetzesbegriff verknüpften allgemeinen Begriffe fällt. Von seiner Individualität und Anschaulichkeit aber wird notwendig abgesehen. Falls man eine solche Darstellung der Wirklichkeit, in der sie als einmalige, anschauliche, individuelle, also als wirkliche Wirklichkeit verschwindet, nicht naturwissenschaftlich nennen will, wird man von der Naturwissenschaft und ihren Naturgesetzen eine Erkenntnis der Körperwelt oder des Seelenlebens im a l l g e m e i n e n nicht fordern dürfen. Der Umstand ferner, daß wir uns mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in der Wirklichkeit praktisch zu orientieren vermögen, ja sie voraus zu berechnen imstande sind, kann ebenfalls nicht als Einwand dagegen angesehen werden, daß der Inhalt der individuellen und anschaulichen

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Wirklichkeit in den naturwissenschaftlichen Begriffen getilgt ist. Man muß vielmehr umgekehrt sagen, daß, wenn die Begriffe der Naturwissenschaft noch die anschauliche und individuelle Gestaltung der Wirklichkeit enthielten, mit ihrer Hilfe eine praktische Orientierung in der Wirklichkeit und ihre Vorausberechnung nicht möglich wäre. Nur die in den Begriffen vorgenommene Ve r e i n f a c h u n g der Wirklichkeit gestattet uns nämlich eine Orientierung in ihr, wie wir das schon früher bei der Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus hervorgehoben haben. Wir müssen von der einmaligen Besonderheit und Eigentümlichkeit absehen, um uns im Wirklichen zurechtzufinden. Die unübersehbare Mannigfaltigkeit seines Inhalts hebt sonst jede Möglichkeit einer Orientierung auf. Wir würden bei unserm praktischen Handeln ratlos vor der Wirklichkeit stehen, wenn wir nicht allgemeine Begriffe hätten, mit deren Hilfe wir sie zu vereinfachen und sie dadurch zugleich ihrer verwirrenden Individualität und Anschaulichkeit zu berauben vermöchten. Auch daß wir das Wirkliche vorausberechnen, schließt nicht ein, daß die Begriffe der Naturwissenschaft seinen ganzen Inhalt in sich auf- | nehmen. Man muß sich nur klar machen, was das Berechnen bedeutet. Von einem Erfassen der individuellen und anschaulichen Wirklichkeiten in ihrer Anschaulichkeit und Individualität ist dabei keine Rede. Wir sind lediglich in der Lage, zu sagen, in Zukunft werde ein Objekt auftreten, das sich als Exemplar unter diesen oder jenen allgemeinen Begriff bringen läßt. Ueber die Individualität und Anschaulichkeit der zukünftigen Objekte aber wissen wir dadurch nichts. Wir müssen, falls wir auch davon etwas erfahren wollen, immer warten, bis die Objekte wirklich da sind, um dann zu konstatieren, was sie über den allgemeinen Begriffsinhalt hinaus noch an Individualität und Anschaulichkeit, d. h. an voller Wirklichkeit besitzen. Wo wir das übersehen und uns darauf verlassen, daß die Naturwissenschaft voraussagt, was wirklich kommt, liegt das daran, daß wir in diesen Fällen gar nicht wissen w o l l e n , wie das, was sein wird, in seiner Anschaulichkeit und Individualität gestaltet ist, sondern zufrieden sind, falls wir nur wissen, unter welchen allgemeinen Begriff wir die zukünftigen Wirklichkeiten werden bringen können. Die Brauchbarkeit der Naturwissenschaft im praktischen Leben ist also nicht etwa ein Einwand gegen unsere Behauptung. Sobald wir sie richtig verstehen, bildet sie vielmehr einen neuen Beweis dafür, daß die Wirklichkeit in ihrer Anschaulichkeit und Individualität, d. h. so, wie sie wirklich ist, in die naturwissenschaftlichen Begriffe nie eingeht. Wer dennoch daran festhalten möchte, daß die Naturwissenschaft uns zur Wirklichkeit selbst hinzuführen habe, statt uns von ihr zu entfernen, dem bleibt nur ein Ausweg übrig, um den von uns gezogenen Konsequenzen

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zu entgehen. Er wird zugeben, daß zwar der Inhalt der e m p i r i s c h e n Wirklichkeit in den Begriffen der Naturwissenschaft verloren geht, aber zugleich fragen, ob denn diese die einzige Wirklichkeit sei, oder ob nicht vielmehr gerade die Naturwissenschaft den Beweis dafür liefere, daß noch etwas anderes als die unmittelbar erlebte Sinnenwelt wirklich existiere, ja daß dies Andere allein als die „wahre“ Wirklichkeit betrachtet werden dürfe. Sie aber bildet, wird man unter dieser Voraussetzung dann sagen, so wenig die Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, daß vielmehr erst die Begriffe der Naturwissenschaft uns von ihr Kunde geben. Die Welt stellt in ihrem realen „Wesen“ etwas anderes dar, als sie zu sein s c h e i n t . Das Wirkliche ist nicht die bunte Mannigfaltigkeit, die wir unmittelbar wahrnehmen, und die durchweg anschaulich und individuell ist, sondern, soweit sie körperlich existiert, besteht sie aus einem Komplex einfacher Dinge, | und soweit sie Seelenleben ist, bildet sie ebenfalls ein aus einfachen psychischen Elementen zusammengesetztes überall gleiches Sein. Damit braucht nicht der kantische Gegensatz von „Ding an sich“ und „Erscheinung“ gerechtfertigt zu werden, denn das Ding an sich ist nach Kant unerkennbar, und zwar gerade für die Naturwissenschaft. Wohl aber müssen wir unter solchen Voraussetzungen einen Unterschied machen zwischen dem unmittelbar Gegebenen, Anschaulichen und Individuellen und dem, wozu die Naturwissenschaft erst vordringt. Sieht man dann darin allein die „wahre“ Wirklichkeit, so kann man ruhig zugeben, daß die Naturwissenschaft zwar die anschauliche und individuelle Gestaltung der empirischen Welt aus dem Inhalt ihrer Begriffe nach Möglichkeit zu entfernen sucht, denn man wird hinzufügen, daß sie gerade dadurch von der Welt des Scheins loskomme und zum realen Sein vordringe. Ihre Grenze wäre dann lediglich der Schein, den sie zu überwinden hat. Diese Ansicht braucht hier jedoch nicht geprüft zu werden, denn sie kann das Resultat, zu dem wir gelangt sind, in keiner Weise erschüttern. Dies allein wollten wir feststellen: in der Wirklichkeit, die wir unmittelbar kennen, ist alles anschaulich, und jeder beliebige Vorgang ist als Individuum von jedem anderen verschieden. In der Heterogenität des Wirklichen haben wir zugleich seine Individualität. Soll das wahrhaft wirkliche Seelenleben aus nichts anderem als aus lauter einfachen Empfindungen oder sonstigen psychischen „Elementen“ bestehen, und soll jedes körperliche Ding aus physischen „Atomen“ im logischen Sinne des Wortes oder aus „letzten Dingen“ zusammengesetzt sein wie ein Haus aus Ziegelsteinen, so bleibt es doch dabei, daß dann die „wahre“ Wirklichkeit mit der erfahrenen in Hinsicht auf die Anschaulichkeit und Individualität nichts mehr gemein hat. Die empirisch gegebene sinnliche Realität geht jedenfalls in die Begriffe der Naturwissenschaft nicht ein, und darauf allein kommt es hier an.

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Besonders deutlich ist das in bezug auf die Körperwelt, und zwar gerade deshalb, weil die Wissenschaft von ihr als die logisch vollkommenste Naturwissenschaft angesehen werden muß. Jeder Körper, den wir unmittelbar kennen, ist individuell und anschaulich gestaltet, und selbst wenn es zwei Dinge gäbe, die einander mit Rücksicht auf ihre Anschaulichkeit und Individualität genau glichen, könnte ein Beweis dafür wegen ihrer unübersehbaren Mannigfaltigkeit nicht geführt werden. Die Atome im logischen Sinn des Wortes dagegen sind untereinander vollständig gleich. Obwohl die Worte „Atom“ und „Individuum“ das- | selbe „Unteilbare“ zu bedeuten scheinen, ist doch das, was durch sie bezeichnet wird, voneinander so verschieden wie möglich. Ja, es klafft ein prinzipieller logischer Gegensatz zwischen den beiden Begriffen. Das kann im Interesse der Wissenschaftslehre nicht scharf genug hervorgehoben werden. Während das Atom, wenn es, um nur dies zu sagen, kein naturwissenschaftliches Problem mehr enthalten, sondern zur Lösung von Problemen dienen soll, als absolut einfach angenommen werden muß, ist jedes Individuum, da es sich von allen andern Individuen unterscheidet, mannigfaltig und zusammengesetzt. Die Einheit der Einfachheit aber dürfen wir nicht mit der „Einheit“ der Mannigfaltigkeit verwechseln, die das Individuum zeigt. Jedenfalls: eine Wissenschaft, die von der Welt der Individuen zu einer Welt der Atome übergeht, behält von der ihr ursprünglich gegebenen und erfahrenen Wirklichkeit nichts mehr übrig, und es bleibt also dabei, daß in die Begriffe der Naturwissenschaft von der Welt, die wir unmittelbar kennen, um so weniger eingeht, je logisch vollkommener die Begriffe sind. J e d e r F o r t s c h r i t t i n d e r A t o m i s i e r u n g m u ß m i t e i n e r f o r t s c h r e i t e n d e n Ve r n i c h t u n g d e r I n d i v i d u a l i t ä t z u s a m m e n f a l l e n . Spricht man aus diesen oder jenen Gründen der Erfahrungswelt der Individuen die „wahre“ Realität ab, so ist diese Welt doch jedenfalls die Wirklichkeit, in der wir sinnlich leben, aus der unsere Freuden und Schmerzen stammen, in der wir uns praktisch betätigen, und die wir doch wohl auch erkennen wollen, wenn wir Wissenschaft treiben. Mag also die Naturwissenschaft aus dieser Welt zur „wahren“ Wirklichkeit vordringen, unter allen Umständen wird sie darauf verzichten müssen, das, was wir unmittelbar erleben, in seiner Anschaulichkeit und Individualität in ihre Theorien aufzunehmen, und das allein ist es, was wir feststellen wollen. Warum wir uns auf dieses Ergebnis beschränken können, werden wir noch deutlicher sehen, sobald wir später fragen, was schon daraus für die Begriffsbildung der Geschichtswissenschaft folgt. Nur ein Moment sei sogleich noch ausdrücklich erörtert, das zwar für die Ueberzeugungskraft unseres Gedankenganges nicht unentbehrlich ist, dessen Vernachlässigung aber doch zu Mißverständnissen führen kann und geführt hat.

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Wir haben vorher die Anschaulichkeit, welche die Welt der mathematischen, quantifizierenden Naturwissenschaft besitzt, von der Anschaulichkeit der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit unterschieden. Die eine Anschaulichkeit ist homogen, die andere heterogen. Daß dieser | Unterschied von prinzipieller logischer Bedeutung sein muß, liegt auf der Hand. Nun kann man aber sagen, daß die rein quantitative Welt der mathematischen Naturwissenschaft doch auch „Individualität“ besitze, und daß d i e s e Individualität durchaus nicht die Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sei, sondern sich restlos mit Hilfe der mathematischen Naturgesetze erkennen lasse. Daraus wird man dann weiter folgern, daß, weil die Individualität der quantitativen Welt der Individualität der empirischen Wirklichkeit genau e n t s p r e c h e n müsse, auf diesem Wege auch die Individualität der empirischen Wirklichkeit mit Hilfe der Naturwissenschaft erkennbar werde, und hält man das für richtig, dann muß die Meinung entstehen, der Riehl 70 mit den Worten Ausdruck gegeben hat: „Ohne Zweifel reicht auch der Naturforscher, wenn er will, zu den wirklichen Dingen und Vorgängen herab, da er doch die Gesetze von den Dingen und Vorgängen der Wirklichkeit ableitet. Er braucht nur die Konstanten seiner Formeln zu bestimmen, um den Rückweg zu den realen Vorgängen zu nehmen.“ Ist diese Ansicht haltbar? Die Konstanten in den mathematischen Gesetzesbegriffen können nur q u a n t i t a t i v bestimmte Konstanten sein, und wenn man ihre quantitative Bestimmtheit eine „Individualität“ nennen will, so mag man das tun. Das Wort Individualität hat mehrere verschiedene Bedeutungen, die sorgfältig gegeneinander abzugrenzen, später noch unsere Aufgabe sein wird. Schon jetzt aber ist klar, daß die mathematische „Individualität“ mit der Individualität der stets qualitativ bestimmten, anschaulich gegebenen empirischen Wirklichkeit nicht viel mehr als den Namen gemein hat. Gewiß kann man in die mathematisch formulierten Gesetzesbegriffe der Naturwissenschaft quantitativ bestimmte Konstanten einsetzen und auf diese Weise dann die rein quantitativen Bestimmungen der empirischen Wirklichkeit sogar berechnen. Die Individualität der sinnlich anschaulichen, empirischen Wirklichkeit wird aber dabei immer nur nach ihrer quantitativen S e i t e getroffen, und diese quantitative Seite ist, für sich allein betrachtet, weit davon entfernt, die Individualität der empirischen Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Wenn man das Quantitative individuell bestimmt nennt, so ist seine „Individualität“ grade n i c h t die Individualität des W i r k l i c h e n , sondern die Individualität eines von dieser Wirklichkeit begrifflich losgelösten isolierten Faktors und damit eine durchaus unwirk70

Logik und Erkenntnistheorie, a. a. O. Auch Einwände von F r i s c h e i s e n - K ö h l e r und C a s s i r e r kommen in der Hauptsache auf diesen Gedanken hinaus.

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liche Individualität. Durch die Viel- | deutigkeit des Wortes „Individuum“ sollte man sich darüber nicht täuschen lassen. Um zu voller Klarheit zu kommen, wollen wir diese Gedanken in einen größeren Zusammenhang bringen und so noch etwas genauer das Verhältnis der begrifflichen quantitativen Welt zu dem, was wir vom empirischen Standpunkt aus allein als Wirklichkeit bezeichnen dürfen, verstehen. Besonders an den Gedanken einer rein quantitativen Atomistik oder einer durchgeführten mechanischen Körperauffassung knüpfen leicht die Meinungen an, die auf einem Verkennen der Unbegreiflichkeit der anschaulichen und individuellen Wirklichkeit durch die Naturwissenschaft beruhen, und die daher auch das Verhältnis der Geschichte zur Naturwissenschaft verkennen müssen, weil, wie wir später sehen werden, die Geschichtswissenschaft der empirischen Wirklichkeit in noch genau zu bestimmender Hinsicht näher steht als die Wissenschaft von der Natur. Den schärfsten und prinzipiellsten Ausdruck findet der Irrtum, den wir bekämpfen, dort, wo man das Ideal einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis des Anschaulichen und Individuellen zu dem einer „Weltformel“ erweitert, in der das Universum „durch ein unermeßliches System simultaner Differenzialgleichungen“ dargestellt wird, „aus dem sich Ort, Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit jedes Atoms im Weltall zu jeder Zeit“ ergeben soll.71 Falls dieser Begriff des von La Place gedachten Geistes als Ideal der Erkenntnis vorschwebt, dann wird man freilich dem Gedanken der prinzipiellen Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nicht zustimmen und meinen, es sei zwar n o c h n i c h t gelungen, das Besondere, Individuelle und Anschauliche restlos zu begreifen, im Prinzip dagegen nicht unmöglich, „Einzelheiten der anschaulichen Mannigfaltigkeit nicht nur in jedem Augenblicke zu verstehen, sondern auch für beliebige vergangene oder zukünftige Zeitelemente zu berechnen“.72 In dem Auseinanderfallen von Naturwissenschaft und Wirklichkeit kann man dann lediglich eine vorläufige Unvollkommenheit der Wissenschaft erblicken und glauben, daß „die Erkenntnis des einzelnen in einer Weiterentwicklung unserer Naturwissenschaft ihre Lösung wenigstens ohne logische Schwierig- | keiten finden k a n n “ , oder daß „auch der geschichtliche Verlauf des Anschaulichen sich prinzipiell rein naturwissenschaftlich deduzieren läßt“.73 So kommt man zur Bekämpfung der hier vertretenen Theorie. Ist man sich über das Verhältnis der Atomwelt oder irgendeiner andern rein quantitativen Welt, auf die allein der Gedanke des La Placeschen Gei71 72

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Vgl. E. d u B o i s - R e y m o n d , Reden, I, S. 105 ff. K. M a r b e , Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 111, S. 266 ff. Die Kritik, die Marbe meinen Ansichten gewidmet hat, bringt gewisse rationalistische Dogmen des Naturalismus besonders scharf zum Ausdruck und ist insofern lehrreich. M a r b e , a. a. O., S. 277.

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stes angewendet werden darf, zur empirischen Wirklichkeit klar, dann muß man einsehen, weshalb sowohl der Gedanke einer „Weltformel“, die gestatten soll, alles Individuelle und Besondere im Wirklichen zu berechnen, als auch die etwas abgeschwächte Behauptung, man könne irgendeine anschauliche und individuelle Einzelheit des individuellen Verlaufes der Wirklichkeit „prinzipiell rein naturwissenschaftlich deduzieren“, nicht nur etwas tatsächlich Unausführbares für möglich hält, sondern einen logischen Widerspruch einschließt. Es gibt zwar einen Weg von der empirischen Wirklichkeit zur Atomwelt durch Ve r a r m u n g der unmittelbar gegebenen Anschaulichkeit und Individualität, aber es k a n n keinen Weg geben, der von der Atomwelt wieder so zur empirischen Wirklichkeit z u r ü c k f ü h r t , daß er m e h r von ihr begreift, als eben das, was in den Begriffen von dieser Atomwelt enthalten ist. Wie will man aus einer rein quantitativen Welt jemals die Qualitäten wieder hervorzaubern, aus denen die Individualität und Anschaulichkeit der Wirklichkeit doch auch besteht? Um zur Atomwelt zu kommen, muß man von allem absehen, was als volle Realität sinnlich erlebt werden kann. Auch wenn man durch Analyse eines einzelnen Falles ein mathematisch formulierbares Naturgesetz sucht, ist das notwendig, denn es sollen ja immer nur rein quantitative, also begrifflich losgelöste Elemente übrig bleiben, und es wird daher niemand fertig bringen, aus diesen für gewisse wissenschaftliche Zwecke gewiß unentbehrlichen, aber im Vergleich zur einmaligen anschaulichen und individuellen Wirklichkeit selbst doch sehr armseligen Abstraktionen den Reichtum des kleinsten Stückchens empirischer Wirklichkeitswelt herauszuklauben. Bleibt es doch schon für alle Zeiten unbegreiflich, warum dem Begriff dieser einen, d. h. quantitativ so und so bestimmten Atombewegung gerade die Qualität Licht und dem Begriffe jener anderen, d. h. quantitativ anders bestimmten Atombewegung gerade die Qualität Schall entspricht. Wir können also prinzipiell nicht einmal das Spezifische so a l l g e m e i n e r naturwissenschaftlicher Begriffe aus den mathematischen Formeln physikalisch „deduzieren“, und auch keiner | Psychophysik wird das je gelingen,74 denn es ist nicht einzusehen, wie das Psychische, selbst wenn man es dem Physischen „parallel“ setzt, ihm so zugeordnet werden soll, daß die Eigenart des Psychischen aus der ihm parallel laufenden quantitativen physischen Reihe deduziert werden kann. Wie will man vollends von der logischen Möglichkeit einer naturwissenschaftlichen Deduktion dieser oder jener e i n m a l i g e n anschaulichen und individuellen Einzelheit der Wirklichkeit reden? 74

Wie F r i s c h e i s e n - K ö h l e r sonderbarerweise zu glauben scheint. Vgl. Wissenschaft und Wirklichkeit. 1912, S. 151.

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Um die rationalistische Metaphysik, die sich neuerdings in den naturwissenschaftlich klingenden Begriff der „Weltformel“ geflüchtet hat, und die dem logischen Verständnis der Wissenschaften im Wege steht, auch aus ihrem letzten Asyl zu vertreiben, wollen wir aber einmal davon absehen, daß von der Atomwelt kein Weg zur empirischen anschaulichen und individuellen Wirklichkeit zurückführt, und uns ferner zu der abenteuerlichen Ansicht versteigen, „daß es in Wirklichkeit keine Qualitäten gibt“, d. h. wir wollen einmal annehmen, die rein quantitativ bestimmte Atomwelt sei eine Realität, in der die einzelnen Atome wie die uns bekannten Dinge selbständig wirklich existieren. Wir können dann nämlich zeigen, daß sogar diese Welt, die doch die denkbar besten Chancen für eine restlose naturwissenschaftliche Durchdringung auch des Individuellen bieten müßte, trotzdem niemals für einen dem menschlichen vergleichbaren Geist so erkennbar wäre, daß dabei allgemeiner Begriff und individuelle Wirklichkeit, Naturgesetz und einmaliges Faktum sich decken, und daß daher nicht einmal diese Welt in ihrem einmaligen „individuellen“ Ablauf naturwissenschaftlich begriffen oder gar berechnet werden könnte. Es wird ein solcher Nachweis vielleicht auch den hartnäckigsten Begriffsrealisten zu denken geben, die sich unter den Anhängern der naturwissenschaftlichen Methode heute noch finden, und die die begrifflichen Produkte der Naturwissenschaft ihrem Inhalte nach von dem Inhalte der unmittelbar gegebenen, anschaulichen und individuellen Realität nicht unterscheiden können. Der Geist, welcher die Welt der nur noch quantitativ bestimmten Atome in ihrer „Individualität“ erkennen soll, müßte einmalige Tatsachen feststellen, ohne irgend etwas wahrzunehmen, denn der konsequent zu Ende gedachte Begriff der Atomwelt, der allein der Begriff einer vollkommen durch mathematisch formulierte Naturgesetze erkennbaren Welt ist, setzt notwendig unwahrnehmbare Atome voraus. Dies allein würde also genügen, um zu zeigen, daß eine Kenntnis des | Individuellen in der Atomwelt sich mit keiner dem Menschen zugänglichen Erkenntnis verträgt. Aber nehmen wir einmal an, es sei möglich, zu einem bestimmten Zeitpunkt die bestimmte Lage eines bestimmten Atoms als einmalige individuelle Tatsache festzustellen, was hätte man zu tun, um diese individuelle Tatsache auch als eine gesetzmäßig notwendige zu begreifen? Der erkennende Geist, so sagt man, müßte nach Formeln streben, in denen „der Zustand der Welt während eines Zeitdifferentiales erschiene als unmittelbare Wirkung ihres Zustandes während des vorigen und als unmittelbare Ursache ihres Zustandes während des folgenden Zeitdifferentiales“. Aber auch solche Formeln blieben als Formeln immer a l l g e m e i n , und es müßte ihnen daher erst ein individueller Weltzustand untergeordnet sein, ehe sich ein anderer individueller Weltzustand mit ihrer Hilfe berechnen ließe. Das setzt jedoch voraus, daß der

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erkennende Geist die individuelle Lage a l l e r Atome w ä h r e n d e i n e s Z e i t d i f f e r e n t i a l s im einzelnen als Tatsache konstatiert hätte, und schon das dürfte wohl als eine Leistung betrachtet werden, die von dem, was ein menschlicher Intellekt je zu vollbringen vermag, sich nicht graduell, sondern prinzipiell unterscheidet. Wir sehen also, daß nicht nur die empirische Wirklichkeit in ihrer Individualität und Anschaulichkeit naturwissenschaftlich unbegreiflich bleibt, sondern daß nicht einmal für die als Realität gedachte B e g r i f f s w e l t der „letzten“ Naturwissenschaft eine naturwissenschaftliche Erkenntnis des Individuellen möglich wäre, d. h. es können die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sogar dann nicht geleugnet werden, wenn als Objekt der Erkenntnis eine Welt gesetzt wird, in der die denkbar günstigsten Bedingungen für eine Annäherung des sich in naturwissenschaftlichen Begriffen bewegenden Denkens an die Individualität der Objekte als gegeben gedacht sind. Wir behaupten dabei noch nicht einmal, in dem soeben Ausgeführten schon a l l e Unmöglichkeiten aufgedeckt zu haben, die in dem auf die Atomistik gestützten Gedanken einer Weltformel und einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis des Einmaligen und Individuellen stecken. Wir streben hier eine Vollständigkeit der Argumente nicht an, weil schon das Gesagte genügt, um das zu zeigen, was wir brauchen. Ja, es enthält bereits sehr viel mehr, als nötig ist, denn nach allem, was wir über die Bedeutung des Atombegriffs ausgeführt haben, geht es nicht an, die „Atome“ im rein logischen Sinne des Wortes so zu betrachten, als ob sie in der Weise wie die uns bekannten anschaulichen Objekte ihre individuelle reale Existenz haben, d. h. es ist nicht nur keine Er- | kenntnis für den Menschen denkbar, die jedes Atom zu jeder Zeit auffaßt, sondern es läßt sich mit den Worten „jedes Atom zu jeder Zeit“ überhaupt kein Begriff verbinden, der in einer logischen Untersuchung von positiver Bedeutung werden kann. Aus diesem Grunde müssen wir auch den Gedanken einer eindeutigen Zuordnung der Atomwelt zur individuellen empirischen Wirklichkeit aufgeben und ebenso den Gedanken einer eindeutigen Zuordnung des Physischen zum Psychischen, ganz abgesehen davon, daß eine Zuordnung des Quantitativen zum Qualitativen im einzelnen für immer unbegreiflich bleiben würde. Nicht allein der Gedanke einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Individualität eines quantitativen Weltganzen, sondern schon der Gedanke der naturwissenschaftlichen Erkenntnis eines einzigen individuellen Atoms, falls man von einem solchen „Unding“ überhaupt reden will, schließt einen logischen Widerspruch ein. Will man aber von einem solchen Unding nicht reden, dann kann vollends von einer Erkenntnis des Einmaligen und Individuellen durch die Naturwissenschaft keine Rede sein. Im übrigen läßt sich die rein

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quantitativ bestimmte Welt der mathematischen Naturwissenschaft überhaupt nicht als „Individuum“ denken, solange wir unter diesem Worte das verstehen, was jede empirische Wirklichkeit zu einem Individuum macht: die niemals wiederkehrende sinnlich anschauliche Einmaligkeit und Besonderheit dieses oder jenes realen Vorganges. Doch, wie schon angedeutet, brauchen wir diese Ausführungen nicht, um die Unmöglichkeit einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis des Individuellen darzutun. Es läßt sich ganz unabhängig von ihnen zeigen, wie gerade die umfassendsten Gesetzesbegriffe der Naturwissenschaft jeden Sinn verlieren, sobald wir versuchen, sie so zu bestimmen, daß sie auf die Erkenntnis individueller Wirklichkeiten anwendbar sind. Muß man nämlich zwar auch sagen, daß das Weltganze eine einmalige individuelle und in einem einzigen Entwicklungsgange befindliche Wirklichkeit ist, und kann insofern das denkbar umfassendste „Objekt“ der Naturwissenschaft ein Individuum genannt werden, so kommt doch die Wirklichkeit für die Naturwissenschaft als diese einmalige individuelle und in einem einzigen Entwicklungsgange befindliche Wirklichkeit nicht einmal als das M a t e r i a l , das sie zu bearbeiten hat, in Betracht. Für dieses Material als solches würde sie nämlich keine naturwissenschaftlichen Begriffe bilden können. Man braucht, um das einzusehen, nur daran zu denken, daß es unmöglich ist, etwas über die quantitative E n d l i c h k e i t oder U n - | e n d l i c h k e i t der realen Welt zu sagen, und man merkt sofort: der Satz von der Erhaltung der Energie gilt für das Ganze der Körper nicht, falls es als unbegrenzt angenommen wird, denn dann verliert der Begriff der Energie k o n s t a n z seinen Sinn. Er paßt allein auf einen begrifflich i s o l i e r t gedachten, begrenzten Te i l , oder genauer: er gilt für das Weltganze lediglich insofern, als es auf j e d e n beliebigen seiner begrifflich isoliert gedachten Teile anzuwenden ist, die dann aber nicht mehr als individuelle Glieder des individuellen Ganzen, sondern nur noch als Exemplare des allgemeinen Gattungsbegriffes „Wirklichkeitsteil überhaupt“ anzusehen sind. Dasselbe läßt sich auch von dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem sogenannten Entropiesatz zeigen, der ebenfalls weit davon entfernt ist, ein Gesetz für den einmaligen individuellen Verlauf des Weltganzen zu sein. Ein „Wärmetod“ kann immer nur in einem begrifflich isoliert gedachten, begrenzten Stücke der Wirklichkeit, niemals in dem unbegrenzt gedachten Ganzen eintreten, und zugleich wird das Stück der Welt, auf das man den Satz der Entropie bezieht, von der Naturwissenschaft auch in diesem Falle nur als Gattungsexemplar für irgendein begrenztes Stück der körperlichen Wirklichkeit überhaupt, niemals in seiner Individualität betrachtet.75 75

Ausführlicher habe ich dies gezeigt in meiner Schrift: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. und 7. Aufl. 1928, S. 123 ff.

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Wollte man also auch nur die quantitative „Individualität“ der Wirklichkeit mit allgemeinen mathematisch formulierten Gesetzen berechnen, so müßte man dabei von einem individuell bestimmten Quantum in dem Sinne ausgehen, daß dieses zugleich die einmalige individuelle Persönlichkeit desjenigen, der die Berechnung anstellt, mit einschließt, d. h. man müßte einen bestimmten Zeitpunkt annehmen, der mit einem von der Geschichte durch Jahreszahlen bestimmten Zeitpunkt zusammenfällt, und es bedarf wohl keines Nachweises, daß in naturwissenschaftlichen Begriffen eine solche Chronologie, ohne die nicht einmal die „Individualität“ der zeitlichen Bestimmung angegeben werden könnte, nicht vorkommt. Führt man den Gedanken einer Berechnung des Individuellen wirklich durch, so zeigt sich nicht allein, daß sie ausschließlich mit Rücksicht auf die Quantitäten denkbar ist, also die eigentliche, qualitativ bestimmte, sinnlich anschauliche und „individuelle“ Individualität der empirischen Wirklichkeit ganz beiseite läßt, sondern es tritt zugleich hervor, wie wenig die naturwissenschaftliche Begriffsbildung sogar mit der lediglich quantitativ bestimmten „Individualität“ zu tun hat. | Doch brauchen wir alle diese Gedanken nicht weiter zu verfolgen, denn für uns kommt es darauf allein an, daß die e m p i r i s c h e , sinnlich anschauliche Wirklichkeit in ihrer Individualität und Anschaulichkeit nicht in die stets allgemeinen Begriffe der Naturwissenschaft eingeht. Schon daraus nämlich können wir die entscheidenden Konsequenzen für das Wesen einer h i s t o r i s c h e n Begriffsbildung oder Darstellung ziehen. Nur das muß man im Auge behalten: wenn wir von der Individualität der empirischen Wirklichkeit sprechen und sie die Grenze für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung nennen, so fällt ihr Begriff nicht mit dem der q u a n t i t a t i v e n Bestimmtheit zusammen. Freilich ist jedes Individuum a u c h an einem bestimmten Orte und an einer bestimmten Zeit wirklich, und die quantitativen Bestimmtheiten gehören daher m i t zu seiner Individualität. Nichts aber ist verkehrter als der Glaube, daß darauf seine „eigentliche“ Individualität beruhe, die es von allen andern Individuen unterscheidet, und daß man daher mit genauer Angabe des individuellen Ortes und der individuellen Zeit a l l e i n schon die Individualität selber angeben und bestimmen könne. Nur falls man mit Schopenhauer in Raum und Zeit die „Prinzipien der Individuation“ erblickt und ganz vergißt, was man meint, wenn man von der Individualität dieses einen, niemals wieder vorkommenden empirisch W i r k l i c h e n spricht, wird man glauben, es lasse sich durch ein System allgemeiner Begriffe, in das bestimmte Zahlenwerte eingesetzt sind, die Individualität einer empirischen Wirklichkeit berechnen. Hier haben wir allein d i e s e Individualität im Auge, denn nur i h r e naturwissenschaftliche Unbegreiflichkeit ist für die Methode der historischen Wissenschaften von Bedeutung.

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Ehe wir jedoch zu dem Begriff des Historischen selbst übergehen, müssen wir das Verhältnis der Begriffsbildung der Naturwissenschaft zur Wirklichkeit in noch einer andern Hinsicht betrachten. Auch dadurch nämlich, daß wir unser Ergebnis in der angegebenen Weise einschränken, d. h. nur die empirische Wirklichkeit in ihrer Anschaulichkeit und Individualität als Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung bezeichnen, hat unser Gedankengang für viele seinen Anschein von Paradoxie wahrscheinlich noch immer nicht verloren. Gerade wenn wir den problematischen Gegensatz von bloßer Erscheinung und „wahrem“ realen Sein beiseite lassen, wird es so aussehen, als verliere die Naturwissenschaft jeden Sinn, ja als erreiche man durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung das Gegenteil von dem, was man beabsichtigt. Selbstverständlich ist dies nicht unsere Meinung, und es | kommt nun darauf an, dem Resultat unserer Untersuchung auch unter der Voraussetzung, daß die empirische Wirklichkeit die einzige Wirklichkeit ist, mit der die Naturwissenschaft es zu tun hat, den Anschein von Paradoxie zu nehmen. Die Gedanken, die wir zu diesem Zwecke hervorzuheben haben, ergeben sich wie alles Bisherige im wesentlichen bereits aus den Ausführungen der früheren Kapitel. Die Meinung, daß eine naturwissenschaftliche Theorie ihr Ziel verfehlt, wenn es ihr nicht gelingt, die Wirklichkeit selbst darzustellen, so wie sie wirklich ist, kann nur unter der Voraussetzung eines ganz bestimmten E r k e n n t n i s b e g r i f f e s entstehen, unter der Voraussetzung nämlich, daß das Erkennen die Aufgabe habe, die empirische Wirklichkeit v o l l s t ä n d i g a b z u b i l d e n . Ein Abbild ist selbstverständlich um so vollkommener, je mehr es dem Original, so wie es wirklich i s t , gleichkommt. Wäre daher die Abbildtheorie richtig, dann hätte die Naturwissenschaft die Aufgabe, die empirische Wirklichkeit auch in ihrer Anschaulichkeit und Individualität zu reproduzieren. Darf aber das wissenschaftliche Erkennen dem Abbilden gleichgesetzt werden? Die Frage ist entschieden zu verneinen. Gegen diese Auffassung des Erkennens waren unsere bisherigen Ausführungen ebenso gerichtet wie dagegen, daß die Naturwissenschaft das sinnlich Anschauliche und Individuelle in ihre Theorien aufnehmen könne. Es läßt sich von allgemeinen logischen Gesichtspunkten aus zeigen, daß, weil jede Erkenntnis als U r t e i l auftreten muß, es unmöglich ist, daß sie ein Abbild gibt, oder daß, wie man sich auszudrücken pflegt, die Wahrheit der Erkenntnis in der „Uebereinstimmung der Vo r s t e l l u n g mit ihrem Gegenstande“ besteht. Zwischen der Wirklichkeit und dem Gehalt der Urteile, die über sie gefällt werden, wird niemals ein Verhältnis wie zwischen Original und Abbild bestehen. Wohl ist es möglich, durch eine besondere Art von Beschreibung auch mit Urteilen die Wirklichkeit so darzustellen, daß wir eine Art anschauliches B i l d von ihr gewinnen. Nur ist eine solche

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Beschreibung niemals naturwissenschaftlich, wie wir ausführlich gezeigt haben. Die früher entwickelte Begriffstheorie scheint daher geeignet, die Abbildtheorie gründlich zu untergraben. Die Naturerkenntnis kann immer nur eine Bearbeitung und Umformung der empirischen Wirklichkeit vornehmen, weil das Ganze dieser Wirklichkeit sich überhaupt nicht abbilden läßt: das Unübersehbare genau abbilden wollen, ist ein widersinniges Unternehmen. In der Tat hätte die Naturwissenschaft bisher noch nichts geleistet, wenn das Naturerkennen aus genauem Abbilden der Wirklich- | keit bestände. Gibt man aber die Abbildtheorie auf, so braucht das Erkennen nicht deshalb wertlos zu sein, weil es den Inhalt der Wirklichkeit selbst in seine Begriffe nicht aufzunehmen vermag. Aus den beiden Sätzen, daß einerseits die Wirklichkeit uns überall als unübersehbare Mannigfaltigkeit entgegentritt, und daß andererseits eine naturwissenschaftliche Theorie um so höher steht, je mehr sie diese Unübersehbarkeit überwunden und damit das Irrationale rational gemacht hat, folgt als völlig selbstverständlich, daß eine naturwissenschaftliche Theorie um so vollkommener ist, je w e n i g e r von der unmittelbar gegebenen und unübersehbaren sinnlich anschaulichen Wirklichkeit ihre Begriffe enthalten. Das Ergebnis unserer Untersuchung muß, sobald man sich hierüber klar ist, seinen Anschein von Paradoxie zum größten Teil schon verloren haben. Es wird ihn völlig verlieren, sobald wir noch einen andern Gedanken ausdrücklich hervorheben. Nehmen auch die Begriffe der Naturwissenschaft von dem Inhalt der unmittelbar gegebenen und unübersehbar mannigfaltigen empirischen Wirklichkeit nur wenig auf, so stehen sie selbstverständlich in engster B e z i e h u n g zu dieser Wirklichkeit und sind weit davon entfernt, etwa Produkte der Willkür zu sein. Wir haben ja wiederholt hervorgehoben, daß die b l o ß e Vereinfachung der Wirklichkeit durch Begriffe mit wissenschaftlicher Begriffsbildung nicht zusammenfällt. So entschieden wir den Gedanken abweisen, eine Betrachtung der Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine könne die abbildende Darstellung dieser Wirklichkeit selbst so geben, wie sie wirklich ist, ebenso entschieden halten wir daran fest, daß die generalisierende Begriffsbildung der Naturwissenschaft erst dann einen Erkenntnisgehalt besitzt, wenn dem Allgemeinen, das sie darstellt, f ü r die individuelle Wirklichkeit G e l t u n g zukommt. Die neuere Erkenntnistheorie befindet sich in Rücksicht auf dies Verhältnis von realem Sein und irrealem Gelten fast überall noch in einer Art von Uebergangsstadium. Vielfach ist man bemüht, den Begriffsrealismus endgültig zu beseitigen, der die gültigen Begriffe für Abbilder von Wirklichkeiten hält. Aber nicht überall geschieht dies mit der notwendigen Konsequenz, und wo es einmal gelingt, entsteht dann meist eine Stimmung, die zu skeptischen Angriffen gegen die Bedeutung aller Wissenschaft, insbesondere der

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Naturwissenschaft, geneigt machen muß. Der Grund dafür ist leicht zu zeigen. Es genügt nicht, mit dem platonischen „Begriffsrealismus“ aufzuräumen und die Begriffe nicht mehr für Abbilder von Realitäten zu halten, sondern man muß auch | versuchen, etwas Neues an die Stelle zu setzen, das die bisher erfüllte Leistung zu übernehmen geeignet ist, nämlich die „Objektivität“ der Naturwissenschaft zu begründen. Solange dies nicht geschehen ist, scheint unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten jede allgemein begrifflich-systematische Wissenschaft haltlos in der Luft zu schweben. Der erkenntnistheoretische Neubau, der die Objektivität der generalisierenden Begriffsbildung rechtfertigt, kann uns hier jedoch nicht beschäftigen.76 Wir müssen uns begnügen, darauf hinzuweisen, daß an die Stelle des real Seienden, das die Begriffe in seiner anschaulichen Inhaltlichkeit nicht erfassen können, ein anderer „Gegenstand“ zu treten hat: die naturwissenschaftlichen Begriffe sind nicht deshalb wahr, weil sie die Wirklichkeit so, wie sie ist, abbilden, sondern weil sie das darstellen, was für die Wirklichkeit g i l t . Sobald sie dies tun, besteht kein Grund mehr, zu fordern, daß sie die Wirklichkeit selbst enthalten. Ja, eine Verdoppelung des Wirklichkeitsgehaltes durch den Gehalt der Begriffe würde gerade das n i c h t leisten können, was wir von einer Erkenntnis der Wirklichkeit verlangen. Sie würde als b l o ß e Verdoppelung wertlos sein, insbesondere keine t h e o r e t i s c h e Bedeutung haben. Mit der Beseitigung des falschen Wahrheitsbegriffes, wonach das Erkennen ein abbildendes „Vorstellen“ einer Wirklichkeit ist, muß also endgültig jeder Schein von Paradoxie unserem Ergebnis genommen werden. Im Grunde kommt hier ein uralter Gedanke zum Ausdruck, der so wenig paradox ist, daß man ihn vielmehr trivial nennen könnte. Um den Gegensatz des Allgemeinen zum Besonderen oder Individuellen bewegt sich die Logik seit Sokrates, und wenn wir sagen, daß alles sinnlich Anschauliche und Individuelle und Besondere in seiner Individualität und Besonderheit unbegreiflich für die generalisierende Naturwissenschaft ist, so sagen wir damit eigentlich nichts anderes, als daß das Allgemeine nicht das Besondere und Individuelle ist. Eine neue Bedeutung gewinnt dieser Satz dadurch, daß wir als Gegenstände der Erkenntnis keine „allgemeinen Wirklichkeiten“ mehr kennen, sondern daß für uns alles zu erkennende Wirkliche im Anschaulichen und Individuellen oder Besonderen steckt. Wir konnten zeigen, daß die Logik bisher fast ausschließlich die Wissenschaften berücksichtigte, die auf eine Darstellung des Allgemeinen gerichtet sind, und dabei übersah, | was in solcher Darstellung verloren gehen muß. Unter „Natur“ verstehen wir die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine. Da die Logik, von 76

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Den Versuch einer Grundlegung dazu enthält mein Buch: Der Gegenstand der Erkenntnis. Vgl. dort besonders den fünften Abschnitt des fünften Kapitels, 6. Aufl., S. 401 ff. Auch das fünfte Kapitel des vorliegenden Buches behandelt diese Probleme.

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wenigen Ausnahmen abgesehen, nur die wissenschaftlichen Darstellungen beachtete, die das Besondere im Allgemeinen aufgehen lassen, mußte sie sich einseitig zu einer Logik der Naturwissenschaft gestalten. In welcher Richtung die Ergänzung dieser Einseitigkeit zu suchen ist, wollen wir im folgenden feststellen.

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Fragen wir, was schon aus den bisherigen Ausführungen sich für eine andere als die naturwissenschaftliche Methode der Darstellung ergibt, so sehen wir, daß zunächst die Einsicht in das logische We s e n der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung für diese andere Methode der Darstellung gewissermaßen das Feld frei gemacht hat. Solange man es für die Aufgabe des Erkennens hält, ein Abbild der Wirklichkeit durch Vorstellungen zu liefern oder die Wirklichkeit selbst ihrem gegebenen Inhalte nach in die Begriffe aufzunehmen, wird die Behauptung, daß zwei logisch einander entgegengesetzte wissenschaftliche Darstellungen der Wirklichkeit möglich seien, als unannehmbar erscheinen. Hat die Wissenschaft abzubilden, so muß, weil nur e i n Abbild richtig ist, jede wissenschaftliche Darstellung ein und dasselbe Ziel verfolgen, und insofern die logische Struktur der Begriffsbildung einer Wissenschaft durch ihr Ziel beherrscht wird, kann es auch nur e i n e Methode der Darstellung geben. Die methodologischen Unterschiede sind dann immer aus sachlichen Eigentümlichkeiten des M a t e r i a l s herzuleiten, das der Erforschung hier diese, dort jene Aufgabe stellt. Gibt man dagegen die Abbildtheorie in dem angegebenen Sinne auf, so liegt die Sache anders. Wir haben dann einen Erkenntnisbegriff, der logische D i f f e r e n z i e r u n g e n in der Art der Begriffsbildung zuläßt, ohne daß dadurch der Sinn des Erkennens irgendwie gestört zu werden braucht. Das, was wir unter begrifflicher Erkenntnis verstehen, ist dann eventuell in mehrere Richtungen zu spalten, ohne seinen Wert dadurch zu verlieren. Die Begriffe bestehen ja nun aus dem, was als „wesentlich“ dem Material der Erkenntnis entnommen ist, und darauf allein kommt es bei ihrer Bedeutung für das Erkennen an, daß ihr Inhalt sich zu einer notwendigen, d. h. gültigen Einheit zusammenschließt. Wir haben das Wesen der Begriffe nicht mehr in ihrer Fähig- | keit, abzubilden, sondern lediglich in ihrer Geltung gefunden. Die Gesichtspunkte, die die Auswahl des Wesentlichen und seine Zusammenschließung zu gültigen Begriffen, also die Bearbeitung und Umformung der empirischen Wirklichkeit leiten, bestimmen dann allein den Erkenntniswert, und es ist jetzt gar nicht einzusehen, warum es

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eine Bearbeitung und Umformung der Wirklichkeit oder eine gültige Auswahl des Wesentlichen und die Zusammenfassung des Zusammengehörigen in einer begrifflichen Darstellung des Wirklichen durch die Wissenschaft nur unter e i n e m Gesichtspunkt und nur in e i n e r Richtung geben soll. Mit dem Nachweis, daß die Naturwissenschaft die Wirklichkeit nicht abbildet oder ihren Inhalt nicht so in ihre Begriffe aufnimmt, wie er ist, sondern ihn nach bestimmten Gesichtspunkten in allgemeingültiger Weise u m f o r m t , ist zunächst also die M ö g l i c h k e i t einer völlig anders verfahrenden Wissenschaft gegeben, die unter anderen G e s i c h t s p u n k t e n eine Umformung der Wirklichkeit vornimmt, aber darum nicht weniger gültig zu sein braucht, als die naturwissenschaftliche Darstellung es ist. Diese Möglichkeit verwandelt sich in eine logische N o t w e n d i g k e i t , sobald wir ferner nicht allein das Wesen, sondern auch die G r e n z e n der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kennen und damit auf Fragen hinzuweisen imstande sind, die zu beantworten, der Naturwissenschaft für alle Zeiten versagt sein muß. Um welche Fragen es sich dabei handelt, oder welche Lücke die Naturwissenschaft, auch wenn wir das Wort in dem angegebenen denkbar weitesten Sinne nehmen, für immer in unserer Darstellung der Wirklichkeit lassen muß, versteht sich jetzt von selbst. Es gibt eine Fülle von Dingen und Vorgängen, die uns nicht nur mit Rücksicht darauf interessieren, in welchem Verhältnis sie zu einem allgemeinen Gesetz oder zu einem System von allgemeinen Begriffen stehen, sondern die uns gerade durch ihre Besonderheit, Einmaligkeit und Individualität von Bedeutung sind. Ueberall aber, wo dieses I n t e r e s s e an der Wirklichkeit vorhanden ist, können wir mit der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nichts anfangen. Das soll nicht etwa, wie immer wieder hervorgehoben werden muß, heißen, daß einmalige und besondere Objekte sich überhaupt nicht naturwissenschaftlich darstellen lassen, es soll vollends nicht die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Darstellung herabsetzen, sondern lediglich ihre E i g e n a r t und damit allerdings auch ihre E i n s e i t i g k e i t deutlich machen. Es soll zum | Bewußtsein bringen, daß eine Wissenschaft von dem, was sich an keinen bestimmten Ort und an keine bestimmte Zeit knüpft, sondern allgemein, also überall und für immer gilt, so bedeutungsvoll sie für die Erkenntnis der Natur auch sein mag, nichts darüber sagen kann, was an bestimmten Stellen des Raumes und der Zeit existiert, was es nur einmal hier oder dort, jetzt oder dann wirklich gibt. So kommen wir zu dem Z e n t r a l p r o b l e m dieses Buches. Wollen wir etwas über die Einmaligkeit, Besonderheit und Individualität des Wirklichen wissen, so können wir uns nicht an eine Wissenschaft wenden, deren Begriffen das wirkliche Geschehen in seiner einmaligen und individuellen

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ebenso wie in seiner anschaulichen Gestaltung eine Grenze setzt, sondern, falls es überhaupt eine Darstellung der Wirklichkeit mit Rücksicht auf ihre Einmaligkeit und Individualität geben soll, ist dazu eine Wissenschaft erforderlich, die in der Form ihrer Begriffsbildung von der Naturwissenschaft logisch in wesentlichen Punkten abweicht. Die logische Struktur dieser Wissenschaft kennenzulernen, ihre Begriffsbildung gegen die jeder Naturwissenschaft abzugrenzen und dadurch das Prinzip für eine logische Gliederung der empirischen Wissenschaften zu gewinnen, ist von jetzt ab unsere Aufgabe, die sich unmittelbar an die Aufzeigung der Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung anschließt. Um festzustellen, welchen N a m e n eine Wissenschaft, die auf das Einmalige und Individuelle gerichtet ist, wird führen müssen, bleibt nur noch eine einfache Ueberlegung notwendig. Wir erinnern wieder daran, daß alle empirische Wirklichkeit sich in Raum und Zeit befindet. Soweit die Dinge Exemplare allgemeiner Begriffe sind, kommt es auf den bestimmten Ort, an dem sie sich befinden, und auf die bestimmte Zeit, zu der sie existieren, nicht an. Es gehört zum Wesen des naturwissenschaftlichen Begriffes, daß er für Objekte gilt, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten sind. Das Einmalige und Individuelle dagegen ist immer an einem bestimmten Ort und an einer bestimmten Zeit. Die räumliche Bestimmtheit ist in diesem Zusammenhang nicht weiter von Bedeutung. Wohl aber ergibt sich aus der Zeitlichkeit alles Wirklichen eine Eigentümlichkeit für die einmaligen und individuellen Realitäten, die zu beachten ist. Nehmen wir das Wort „Gegenwart“ im strengen Sinne, so kommen die realen Objekte als gegenwärtige für die wissenschaftliche Erforschung ihrer Individualität und Einmaligkeit nicht in Betracht. Sie liegen immer schon in der Ve r g a n g e n h e i t , und zwar nimmt ihr | Sein dort eine bestimmte Zeitstrecke ein. Die Fragen, die sich auf die einmalige und individuelle Wirklichkeit beziehen, müssen daher die Form annehmen: was w a r f r ü h e r in der Welt, und wie ist das Seiende einmal geworden? Kurz, die Wissenschaft vom Einmaligen und Individuellen ist notwendig die Wissenschaft von dem in der Vergangenheit abgelaufenen G e s c h e h e n . Als Namen für seine Darstellung aber bietet uns die Sprache nur ein einziges Wort. Alles, was uns von der Wirklichkeit selbst erzählt, und was aus den angegebenen Gründen von dem einmaligen individuellen Geschehen an bestimmten Stellen des Raumes und der Zeit berichtet, nennen wir G e s c h i c h t e , und wenn es daher eine Wissenschaft von dem einmaligen und individuellen Geschehen geben soll, wird sie Geschichtswissenschaft heißen müssen. An die Geschichte wenden wir uns also überall, wo unser Interesse durch die Naturwissenschaft im weitesten Sinne nicht befriedigt wird. Sie allein kann die Lücke ausfüllen, die die Naturwissenschaft in unserem Wissen

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lassen muß, insofern sie alles Individuelle als solches aus ihren Begriffen ausschaltet. Die Geschichte betrachtet die Wirklichkeit unter einem völlig anderen logischen Gesichtspunkt und bedient sich daher notwendig auch einer völlig anderen Methode der Darstellung und Begriffsbildung. Worin diese Methode im Einzelnen besteht, wie sie das Wesentliche aus der Wirklichkeit so auswählt, daß dabei die Individualität des einmaligen Geschehens erhalten bleibt, und wie zugleich dieses Wesentliche zu einheitlichen, gültigen Begriffen zusammengeschlossen wird, das werden wir erst später zeigen können. Daß aber der allgemeinste leitende Gesichtspunkt der Geschichtswissenschaft von dem der Naturwissenschaft abweicht, ja logisch ihr geradezu entgegengesetzt ist, das läßt sich schon jetzt feststellen. Die Geschichte kann auch als Wissenschaft die Wirklichkeit niemals mit Rücksicht auf das A l l g e m e i n e , sondern immer nur mit Rücksicht auf das B e s o n d e r e und I n d i v i d u e l l e darzustellen versuchen. Das Individuelle und Einmalige allein ist w i r k l i c h g e s c h e h e n , und erst eine Wissenschaft, welche von dem einmaligen wirklichen Geschehen selbst redet, darf Geschichtswissenschaft genannt werden. Viel scheint allerdings hierdurch nach dem, was wir früher ausgeführt haben, für die logische Grundlegung der Geschichte als einer besonderen W i s s e n s c h a f t noch nicht gewonnen. Die Anhänger der naturwissenschaftlichen Universalmethode werden vielleicht sagen, daß zwar gegen diese Begriffsbestimmung nichts einzuwenden sei, daß aber gerade durch sie der Geschichte der Charakter der Wissenschaft von vorne- | herein und für alle Zeiten entzogen werde. Wohl sei die Betrachtung der Wirklichkeit als Natur, d. h. mit Rücksicht auf das Allgemeine, einseitig. In dieser Einseitigkeit aber bestehe eben das Wesen der Wissenschaft überhaupt, denn das bloße Konstatieren von einmaligen und individuellen Tatsachen in ihrer Einmaligkeit und Besonderheit könne höchstens als Vo r a r b e i t für die Wissenschaft gelten, und darauf komme es an, die generalisierende Methode, die darüber hinausführt, endlich auch auf d i e Gegenstände anzuwenden, die man bisher n u r „historisch“ behandelt, d. h. in ihrer Einmaligkeit und Individualität als bloße Tatsachen konstatiert hat. Schopenhauer, der in der Neuzeit zu den ersten gehört, denen der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Geschichte in l o g i s c h e r Hinsicht völlig klar war, benutzt denn auch, wie wir bereits erwähnten, diese Klarheit, um der Geschichte den Charakter als Wissenschaft abzusprechen, und das hat man immer wieder von neuem getan. Gerade weil sie eine „Wissenschaft von Individuen“ wäre, wie Schopenhauer sehr richtig bemerkt, kann sie seiner Ansicht nach keine Wissenschaft sein, denn dieser Begriff enthalte einen Widerspruch. Wir müssen zeigen, daß ein solcher Einwand wesentliche Bedeutung nicht besitzt, und das eine können wir schon jetzt sagen: sollte man es für

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richtig halten, daß n u r die Wissenschaft vom Allgemeinen in Wahrheit Wissenschaft ist, so dürfte in k e i n e r Weise die Geschichte als Wissenschaft gelten, wie Schopenhauer das konsequenterweise auch glaubt. Von d i e s e r Frage aber sehen wir hier zunächst ab. Wir weisen darauf hin, daß der Name „Geschichte“ allein für eine Wissenschaft verwendet werden darf, die uns von dem berichtet, was als einmaliger und individueller Vorgang wirklich geschehen ist. Alle Geschichte hat sich diese Aufgabe gestellt und tut es heute ohne jede Ausnahme. Sogar diejenigen, die behaupten, es müsse die Geschichte zum Range einer Wissenschaft dadurch erhoben werden, daß sie das Verfahren der Naturwissenschaft nachahme, arbeiten tatsächlich n i c h t nach der Methode der naturwissenschaftlichen Darstellung. Auch sie berichten vielmehr von dem, was einmal geschehen ist, und was sich in seiner Individualität nie wiederholt. Nachdem wir die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kennen, wissen wir, daß die Naturwissenschaft die Aufgabe der Geschichtswissenschaft n i c h t l ö s e n kann, und dies genügt uns. Irgendeinen Teil der generalisierenden Wissenschaften, die sich selbstverständlich auf alle Teile der Wirklichkeit erstrecken können, als „Geschichte“ zu bezeichnen, erscheint als eine willkürliche Termi- | nologie. Wir setzen hier voraus, daß Geschichte getrieben werden soll als Wissenschaft vom einmaligen und individuellen wirklichen Geschehen, weil nicht nur das Allgemeine, sondern auch das Individuelle oder Besondere ein Gegenstand des wissenschaftlichen I n t e r e s s e s ist. Ein solches wissenschaftliches Interesse von vorneherein als unwissenschaftlich abschneiden zu wollen, scheint gänzlich dogmatisch und ungerechtfertigt. Wir leben im Individuellen und Besonderen, und wir sind wirklich nur als Individuen. Der Beweis, daß das wissenschaftliche Interesse am Individuellen unberechtigt ist, müßte erst geführt werden. Solange das nicht geschehen ist, haben Behauptungen wie die, daß allein das Allgemeine Gegenstand einer wissenschaftlichen Darstellung sein dürfe, keine methodologische Bedeutung. Sie enthalten eine petitio principii schlimmster Art, der man in den Theorien der „naturwissenschaftlichen Historiker“ allerdings recht häufig begegnet, die aber noch niemals in die wissenschaftliche Praxis übergeführt werden konnte. J e d e r Historiker stellt sein Objekt in seiner Einmaligkeit und Individualität dar. Das ist eine Tatsache, die man im Ernste nicht bezweifeln kann. Von dieser Ta t s a c h e haben wir auszugehen und zu fragen, worin der logische Charakter der Geschichte als Wissenschaft besteht. Doch es gibt Einwände von noch größerer Bedeutung. Kommen wir, wenn die Geschichte als Darstellung des wirklichen Geschehens in seiner Einmaligkeit und Individualität eine Wissenschaft sein soll, damit nicht zu dem Begriffe einer Aufgabe, die gerade nach unseren früheren Ausführun-

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gen logisch widerspruchsvoll ist? Die Wirklichkeit in ihrer anschaulichen und individuellen Gestaltung geht ja, wie wir ausführlich gezeigt haben, in k e i n e Wissenschaft ein. Aus diesem Satze konnten wir die Notwendigkeit und Besonderheit der naturwissenschaftlichen, generalisierenden Methode herleiten. Unter keinen Umständen dürfen wir also jetzt der Geschichte die Aufgabe stellen, den Inhalt der Wirklichkeit, die individuell und anschaulich ist, a b b i l d e n d in ihre Begriffe aufzunehmen. Das wäre in der Tat ein logisch widersinniger Versuch. Noch mehr: die extensive Unübersehbarkeit der Wirklichkeit ist n u r der Naturwissenschaft zugänglich, die Begriffe von unbedingt allgemeiner Geltung für jeden beliebigen seiner Teile bildet. Eine Wissenschaft, die nicht Gesetze sucht, vermag d i e s e Unübersehbarkeit überhaupt nicht zu überwinden. Es kann also, wo die Aufgabe besteht, das G a n z e der empirischen Wirklichkeit kennenzulernen, n u r naturwissenschaftlich verfahren werden, und daraus folgt, daß eine empirische | Wissenschaft, die nicht Naturwissenschaft ist, lediglich einen Te i l der Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande machen wird. Ja, selbst wenn wir von der extensiven Mannigfaltigkeit absehen und die Geschichte auf einen intensiv mannigfaltigen Teil einschränken, scheint der Begriff einer anderen als der naturwissenschaftlichen Methode noch immer nicht ohne logische Bedenken. Wir wissen, daß die intensive Unübersehbarkeit jedes einzelnen Vorganges einer Erkenntnis, welche die Wirklichkeit, so wie sie wirklich ist, darstellen will, ebenfalls unüberwindliche Schranken entgegensetzt, und daraus folgt, daß auch die nicht-naturwissenschaftlichen oder geschichtlichen Disziplinen eine Umformung und Bearbeitung der ihnen gegebenen Wirklichkeit vornehmen müssen. Die Richtung dieser Bearbeitung aber kann auch hier nur auf eine Vereinfachung durch Auswahl des Wesentlichen und auf eine Zusammenfassung des Zusammengehörigen in Begriffen gehen, die gültig sind. Bleibt also der Begriff der Geschichte nicht durchaus problematisch, wenigstens d e r Geschichte, der wir die Aufgabe stellen, das einmalige wirkliche Geschehen in seiner Einmaligkeit und Individualität in Begriffe aufzunehmen? Gewiß, mehr als ein P r o b l e m haben wir bisher nicht gewonnen, ja wir müssen dies sogar mit allem Nachdruck, um Mißverständnissen vorzubeugen, hervorheben. Aber, und darauf kommt es an: wenn wir die Geschichtswissenschaft auf einen Te i l der Wirklichkeit einschränken, so ist ihre Aufgabe nicht mehr in dem Sinne widerspruchsvoll, wie eine geschichtliche Darstellung der Wirklichkeit in ihrer Totalität es wäre. Nur wo die extensive und intensive Unübersehbarkeit zugleich zu überwinden waren, mußte das Naturgesetz als das einzige logisch vollkommene Mittel zur Lösung dieser Aufgabe erscheinen und konnte das Ziel aller wissenschaftlichen Darstellung ausschließlich in der Bildung unbedingt allgemeiner Begriffe bestehen.

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Wo aber die extensive Unübersehbarkeit nicht in Betracht kommt, scheint es zum mindesten nicht ausgeschlossen, daß es eine Art der wissenschaftlichen Bearbeitung gibt, die zwar auch nicht imstande ist, den Inhalt der Wirklichkeit selbst in Begriffen genau so darzustellen, wie er wirklich ist, die aber doch in einem ganz anderen, sozusagen näheren Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit steht als die Naturwissenschaft, und die, wenn sie auch die g a n z e intensive Mannigfaltigkeit ihres anschaulichen Materials nie erfassen kann, sondern wie jede Wissenschaft die Anschauung in Begriffe umsetzen muß, doch nicht darauf auszugehen braucht, sich mit dem Inhalte ihrer Begriffe immer mehr von der Individualität der | empirischen Wirklichkeit zu entfernen. Diese Bearbeitung und Umformung der anschaulichen Wirklichkeit kann vielmehr eventuell etwas leisten, das die Bedeutung besitzt, als sei dadurch das einmalige individuelle wirkliche Geschehen selbst dargestellt. Wir brauchen, um anzudeuten, in welcher Richtung das möglich wäre, nur an die früher besprochene Art der B e s c h r e i b u n g zu erinnern, die eine Realität nach der Seite ihrer Besonderheit und Einmaligkeit wiedergibt und gerade darum nicht das Ziel einer naturwissenschaftlichen Darstellung sein kann. Zwar fehlen einer solchen Beschreibung noch die leitenden Gesichtspunkte, die es ermöglichen, Wesentliches vom Unwesentlichen in notwendiger Weise voneinander zu trennen und so zu gültigen wissenschaftlichen Begriffen zu kommen. Aber es wird damit doch der Gedanke, daß Geschichtswissenschaft von vorneherein ein logischer Widersinn sei, beseitigt. Im übrigen können wir es bei dem Begriffe der Geschichtswissenschaft als dem eines notwendigen P r o b l e m s der Wissenschaftslehre bewenden lassen. Es gibt faktisch Wissenschaften, die die Wirklichkeit in ihrer Einmaligkeit und Individualität darstellen, und wir müssen daher fragen, worin ihre logische Struktur besteht. Die Antwort auf diese Frage wollen wir jedoch erst im vierten Kapitel geben. Hier galt es, um einen logischen Gegensatz zu den Aufgaben der Naturwissenschaft zu erhalten, zunächst ein I n t e r e s s e aufzuzeigen, dem die generalisierend gebildeten Begriffe niemals genügen können, und so wenigstens, ohne über ihre logische Struktur etwas Näheres zu sagen, auf eine Darstellung der Wirklichkeit hinzuweisen, die nicht generalisierend, sondern i n d i v i d u a l i s i e r e n d verfährt, und die deshalb geeignet ist, das Interesse an dem einmaligen individuellen Geschehen selbst zu befriedigen. Wir gewinnen auf diese Weise im unmittelbaren Anschluß an die Feststellung des Wesens und der Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung den Begriff der „Geschichte“ wenigstens im weitesten formalen, rein logischen Sinne des Wortes, auf den es zunächst allein ankommt, und wenn es auch nur ein methodologisches P r o b l e m ist, zu dem wir gekommen

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sind, d. h. wenn wir auch noch nicht wissen, wie eine wissenschaftliche Darstellung der Geschichte „möglich“ ist, so steht ihr Gegensatz zur Darstellung der Naturwissenschaft doch bereits fest. Sie kann ihrer A u f g a b e nach niemals versuchen, ihr Material in ein System von allgemeinen Begriffen zu bringen, das um so vollkommener ist, je weniger von der Wirklichkeit in ihrer Individualität | es enthält. Sie sucht vielmehr, sich einer Darstellung der einmaligen und individuellen Wirklichkeit selbst wenigstens anzunähern, soweit man das von einer Wissenschaft überhaupt sagen kann. Muß sie auch die volle unmittelbar gegebene sinnliche Anschauung wie jede Wissenschaft verlassen, so wird sie sich trotzdem an den einmaligen individuellen Verlauf des Geschehens selbst zu halten haben. Man kann die Geschichte deshalb im Vergleich zur Naturwissenschaft, die immer vom Besonderen zum Allgemeinen und damit zum Unwirklichen strebt, auch als W i r k l i c h k e i t s w i s s e n s c h a f t bezeichnen, wie Simmel das getan hat.77 Dieser Ausdruck darf aber nur so verstanden werden, daß der Historiker die Besonderheit und Individualität der Wirklichkeit darzustellen versucht, und daß, wenn er auch den Inhalt der Wirklichkeit selbst nicht zu reproduzieren vermag, seine Begriffe zur individuellen und einmaligen Wirklichkeit trotzdem in einem prinzipiell anderen und zwar n ä h e r e n Verhältnis stehen als die Begriffe der generalisierenden Naturwissenschaft. Doch vielleicht wird man sogar das bestreiten auf Grund eines Gedankenganges, den wir hier ebenfalls nicht übergehen dürfen.78 Wenn der Inhalt der Wirklichkeit als solcher in k e i n e n Begriff eingeht, sondern immer erst umgeformt werden muß, so haben wir auch kein Recht, zu sagen, das Individuelle stehe dem Wirklichen näher als das Allgemeine, falls wir jenes Individuelle meinen, das in eine wissenschaftliche Darstellung eingehen kann. Führen wir den Gedanken der Unbegreiflichkeit des Wirklichen konsequent durch, dann kommen wir vielmehr zu dem Ergebnis, daß die Wirklichkeit als solche weder individuell noch allgemein ist, und zwar das eine genau so wenig wie das andere, denn der Begriff des Individuellen bekommt ja erst im Gegensatze zu dem des Allgemeinen einen Gehalt. Bezeichnen wir daher die Wirklichkeit als individuell, so nehmen wir damit bereits ebenso eine begriffliche Umformung vor wie dann, wenn wir etwas unter einen allgemeinen Begriff bringen. Die Wirklichkeit selbst, die in ihrer unübersehbaren Mannigfaltigkeit a l l e m Begreifen spottet, könnte höchstens „irrational“ genannt werden, und selbst diese Bezeichnung käme ihr lediglich insofern zu, als sie sich eben jedem Begreifen e n t z i e h t. Es wäre also 77

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Probleme der Geschichtsphilosophie, 1892, S. 43. Vgl. zu dem Folgenden: S e r g i u s H e s s e n : Individuelle Causalität. Studien zum transzendentalen Empirismus. Ergänzungshefte der Kantstudien. 1909.

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damit über sie nichts Positives, sondern nur etwas Negatives ausgesagt, ja es wäre eigentlich nichts über die Wirklichkeit selbst, sondern allein über | unsere Unfähigkeit, sie zu begreifen, behauptet. Nehmen wir die Wirklichkeit nur hin, wie sie an und für sich ist, so können wir überhaupt n i c h t s von ihr aussagen, und deshalb bliebe der Begriff der Geschichte als der Wirklichkeitswissenschaft auch mit der hier angegebenen Einschränkung in jeder Hinsicht eine contradictio in adjecto. Die Individualität scheint nicht weniger unwirklich als die Allgemeinheit. Ein wissenschaftliches Interesse am Wirklichen selbst, wird man sagen müssen, kann es überhaupt nicht geben. In einem solchen Gedankengange ist Richtiges und Falsches gemischt. Richtig bleibt allerdings, daß der Inhalt der Wirklichkeit selber, so wie er unabhängig von j e d e r Auffassung durch Begriffe besteht, weder allgemein noch individuell genannt werden darf. Falsch dagegen ist, daß das Individuelle dem Wirklichen nicht näher stehe als das Allgemeine, und daß der Begriff einer Wissenschaft, die das individuelle, einmalige Geschehen in seiner Wirklichkeit darstelle, schon einen Widerspruch in sich enthalte. Es hat nämlich der Begriff des Individuellen zwar gewiß erst im Gegensatz zu dem des Allgemeinen einen bestimmten Gehalt, aber wir würden die Bedeutung des Wortes individuell nicht verstehen, wenn wir sie uns nicht an dem irrationalen Inhalt der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit selbst zum Bewußtsein bringen könnten, und daraus, daß sie erst im Gegensatz zur Bedeutung des Wortes allgemein begrifflich klar zu machen ist, folgt nicht, daß wir nicht das Wirkliche selbst auch individuell nennen dürfen. Die Individualität des Wirklichen hängt auf das engste mit seiner „Irrationalität“ gegenüber dem a l l g e m e i n e n Begriff zusammen, und schon daraus geht hervor, weshalb das Individuelle dem Wirklichen prinzipiell näher steht als das Allgemeine. Freilich wird dadurch, daß wir das Irrationale mit dem Individuellen in Verbindung setzen, der Begriff einer W i s s e n s c h a f t vom Individuellen in anderer Hinsicht erst recht problematisch. Der Satz: individuum est ineffabile, scheint von jedem Versuch, das Individuelle überhaupt unter B e g r i f f e zu bringen, abzuschrecken. Aber mehr als ein Problem w o l l e n wir ja, wie schon gesagt, v o r l ä u f i g nicht gewinnen, und gerade um dieses Problem zum Bewußtsein zu bringen, weisen wir darauf hin, daß die Geschichtswissenschaft der Wirklichkeit n ä h e r zu kommen suchen muß, als die Naturwissenschaft mit ihren allgemeinen Begriffen sie jemals erreichen kann. Wie die „irrationale“ Wirklichkeit s o in Begriffe zu bringen, also auch so zu „rationalisieren“ ist, daß dabei trotzdem ihre „Individualität“ nicht verloren geht, das | ist die spätere Frage, die die Theorie der historischen Begriffsbildung zu beantworten hat. Wir werden dabei sehen, daß z w e i A r t e n des I n d i v i d u e l l e n voneinander zu trennen sind, von de-

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nen allein das eine mit dem Wirklichen selbst zusammenfällt, die trotzdem aber etwas G e m e i n s a m e s behalten, und gerade dies Gemeinsame wird es rechtfertigen, daß wir von der Geschichte als von der Wissenschaft sprechen, die das wirkliche Geschehen selbst darstellt. Der Umstand, daß auch sie, insofern sie Wissenschaft ist, nur eine A u f f a s s u n g der Wirklichkeit unter einem bestimmten logischen G e s i c h t s p u n k t geben kann und daher die Unmittelbarkeit der Wirklichkeit notwendig zerstört, ändert an der Berechtigung dieses A u s g a n g s p u n k t e s der logischen Untersuchung nichts. Immerhin ist es gut, zur Vermeidung von Mißverständnissen noch darauf von vorneherein hinzuweisen, daß j e d e Wissenschaft, also auch die Geschichte, ihr anschauliches Material u m z u f o r m e n und unter Begriffe zu bringen hat. Daher wollen wir den Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte, um den es sich hier handelt, so formulieren, daß wir sagen: Die empirische Wirklichkeit kann noch unter einen andern logischen Gesichtspunkt gebracht werden als unter den, daß sie Natur ist. S i e w i r d N a t u r, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücks i c h t a u f d a s B e s o n d e r e u n d I n d i v i d u e l l e . Von der unmittelbar erfahrenen Wirklichkeit in ihrer Anschaulichkeit und Individualität geht j e d e empirische Wissenschaft aus, und jede muß aus der Wirklichkeit das Wesentliche auswählen, sie also in ihrer Unmittelbarkeit zerstören. Der letzte Unterschied der Methoden ist allein in dem zu suchen, was die verschiedenen Begriffe mit dieser Wirklichkeit machen, und zwar kommt es für die Logik darauf an, ob sie das Allgemeine oder ob sie das Individuelle im Wirklichen suchen. Der Naturwissenschaft fällt die eine, der Geschichtswissenschaft die andere Aufgabe zu. Da wir, wie wiederholt hervorgehoben, den Begriff der „Geschichte“ v o r l ä u f i g in der denkbar weitesten und rein l o g i s c h e n Bedeutung nehmen, so ist dementsprechend auch der erste und allgemeinste Begriff des H i s t o r i s c h e n zu verwenden. So können wir den G e g e n s t a n d der Geschichte nennen, wo die Zweideutigkeit des Wortes „Geschichte“ einen Zweifel darüber läßt, ob wir die Wissenschaft oder das von ihr darzustellende Objekt meinen. Dieser Begriff des Historischen | umfaßt dann selbstverständlich wieder nicht nur den Teil der Wirklichkeit, der Material der Geschichtswissenschaften im üblichen, engeren Sinne ist. Er muß in seiner rein logischen Gestalt vielmehr anwendbar sein auf j e d e n beliebigen Teil der gesamten empirischen Realität, insofern wir daran denken, daß sie überall aus individuellen Gebilden besteht. Ja die Gesamtwirklichkeit selbst wird unter diesem Gesichtspunkte in ihrer Individualität ein „historischer“ Prozeß, wenn es auch keine Gesamtgeschichte als Darstellung davon geben kann.

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Mit welchem Te i l dieses Historischen die Geschichtsdarstellung sich beschäftigt, und was daher das Historische im engeren Sinne ist, kann sich wieder erst bei genauerer Bestimmung des Begriffes der historischen Wissenschaften ergeben. Wir suchen überall nicht die Wissenschaft durch den Begriff ihres Gegenstandes, sondern umgekehrt den Begriff des Gegenstandes von dem Begriff der Wissenschaft aus, die ihn behandelt, zu gewinnen. Hier sehen wir bereits, daß, womit auch die Geschichte als Wissenschaft sich beschäftigen, und wie man ihren Begriff genauer bestimmen mag, der Begriff des Historischen in seiner allgemeinsten logischen Bedeutung unabhängig ist von sachlichen Unterschieden wie dem von Natur und „Geist“. Körper lassen sich ebenso auf ihre Besonderheit und Individualität hin betrachten wie Psychisches. Wir dürfen uns bei der Bestimmung der logischen Begriffe zuerst nicht um Eigenschaften kümmern, die lediglich ein Teil der empirischen Wirklichkeit besitzt. Nur ein r e i n logischer Begriff des Historischen kann dazu dienen, uns die empirischen Wissenschaften in ihren methodologischen Eigentümlichkeiten verstehen zu lassen. Um den logischen Begriff des Historischen völlig deutlich zu machen, müssen wir uns noch darüber klar werden, daß die angeführten Gründe die einzigen wahrhaft entscheidenden sind, welche die Wissenschaft daran hindern, das historische Material nach naturwissenschaftlicher Methode begrifflich zu bearbeiten. Nicht selten wird gesagt, das „geschichtliche Leben“, d. h. die Wirklichkeit, mit der die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne zu tun hat, sei aus irgendwelchen Gründen nicht in der Weise g l e i c h f ö r m i g wie die Natur, und deshalb sei es nicht möglich, es unter Begriffe von Naturgesetzen zu bringen. So meint z. B. auch Sigwart,79 daß wir bei den Gegenständen der historischen Forschung „nicht zum voraus eine ähnliche Regelmäßigkeit vermuten können wie im Gebiete der Natur“. Das ist insofern wohl richtig, als Gesetze für d i e Wirklichkeit zu finden, mit der m e i s t | die Geschichte sich beschäftigt, schwieriger sein mag als für die, mit der es die Naturwissenschaften, insbesondere die Körperwissenschaften, zu tun haben. Aber niemals wird es möglich sein, auf diesen Umstand einen prinzipiellen logischen Gegensatz von Natur und Geschichte zu gründen und die logische Bedeutung des Historischen festzustellen. Im Gegenteil, solchen Argumenten gegenüber muß die Ansicht immer im Recht bleiben, die sagt, es sei das reale geschichtliche Leben ein Teil der empirischen Wirklichkeit ebenso wie das „natürliche“ reale Sein, und wenn es auch vielleicht schwieriger sei, historische Gesetze zu finden, so liege doch nicht der mindeste Grund vor, die Lösung dieser Aufgabe als für alle Zeiten unmöglich anzusehen. Je schwieriger die Aufgabe sich gestalte, um so größer werde vielmehr der Anreiz sein, sich an ihre Lösung zu wagen. 79

Logik, [Bd.] II, 4. Aufl., S. 636.

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Damit derartige Argumente in ihrer ganzen Hinfälligkeit offenbar werden, heben wir hervor, daß Erörterungen über die größere oder geringere S c h w i e r i g k e i t einer Gesetzeswissenschaft mit dem, was wir hier feststellen, nichts zu tun haben. Gewiß ist das „historische Leben“ ein Stück der empirischen Wirklichkeit wie jedes andere, aber das hat in diesem Zusammenhange deshalb keine Bedeutung, weil eben a l l e Wirklichkeit „geschichtlich“ im weitesten, rein logischen Sinne des Wortes, d. h. einmalig und individuell ist. Gewiß kann man ferner für alle Wirklichkeit Gesetze zu finden versuchen, und unter allgemeine Begriffe läßt jedenfalls auch d i e Wirklichkeit sich bringen, mit der es die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne zu tun hat. Wir sind also weit davon entfernt, zu bestreiten, daß die Schicksale der Kulturmenschheit einer naturwissenschaftlichen oder generalisierenden Darstellung unterworfen werden k ö n n e n . Nur sehen wir jetzt, warum das, was bei dieser Begriffsbildung herauskommen würde, niemals „Geschichte“ heißen dürfte, denn eine solche Darstellung könnte nicht mehr auf das einmalige individuelle wirkliche Geschehen in seiner Einmaligkeit und Individualität gerichtet sein. Wo die Wirklichkeit in ihrer Individualität und Besonderheit erfaßt werden soll, da ist es einfach l o g i s c h w i d e r s i n n i g , sie unter allgemeine Begriffe bringen oder Gesetze des Historischen aufstellen zu wollen, die, wie wir wissen, als Gesetze notwendig Allgemeinbegriffe sind. Solche Gesetzesbegriffe würden, wie alle Begriffe der Naturwissenschaft, immer nur das geben, was nicht mehr einmalig und individuell ist, und es wäre daher der Zweck der Geschichtswissenschaften, die Wirklichkeit in ihrer Individualität kennenzulernen, um so sicherer | verfehlt, je mehr es gelänge, die Gesetze des realen Materials zu finden, dessen „Geschichte“ man kennenlernen will. Es ist nicht etwa mehr oder weniger schwierig, die Gesetze der Geschichte zu finden, sondern der B e g r i f f des „historischen Gesetzes“ enthält, falls wir den Begriff des Historischen in der hier angegebenen rein logischen Bedeutung nehmen, eine contradictio in adjecto, d. h. Geschichtswissenschaft und Gesetzeswissenschaft schließen einander begrifflich aus, sofern die eine das Allgemeine, die andere das Individuelle darstellen will. Die Darstellung des Allgemeinen kann nie die Darstellung des Individuellen sein. Dies allgemeine Prinzip wenden wir noch auf einen speziellen Fall an, in dem es von besonderer Bedeutung ist. Nicht selten hört man, die einzelnen P e r s ö n l i c h k e i t e n der Geschichte könnten allerdings von der Naturwissenschaft nicht begriffen werden, weil sie zu kompliziert seien, um vollständig übersehen zu werden, die körperlichen Vorgänge dagegen böten ihrer Einfachheit wegen eine solche Schwierigkeit nicht dar. Auch diese Meinung ist auf das Entschiedenste zurückzuweisen, und wie falsch sie ist,

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muß, abgesehen von den bereits angegebenen Gründen, sofort klar werden, wenn wir uns auf das besinnen, was wir über den Begriff des I n d i v i d u u m s festgestellt haben. Jedes Blatt am Baume, jedes Stück Schwefel, das der Chemiker in seine Retorte tut, ist ein Individuum und geht als Individuum ebensowenig in einen naturwissenschaftlichen Begriff ein wie irgendeine große Persönlichkeit der Geschichte. Haben wir Blätter oder Schwefel vor uns, so betrachten wir allerdings u n w i l l k ü r l i c h die einzelnen Individuen lediglich als Exemplare von allgemeinen Begriffen, d. h. wir achten nicht auf das, was sie zu Individuen macht, und das müssen wir tun, denn so allein erhalten wir „Schwefel“ oder „Blätter“ im Sinne der Naturwissenschaft. Weil uns die Individuen hier überhaupt nur als Gattungsexemplare i n t e r e s s i e r e n , vergessen wir ferner, was wir getan haben, und machen daher keinen Unterschied zwischen „einem Blatt“ im Sinne der Naturwissenschaft und „diesem besonderen Blatt“ als einem historischen, eigenartigen, individuellen Faktum. Bei anderen Individuen dagegen, insbesondere bei Persönlichkeiten, ist es schwer, ja unmöglich, den Unterschied von Individuum und Gattungsexemplar zu übersehen. Setzen wir ein Individuum wie Goethe in ein Gattungsexemplar um, so müssen wir das sofort merken, denn dann behalten wir nur noch einen Dichter, einen Minister, einen Menschen und nicht mehr Goethe. Aber dieser Unterschied darf uns nicht darüber täuschen, | daß der Prozeß, durch den wir an die Stelle dieses Blattes und dieses Schwefels „ein Blatt“ oder „Schwefel“ im Sinne der Naturwissenschaft, also ein Gattungsexemplar, gesetzt haben, logisch genau derselbe ist wie der, durch den wir Goethe in „einen Dichter“ verwandeln. Wie kommt es, daß wir dies, das doch im Grunde selbstverständlich ist, so leicht übersehen? Es liegt in den meisten Fällen an einem äußerlichen Umstand. Es gibt Individuen, die nur Gattungs n a m e n führen. Haben wir an einem von ihnen einen Begriff gebildet, so bleibt der Name für den Begriff derselbe wie für das wirkliche Individuum. Bei Individuen dagegen, die Eigennamen tragen, wechselt der Name, sobald aus dem Individuum ein Gattungsexemplar wird, und dieser Umstand macht uns sofort auf das aufmerksam, was wir getan haben. Der Namenwechsel ist aber mit Rücksicht auf das, worauf es hier ankommt, z u f ä l l i g . Ob wir statt von diesem Stück Schwefel von Schwefel im allgemeinen oder statt von Goethe von einem Menschen oder einem Dichter im allgemeinen reden, bedeutet rein logisch oder f o r m a l keinen Unterschied. Es ist daher irreführend, wenn gesagt wird, eine historische Persönlichkeit sei zu kompliziert, um in die Begriffe der Naturwissenschaft einzugehen, ein körperlicher Vorgang dagegen nicht. Das schlösse die Möglichkeit eines späteren Begreifens auch der Persönlichkeit nicht aus und würde die Behauptung eines Unterschiedes

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zwischen den Individuen der Geschichte im engeren Sinne und den andern Dingen, die ebenfalls historische Individuen in der allgemeinsten logischen Bedeutung des Wortes sind, einschließen. Gerade diese Meinung bekämpfen wir hier. Goethe ist nicht „komplizierter“ als irgendein beliebiges Stück Schwefel in seiner v o l l e n empirischen Realität, denn die Mannigfaltigkeit b e i d e r Wirklichkeiten ist unübersehbar, und von einem mehr oder weniger Komplizierten zu reden, hat daher keinen Sinn, solange nur die empirische Realität als solche in Frage steht. Nicht als komplizierte Persönlichkeit, sondern als einmaliges Individuum, als nie wiederkehrendes, besonderes Gebilde überhaupt ist ein „Mann der Geschichte“ naturwissenschaftlich unbegreiflich, d. h. er teilt diese Unbegreiflichkeit mit allem Wirklichen, das in seiner Individualität in Betracht kommt. Etwas „Einfacheres“ als ein Stück Schwefel kann es kaum geben, und trotzdem ist jedes Stück Schwefel, das wir nicht auf die allgemeine „Natur“ des Schwefels, sondern auf seine individuellen Besonderheiten hin ansehen, eine unübersehbare Mannigfaltigkeit und daher genau so unbegreiflich wie etwa Goethe oder Kant, d. h. unbegreiflich für eine gene- | ralisierende Naturwissenschaft. Solche Unbegreiflichkeit haftet also niemals irgendwelchen besonderen Dingen, wie z. B. den Persönlichkeiten der Geschichte, in höherem Maße als anderen wirklichen Objekten an, sondern eine naturwissenschaftliche Behandlung kann von a l l e r Wirklichkeit immer nur das geben, was den Historiker, der das Individuelle und Einmalige darstellen will, nicht mehr interessiert. Nietzsche sagt einmal: „Wenn erst die Individuen beseitigt sind, dann ist der Gang der Geschichte zu erraten, denn der einzige irrationelle Faktor ist beseitigt“.80 Der Satz gibt die herkömmliche Meinung vorzüglich wieder, aber er ist falsch, da Nietzsche mit den Individuen allein die bedeutenden Persönlichkeiten meint. Diese sind eben nicht der e i n z i g e irrationale Faktor, sondern a l l e s Wirkliche und infolgedessen alles Historische in dem festgestellten logischen oder formalen Sinn ist dem allgemeinen naturwissenschaftlichen Begriff gegenüber genau so „irrationell“ wie die einzelnen großen Persönlichkeiten und daher einer generalisierenden Darstellung prinzipiell entzogen. Endlich ist unsere Begriffsbestimmung des Historischen nicht nur von allen Ansichten zu unterscheiden, die das Wesen der geschichtlichen Wissenschaften aus der Eigenart eines besonderen Materials, etwa der Kulturmenschheit oder des „geistigen“ Lebens, verstehen wollen, sondern wir müssen auch noch zu einer vielfach vertretenen Ansicht Stellung nehmen, die wie wir einen l o g i s c h e n oder f o r m a l e n Begriff des Historischen 80

Werke, Bd. X, S. 290.

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zu gewinnen sucht, trotzdem aber nicht als logisch einwandfrei gelten kann, weil sie nicht den logisch u r s p r ü n g l i c h e n Gegensatz von Natur und Geschichte trifft. Sie ist in mehreren voneinander unabhängigen Formen und schon früh aufgetreten. Auch darauf werfen wir einen Blick. Als im Jahre 1795 Condorcets Esquisse d’un tableau historique erschien, eine Schrift, die bekanntlich einen großen Teil der Gedanken enthält, welche seitdem immer von neuem aufgetaucht sind, so oft es galt, die Geschichte „zum Range einer Wissenschaft zu erheben“, gab Friedrich Schlegel in Niethammers Philosophischem Journal eine Kritik, in der er auf den Grundirrtum der Bestrebungen hingewiesen hat, die auch wir hier bekämpfen. Er sieht deutlich, daß Condorcet den Begriff der Geschichte gänzlich verfehlt und sagt: „Die beharrlichen Eigenschaften des Menschen sind Gegenstand der reinen Wissenschaft, die Veränderungen des Menschen hingegen, sowohl des einzelnen als der Masse, sind der Gegenstand einer wissenschaftlichen Geschichte der | Menschheit.“ Unter „reiner“ Wissenschaft haben wir hier dasselbe zu verstehen, was wir Naturwissenschaft nennen, und es wird also der Gegensatz von Natur und Geschichte mit dem von Beharrung und Veränderung gleichgesetzt. Dabei ist von materialen Unterschieden keine Rede mehr, sondern es wird alles formal und insofern logisch gefaßt. Von einem Einfluß dieser Schlegelschen Gedanken ist jedoch nichts zu merken, ja seine Kritik Condorcets ist so gut wie unbekannt geblieben. Später gehört Droysen81 zu den wenigen, die ebenfalls einen logischen Begriff der Geschichte aufzustellen versuchten, und Bernheim82 hat sich ihm angeschlossen. „Wenn wir“, sagt er, „die verschiedenen Wissenschaften überblicken, bemerken wir, daß es drei verschiedene Arten gibt, wie eine Wissenschaft ihre Objekte betrachtet, je nachdem, was sie von diesen wissen will: 1. wie die Objekte an sich sind und sich verhalten, ihr Sein; 2. wie sie zu dem geworden sind bzw. werden, was sie sind, ihre Entwicklung; 3. was sie im Zusammenhange miteinander, im Zusammenhange der Welt bedeuten. Naturwissenschaftliche, geschichtliche, philosophische Betrachtungsart scheiden sich danach.“ Sehen wir von dem Begriff der Philosophie, der hier aufgestellt wird, ab, so kommt unter logischen Gesichtspunkten diese Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und Geschichte im wesentlichen auf dasselbe hinaus wie die von Schlegel, und jedenfalls reflektiert auch sie mit dem Gegensatz von Sein und Werden auf die Methode, nicht auf das Material. Die eingehendste Theorie der historischen Wissenschaften, die auf einem logischen Gegensatz aufgebaut ist, findet sich endlich in einem Werke von 81 82

Grundriß der Historik, 1868, 3. Aufl. 1882. Lehrbuch der historischen Methode. 1889, 2. Aufl. 1894, S. 1. Ich zitiere zunächst absichtlich die frühere Fassung. In den späteren Auflagen hat Bernheim den Satz etwas geändert, so daß er der in diesem Buch vertretenen Ansicht näher kommt.

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Xénopol.83 Er unterscheidet zwei verschiedene Arten von Tatsachen, von denen er die einen als „phénomènes coexistants“ oder später „faits de répétition“, die anderen als „phénomènes successifs“ bezeichnet, und er lehrt, die Geschichte habe es nur mit den letzteren zu tun, während die anderen das Objekt der Naturwissenschaft seien. Die Naturwissenschaft ist dementsprechend die Wissenschaft von den Wiederholungen, die Geschichte die Wissenschaft von der Aufeinanderfolge, und während die Naturwissenschaft Gesetze sucht, haben die Geschichtswissenschaften „Reihen“ darzustellen. Es bedarf keines Be- | weises, wie nahe diese Unterscheidung sich mit der soeben angeführten berührt, und wie auch sie rein formal, also logisch ist. Wiederholungsphänomene gibt es, wie Xénopol ausführt, überall, im Körperlichen ebenso wie im Seelischen, und andererseits sind die Phänomene der Aufeinanderfolge nicht etwa auf das geschichtliche Leben im engeren Sinne beschränkt, sondern auch die gesamte Körperwelt kann als eine Reihe von aufeinanderfolgenden Phänomenen angesehen werden. Was ist zu solchen Aufstellungen zu sagen? Zweifellos sind unter logischen Gesichtspunkten die angeführten Unterscheidungen zwischen Naturwissenschaft und Geschichte die besten, die wir bisher kennengelernt haben, weil sie eben auf die Methode und nicht auf das Material reflektieren. Aber im strengen Sinne können wir auch die Gegensätze von Beharrung und Veränderung, Sein und Werden, Wiederholung und Aufeinanderfolge für die Objekte der empirischen Wirklichkeit, wie sie unabhängig von jeder wissenschaftlichen Auffassung bestehen, nicht anerkennen. Es ist zwar gewiß richtig, daß die Geschichte es mit Veränderung, Werden und Aufeinanderfolge zu tun hat, insofern a l l e einmalige, individuelle Wirklichkeit, also alles Historische im denkbar umfassendsten logischen Sinne, sich verändert, wird und aufeinanderfolgt, und besonders das Werk von Xénopol zeigt, daß man auch auf der Grundlage seines Gegensatzes von Wiederholung und Folge zu wertvollen Ergebnissen kommen kann. Aber unter philosophischen Gesichtspunkten bleibt die Identifizierung der angeführten Begriffspaare mit dem von Natur und Geschichte trotzdem unzulässig, denn es kommt der wahrhaft entscheidende l o g i s c h e Unterschied in ihnen nicht k l a r genug zum Ausdruck. Es entsteht nämlich bei ihrer Verwendung der Schein, ja es wird sogar direkt behauptet, daß die empirische W i r k l i c h k e i t s e l b s t in Beharrung und Veränderung, Sein und Werden, Wiederholung und Aufeinanderfolge zerfalle und dem Forscher also zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Ta t s a c h e n darbiete, die er so hinnehmen könne, wie sie wirklich sind. Wir hätten danach h i e r die Natur als Faktum, d o r t die Geschichte ebenfalls als Faktum, und die Wissenschaft von ihnen 83

Les principes fondamentaux de l’histoire, 1899, 2. Aufl. unter dem Titel: La théorie de l’histoire, 1908.

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wäre in beiden Fällen nur ein „Spiegel der Wirklichkeit“. Gerade diese Meinung aber ist unhaltbar, ja solange sie besteht, wird man zu einem l o g i s c h e n Verständnis der Wissenschaften nicht kommen. Deshalb ist mit Nachdruck hervorzuheben: a l l e s empirische reale Sein bildet zugleich ein Werden und Geschehen, j e d e r wirkliche Vorgang verändert sich langsamer oder schneller, a l l e empirische Reali- | tät setzt sich aus „Reihen“ zusammen, deren Teile aufeinanderfolgen. Ein beharrendes, starres, dauerndes reales Sein und Wiederholung im strengen Sinn des Wortes kennt die empirische Wirklichkeit, wie sie unabhängig von jeder Auffassung durch die Wissenschaft besteht, überhaupt nicht. Dauer und Kreislauf bieten sich dem Forscher niemals als empirische Tatsachen dar, die er durch seine Begriffe nur widerzuspiegeln brauchte. Veränderung, Werden und Aufeinanderfolge sind andererseits auch den Naturwissenschaften, wie wir das später bei der Erörterung des Entwicklungsbegriffes noch sehen werden, durchaus nicht etwa fremd. Sollten die angeführten Begriffsbestimmungen von Geschichte und Naturwissenschaft aufrecht erhalten werden, so könnten sie nur bedeuten, daß die Naturwissenschaft von der empirischen Welt des Entstehens, der Veränderung, des Werdens, des Geschehens, der Aufeinanderfolge zu einer unerfahrbaren transzendenten Welt des dauernden realen Seins und der Wiederholung vorzudringen habe, während die Geschichte bei dem empirischen Sein, das sich stets verändert und nie wiederholt, stehen bleibe. Diese Deutung aber schließt, wie wir gesehen haben, erhebliche Bedenken ein, und sie ist offenbar auch nicht gemeint, wo der Naturwissenschaft das Sein oder die Wiederholung, der Geschichte das Werden oder die Aufeinanderfolge als Objekt zugeteilt wird. Deshalb müssen wir die Meinung Droysens ebenso wie die Xénopols ablehnen.84 Da man einen Irrtum am überzeugendsten bekämpft, wenn man zugleich seine Entstehung begreiflich macht, werfen wir auch noch einen Blick auf die verschiedenen Ausdrücke, in welche die Naturwissenschaft einerseits, die Geschichtswissenschaft andererseits ihre Urteile zu kleiden pflegen. Die Sprache nämlich scheint die abgewiesene Meinung zu bestätigen, denn die allgemein-begrifflichen Aussagen der Naturwissenschaft nehmen in der Tat die Form an, daß dieses oder jenes dauernd so i s t , während ein historischer Bericht aus den schon angegebenen Gründen erzählt, daß dieses oder jenes 84

B e r n h e i m kommt neuerdings der richtigen Formulierung n ä h e r, wenn er unterscheidet: „1. wie die Objekte beschaffen sind und sich verhalten, ihr allgemeines (!) Wesen und Sein; 2. wie sie zu dem Besonderen (!) geworden sind bzw. werden, was sie sind.“ Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 5. u. 6. Aufl. 1908. Im l o g i s c h e n Interesse wäre jedoch eine schärfere Trennung der Gegensatzpaare von Sein und Werden einerseits, Allgemeinem und Besonderem andererseits wünschenswert. Der Synthese, die Bernheim zwischen der Ansicht Droysens und der in meinem Buch vertretenen versucht hat, fehlt es an letzter Klarheit.

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einmal so w a r. Daraus verstehen wir, wie man dazu gekommen ist, die Unterschiede von Sein | und Werden, Beharrung und Veränderung mit dem Unterschiede von Natur und Geschichte in Verbindung zu bringen. Die sprachlichen Wendungen werden sich auch gewiß nicht vermeiden lassen. Wir haben aber trotzdem keinen Grund, anzunehmen, daß in ihnen das logisch Wesentliche rein zutage tritt. Das Wort „ist“ hat vielmehr, wo die Natur als das dauernd Seiende bezeichnet wird, die Bedeutung der zeitlosen Geltung, und die sprachliche Wendung darf uns daher nicht verhüllen, daß die Naturwissenschaft Begriffe bildet, deren unwirklichen Gehalt sie dem wirklichen wechselnden Geschehen als das Dauernde und Feste gegenüberstellt. Nur dem Inhalt der Begriffe kommt Dauerhaftigkeit und Festigkeit zu, nicht den realen Objekten, auf welche die Begriffe sich beziehen. Auch noch aus einem anderen Grunde ist die Täuschung, als handle die Naturwissenschaft von einem dauernden, sich gleichbleibenden oder sich wiederholenden Sein, erklärlich. Wenn ihre Begriffe gelten, dann finden sich in der Wirklichkeit stets Gebilde, die sich diesen Begriffen unterordnen lassen. So kommt sie leicht dazu, zu meinen, es gebe wirklich Dinge und Vorgänge, die sich immer gleichen oder wiederholen, weil in der Tat das an ihnen, was den Inhalt der Begriffe bildet, an vielen Stellen des Raumes und der Zeit zu finden ist. Der Historiker dagegen, den nicht das interessiert, was überall und immer existiert, weiß alles, worauf es ihm ankommt, im Werden und in Veränderung, und er wird daher nicht so leicht im Zweifel darüber sein, daß überall allein die Begriffe unverändert bleiben, ihnen also nirgends gleiche und unveränderliche Wirklichkeiten als Tatsachen entsprechen. „In der Chemie“, sagt Ostwald 85 einmal, „werden solche Körper als gleich angesehen, deren Eigenschaften, abgesehen von der willkürlichen Menge und Form, vollkommen übereinstimmen.“ Gewiß, sie werden als gleich a n g e s e h e n , aber tatsächlich gleicht kein realer Körper dem andern, denn nur in „willkürlicher Form und Menge“ ist er wirklich, und was dem Manne der Naturwissenschaft willkürlich erscheint, kann für den Historiker, dessen Interesse auf das Einmalige und Besondere gerichtet ist, gerade das sein, worauf es ihm ankommt, und was er daher in seine Darstellung aufnimmt. Wird also die Geschichte von der Naturwissenschaft dadurch getrennt, daß die eine das Geschehen und Werden, die andere das Sein zu erforschen hat, so ist dieser Gegensatz zum mindesten ungenau formuliert. Aber wir verstehen andererseits nicht nur, warum es zu diesen | Formulierungen kommen muß, sondern auch wir werden im folgenden von der Natur als von einem „dauernden Sein“ und von der Geschichte als von der „Verände85

Lehrbuch der allgemeinen Chemie, Bd. I, S. 1.

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rung“, dem „Werden“ und dem „Entstehen“ sprechen, da es außerordentlich umständlich sein würde, wollten wir diese Ausdrücke ganz vermeiden oder jedesmal ausdrücklich darauf hinweisen, daß hier der logische Gegensatz von Allgemeinem und Individuellem zugrunde liegt. Wir haben uns an die genannten Ausdrücke nun einmal gewöhnt und finden sie überall in dem angegebenen Sinne verwendet. Dem Sprachgebrauch, daß dieses oder jenes dauernd so i s t , und daß dieses oder jenes einmal so w a r, werden auch wir uns besonders dort anschließen, wo wir solche naturwissenschaftliche oder historische Werke heranziehen und logisch analysieren, in denen diese sprachlichen Wendungen vorkommen. Das schadet nichts, solange wir nicht vergessen, was den Ausdrücken als ihr eigentlicher logischer Sinn zugrunde liegt, und solange wir uns besonders nicht dazu verleiten lassen, die Wirklichkeit selbst, wie sie unabhängig von jeder Auffassung besteht, in zwei verschiedene Arten von Tatsachen, dauernde und sich verändernde, Wiederholung und Aufeinanderfolge, zu spalten. Es bleibt jedenfalls dabei: nicht der Gegensatz von sich wiederholendem Sein und sich veränderndem Werden, der ohne nähere Erklärung mißverständlich ist, da kein wirkliches Sein sich genau so wiederholt, wie es schon einmal war, darf der allgemeinsten logischen Unterscheidung von Naturwissenschaft und Geschichte zugrunde gelegt werden, sondern wir haben festzuhalten an dem Gegensatz des A l l g e m e i n e n , das für verschiedene Orte und verschiedene Zeiten oder auch immer und überall gilt, einerseits, und der allein wirklichen i n d i v i d u e l l e n Welt des Geschehens und der Veränderung andererseits, in der sich niemals etwas genau wiederholt. Dies kann genügen, um die Begriffe von Natur und Geschichte in ihrer allgemeinsten l o g i s c h e n Bedeutung klarzulegen.

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III. D i e h i s t o r i s c h e n B e s t a n d t e i l e i n d e n N a t u rwissenschaften.

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Wenn wir uns jetzt der Aufgabe zuwenden, mit Hilfe der gewonnenen formalen Begriffe von Natur und Geschichte eine logische Gliederung der empirischen Wissenschaften zu gewinnen, so werden wir uns von vorneherein darüber klar sein, daß dieser Versuch einen N a c h t e i l | im Vergleich zu den sonst üblichen Einteilungen oder Klassifikationen haben muß. Die Wissenschaften selbst sind früher da als die Reflexion auf ihre logische Struktur und gliedern sich faktisch nicht nach logischen Prinzipien. Die Teilung der wissenschaftlichen Arbeit knüpft zuerst an sachliche Unterschiede der gegebenen Wirklichkeit an, und der einzelne Forscher wird oft

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das Material, das er kennt und beherrscht, unter verschiedenen methodologischen Gesichtspunkten betrachten, in den meisten Fällen, ohne sich dessen ausdrücklich bewußt zu sein. Ueberall, wo dies der Fall ist, kann die logische Gliederung mit der wirklich bestehenden Teilung der wissenschaftlichen Arbeit in Konflikt kommen. Das hängt mit der Art unserer logischen Untersuchung notwendig zusammen, und es lassen sich von der Tatsache dieses Konfliktes aus daher auch keine Einwände gegen unsere Theorie erheben. Wir können und wollen an dieser Stelle die naturwissenschaftlichen Darstellungen noch nicht s o von den historischen trennen, daß der eine Teil der Forscher es ausschließlich mit diesen, der andere es ausschließlich mit jenen zu tun hat. Die faktische Arbeitsteilung kommt vorläufig gar nicht in Betracht. In dieser Hinsicht sind deshalb freilich alle von sachlichen Unterschieden ausgehenden Versuche einer Gliederung der Wissenschaften gegenüber unserem Versuch im Vorteil. Vom Standpunkt der Einzelwissenschaften aus kann man leicht von einer willkürlichen Zerreißung der wissenschaftlichen Arbeit sprechen. Doch muß dieser Nachteil an j e d e r nicht von sachlichen Eigentümlichkeiten des Materials, sondern von logischen Gesichtspunkten ausgehenden Gliederung der Wissenschaften haften, und er wird reichlich aufgewogen durch die Vorteile, die wir mit Rücksicht auf das Verständnis der logischen Struktur der Wissenschaften gewinnen. Allerdings, da es uns nicht darauf ankommt, die Trennungslinie entsprechend der wirklichen Teilung der wissenschaftlichen Arbeit zu ziehen, sondern die hiervon ganz unabhängig bestehenden Unterschiede des logischen Charakters der Wissenschaften aufzuzeigen, gestaltet sich unsere Aufgabe auch nicht so einfach wie bei den von sachlichen Unterschieden des Materials ausgehenden Einteilungen, und ein anderer, noch wichtigerer Umstand dient ebenfalls dazu, unsere Aufgabe zu komplizieren. Wir mußten, um die Begriffe von Natur und Geschichte zunächst einmal rein logisch klarzustellen, mit E i n s e i t i g k e i t verfahren, d. h. den Gegensatz der Wissenschaft vom Allgemeinen zur Wissenschaft vom Individuellen schärfer herausarbeiten, als er in den bei weitem meisten empirischen Wissenschaften faktisch zum Ausdruck | kommt. Insofern kann man von einer U e b e r t r e i b u n g sprechen. Abgesehen davon, daß der Begriff einer Wissenschaft vom Individuellen vorläufig nichts anderes als ein logisches Problem ist, bedürfen auch die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zum Historischen oder zur empirischen Wirklichkeit in ihrer Besonderheit und Individualität noch einer genaueren Erörterung, die in gewisser Hinsicht als E i n s c h r ä n k u n g des bisher gewonnenen Resultates angesehen werden kann. Daß wir zu solchen Einschränkungen kommen würden, haben wir von vorneherein hervorgehoben, und der Grund für sie muß sich bereits aus den

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Ausführungen über das Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ergeben. Doch ist es notwendig, das logische Prinzip, um das es sich dabei handelt, ausdrücklich zu formulieren und an Beispielen zu verdeutlichen. Der Kernpunkt läßt sich mit wenigen Worten angeben. Wir wiesen früher wiederholt darauf hin, daß die Begriffe der Naturwissenschaft bei der Bearbeitung der Körperwelt und des Seelenlebens mit Rücksicht auf das Ideal einer allumfassenden mechanischen oder psychologischen Theorie als m e h r oder w e n i g e r logisch vollkommen angesehen werden können. Erst wenn die Gesamtwirklichkeit des Physischen oder des Psychischen, genauer der Inbegriff aller ihrer Teile, unter e i n e n umfassenden Begriff gebracht worden ist, hat dieser Begriff a l l e unübersehbare Mannigfaltigkeit überwunden und enthält dementsprechend nichts mehr von der Besonderheit und Individualität der verschiedenen empirischen Wirklichkeiten. Jede Naturwissenschaft jedoch, deren Begriffe diesem Ideale mehr oder weniger fern stehen, nimmt noch mehr oder weniger auch von der Besonderheit und Individualität des Wirklichen in sich auf. Da die individuelle Mannigfaltigkeit für uns mit dem Historischen in seiner allgemeinsten Bedeutung identisch ist, läßt sich dieser Satz dahin formulieren, d a ß d i e v e r s c h i e d e n e n Naturwissenschaften mehr oder weniger historische Bes t a n d t e i l e a u f w e i s e n , und zwar ist dies so zu verstehen, daß ihre an dem Ideal der „letzten“ Naturwissenschaft gemessene Vollkommenheit abhängt von dem Grade, in dem es ihnen gelungen ist, die historischen Elemente aus ihren Begriffen zu entfernen. Entsprechend dem Maß von historischen Bestandteilen, das die Wissenschaften enthalten, können wir nun auch sie selbst als m e h r oder w e n i g e r n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h oder generalisierend be- | zeichnen. Rein naturwissenschaftlich oder absolut generalisierend wird dann eine Betrachtung der Wirklichkeit lediglich mit Rücksicht auf ihren a l l g e m e i n s t e n Begriff zu nennen sein. Kommt dagegen das Allgemeine eines besonderen Te i l e s der Körperwelt oder des Seelenlebens in Frage, so sind in den ausschließlich für d i e s e n Teil gültigen allgemeinen Begriffen immer auch noch historische Bestandteile vorhanden, oder die Generalisation ist nicht absolut, sondern nimmt noch mehr oder weniger von der Individualität der Dinge auf. Und eine analoge Betrachtung muß selbstverständlich auch für die h i s t o r i s c h e n Wissenschaften gelten, da unsere Begriffe des Naturwissenschaftlichen und des Historischen ja Korrelatbegriffe sind, d. h. es muß ebenso, wie es ein mehr oder weniger Naturwissenschaftliches gibt, ein m e h r oder w e n i g e r H i s t o r i s c h e s geben. Auch das Historische ist somit etwas, das Grade hat, d. h. es ist nicht allein eine absolut historische Betrachtung möglich, die die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Individuelle und Besondere schlechthin darstellt, sondern man muß auch eine Betrach-

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tung noch historisch nennen, die sich zwar auf etwas Allgemeines richtet, dies Allgemeine aber im Vergleich zu noch Allgemeinerem als eine Individualität oder als etwas Besonderes ansieht. So wird der Begriff der Geschichte ebenso r e l a t i v wie der der Naturwissenschaft. Dem relativen Generalisieren steht ein relatives Individualisieren gegenüber, und wie es historische Elemente in den Naturwissenschaften gibt, so werden wir auch n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e E l e m e n t e i n d e n G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t e n finden. Was das bedeutet, läßt sich jedoch genauer erst im Zusammenhange mit den logischen Grundbegriffen der historischen Wissenschaften selbst zeigen. Hier, wo unsere Aufmerksamkeit noch auf die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung und den a l l g e m e i n s t e n Gegensatz von Natur und Geschichte gerichtet ist, suchen wir zunächst die Bedeutung der historischen Bestandteile in den Naturwissenschaften zu verstehen. Wir gehen dabei wieder so vor, wie wir es früher schon getan haben, d. h. wir entwickeln unsere Gedanken fürs erste mit Rücksicht auf die Wissenschaften von der K ö r p e r w e l t . Für diese, in Untersuchungen über die Methode der Geschichtswissenschaften ungewöhnliche Art der Betrachtung haben wir mehrere Gründe. Zunächst muß, falls unsere bisherigen Behauptungen richtig sind, es zum mindesten gleichgültig sein, ob wir an den Körperwissenschaften oder an den „Geisteswissenschaften“ ein logisches Prinzip klarmachen, | denn der Gegensatz von Natur und Geschichte hat in seiner allgemeinsten logischen Bedeutung mit dem von Körper und Seele noch nichts zu tun. Sodann aber besitzen für unsern Zweck die Körperwissenschaften im Vergleich zu den psychologischen Disziplinen den Vorzug, daß sie in der logischen Vollkommenheit ihrer Begriffe weiter fortgeschritten sind, und daß besonders das letzte Ideal einer begrifflichen Erkenntnis der Körperwelt wegen der Möglichkeit einer Quantifikation hier deutlicher zutage tritt als bei der begrifflichen Bearbeitung des Seelenlebens. Endlich bevorzugen wir die Körperwissenschaften gerade deshalb, weil es n i c h t üblich ist, den Begriff des Historischen auf sie anzuwenden. Je ungewohnter nämlich das Material ist, an dem wir unsere Begriffe entwickeln, desto mehr muß ihre von dem Material unabhängige logische Bedeutung zutage treten und so von neuem der Gegensatz klar werden, in dem unsere logische Gliederung der Wissenschaften zu der sonst üblichen sachlichen Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften steht. Greifen wir zunächst auf die Ausführungen über Dingbegriffe und Relationsbegriffe im ersten Kapitel zurück. Die Beseitigung der Dingbegriffe durch Umsetzung in Begriffe von Relationen ist, wie wir wissen, der Weg, auf dem die Naturwissenschaften von der Körperwelt sich der logischen

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Vollkommenheit annähern. Unter die Begriffe von Relationen „letzter Dinge“ soll, soweit wie möglich, alles körperliche Sein gebracht werden. Je mehr Begriffe von sinnlich anschaulichen Dingen also eine Wissenschaft noch benutzt, desto weiter ist sie von der Einsicht in den allumfassenden naturgesetzlichen Zusammenhang der Körperwelt entfernt. Die Begriffe nun, die noch nicht Relationsbegriffe geworden sind, können wir jetzt auch als die h i s t o r i s c h e n Bestandteile der naturwissenschaftlichen Theorien bezeichnen und sagen, daß die Auflösung der Dingbegriffe in Relationsbegriffe einer Beseitigung der historischen Elemente gleichzusetzen ist. Jeder Begriff eines sinnlich anschaulichen Dinges muß im Vergleich zu den „letzten Dingen“ noch etwas Individuelles, also Historisches im logischen Sinne enthalten. Dementsprechend läßt sich dann mit Hilfe unseres Begriffes vom Historischen ein logisches I d e a l s y s t e m der verschiedenen Naturwissenschaften konstruieren. Wenn wir die besonderen Disziplinen als Glieder eines einheitlichen Ganzen auffassen, dann werden wir sie in einem System in folgender Weise angeordnet denken. Die historischen Elemente, die in den Dingbegriffen der einen Wissenschaft noch vorhanden sind und, solange diese Wissenschaft über die b e s o n d e r e Aufgabe, die sie sich stellt, nicht hinausgeht, auch vorhanden sein | müssen, werden von einer anderen Disziplin, die sich umfassendere Aufgaben stellt, durch Begriffe von Relationen solcher Dinge, die weniger historische Bestandteile enthalten, beseitigt. Diese Wissenschaft schiebt dann ihre historischen Elemente einer noch umfassenderen Wissenschaft zu, die neue Relationsbegriffe mit immer weniger historischen Bestandteilen zu bilden hat, bis schließlich in einer die ganze Körperwelt umfassenden Theorie alle Begriffe von individuellen Dingen und damit alle historischen Elemente entfernt sind. Zugleich sehen wir, daß unter diesem Gesichtspunkte n u r die letzte Naturwissenschaft keine historischen Elemente besitzt. Alle anderen Disziplinen zeigen nicht bloß tatsächlich mehr oder weniger geschichtlichen Inhalt, sondern müssen ihn auch, solange sie sich eine begrenzte Aufgabe stellen, in ihren Begriffen von Dingen bewahren. Sie hören dadurch a l l e i n noch nicht auf, Naturwissenschaften im logischen Sinne zu sein. Sie wollen allgemeine Begriffe lediglich für einen besonderen Te i l der Wirklichkeit bilden und dürfen daher dort, wo für ihre begrenzten Ziele keine Probleme mehr vorliegen, die Dingbegriffe stehen lassen, ohne auf den Umstand, daß vom Standpunkte einer letzten Naturwissenschaft darin noch individuelle, also historische Elemente enthalten sind, zu reflektieren. Ja als Spezialwissenschaften haben sie nicht allein ein Recht, von einer Betrachtungsweise, die absolut unhistorisch ist, abzusehen, sondern sie können überhaupt n u r dadurch Naturwissenschaften eines besonderen Teiles der Körperwelt blei-

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ben, daß sie das Allgemeine i n n e r h a l b eines Besonderen und Individuellen, die Natur i n n e r h a l b eines Historischen suchen und sich daher nicht darum kümmern, ob das Gebiet, für welches allein ihre Begriffe gelten, auch als etwas Historisches anzusehen ist. I n s o f e r n also heben die historischen Bestandteile in den Begriffen den logisch naturwissenschaftlichen oder generalisierenden Charakter der Darstellungen, in denen sie sich finden, noch n i c h t auf. Aber dieses Verfahren ist in den Wissenschaften, welche es mit einem „relativ Historischen“ zu tun haben, nicht das einzige, das möglich ist, und damit kommen wir erst zu dem Punkt, an dem die Durchführung des prinzipiellen logischen Gegensatzes von Naturwissenschaft und Geschichte, so wie wir diese Begriffe bisher gefaßt haben, zu scheitern scheint. Je ferner die Spezialdisziplinen nämlich dem Ideal der „letzten“ Naturwissenschaft stehen, um so bedeutsamer muß in ihnen das Geschichtliche und um so größer die Schwierigkeit werden, die allgemeine Natur innerhalb dieses Geschichtlichen zu finden. Die sinnliche | Anschauung mit ihrer Besonderheit und Individualität drängt sich immer mehr in den Vordergrund. Unter diesen Umständen wird nicht nur die mehr als empirisch allgemeine Geltung um so unsicherer, je weiter die Begriffe von der Geltung der mathematisch formulierten Bewegungsgesetze entfernt sind, sondern – und das ist das Entscheidende – es greift auch ein anderer G e s i c h t s p u n k t d e r B e t r a c h t u n g als der im logischen Sinne naturwissenschaftliche, d. h. generalisierende Platz. Der historische Charakter dessen, was für die begrenzten Aufgaben der Spezialwissenschaft kein naturwissenschaftliches Problem ist, wird nun nämlich eventuell nicht mehr ignoriert, und sobald dies geschieht, muß das Verfahren der Wissenschaft selbst „historisch“ werden, d. h. der Forscher sucht dann nicht allein die Natur innerhalb eines Sondergebietes, das Allgemeine innerhalb eines Individuellen, sondern er reflektiert ausdrücklich darauf, daß er es mit historischen Vorgängen zu tun hat, und infolgedessen nimmt seine Darstellung aus den früher angegebenen Gründen die logische Form eines geschichtlichen Berichtes an, der von dem einmaligen Geschehen oder der Veränderung und dem Werden erzählt. Der Blick wendet sich von den zeitlos gültigen Relationen der Ve r g a n g e n h e i t der Objekte zu. Es taucht die Frage auf: wie ist das Bestehende allmählich geworden? Bei ihrer Beantwortung kommt zu dem historischen Charakter des I n h a l t e s der Begriffe auch die historische M e t h o d e der Darstellung. Zwar wird das Material, das erkannt werden soll, in den meisten Fällen immer noch unter relativ allgemeine Begriffe gebracht, denn eine Betrachtung der Besonderheiten einzelner Individuen spielt in den Körperwissenschaften höchstens in Ausnahmefällen eine Rolle, und es kann dementspre-

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chend auch die Methode der Darstellung nur „relativ historisch“, d. h. relativ individualisierend sein. Aber naturwissenschaftlich im logischen Sinne ist sie trotzdem nicht mehr. Sie muß historisch genannt werden, und unter rein logischen Gesichtspunkten bleibt eine solche historische Darstellung für das Material j e d e r Naturwissenschaft, mit Ausnahme der „letzten“, möglich. Deshalb scheint der prinzipielle Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte für die empirischen Wissenschaften überall dort zu verschwinden, wo nicht nur die Begriffe der Naturwissenschaft historische Elemente enthalten, sondern wo auch auf den historischen Charakter dieser relativ individuellen Elemente ausdrücklich reflektiert und dann der einmalige geschichtliche Werdegang des Individuellen in Betracht gezogen wird. | Es ist jedoch nicht schwer, zu zeigen, daß trotzdem die Bedeutung des logischen Gegensatzes von Natur und Geschichte für die Wissenschaftslehre unangetastet bleibt, und wir werden dies noch leichter können, wenn wir uns das Prinzip, um das es sich hier handelt, an einigen Beispielen zu verdeutlichen suchen. In dem wirklichen Betriebe der Naturwissenschaften von der Körperwelt spielt die in dem angegebenen logischen Sinne „historische“ Darstellung vor allem in den b i o l o g i s c h e n Disziplinen eine erhebliche Rolle, und es sind die logischen Besonderheiten der Biologie hier auch deshalb von Bedeutung, weil zwar wohl kaum im Ernste behauptet werden kann, daß die Geschichte wie Physik oder Chemie zu treiben sei, man dafür aber um so mehr in der Biologie die Naturwissenschaft gesehen hat, deren Methode für die historischen Wissenschaften anwendbar sein müsse. Trotzdem darf die Untersuchung, wenn sie die logische Struktur der Biologie klarlegen will, sich nicht auf diese Wissenschaft beschränken, sondern muß zeigen, daß in ihr nur etwas zu besonders deutlichem Ausdruck kommt, das in den andern Naturwissenschaften ebenfalls, mehr oder weniger ausgeprägt, zu finden ist. Aus diesem Grunde versuchen wir, historische Elemente auch in der Chemie, ja als logische Möglichkeit sogar in der Physik aufzuzeigen. Wir können uns dabei auf das berufen, was wir im ersten Kapitel über das Ideal einer a b s o l u t allgemeinen Theorie der Körperwelt und ihr Verhältnis zur Physik und Chemie ausgeführt haben, und wir werden zugleich imstande sein, die Ergänzungen zu dem dort Gesagten zu geben, auf die früher nur hingewiesen wurde. Selbstverständlich sehen wir jedoch hier wieder von aller inhaltlichen Richtigkeit der herangezogenen Beispiele ab und verfahren ganz schematisch, ohne die Einzelheiten des gegenwärtigen Standes der Forschung zu berücksichtigen. Gehen wir von dem Gedanken einer r e i n mechanischen Naturauffassung in der Gestalt aus, wie z. B. Hertz sie als Aethertheorie angedeutet hat, und suchen wir von diesem Ideal allmählich durch Physik und Chemie im engeren Sinne hindurch den Weg zur Biologie zu finden.

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Der Begriff der Körperwelt, nach dem alles physische Sein als Bewegung „letzter Dinge“ zu denken ist, enthält, wie wir wissen, nichts sinnlich Anschauliches und nichts Individuelles mehr. Wollen wir trotzdem den Aether im Sinne des bloßen „raumerfüllenden Mittels“, d. h. als das Substrat einer absolut allgemeinen Theorie des Physischen noch für eine Wirklichkeit halten, so hat er doch jedenfalls mit der uns bekannten | Wirklichkeit nichts „Wirkliches“ mehr gemein.86 Es wäre, wie wir auch sagen können, eine völlig unhistorische Wirklichkeit, und es hätte keinen Sinn, ihn mit Rücksicht auf seine Besonderheit und Individualität zu untersuchen. Jeder seiner Teile soll ja seinem Begriffe nach dasselbe sein wie jeder andere, nämlich: Bewegung letzter Dinge. Zugleich aber ist der Begriff des „letzten Dinges“ der einzige naturwissenschaftliche Begriff, der nichts mehr von Individualität und Besonderheit enthält. Schon wenn wir uns der Mannigfaltigkeit zuwenden, von der die verschiedenen Teile der P h y s i k im engeren Sinne handeln, so finden wir, daß Licht, Schall, Magnetismus, Elektrizität, ponderable Materie zwar sehr allgemeine Begriffe sind, die eine unübersehbare Fülle von verschiedenen einzelnen realen Dingen und Vorgängen umfassen, aber immer noch sinnlich anschauliche und individuelle, also „historische“ Elemente im logischen Sinne enthalten. Abgesehen davon, daß es bis jetzt nicht gelungen ist, alle Mannigfaltigkeit der physikalischen Vorgänge unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen, sind Licht, Schall usw. als a n s c h a u l i c h e Gebilde in ihrer Individualität für alle Zeiten als etwas Tatsächliches oder „Historisches“ hinzunehmen. Warum es gerade solche physikalischen Vorgänge gibt und nicht andere, die von den bekannten sich der Art nach ebenso unterscheiden wie diese voneinander, das wissen wir nicht und können es niemals wissen. Wäre eine „letzte“ Theorie vollständig ausgebildet, unter die jeder denkbare körperliche Vorgang gebracht werden kann, und dadurch eine Ueberwindung der extensiven Mannigfaltigkeit der Körperwelt in ihrer Gesamtheit erreicht, so beständen die Begriffe von Licht, Schall usw. aus Zahlen und Formeln, die sich zwar auf die physikalischen Vorgänge, die wir kennen, beziehen, mit dem aber, was wir als Licht, Schall usw. anschaulich erfahren oder erleben, nichts mehr gemeinsam haben. Die physikalischen Vorgänge sind begreiflich immer nur mit Rücksicht auf das, was sie mit andern teilen. Wer niemals Licht gesehen oder Töne gehört hat, würde aus dem Inhalt der Begriffe, die eine absolut allgemeine Theorie des Physischen 86

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H ä c k e l (Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft, S. 16) sagt allerdings: „Wenn wir mittelst der Luftpumpe die Masse der atmosphärischen Luft aus einer Glasglocke entfernen, so bleibt die Lichtmenge innerhalb derselben unverändert: w i r s e h e n d e n s c h w i n g e n d e n A e t h e r !“ Aber das kann man wohl doch nicht behaupten, sondern wir s e h e n immer die „Lichtmenge“ und d e n k e n sie uns nur als aus schwingendem Aether bestehend.

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bilden könnte, von dem, was Licht, Ton, Schall usw. als empirische Wirklichkeiten in ihrer Besonderheit und Individualität sind, nicht das geringste erfahren. | Dies meinen wir, wenn wir sagen, daß die physikalischen Einzeldisziplinen, die nicht absolut allgemeine Theorie des Physischen überhaupt sind, auch in ihren allgemeinsten Begriffen noch h i s t o r i s c h e Elemente enthalten. Jede von ihnen beginnt mit einem im logischen Sinne historischen Faktum, und so allgemein z. B. der Begriff des Lichtes auch ist, so muß die Optik, um als Lehre vom Licht Naturwissenschaft im logischen Sinne zu sein, d. h. zu generalisieren, davon absehen, daß ihr Material vielleicht nur eine besondere und individuelle Art der Aetherbewegung, also eine historische Modifikation darstellt. Sie beschränkt sich darauf, das festzustellen, was gilt, wo überhaupt Licht ist. Darin erfaßt sie dann die „Natur“ innerhalb des relativ historischen Vorganges, das Allgemeine im Besonderen. Einmal ergibt sich hieraus, warum die Untersuchungen, die nur für einen Teil der Wirklichkeit gelten, niemals ihren selbständigen Wert verlieren können, und warum es unmöglich ist, die speziellen physikalischen Theorien restlos in eine Mechanik aufzulösen, die n u r noch von Quantitäten redet. Zugleich aber sehen wir hieraus auch, daß der Gedanke einer G e s c h i c h t e des Lichtes, d. h. einer Behandlung der Lichtvorgänge, die auf ihre individuelle Wirklichkeit und damit auch auf ihren einmaligen Werdegang in der Vergangenheit Rücksicht nimmt, nicht etwa logisch widersinnig ist. Wären nämlich alle naturwissenschaftlichen Lichtprobleme gelöst, so bliebe doch noch eine Reihe von Fragen in betreff des Lichtes unbeantwortet. Gab es immer Licht? Wann und wo ist es zum erstenmal zu finden? Wieviel Licht existierte einmal wirklich, und an welchen Stellen der Welt kam es vor? Dies sind historische Fragen, über welche die Optik als generalisierende Naturwissenschaft nichts aussagt. Es wird keinem Physiker einfallen, solche Fragen zu stellen, denn abgesehen davon, daß zu einer Geschichte des Lichtes aus naheliegenden Gründen die „Urkunden“ oder „Quellen“ fehlen, würde sie ihn nicht interessieren. Aber darauf kommt es hier nicht an. Wir wollen nur zeigen, daß für alles, was noch sinnliche Wirklichkeit und damit noch Individualität enthält, eine historische Darstellung l o g i s c h m ö g l i c h ist, die sich ausdrücklich der einmaligen und individuellen Beschaffenheit der betreffenden Vorgänge zuwendet. Daß es sich bei einem Begriffe wie dem des Lichtes n u r um eine logische Möglichkeit handelt, ändert an unserem Resultate ebenfalls nichts. Was wir ausgeführt haben, gilt vielmehr für die gesamte Welt der Physik im engeren Sinne. Auch die „ponderable Materie“, um das, was vielleicht am fremdartigsten klingt, herauszuheben, ist, wenn z. B. die Massenatome als „Verdich- | tungszentren“ des Aethers angesehen werden, ebenfalls im Ver-

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gleich zu dem Aether überhaupt ein h i s t o r i s c h e r Vorgang, der eventuell einen Anfang und ein Ende hat wie alles Besondere und Individuelle, und von dem es daher auch eine Geschichte geben könnte, die sich auf seinen einmaligen und besonderen Werdegang bezieht. Wie gesagt, wir würden auf diese Gedanken keinen Wert legen, falls das logische Prinzip, auf das es dabei ankommt, in allen Wissenschaften so bedeutungslos wäre wie in der Physik. Das ist aber nicht der Fall. Schon wenn wir uns von der physikalischen Mannigfaltigkeit der c h e m i s c h e n , d. h. den qualitativen Verschiedenheiten der „Elemente“ zuwenden, gewinnen die historischen Bestandteile eine größere Bedeutung auch in der wirklichen Wissenschaft. Denken wir an die Darstellung, die die unübersehbare qualitative Mannigfaltigkeit der ponderablen Materie begreift, indem sie sie auf eine begrenzte Zahl von Qualitäten oder auf chemische Elemente zurückführt. Rein naturwissenschaftlich bleibt ihre Methode allein dadurch, daß sie die Elemente als etwas Ungewordenes, Dauerndes, also Unhistorisches betrachtet. Sie findet in ihnen die allgemeine „Natur“ des Chemischen und kann die Möglichkeit ihrer einmaligen Entstehung und deren individuellen Verlauf ebenso ignorieren wie die Optik die einmalige Entstehung des Lichts. Andererseits aber enthalten diese „Elemente“ nicht nur vom Standpunkte einer logisch vollkommen gedachten, also absolut unhistorischen Aethertheorie, sondern auch schon unter physikalischen Gesichtspunkten im engeren Sinne historische Bestandteile. Insofern nämlich bereits der Begriff der ponderablen Materie als der einer Aethermodifikation etwas relativ Historisches ist, müssen die chemischen Elemente, wenn wir uns außer der Aethertheorie auch eine Theorie der „Urelemente“ ausgeführt denken, als historische Modifikation von etwas angesehen werden, das, im Vergleich zum Aether, selbst schon eine historische Modifikation bildet. Man kann daher die Mannigfaltigkeit der chemischen Elemente im Vergleich zu den physikalischen Vorgängen als ein Historisches höherer oder z w e i t e r O r d n u n g bezeichnen, und, wie wir angedeutet haben, ist der Gedanke ihrer Geschichte nicht nur, wie der einer Geschichte des Lichtes, eine bloße logische Möglichkeit, sondern die empirische Wissenschaft selbst hat sich bereits damit beschäftigt; ja eine völlig unhistorische Betrachtung der „Elemente“ wird sogar immer mehr verdrängt. Die Versuche, die hier in Frage kommen, haben ihren Ursprung einerseits in den Theorien von Lothar Meyer und Mendelejeff, und sie | hängen andererseits mit der Uebertragung des historischen Gesichtspunktes auf unsere Erde und unser Sonnensystem zusammen, oder sie folgen ganz im allgemeinen aus der Besinnung darauf, daß die gesamte empirische Wirklichkeit, in der wir leben, als ein historischer, d. h. einmaliger individueller Werdegang

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angesehen werden muß. So wie die Weltkörper entstanden sind aus den Elementen, können so nicht auch die Elemente selbst einmal entstanden sein? Mit dieser Frage ist die Möglichkeit einer historischen Betrachtung gegeben, und bei einer bloßen Möglichkeit ist es hier nicht geblieben. Welche Elemente waren zuerst da, welche später? Das sind historische Fragen, und man hat Antworten auf sie versucht.87 Sowenig wir über die inhaltliche Richtigkeit dieser Gedanken hier zu urteilen haben, so interessant bleibt unter logischen Gesichtspunkten die bloße Tatsache, daß es überhaupt chemische Untersuchungen gibt, in denen nicht allein die Begriffe, unter welche die zu untersuchenden Objekte fallen, relativ Historisches enthalten, sondern in denen dies relativ Historische auch historisch behandelt wird, d. h. seine Darstellung die Form eines historischen Berichtes annimmt. Die Chemie gibt dann nicht nur Gesetze, die für immer gelten, sondern sie erzählt auch von dem, was einmal in früheren Zeiten wirklich geschehen ist. Nachdem wir so die historischen Bestandteile in der Physik und in der Chemie kennengelernt haben, können wir uns der B i o l o g i e zuwenden, in der das logische Prinzip, das uns beschäftigt, am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Wir sind jetzt imstande, die Besonderheit dieser Wissenschaft als etwas zu verstehen, wodurch sie sich zwar graduell, aber nicht prinzipiell von den übrigen Naturwissenschaften unterscheidet. Eine empirische Naturwissenschaft, deren Begriffe gar keine historischen Bestandteile mehr enthalten, gibt es bisher nur als logisches Ideal, denn, wenn wir von der reinen, mathematischen Mechanik absehen, müssen wir sagen: schon die allgemeinsten Begriffe der Physik zeigen ein relativ Historisches, die der Chemie bereits ein Historisches höherer Ordnung. Bietet uns nun auch die moderne Wissenschaft von den O r g a n i s m e n in der Form ihrer Darstellung ein | erheblich anderes Bild als Physik und Chemie, so liegt das im wesentlichen doch nur daran, daß hier ein Historisches von noch höherer, wenn man will, von d r i t t e r O r d n u n g den Gegenstand der Untersuchung bildet, und daß dementsprechend die historischen Bestandteile in dieser Wissenschaft eine noch größere Rolle spielen. Unter diesem Gesichtspunkt fügt sich die Biologie dem Idealsystem von Naturwissenschaften ein, das wir mit Hilfe unseres Begriffes vom relativ Historischen aufstellen können. Allerdings, vielleicht wird die Bezeichnung der Organismen als relativ Historisches Bedenken erregen. Sie setzt nämlich voraus, daß zwischen der 87

Auf den neueren Stand der Ansichten über diese Gedanken, wie sie z. B. in der Schrift von C r o o k e s über die Genesis der Elemente zum Ausdruck gekommen sind, und die, als ich die erste Auflage dieses Buches schrieb, vielen noch sehr phantastisch erschienen, gehe ich nicht ein, denn das logische Prinzip könnte dadurch nicht klarer werden. Das Problem wird in einer Abhandlung von G. We n d t : Die Entwicklung der Elemente, Entwurf zu einer biogenetischen Grundlage für Chemie und Physik, gut formuliert.

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„toten“ und der „lebenden“ Natur im P r i n z i p kein anderer Unterschied besteht als etwa zwischen Elektrizität und Gold, und diese Voraussetzung läßt sich unter logischen Gesichtspunkten nur dadurch rechtfertigen, daß, wenn sie falsch wäre, eine a b s o l u t a l l g e m e i n e Theorie der physischen Welt nicht einmal als Ideal aufgestellt werden könnte. Wollen wir überhaupt danach streben, alle Körper unter ein einheitliches Begriffssystem zu bringen, so müssen wir annehmen, daß nicht nur Elektrizität und Gold, sondern auch die Vorgänge in den Organismen sich als besondere Arten von Bewegung „letzter Dinge“ zwar nicht a n s c h a u e n , wohl aber d e n k e n lassen. Was soll diese Annahme verbieten? Es scheint, als ob wenigstens der schärfste Widerspruch gegen die Voraussetzung einer prinzipiellen Gleichsetzung der physikalisch-chemischen und der organischen Vorgänge erst dort hervorgerufen wird, wo die Vertreter der mechanischen Naturauffassung behaupten, die Prozesse im lebendigen Körper, so wie sie uns als sinnliche Wirklichkeit gegeben sind, auch restlos in chemische und physikalische Prozesse auflösen zu können. Wenn der „Vitalismus“ oder „Neo-Vitalismus“ dies für unmöglich erklärt, so ist er freilich im Recht. Aber die Möglichkeit einer solchen Auflösung ist gerade nach unserer Theorie durchaus nicht die notwendige Voraussetzung dafür, daß auch das Organische als ein relativ Historisches betrachtet wird, denn auch die chemische Welt bleibt als sinnliche Wirklichkeit etwas ganz anderes als das, was die Mechanik in ihre Begriffe aufnehmen kann, und ebenso ist die physikalische Welt als sinnliche Wirklichkeit etwas anderes als Bewegung von „letzten Dingen“. So kommen wir zu folgendem Ergebnis. Das Organische geht in seiner i n d i v i d u e l l e n E i g e n a r t , so wie es anschaulich als Organisches gegeben ist, in k e i n e n mechanischen Begriff ein, denn alles In- | dividuelle und sinnlich Anschauliche setzt der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung eine Grenze. Auch kann ein Organismus a l s O r g a n i s m u s niemals ein Mechanismus sein, denn die B e g r i f f e des Organismus und des Mechanismus schließen einander aus. Aber, und darauf kommt es hier allein an: das Organische braucht sich in dieser Hinsicht nicht prinzipiell von den andern Arten der Wirklichkeit, dem Physikalischen im engeren Sinne und dem Chemischen, zu unterscheiden. Denn auch das Physikalische im engeren Sinne ist nicht ein r e i n Mechanisches, und ebensowenig ist das Chemische als Chemisches r e i n physikalisch zu begreifen. Wir nehmen überall in der Naturwissenschaft an, daß aus gewissen Dingen sich andere, neue Dinge bilden, deren anschauliche Wirklichkeit prinzipiell von der verschieden ist, aus der sie entstanden sind. Wenn wir uns also nicht scheuen, das Licht als Aetherbewegung zu denken, obwohl wir seine sinnliche Wirklichkeit streng vom Aether trennen müssen, so liegt auch kein Grund vor, der uns hindern könnte, das Organische, obwohl es in seiner sinnlichen Wirklichkeit den

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physikalisch-chemischen Vorgängen nie gleichzusetzen ist, dennoch als aus ihnen entstanden zu d e n k e n , d. h. anzunehmen, daß einmal aus der „unbelebten“ Materie sich Gebilde entwickelt haben, die wir als Organismen auffassen. Falls wir aber dies voraussetzen, dürfen wir von dem Organischen auch als von einem Historischen höherer Ordnung im Vergleich zu den physikalischen und chemischen Vorgängen reden. Dabei setzen wir freilich voraus, daß man unter Organismen ausschließlich k ö r p e r l i c h e Vorgänge versteht, und daß die Frage nach dem mechanischen Sein der l e b e n d e n Körper sorgfältig von der Frage nach ihrer B e s e e l u n g geschieden wird. Wo dies, wie bei manchen modernen Vitalisten, nicht geschieht, kann es nicht einmal zu einer klaren Stellung des Problems kommen. Wir müssen aus demselben Grunde auch von der „Zweckmäßigkeit“ der Organismen absehen, da ihr Begriff ohne Rücksicht auf irgendein reales psychisches Sein, das Zwecke setzt, sich nicht bilden läßt. Wir haben hier nichts anderes im Auge als den Umstand, daß die von uns „Organismen“ genannten K ö r p e r sich spezifisch von bewegten „letzten Dingen“ unterscheiden, solange wir sie so betrachten, wie sie uns als Wirklichkeiten sinnlich gegeben sind. Das tun aber auch die physikalischen und chemischen Gebilde: sie sind uns niemals als reine Mechanismen gegeben. I n s o f e r n besteht zwischen ihnen und den Organismen kein prinzipieller Unterschied, und nichts kann uns also hindern, die logische Struktur der modernen Biologie als | besondere Ausprägung eines allgemeinen Prinzips darzustellen, das mehr oder weniger die gesamte Naturwissenschaft durchzieht. Früher haben wir von den Wissenschaften, die sich mit Lebewesen beschäftigen, nur die deskriptive Zoologie und Botanik berücksichtigt. Diese Disziplinen begnügen sich damit, die ihnen bekannte Mannigfaltigkeit unter ein System empirisch allgemeiner Begriffe zu bringen, und ihr Verfahren ist, obwohl ein relativ Historisches höherer Ordnung den Gegenstand der Darstellung bildet, doch rein naturwissenschaftlich oder generalisierend, wie wir früher zeigen konnten. Sie erreichen dies dadurch, daß sie nicht allein den historischen Charakter des Lebendigen überhaupt ignorieren, sondern außerdem eine große Menge von verschiedenen Formen der Lebewesen in gewissen Grenzen als für alle Zeiten beständig und dauernd betrachten, obwohl diese „Arten“ im Vergleich zu dem allgemeinen Begriff des Lebendigen als ein Historisches noch höherer Ordnung anzusehen sind. Aus Gründen, die wir als bekannt voraussetzen dürfen, wurde nun aber die „Konstanz der Arten“ zu einem Problem, und schon damit trat ein historischer Gesichtspunkt, nämlich die Frage nach der einmaligen „Entstehung der Arten“ als eines historischen Vorganges, in der Biologie in den Vordergrund. Es lag dann ferner nahe, daß im Zusammenhange hiermit auch auf

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den historischen Charakter des Lebendigen überhaupt gegenüber der toten Natur reflektiert wurde, und in der Tat ist es heute der Biologie ganz geläufig geworden, die Welt der Lebewesen in ihrer Totalität als einen einmaligen historischen Vorgang anzusehen, der an einem bestimmten Zeitpunkte in der Entstehungsgeschichte der Erde seinen Anfang hat und einst vermutlich ein Ende nehmen wird. Man versucht daher, auch die Geschichte dieses Vorganges in einer historischen Darstellung zu erfassen, und dagegen läßt sich unter logischen Gesichtspunkten nicht das geringste sagen. Denn, wenn man annimmt, daß chemische Qualitäten sich aus dem reinen Mechanismus „entwickeln“, so kann man mit demselben Recht oder auch mit demselben Unrecht voraussetzen, daß physikalisch-chemische Prozesse einmal zu Organismen geworden sind. Das Interesse an historisch-biologischen Darstellungen muß um so größer sein, als es sich dabei um den Entwicklungsprozeß zu handeln scheint, der von den primitivsten Stadien des organischen Lebens allmählich zum M e n s c h e n hinführt. Dieser Umstand ist sogar, wie wir später genauer sehen werden, für den historischen Charakter gewisser biologischer Darstellungen von prinzipieller Bedeutung. Er bewirkt nämlich, daß manche biologische „Entwicklungsgeschichte“ noch | in einem ganz anderen Sinne zu den „historischen“ Disziplinen gezählt werden muß als etwa geschichtliche Darstellungen in der Chemie. Wir können den Grund dafür jedoch erst angeben, wenn wir die Begriffe der z e i t l i c h e n F o l g e , der E n t w i c k l u n g und des F o r t s c h r i t t e s , die heute nicht selten miteinander verwechselt werden, genau bestimmt und scharf voneinander geschieden haben. Inwiefern die Naturwissenschaft ein Recht hat, von „Entwicklung“, falls sie darunter mehr als ein bloßes zeitliches Aufeinanderfolgen meint, oder gar von „Fortschritt“ zu reden, müssen wir hier dahin gestellt sein lassen. Wir gebrauchen daher das Wort Entwicklung vorläufig in dem ziemlich unbestimmten Sinne, in dem es heute gewöhnlich in naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Schriften verwendet wird. Es kommt uns hier überhaupt nur darauf an, auf die Tatsache hinzuweisen, daß es zu einer wesentlichen Aufgabe der Biologie geworden ist, den „Stammbaum“ der Organismen, die „Abstammung des Menschen“ oder Derartiges darzustellen. Welche Rolle diese Darstellungen seit einigen Jahrzehnten in der Biologie spielen, ist so bekannt, daß wir nicht näher darauf einzugehen brauchen. Wir sehen jedenfalls: „naturwissenschaftlich“ in dem logischen Sinne einer generalisierenden Darstellung sind sie nicht. Ein Buch wie Häckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ – um an das bekannteste Beispiel zu erinnern – muß man nach unsern bisherigen Begriffsbestimmungen vielmehr wenigstens zum Teil den Geschichtswissenschaften in der allgemeinsten Bedeutung des Wortes zurechnen, wenn auch sein Gegenstand im wesentlichen nur etwas

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„relativ Historisches“ ist. Denn dieses Buch stellt einen einmaligen Werdegang in seiner Individualität dar, wie er sich niemals wiederholt hat. Andererseits aber zeigt uns die Biologie eine im logischen Sinne naturwissenschaftliche Seite, d. h. sie ist eine rein generalisierende Wissenschaft. Auch wo die naturwissenschaftlich-deskriptive Methode verlassen ist, beschränkt man sich nicht darauf, die einmalige Geschichte der Lebewesen darzustellen, sondern sucht Gesetze zu finden, nach denen sich das Leben aller Organismen bewegt, oder wenigstens Begriffe zu bilden, die gelten sollen, wo überhaupt Organismen vorkommen, gleichviel ob es sich dabei um die zeitlich ersten oder letzten Organismen, wie sie einmal allmählich entstanden sind, handelt. Dann muß, wenn auch nicht von dem historischen Charakter der verschiedenen Arten, so doch von der Geschichtlichkeit des Lebendigen überhaupt abstrahiert werden. Die Tendenz der Wissenschaft kann z. B. dahin gehen, | die Fülle der fortwährend wechselnden Gestalten auf Vorgänge zurückzuführen, die als organische Vorgänge zwar vom Standpunkte einer allgemeinen Theorie der Körperwelt immer noch etwas relativ Historisches bleiben, im Vergleich zu den fortwährend wechselnden Gestalten der einzelnen Organismen aber als etwas Dauerndes und Unvergängliches zu betrachten sind. Die Sache liegt dann so wie in der Physik oder in der Chemie. Die Biologie sucht die allgemeine „Natur“ innerhalb des Historischen, um als Biologie zu einer Naturwissenschaft in dem Sinne, wie jene Wissenschaften es sind, zu werden, d. h. um eine lediglich generalisierende Begriffsbildung anzuwenden. In einigen Schriften Weismanns kommt dies logische Prinzip zum deutlichen Ausdruck. Seine Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas ist nicht allein als eine Theorie anzusehen, in der etwas relativ Historisches naturwissenschaftlich oder generalisierend behandelt, sondern in der die Möglichkeit einer d o p p e l t e n B e t r a c h t u n g s w e i s e geradezu ausgesprochen wird. Wir können daher an dieser Theorie zeigen, daß es sich in unsern Ausführungen nicht etwa nur um eine logische Konstruktion handelt. Das Keimplasma ist für Weismann der „unsterbliche Teil“ 88 des Organismus, aber den Begriff der „Unsterblichkeit“ grenzt er sorgfältig von dem der „Ewigkeit“ ab und hebt hervor, „daß die irdischen Lebensformen einen Anfang gehabt haben“. Die Unsterblichkeit ist „ein rein biologischer Begriff und wohl zu trennen von der Ewigkeit der toten, d. h. der anorganischen Materie“. Von den Objekten der Naturwissenschaft ist nichts ewig als die kleinsten Teile der Materie und ihre Kräfte.89 Noch deutlicher vielleicht als bei dieser Unterscheidung von Ewigkeit und Unsterblichkeit kommt das 88

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Vgl. Die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung, in We i s m a n n s Aufsätzen über Vererbung und verwandte biologische Fragen. 1892. S. 248. Bemerkungen zu einigen Tagesproblemen a. a. O. S. 643 f.

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logische Prinzip, um das es sich handelt, in einer früheren Schrift Weismanns zum Ausdruck, die sich nicht speziell auf das Keimplasma, sondern auf das Leben der Zellen bezieht. Dies Leben wird dort als „ewig“ bezeichnet, aber zum Schluß fügt Weismann die charakteristischen Sätze hinzu: „Ich habe wiederholt von einer e w i g e n D a u e r gesprochen, einerseits der einzelligen Organismen, andererseits der Propagationszellen. Ich habe damit zunächst nur eine unserm menschlichen Auge u n e n d l i c h e r s c h e i n e n d e D a u e r bezeichnen wollen. Es sollte damit der Frage nach dem t e l - | l u r i s c h e n oder k o s m i s c h e n Ursprung des irdischen Lebens nicht vorgegriffen werden. Von der Entscheidung dieser Frage aber würde es offenbar abhängen, ob wir die Fortpflanzungsfähigkeit jener Zellen als w i r k l i c h e w i g oder nur als u n g e h e u e r l a n g anzusehen haben, denn nur was anfangslos ist, kann und muß auch endlos sein“.90 Weismann selbst erklärt dann sogar ausdrücklich, daß für ihn „die Urzeugung trotz aller Mißerfolge, sie zu erweisen, immer noch ein logisches Postulat ist: Das O r g a n i s c h e als eine ewige Substanz, dem U n o r g a n i s c h e n als einer gleichfalls ewigen Substanz an die Seite gestellt, ist mir eine undenkbare Vorstellung und zwar deshalb, weil das Organische fortwährend ohne Rest in das Unorganische aufgeht ... Daraus würde folgen, daß das Organische einmal entstanden sein muß“. Es ist also nach Weismann, der selber innerhalb einer b i o l o g i s c h e n Untersuchung ohne Bedenken von der „Ewigkeit“ des Lebens redet und dieses Leben dann rein generalisierend behandelt, dem Organischen unter a l l g e m e i n e r e n Gesichtspunkten ewige Dauer im eigentlichen Sinne des Wortes abzusprechen und ihm nur eine ungeheuer lange Dauer zuzugestehen,91 d. h. das Organische ist in unserer Terminologie als ein historischer Vorgang zu betrachten. Hier liegt genau das vor, was wir zu zeigen versucht haben. Neben der Einsicht, daß einem Begriff in der Wirklichkeit nichts entspricht, was sich zu allen Zeiten findet, wird in der Spezialwissenschaft die Frage nach der historischen Entstehung der betreffenden Objekte trotzdem ignoriert, und, um für die biologischen Vorgänge eine allgemeine naturwissenschaftliche Theorie aufstellen zu können, wird das Historische als „unsterblich“, resp. „ewig“ angesehen, also nicht als ein Historisches betrachtet. Es ist, wie wir auch sagen können, das Unsterbliche für einen besonderen Teil der Wirklichkeit oder die „ewig gleiche Natur“ innerhalb eines historischen Vorganges, die nun ohne Rücksicht auf ihre historische Beschaffenheit rein generalisierend oder naturwissenschaftlich begriffen werden soll. Wir verfolgen die logische Gliederung der Naturwissenschaften von der Körperwelt unter diesem Gesichtspunkte im Einzelnen nicht weiter, denn 90 91

Ueber die Dauer des Lebens a. a. O. S. 40. a. a. O. S. 41.

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ein vollständiges System zu entwerfen, liegt nicht in unserm Plan. Es kam nur darauf an, durch einige Beispiele klarzulegen, welche Bedeutung die historischen Bestandteile innerhalb der Naturwissenschaften haben, und inwiefern der Gegensatz von Naturwissenschaft und | Geschichte bei seiner Anwendung in der Methodenlehre eingeschränkt oder abgeschwächt werden muß. Selbstverständlich kann es neben der allgemeinen Biologie noch Spezialdisziplinen geben, die die Natur eines Historischen immer höherer Ordnung zu erforschen suchen, d. h. innerhalb eines einmal entstandenen Gebietes doch rein generalisierend verfahren. Auch in der Welt der unbelebten Körper ist es möglich, ein relativ Historisches höherer Ordnung, als es die chemischen Vorgänge im allgemeinen sind, zum Gegenstande der Untersuchung zu machen. Als Beispiel sei nur auf die G e o l o g i e hingewiesen. Sie stellt allgemeine Theorien auf, die für alles Geologische überhaupt gelten, obwohl unter andern Gesichtspunkten die geologischen Vorgänge auch als ein historischer Prozeß betrachtet werden können. Besonderes Interesse bietet ferner die A s t r o n o m i e , die in gewisser Hinsicht, nämlich insofern sie es mit den einzelnen Weltkörpern zu tun hat, Individuen im strengen Sinne, also etwas absolut Historisches behandelt, und die zugleich der „letzten“ Naturwissenschaft nahe steht, da sie in einigen Teilen von aller qualitativen Mannigfaltigkeit der Weltkörper abstrahiert. Sie kann dies, weil die Qualitäten, die sich nicht mathematisch behandeln lassen, auf die Bewegungen der Gestirne, die der Forscher zu berechnen sucht, von keinem wesentlichen Einflusse sind. Die Astronomie wird uns übrigens wegen ihres in gewisser Hinsicht eminent historischen Charakters bei der Untersuchung über die logischen Grundlagen der Geschichtswissenschaften im Zusammenhange mit dem Begriffe der Entwicklung noch einmal beschäftigen. Es sind diese Erörterungen nur als vorläufige zu betrachten, die abgebrochen werden müssen, wo ihre Weiterführung einen p o s i t i v e n Begriff der Geschichtswissenschaft voraussetzt. Lediglich das sollte gezeigt werden, inwiefern die Begriffe sowohl des naturwissenschaftlichen Generalisierens als auch des historischen Individualisierens sich nicht allein auf das a b s o l u t Allgemeine und das a b s o l u t Individuelle zu beziehen brauchen, sondern wie sich zwischen dem absolut Allgemeinen und dem absolut Individuellen ein ganzes S t u f e n r e i c h von r e l a t i v Historischem und r e l a t i v Allgemeinem konstatieren läßt. Wenn wir dabei von einem relativ Historischen zweiter und dritter Ordnung gesprochen haben, so besitzen solche Z a h l e n selbstverständlich keinen a b s o l u t e n Wert, sondern sollen ausdrücken, daß das eine Historische von m e h r oder w e n i g e r hoher Ordnung ist als das andere. Erst in einem unter diesem Gesichtspunkte bis ins Einzelne ausge-

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führten System | der Naturwissenschaften könnte man die verschiedenen Gebiete der Untersuchung durch Zahlen kennzeichnen und ihnen dadurch ihre Stellung im Systeme anweisen. Doch würde selbst dann noch eine neu entstehende Spezialwissenschaft jederzeit den a b s o l u t e n Wert der Zahlen zu ändern vermögen, denn es läßt sich nicht einsehen, warum nicht z. B. zwischen Chemie und Biologie eine neue Wissenschaft treten soll, wie zwischen Physik und Chemie eine neue Wissenschaft getreten ist. Zunächst jedoch verlassen wir die Körperwissenschaften, um das bisher absichtlich mit Rücksicht auf sie allein gewonnene Resultat auf die wissenschaftliche Darstellung „ g e i s t i g e r “ , d. h. p s y c h i s c h e r Vorgänge zu übertragen. Prinzipiell Neues wird sich dabei für die Logik nicht ergeben, und wir können uns daher mit wenigen Bemerkungen begnügen. Eine absolut unhistorische psychologische Disziplin, deren Begriffe nichts mehr von dem in der Erfahrung gegebenen realen Seelenleben enthalten, kann als Ideal, dem die Wissenschaft sich anzunähern hat, nur unter der Voraussetzung aufgestellt werden, daß es möglich ist, das gesamte Seelenleben unter e i n e n einheitlichen Begriff zu bringen. Wenn aber eine Theorie uns z. B. auffordert, a l l e s Seelenleben als bestehend aus einfachen „Empfindungen“ zu denken, so enthalten die Begriffe der „Vorstellung“, des „Willens“, des „Gefühls“ im Vergleich zu dem absolut allgemeinen Begriff noch „historische“ Elemente. Es wäre denkbar, daß Vorstellungen, Willensakte oder Gefühle einmal im Seelenleben nicht da waren, und man könnte dann nach ihrer Geschichte fragen. Ja, vom Standpunkte einer die gesamte Wirklichkeit umfassenden „Metaphysik“ dürfte eventuell sogar nach einer Entstehung der psychischen Vorgänge überhaupt, also auch der „letzten“ psychischen Elemente gefragt werden, aber es wäre dann eine Frage nach der Entstehung der „letzten“ körperlichen Dinge ebenso denkbar. Doch hat es kein Interesse, diese Möglichkeit hier näher zu erörtern. Wir beschränken uns auf das Historische innerhalb der psychischen Welt und weisen darauf allein hin, daß der Gedanke einer Entstehung der besonderen psychischen Vorgänge aus dem allgemeinen psychischen Substrat nicht logisch widersinnig ist. Andererseits läßt sich der historische Gesichtspunkt in der Psychologie gänzlich ignorieren, d. h. man kann versuchen, die Willensvorgänge oder die Vorstellungen oder irgendeine andere Art des psychischen Seins gesondert unter ein System von allgemeinen Begriffen zu bringen. Wir verfolgen jedoch im Einzelnen auch diesen Gedanken nicht weiter, da alles, was wir vorher von den Körperwissen- | schaften gesagt haben, mit unwesentlichen Modifikationen auf die psychologischen Disziplinen leicht zu übertragen ist. Nur eine Disziplin, die viel genannt und umstritten wird, heben wir noch hervor. Selbstverständlich kann man bei der wissenschaftlichen Darstellung

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des seelischen Lebens, ebenso wie bei der Erforschung der Körperwelt, ein Historisches von immer höherer Ordnung zum Gegenstande einer besonderen naturwissenschaftlichen oder generalisierenden Darstellung machen, und wir greifen aus der Reihe der Objekte, die dabei in Frage gekommen sind, das menschliche Seelenleben, wie es sich in der G e s e l l s c h a f t gestaltet, heraus. Es handelt sich dabei um ein besonderes psychisches Sein, das nicht immer existiert hat, sondern allmählich entstanden ist, und das auch seinem allgemeinsten Begriffe nach als ein relativ Historisches von ziemlich hoher Ordnung angesehen werden muß. Seine g e s c h i c h t l i c h e Darstellung ist nicht allein logisch möglich, sondern dieses „Geistesleben“ gilt als das eigentliche Objekt d e r Wissenschaft, die man „Geschichte“ im engeren Sinne nennt. Aber gerade deshalb müssen wir hervorheben, daß man sehr wohl versuchen kann, auch ein System von allgemeinen Begriffen zu bilden, welches die „Natur“ des gesellschaftlichen Lebens, d. h. das seinen verschiedenen Formen Gemeinsame und wenn möglich seine Gesetze zum Ausdruck bringt. Das heißt, man kann das gesellschaftliche Leben ebensogut generalisierend wie individualisierend darzustellen versuchen. Die generalisierende Darstellung des gesellschaftlichen Lebens bezeichnet man als S o z i o l o g i e . 92 So wenig Erfreuliches diese Wissenschaft mit dem wenig erfreulichen Namen bisweilen produzieren mag, so wenig läßt sich unter l o g i s c h e n Gesichtspunkten gegen eine naturwissenschaftliche oder generalisierende Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit einwenden. Ob es möglich ist, bis zu Gesetzesbegriffen des menschlichen Zusammenlebens vorzudringen, denen man mit einiger Wahrscheinlichkeit eine mehr als empirische Geltung zusprechen darf, kann allerdings zweifelhaft scheinen, denn im allgemeinen wird die naturwissenschaftliche Behandlung um so mehr Aussicht auf Erfolg haben, je umfassender der Begriff ist, unter den ihr Material | fällt, und es wird um so schwerer sein, zu Gesetzesbegriffen zu gelangen, je höherer Ordnung das Historische ist, das man naturwissenschaftlich oder generalisierend darstellen will. Aber es handelt sich bei solchen Erwägungen nur um g r a d u e l l e Unterschiede, und die naturwissenschaftliche Darstellung eines relativ Historischen höherer Ordnung oder die generalisierende Begriffsbildung gegenüber einem relativ Individuellen, wie das Leben der menschlichen Gesellschaft es gegenüber dem menschlichen Seelenleben überhaupt bildet, ist schon deshalb niemals vollständig ausgeschlossen, weil man ja immer Begriffe bilden kann, die wenigstens empirisch 92

Damit soll nicht gesagt sein, daß a l l e wissenschaftlichen Arbeiten, die unter diesem Namen gehen, generalisierend, also im logischen Sinne naturwissenschaftlich verfahren. Ja, gerade die bedeutendsten Werke der „Gesellschaftswissenschaft“ tragen zum Te i l methodisch ein historisches Gepräge. Hier ist zunächst nur von der generalisierenden Soziologie die Rede, die methodisch der generalisierenden Biologie gleicht.

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überall gelten, wo man bis jetzt überhaupt gesellschaftliches Leben vorgefunden hat. Schließlich müssen wir sogar noch hinzufügen, daß die menschliche Gesellschaft im allgemeinen nicht schon das relativ Historische höchster Ordnung zu sein braucht, das sich naturwissenschaftlich oder generalisierend behandeln läßt. Es kann vielmehr, ebenso wie in der Biologie, auch innerhalb der generalisierenden Soziologie noch Spezialwissenschaften geben, welche die allgemeine „Natur“ irgendwelcher besonderen Vorgänge der gesellschaftlich seelischen Wirklichkeit, z. B. der Politik, des wirtschaftlichen Lebens, der Kunst, der Wissenschaft usw. darzustellen streben, d. h. versuchen, die betreffenden Vorgänge unter ein System allgemeiner Begriffe zu bringen. Das seelische Leben ist eben nirgends prinzipiell der generalisierenden oder naturwissenschaftlichen Behandlung entzogen, und niemand kann daher der Naturwissenschaft eine generalisierende Darstellung derselben Objekte wehren, mit denen es die Geschichte im üblichen Sinne des Wortes zu tun hat. Trotzdem dürfen generalisierende Darstellungen solcher Art nie an die S t e l l e der Geschichte treten. Warum das so ist, wollen wir jetzt noch ausdrücklich hervorheben, um dadurch unsere Untersuchung über das Verhältnis von Natur und Geschichte, soweit dies ohne einen p o s i t i v e n Begriff der Geschichtswissenschaften möglich ist, zu einem wenigstens vorläufigen Abschluß zu bringen.

IV. Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Wir wissen, nachdem wir die historischen Elemente in den Naturwissenschaften kennengelernt haben, welche E i n s c h r ä n k u n g unsere erste Formulierung des Gegensatzes von Naturwissenschaft und Geschichte erfahren muß, sobald das rein logisch gewonnene Prinzip | auf die tatsächlich vorhandene wissenschaftliche Forschung angewendet werden soll. Aber es wird zugleich klar geworden sein, daß der p r i n z i p i e l l e logische Unterschied zwischen den beiden Methoden der Begriffsbildung und Darstellung dadurch nicht in Frage gestellt werden kann. Das relativ Historische, auch das höherer Ordnung, verbietet zwar eine naturwissenschaftliche Behandlung nicht, und ebensowenig ist die Anwendung der historischen Darstellung beschränkt auf die empirische Wirklichkeit, wie sie als individuelles reales Sein im einzelnen unmittelbar gegeben ist, denn sogar etwas so Allgemeines, wie das mit dem Worte „Licht“ bezeichnete, ist als Gegenstand einer ge-

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schichtlichen Darstellung, die seinen einmaligen und individuellen Verlauf verfolgt, denkbar, wie wir das später noch genauer zeigen werden. Immer aber müssen die Gedankenreihen, die sich auf den einmaligen, zeitlichen, wirklichen Verlauf des Geschehens einerseits und auf die allgemeinen, zeitlosen, begrifflichen, also unwirklichen Verhältnisse andererseits beziehen, in der wissenschaftlichen Darstellung, wenn auch nicht f a k t i s c h , so doch mit Rücksicht auf ihre l o g i s c h e Struktur begrifflich a u s e i n a n d e r f a l len. Das zeigt sich auf all den Gebieten, bei denen eine doppelte Behandlung, d. h. sowohl eine generalisierende, naturwissenschaftliche als auch eine individualisierende, historische Darstellung möglich ist oder wirklich stattfindet. Um zunächst bei den K ö r p e r w i s s e n s c h a f t e n zu bleiben, so sahen wir, daß es reine Naturwissenschaft vom Licht nur dann gibt, wenn man sich um die einmalige Entstehung des Lichtes nicht kümmert. Die Begriffe und Gesetze der Optik können zwar allein an irgendwelchem wirklichen Licht gefunden werden, und das Material, das wir Licht nennen, existiert wirklich nicht anders als in Gestalt dieses oder jenes historischen Faktums. Die optischen Gesetze haben aber, wenn sie gefunden sind, mit der einmaligen geschichtlichen Wirklichkeit des Lichtes so wenig zu tun, daß ihre Geltung unabhängig davon ist, wo und wann, ja ob überhaupt es irgendwo wirklich Licht gibt. Das zeigt sich schon daran, daß alle Naturgesetze sich sprachlich in die Form von sogenannten hypothetischen Sätzen kleiden lassen. In ihnen wird die Wirklichkeit des Lichtes a u s d r ü c k l i c h nicht mitbehauptet. Die naturwissenschaftliche Theorie stellt also von einer Geschichte des Lichtes nicht das geringste dar. Ebenso liegt die Sache in der Chemie, und nicht anders kann es sich in der Biologie verhalten. Dabei leugnen wir nicht, daß in der Physik wie in der Chemie und noch mehr in der Biologie historische Sätze mit den naturwissenschaftlichen | oft so eng verbunden auftreten, daß es bisweilen schwer ist, die beiden verschiedenen Bestandteile begrifflich auseinanderzuhalten. Mit der Darstellung der wirklichen einmaligen Entwicklung ist die Darstellung der allgemeinen Gesetze, die alle Entwicklung beherrschen, f a k t i s c h innig verwoben. Aber die b e g r i f f l i c h e Trennung bleibt unter logischen Gesichtspunkten, wo es sich um ein Verständnis der Geschichtswissenschaften handelt, besonders für die Biologie unentbehrlich. Um das Prinzip klarzulegen, wollen wir uns auf diese Wissenschaft beschränken. Es tritt hier auch mit Rücksicht auf die faktisch vorhandene Forschung besonders deutlich zutage. Machen wir uns also klar, daß die logische Struktur einer Darstellung, die uns z. B. berichtet, daß die ersten Lebewesen Amöben waren, daß darauf Moreaden, dann Blasteaden usw. folgten, sich prinzipiell von der logischen Struktur solcher Sätze unterscheidet, in denen uns gesagt wird, daß z. B. aus

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der großen Anzahl der Lebewesen nur diejenigen sich erhalten können, die ihrer Umgebung am besten „angepaßt“ sind, und daß hieraus die Zweckmäßigkeit der Organismen zu erklären sei. Die sogenannten „Entwicklungsgesetze“ sagen uns über die einmalige wirkliche Entwicklung der Lebewesen nicht das mindeste. Es wäre denkbar, daß die naturwissenschaftliche Biologie alle Gesetze, die das Leben der Organismen beherrschen, vollständig zur Kenntnis gebracht hätte und doch von der Geschichte, d. h. dem einmaligen und individuellen Werdegang der Organismen seit den Anfängen bis auf den heutigen Tag, nur wenig wüßte. Und umgekehrt, es könnte jemand die einmalige individuelle Entwicklung der Lebewesen auf unserer Erde kennen, ohne daß solche Kenntnis ihm etwas Wesentliches über die biologischen Gesetze, welchen dieser Vorgang unterworfen ist, zu sagen brauchte. Unter logischen Gesichtspunkten müssen wir daher zwischen h i s t o r i s c h e r und n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r B i o l o g i e so unterscheiden, daß die eine den einmaligen Entwicklungsgang der Lebewesen individualisierend, die andere das biologische Material überhaupt generalisierend behandelt. Wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen, es liege bei dieser Trennung der naturwissenschaftlichen und der historischen Bestandteile in der Biologie vielleicht mehr als ein logisches Interesse vor. Wenn man die neueren biologischen Bestrebungen verfolgt, sieht es so aus, als mache sich immer mehr eine Richtung geltend, die darauf dringt, die historischen Darstellungen aus der Biologie wieder zu entfernen, und diese Tendenzen müssen als berechtigt erscheinen, falls die | Biologie eine Naturwissenschaft werden soll in dem Sinne, wie die Physik und auch die Chemie es ist, d. h. wo man ihr die Aufgabe stellt, generalisierend nach Gesetzen zu suchen. Wir denken dabei nicht an die Möglichkeit einer Begriffsbildung, in der a l l e s Lebendige sich als besondere Art physikalisch-chemischer Vorgänge darstellt, denn diese Begriffe würden den Forscher aus der Biologie hinaus zur Physik und Chemie führen. Wir haben bei einer Beseitigung der historischen Elemente in der Biologie also nicht die Beseitigung des spezifisch biologischen M a t e r i a l s im Auge, das wie alles Besondere relativ historischen Charakter zeigt, sondern die Bemühungen, die historische M e t h o d e aus der Biologie zu entfernen, d. h. lediglich die Gesetze i n n e r h a l b der organischen Welt kennenzulernen und dabei von dem einmaligen individuellen Entwicklungsgang des Lebens auf der Erde abzusehen. Vielleicht sind die vielfach gebrauchten Termini wie „Entwicklungsmechanik“ und ähnliche, in denen diese Tendenzen zum Ausdruck kommen,93 nicht glücklich gewählt, denn um eine Mechanik im strengen Sinne kann es 93

Vgl. R o u x , Einleitung zum Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen, 1894.

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sich dabei, solange Organismen noch a l s Organismen dargestellt werden, nicht handeln. Wohl aber verstehen wir, weshalb die Entwicklung der Organismen als ein einmaliger historischer Vorgang dem Biologen gleichgültig wird, und weshalb er über die „Ahnengalerien“ spottet, die langweilig sein sollen, weil sie auf kein „warum“ antworten und keine Erklärung geben.94 Die Heftigkeit, mit der Darwin bisweilen gerade von naturwissenschaftlicher Seite bekämpft wird, ist zum Teil auf das Ueberwiegen der historischen Gesichtspunkte zurückzuführen, die sich mehr als bei ihm selbst bei einigen seiner Nachfolger, z. B. bei Häckel, finden. Es spricht aus diesem Kampf einerseits allerdings ein Mangel an Verständnis für den Wert des Historischen, denn Ahnengalerien sind nicht i m m e r langweilig, und die geschichtliche Abstammung des Menschen besitzt gewiß wissenschaftliches Interesse. Warum soll man nicht auch nach dem einmaligen individuellen Entwicklungsgang fragen, den das Leben auf unserer Erde genommen hat? Andererseits aber läßt in der Tat sich nicht leugnen, daß oft Berichte über die einmalige Entwicklung der verschiedenen Lebensformen so gut wie nichts dazu beitragen, die Biologie zu einer Gesetzeswissenschaft | zu machen, und es scheint daher wohl möglich, daß allmählich die historische und die naturwissenschaftliche Biologie sich auch faktisch immer mehr voneinander trennen. Doch wie es sich hiermit auch verhalten mag, es muß sich aus diesen Ausführungen jedenfalls eines mit Bestimmtheit ergeben. Wenn der Geschichte d e s h a l b die naturwissenschaftliche Methode empfohlen wird, weil zwischen ihr und „der Biologie“ kein wesentlicher Unterschied bestehe, so ist damit noch nichts gesagt, was logisch eindeutig wäre. Man muß, wo es sich um Anwendung der biologischen Methode handelt, vorher fragen, ob die Methode der naturwissenschaftlichen, generalisierenden oder der historischen, individualisierenden Biologie gemeint ist. Die erste Methode bleibt für die Geschichte gänzlich unbrauchbar. Gegen die zweite mögliche Behauptung, daß die Geschichte nach der Methode der h i s t o r i s c h e n Biologie betrieben werden müsse, wird sich allerdings prinzipiell nicht viel einwenden lassen, nur kann man dann von einer Uebertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Geschichtswissenschaften deshalb nicht gut reden, weil eine genauere Untersuchung ergeben würde, daß vielmehr umgekehrt die historischen Methoden auf die Biologie übertragen worden sind. In wie hohem Grade das der Fall ist, werden wir später noch sehen. Daß endlich auch in den Disziplinen, die s e e l i s c h e s Leben darstellen, ebenso wie in den Wissenschaften von der Körperwelt, wenigstens logisch eine Scheidung der naturwissenschaftlichen von den historischen Bestandteilen vollzogen werden muß, bedarf jetzt keiner besonderen Erörterung 94

Vgl. H. D r i e s c h , Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft, 1893, S. 29 f.

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mehr, und nur darauf wollen wir noch mit einem Worte ausdrücklich hinweisen, daß die logische Möglichkeit einer generalisierenden S o z i o l o g i e , d. h. einer Lehre von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen als Naturwissenschaft, ebenfalls nichts an dem prinzipiellen Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte, wie wir ihn aufgestellt haben, ändern kann. Es ist zwar gegen die naturwissenschaftliche, generalisierende Behandlung des gesellschaftlichen Lebens der Menschheit l o g i s c h nichts einzuwenden, aber wir müssen zugleich bestreiten, daß eine solche Wissenschaft uns sagen könnte, wie sich das Leben der Menschheit in seinem einmaligen individuellen Verlaufe wirklich gestaltet hat. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Ist auch die Gesellschaft ein relativ Historisches hoher Ordnung, so geht doch von d e m gesellschaftlichen Leben, das den Historiker interessiert, um so weniger in die Begriffe der Soziologie ein, je vollkommener sie als Naturwissen- | schaft geworden ist, d. h. je allgemeiner ihre Begriffe gelten. Deshalb müssen wir, um zur Klarheit über die Methode zu kommen, zwischen einer n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n , generalisierenden und einer g e s c h i c h t l i c h e n , individualisierenden Darstellung der menschlichen G e s e l l s c h a f t ebenso unterscheiden wie zwischen naturwissenschaftlicher und historischer Biologie. Der Umstand, daß eine generalisierende Naturwissenschaft gesellschaftliches Leben zu ihrem Gegenstande machen k a n n , bedeutet für die Methode der Geschichtswissenschaften nicht das geringste. Individualisierende oder historische Gesellschaftswissenschaft ist um nichts weniger möglich wie generalisierende oder naturwissenschaftliche.95 95

Wie wenig es sich dabei um eine bloß logische Konstruktion handelt, zeigen in höchst interessanter Weise z. B. die Arbeiten von M a x We b e r. Seine Untersuchungen, die jetzt in drei Bänden unter dem Titel: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1920–21) vorliegen, stellen sich, trotz des stark konstruktiven Einschlages, in der Hauptsache g e s c h i c h t l i c h e Probleme. Das macht grade die „Zwischenbetrachtung“ am Schluß des ersten Bandes deutlich, welche eine „Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“ gibt. Jede solche a l l g e m e i n e „Theorie“ kann für den H i s t o r i k e r nur den Zweck haben, „ein idealtypisches O r i e n t i e r u n g s m i t t e l zu sein“, wie Weber selbst ausdrücklich hervorhebt. Vergleicht man dagegen mit den „Aufsätzen“ das letzte Werk desselben Autors: Wirtschaft und Gesellschaft, I (Grundriß der Sozialökonomik, 1921) so zeigt sich hierin eine völlig a n d e r e logische Struktur. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte werden darin, der Absicht nach, nicht geschichtlich, sondern generalisierend dargestellt. Das geschichtliche Material dient hier nur noch als Beispiel und wird zum Gattungsexemplar allgemeiner Begriffe. Derselbe Forscher bringt also denselben Stoff in logisch verschiedener Weise zur wissenschaftlichen Darstellung. Insofern bildet das soziologische Werk Max Webers in seiner G e s a m t h e i t die denkbar beste Bestätigung für unsere Wissenschaftslehre. Nicht allein die methodologischen Untersuchungen Webers, die sich bewußt an mein Buch anschließen, sondern auch seine sachliche Behandlung des Gesellschaftslebens zeigt, warum allein auf dem von uns eingeschlagenen Wege ein Einblick in die logische Struktur der wirklich vorhandenen empirischen Wissenschaften zu gewinnen ist. Geht man von sachlichen Unterschieden im Material aus, oder bleibt man gar bei „Natur“ und „Geist“ stehen, so bekommt man die logischen Probleme der Gesellschaftswissenschaft überhaupt nicht zu Gesicht.

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So wenig wir demnach, wenigstens unter rein logischen Gesichtspunkten, gegen eine naturwissenschaftliche, d. h. generalisierende Soziologie vorzubringen haben, so entschieden halten wir an der Unmöglichkeit einer naturwissenschaftlichen G e s c h i c h t e fest. Niemals kann die Soziologie als generalisierende Wissenschaft an die S t e l l e der Geschichte treten. Sie ist daher auf das Nachdrücklichste zu bekämpfen, sobald sie den Anspruch erhebt, die e i n z i g e Wissenschaft vom „geschichtlichen Leben“ der Menschen oder gar Geschichtswissen- | schaft selbst zu sein, denn sie versucht damit, Geschichte als Darstellung einmaliger Entwicklungsreihen überhaupt unmöglich zu machen. Unter diesem Gesichtspunkte ist es auch nicht zu billigen, wenn die nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen dadurch charakterisiert werden, daß ihr Objekt die „gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit“ sei, und wenn man von „geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften“ spricht, wie Dilthey dies in seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ tut. Gesellschaftswissenschaft und Geschichtswissenschaft können l o g i s c h völlig auseinanderfallen, d. h. die Gesellschaftswissenschaft kann generalisierend nach naturwissenschaftlicher Methode betrieben werden, während eine Anwendung dieses Verfahrens auf die Geschichtswissenschaft logisch unmöglich bleibt. Nur einen Einwand müssen wir schließlich noch berücksichtigen. Da selbst das relativ Historische hoher Ordnung eine naturwissenschaftliche Behandlung nicht ausschließt, liegt die Frage nahe, ob es denn nicht möglich ist, mit einer nach naturwissenschaftlicher Methode betriebenen Wissenschaft auch das I n t e r e s s e zu befriedigen, das wir an der einmaligen und individuellen Wirklichkeit nehmen. Man könnte die Richtigkeit dieser Annahme darauf stützen, daß, wenn ein Historisches immer höherer Ordnung zum Gegenstande der Untersuchung gemacht wird, man dadurch zum mindesten mit der Naturwissenschaft der einmaligen und individuellen Wirklichkeit immer n ä h e r komme. Jedoch so richtig diese Behauptung ist, so wenig vermag sie etwas an unserem bisherigen Resultate zu ändern oder gar etwas zugunsten einer naturwissenschaftlichen Behandlung der Geschichte beizutragen. Zunächst ergibt sich als selbstverständlich, daß n u r das r e l a t i v Historische, niemals aber das absolut Historische oder das Historische höchster Ordnung, d. h. die einmalige und individuelle Wirklichkeit selbst, als solche eine Darstellung nach naturwissenschaftlicher Methode zuläßt, und damit ist gesagt, daß die einzelnen P e r s ö n l i c h k e i t e n der Geschichte im engeren Sinne in keiner naturwissenschaftlichen Untersuchung einen Platz haben können, mag sie auch ein noch so hoch relativ Historisches zu ihrem Gegenstande wählen. Wir wissen aber, daß die Persönlichkeiten in dieser Hinsicht keine Ausnahmestellung einnehmen, sondern die Unmöglichkeit,

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in eine naturwissenschaftliche Theorie einzugehen, mit jedem einzelnen und individuellen Ding und Vorgang der empirischen Wirklichkeit gemeinsam haben: begreiflich ist das allein, das man mit etwas anderem vergleichen kann, und nur soweit ist es begreiflich, als es anderem gleicht, wenigstens so- | lange man unter „Begreifen“ das Begreifen nach Art der Naturwissenschaft versteht. Unbegreiflich in naturwissenschaftlichem Sinne war daher das Licht in dem, was es vom Schall, unbegreiflich das organische Leben in dem, was es von der unbelebten Körperwelt trennt, und ebenso unbegreiflich bleibt jede einzelne Persönlichkeit in dem, was sie von anderen Persönlichkeiten unterscheidet. Während es jedoch vom Licht und von den Organismen eine Naturwissenschaft gibt, da sie ja nur relativ Historisches sind, und man daher innerhalb des Historischen auch die Natur dessen erforschen kann, was diesen allgemeinen Begriffen untergeordnet ist, so gibt es von den Individuen keine Naturwissenschaft, weil sich nichts Besonderes mehr ihnen unterordnen läßt, im Vergleich zu dem sie noch als ein Allgemeines oder als eine „Natur“ aufzufassen wären. Aber selbst wenn man dies anerkennt, wird man vielleicht meinen, daß damit nicht viel bewiesen sei, denn – so behauptet man – die einzelnen Persönlichkeiten haben für die wissenschaftliche Geschichte wenig Bedeutung. Wir werden auf diese Frage später zurückkommen. Hier wollen wir einmal zugeben, daß es das Ideal der Geschichtswissenschaft sei, eine Darstellung zu geben, in der von einzelnen Persönlichkeiten, also vom absolut Historischen, überhaupt nicht mehr die Rede ist, oder doch nur von dem, was diese Persönlichkeiten mit anderen oder gar mit der großen Masse gemeinsam haben. Wäre unter dieser Voraussetzung das Hindernis, das einer unser Interesse an der Individualität des Wirklichen befriedigenden, naturwissenschaftlichen Behandlung des menschlichen Lebens entgegensteht, aus dem Wege geräumt? Wir haben früher Individuen, die Gattungsnamen tragen, unterschieden von solchen, die Eigennamen führen. Die Unterordnung der Individuen mit Gattungsnamen unter allgemeine Begriffe ist uns so selbstverständlich, daß wir sie kaum bemerken, ja das, was nur einen Gattungsnamen hat, betrachten wir auch fast immer nur als Exemplar eines allgemeinen Begriffs. Bei Individuen mit Eigennamen dagegen können wir dies nicht, weil sie dadurch ihren Eigennamen verlieren. Das mag zunächst als etwas Aeußerliches angesehen werden, aber es genügt hier, um zu zeigen, daß, wenn auch eine Wissenschaft vom menschlichen Leben die Individuen im strengen Sinne des Wortes ignorieren wollte, dies allein noch nicht ausreichen würde, um eine naturwissenschaftliche Behandlung ihres Gegenstandes als Geschichte zu ermöglichen. Nicht allein das a b s o l u t Historische nämlich, son- | dern auch manches, das nur ein relativ Historisches zu sein scheint, hat einen

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Eigennamen insofern, als sein Name nicht mit dem des allgemeinen naturwissenschaftlichen Begriffes identisch ist, unter den die von ihm bezeichneten Objekte fallen würden. Oder ist etwa der n a t u r wissenschaftliche Begriff von all den Dingen und Vorgängen, die wir mit „griechisch“ oder „deutsch“ bezeichnen, brauchbar in einer Darstellung der griechischen oder der deutschen Geschichte, die unser Interesse an dem Einmaligen und Individuellen der beiden Völker zu befriedigen vermöchte? Wir müssen diese Frage wohl verneinen, denn ein naturwissenschaftlicher Begriff der Deutschen dürfte allein das enthalten, was a l l e n Deutschen gemeinsam ist, und wenn dieser Begriff gebildet wäre, würde er ziemlich uninteressant sein und sich vielleicht wenig von dem naturwissenschaftlichen Begriff des Franzosen oder auch des Europäers überhaupt unterscheiden. Verstehen wir also unter griechisch oder deutsch das, was wir bei a l l e n Griechen oder a l l e n Deutschen finden? Es wird kaum jemand geneigt sein, diese Frage zu bejahen. Die allgemeine „Natur“ des Deutschen feststellen in dem Sinne, wie die Optik die allgemeine Natur des Lichtes erforscht, das hieße das ignorieren, was wir meinen, wenn wir „deutsch“ sagen. Auch die Griechen oder die Deutschen lassen eine naturwissenschaftliche oder generalisierende Darstellung ebensowenig zu wie die einzelnen Persönlichkeiten. Aus einer naturwissenschaftlichen Darstellung der Geschichte müßten mit den Eigennamen der Persönlichkeiten auch die Eigennamen der Völker verschwinden, und wenn das der Fall ist, wird man nicht mehr behaupten können, eine solche Wissenschaft sei noch imstande, das Interesse zu befriedigen, das wir an dem Einmaligen und Individuellen der Wirklichkeit nehmen. Eine vollständige Erledigung der Fragen, die sich hier aufdrängen, kann erst später gegeben werden. Doch das eine sehen wir schon jetzt: der Begriff des relativ Historischen und die Möglichkeit, das relativ Historische naturwissenschaftlich, d. h. generalisierend zu behandeln, beseitigt das B e d ü r f n i s nach einer Wissenschaft, die in einem prinzipiell anderen logischen Verhältnisse zur empirischen Wirklichkeit steht als die Naturwissenschaft, durchaus nicht. Nur das „Anonyme“ kann Objekt der Naturwissenschaft werden. Auch das relativ Historische, das einen Eigennamen trägt, entzieht sich ihr unter allen Umständen und vielleicht sogar noch einiges mehr. Daß alle empirischen Wissenschaften entweder naturwissenschaftlich oder historisch, generalisierend oder individualisierend, verfahren müssen, darf also zwar | nicht so verstanden werden, als gäbe es eine Gruppe von Wissenschaften, die rein naturwissenschaftlich, d. h. nur generalisierend, eine andere, die rein geschichtlich, d. h. nur individualisierend ist, sondern die Gliederung gilt lediglich in dem Sinn, daß durch sie zwei H a u p t t e n d e n z e n aller wissenschaftlichen Arbeit gekennzeichnet werden. In dieser Hinsicht aber gilt sie absolut. Naturwissenschaftlich werden wir jede Untersuchung

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nennen, die innerhalb des Gebietes, das sie bearbeitet, so weit wie möglich zum Allgemeinen vorzudringen sucht, und was eine Darstellung historisch macht, können wir schon jetzt dahin angeben, daß diese Tendenz in ihr nicht vorhanden sein kann. Bleibt eine solche Bestimmung auch noch negativ, so ist sie doch für die Klarlegung der historischen Methode im Gegensatz zu der der Naturwissenschaften und insbesondere für die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nicht ohne Bedeutung. Wie w e i t die Geschichtswissenschaft in das Einmalige und Individuelle einzudringen und es in ihre Darstellungen aufzunehmen hat, kann sich erst später zeigen. Hier dürfen wir nur sagen, daß dort, wo die Begriffsbildung der Naturwissenschaft ihre Grenze findet, meist das Interesse der Geschichte erst beginnt. So ergänzen die beiden Arten von Wissenschaften einander logisch und umfassen zugleich alles, was die empirische Wirklichkeit an wissenschaftlichen Aufgaben stellt. Die Einteilung nach Natur und Geschichte ist also in logischer Hinsicht auch vollständig und erschöpfend insofern, als die empirischen Wissenschaften nur entweder mit Rücksicht auf das Allgemeine oder mit Rücksicht auf das Individuelle die Wirklichkeit betrachten können. Von einer dritten Art empirisch wissenschaftlicher Behandlung der gegebenen realen Objekte, die l o g i s c h von den beiden genannten ebenso prinzipiell sich unterscheidet, wie diese voneinander verschieden sind, vermögen wir uns keinen Begriff zu machen. Eine dritte Gruppe von Wissenschaften kann allein in dem Sinne vorhanden sein, daß in ihr die naturwissenschaftliche und die historische Darstellung miteinander verbunden in Anwendung kommen. So liegt es denn auch faktisch in vielen Wissenschaften. Das aber ändert an dem dargelegten logischen Gegensatz und an der Unmöglichkeit, Geschichte nach naturwissenschaftlicher oder generalisierender Methode zu treiben, nicht das geringste. Bevor wir die negativen Ausführungen über Natur und Geschichte abschließen, fügen wir nur noch eines hinzu. Wir haben wiederholt hervorgehoben, daß der logische Gegensatz von Natur und Geschichte von der Methodenlehre bei der Gliederung der Wissenschaften zu wenig | beachtet und der sachliche Gegensatz von Natur und Geist zu sehr in den Vordergrund geschoben wird. Höchstens die Gegensätze von Sein und Werden, Beharrung und Veränderung, Wiederholung und Aufeinanderfolge konnten als logische Gegensätze gelten, die man versucht hat, dem Unterschied von Natur und Geschichte zugrunde zu legen, aber wir fanden, daß sogar sie noch nicht genau genug formuliert sind, um das logisch entscheidende Prinzip klarzumachen. Damit haben wir nicht sagen wollen, daß die von uns dargelegte logische Trennung der Begriffe der Natur und Geschichte mit dem Anspruch auftritt, die Entdeckung von etwas ganz Neuem zu sein. Im Gegenteil, wir müßten zeitlich recht weit zurückgreifen, falls wir alles

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aufzählen wollten, was für die Klarlegung dieses Gegensatzes schon früher geleistet worden ist. Insbesondere in der Philosophie des deutschen Idealismus, wie er sich nach Kant entwickelt hat, finden wir bereits manchen wertvollen Beitrag zu unserer Frage. Ja, der allgemeinste Begriff des Historischen als des Einmaligen, Besonderen und Individuellen war der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts selbstverständlich, und erst später hat das Wort „historisch“, wie wir schon in der Einleitung andeuteten, eine engere Bedeutung angenommen. Insofern also greifen wir sogar mit der Terminologie nur auf früher allgemein verbreitete Ansichten zurück. Doch ebenso gewiß ist andererseits: man zog in der Aufklärung und auch später aus diesem Begriff des Historischen falsche Konsequenzen für den Begriff der Geschichte als W i s s e n s c h a f t . Als klassischer, sogar heute noch einflußreicher Vertreter kann der schon erwähnte Schopenhauer gelten, der in dieser Hinsicht in Aufklärungstendenzen stecken blieb. Die Wissenschaften reden nach ihm sämtlich von dem, was immer ist, die Geschichte hingegen von dem, was nur einmal war und dann nicht mehr ist. Dementsprechend wäre die Geschichte eine Wissenschaft von den Individuen, welches aber, wie Schopenhauer sofort hinzufügt, „einen Widerspruch besagt“. Dieses unhaltbare n a t u r a l i s t i s c h e D o g m a gilt es zu beseitigen. Der Unterschied, den man in der Aufklärungsphilosophie und auch später nur benutzt hat, um geringschätzig von der Geschichte zu reden, ist gerade zum Grundstein einer logischen Gliederung der Wissenschaften zu machen. Nicht also um eine Entdeckung eines neuen fundamentalen logischen Unterschiedes, dem man mit Recht mißtrauisch gegenübertreten würde, sondern um eine neue Verwendung längst bekannter Begriffe zur Klarlegung des logischen Wesens der Geschichtswissenschaft handelt es sich hier. | Doch auch in dieser Hinsicht sind unsere b i s h e r i g e n Ausführungen in der Hauptsache nicht eigentlich neu, sondern wollten lediglich einen bereits wiederholt ausgesprochenen Gedanken vor allem dadurch, daß sie die R e l a t i v i t ä t d e s G e g e n s a t z e s v o n N a t u r u n d G e s c h i c h t e aufzeigten, eingehender und umfassender entwickeln, als es bisher geschehen ist. Sehen wir von den Ansätzen zur Behandlung unseres Problems in der Philosophie des deutschen Idealismus ab und beschränken uns auf die neueste Zeit, so ist unter denen, die zur Klärung des logischen Hauptproblems beigetragen haben, besonders Windelband zu nennen. Seine Darstellung Lessings leitete er schon 1878 mit folgenden Sätzen ein,96 die den Mangel des Rationalismus, seine Unfähigkeit, den historischen Erscheinungen gerecht zu werden, klarlegen: 96

Die Geschichte der neueren Philosophie I, 1878, S. 524 f., 5. Aufl. 1911, S. 544 f.

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„Wenn die moderne Philosophie von Anfang an durch den Gegensatz des Universalismus und des Individualismus bewegt gewesen war, so hatte in diesem rationalistischen Denken bedingungslos der U n i v e r s a l i s m u s und mit ihm fast wieder der mittelalterliche Realismus gesiegt. Nur seine allgemeinen Begriffe ließ es gelten: die einzelnen Erscheinungen waren ihm zufällige Existenzen, die nur so viel Wert haben sollten, als sie jene Begriffe wiederholen. Das war die notwendige Folge davon, daß dieser Rationalismus an der Hand der N a t u r w i s s e n s c h a f t und speziell der M e c h a n i k groß geworden war. In ihr allerdings ist die einzelne Tatsache nur eine Exemplifikation des ewigen, allgemeinen Gesetzes, und sie vermag von dem Individuellen abzusehen, um gerade dadurch das Gesetzmäßige zu finden. Für sie ist deshalb der Wert der einzelnen Erscheinungen lediglich durch das Gesetz bestimmt, welches sich darin betätigt. Ganz anders in der Geschichte: historische Gebilde lassen sich niemals ohne Rest in allgemeine Begriffe auflösen, es bleibt in ihnen immer etwas Einziges, Individuelles, und eben darin besteht ihr Wert. Weil deshalb von den beiden großen Gebieten der exakten Forschung für die Entwicklung der modernen Philosophie zunächst nur das naturwissenschaftliche maßgebend wurde, so trieb das Denken der Aufklärung überall auf den Universalismus zu und verlor in steigendem Maße Interesse und Verständnis für die historischen Tatsachen.“ Ebenso klingt Windelbands Darstellung der philosophischen Begriffe und Probleme in ihrer Entwicklung von den Griechen bis zur Gegenwart in einer Gegenüberstellung von Natur und Geschichte aus,97 und | endlich hat derselbe Autor dieses Thema auch zum Gegenstande einer systematischen Erörterung gemacht.98 Er will ausdrücklich die übliche Einteilung in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften fallen lassen, vor allem, weil es nicht möglich ist, die Psychologie in ihr unterzubringen. An ihre Stelle hat die Unterscheidung der „Ereigniswissenschaften“ von den „Gesetzeswissenschaften“ zu treten, und die Methode der einen soll „idiographisch“, die der anderen „nomothetisch“ heißen. Damit ist wenigstens der e i n e , bisher allein behandelte Punkt für eine logische Gliederung der Wissenschaften mit voller Klarheit bezeichnet. Auch der Ausdruck Gesetzeswissenschaft ist insofern zutreffend, als das höchste Ideal der Naturwissenschaft in der Aufstellung von Gesetzen besteht. Freilich ist er streng genommen zu eng, da die „deskriptiven“ Wissenschaften ebenfalls in einem Gegensatze zu den „ i d i o graphischen“ stehen müssen, und deshalb empfiehlt es sich, von g e n e r a l i s i e r e n d e n Wissenschaften zu reden. Was ferner den Terminus 97

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Geschichte der Philosophie, 1892, S. 500 ff., 6. Aufl. unter dem Titel: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 1912, S. 545 ff. Geschichte und Naturwissenschaft, Straßburger Rektoratsrede, 1894.

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„idiographisch“ betrifft, so bezeichnet er aus Gründen, die wir noch genauer kennenlernen werden, nicht viel mehr als ein P r o b l e m , oder er bringt wenigstens das Wesen der historischen Methode nur nach einer, und zwar nach ihrer n e g a t i v e n Seite hin zum Ausdruck. Doch mehr als ein Problem haben auch wir in diesem Kapitel noch nicht aufzeigen wollen. Die Lösung, die noch fehlt, wird erst im vierten Kapitel versucht. Interessant für die Problemstellung ist es, daß gleichzeitig mit Windelband Harms,99 und zwar ebenfalls in einem Werke historischen Inhalts, Ausführungen über den logischen Gegensatz von Natur und Geschichte und eine darauf zu gründende Einteilung der Wissenschaften gemacht hat. „Alle besonderen Wissenschaften“, sagt er, „ruhen entweder auf der Naturforschung oder auf der Geschichtsforschung und sind daher der Form ihres Erkennens nach entweder Teile der geschichtlichen oder der Naturwissenschaft. Geschichtliche Wissenschaften nennen wir die, welche in der Geschichte eine Quelle ihres Erkennens haben, wie die Politik, die Jurisprudenz, die positive Theologie, die Nationalökonomie, die Philologie und Sprachwissenschaften u. a. m. Sie ruhen insgesamt nicht auf Naturforschung, sondern auf Geschichtsforschung. Diese Einteilung der Wissenschaften in geschichtliche und Naturwissenschaften verdient allen anderen in theoretische und praktische, in metaphysische und ästhetische, in Natur- und Geisteswissenschaften deshalb | vorgezogen zu werden, weil sie der tatsächlichen Form und Methode ihres Erkennens entspricht, während die übrigen Einteilungen dieselbe ignorieren“. Auch hier ist der entscheidende Punkt klar. Freilich stehen bei Harms daneben Sätze, die zeigen, daß er die Begriffe der Natur und der Geschichte in ihrer logischen Reinheit noch nicht kennt, und daß er daher nicht imstande gewesen wäre, seine Einteilung methodologisch fruchtbar zu machen. So sagt er z. B.: „Die Erfahrung selbst, woraus alle besonderen Wissenschaften hervorgehen, ist doppelt“, und behauptet von dem Gegensatz von Natur und Geschichte: „Es ist das keine Differenz in den erkennenden Subjekten, sondern in den zu erkennenden Objekten.“ Damit kann eine L o g i k der Geschichte nichts anfangen. Andererseits ist es sehr bemerkenswert, wenn Harms von Darwin sagt: „Nicht das Gebiet der Naturwissenschaft hat er erweitert, sondern umgekehrt das Gebiet der geschichtlichen Erkenntnis hat er zu erweitern versucht.“ Doch ist auch das wieder nicht in dem rein logischen Sinne gemeint, in dem es hier ausgeführt wurde. Auf jeden Fall aber finden sich bei Harms wertvolle Gedanken, die leider keine Wirkungen ausgeübt haben, ein Umstand, der zeigt, wie vollständig der logische Grundgegensatz der wissenschaftlichen Methoden über logisch sekundären Einteilungsprinzipien in der Logik vergessen war. 99

Die Philosophie in ihrer Geschichte I, Psychologie, 1878, S. 53 ff.

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Ferner sei in diesem Zusammenhange Adrien Naville100 genannt, der in einer Abhandlung über die Klassifikation der Wissenschaften drei Gruppen unterscheidet: „histoire“, „théorématique“ und „sciences régulatives“. Die letzte Gruppe können wir hier beiseite lassen, um so wichtiger sind die beiden ersten. Die Geschichte besteht nach Naville aus den Wissenschaften von der Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu umfaßt die zweite das, was wir Naturwissenschaft genannt haben: die Wissenschaften von den notwendigen Bedingungen des Möglichen oder die Gesetzeswissenschaften. Die Einteilung der Wissenschaften gestaltet sich dann unter diesem Gesichtspunkt von der üblichen sehr abweichend. Zur Geschichte gehört z. B. die Statistik als Darstellung von den wirklichen Zahlenverhältnissen, und als Gesetzeswissenschaft entspricht ihr die Arithmetik, die es mit den möglichen Zahlenverhältnissen zu tun hat. Zur Geschichte gehören ferner außer den Wissenschaften, die man gewöhnlich dazu rechnet, die Geodäsie, die Astronomie, die Geologie, ja sogar Botanik und Zoologie, weil sie von wirklichen Körpern handeln, während Mechanik, Physik, Chemie und Bio- | logie Gesetze suchen und daher mit der Psychologie und der Soziologie, die dies ebenfalls tun, zusammen die andere Gruppe der Wissenschaften bilden. Es ist klar, wie gründlich von Naville der übliche Gegensatz von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften beseitigt ist, und wie ausschließlich ein logischer Gesichtspunkt für die Gliederung maßgebend wird. Trotzdem können wir dieser Einteilung nicht in allen Punkten zustimmen. Es geht nicht an, alles zur Geschichte zu rechnen, was nicht Gesetze aufstellt, denn das Gesetz ist nur die höchste Form des naturwissenschaftlichen Begriffes, und es bleibt daher notwendig, klassifikatorische Wissenschaften, wie Botanik und Zoologie, mit den Gesetzeswissenschaften logisch zusammenzustellen. Ebensowenig dürfen wir die Statistik in dem Sinne, wie Naville es tut, der Geschichte zuteilen. Sie hat mit Geschichte weniger zu tun als die „entwicklungsgeschichtliche“ Biologie. Das hängt mit ihren quantitativen Angaben zusammen. Vor allem aber fehlt es Naville an dem Begriff des relativ Historischen, der zu einer D u r c h f ü h r u n g des logischen Einteilungsprinzips unentbehrlich ist. Naville berücksichtigt nur die äußersten logischen Extreme. Dies hat ihn auch dazu gebracht, Mathematik und reine Mechanik nicht von Physik und Chemie zu trennen, obwohl doch das Verhältnis zur Wirklichkeit in diesen Wissenschaften gewiß nicht überall dasselbe ist. Aber es kommt uns hier weniger darauf an, die Differenzen hervorzuheben als die Uebereinstimmung zu konstatieren. Vortreffliche Bemerkungen über das Wesen der Geschichtswissenschaften finden sich endlich in einer Schrift von Georg Simmel,101 die wir bereits 100 101

De la classification des sciences. Étude logique, 1888, 3. Aufl. 1920. Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 1892.

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erwähnten, als wir von der Geschichte als der „Wirklichkeitswissenschaft“ sprachen. Die Einsicht, daß zwischen erzählender und Gesetzeswissenschaft, logisch-begrifflich angesehen, der größte Unterschied besteht, den es überhaupt auf dem Gebiete des Wissens geben kann, ist hier ebenfalls deutlich ausgesprochen: „Insofern als Geschichtswissenschaft zu schildern hat, was wirklich geschehen ist, indem sie die Wirklichkeitswissenschaft schlechthin ist, tritt sie in den denkbar schärfsten Gegensatz gegen alle Gesetzeswissenschaft“.102 Im einzelnen können wir dann allerdings auch Simmel, besonders in der ersten Auflage seiner Schrift, auf die wir uns an dieser Stelle absichtlich beschränken, weil wir nur auf die Arbeiten hinweisen, die vorlagen, als die erste Auflage dieses Werkes gedruckt wurde, nicht über- | all zustimmen. Es scheint uns nicht glücklich, daß Simmel von den p s y c h o l o g i s c h e n Voraussetzungen in der Geschichtsforschung ausgeht, und ferner wird von ihm der Gegensatz von Geschichte und Gesetzeswissenschaft, umgekehrt wie bei Naville, wieder so sehr eingeschränkt und abgeschwächt, daß er seine logische Bedeutung fast zu verlieren scheint. Das hängt zum Teil mit Simmels Auffassung der Erkenntnistheorie zusammen, die lediglich eine „Beschreibung“ der Erkenntnis geben soll. Ja, es finden sich sogar in der ersten Fassung bei Simmel einige Sätze, die seinen eigenen Voraussetzungen direkt widersprechen, und die zeigen, daß auch er sich hier noch nicht von eingewurzelten rationalistischen Denkgewohnheiten frei gemacht hat. So sagt er z. B.: „Gäbe es eine Psychologie als Gesetzeswissenschaft, so würde die Geschichtswissenschaft in demselben Sinne angewandte Psychologie sein, wie Astronomie angewandte Mathematik ist.“ Damit vertritt er die Ansicht, die wir hier bekämpfen.103 Doch muß, davon abgesehen, besonders das zweite Kapitel der Schrift, das „von den historischen Gesetzen“ handelt, als ein äußerst wertvoller Beitrag zur Methodenlehre der Geschichtswissenschaften angesehen werden, in dem die übliche Gegenüberstellung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, die sich für logische Untersuchungen als so wenig fruchtbar erwiesen hat, vollständig verlassen ist.

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a. a. O. S. 43. a. a. O. S. 2. In der zweiten Auflage 1905 macht Simmel jedoch gegen seinen eigenen Satz die von mir dagegen erhobenen Bedenken geltend, „daß Gesetze nur das Allgemeine an den Gegenständen des Erkennens zu erfassen vermögen“, und sagt: „es erscheint als ein nicht nur utopisches, sondern direkt fehlgreifendes Bemühen, ein geschichtliches Individuum als den bloßen Treffpunkt allgemeiner psychologischer Gesetze verstehen zu wollen, die, nur in anderen Kombinationen, auch irgendein anderes Individuum ergeben“. Das ist genau die in diesem Buch vertretene Ansicht, und es ist zu hoffen, daß auch andere Denker sich, ebenso wie Simmel es getan hat, allmählich von dem Glauben befreien, durch Gesetze könne jemals der einmalige Verlauf des Geschichtlichen erkannt werden.

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So, sehen wir, ist bereits von den verschiedensten Seiten her der für eine logische Gliederung der Wissenschaften maßgebende Gesichtspunkt geltend gemacht worden. Zugleich aber müssen wir ebenso entschieden hervorheben, daß überall der Begriff der Geschichtswissenschaft damit nur als ein P r o b l e m auftaucht. Bei dem Begriff der Wirklichkeitswissenschaft kann man nicht stehen bleiben. Er stellt höchstens die erste Stufe auf dem Wege dar, der zu einem Begriff der Geschichte als Wissenschaft führt. Weiter konnten auch unsere Ausführungen bisher nicht dringen, solange wir n u r auf den logischen Gegensatz des Allgemeinen und des | Einmaligen oder Individuellen reflektierten. Lediglich die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung haben wir zunächst kennengelernt, und das war notwendig, um zu zeigen, worin das logische Wesen der historischen Wissenschaften n i c h t bestehen kann. Damit ist jedoch nur die e r s t e Aufgabe, die wir uns in der Einleitung gestellt haben, gelöst. Wir wissen, auf welchen Gebieten die Bildung naturwissenschaftlicher Begriffe einen Sinn hat, und auf welchen Gebieten sie diesen Sinn notwendig verliert. Mit Rücksicht auf eine logische Einleitung in die Geschichtswissenschaften darf man daher die bisherigen Ausführungen als den n e g a t i v e n Teil dieser Arbeit bezeichnen. Zwar sahen wir bereits, welche Wissenschaft geeignet ist, die Lücke auszufüllen, die die Naturwissenschaft für immer in unserem Wissen von der empirischen Wirklichkeit lassen muß. Aber von der p o s i t i v e n logischen Struktur der Geschichtswissenschaft wissen wir noch so gut wie nichts. Wir kennen allein ihren Namen, d. h. wir kennen die Aufgabe der Wissenschaft, die mit Recht Geschichtswissenschaft genannt wird, aber wir kennen noch nicht die Methode, mit deren Hilfe es möglich ist, diese Aufgabe zu lösen. Da der wesentliche Zweck dieser Arbeit, wie wir in der Einleitung gesagt haben, nicht darauf gerichtet ist, das Unbefriedigende einer rein naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Wirklichkeit klarzulegen, so dürfen wir bei einem solchen problematischen Begriff der Geschichte, wie er bisher herausgearbeitet worden ist, nicht stehen bleiben. Wir müssen vielmehr im Anschluß an die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung das Wesen der historischen Wissenschaften selbst wenigstens in seinen logischen Grundzügen auch nach der positiven Seite hin kennenlernen, damit die Einseitigkeit des naturwissenschaftlichen Denkens in ihrer ganzen Bedeutung für die Philosophie heraustritt. In dieser Darlegung des logischen Wesens der Geschichtswissenschaft liegt der eigentliche Zweck unserer Untersuchung. Weshalb wir bisher nur ein Problem gewonnen haben, läßt sich noch in einer anderen Weise klarmachen. Man könnte meinen, der logische Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Geschichte bestehe allein darin, daß die Geschichtswissenschaft die Aufgabe habe, die Ergebnisse der naturwis-

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Drittes Kapitel · Natur und Geschichte

senschaftlichen Begriffsbildung auf das Einmalige, Besondere und Individuelle a n z u w e n d e n und so von den allgemeinen Abstraktionen wieder zum konkreten Historischen zurückzukehren. Es läßt sich mit allgemeinen Wortbedeutungen jedes beliebige Stück der empirischen Wirklichkeit auch in seiner Individualität und Beson- | derheit darstellen. Wir brauchen, um das einzusehen, wieder nur an die Beschreibungen zu denken, die wir schon früher erwähnt haben, und von denen wir zeigen konnten, daß sie noch nicht als endgültige naturwissenschaftliche Begriffsbildungen, sondern höchstens als Vorarbeiten dazu zu verstehen sind. Es scheint, als könnten gerade sie nun als die eigentliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft gelten. Ihre Wissenschaftlichkeit gegenüber den primitiven Beschreibungen würde dann darin bestehen, daß jene lediglich mit Hilfe von elementaren Wortbedeutungen vorgenommen werden, während die wissenschaftliche Geschichte die von der Naturwissenschaft entdeckten Allgemeinbegriffe zu benutzen hätte, um so das Einmalige und Individuelle wissenschaftlich zu beschreiben. Die Geschichte wäre danach nichts anderes als angewandte Naturwissenschaft. Diese Meinung ist grundfalsch und wird dem Wesen der wirklich vorhandenen Geschichtswissenschaft in keiner Weise gerecht. In seiner Individualität beschreiben läßt sich, wie wir früher sahen, allerdings jedes beliebige Stück der empirischen Wirklichkeit, aber es ist nicht einzusehen, wie durch solche Beschreibungen etwas zustande kommen soll, was den Namen einer besonderen „Wissenschaft“ verdient. Ich kann die Tischplatte vor mir in ihrer Individualität gewiß so beschreiben, daß ich das an ihr heraushebe, was sie von anderen Tischplatten unterscheidet, und ich kann in der Beschreibung dieser Individualität beliebig weit gehen, so daß es im Prinzip möglich wäre, ein Buch mit einer Beschreibung dieser einmaligen und individuellen Tischplatte zu füllen. Kein Mensch aber wird das Geschichtswissenschaft nennen oder überhaupt einer solchen Beschreibung den Charakter der Wissenschaftlichkeit beilegen, auch dann nicht, falls darin nur naturwissenschaftliche Allgemeinbegriffe verwendet sind. Im günstigsten Falle können solche Beschreibungen, wie wir das gesehen haben, als Sammlungen von Tatsachenmaterial gelten, das dann der weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung noch bedarf. Faktisch werden ja detaillierte Beschreibungen einmaliger Objekte auch von der Wissenschaft vorgenommen. Man braucht nur an die Kenntnisse zu denken, die man von dem uns zugekehrten Oberflächenteil des Mondes gesammelt hat. Sogar wenn man nicht zugeben wollte, daß solche Beschreibungen n u r Material für eine weitere naturwissenschaftliche Bearbeitung sind, so würde gerade der Umstand, daß sie in der Wissenschaft eine andere Rolle spielen als die erwähnte Beschreibung dieser Tischplatte, auf das deutlichste zeigen, daß in der bloßen Beschreibung einer individuellen Wirklichkeit mit | Hilfe von allgemeinen Wortbedeutungen

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oder auch mit naturwissenschaftlich gebildeten Allgemeinbegriffen noch keine Wissenschaft erblickt werden kann. Es muß ein besonderes theoretisches P r i n z i p sein, das die Darstellung des Individuellen leitet, damit eine solche Darstellung zur Wissenschaft in eine logisch notwendige Beziehung kommt. Und vollends kann eine Darstellung des Individuellen in dem soeben angegebenen Sinne noch nicht G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t genannt werden. Jedenfalls, wer meint, Geschichte sei nichts anderes als angewendete Naturwissenschaft, hat das l o g i s c h e Wesen der Geschichtswissenschaft nicht verstanden. Auch aus diesem Grunde müssen wir hervorheben, daß wir bisher nur wissen: die Geschichte fängt dort an, wo die Naturwissenschaft aufhört. Daran schließt sich dann die weitere Frage: ist diese Arbeit, die an der Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung beginnt, ist diese Wissenschaft von der individuellen Wirklichkeit selbst auch der theoretischen Mühe wert? Erst wenn wir hierauf eine Antwort gegeben haben, können wir sagen, welche Tragweite die Feststellung der Grenzen der Naturwissenschaft besitzt. Wir werden daher in dem zweiten positiven Teile der Arbeit versuchen, diese Frage, soweit es unter logischen Gesichtspunkten möglich ist, zu beantworten, d. h. wir wollen die l o g i s c h e n G r u n d l a g e n u n d Vo r a u s s e t z u n g e n d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n G e s c h i c h t e klarlegen. So schließt sich an die Untersuchung über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften an.

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| Vi e r t e s K a p i t e l . DIE HISTORISCHE BEGRIFFSBILDUNG. „ ... μα̑λλον ῝Ελληνας καλει̑ σθαι τοὺς π α ι δ ε ύ σ ε ω ς τη̑ς ἡμετέρας ἢ τοὺς τη̑ς κοινη̑ς φύσεως μετέχοντας.“ Isokrates.

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Um den Begriff der Geschichtswissenschaft, den wir bisher negativ als den einer durch naturwissenschaftliche Begriffsbildung unlösbaren Aufgabe kennengelernt haben, positiv zu bestimmen, beziehen wir wieder die verschiedenen logischen Probleme, die er enthält, auf e i n Hauptproblem. Dieses aber muß dem Problem entsprechen, das wir bei der Klarlegung des Wesens der Naturwissenschaft in den Vordergrund gestellt haben, d. h. es kommt auch jetzt, wie bereits in der Einleitung bemerkt wurde, nicht auf den Weg der Forschung, besonders nicht auf das S u c h e n des historischen Materials, sondern auf die Form seiner D a r s t e l l u n g an. Das Gebilde, in dem die vorläufigen oder endgültigen Ergebnisse der Naturwissenschaft ihren Ausdruck finden, heißt „Begriff“, und dementsprechend sind jetzt die Prinzipien der h i s t o r i s c h e n B e g r i f f s b i l d u n g festzustellen. Die Erweiterung des Sprachgebrauches, die in dieser Bezeichnung liegt, rechtfertigt sich dadurch, daß das neue Problem in logischer Hinsicht dasselbe ist wie das bei dem Versuche eines logischen Verständnisses der Naturwissenschaft in den Vordergrund gestellte. Es gilt vor allem, zu verstehen, wie die Elemente eines historischen Begriffes sich zu einer E i n h e i t zusammenschließen, oder worauf die wissenschaftliche G e l t u n g der historischen Begriffe beruht. Die Problemlösung gliedert sich dann in folgender Weise. Damit ihr logischer Gehalt wieder möglichst rein hervortritt, sehen wir auch jetzt zuerst von allen sachlichen Besonderheiten des Materials der historischen Wissenschaften ab und gehen daher von dem aus, was Grenze jeder naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ist, d. h. vom I n d i - | v i d u u m in der weitesten Bedeutung des Wortes, in der es jede beliebige einmalige und individuelle Wirklichkeit bezeichnet. Da erstens nicht alle individuellen Wirklichkeiten Gegenstand der Geschichte sind, haben wir zu zeigen, wie für die historische Darstellung aus der unübersehbaren extensiven Mannigfaltigkeit der Objekte sich eine besondere Art heraushebt, die wir als die „historischen Individuen“ im engeren Sinne bezeichnen können, und die allein für eine Darstellung ihrer Individualität in Betracht kommen, und da zweitens auch diese historischen Wirklichkeiten sich nicht in ihrer ganzen intensiven Mannigfaltigkeit darstellen lassen, müssen wir ferner verstehen,

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was aus dem Inhalt der Mannigfaltigkeit des einzelnen historischen Individuums sich aussondert und zu dem individuellen Inhalt eines historischen Begriffes zusammenschließt. Auf diese Weise werden wir das allgemeinste Prinzip einer i n d i v i d u a l i s i e r e n d e n B e g r i f f s b i l d u n g erfassen, die in einem logischen Gegensatz zur generalisierenden Begriffsbildung der Naturwissenschaften steht, und vollends einsehen, wie falsch die Meinung ist, daß es sich bei der Darstellung der Geschichte um eine bloße Anwendung der allgemeinen naturwissenschaftlichen Ergebnisse auf das Besondere handelt. Infolge der neuen Art der Scheidung wesentlicher Bestandteile von unwesentlichen erweist sich dann die Darstellung des Individuellen, also des Geschichtlichen im logischen Sinne, als möglich, und zwar wird sich zeigen, daß die Bildung von Begriffen mit individuellem Inhalt oder die individualisierende Begriffsbildung, wie wir sie nennen, nur durch eine in ihrem Wesen genau zu bestimmende theoretische „Beziehung“ der geschichtlichen Objekte auf We r t e zustandekommt und insofern auch als „teleologisch“ bezeichnet werden könnte. Doch hat dies historisch-teleologische Moment mit der hin und wieder vorkommenden und oft mit Recht als unwissenschaftlich bekämpften Geschichtsteleologie nichts zu tun. Insbesondere darf es sich dabei nur um ein rein t h e o r e t i s c h e s Prinzip handeln, das zwar meist nicht bemerkt wird, von dem aber jeder Historiker, so sehr er sich auch gegen alle „Teleologie“ sträuben mag, notwendig Gebrauch macht. Die individualisierende wird sich also als eine w e r t b e z i e h e n d e B e g r i f f s b i l d u n g erweisen und auch dadurch in einen Gegensatz zur wertfreien naturwissenschaftlichen Begriffsbildung treten. Der Begriff der t h e o r e t i s c h e n We r t b e z i e h u n g als des eigentlichen logischen Prinzipes einer individualisierenden oder historischen Darstellung ist auf das Eingehendste zu erörtern. | Weitergeführt werden wir dann durch den Umstand, daß es in der historischen Wirklichkeit nirgends v e r e i n z e l t e Individuen gibt, sondern daß alle Objekte der Geschichte Teile eines größeren Ganzen sind, mit dem sie in einem realen Zusammenhang stehen. Die Naturwissenschaft hebt, wie wir gesehen haben, durch ihre Abstraktionen diesen Zusammenhang auf und isoliert die Exemplare begrifflich. Die Geschichte kann so nicht verfahren. Erst durch Darstellung des h i s t o r i s c h e n Z u s a m m e n h a n g e s wird sie zur Wissenschaft vom einmaligen wirklichen Geschehen, und besonders darauf ist dabei zu achten, daß jedes individuelle Objekt mit anderen individuellen Objekten k a u s a l verknüpft ist. Die h i s t o r i s c h e n Kausalzusammenhänge sind aber wiederum sorgfältig von den naturwissenschaftlichen Kausal g e s e t z e n zu scheiden. Die Darstellung von kausalen Verknüpfungen fällt durchaus nicht, wie vielfach geglaubt wird, mit einer generalisierenden Darstellung der Wirklichkeit als „Natur“ zusammen.

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Viertes Kapitel · Die historische Begriffsbildung

Endlich vereinigen sich im Begriff der geschichtlichen E n t w i c k l u n g die logischen Grundprinzipien der historischen Begriffsbildung. Doch ist dieser Umstand ebenfalls weit davon entfernt, die historische und die naturwissenschaftliche Methode einander zu nähern. Die g e s c h i c h t l i c h e Entwicklung besteht erstens aus einmaligen und individuellen Vorgängen, und zweitens gehen auch diese nur durch die theoretische Beziehung auf We r t e in historische Begriffe ein. Den im logischen Sinne naturwissenschaftlichen Darstellungen bleibt daher d i e s e r Entwicklungsbegriff fremd, und wenn er trotzdem sogar in einigen Teilen der Körperwissenschaften eine Rolle spielt, so liegt das nur daran, daß man auch die physische Wirklichkeit unter historische Gesichtspunkte bringen und individualisierend darstellen kann, ein Umstand, der von neuem beweist, wie wenig der Gegensatz von Natur und Geist geeignet ist, die logischen Probleme der Geschichte klarzulegen, solange man „Geist“ das Psychische nennt. Ist durch den Begriff der Entwicklungsgeschichte das allgemeinste logische Wesen jeder historischen Darstellung bestimmt, so wenden wir uns den Einschränkungen zu, die auch hier gemacht werden müssen, falls unser Begriff auf die wirklich vorhandene Geschichtswissenschaft angewendet werden soll. Wir dehnen ihn vom absolut Historischen, das wir zuerst allein berücksichtigen, auf das r e l a t i v H i s t o r i s c h e aus und lernen dadurch die n a turwissenschaftlichen Bestandteile in den Geschichtswiss e n s c h a f t e n ken- | nen, die ebenso wichtig sind wie die historischen Bestandteile in den Naturwissenschaften. Wir suchen also auch hier wieder das I n e i n a n d e r und Z u s a m m e n von allgemeinen und individuellen Faktoren zu verstehen, das für j e d e empirische Wissenschaft charakteristisch ist. Doch bleibt trotz aller Uebergänge und Zwischenformen, die wir kennenlernen werden, ein prinzipieller logischer Unterschied von Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft bestehen. Wenn auch viele, vielleicht sogar die meisten historischen Begriffe insofern einen a l l g e m e i n e n Inhalt haben, als sie das einer Mehrheit von individuellen Wirklichkeiten Gemeinsame umfassen, so kommt doch dies Allgemeine in dem historischen Zusammenhang einer einmaligen Entwicklungsreihe immer als etwas relativ Besonderes und Individuelles in Betracht und muß deshalb für die Naturwissenschaft ebenso eine Grenze bilden wie das absolut Historische. Wir werden verstehen, wie auch das Allgemeine, d. h. mehreren Objekten Gemeinsame, wertbeziehend und individualisierend darzustellen ist. Die Paradoxie, die in diesem Gedanken steckt, ist nur scheinbar. Mit diesem Nachweis ist dann die r e i n logische Arbeit des vierten Kapitels beendet. Wollen wir jedoch nicht nur das logische Wesen, sondern auch die wissenschaftliche Bedeutung und Unentbehrlichkeit der historischen Begriffsbildung in sachlicher Hinsicht verstehen, so müssen wir schließlich

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wissen, welcher besondere Teil der individuellen Wirklichkeit es ist, der eine geschichtliche Darstellung e r f o r d e r t , und diese Notwendigkeit kann nur auf besonderen i n h a l t l i c h e n Bestimmungen gewisser Objekte beruhen, die dann zu „historischen Objekten“ im engeren Sinne werden. Wir haben also zu fragen, inwiefern ein Zusammenhang zwischen I n h a l t und F o r m oder zwischen M a t e r i a l und M e t h o d e der historischen Darstellungen besteht, und auf diese Weise auch den s a c h l i c h e n Begriff der Geschichte zu gewinnen, an den man heute zuerst denkt, wenn man von „Geschichte“ spricht. Zunächst kommt dabei in Betracht, daß die vorhandenen Geschichtswissenschaften gegen den anfangs absichtlich beiseite gelassenen Unterschied von Körper und „Geist“ f a k t i s c h nicht gleichgültig sind, sondern es im wesentlichen mit seelischen Vorgängen zu tun haben und i n s o f e r n auch als G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n bezeichnet werden könnten. Wir müssen feststellen, woher das kommt, und ob etwa auch die historische M e t h o d e durch diesen Umstand entscheidend bestimmt ist. Es wird sich jedoch von neuem zeigen, daß der | Unterschied von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, solange man bei dem Wort „Geist“ nur an das nicht-körperliche reale Sein oder an die psychische Wirklichkeit denkt, selbst dann in keiner Weise als ausschlaggebend für die Methode angesehen werden kann, wenn es sich um die Einteilung der empirischen Wissenschaften in zwei i n h a l t l i c h verschiedene Gruppen handelt. Die Objekte, mit denen es die Geschichtswissenschaften im engeren Sinn zu tun haben, sind vielmehr im Gegensatz zu den Objekten der Naturwissenschaft unter den Begriff der K u l t u r zu bringen, und zwar deshalb, weil die We r t e , die die historisch wertbeziehende Begriffsbildung leiten und bestimmen, was Objekt der Geschichte ist, durchweg dem Kulturleben entnommen oder K u l t u r w e r t e sind. Freilich kann auch die Kultur, wie jede Wirklichkeit, unter naturwissenschaftliche Begriffe gebracht, d. h. generalisierend dargestellt werden, aber für sie reicht diese Art der Darstellung allein niemals aus. Die h i s t o r i s c h e n K u l t u r w i s s e n s c h a f t e n sind es daher, die sowohl mit Rücksicht auf die Methode als auch mit Rücksicht auf ihren Inhalt den Naturwissenschaften gegenübergestellt werden müssen. Sie fallen unter den mehr als formalen, s a c h l i c h e n Begriff der Geschichte. Doch bleibt auch dieser Begriff noch insofern formal, als wir in der Methodenlehre nur einen formalen Begriff der Kultur aufstellen können. Welche inhaltlich bestimmten Werte die geschichtliche Darstellung leiten, und woraus der inhaltlich bestimmte Begriff der Kultur besteht, das vermag niemals die Logik, sondern nur die geschichtliche Wissenschaft selbst und eine an ihr orientierte umfassende Philosophie oder Weltanschauungslehre zu sagen. Die Methodenlehre kann höchstens noch den Versuch machen,

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Viertes Kapitel · Die historische Begriffsbildung

vom Begriff der Kulturwissenschaften aus in das Wesen des viel erörterten h i s t o r i s c h e n Ve r s t e h e n s einzudringen. Dieser Begriff gilt manchem als das eigentliche Zentrum, wo eine Theorie der sogenannten Geisteswissenschaften in Frage steht. Die Lösung des darin enthaltenen Problems ist aber erst in Angriff zu nehmen, wenn man schon weiß, w a s vom Historiker „verstanden“ wird, und begriffen hat, inwiefern das h i s t o r i s c h e Verstehen einen individualisierenden Charakter tragen muß. Aus diesem Grunde darf man auch von einem Unterschied wie dem des „Erklärens“ und des „Verstehens“ in einer Theorie der Geschichte nicht a u s g e h e n . Historisches Verständnis kann nicht lediglich Verständnis des realen seelischen oder psychischen Seins der Vergangenheit bedeuten, da dieses | als bloß wirkliches Geschehen eventuell ebenso unverständlich bleibt wie körperliches Sein. Vielmehr ist erst im Verständnis der m e h r als real psychischen Kultur die Aufgabe der Geschichte zu finden. Nur falls man bei dem Worte „Geist“ an etwas prinzipiell anderes denkt als an das wirkliche Seelenleben, von dem die Psychologie handelt, bekommt es daher einen Sinn, die Geschichte zu den Geisteswissenschaften zu rechnen und diesen Begriff bei einer „Klassifikation“ der Wissenschaften zu verwenden, die mehr als ein äußerliches Schema für die Einteilung der wissenschaftlichen S t o f f e liefert. Endlich erhebt sich für die Logik der Geschichte noch ein neues Problem. In jeder historischen wie in jeder naturwissenschaftlichen Darstellung machen wir eine Reihe von Vo r a u s s e t z u n g e n , die als das „a priori“ der wissenschaftlichen Begriffsbildung bezeichnet werden können. Sie stecken, soweit sie hier in Betracht kommen, vor allem im Begriff des N a t u r g e s e t z e s als des unbedingt allgemeinen Urteils einerseits und im Begriff des K u l t u r w e r t e s , auf den jedes historische Objekt theoretisch bezogen sein muß, um geschichtlich darstellbar zu werden, andrerseits, und es kann nun nicht nur überhaupt nach der G e l t u n g dieser Voraussetzungen gefragt werden, sondern es wird infolge des besonderen Charakters, den sie in der Geschichtswissenschaft haben, die wissenschaftliche O b j e k t i v i t ä t der historischen Darstellung gegenüber der Naturwissenschaft als problematisch erscheinen. Damit ist dann die Geschichte als wissenschaftliche E r k e n n t n i s von anderer Seite her wieder in Frage gestellt, und so kommen wir schließlich zu der Aufgabe, das Verhältnis von Naturwissenschaft und Geschichte auch mit Rücksicht auf die Geltung ihrer Voraussetzungen zu begreifen. Dies aber gehört nicht mehr in den m e t h o d o l o g i s c h e n Zusammenhang. Erst das letzte Kapitel wird daher die e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n oder transzendentalphilosophischen Probleme der N a t u r p h i l o s o p h i e und G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e , auf die wir durch die Frage nach der Objektivität der historischen Begriffsbildung geführt werden, abgesondert von den

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methodologischen Problemen behandeln und damit unsern Gedankengang zum Abschluß bringen. |

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Um unser neues methodologisches Problem genau zu formulieren, ist es notwendig, daß wir einmal einen Blick auch auf das G a n z e der Fragen werfen, welche die Geschichtswissenschaft an die Logik stellt, und dann das, was wir unter historischer B e g r i f f s b i l d u n g verstehen, gegen die andern Formen des geschichtswissenschaftlichen Denkens abgrenzen. Nach Droysen hat die Methodik des historischen Forschens vier Teile, die Heuristik, die Kritik, die Interpretation und die Darstellung,104 und dieser Einteilung schließt sich auch Bernheim an. Er faßt die einzelnen Grundsätze und Operationen, die die angewandte Methodologie oder Methodik ausmachen, in vier verschiedene Gruppen zusammen: „Die Q u e l l e n k u n d e oder Heuristik, welche die Sammlung und Kenntnisnahme des Stoffes begreift, die K r i t i k , welche sich mit der Sichtung des Stoffes und der Konstatierung des Tatsächlichen beschäftigt, die A u f f a s s u n g , welche die Bedeutung und den Zusammenhang der Tatsachen zu erkennen hat, die D a r s t e l l u n g , welche die in ihrem Zusammenhang erkannten Tatsachen in erkenntnisgemäßem Ausdruck wiedergibt“.105 Wir können für den Zweck einer Uebersicht diese Einteilung akzeptieren und müssen nur die Bedeutung einiger Termini etwas genauer bestimmen. Der Gegensatz von Stoff und Auffassung fällt hier seinem allgemeinsten Sinne nach mit dem von Materie und methodologischer Form zusammen. Als Material der Wissenschaft betrachten wir überall die empirische Wirklichkeit, die, wenn es sich z. B. um die Körperwelt handelt, aus einer „Mehrheit“ von „Dingen“ besteht. Nun gibt es, wie schon einmal angedeutet, einen erkenntnistheoretischen Standpunkt, von dem aus diese Wirklichkeit, die für die besonderen Wissenschaften nur Stoff ist, bereits als geformter Stoff angesehen werden kann, so daß dann z. B. Mehrheit und Dinghaftigkeit, ja Wirklichkeit selbst, Formen wären, die erst an das Material herangebracht sind, und dieser e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e Gegensatz von Stoff und Form muß von dem m e - | t h o d o l o g i s c h e n geschieden werden.106 Für 104

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Vgl. Grundriß der Historik, 2. Aufl. 1875. In der 3. Aufl. ist die Disposition etwas verändert und die „Darstellung“ aus der „Methodik“ in die „Topik“ verwiesen. Doch ändert das sachlich nichts. Vgl. Lehrbuch der historischen Methode, 5. u. 6. Aufl. 1908, S. 250 f. Vgl. hierzu meine Schrift: Der Gegenstand der Erkenntnis, 6. Aufl. 1928. Fünftes Kapitel: Das Problem der objektiven Wirklichkeit, und: Konstitutive Wirklichkeitsformen und methodologische Erkenntnisformen.

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Viertes Kapitel · Die historische Begriffsbildung

eine Untersuchung, die die geschichtswissenschaftlichen Formen im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen darstellen will, kann es nämlich wichtig werden, zu wissen, welche Formen zu j e d e r wissenschaftlichen Auffassung der Wirklichkeit gehören, weil diese dann, wie z. B. die Form „Wirklichkeit“, der Naturwissenschaft und der Geschichte g e m e i n s a m sein müssen. Selbstverständlich ist hier die Grenze nicht so zu ziehen, daß wir nach dem S y s t e m dieser erkenntnistheoretischen Formen fragen, sondern wir können die Scheidung nur für die besonderen Fälle vornehmen, an welche die Untersuchung uns heranführen wird. Aber es ist nötig, gleich von vorneherein darauf hinzuweisen, daß, wo wir im folgenden ohne nähere Bestimmung von Formen der wissenschaftlichen Auffassung reden, niemals die allgemeinen erkenntnistheoretischen oder „konstitutiven“, sondern nur die methodologischen, also die spezifisch geschichtswissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Formen gemeint sind, und daher der unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten schon konstitutiv geformte Stoff der Realwissenschaften, die empirische Wirklichkeit, in der methodologischen Untersuchung als Stoff schlechthin bezeichnet werden darf. Das wird besonders bei der Frage, welche Bedeutung das Kausalprinzip in der Geschichte hat, von Wichtigkeit sein. Auch dann jedoch ist der Ausdruck „Stoff“ der Geschichtswissenschaft noch nicht eindeutig. Man kann darunter nämlich sowohl d a s Material verstehen, das dem Historiker unmittelbar gegeben ist, und aus dem er seine Kenntnis der Dinge und Vorgänge schöpft, die er darstellen will, als auch diese Dinge und Vorgänge selbst, die für die Methodenlehre nur Material bilden, solange sie noch nicht die spezifisch geschichtswissenschaftlichen methodologischen Formen angenommen haben. Wir bezeichnen daher den unmittelbar gegebenen Stoff, der nicht selbst historisch dargestellt wird, als Q u e l l e n m a t e r i a l , die Dinge und Vorgänge der empirischen Wirklichkeit dagegen, welche die Geschichte wissenschaftlich darstellen will, als ihre Objekte oder, um den Gegensatz zur geschichtswissenschaftlichen methodologischen Form anzudeuten, als historisches Ta t s a c h e n m a t e r i a l , das nur allgemeine erkenntnistheoretische Formen besitzt, so daß, wenn von dem historischen Stoff im Gegensatz zur historischen Form die | Rede ist, darunter nie die bloße Quelle, aber auch nicht das schon geschichtlich aufgefaßte oder bearbeitete Objekt, sondern lediglich die individuelle geschichtliche Wirklichkeit als solche verstanden werden muß Schließlich ist mit Rücksicht auf die Terminologie noch daran zu erinnern, daß wir das Wort „Darstellung“ nicht allein für die äußere Form der Mitteilung gebrauchen, sondern auch die „Auffassung“, also das unter der Erkenntnis von „Bedeutung“ und „Zusammenhang“ der Tatsachen Gemeinte darunter verstehen. Wir können dann mit Rücksicht auf die vier angegebe-

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nen Gruppen unser Problem so formulieren, daß es sich nicht um die beiden ersten, also nicht um Heuristik und Kritik, sondern um die beiden letzten, d. h. um Auffassung und Darstellung handelt. Wie die Kenntnis der historischen Tatsachen oder der darzustellenden Wirklichkeit aus den Quellen gewonnen wird, dürfen wir unberücksichtigt lassen. So interessant es sein mag, die Technik der historischen Materialsammlung und Kritik im Einzelnen zu verfolgen, so können doch die Unterschiede, die sich hier zwischen der Methode der Naturwissenschaft und der der Geschichte finden, nicht von so prinzipieller Bedeutung für uns sein wie diejenigen, die bei der Auffassung und Darstellung des gefundenen Materials zutage treten. Zur Auffindung und Sicherung der Tatsachen ist j e d e r Weg und Umweg, falls er nur zum Ziele führt, in gleicher Weise willkommen und berechtigt, und erst dann, wenn die e i n e n Wissenschaften ihren Stoff als Natur, die a n d e r n ihn als Geschichte „auffassen“, entstehen die fundamentalen methodologischen Unterschiede. Was genauer unter „Auffassung“, und was besonders unter den vieldeutigen Ausdrücken „Bedeutung“ und „Zusammenhang“ zu verstehen ist, wird sich erst später zeigen. Hier genügt die Bemerkung, daß unser Problem bei der Frage beginnt, wie aus den gefundenen und historisch gesichteten Tatsachen Geschichte als Wissenschaft wird, oder, da wir den wissenschaftlich und insofern begrifflich geformten Stoff auch in der Geschichte einen „Begriff“ nennen, wie der Historiker aus seinem Ta t s a c h e n m a t e r i a l (nicht Quellenmaterial) seine geschichtlichen B e g r i f f e bildet. So allein entspricht unser Problem dem bei der Untersuchung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung behandelten. Man kann nun aber fragen, ob es überhaupt einen Sinn hat, auch nur begrifflich Tatsachenfeststellung und Begriffsbildung in der Geschichte voneinander zu scheiden. Sehen wir uns nämlich historische Werke daraufhin an, so scheint der Historiker oft a l l e s darzustellen, was er | von seinen realen Objekten in Erfahrung gebracht hat, ja, häufig weiß er von ihnen weniger, als er wissen möchte, und dann wird ihm nie der Gedanke kommen, daß er sein Tatsachenmaterial durch einen Prozeß der Auswahl noch zu „vereinfachen“ habe. Hat er also seine Arbeit nicht getan, wenn aus den Quellen die Tatsachen gefunden und kritisiert sind, und ist dann die Darstellung nicht nur eine Form der Mitteilung, die vielleicht Geschick und Geschmack erfordert, aber nicht als die eigentlich w i s s e n s c h a f t l i c h e Arbeit angesehen werden kann? Ja, wird nicht die treueste und wahrste historische Darstellung die sein, die sich auf die Wiedergabe des kritisch gesichteten Tatsachenmaterials ausdrücklich beschränkt und nur „idiographisch“ erzählt, „wie es eigentlich gewesen“? Bei der Naturwissenschaft mag man mit Recht fragen, was sie aus der unübersehbaren Fülle des unmit-

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telbar gegebenen realen Materials als wesentlich auswählt, und den Schwerpunkt ihrer Arbeit daher darin erblicken, daß sie ihre Begriffe richtig bildet. Die historischen Tatsachen aber, die man aus den Quellen gewonnen hat, sind nicht unübersehbar mannigfaltig, und die Probleme, die sich für die Logik der Naturwissenschaft ergaben, existieren daher für die Logik der Geschichtswissenschaften nicht. Das Auseinanderfallen von Quellenmaterial und Tatsachenmalerial scheint somit eine wesentliche logische Bedeutung zu gewinnen. In der Tat, ein einfacher Hinweis auf die unübersehbare Mannigfaltigkeit jeder empirischen Wirklichkeit genügt nicht, um das neue Problem ebenso deutlich wie das der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung hervortreten zu lassen. Zwar könnten wir sagen, daß, wenn auch nicht die Tatsachen, so doch die Q u e l l e n dem Historiker als intensiv unübersehbare Mannigfaltigkeit gegeben sind, und daß er also unter allen Umständen eines Prinzips der Auswahl bedarf, um in ihnen das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden. Aber wir würden damit allein noch nicht eine Problemstellung gewinnen, die der für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung sich ergebenden Frage parallel gesetzt werden kann, und das wäre unter logischen Gesichtspunkten ein Mangel. Die Geschichte unterscheidet sich zweifellos auch durch die Art, wie ihr die Tatsachen gegeben sind, von der Naturwissenschaft, und wir müssen daher diesen Unterschied, soweit er mit dem allgemeinsten logischen Gegensatz von Natur und Geschichte zusammenhängt, zu verstehen suchen. Der entscheidende Punkt ist dabei der folgende. Das, worin die „Natur“ der Wirklichkeit besteht, und was die Naturwissenschaft kennen | muß, um ihre allgemeinen Begriffe zu bilden, findet sich fast immer an einer Mehrheit von Objekten, und insbesondere das Material zur Entdeckung der zeitlos geltenden Naturgesetze wird an vielen Stellen vorhanden sein. Das Besondere und Individuelle dagegen, für das die Geschichte sich interessiert, ist, soweit absolut historische Begriffe in Betracht kommen, nur ein einziges Mal dagewesen, und die Kenntnis von ihm ist daher oft nur schwer zu erlangen. Daraus folgt, daß der Stoff für die naturwissenschaftliche Darstellung eines Gegenstandes vollständig vorhanden sein kann, während er für die geschichtliche Darstellung d e s s e l b e n Gegenstandes nur höchst unvollständig zu gewinnen ist. Freilich handelt es sich auch hier nicht um einen unvermittelten Gegensatz, sondern die Vollständigkeit des Stoffes ist in den verschiedenen Teilen der Naturwissenschaft verschieden groß, und zwar wird die Lückenhaftigkeit ihres Materials ungefähr in demselben Maße wachsen, in dem die relativ historischen Elemente zunehmen. Denken wir zunächst wieder an die Körperwissenschaften, so braucht die reine Mechanik, weil sie von historischen

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Elementen gänzlich frei ist, überhaupt kein anderes Material als die Anschauungen von Raum und Zeit und die an jedem beliebigen Körpervorgang zu bildenden Begriffe von Masse und Bewegung oder Kraft. Die Physik im engeren Sinne als die Lehre vom Schall, von der Wärme usw. kann eines besonderen Stoffes schon nicht entbehren, aber als eine Wissenschaft, die immer noch sehr allgemeine Begriffe bildet, findet sie ihn nahezu überall oder kann ihn wenigstens überall hervorbringen, wo ihr geeignete Apparate zur Verfügung stehen. Auch neu entdeckte physikalische Vorgänge, wie z. B. die Röntgenstrahlen, sind, sobald man nur einmal die Bedingungen ihrer Beobachtung kennt, an jedem beliebigen Ort und zu jeder beliebigen Zeit wahrnehmbar zu machen. Schon der Chemiker dagegen, der ein relativ Historisches höherer Ordnung behandelt, vermag sich, selbst wenn er mit allen Apparaten ausgerüstet ist, nicht überall gerade das Material zu verschaffen, das ihn interessiert (z. B. Radium), und vollends wird die Materialsammlung in den biologischen Wissenschaften auf Schwierigkeiten stoßen. Der Embryologe z. B. muß oft lange suchen, bis er das eine oder andere bestimmte Stadium in der Entwicklung eines Organismus erhält, das er zur Bildung eines vollständigen Allgemeinbegriffes der betreffenden Gattung braucht, und so kann bei weiterer Spezifikation die Schwierigkeit der Materialsammlung immer größer werden. Andererseits aber bleibt trotz dieser Relativität ein prinzipieller Unterschied bestehen. Wir müssen nur stets auch innerhalb der Körper- | wissenschaften, deren M a t e r i a l ein relativ historisches ist, die naturwissenschaftliche und die historische M e t h o d e der Darstellung auseinanderhalten. Lediglich in Wissenschaften wie z. B. der Paläontologie kommen „Merkmale“ von solchen Dingen in Betracht, die unzugänglich sein können, weil sie nur an e i n e r bestimmten Stelle existieren oder überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Die Körperwissenschaften aber werden hierdurch dann allein entscheidend beeinflußt, wenn sie sich Aufgaben stellen, die, wie wir gezeigt haben, unter logischen Gesichtspunkten zur Geschichte gehören, und diese Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und Geschichte der Organismen beruht so wenig auf einer bloßen logischen Konstruktion, daß ihre Verkennung sogar zu falschen Ansichten über den Wert naturwissenschaftlicher Theorien führen kann. Es ist z. B. m e t h o d o l o g i s c h falsch, wenn man von der a l l g e m e i n e n Deszendenztheorie den Nachweis des wirklichen Vorhandenseins einer lückenlosen historischen Kette der Lebewesen mit allen Zwischenformen und Uebergängen fordert. Als generalisierende naturwissenschaftliche Theorie hat sie genug getan, sobald sie zeigen kann, aus welchen Gründen überhaupt die Umwandlung einer Art in die andere angenommen werden muß, und Begriffe gebildet hat, die solche Umwandlungen als im Einklang stehend mit den übrigen Annahmen über das

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organische Geschehen erscheinen lassen. Ja, die Aufzeigung einer lückenlosen h i s t o r i s c h e n Entwicklungsreihe würde, falls die Umwandlung einer Art in die andere auch nur an einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Beispielen sicher nachgewiesen wäre, die Geltung der allgemeinen Theorie im Prinzip nicht mehr wesentlich befestigen. Diese Ansicht findet sich sogar bei Häckel, der sonst sehr geneigt ist, die Bedeutung der historischen Biologie für die naturwissenschaftlichen Probleme zu überschätzen. Er sagt: „die gefürchtete Abstammung des Menschen vom Affen – dieser wichtigste (!) Folgeschluß der modernen Entwicklungslehre – besteht auch o h n e den Schädel und Oberschenkel des fossilen Pithekanthropus ebenso sicher und klar, wie m i t demselben. Die ungleich stärkeren Beweisgründe der vergleichenden Anatomie und Ontogenie stellen jene vielbestrittene Abstammung für jeden sachkundigen und urteilsfähigen Forscher viel klarer und sicherer fest, als es eine vollständige Reihe von fossilen Zwischengliedern zwischen Menschen und Menschenaffen vermöchte“.107 Zugleich enthält dieser Satz implizite eine Scheidung der naturwissenschaftlichen von der historischen | Biologie und kann, gerade weil Häckel das klare Bewußtsein dieses Unterschiedes fehlt, zur Bestätigung unserer früheren Ausführungen dienen. Vollends sind eine Menge von anderen Problemen der naturwissenschaftlichen Biologie, z. B. die Fragen nach der Vererbung erworbener Eigenschaften, der Bedeutung der geschlechtlichen Auslese und dergleichen, durch die Kenntnis der historischen Entwicklung ihrer Lösung nicht näher zu bringen. Immer erst für die geschichtliche Darstellung kommt die Vollständigkeit der einmaligen Entwicklungsreihe in Betracht, niemals für die generalisierenden naturwissenschaftlichen Theorien. Kurz, was für die Naturwissenschaft eine Ausnahme ist, bildet für die Geschichte die Regel: vom Historischen ist sehr oft jede Spur verloren, von der Natur dagegen fast nie. Das wird aus den allgemeinen logischen Begriffen von Natur und Geschichte leicht verständlich, kann aber zugleich n u r aus ihnen begriffen werden. Daß innerhalb der naturwissenschaftlich verfahrenden P s y c h o l o g i e die Lückenhaftigkeit des Stoffes ebenfalls in demselben Maße wächst, in dem die Allgemeinheit der Theorien abnimmt, ist nicht schwer zu zeigen. Für die Psychologie, die allein das in allem Seelenleben Vorhandene darstellen will, besitzt der Psychologe an dem ihm stets zugänglichen eigenen Seelenleben ein vollständiges Material. Die notwendige Vergleichung dieses Stoffes mit dem Seelenleben anderer Menschen hat den Zweck, das rein Individuelle auszuscheiden, und daher kann man geradezu sagen, es werde 107

Aus Insulinde. Malayische Reisebriefe. Deutsche Rundschau, 1901.

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auch durch die in diesem Interesse vorzunehmenden Experimente an anderen Individuen das Material nicht durch prinzipiell neues individuelles Seelenleben vermehrt, sondern im Gegenteil so vermindert, daß nur das allen Individuen Gemeinsame zur begrifflichen Bearbeitung übrig bleibt. Von „Individual-Psychologie“ sollte man daher bei solchen Untersuchungen auch aus diesem Grunde nicht reden, da dieser Ausdruck besonders im Gegensatz zur Sozial-Psychologie zu Mißverständnissen Veranlassung geben kann. Vom Individuellen ist gerade in der sogenannten Individual-Psychologie niemals die Rede. Wird dagegen etwas relativ Historisches, wie z. B. das dem Seelenleben des Kindes allein Eigentümliche, zum Objekt, so ist der Psychologe von einem besonderen, eventuell nicht sofort zu beschaffenden Stoffe abhängig. Dabei sehen wir von der prinzipiellen Unzugänglichkeit des fremden Seelenlebens ab und beschränken uns auf die Vollständigkeit der zur psychologischen Deutung vorliegenden physischen Tatsachen. Immerhin sind Kinder, die man beobachten und | fragen kann, noch verhältnismäßig leicht zu finden. Dagegen muß, wenn die künstlerische Phantasie von Geisteskranken oder der Cäsarenwahnsinn naturwissenschaftlich generalisierend untersucht werden soll, der Umkreis des hierfür zur Verfügung stehenden Materials schon recht klein sein. Es ergeben sich also genau dieselben Verhältnisse wie bei der Darstellung der Körperwelt, d. h. je spezieller die psychologischen Theorien sind, um so weniger Stoff für die Kenntnis der gesuchten Tatsachen ist ihnen gegeben. Andererseits aber bleibt auch bei den speziellsten naturwissenschaftlich-psychologischen Theorien die Vollständigkeit des zur psychologischen Deutung notwendigen Materials im Prinzip nie ganz ausgeschlossen, denn sogar die denkbar speziellste dieser Theorien ist allgemein. Die Theorie des Cäsarenwahnsinns z. B. will niemals das nur e i n e m Seelenleben, etwa dem Neros, Eigentümliche als solches darstellen, sondern die einzelne Person kommt auch für sie als Exemplar eines allgemeinen Begriffes in Betracht. Nero würde für den Psychiater kein Interesse haben, wenn er nicht als Exemplar einer Gattung angesehen werden könnte. Münsterberg108 freilich spricht von einem „Spezialgesetz, das sich in unserer Erfahrung n u r e i n m a l betätigen k a n n “. Der Begriff eines solchen Gesetzes enthält jedoch einen logischen Widerspruch. Das speziellste Gesetz ist noch allgemein, d. h. die Vorgänge, die darunter fallen, k ö n n e n sich beliebig oft wiederholen, und so steht es auch mit allem, was die Psychiatrie von der Psychose Neros in ihre Theorien aufnimmt. Gewiß behauptet der Psychologe, der bei der Ausbildung seiner Theorie die Psychose Neros benutzt hat, die tatsächliche Existenz des von ihm verwendeten Materials 108

Grundzüge der Psychologie I, S. 113.

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mit, aber dieses Existenzialurteil, das sich auf eine einmalige individuelle Wirklichkeit bezieht, ist die stillschweigende Voraussetzung, nicht der Inhalt seiner Theorie, und „daß da etwas existierte, das in der historischen Vergangenheit n u r e i n m a l sein k o n n t e“, ist für die Richtigkeit der Theorie bedeutungslos. Münsterberg selbst sagt durchaus zutreffend, daß etwas „auszusagen sinnlos wäre, wenn es nicht das eine Mal w e n i g s t e n s wirklich war“, und dies „wenigstens einmal“ widerspricht doch gerade dem „nur einmal“. Auch mag es wohl vorkommen, daß man in der empirischen Wirklichkeit nur e i n Exemplar eines allgemeinen naturwissenschaftlichen Begriffes kennt, aber daß dieser Begriff nur für den einen Fall gelten k a n n , folgt hieraus durchaus nicht. Obwohl Münster- | berg so deutlich wie wenige gesehen hat, daß die Naturwissenschaft nur Abstraktionen gibt, hat er sich doch noch nicht ganz von dem weitverbreiteten naturwissenschaftlichen Rationalismus losgemacht. Auch er verwechselt noch Begriff und Wirklichkeit. Jedenfalls sind für den Psychiater, wenn er von Nero spricht, nur die Eigenschaften an ihm wesentlich, die zu dem allgemeinen Begriff des Cäsarenwahnsinns überhaupt gehören. Dann allein, wenn es sich um Geschichte handelt, muß, falls der zur Erschließung eines einmaligen psychischen Vorganges notwendige Stoff ganz verloren ist, eine Darstellung für immer unmöglich bleiben, und deshalb kann das, was wir von Nero wissen, obwohl es sehr lückenhaft ist, doch, wenn es nur durch Kenntnisse über andere geisteskranke Individuen ergänzt wird, für eine generalisierende naturwissenschaftliche Theorie des Cäsarenwahnsinns großen Wert haben, während für eine geschichtliche Darstellung Neros, die es mit ihm nicht als einem Gattungsexemplar, sondern als einem Individuum zu tun hat, wir viel zu wenig wissen, und da es prinzipiell unmöglich ist, die Lücken dieser historischen Kenntnis durch Kenntnisse über andere Individuen zu ergänzen, so ist es denkbar, daß ein Historiker auf die Darstellung Neros ganz verzichten zu müssen glaubt. Absolute historische Vollständigkeit des psychischen Materials kann es wegen der schnellen Vergänglichkeit des Seelenlebens eigentlich nur für die Darstellung von Menschen geben, die dem Historiker durch Antworten auf jede beliebige Frage Auskunft über jede beliebige Tatsache erteilen, und selbst dabei ist die wohl niemals vorhandene absolute Treue des Gedächtnisses vorausgesetzt. Alles andere individuelle Seelenleben jedoch, das der Vergangenheit angehört, wird dem Historiker immer nur in verhältnismäßig kleinen Bruchstücken bekannt sein, und deshalb gibt es wenige Fälle, in denen er nicht auf unsichere Vermutungen angewiesen ist oder auf die Darstellung großer Teile seines Gegenstandes von vorneherein verzichten muß. Wir sehen also ganz allgemein, wie schon bei der Materialsammlung für die Geschichte Schwierigkeiten entstehen, die die Naturwissenschaft nicht

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kennt. Wer nach der Natur forscht, hat meist mehr Stoff, als er braucht. Das ergibt sich aus dem Begriff der Natur als der Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine. Wer die Geschichte kennen will, wird meist zu wenig von ihr wissen. Das folgt aus dem Wesen der Geschichte als der Wissenschaft vom Wirklichen mit Rücksicht auf das Einmalige und Besondere. Hieraus erklärt es sich dann auch, daß in der Geschichtsforschung „Hilfswissenschaften“ existieren, deren wesent- | liche Aufgabe darin besteht, Material zu sammeln und zugänglich zu machen. Eine derartige Arbeitsteilung ist der Naturwissenschaft im allgemeinen fremd. Freilich kann sie in den Disziplinen, die es mit einem relativ Historischen höherer Ordnung zu tun haben, vielleicht einmal eintreten. Aber vorläufig werden in der Naturwissenschaft die Tatsachen meist von dem gesammelt, der sie wissenschaftlich darstellt. Kehren wir nun zu unserm Problem der historischen Begriffsbildung zurück, so verstehen wir jetzt, wie es kommt, daß die Geschichte ihre Tatsachen meist nicht wie die Naturwissenschaft direkt erfahren kann, sondern fast immer erst aus erhaltenen Spuren erschließen muß, und warum sie daher nicht ihrem Tatsachenmaterial, sondern nur ihrem Quellenmaterial als einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit gegenübersteht. In wenigen Ausnahmefällen ist der Gegenstand, f ü r den sie ihre Begriffe bildet, zugleich der, a n dem sie sie bilden kann. Gewöhnlich fallen Objekt der direkten Beobachtung und Objekt der historischen Darstellung, also Quelle und Tatsache, auseinander. Dadurch kann die Meinung entstehen, daß der Historiker von seinen Objekten a l l e s darzustellen habe, was irgendwie in Erfahrung zu bringen ist, und dann scheint kein Recht zu bestehen, die historische Begriffsbildung von der Tatsachenfeststellung auch nur begrifflich zu scheiden. Trotzdem läßt ein solches Recht sich erweisen. Zunächst freilich ergibt sich aus der Unvollständigkeit des historischen Stoffes eine neue Schwierigkeit, die den Sinn unseres ganzen Unternehmens in Frage zu stellen scheint. Es ist nämlich nicht einzusehen, warum, wenn Quellen und Tatsachen auseinanderfallen, für den Historiker immer Quellen für eine, sei es auch nur unvollständige Gewinnung gerade d e s Tatsachenmaterials vorhanden sein sollen, das ihn interessiert, und es erscheint deshalb unter logischen Gesichtspunkten als z u f ä l l i g , welche Vorgänge er darzustellen vermag. Diese Zufälligkeit aber muß der Geschichte Eigentümlichkeiten verleihen, die sich aus ihren rein theoretischen oder wissenschaftlichen Zielen nicht ableiten und somit überhaupt nicht als logisch bedingt begreifen lassen. Sie tragen dazu bei, ihr den Anschein einer ἀμέθοδος ὕλη zu geben, und dies ist auf das sorgfältigste zu berücksichtigen, wo es sich darum handelt, das Verhältnis des logischen Ideals einer geschichtlichen Darstellung zu den wirklich vorhandenen Geschichtswissenschaften zu verstehen, denn Ideal und Wirk-

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lichkeit lassen sich hier viel schwerer zur Deckung bringen, als dies bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung der Fall war. Daß aber die Aufstellung eines logischen Ideals der historischen Dar- | stellung oder Begriffsbildung überhaupt unmöglich ist, folgt daraus noch nicht. Wir dürfen nämlich, gerade weil die Lückenhaftigkeit des Stoffes sich zwar im allgemeinen aus dem logischen Begriff der Geschichte als der Wissenschaft von der einmaligen und individuellen Wirklichkeit verstehen läßt, im einzelnen aber zufällig ist, von ihr auch im einzelnen absehen und die Fiktion machen, es sei für den Historiker in einem beliebigen Falle jedes beliebige Tatsachenmaterial aus den Quellen zu gewinnen, denn zufällig könnten sich ja einmal alle hierzu erforderlichen Quellen erhalten haben. Für einen solchen denkbaren Fall stellen wir dann zunächst ein logisches Ideal auf, um hinterher, sobald es mit der Wirklichkeit verglichen werden soll, die Einschränkungen hinzuzufügen, die mit Rücksicht auf den meist vorhandenen Materialmangel notwendig sind. Darf aber diese Fiktion gemacht werden, so ist damit zugleich auch d i e für unsere Problemstellung entstandene Schwierigkeit beseitigt, von der wir ausgegangen sind. Es besitzt allerdings nur das Quellenmaterial, nicht das Tatsachenmaterial der Geschichte unübersehbare Mannigfaltigkeit, aber wenn dies lediglich eine U n v o l l s t ä n d i g k e i t des Tatsachenmaterials bedeutet, so brauchen wir, gerade weil die Lückenhaftigkeit sich in jedem besonderen Falle dem logischen Begreifen entzieht, ihr auch keinen Einfluß auf die logische Ausbildung einer Theorie der geschichtlichen Darstellung zu gewähren. Wir können vielmehr wieder dieselbe Frage stellen, die wir bei der Klarstellung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung gestellt haben: warum wird von der Geschichtswissenschaft stets nur die Darstellung eines Teiles der Wirklichkeit in seiner individuellen Gestaltung erstrebt, und welcher Teil ist dies? Soll dabei keine Willkür herrschen, so muß es ein wissenschaftliches Prinzip geben, nach dem die Auswahl erfolgt, und von diesem Prinzip ist dann die logische Struktur der historischen Darstellung und Begriffsbildung notwendig abhängig. Doch obwohl die angegebene Fiktion im logischen Interesse berechtigt ist, wird es trotzdem gut sein, hinzuzufügen, daß wir sie n u r brauchen, um unser Problem ganz a l l g e m e i n stellen zu können. Es sind fast immer auch faktisch mehr Tatsachen aus den Quellen für den Historiker zu gewinnen, als er darstellt oder in seine Begriffe aufnimmt, und deshalb ist ebenfalls ein Prinzip der Auswahl und Vereinfachung für ihn unentbehrlich. Dabei muß man freilich mehrere Fälle voneinander unterscheiden. Als selbstverständlich ergibt sich die Notwendigkeit einer Verein- | fachung durch Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, wenn Quelle und Tatsache zusammenfallen. Kann der Historiker die Menschen, die sein

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Objekt bilden, ausfragen, oder hat er es mit den unverändert erhaltenen geographischen Schauplätzen historischer Ereignisse oder mit Kulturprodukten wie Bauten, Kunstwerken, Geräten usw. nicht nur als Quellen, sondern auch als historischen Tatsachen oder Objekten zu tun, dann steht er ihnen genau wie der Naturforscher als einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit gegenüber. Ebenso weiß er von allen historischen Vorgängen, die er miterlebt hat, stets viel mehr, als er darstellen will und kann. Jeder z. B., der Bismarck selber gesehen hat, kennt eine Menge von Tatsachen über ihn, die in keine Geschichte, auch nicht in die ausführlichste Biographie gehören. Nicht viel anders steht es bei manchen geschichtlichen Vorgängen, die wir zwar nicht mehr miterlebt haben, die uns aber zeitlich nahe liegen. Auch da könnten wir aus sicheren Quellen eine Fülle von Einzelheiten erfahren, die nicht das geringste historische Interesse haben, und stets wird man dann vom Historiker verlangen, daß er das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden wisse. Daß z. B. Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte, ist ein „historisches“ Ereignis, aber es bleibt für eine politische Geschichte vollkommen gleichgültig, welche Schneider seine Röcke gemacht haben, obgleich wir wohl auch dies noch genau erfahren könnten. Und falls man hiergegen einwendet,109 daß dies Faktum zwar für eine politische Geschichte immer unwesentlich bleiben werde, in einer Geschichte der Moden oder des Schneidergewerbes oder der Preise dagegen historisch wesentlich werden könne, so ist das zwar richtig, beweist aber für das allgemeine Prinzip, um das es sich hier handelt, nichts. Für die politische Geschichte ist vielmehr gerade damit die Notwendigkeit eines Prinzips der Auswahl anerkannt, und außerdem lassen sich leicht Tatsachen nennen, die für j e d e denkbare geschichtliche Darstellung unwesentlich sind. Beispiele, die man hierfür wählt, werden freilich immer etwas „gesucht“ erscheinen, weil für vollkommen unwesentliche historische Fakten die Quellen meist verloren gehen, und niemand ein Interesse daran hat, sie in der Erinnerung aufzubewahren. Aber daß wir von einer Persönlichkeit wie Friedrich Wilhelm IV. eine Fülle von Tatsachen feststellen könnten, die unter allen Umständen historisch unwesentlich sind, sollte | man doch nicht bezweifeln. Man denke nur, ein Historiker besäße eine größere Anzahl von Briefen, die dieser König eigenhändig geschrieben hat. Wollte er da auf die Art achten, wie die Tinte vom König auf dem Papier verteilt ist, so könnte er mit der Schilderung absolut unbezweifelbarer Tatsachen aus der Vergangenheit Bände füllen, und doch würde wohl auch der speziellste Spezialist nicht behaupten, daß das noch Geschichtswissenschaft sei. Der „historische Begriff“ 109

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Wie E d u a r d M e y e r es getan hat: Zur Theorie und Methodik der Geschichte 1902. Vgl. auch meine Schrift: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. u. 7. Aufl., S. 89 f.

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des Königs kann also gewiß nicht aus a l l e m bestehen, was eventuell über ihn sicher festzustellen wäre. Anders scheint es dann zu liegen, wenn die Quellen spärlich fließen. Da wird man in der Tat unter Umständen eventuell keinen individuellen Zug fortlassen, den man nur irgend erfahren kann, ja, das Geringfügigste gewinnt hier wegen des Materialmangels eine Bedeutung, die es bei reichlich vorhandenen Nachrichten vielleicht nicht haben würde. Aber darf man wirklich sagen, daß in diesen Fällen der Historiker a l l e s darstellt, was er weiß oder wissen könnte? Das bloße Faktum bedeutet auch hier noch nichts, ja, man kann sogar von ganz „unbekannten“ Dingen immer noch viel mehr erfahren, als in die Geschichte aufzunehmen ist. Von jedem Menschen läßt sich mit Sicherheit alles das aussagen, was die Naturwissenschaft von den Körpern und die allgemeine Psychologie vom Seelenleben lehrt, und doch kümmert sich der Historiker um dieses Wissen nicht, weil er eben Wissenschaft vom Individuellen treibt. Selbst wenn also die Geschichte von ihren Objekten z u w e n i g weiß, weiß sie zugleich auch von ihnen noch z u v i e l . Sie kann sich deshalb niemals darauf beschränken, zu erzählen, „wie es eigentlich gewesen“ oder „idiographisch“ zu verfahren, sondern sie hat überall die Aufgabe, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu s c h e i d e n. Dafür aber muß es leitende G e s i c h t s p u n k t e geben, und diese sind als Prinzipien der historischen Darstellung zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen. So tritt, auch abgesehen von der im logischen Interesse berechtigten Fiktion, das Problem der historischen Begriffsbildung deutlich zutage. Haben wir nun darum aber schon ein Recht, von der historischen Darstellung als einer historischen B e g r i f f s bildung zu sprechen? Man könnte gerade auf Grund unserer früheren Ausführungen dagegen etwa folgendes einwenden. Wenn die Geschichte auch nicht a l l e Tatsachen zu berichten hat, die sie in Erfahrung bringen kann, so bleibt es doch dabei, daß sie eben diese oder jene individuellen Tatsachen als w i r k l i c h k o n s t a t i e r t , während im Gegensatz dazu die Naturwissenschaft Begriffe | bildet, die g e l t e n . Zwar hat j e d e empirische Wissenschaft es mit wirklichen Dingen und Vorgängen zu tun, insofern ihre Begriffe für die Wirklichkeit und nur für sie gelten sollen, denn wollte jemand Phantasiegebilde in ein System allgemeiner Begriffe bringen, so würde kein Mensch das Naturwissenschaft oder überhaupt Wissenschaft nennen. Aber insofern bleibt doch die generalisierende Naturwissenschaft Begriffswissenschaft im Gegensatz zur Geschichte, als nicht nur der Inhalt ihrer allgemeinen Begriffe dem Inhalte der empirischen individuellen Wirklichkeit um so weniger gleicht, je umfassender oder allgemeiner diese Begriffe werden, sondern auch insofern, als die Existenz ihrer Objekte nicht a u s d r ü c k l i c h in Urteilen hervorgehoben zu werden braucht. Sätze

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z. B. wie: es gibt wirklich eine Körperwelt, es existiert Wasser, oder es leben wirkliche Menschen, sind nicht Inhalt, sondern stillschweigende Voraussetzung der Naturwissenschaften, die von der Körperwelt überhaupt, vom Wasser oder vom Menschen handeln, d. h. gerade weil solche Urteile selbstverständlich sind, gehören sie nicht mehr in diese Wissenschaften hinein. So liegt überall in der Naturwissenschaft der Schwerpunkt in der Frage nach der Geltung der Begriffe, nicht in der Frage nach der realen Existenz der Objekte. In der Geschichtswissenschaft dagegen haben bloße Existenzialurteile eine prinzipiell andere Bedeutung. Der Historiker sagt fortwährend: dies war wirklich so, und jenes war wirklich anders, und gerade die rein tatsächliche Wahrheit solcher Urteile zu behaupten und zu begründen, ist das, worauf es ihm ankommt. Umgekehrt wie in der Naturwissenschaft liegt also hier der Schwerpunkt in der Frage nach der realen Existenz der Objekte, nicht in der Frage nach der irrealen Geltung der Begriffe, und deshalb scheint man eine historische B e g r i f f s bildung der naturwissenschaftlichen nicht parallel setzen zu dürfen. Das Wort „Begriff“ muß in der Geschichte einen ganz anderen Sinn bekommen als in der Naturwissenschaft. Was ist zu diesem Einwand zu sagen? Gewiß, ein prinzipieller Unterschied besteht, ja, unsere ganze Darstellung war bemüht, ihn nachzuweisen. Aber er kann uns trotzdem nicht daran hindern, den Prozeß, durch welchen in der Geschichte eine Auswahl des Wesentlichen vom Unwesentlichen vorgenommen wird, und der bedingt, daß eine historische Darstellung gerade aus diesen und nicht aus jenen Existenzialurteilen besteht, ebenfalls als Begriffsbildung zu bezeichnen. Bisher haben wir das Wort „Begriff“ freilich immer so gebraucht, daß es ein irreales Gebilde mit a l l g e m e i n e m Inhalt bedeutete, weil die Logik, wo sie von wissenschaftlichen Begriffen redet, | fast ausschließlich das zu berücksichtigen pflegt, worin die Eigenart des n a t u r wissenschaftlichen Begriffes besteht. Doch darin sehen wir ja gerade die Einseitigkeit, die wir überwinden wollen. Es bildet also die Geschichte zwar nicht allgemeine Begriffe wie die generalisierenden Disziplinen, aber sie kann andererseits ebensowenig wie die Naturwissenschaft ihre realen Objekte, z. B. Cäsar oder den Dreißigjährigen Krieg oder die Entstehung der Rittergüter oder die niederländische Malerei selbst in ihre Darstellung aufnehmen, sondern sie muß „Gedanken“ v o n Cäsar oder v o n der Entstehung der Rittergüter bilden, die gelten, also irreal sind, und da diese Gedanken sich inhaltlich niemals mit den unübersehbar mannigfaltigen wirklichen Vorgängen genau decken, so sind auch sie, obwohl sie keinen a l l g e m e i n e n Inhalt haben, doch „Begriffe“ in dem Sinn, daß in ihnen das für die Geschichte Wesentliche aus der Wirklichkeit herausgehoben und zusammengefaßt wird, ebenso wie die Naturwissenschaft Begriffe bildet, indem sie das für sie Wesentliche aus der Wirklichkeit heraushebt und zusammenfaßt.

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Selbstverständlich sind ferner die historischen Begriffe ihrem Gehalt nach erst dann ausdrücklich zu denken, wenn man sie in Existenzialurteile auflöst, die von den durch sie dargestellten Dingen und Vorgängen erzählen, aber die Umsetzung in Urteile ist, wie wir gezeigt haben, auch beim Denken des Gehaltes der naturwissenschaftlichen Begriffe notwendig, und so besteht in dieser Hinsicht ebenfalls kein prinzipieller Unterschied. Handelt es sich in dem einen Falle um Urteile, die mit Rücksicht auf den Zweck der Naturwissenschaft, das Allgemeine zu erfassen, gebildet sind, in dem andern Falle dagegen um Urteile, die von der besonderen und individuellen Wirklichkeit berichten, so tritt darin eben nur der Unterschied der naturwissenschaftlichen und der historischen Darstellung überhaupt zutage. Den Terminus „Begriff“ wollen wir in seiner weitesten Bedeutung gerade von diesem Unterschied freihalten; wir verwenden ihn für jedes logische Gebilde, dessen Gehalt die gültige Erkenntnis der Objekte in sich schließt. Nur so kommen wir zu einer wahrhaft umfassenden und allseitigen Theorie der Begriffsbildung, und deshalb bleibt es im logischen Interesse gerechtfertigt, die Gebilde, in denen das historische Wesen der Wirklichkeit individualisierend erfaßt ist, ebenso Begriffe zu nennen wie die Gebilde, in denen die allgemeine Natur der Dinge ihren Ausdruck findet. In diesem Sinne muß a l l e s wissenschaftliche Denken sich in „Begriffen“ bewegen, die individualisierende Geschichte nicht weniger als die generalisierende Naturwissenschaft. | Abgesehen von dem Gebrauch dieser nicht üblichen Te r m i n o l o g i e liegt jedoch nichts uns ferner, als eine noch niemals angewendete n e u e Methode der historischen Darstellung zu erfinden und sie im Gegensatze zu dem jetzt gebräuchlichen Verfahren als die einzig berechtigte hinzustellen. Wir sind vielmehr, ebenso wie bei der Untersuchung der Naturwissenschaft, von der Absicht geleitet, die wirklich ausgeübte wissenschaftliche Tätigkeit des Historikers zu verstehen, d. h. die logische Struktur kennenzulernen, die j e d e historische Darstellung zeigen muß. Ein anderes Verhältnis sollte die Logik zur empirischen Forschung nie haben. Höchstens kann die Besinnung auf die logischen Besonderheiten einer Untersuchung mit dieser selbst Hand in Hand gehen und sie dadurch zielbewußter gestalten. In den bei weitem meisten Fällen aber sind die Wissenschaften bis zu einem hohen Grade ausgebildet, ehe die Reflexion auf ihre logische Struktur beginnt. Sogar wenn die Erkenntnistheorie nach der Begründung gewisser letzter „Voraussetzungen“ der Wissenschaft fragt und dabei deren Geltung in dem philosophisch berechtigten Interesse möglichst großer Voraussetzungslosigkeit problematisch zu machen sucht, läßt sie die Bedeutung der Wissenschaften in ihrer Eigenschaft als empirischer Spezialforschungen ganz aus dem Spiel, so daß sie auch dann nicht den Anspruch erhebt, führend der Wissenschaft die Wege zu weisen, sondern nur verstehend ihr folgen will.

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Dies kann so selbstverständlich erscheinen, daß es nicht gesagt zu werden brauchte. Aber gerade die Logik der Geschichtswissenschaften hat Grund, das Selbstverständliche zu betonen. Noch immer nämlich ist es an der Tagesordnung, die Geschichte durch Anpreisung einer von ihr niemals gebrauchten Methode endlich „zum Range einer Wissenschaft zu erheben“. Wenn solche Versuche nach einer Zeit, in der die historischen Wissenschaften es zu einer ungewöhnlichen Höhe gebracht haben, schon an sich etwas wunderlich und außerdem recht rückschrittlich erscheinen, weil dabei immer auf Gedanken einer glücklich überwundenen, spezifisch unhistorischen oder antihistorischen Philosophie früherer Zeiten zurückgegriffen wird, so ist es noch besonders erstaunlich, daß die „modernen“ methodologischen Konstruktionen nicht etwa von spekulativen, die Erfahrung verachtenden Metaphysikern ausgehen, sondern entweder von Philosophen, die sich auf ihre enge Fühlung mit den Erfahrungswissenschaften etwas zugute tun, oder gar von Historikern selbst, die ihre Abneigungen gegen philosophische Konstruktionen nicht genug hervorheben können. Man versteht von hier aus, daß andere | Historiker dadurch gegenüber a l l e n methodologischen Untersuchungen mißtrauisch geworden sind, und man wird vielleicht, da schon die bescheidene Erfahrungsphilosophie solche abenteuerlichen Blüten wie die „neue historische Methode“ zeitigt, noch Schlimmeres von einer Logik erwarten, die ausdrücklich hervorhebt, daß sie zuerst „bloß formal“ verfahren will, und die sich außerdem noch in den Dienst einer idealistischen Weltanschauung stellt. Deshalb weisen wir von vorneherein darauf hin, daß es Naturalisten und angeblich Empiristen sind, die dem Verständnis der vorhandenen historischen Wissenschaften fern genug stehen, um eine „neue“ historische Methode zu fordern, daß dagegen die Logik, wie wir sie hier treiben, nichts in Bereitschaft halten kann, wodurch eine neue Aera der historischen Forschung herbeigeführt werden soll. Sie will das logische Wesen d e r Geschichtswissenschaft verstehen, die wirklich existiert, denn nur so kann sie die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauungslehre würdigen. Das heißt selbstverständlich nicht, daß die Logik der Geschichte das Verfahren eines einzelnen Historikers, wie etwa das Rankes, oder die besondere Methode einer sogenannten „alten Richtung“ für alle Zeiten als gültig festlegen und die Einführung neuer „Gesichtspunkte“ in die Geschichtswissenschaft für ungerechtfertigt erklären will, denn dies wäre ein ebenso hoffnungsloser Versuch, die Wissenschaften zu meistern, wie die Proklamierung einer wissenschaftlichen Universalmethode oder das Unternehmen, die Werke Rankes aus der Wissenschaft hinauszuweisen. Im Gegenteil, unser Begriff der Geschichte muß so allgemein und umfassend sein wie unser Begriff der Naturwissenschaft. Auch die „modernsten“ Bestrebungen, wie z. B. die der

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Wirtschaftsgeschichte, der „Kulturgeschichte“, der geographischen und der „materialistischen“ Geschichtsauffassung, darf er nicht ausschließen, sondern auch sie hat er logisch zu verstehen. Aber gerade deswegen bleibt es von vorneherein unmöglich, daß wir zu Resultaten kommen, die auf die Geschichte, wie Ranke oder andere Vertreter der „älteren“ Richtung sie geschrieben haben, nicht passen. Wir glauben vielmehr, zeigen zu können, daß die in Wahrheit neuen Gesichtspunkte in der Geschichtswissenschaft, wie z. B. die größere Berücksichtigung des wirtschaftlichen Lebens, gegen die die Logik nicht das geringste einwenden kann, weil sie hier überhaupt kein Urteil besitzt, die Einführung eines neuen M a t e r i a l s , nicht die Einführung einer neuen M e t h o d e bedeuten, und daß auch die in der Theorie radikalsten Vertreter der „neuen Methode“, solange sie nur überhaupt Geschichte schreiben, in der Praxis stets, wenn auch ohne es | zu wissen, nach der Methode arbeiten, die immer von der Geschichte angewendet ist und so lange angewendet werden wird, als es Geschichtswissenschaft gibt. Etwas anderes ist freilich ebenfalls zu betonen, das vielleicht als eine Einschränkung des soeben Gesagten angesehen werden wird. Erstreben wir nämlich auch als R e s u l t a t der Untersuchung „nur“ eine Uebereinstimmung der logischen Theorie mit der Methode der wirklich vorhandenen historischen Wissenschaften, so kann deshalb der We g , auf dem wir zu den für das logische Verständnis der Geschichtswissenschaft brauchbaren Begriffen gelangen, nicht in einer bloßen A n a l y s e der vorgefundenen wissenschaftlichen Tätigkeit bestehen. Ja, wir glauben sogar, daß eine Untersuchung, welche mit solcher Analyse b e g i n n e n wollte, niemals zu Ergebnissen von logischer Bedeutung gelangen würde. Wir haben den Grund dafür in der Einleitung schon angedeutet. Wenn keine Wissenschaft in einer Beschreibung als einer bloßen Wiedergabe ihres Materials besteht, so kann schon aus diesem Grunde auch die Logik nicht bloße „Beschreibung“ sein. Sind doch die Wissenschaften selbst ein Stück der historischen Wirklichkeit, das, wie wir wissen, sich ohne ein Prinzip der Auswahl gar nicht beschreiben läßt. Der Begriff der „reinen Induktion“, wie das noch immer nicht verschwundene Schlagwort lautet, ist in Wahrheit das Ideal einer rein deduktiv verfahrenden, radikal „empiristischen“ Spekulation, die mit dem wirklichen wissenschaftlichen Denken keine Berührungspunkte mehr hat, und der Versuch, in der Logik rein induktiv vorzugehen, muß vollends unfruchtbar bleiben. Der Grund dafür liegt nahe. Wie will man die Struktur der Wissenschaften einfach ablesen, wo es sich um die Klarlegung zweier logisch, also formal einander entgegengesetzter Methoden handelt? Die Teilung der wissenschaftlichen Arbeit knüpft ja zuerst nicht an logische, sondern an inhaltliche Unterschiede des Materials an, und diese müssen sich notwendig in den

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Vordergrund drängen, sobald der Versuch gemacht wird, die verschiedenen Wissenschaften „induktiv“ zu beschreiben. Deshalb kann man die logischen Gegensätze, um sie überhaupt sichtbar zu machen, z u n ä c h s t nur formal, ohne Rücksicht auf die vorliegenden Einzelwissenschaften, in ihrer elementarsten Gestalt konstruieren. Formale Konstruktionen dieser Art finden wir denn auch bei Männern der Einzelwissenschaften, die sich über die Methode ihrer Arbeit klar zu werden versuchten. Boeckh110 z. B. sagt im Zusammenhang | mit seiner bekannten Definition der Philologie als der „Erkenntnis des Erkannten“: „Es war notwendig, erst einen unbeschränkten Begriff von der Philologie aufzustellen, um alle willkürlichen Bestimmungen zu entfernen und das eigentliche Wesen der Wissenschaft zu finden.“ So versuchen auch wir hier, es zu machen, und haben ein Recht dazu, wenn wir nur immer daran denken, daß, um wieder Worte Boeckhs zu gebrauchen, „je unbeschränkter der Begriff ist, desto mehr die Beschränkung in der Ausführung geboten sein muß“. In den a l l g e m e i n e n Teilen der Logik ist man an ein solches Verfahren als an etwas Selbstverständliches gewöhnt. Nur, wo die Methodenlehre sich spezielleren wissenschaftlichen Formen zuwendet, finden wir oft, daß von Anfang an der Inhalt der behandelten Wissenschaften die Hauptrolle spielt. Solche Untersuchungen geben dann aber mehr einen enzyklopädischen Ueberblick über die verschiedenen Disziplinen als eine Entwicklung logischer Begriffe, und gerade diesen enzyklopädischen Charakter, den z. B. große Teile der „Logik“ von Wundt zeigen, suchen wir im folgenden, ebenso wie bei der Darstellung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, sorgfältig zu vermeiden, um wirklich eine l o g i s c h e Methodenlehre der historischen Begriffsbildung zustande zu bringen. Das empirische Material kann immer nur als Beispiel zur Verdeutlichung eines vorher festgestellten logischen Prinzipes auftreten, und auch das darf niemanden stören, daß die zuerst rein formal entwickelten logischen Prinzipien später eingeschränkt werden müssen, sobald es gilt, sie auf die wirklich ausgeübte wissenschaftliche Praxis anzuwenden. Die vorhandenen Wissenschaften gehen als historische Fakta in kein Schema restlos ein. Um so mehr bedürfen wir der allgemeinen logischen Schemata, um die logische Struktur der Wissenschaften zu verstehen und die verschiedenen logischen Bestandteile begrifflich voneinander zu sondern, die in ihnen faktisch zusammengehen. Hierzu kommt noch ein anderer Grund, der uns veranlaßt, zunächst formal oder „deduktiv“ zu verfahren. Wo die Wissenschaftslehre mit vorher festgestellten Begriffen an ihre Arbeit gegangen ist, war sie sich dessen meist nicht bewußt, sondern faßte das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonde110

Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, 1877. S. 20 f.

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ren, als verstehe sich das von selbst, so auf, daß sie allein die Unterordnung des Besonderen unter den allgemeinen Begriff berücksichtigte. Infolgedessen paßte lediglich die naturwissenschaftliche Begriffsbildung in ihr Schema. Für alles andere war sie so gut wie blind, oder sie versuchte, alles in ihr Schema zu pressen. Gerade durch unser | bewußt deduktives Verfahren, das nicht nur e i n e , sondern von vorneherein a l l e denkbaren Möglichkeiten von begrifflichen Darstellungen der Wirklichkeit berücksichtigt, wollen wir diese Einseitigkeit überwinden und den tatsächlich vorhandenen Wissenschaften gerecht werden. Wir konstruieren deshalb zuerst den rein logischen Begriff einer historischen Methode und wenden ihn dann auf die empirische Wissenschaft an, d. h. wir verfahren genau umgekehrt wie die logischen Naturalisten, die zuerst reine Empirie proklamieren, um dann bei der rein spekulativen Forderung einer „historischen Wissenschaft“ anzulangen, die, falls sie die der Geschichte zufallenden Aufgaben lösen soll, niemals verwirklicht werden kann. Zunächst mag dies formale Verfahren gegenüber den Geschichtswissenschaften freilich unfruchtbarer erscheinen als gegenüber den Naturwissenschaften, denn aus Gründen, die wir kennenlernen werden, ist dem Historiker bei der wissenschaftlichen Darstellung seines Materials ein größerer Spielraum für die Betätigung individueller Eigenarten gegeben, die sich auf logische Formeln überhaupt nicht bringen lassen. Ignorieren wir alles dieses und sehen zugleich von jedem besonderen Inhalt der Wissenschaft ab, so wird man vielleicht von der historischen Tätigkeit im A n f a n g unserer Untersuchung nichts zu finden glauben. Aber das ist noch kein Einwand gegen unsere Aufstellungen, und es widerspricht ihrem Zwecke auch nicht, falls selbst d i e Historiker ihre Richtigkeit bestreiten sollten, die ebenso wie wir von einer „neuen Methode“ nichts wissen wollen. Die Männer der Spezialwissenschaft brauchen, wenn sie die historische Methode mit Sicherheit anwenden, die logischen Eigentümlichkeiten ihres Verfahrens sich nicht klar gemacht zu haben. Auch die Anhänger der „alten Richtung“ werden oft mit vielen, ihnen nicht ausdrücklich zum Bewußtsein gekommenen Voraussetzungen arbeiten, wie es die Anhänger der „neuen Richtung“ und der angeblichen neuen Methode immer tun. Wollte die Logik nichts anderes feststellen als das, was jeder Historiker bereits weiß, so hätte sie keinen Zweck. Vor allem aber ist im Auge zu behalten, daß eine logische Untersuchung nicht alles auf einmal sagen kann, und man wird daher gut tun, sein Urteil darüber, ob hier wirklich das zum Ausdruck gebracht ist, was jeder Historiker tut, bis zum Ende der Darlegung zu suspendieren. Bei der Entwicklung der logischen Schemata muß zuerst einmal auch hier wieder ü b e r t r i e b e n werden. Die nötigen Einschränkungen werden dann schon folgen.

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Wem es schwer werden sollte, in der notwendigerweise etwas dünnen | Luft solcher logischen Gedankengänge zu atmen, der möge daraus nicht der Logik einen Vorwurf machen. Sie behandelt ihre Probleme nur um ihrer selbst willen, nicht um dem Mann der Einzelwissenschaften zu zeigen, wie er es bei seiner Arbeit halten solle. Wenn er nicht ohne logische Theorie schon das Richtige tut, dann wird er aus der Wissenschaftslehre nichts lernen. Ergibt sich aus dem Zusammenhang des Ganzen trotzdem etwas auch für den Spezialforscher Wertvolles, so ist das natürlich erfreulich, aber es bleibt doch im logischen Interesse nur ein Nebenerfolg. Die Logik hat zunächst für die Logik zu arbeiten. Deshalb gehen wir auch hier wieder von ganz allgemeinen und abstrakten logischen Begriffen aus, um sie Schritt für Schritt immer mehr zu determinieren und so schließlich bei dem Begriff der wirklich ausgeübten Geschichtswissenschaft anzukommen. Wer in solchen Determinationen Abschwächungen, Zugeständnisse, Inkonsequenzen oder dergleichen erblickt, hat sich den Sinn, den allein eine Logik der Geschichte haben kann, noch nicht klar gemacht. Daran mußte hier noch einmal erinnert werden.

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Das Historische in seiner weitesten Bedeutung, in der es mit dem einmaligen, überall individuellen, empirisch wirklichen Geschehen selbst zusammenfällt, bildet, wie wir gesehen haben, die Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sowohl durch seine Anschaulichkeit als auch durch seine Individualität. Nun kann die empirische A n s c h a u u n g der Realität von keiner Wissenschaft dargestellt werden, denn sie bleibt unter allen Umständen unübersehbar mannigfaltig und geht deshalb in keinen Begriff ein. Anders dagegen steht es mit der I n d i v i d u a l i t ä t . Wenn sie uns auch anschaulich gegeben ist, so folgt daraus noch nicht, daß sie mit der Anschauung i d e n t i s c h bleiben muß. D a s P r o b l e m d e r h i s t o r i s c h e n Begriffsbildung besteht demnach darin, ob eine wissens c h a f t l i c h e B e a r b e i t u n g u n d Ve r e i n f a c h u n g d e r a n s c h a u l i c h e n W i r k l i c h k e i t m ö g l i c h i s t , o h n e d a ß i n i h r, w i e i n d e n Begriffen der Naturwissenschaft, zugleich auch die Indiv i d u a l i t ä t v e r l o r e n g e h t , und trotzdem nicht eine bloße „Beschreibung“ von Tatsachen entsteht, die sich als wissenschaftliche Darstellung noch nicht | ansehen läßt. Wir müssen mit andern Worten jetzt fragen: können aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des anschaulichen Inhaltes der Wirklichkeit bestimmte Bestandteile so herausgehoben und zu wissen-

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schaftlichen Begriffen so zusammengeschlossen werden, daß sie nicht das einer Mehrheit von Dingen und Vorgängen Gemeinsame, sondern das nur an e i n e m Individuum Vorhandene darstellen? So allein werden Begriffe mit individuellem Inhalt zustandekommen, die auf den Namen historischer Begriffe Anspruch haben. Daß bloße Beschreibungen individueller Tatsachen, die selbstverständlich jederzeit m ö g l i c h sind, noch nicht diesen Namen verdienen, muß sich schon aus dem Bisherigen ergeben. Wir wollen ja nur d a s „Begriff“ nennen, worin eine wissenschaftliche Darstellung ihren Abschluß findet. Wir fragen also, sind etwa individuelle Begriffe logisch ebenso unmöglich, wie anschauliche Begriffe es sein würden? Selbstverständlich bestreiten wir die Unentbehrlichkeit eines A l l g e m e i n e n für jede wissenschaftliche Begriffsbildung nicht. Schon der flüchtige Blick auf eine geschichtliche Darstellung zeigt, daß auch sie fast durchweg aus Worten besteht, welche a l l g e m e i n e Bedeutungen haben, und das kann nicht anders sein, denn nur solche Worte sind allen verständlich. Zwar finden sich daneben Eigennamen, und diese scheinen eine Ausnahme zu bilden. Sie bedeuten aber ohne weitere Angabe ihres Sinnes nur für den etwas, der das damit bezeichnete Individuum aus der Anschauung kennt und in der Erinnerung zu reproduzieren vermag. Die Kenntnis solcher individueller A n s c h a u u n g e n darf der Historiker niemals voraussetzen, und falls er selbst sie besitzen sollte, was dann allein möglich ist, wenn Tatsachenund Quellenmaterial zusammenfallen, kann er sie doch nur so auf einen andern übertragen, daß er ihren Inhalt mit Hilfe von allgemeinen Wortbedeutungen angibt. Es dürfen also auch die Eigennamen in einer historischen Darstellung nur als Stellvertreter für einen Komplex von Worten mit allgemeiner Bedeutung auftreten, denn erst dann ist die Darstellung für jeden verständlich, der sie hört oder liest. Ja, wir müssen noch mehr sagen. Es ist nicht dieser äußerliche Umstand allein, der den Historiker zwingt, alles, was er zum wissenschaftlichen Ausdruck bringen will, mit Hilfe von a l l g e m e i n e n Begriffen darzustellen. Wir fanden früher, daß jedes Urteil eines Allgemeinen bedarf, und daß deshalb schon die Elemente, mit denen wir einen allgemeinen naturwissenschaftlichen Begriff bilden, selbst immer allgemein sind. Wenn aber dies „erste Allgemeine“, wie wir es nennen wollen, un- | entbehrlich ist für jedes logische Denken überhaupt, so kann es bei einer geschichtlichen Darstellung ebensowenig fehlen wie bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. In dem Sinne, daß die E l e m e n t e der Urteile und Begriffe allgemein sind, muß demnach j e d e s wissenschaftliche Denken ein Denken in allgemeinen Begriffen sein, und wollte man also der Geschichte die Aufgabe zuerteilen, nichts anderes als individuelle Inhalte zu geben, so wäre der Begriff der Geschichts w i s s e n s c h a f t in der Tat eine contradictio in adjecto.

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Folgt aber hieraus etwa, daß die Ve r w e n d u n g der allgemeinen Wortbedeutungen als Begriffselemente nur in der e i n e n Richtung möglich ist, die wir in der Naturwissenschaft finden? Oder anders ausgedrückt: lassen sich mit Hilfe von allgemeinen Wortbedeutungen einmalige und individuelle Vorgänge nur in der Weise „beschreiben“, daß das, was diese Beschreibungen enthalten, lediglich als M a t e r i a l für weitere begriffliche Bearbeitung gelten kann? Die Elemente wissenschaftlicher Begriffe müssen jedes für sich allgemein sein, aber wir haben früher gesehen, daß sie, für sich betrachtet, überhaupt noch keine wissenschaftlichen „Begriffe“ sind, sondern erst in ihrer Z u s a m m e n s t e l l u n g etwas für die Wissenschaften bedeuten, und diese Zusammenstellung braucht durchaus nicht immer in der Weise vorgenommen zu werden, daß dadurch wieder ein Begriff mit allgemeinem Inhalt entsteht. Sie kann vielmehr auch so erfolgen, daß der sich ergebende Komplex von allgemeinen Elementen als G a n z e s einen Inhalt hat, der sich nur an einem einmaligen und besonderen Objekt findet und also gerade das darstellt, wodurch sich dieses Objekt von allen anderen unterscheidet. Mehr als eine solche Möglichkeit aber brauchen wir nicht, um den prinzipiellen Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte auch für die Begriffsbildung aufrecht zu erhalten. Wir können ihn mit Rücksicht darauf, daß alles Denken des Allgemeinen bedarf, dann so formulieren: in der Naturwissenschaft ist das Allgemeine, das bereits in den elementarsten Wortbedeutungen vorliegt, zugleich das, was die Wissenschaft weiter auszubilden sich bemüht, d. h. ein allgemeiner Begriff, dem die Fülle des Besonderen sich unterordnen läßt, ist ihr Z w e c k . Auch die speziellsten Naturgesetze müssen immer noch für beliebig viele individuelle Dinge und Vorgänge gelten, wenn sie den Namen eines „Gesetzes“ verdienen sollen. Die Geschichte dagegen b e n u t z t zwar ebenfalls das Allgemeine, um überhaupt wissenschaftlich denken und urteilen zu können, aber es ist für sie lediglich M i t t e l , d. h. es bildet den Umweg, auf dem sie wieder | zum Individuellen, als ihrem eigentlichen Gegenstande, zurückzukommen sucht. Sie benutzt das Allgemeine ebenso, wie eine Beschreibung es benutzt, um eine rein tatsächliche individuelle Wirklichkeit darzustellen, die nicht mehr als ein wissenschaftliches Material bedeutet, und darauf allein kommt es an, das wissenschaftliche Z i e l zu verstehen, dem eine historische Darstellung des Individuellen dient. Wir wollen hier die Wissenschaften nicht mit Rücksicht auf ihre Mittel, sondern mit Rücksicht auf ihre Ziele charakterisieren. Behauptungen wie die, daß alles wissenschaftliche Denken mit Allgemeinbegriffen arbeitet, sind daher zwar unanfechtbar, in dieser Unbestimmtheit jedoch für die Frage, ob die Geschichtswissenschaft dieselben Z i e l e wie die Naturwissenschaft verfolgt, bedeutungslos. Alle

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Begriffe müssen sich in Urteile auflösen lassen, deren letzte Bestandteile gewiß allgemein sind, diese Urteile aber können in ihrer Gesamtheit sowohl etwas Allgemeines als auch etwas Einmaliges und Individuelles darstellen, und das allein ist hier wichtig. Trotzdem hat man den Umstand, daß jedes Urteil allgemeine Begriffe enthält, geradezu zum Angelpunkt der Geschichtsmethodologie machen wollen, und besonders merkwürdig ist, daß man dabei nicht etwa die Möglichkeit einer Darstellung des Individuellen überhaupt bestreitet. Diese wird vielmehr als Aufgabe der K u n s t bezeichnet. Auch die Geschichte soll dann als Darstellung des Individuellen nicht Wissenschaft, sondern Kunst sein. Die Argumentation ist wenig überzeugend, ja, sie beweist, wenn man bei Kunst an Poesie denkt, die Möglichkeit dessen, was sie bestreiten möchte. Sollte es nämlich zutreffen, daß die Poesie die Aufgabe hat, Individuelles darzustellen – eine Ansicht, von deren Untersuchung wir hier absehen –, so wird gerade dadurch die Möglichkeit einer D a r s t e l l u n g d e s I n d i v i d u e l l e n m i t H i l f e d e s A l l g e m e i n e n klar. Oder verwendet etwa die Poesie nicht allgemeine Wortbedeutungen, um jedem Leser oder Hörer verständlich zu sein? Freilich ist sie nicht Geschichte, schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil die Aussagen der Geschichte wahr sein wollen. Aber die bloße Existenz der Poesie, falls sie wirklich eine Darstellung des Individuellen wäre, würde genügen, um die angedeuteten Theorien zu widerlegen, denn ergäbe die Unentbehrlichkeit allgemeiner Wortbedeutungen für das menschliche Denken schon einen Einwand gegen die Möglichkeit einer Darstellung des Individuellen, so könnten Dichtungen, die Individualitäten darstellen, ebensowenig wie Geschichte des Individuellen bestehen. Mit dem Hinweis darauf, daß jedes Urteil allgemeine Wortbe- | deutungen enthält, sind also die Probleme der Methodenlehre nicht zu lösen. Auch der Umstand, daß die Geschichte bisweilen nicht allein elementare allgemeine Wortbedeutungen, sondern auch ausgebildete naturwissenschaftliche Begriffe benutzt, hebt ihren Charakter als Wissenschaft vom Individuellen nicht auf. Das Bedürfnis nach solchen Allgemeinbegriffen kann beim Historiker entstehen, wenn die allgemeinen Wortbedeutungen in dem früher angegebenen Sinne „unbestimmt“ sind. Ja, man könnte sogar behaupten, daß, weil die Naturwissenschaft auch den Sprachgebrauch beeinflußt, ihre Ergebnisse selbst dort auf die historischen Darstellungen einen Einfluß gewinnen, wo der Historiker sich dessen nicht bewußt ist. Wollte man freilich die vorhandene Geschichtswissenschaft auf die Spuren hin untersuchen, die von einer solchen Beeinflussung erzählen, so würde man wohl nicht viel Material zutage fördern. Aber vielleicht ist der geringe Gebrauch, den die Geschichte b i s h e r von den Ergebnissen der Naturwissenschaft gemacht

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hat, ein logischer Mangel, und auf jeden Fall läßt sich die Möglichkeit nicht bestreiten, daß in demselben Maße, in dem die Vollkommenheit gewisser naturwissenschaftlicher Allgemeinbegriffe wächst, auch die wissenschaftliche Bestimmtheit einer historischen Darstellung zunimmt. Ja, man kann eventuell die Behauptung vertreten, eine logisch vollkommene Geschichtswissenschaft solle niemals bloß elementare Wortbedeutungen, sondern n u r noch wissenschaftlich bestimmte Allgemeinbegriffe benutzen, und sie habe daher ihre Begriffs e l e m e n t e durchweg der Naturwissenschaft zu entnehmen. Jedenfalls ist eine Förderung der Geschichte durch die Naturwissenschaft im Prinzip nicht ausgeschlossen. Trotzdem brauchen wir hierbei nicht lange zu verweilen, denn, wie groß auch der Gebrauch naturwissenschaftlicher Begriffe in einer historischen Darstellung werden möge, so können sie doch, wenn mit ihrer Hilfe ein einmaliger individueller Vorgang dargestellt werden soll, an dem logischen Verhältnis von naturwissenschaftlicher und geschichtlicher Begriffsbildung nicht das geringste ändern. Sie spielen unter logischen Gesichtspunkten keine andere Rolle als die allgemeinen Begriffs e l e m e n t e überhaupt, d. h. sie sind zwar, für sich betrachtet, allgemein, aber sie bilden niemals den Zweck oder das Ziel einer historischen Darstellung, sondern nur ihr Mittel, und sie müssen sich in ihrer Gesamtheit stets wieder zu historischen Begriffen mit individuellem Inhalt zusammenschließen, falls durch sie das Ziel erreicht werden soll, das die Geschichte im Auge hat. | Unser Problem beginnt daher erst mit der Frage, welches Prinzip die historische Z u s a m m e n s t e l l u n g der Begriffselemente leitet. Geschichte kann als Wissenschaft niemals in bloßer „Beschreibung“ individueller Tatsachen bestehen. Solche Beschreibungen, wie wir sie z. B. in den Darstellungen des Mondes besitzen, und wie sie sich von jeder beliebigen individuellen Wirklichkeit geben lassen, sind „historisch“ allein in jener ersten, ganz allgemeinen Bedeutung des Wortes, in der es das Einmalige und Individuelle überhaupt bezeichnet, können aber nicht als Beispiele dienen, wo es gilt, den Begriff einer geschichtlichen W i s s e n s c h a f t klarzumachen.111 Auch in der Geschichte müssen die Elemente des Begriffes eine Einheit im Sinne der Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t bilden, falls Wissenschaft als ein in sich ruhendes oder geschlossenes Gedankengebilde entstehen soll, und auf das Band also, das die Elemente zu einem Begriff mit individuellem Inhalt zusammenschließt, kommt es für uns allein an. Erst unter diesem Gesichtspunkte kann von einer G e l t u n g der historischen Begriffe die Rede sein. 111

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Deshalb ist der Hinweis auf „Beschreibungen“ einmaliger individueller Objekte, wie sie sich als Feststellungen von Tatsachen oder als Materialsammlungen in j e d e r empirischen Wissenschaft finden können, ebenfalls kein Einwand gegen die hier entwickelte Theorie der Geschichte als Wissenschaft.

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Läßt sich ein solches spezifisch historisches Einheitsprinzip nicht finden, dann muß es bei der Behauptung bleiben, daß die Darstellung alles Individuellen als bloße Vorarbeit oder Materialsammlung für eine weitergehende, generalisierende Begriffsbildung anzusehen ist. Worin besteht also die „Einheit“ der historischen Begriffe, wenn die Zusammengehörigkeit der Begriffselemente nicht wie bei einem naturwissenschaftlichen Begriff darauf beruht, daß er allgemein für alle ihm untergeordneten Exemplare gilt? Um diese Frage prinzipiell zu beantworten, denken wir wieder an den umfassendsten Begriff des Historischen, d. h. den Begriff des realen I n d i v i d u u m s überhaupt, und zwar heben wir jetzt hervor, daß das Wort nicht nur die Bedeutung hat, die wir bisher allein berücksichtigt haben, nämlich die des Einmaligen, Besonderen und Einzigartigen, sondern zugleich die des U n t e i l b a r e n . Der Begriff der Unteilbarkeit weist auf eine E i n h e i t hin, die logisches Interesse erweckt. Wir wissen, jede Wirklichkeit muß, um einzigartig zu sein, auch zusammengesetzt sein, denn das Einfache, wie das Atom, ist individualitätslos. Deshalb liegt die Frage nahe: ist es vielleicht mehr als ein Zufall, daß mit dem Worte „Individuum“ z w e i Bedeutungen verbunden sind, die für unser | Problem des historischen Begriffes miteinander verknüpft sind, die der Einheit einer Mannigfaltigkeit im Sinne einer Zusammengehörigkeit einerseits und die der Einzigartigkeit andererseits? Es scheint doch zum mindesten auffallend, daß wir etwas, das notwendig mannigfaltig ist, zugleich ein Individuum, ein Unteilbares nennen. Hat der Ausdruck Individuum seinen Wortsinn verloren, wo man ihn zur Bezeichnung von einzigartigen Mannigfaltigkeiten verwendet, und ist nur das einfache Atom unteilbar, oder gibt es vielleicht Individuen auch in dem Sinne, daß ihre Mannigfaltigkeit w e g e n ihrer Einzigartigkeit eine Einheit im Sinne der Zusammen g e h ö r i g k e i t bildet? Wenn dies der Fall ist, dann sind hier Einzigartigkeit und Einheit einer Mannigfaltigkeit so miteinander verknüpft, wie sie auch in einem historischen Begriffe verknüpft sein müssen, damit von seiner G e l t u n g geredet werden darf. Enthält also vielleicht schon der Begriff des Individuums selbst das Prinzip, das im geschichtlichen Stoff das Zusammengehörige verbindet und damit vom bloß Zusammengeratenen scheidet? Wir suchen zuerst ganz allgemein festzustellen, ob der Begriff der Unteilbarkeit sich mit dem der Einzigartigkeit so verbinden kann, daß die Einzigartigkeit den Grund oder die Voraussetzung der Unteilbarkeit bildet. Auf diese Weise werden wir wenigstens den e r s t e n S c h r i t t auf dem Wege tun, der uns allmählich zum Begriff des historischen Individuums führen soll. Dafür, daß individuelle Gestaltungen als unteilbare Einheiten aufgefaßt werden, kann man mehrere Gründe anführen, und sie mögen alle mit dazu

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beigetragen haben, jenen Sprachgebrauch zu befestigen, der mit e i n e m Ausdruck Einzigartigkeit und Unteilbarkeit bezeichnet. So besteht die Wirklichkeit, die Material jeder empirischen Wissenschaft ist, für das entwickelte Bewußtsein aus individuellen D i n g e n , die zwar miteinander verbunden, zugleich aber auch in sich abgeschlossen sind, denn jedes Ding ist ein „Ding“ allein dadurch, daß es die Einheit eines Mannigfaltigen darstellt. Kann also etwa schon die Dinghaftigkeit die von uns gesuchte Einheit der Unteilbarkeit sein? Wenn wir zunächst nur an K ö r p e r denken, so ist die Frage ohne weiteres zu verneinen. Die Einheit des physischen Dinges ist nicht individuell. Die Synthese der Mannigfaltigkeit, die wir Ding nennen, verträgt sich mit den allerverschiedensten individuellen Inhalten, d. h. niemals hört durch Teilung ein körperliches Ding auf, dinghaft zu sein, sondern es werden zwei oder mehrere Dinge daraus. Und umgekehrt kann man durch Zusammensetzung mehrerer Dinge ein neues Ding | bilden, das wiederum neu nur durch den Komplex seiner Eigenschaften, nicht aber wegen seiner Dinghaftigkeit ist. Wenn also durch Teilung oder durch Vereinigung mit andern Dingen ein Ding zwar aufhört, dieses individuelle Ding zu sein, aber die Einheit an ihm, die in der Dinghaftigkeit als solcher steckt, sich mit jedem beliebigen individuellen körperlichen Sein verbinden kann, so liegt in ihr auch nichts, was für unsern Zweck von Bedeutung wäre. Wo wir einen Körper als Individuum auffassen, kann das nicht allein auf seiner Dinghaftigkeit beruhen. Diese bildet gewissermaßen nur den allgemeinen Rahmen für eine individuelle Einheit überhaupt. Die Zusammengehörigkeit der Mannigfaltigkeit eines körperlichen Dinges also muß in einem anderen Prinzip als in ihr gegründet sein. Wie aber steht es mit der Verbindung von Einheit und Einzigartigkeit bei den Dingen, in die das p s y c h i s c h e Leben sich gliedert? Sind die „Seelen“ nicht noch in ganz anderer Weise unteilbar als die Körper, und ist ihre Einheit nicht untrennbar mit ihrer Einzigartigkeit verknüpft? Hier liegen doch die Teile nicht nebeneinander, und von faktischer Teilbarkeit, die sofort deutlich macht, wie die nicht-individuelle Einheit sich mit jedem beliebigen individuellen Teilinhalt verbindet, kann hier nicht in der Weise die Rede sein wie bei körperlichen Dingen. Auch mag der Gedanke der Einheit, der in dem Worte Individuum zum Ausdruck kommt, sich besonders auf die unteilbare Seele beziehen, und jedenfalls ist es sicher, daß wir Seelen lieber Individuen nennen als Körper. Dieser Umstand ist für uns von Bedeutung, da seelisches Leben vorwiegend das Objekt historischer Darstellung bildet. Wir müssen also feststellen, ob im Psychischen als solchem schon die gesuchte Einheit der einzigartigen Mannigfaltigkeit steckt, oder ob nicht die Möglichkeit vorliegt, auch hier

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begrifflich sowohl die Einheit der Seele von ihrem individuellen Inhalt zu trennen, als auch diesen individuellen Inhalt wiederum so geteilt zu denken, daß dann ebenfalls die Einheit sich von der Einzigartigkeit loslösen läßt. Greifen wir auf die Kritik der Ansichten zurück, die prinzipielle methodologische Unterschiede zwischen Körper- und Geisteswissenschaften daraus ableiten wollen, daß das körperliche Sein aus Objekten, das seelische Sein dagegen aus Subjekten besteht. So werden wir sehen, ob im Begriff des Subjekts vielleicht die gesuchte Einheit des Individuums steckt. Wir haben zwischen einem psychologischen und einem erkenntnistheoretischen Subjekt unterschieden, und selbstverständlich | kann an der Einheit des erkenntnistheoretischen Subjekts nicht gezweifelt werden. Aber offenbar ist es allein die Einheit des psychologischen Subjekts, welche für die Geschichte in Frage kommt, denn nur diese ist individuell, und außerdem muß der Historiker ebenso wie der Psychologe sein Material, um es darstellen zu können, objektivieren. Bedeutet also die Einheit des Subjekts soviel wie Einheit des Bewußtseins, so finden wir, daß diese Einheit mit der Einheit der psychischen Individualität wieder nichts zu tun hat. Sie gehört allein d e m Subjekt an, das seinem Begriffe nach niemals Objekt, niemals individuell und überhaupt niemals Material einer empirischen Wissenschaft sein kann. Von der Einheit des erkenntnistheoretischen Subjekts oder des „Bewußtseins überhaupt“ haben wir also hier ebenfalls abzusehen. Einer vollkommenen Scheidung der beiden Subjekte, des empirischen und des erkenntnistheoretischen, steht allerdings eine Schwierigkeit im Wege. Wir können die Objektivierung unseres eigenen realen Seelenlebens niemals so vornehmen, daß alle Teile zu gleicher Zeit zu Objekten werden. Das erkenntnistheoretische Subjekt bleibt faktisch stets mit einem Teile des psychologischen Subjekts gewissermaßen verbunden, und deshalb scheint auch die überindividuelle erkenntnistheoretische Einheit des „Bewußtseins überhaupt“ mit dem individuellen psychologischen Subjekt untrennbar verschmolzen zu sein. Dies aber kann uns nur veranlassen, die faktische und die begriffliche Trennbarkeit der beiden Subjekte auseinanderzuhalten, und sobald das geschieht, enthält die Mannigfaltigkeit des individuellen Seelenlebens jedenfalls begrifflich von der Einheit des erkenntnistheoretischen Bewußtseins nichts. Wir können sogar sagen, daß auch faktisch unser gesamtes individuelles Seelenleben von dem erkenntnistheoretischen Subjekt zu trennen ist. Der Teil des psychologischen Subjekts, der mit dem erkenntnistheoretischen verschmolzen bleibt, ist nämlich variabel, und es steht prinzipiell nichts dem Versuch entgegen, ihn so variieren zu lassen, daß schließlich j e d e r Teil unseres individuellen Seelenlebens einmal objektiviert und damit vom erkenntnistheoretischen Subjekt losgelöst wird. So können wir auch im psychologischen Subjekt die Einheit der Bewußtheit ebenso vollständig

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von der Mannigfaltigkeit der empirischen Seele trennen wie bei einem Körper die Einheit des Dinges von der Mannigfaltigkeit seiner Eigenschaften, und in beiden Fällen ist es daher ausgeschlossen, daß die Einheit mit der Individualität s o verknüpft ist, daß sie auf ihr beruht. Doch selbst wenn wir vom erkenntnistheoretischen Subjekt absehen | und daran festhalten, daß die erkenntnistheoretischen Synthesen des Psychischen für unsern Zweck von keiner anderen Bedeutung sind als die erkenntnistheoretischen Synthesen des Physischen, scheint trotz dieser Koordination der beiden realen Gebiete, in welche die empirische Sinnenwelt zerfällt, auch die objektivierte psychische Mannigfaltigkeit einer Seele in ganz anderer Weise eine Einheit zu bilden als die Mannigfaltigkeit eines Körpers. Zwar kann man nicht leugnen, daß jedes individuelle Seelenleben sich faktisch fortwährend verändert, d. h. gewisse Bestandteile verliert und durch andere Bestandteile bereichert wird. Aber man wird trotzdem meinen, diese Teilbarkeit und Veränderung habe eine Grenze, und der eigentliche individuelle „Kern“ einer Seele bilde stets ein einheitliches Ganzes, einen notwendigen Zusammenhang, der von dem Zusammenhange körperlicher Wirklichkeiten prinzipiell verschieden sei. Die psychische Individualität wäre danach gewissermaßen als das unteilbare Zentrum der Seele aufzufassen, und nur an der Peripherie spielten sich die Prozesse der Veränderung ab. Hier wäre dann die Einzigartigkeit wirklich mit der Unteilbarkeit verbunden, und auf eine P e r s ö n l i c h k e i t paßte das Wort Individuum in seinen b e i d e n Bedeutungen. Wir werden damit vor die Frage gestellt, was diese Scheidung von einheitlichem Zentrum und veränderlicher Peripherie im objektivierten Dasein einer „Seele“ für unser Problem zu bedeuten hat. Die Entscheidung darüber ist für uns um so wichtiger, als von verschiedenen Seiten, besonders von Dilthey, in immer höherem Maße die Einheit eines seelischen „Strukturzusammenhanges“ betont worden ist, und als man geradezu den Versuch gemacht hat, von dem Begriffe eines solchen Strukturzusammenhanges aus das Wesen der „Geisteswissenschaften“ und damit auch das der Geschichte zu verstehen. Es kann, solange man von Realitäten redet, mit dem Strukturzusammenhang nichts anderes gemeint sein als ein beständiger Kern des Seelenlebens, der die eigentliche reale Individualität bildet, im Gegensatze zu den veränderlichen Bestandteilen, die für die Geschichte unwesentlich sind. Der Kern einer wirklichen psychischen Mannigfaltigkeit, der das Wesentliche im Gegensatz zum Unwesentlichen enthält und es damit gestatten würde, die wesentlichen Bestandteile in einer Individualität als notwendig zusammengehörig von den unwesentlichen zu trennen, läßt sich nun aber in verschiedener Weise auffassen. Es ist möglich, ihn als a b s o l u t unverän-

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derliche Realität von den empirisch konstatierbaren psychischen Vorgängen prinzipiell zu unterscheiden, so daß man | ihn als transzendente Wesenheit der wechselnden „Erscheinung“ des Seelenlebens gegenüberstellt und zugrundelegt. Die Frage, mit welchem Recht eine solche jenseits der Erfahrungswelt liegende, also metaphysische individuelle Seele angenommen wird, dürfen wir hier jedoch unerörtert lassen, da, selbst wenn es sie geben sollte, sie doch ebensowenig wie das erkenntnistheoretische Subjekt zum Material einer e m p i r i s c h e n Wissenschaft gerechnet werden könnte. Die für die Geschichte in Betracht kommende Einheit des Seelenlebens darf allein innerhalb der empirisch konstatierbaren psychischen Vorgänge gesucht werden, und eine solche reale Einheit hat man auch wohl überall gemeint, wo sie die Grundlage für eine Behandlung der geschichtlichen Methode abgeben sollte. Ja, es wird auf sie geradezu als ein unmittelbares „Erlebnis“ hingewiesen. Zweifellos läßt sich nun in diesem unmittelbar erlebten Zusammenhang ein Unterschied von Zentrum und Peripherie feststellen und so ein Individuum konstatieren, dessen Bestandteile notwendig zusammengehören. Wenigstens bei entwickelten und uns bekannten Menschen werden wir überall die zufälligen von den zusammengehörigen Bestandteilen trennen, also einen individuellen Kern aus der Gesamtheit des Seelenlebens herausheben, in dem für uns die eigentliche „Person“ des betreffenden Menschen steckt. Es scheint demnach so, als ob ein Unterschied zwischen physischen und psychischen Mannigfaltigkeiten auch mit Rücksicht auf die Verbindung von Einzigartigkeit und Unteilbarkeit bestehe. Die Mannigfaltigkeit jedes Körpers wäre danach zwar einzigartig, aber teilbar. Die Mannigfaltigkeit jeder Seele dagegen wäre nicht nur einzigartig, sondern auch einheitlich, und Seelen wären also in prinzipiell anderer Weise In-dividuen als Körper. Ja, uns ist sogar früher bereits eine Tatsache begegnet, die diese Ansicht zu bestätigen scheint. Wir mußten uns erst ausdrücklich zum Bewußtsein bringen, daß auch jeder Körper ein „Individuum“ darstellt. Die Verwendung dieses Ausdruckes zur Bezeichnung einer Nuß oder eines Stückes Schwefels klang paradox, während alle Persönlichkeiten sich ohne weiteres so bezeichnen lassen. Beruht das nicht vielleicht darauf, daß ein Körper kein unteilbares Individuum ist, sondern immer erst bei Seelen mit der Einzigartigkeit sich die Einheit der Unteilbarkeit verknüpft? Es soll nicht geleugnet werden, daß in der Tat das Widerstreben, jeden beliebigen Körper ein Individuum zu nennen, zum Teil darauf zurückzuführen sein mag, daß ihm die Einheit der individuellen Mannigfaltigkeit seines Inhaltes fehlt, und wir würden auch gern zustimmen, | daß der unmittelbar erlebte Strukturzusammenhang es ist, der die eigentümliche Einheit der Individualität herstellt, wenn wir nur einsehen könnten, wie gerade

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d i e s e Einheit mit der unwiederholbaren E i n z i g a r t i g k e i t verknüpft sein soll. Der reale p s y c h i s c h e Strukturzusammenhang muß doch bei j e d e r Persönlichkeit d e r s e l b e sein, solange er nur im Allgemeinen als Strukturzusammenhang überhaupt in Betracht kommt. Es wird ja gesagt, daß j e d e s Seelenleben die Einheit der Unteilbarkeit zeige, und gerade dieser Umstand schließt es aus, daß wir in dem ü b e r a l l unmittelbar „erlebten“ psychischen Strukturzusammenhang das Prinzip finden können, welches wir für die historische Begriffsbildung brauchen. Wir bezweifeln also die Tatsache jenes unmittelbar erlebten psychischen Strukturzusammenhanges nicht, aber wir begreifen ebensowenig, wie man daraus verstehen will, weshalb gerade diese oder jene bestimmte h i s t o r i s c h e Individualität sich zu einer notwendigen Einheit zusammenschließt. Wir können in dem seelischen Strukturzusammenhange nichts anderes als eine a l l g e m e i n e Form sehen, die sich auf alle beliebigen Individuen anwenden läßt, und dadurch wird sie für uns bedeutungslos. Es ist in keinem Fall zu begreifen, wie der Unterschied des Seelischen vom Körperlichen den Unterschied zwischen Einzigartigkeit überhaupt und einheitlicher, d. h. unteilbarer Einzigartigkeit oder historischer Individualität begründen soll. Wir haben um so weniger die Möglichkeit, bei einem solchen Prinzip stehen zu bleiben, als der Unterschied, der für uns entscheidend ist, sich auf ein a n d e r e s Prinzip zurückführen läßt, das man ebensogut auf körperliche wie auf seelische Wirklichkeiten anwenden kann. Ja, gerade ein solches Prinzip ist unentbehrlich, denn es gibt einerseits auch Körper, deren einzigartige Mannigfaltigkeit eine unteilbare Einheit bildet, so daß die Unteilbarkeit auf der Einzigartigkeit beruht, und die sich dadurch von andern Körpern, die bloß einzigartig sind, unterscheiden, und andererseits besitzt nicht jedes Seelenleben schon die Einheit seiner Einzigartigkeit, die uns bei bestimmten Personen als Unteilbarkeit deutlich entgegentritt. Es lassen sich vielmehr ganz allgemein Individuen im engeren von solchen im weiteren Sinne unterscheiden, so daß nur die eine Art aus In-dividuen besteht. Wir können sogar, um dies recht deutlich hervortreten zu lassen, das Prinzip, worauf die durch Einzigartigkeit entstehende Einheit der Unteilbarkeit beruht, zuerst an der Gegenüberstellung zweier K ö r p e r klarmachen. Wir werden dadurch freilich noch nicht zu dem e n d g ü l - | t i g e n Begriff des historischen Individuums vordringen, denn es ist unbezweifelbar, daß die Geschichte es hauptsächlich mit realem seelischem Leben zu tun hat. Ja, wir müssen hier schon deswegen bei einem vorläufigen Begriff stehen bleiben, weil wir noch ganz davon absehen, daß alle geschichtliche Wirklichkeit ein G e s c h e h e n ist, das sich verändert, und weil wir nur das Individuum überhaupt als etwas für sich Bestehendes und in sich Ruhendes in Betracht ziehen, so wie es wirklich nicht vorkommt. Aber wir haben,

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wenn wir logisch die Methode der geschichtlichen Begriffsbildung verstehen wollen, zuerst wieder die logischen Prinzipien in ihrer Abstraktheit darzustellen, um sie dann später Schritt für Schritt näher zu determinieren.112 Die Körper, an denen wir das Prinzip, auf das es zunächst allein ankommt, und das lediglich die Unterscheidung zweier Arten von Individuen überhaupt betrifft, in seiner logischen Abstraktheit klarmachen, sollen ein bestimmtes Stück Kohle und ein bestimmter großer Diamant, wie z. B. der bekannte Kohinoor, sein. Dieses eine bestimmte Kohlenstück, das hier liegt, gibt es ebensowenig zweimal wie den mit einem Eigennamen bezeichneten Diamanten, denn wie der Diamant ist es durch seine individuellen Eigentümlichkeiten nicht nur von allen anders gearteten Dingen, sondern auch von allen andern Kohlenstücken verschieden. Was also die E i n z i g a r t i g k e i t anbetrifft, so sind beide Körper Individuen in genau demselben Sinn. Ganz anders verhalten sie sich dagegen mit Rücksicht auf ihre U n t e i l b a r k e i t . Sie k ö n n e n zwar beide geteilt werden: ein Hammerschlag würde das eine Individuum so gut wie das andere zersplittern. Während jedoch eine Teilung der Kohle die gleichgültigste Sache von der Welt wäre, wird man den Diamanten vor ihr sorgfältig bewahren, und zwar will man nicht, daß er geteilt werde, w e i l er einzigartig ist. Bei dem Diamanten also ist die Einheit seiner individuellen Mannigfaltigkeit wirklich mit seiner Einzigartigkeit so verknüpft, daß seine Einheit auf seiner Einzigartigkeit beruht. Bei dem Stück Kohle dagegen ist die Einzigartigkeit zwar auch vorhanden, aber sie wird gar nicht als Einheit auf eine eventuelle Teilung bezogen. Der Grund dafür ist der, daß an die Stelle des Kohlenstückes jederzeit ein anderes Kohlenstück treten kann, ein zweiter Kohinoor dagegen niemals zu beschaffen ist. Damit muß der Unterschied zwischen zwei Arten von Individuen klar sein. Das Einzigartige ist dann stets zugleich notwendig ein nicht zu Teilendes oder ein | In-dividuum im engeren Sinne des Wortes, wenn seiner Einzigartigkeit eine unersetzliche B e d e u t u n g zukommt. Daß in diesem Sinne nicht nur Seelen, sondern auch Körper individuelle Einheiten bilden, kann nicht bestritten werden. Zweifellos ist nur dieser Unterschied zwischen zwei Arten von Individuen auf a l l e Körper so anzuwenden, daß die gesamte physische Welt unter diesem Gesichtspunkt in zwei Gruppen von Wirklichkeiten zerfällt. Aus der unübersehbaren extensiven Mannigfaltigkeit der Dinge sondert sich eine bestimmte Anzahl aus. Bei weitem die meisten Körper kommen lediglich als Exemplare allgemeiner Begriffe in Betracht. Diejenigen aber, die nicht allein einzigartig, sondern wegen ihrer Einzigartigkeit auch einheitlich im Sinne der Unteilbarkeit sind, werden wir nicht n u r unter allgemeine Be112

Das hat F r i s c h e i s e n - K ö h l e r in seinen Ausführungen, die sich gegen die folgenden Darlegungen richten, übersehen. Vgl. Wissenschaft und Wirklichkeit, S. 164 f.

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griffe bringen wollen. Ja, wir können noch mehr sagen. Betrachten wir ein Individuum im engeren Sinne, also z. B. wieder den bestimmten Diamanten, noch etwas näher, so finden wir, daß die Bedeutung seiner Individualität nicht etwa auf der G e s a m t h e i t dessen beruht, was seine inhaltliche Mannigfaltigkeit ausmacht. Diese Mannigfaltigkeit besteht ja wie die jedes Dinges aus unübersehbar vielen Bestimmungen, und es kann nur ein Te i l von ihnen sein, an dem seine Unersetzlichkeit hängt. Diesen Teil allein berücksichtigen wir, wenn wir den Diamanten „beschreiben“. Die Fülle dessen, woraus er sonst noch besteht, könnte auch anders sein, ohne daß die Bedeutung, die er hat, dadurch modifiziert oder gar aufgehoben würde. Wenn aber die Einheit, die er durch seine Individualität besitzt, lediglich einen Teil von ihm umfaßt, dann liefert das gesuchte Prinzip nicht allein die Möglichkeit, seine Individualität überhaupt als Einheit anzusehen, sondern es gestattet zugleich, eine begrenzte und genau bestimmte Anzahl seiner Bestimmungen zu einer individuellen Einheit zusammenzuschließen. Ferner muß auch dieser Unterschied zwischen bloß zusammenseienden und zusammengehörigen „Merkmalen“ sich wieder bei jedem Körper feststellen lassen, der ein Individuum im engeren Sinne ist, und wir sehen also, wie aus der ganzen uns bekannten Körperwelt sich eine bestimmte Anzahl einzigartiger u n d im Sinne der Unteilbarkeit einheitlicher körperlicher Mannigfaltigkeiten herauslöst, von denen jede einen bestimmten und übersehbaren Inhalt hat. Versuchen wir nun, das allgemeine P r i n z i p , das dieser Scheidung zugrundeliegt, ausdrücklich zu formulieren, soweit das mit Rücksicht auf das gebrauchte Beispiel möglich ist, dann können wir sagen: die Bedeutung, die der Diamant besitzt, beruht auf dem We r t , der an seiner | durch nichts zu ersetzenden Einzigartigkeit haftet. Der Diamant s o l l nicht geteilt werden, weil er wertvoll ist, und auch dies muß für alle Körper gelten, die In-dividuen sind: nur dadurch, daß ihre Einzigartigkeit in B e z i e h u n g z u e i n e m We r t gebracht wird, kann die charakterisierte Art von Einheit der Unteilbarkeit entstehen. Damit wird nicht geleugnet, daß es noch andere Gründe gibt, die einen Körper zu einer unteilbaren Einheit machen. Organismen z. B. können nicht geteilt werden, wenn sie nicht aufhören sollen, Organismen zu sein, und dasselbe gilt von Werkzeugen und Maschinen. Aber d i e s e Einheit kommt hier für uns wieder nicht in Betracht, weil sie nicht die Einzigartigkeit eines bestimmten einmaligen individuellen Dinges betrifft. Wir fragen nur danach, wie die Einzigartigkeit den G r u n d der Einheit bilden kann, und da muß die Antwort lauten, daß In-dividuen stets auf einen Wert bezogene Individuen sind. Dies, aber auch dies a l l e i n wollen wir vorläufig feststellen. Noch einmal sei daher bemerkt, daß der Begriff des historischen Individuums damit noch n i c h t vollständig bestimmt ist, und daß wir ins-

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besondere nicht daran denken, in dem Diamanten Kohinoor schon ein „historisches Individuum“ von d e r Art zu sehen, wie die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne historische Individuen behandelt. Der Diamant hat als f e r t i g e r Stein gar keine „Geschichte“, schon deshalb nicht, weil sein Werdegang uns unbekannt ist. Erst wenn er in einen Zusammenhang mit wertenden Menschen gebracht wird, kann ihm i n diesem Zusammenhang eine historische Bedeutung zukommen, aus Gründen, die wir später kennenlernen werden. Wir haben den Diamanten Kohinoor hier nur herangezogen, um an ihm im Gegensatze zu irgendeinem beliebigen Kohlenstückchen d e n Unterschied von zwei Arten von Individualitäten klarzumachen, mit Hilfe dessen wir später den Begriff des historischen Individuums noch genauer bestimmen werden. Deshalb sind alle Einwände, die darauf hinauskommen, der Diamant sei nicht „geschichtlich“, gegenstandslos. Wir wollen mit Hilfe dieses Beispiels n u r den e r s t e n Schritt auf dem Wege zur Bestimmung der historischen Individualität tun. Es ist unmöglich, alles auf einmal zu sagen. Zunächst müssen wir nun fragen, ob die gewonnene Scheidung für alle denkbaren empirischen Wirklichkeiten durchzuführen und besonders auch auf das psychische Sein zu übertragen ist. Wenn dies nicht sofort in die Augen springt, liegt das daran, daß unter den näher bekannten und beachteten Seelenwesen sich wohl keines finden wird, in dessen individueller Eigenart nicht ein Teil der Bestimmungen sich von | den übrigen abhebt und zu einer einzigartigen individuellen Einheit zusammenschließt. Es gibt insbesondere keinen uns bekannten M e n s c h e n , in dessen Individualität nicht ein wesentlicher „Kern“ als die eigentliche Persönlichkeit im Gegensatze zu den unwesentlichen peripherischen Vorgängen enthalten ist, und weil wir diese Einheit der Unteilbarkeit bei allem menschlichen Seelenleben finden, so glauben wir leicht, sie hafte am Wesen des Psychischen selbst. Das aber ist ein Irrtum. Sehen wir sowohl von der erkenntnistheoretischen Einheit des Bewußtseins überhaupt als auch von jeder metaphysischen Einheit einer transzendenten Seele ab, so beruht die Scheidung von Zentrum und Peripherie in der empirischen Mannigfaltigkeit einer Menschenseele auf keinem anderen Prinzip als auf dem, das wir bei dem Vergleich des Diamanten mit einem Kohlenstück kennengelernt haben, d. h. die individuelle Einheit als Unteilbarkeit einer Persönlichkeit ist auf nichts anderem als darauf gegründet, daß wir mit ihr einen We r t verbinden, und daß infolgedessen die mit Rücksicht auf diesen Wert unersetzlichen oder wesentlichen Bestandteile ein Ganzes bilden, das nicht geteilt werden s o l l . Kurz, die individuelle Einheit oder Unteilbarkeit der einmaligen Persönlichkeit ist keine andere als die Einheit des auf einen Wert bezogenen Individuums überhaupt. Von hier aus wird dann auch der Begriff des „psychischen Strukturzusammenhanges“ verständlich. Nicht eine „erlebte“ Einheit macht die g e -

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s c h i c h t l i c h e Einheit einer Persönlichkeit aus, sondern die nicht-zu-teilende Einheit der auf einen We r t bezogenen Persönlichkeit täuscht uns, solange wir sie in ihrem Wesen nicht durchschaut haben, vor, es sei schon in der erlebten Einheit des realen psychischen Strukturzusammenhanges als solcher eine i n d i v i d u e l l e Einheit zu finden. Das wird besonders deutlich, wenn der Strukturzusammenhang zugleich als Z w e c k zusammenhang charakterisiert ist, denn in dem Begriff des Zweckes ist dann ein We r t mitgedacht, und auf diesem Wert allein beruht die Einheit der Individualität. Der Unterschied zwischen Körper- und Seelenindividuum besteht n u r darin, daß die Individualität keines Menschen uns so gleichgültig ist wie die eines Stückes Kohle. Daraus aber folgt, daß an dem Psychischen als solchem die nicht zu teilende Einheit der Einzigartigkeit noch nicht haftet. Abgesehen von dem Wert können wir uns nicht allein sehr gut einzigartiges Seelenleben d e n k e n , das keine individuelle Einheit besitzt, obwohl es die Einheit des psychischen Strukturzusammenhanges doch immer haben muß, sondern, wenn wir z. B. Tiere betrachten, so ist auch faktisch sehr oft | kein „Band“ vorhanden, das die Einzigartigkeit zur Einheit der Unteilbarkeit macht, obwohl doch auch hier die Einheit des erlebten Strukturzusammenhanges nicht fehlen kann, falls diese zum Seelischen als solchem gehören soll. Warum a l l e Menschen mit Werten verknüpft oder auf Werte bezogen und deshalb für uns auch Individuen in dem engeren Sinn des nicht zu Teilenden sind, ist hier zunächst gleichgültig. Es kommt nur darauf an, zu zeigen, daß unser Prinzip in Wahrheit a l l g e m e i n ist, und daß dadurch also jede beliebige Wirklichkeit, gleichviel ob sie physisch oder psychisch ist, in Individuen im engeren und weiteren Sinne zerlegt werden kann. Wir verstehen dann auch, warum wir es so leicht vergessen, daß mit Rücksicht auf die Einzigartigkeit a l l e Wirklichkeiten in gleicher Weise als Individuen in der weiteren Bedeutung des Wortes existieren. Sie sind eben zum bei weitem größten Teil n u r einzigartig, und weil wir erst dann, wenn sie auf einen Wert bezogen und dadurch unteilbar einheitlich in ihrer Einzigartigkeit werden, auf die Einzigartigkeit a c h t e n und sie uns ausdrücklich zum Bewußtsein zu bringen Veranlassung haben, wie das bei psychischen Individualitäten fast immer der Fall ist, klingt es paradox, wenn wir Blätter oder Nüsse Individuen nennen, obwohl sie in der allgemeinsten Bedeutung dieses Ausdrucks genau so individuell sind wie die Persönlichkeiten der Geschichte. Die Klarlegung des Prinzipes, auf dem die Scheidung in zwei verschiedene Arten von Individuen beruht, bringt uns aber zunächst noch nichts anderes zum Bewußtsein als den Gesichtspunkt, von dem jeder fühlende, wollende und handelnde, kurz jeder zu Werten Stellung nehmende und also jeder wirklich „lebendige“ Mensch bei seiner Auffassung der Welt geleitet

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ist, und unter dem sich für ihn das real Seiende in wesentliche und unwesentliche Bestandteile scheidet. Wer l e b t , d. h. sich Zwecke setzt und sie verwirklichen will, kann einerseits die Welt niemals n u r mit Rücksicht auf das Besondere ansehen, denn generalisierend allein vermag er in der überall individuellen Wirklichkeit sich praktisch zu orientieren und zu wirken. Ein Teil der Objekte kommt daher für ihn allein insoweit in Betracht, als sie Exemplare von Gattungsbegriffen sind. Andererseits aber werden viele Objekte gerade durch ihre Einzigartigkeit für den wertenden Menschen wichtig und sind deshalb notwendig für ihn auch unteilbare oder einheitliche Individuen. Diese Scheidung vollzieht sich mit so großer Selbstverständlichkeit, daß man ihren Grund nur selten bemerkt und gar nicht daran denkt, daß We r t - | g e s i c h t s p u n k t e dabei eine A u s w a h l leiten. In der Tat ist es die ursprünglichste Auffassung der Wirklichkeit, die vor jeder Wissenschaft besteht, und für den wirklichen Menschen, der immer ein wollender, wertender, stellungnehmender Mensch ist, wird daher die in der angegebenen Weise teils generalisierend, teils individualisierend aufgefaßte Wirklichkeit geradezu zu der Wirklichkeit überhaupt werden. Deshalb muß man es sich erst ausdrücklich zum Bewußtsein bringen, daß die Welt der einheitlichen Individuen, ebenso wie die künstlerisch angeschaute oder die in allgemeinen Begriffen gedachte Wirklichkeit, n u r eine bestimmte A u f f a s s u n g ist, die wir neben die naturwissenschaftliche und die künstlerische Auffassung als eine dritte, sich prinzipiell von ihnen unterscheidende setzen und zunächst als die Welt des praktischen Lebens bezeichnen können. Worin besteht nun der Zusammenhang der vorwissenschaftlichen individualisierenden Wirklichkeitsauffassung mit dem Problem der wissenschaftlichen historischen Begriffsbildung? Wir haben bereits wiederholt hervorgehoben, daß wir an dem Begriffe des Diamanten den Begriff des h i s t o r i s c h e n Individuums im e n g e r e n Sinn noch nicht klar machen können. Unser Gedankengang will vom Begriff der Grenzen der Naturwissenschaft aus durch allmähliche Determination den Begriff der Geschichtswissenschaft gewinnen, und wir werden jetzt sagen dürfen, daß, wenn die individuelle Wirklichkeit als solche mit dem allgemeinsten Begriffe des historischen O b j e k t e s gleich zu setzen war, die individualisierende Wirklichkeitsauffassung des praktischen Lebens auch als die ursprünglichste und umfassendste h i s t o r i s c h e A u f f a s s u n g bezeichnet werden muß, wobei das „Historische“ jedoch noch nichts anderes als die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Einmalige, Besondere und Individuelle überhaupt bedeutet. Das historische Interesse in diesem weitesten Sinn haben wir mit dem Interesse am Individuellen gleichgesetzt, und die Individuen, die für den wollenden und wertenden Menschen In-dividuen sind, können wir daher h i s t o r i s c h e I n d i v i d u e n nennen, solange der

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Begriff des Geschichtlichen lediglich als der des Einmaligen und Individuellen in Betracht kommt. Auch dieser engere Begriff des Individuums hat zunächst noch keine Bedeutung für den Begriff der w i s s e n s c h a f t l i c h e n Geschichte. Doch ist er trotzdem für unseren methodologischen Zusammenhang von Wichtigkeit, denn wir können mit Rücksicht auf ihn den umfassendsten logischen Begriff des Historischen, der bisher nur ein Problem ent- | hielt, so bestimmen, daß wir der Problemlösung wenigstens n ä h e r kommen. Wenn wir früher als Natur die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine, als Geschichte die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Individuelle bezeichneten, so war in dieser Formulierung zwar schon der allgemeinste Begriff der Naturwissenschaft enthalten, aber noch n i c h t s von dem Begriffe einer geschichtlichen Wissenschaft. Sagen wir dagegen jetzt: die Wirklichkeit wird Geschichte mit Rücksicht auf die Bedeutung, die das Individuelle durch seine Einzigartigkeit für wollende und handelnde Wesen besitzt, so eröffnet sich uns sofort auch der Ausblick auf die M ö g l i c h k e i t einer im logischen Sinne geschichtlichen D a r s t e l l u n g , denn weil die in der angegebenen Weise historische Auffassung oder In-dividuenbildung sowohl die extensive als auch die intensive unübersehbare Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit überwindet, so muß der dabei maßgebende Gesichtspunkt zum Prinzip der Bildung von Begriffen mit individuellem Inhalt ebenfalls geeignet sein. Zugleich wird an dem prinzipiellen logischen Gegensatz zwischen Natur und Geschichte durch diese nähere Bestimmung nicht das Geringste geändert, denn die empirische Wirklichkeit, wie sie der wollende Mensch des praktischen Lebens mit Rücksicht auf ihre Eigenart und Besonderheit darstellen würde, müßte der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ebenso eine Grenze setzen wie die Wirklichkeit selbst in ihrer überhaupt nicht darzustellenden unübersehbaren Mannigfaltigkeit. Wie aber soll die vorwissenschaftliche Auffassung des w o l l e n d e n oder des p r a k t i s c h e n Lebens uns dem Begriff der Geschichte als W i s s e n s c h a f t näher führen? Das ist jetzt die entscheidende Frage. Bleibt die vorwissenschaftliche Auffassung nicht, gerade w e i l sie die Auffassung des wollenden Menschen ist, der wissenschaftlichen Auffassung notwendig entgegengesetzt? Gewiß, die geschichtliche Auffassung kann nicht mit der des praktischen oder wollenden Menschen identisch sein. Beide haben zwar die Scheidung von Individuen im engeren und weiteren Sinne miteinander gemeinsam und schließen so individuelle Mannigfaltigkeiten zu Einheiten im Sinne der unteilbaren Zusammengehörigkeit zusammen. Sie unterscheiden sich aber zugleich prinzipiell voneinander, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erst damit, daß wir hierauf achten, kommen wir zur w i s s e n s c h a f t l i c h e n In-dividuenbildung.

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Erstens ist der Historiker als Mann der Wissenschaft im Gegensatz zum wollenden Menschen nicht praktisch, sondern theoretisch und verhält sich daher immer d a r s t e l l e n d und nicht b e u r t e i l e n d , | d. h. er hat wohl die Gesichtspunkte der Betrachtung mit dem praktischen Menschen gemein, nicht aber das Wollen und Werten selbst. Das läßt sich auch so ausdrücken: die Geschichte ist k e i n e w e r t e n d e , sondern eine w e r t b e z i e h e n d e Wissenschaft.113 Wir werden genau feststellen, worin die bloße „Betrachtung“ unter Wertgesichtspunkten oder das rein theoretische „Beziehen auf Werte“ im Gegensatz zum Wollen und praktischen Werten besteht. Hier sei nur bemerkt, daß der Diamant Kohinoor auch aus diesem Grund noch nicht als ein historisches Individuum für uns in Betracht kommen kann, weil wir ihn ja gerade dadurch von dem Kohlenstück unterschieden haben, daß ihm für den praktisch wertenden Menschen ein größerer Wert zukommt als irgendeinem beliebigen Kohlenstück, das wir nicht werten. Als lediglich theoretisch wertbezogenes und insofern wissenschaftlich geschichtliches Individuum würde der Diamant wieder nur in einem größeren Zusammenhange verständlich sein, auf den wir hier vorläufig noch nicht eingehen können. Zunächst stellen wir den zweiten Unterschied fest. Der wollende Mensch wertet im praktischen Leben stets auch solche Werte, die nur für ihn allein als Werte gelten, und deshalb werden für ihn eine Menge von Individuen zu unteilbaren In-dividuen, ohne daß andere Menschen ebenfalls Veranlassung haben, diese individuellen Mannigfaltigkeiten als notwendige Einheiten im Sinne des nicht zu Teilenden anzuerkennen. Die Geschichte dagegen muß, so weit man den Begriff der Wissenschaft auch fassen will, jedenfalls immer eine Darstellung anstreben, die für a l l e gilt, und es können daher allein die inhaltlichen Bestimmungen ihrer Begriffe, niemals aber die leitenden Prinzipien ihrer Darstellung „individuell“, d. h. lediglich für dieses oder jenes Individuum gültig sein. Wir werden also nicht nur praktisches „Werten“ und theoretisches „auf Werte beziehen“ voneinander trennen müssen, sondern auch die Wertgesichtspunkte, die maßgebend für die theoretisch wertbeziehende Bildung von historischen In-dividuen sind, noch genauer zu bestimmen haben, als dies bei der Gegenüberstellung des Diamanten und des Kohlenstückes möglich war. | Wir beginnen mit dem zweiten Punkt, lassen also den Unterschied von praktischer Wertung und theoretischer Wertbeziehung zunächst noch beiseite. Dann zeigt sich das Unzureichende des bisher gewonnenen Begriffs 113

Der Merkwürdigkeit halber sei bemerkt, daß der Soziologe Paul Barth, der meine Ansichten wiederholt bekämpft hat, sich durch solche doch wohl unzweideutigen Sätze nicht hindern ließ, zu behaupten, nach mir habe die Geschichte nicht zu „erklären“, sondern zu „werten“. (Vgl. Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. I, S. 5.) Wenn Barth daraufhin bemerkt, das Verfahren der Geschichtsschreiber werde „von Dilthey und von Rickert richtig gekennzeichnet“, so muß ich diese Zustimmung leider ablehnen.

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vom historischen Individuum schon darin, daß im praktischen Leben a l l e Menschen von uns als Individuen betrachtet werden: die Individualität k e i n e s Menschen ist für uns so bedeutungslos wie die eines Kohlenstückchens. Die Geschichte stellt jedoch niemals die Individualität aller Menschen dar. Worauf beruht die Beschränkung auf einen Teil von ihnen? Offenbar darauf, daß sie sich für das allein interessiert, was, wie man zu sagen pflegt, eine a l l g e m e i n e Bedeutung besitzt. Dies kann jedoch nichts anderes heißen, als daß der Wert, mit Rücksicht auf den für sie die Objekte zu historischen Individuen werden, ein allgemeiner, d. h. ein f ü r a l l e g ü l t i g e r Wert sein muß. Alle Menschen werden zu Individuen im engeren Sinne dadurch, daß wir jedes menschliche Individuum auf irgendeinen Wert überhaupt beziehen. Achten wir dagegen darauf, welches individuelle Leben sich mit Rücksicht auf a l l g e m e i n e Werte durch seine Einzigartigkeit zu einer Einheit zusammenschließt, dann sehen wir, daß auch aus der Gesamtheit der Menschen, wie aus der aller anderen Objekte, sich eine bestimmte Anzahl h e r a u s h e b t . Bei der Gegenüberstellung zweier Körper hatten wir den Diamanten gewählt, weil er mit Rücksicht auf einen allgemeinen Wert zu einem von allen gewerteten Individuum wird. Stellen wir nun eine Persönlichkeit wie Goethe irgendeinem Durchschnittsmenschen gegenüber, und sehen wir davon ab, daß auch die Individualität des Durchschnittsmenschen mit Rücksicht auf irgendwelche beliebigen Werte etwas bedeutet, so ergibt sich, daß Goethe zu einem solchen Menschen sich verhält wie der Diamant Kohinoor zu einem Stück Kohle, d. h. mit Rücksicht auf den a l l g e m e i n e n Wert kann die Individualität des Durchschnittsmenschen durch jedes Objekt, das unter den Begriff Mensch fällt, ersetzt werden, an Goethe wird dagegen gerade das von Bedeutung, was ihn von allen anderen Exemplaren des Begriffes Mensch unterscheidet, und es gibt keinen allgemeinen Begriff, unter den er gebracht werden kann. Das Individuum Goethe ist also in demselben Sinne wie das Individuum Kohinoor ein In-dividuum, d. h. seine individuelle Gestaltung wird von a l l e n in ihrer Individualität gewertet, und wir sehen daraus, wie die Beziehung auf einen allgemeinen Wert es uns ermöglicht, nicht nur überhaupt in jeder beliebigen Wirklichkeit zwei Arten von Individuen zu unterscheiden, sondern diese Scheidung auch so zu vollziehen, daß wir sie jedem als gültig zumuten können. | Die unter diesem Gesichtspunkte zu Individuen werdenden Objekte stellt dann die Geschichte dar, indem sie die praktische Wertung durch die bloß theoretische Wertbeziehung ersetzt, um so als Wissenschaft in a l l g e m e i n g ü l t i g e r We i s e das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden und zu einer n o t w e n d i g e n Einheit zusammenzuschließen. Aber ist damit nicht der früher aufgestellte Begriff des Historischen und insbesondere der Gegensatz zur Naturwissenschaft aufgehoben? Haben wir

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noch das Recht, von einer Wissenschaft des Besonderen und Individuellen zu sprechen, wenn der Wert, der die Objekte zu historischen Individuen macht, ein a l l g e m e i n e r Wert ist? Es gibt in der Geschichte allerdings außer den bereits erörterten allgemeinen Begriffs e l e m e n t e n , die wir das „erste Allgemeine“ nannten, noch ein z w e i t e s A l l g e m e i n e s , und dieser Umstand erklärt es zugleich, warum in den Diskussionen über die Methode der historischen Wissenschaften der Unterschied von Naturwissenschaft und Geschichte übersehen und eine naturwissenschaftliche oder generalisierende Universalmethode proklamiert werden konnte. Es schien geradezu selbstverständlich: die Wissenschaft hat es immer mit dem „ A l l g e m e i n e n “ zu tun. Macht man sich jedoch klar, was dieses „zweite Allgemeine der Geschichte“ bedeutet, so ergibt sich, daß der allgemeine Wert, der die Allgemeingültigkeit einer geschichtlichen Auffassung ermöglicht, mit dem naturwissenschaftlichen Allgemeinen noch weniger zu tun hat als die allgemeinen Elemente der historischen Begriffe. Diese sind nämlich wenigstens ihrem Inhalte nach in demselben Sinne allgemein wie ein naturwissenschaftlicher Begriff. Der allgemeine Wert dagegen, auf den die Individuen bezogen sein müssen, um zu historischen In-dividuen zu werden, soll erstens nicht etwa mehrere individuelle Werte als seine Exemplare umfassen, sondern ein von allen anerkannter Wert oder ein f ü r a l l e g ü l t i g e r Wert sein, und zweitens ist das, was allgemeine Bedeutung hat, insofern es auf einen allgemeinen Wert bezogen wird, darum nicht selbst etwas Allgemeines. Im Gegenteil, die allgemeine Bedeutung eines Objektes kann sogar in demselben Maße zunehmen, in dem die Unterschiede größer werden, die zwischen ihm und anderen Objekten bestehen. Die Geschichte wird also, gerade w e i l sie von dem berichtet, was zu einem a l l g e m e i n e n Wert in Beziehung steht, vom Individuellen und Besonderen zu berichten haben. Das historische Individuum ist | dann f ü r a l l e durch das bedeutsam, worin es a n d e r s a l s a l l e ist. Wer meint, daß niemals das Individuelle, sondern nur das Allgemeine eine allgemeine Bedeutung habe, übersieht, daß gerade die allgemeinsten Werte am absolut Individuellen und Einzigartigen haften können. Wohl bedarf also die historische Darstellung eines Allgemeinen als Prinzipes der Auswahl, aber ebensowenig wie die allgemeinen Begriffselemente ist dieses zweite Allgemeine der Geschichte das Z i e l , nach dem ihre Begriffsbildungen hinstreben. Es ist vielmehr die Vo r a u s s e t z u n g , unter der allein eine allgemein gültige Darstellung des Einmaligen und Individuellen vorgenommen werden kann. Da die Scheidung des „mit allen Gemeinsamen“ von dem „für alle Bedeutsamen“ von entscheidender Wichtigkeit für das logische Verständnis

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der historischen Wissenschaften ist, erörtern wir, bevor wir zu dem Begriff der „Wertbeziehung“ übergehen, noch einen andern Versuch, den Gegenstand der Geschichte zu bestimmen, der besonders leicht zu der soeben dargelegten Verwechslung führen kann. Nicht selten hört man, der Historiker habe vom Ty p i s c h e n zu handeln, und das klingt vielen ebenso selbstverständlich, wie daß nur das Wesentliche, Bedeutungsvolle, Wichtige oder Interessante dargestellt werden solle. Im logischen Interesse jedoch hat man Grund, gerade den Ausdruck „Typus“ zur Bestimmung des Historischen, wenigstens seinem umfassendsten Begriffe nach, zu vermeiden. Er ist wie viele häufig gebrauchte Termini mehrdeutig. Typus heißt einerseits soviel wie vollkommene Ausprägung oder Vo r b i l d . Dann meint man also einen Wertbegriff, genauer den Begriff eines Gutes, an dem ein Wert haftet. Andererseits bezeichnet das Wort Typus aber auch im Gegensatz hierzu das für den D u r c h s c h n i t t einer Gruppe von Dingen oder Vorgängen Charakteristische, und dann heißt es bisweilen geradezu soviel wie E x e m p l a r eines allgemeinen naturwissenschaftlichen Gattungsbegriffes. Die beiden Bedeutungen des Wortes Typus wird man nur dann für identisch halten, wenn man in dem Inhalt eines allgemeinen Begriffes schon ein Vorbild oder ein Ideal sieht, nach dem die einzelnen Individuen sich zu richten haben, und das setzt voraus, die Individuen seien die unvollkommenen Abbilder des allgemeinen Begriffes, der dann als „Idee“ gedacht werden muß. Auf dem Boden des platonischen Begriffsrealismus, auf dem die allgemeinen Werte das wahrhaft Wirkliche, und zwar das allgemeine Wirkliche sind, hat diese Ansicht auch einen guten Sinn, und weil nicht selten Produkte natur- | wissenschaftlicher Begriffsbildungen ebenfalls zu metaphysischen Wertrealitäten umgedeutet werden, ist es nicht wunderbar, wenn derartige Voraussetzungen bei den Anhängern einer naturwissenschaftlichen Universalmethode eine Rolle spielen. Will man dagegen keine metaphysischen Voraussetzungen machen, so muß man das Typische als das Durchschnittliche von dem Typischen als dem Vorbildlichen sorgfältig scheiden, ja, weil das Durchschnittliche als Inhalt eines allgemeinen Begriffes immer w e n i g e r enthält als jedes seiner individuellen Exemplare, das Vorbildliche aber über das Durchschnittliche hinausgehen und m e h r als der allgemeine Begriff enthalten muß, schließen die beiden Bedeutungen des Wortes Typus einander prinzipiell aus, d. h. die „typische“ Verkörperung eines Ideals kann niemals die „typische“ Verkörperung eines allgemeinen Begriffsinhaltes sein. Außerdem kann man das Wort Typus noch in einer dritten Bedeutung gebrauchen. So hat Max Weber114 von „Idealtypen“ gesprochen, die in der 114

Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, 1904. [In:] Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Bd. XIX. Wieder abgedruckt in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, S. 146–214.

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Geschichtswissenschaft eine Rolle spielen. Hier hat der Begriff des Idealen jedoch wenig mit einem Wertbegriff zu tun, sondern soll lediglich den Gegensatz zur Realität andeuten, d. h. darauf hinweisen, daß den von dem Historiker eventuell zu bildenden Idealtypen nirgends Wirklichkeiten genau entsprechen. Von dieser dritten Bedeutung des Wortes Typus sehen wir daher vorläufig ab. Wir werden sie später zu erörtern haben, wenn wir von dem Begriff des absolut Historischen, mit dem wir uns hier allein beschäftigen, zu dem des relativ Historischen übergehen. Es gibt in der Tat gewisse relativ historische Begriffe, für die man den Ausdruck „Idealtypus“ verwenden kann, und sie hat Weber im Auge. Aber gerade weil es sich dabei um etwas r e l a t i v Historisches handelt, ist dieser Begriff zur Bestimmung des historischen Individuums überhaupt ungeeignet. Er paßt allein auf eine besondere Art der Gebilde, welche durch die historische Darstellung entstehen. Wir beschränken uns daher zunächst auf die beiden Typenbegriffe des Vorbildlichen und des Durchschnittlichen und fragen, in welcher Beziehung sie zum Begriff des historischen Gegenstandes stehen. Der Satz, die Geschichte habe das Typische darzustellen, kann etwas bedeuten, was zwar nicht eine erschöpfende Bestimmung des historischen Individuums, doch mit Rücksicht wenigstens auf einen Te i l der historischen Objekte nicht geradezu falsch ist. Sagen wir z. B., daß | Goethe oder Bismarck typische Deutsche waren, so meint das eventuell, daß sie in ihrer Einzigartigkeit und Individualität vorbildlich sind, und weil sie als Vorbilder für alle bedeutsam sein müssen, werden sie in der Tat als Typen zugleich zu historischen In-dividuen. Schiebt man dagegen dem Ausdruck Typus die andere Bedeutung des Durchschnittlichen unter und erklärt dann, die Geschichte handle nur vom Typischen, so kommt man zu der falschen Ansicht, daß an allen Individuen allein das historisch sei, was sie mit der großen Masse gemeinsam haben. Werden nun Goethe oder Bismarck in diesem Sinne „Typen“ genannt, dann entsteht die sonderbare Konsequenz, daß sie für die Geschichte lediglich insofern in Betracht kommen, als sie Durchschnittsmenschen sind, und man glaubt, einen Sinn mit der Behauptung verbinden zu können, daß die „großen Männer“ bloße „Massenerscheinungen“ seien. Der Ausdruck Typus kann also auch dazu dienen, die Irrtümer über Aufgabe und Wesen der Geschichtswissenschaft zu befestigen, die aus der Verwechslung des „für alle Bedeutsamen“ mit dem „mit allen Gemeinsamen“ entstehen. Erst wenn wir Vorbildliches und Durchschnittliches, das sich in der Bedeutung des Wortes „Typus“ unklar mischt, auseinanderhalten, wird der Glaube schwinden, allein das Gemeinsame oder der Inhalt eines allgemeinen Gattungsbegriffes sei von allgemeiner historischer Bedeutung. Freilich soll die Ablehnung des Ausdruckes Typus nicht heißen, daß die Geschichte n i e m a l s von Durchschnittstypen berichtet. Viele Objekte

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kommen in der Tat auch für den Historiker lediglich durch das in Betracht, was sie mit einer Gruppe von Individuen teilen. Wir werden die historischen Durchschnittstypen näher erörtern, sobald wir uns von den absolut historischen zu den relativ historischen Begriffen wenden und dann ihr Verhältnis zu den vorher genannten „Idealtypen“ klarzustellen haben. Hier jedoch wird der Umstand, daß die Geschichte unter anderem auch Durchschnittstypen darstellt, nur ein neuer Grund sein, das Wort „Typus“, welches zwei einander ausschließende Bedeutungen hat, mit Vorsicht zu verwenden. Ja, der Ausdruck Typus würde, selbst wenn wir stets das Vorbildliche und das Durchschnittliche trennten, sich zur Bestimmung dessen, was Objekt der Geschichte ist, nicht eignen, denn der Historiker hat es nicht etwa ausschließlich mit Objekten zu tun, die entweder Typen im Sinne des Durchschnittlichen oder Typen im Sinne des Vorbildlichen sind. Das Vorbildliche wird n u r wegen seiner Bedeutung für alle geschichtlich wesentlich, und es ist nicht jedes historische Individuum auch vorbildlich. Man kann sogar sagen, daß die eventuelle Vorbildlichkeit des | für alle Bedeutsamen den Historiker, soweit er rein theoretisch wert b e z i e h e n d und nicht praktisch wertend verfährt, gar nicht zu kümmern braucht, und jedenfalls werden zu historischen Individuen auch Objekte wie geographische Situationen, z. B. der Schauplatz einer Schlacht, die gewiß weder Durchschnittstypen sind noch irgendwelche vorbildliche Bedeutung besitzen. Will man also einen wahrhaft umfassenden Begriff des historischen Individuums erhalten, so ist dafür der Begriff des Typus unbrauchbar. Höchstens für besondere A r t e n des Historischen kann er verwendet werden und ist dann genau zu bestimmen. Wir zeigen hier zunächst nur, daß, wenn die Wirklichkeit mit Rücksicht auf einen a l l g e m e i n e n , d. h. überall als Wert anerkannten Wert in wesentliche und unwesentliche Bestandteile zerfällt und die wesentlichen Bestandteile sich zu individuellen Einheiten zusammenschließen, die dadurch entstehende Auffassung der Wirklichkeit nicht etwa willkürlich, also von vorneherein unwissenschaftlich ist, sondern daß sie von jedem als notwendig anerkannt werden muß, der die leitenden Werte als allgemein anerkannt voraussetzt, und daß sie damit eine unerläßliche Bedingung der wissenschaftlichen Auffassung erfüllt. Doch wir haben schon wiederholt noch einen zweiten Unterschied zwischen der wissenschaftlichen historischen Auffassung und der des wollenden Menschen im praktischen Leben festgestellt. Erst dann, wenn wir auch über ihn volle Klarheit haben, wird der Begriff des historischen Individuums sich endgültig bestimmen lassen. Die bisherigen Ausführungen sind nur als Vorarbeiten hierfür anzusehen, und wer zu unserm Begriff des historischen Individuums Stellung nehmen will, darf sich nicht an einige der vorläufigen Bestimmungen, sondern allein an die jetzt vorzunehmende e n d g ü l t i g e Bestimmung halten.

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Denkt man an die von uns gebrauchten Beispiele für den Begriff des historischen Individuums, an den Kohinoor und an Goethe, so könnte man meinen, es sollten d i e Teile der Wirklichkeit zu historischen Individuen werden, die selbst Werte verkörpern oder G ü t e r sind, an denen Werte haften, und zwar Werte von solcher Art, daß sie von allen positiv gewertet werden. Der Begriff eines „Gutes“ aber ist viel zu eng, um das historische Individuum zu kennzeichnen, und es genügt auch nicht, ihn dadurch zu erweitern, daß man die negativ gewerteten Wirklichkeiten oder die U e b e l , wie man im Gegensatz zu den Gütern sagen kann, ebenfalls zu den historischen Individuen rechnet. Es ist vielmehr überhaupt nicht Sache der Geschichtswissenschaft, positiv oder negativ zu w e r t e n , d. h. zu sagen, ob die individuellen Wirk- | lichkeiten, die sie darstellt, Güter oder Uebel, wertvoll oder wertfeindlich sind, denn wie sollte die Geschichte dabei zu a l l g e m e i n gültigen Werturteilen kommen? Was wir unter der „Beziehung“ eines Individuums auf einen Wert verstehen, haben wir vielmehr von seiner direkten positiven oder negativen We r t u n g sorgfältig zu unterscheiden. Ja, es wäre geradezu das s c h l i m m s t e v o n a l l e n M i ß v e r s t ä n d n i s s e n , wenn man unsere Ansicht so auffaßte, als hielten wir die Fällung von positiven oder negativen We r t u r t e i l e n für eine geschichts w i s s e n s c h a f t l i c h e Aufgabe und die Geschichte dementsprechend für eine w e r t e n d e Wissenschaft.115 In der Loslösung jedes „praktischen“, positiven oder negativen Werturteils von der r e i n t h e o r e t i s c h e n B e z i e h u n g der Objekte auf Werte müssen wir vielmehr ein wesentliches Merkmal der w i s s e n s c h a f t l i c h e n historischen Auffassung erblicken. Ja, soweit der Wertgesichtspunkt für die Geschichte entscheidend wird, ist dieser Begriff der „Wertbeziehung“ im Gegensatz zur „Wertung“ geradezu d a s wesentliche Merkmal für die Geschichte als reine Wissenschaft. Was aber heißt es, daß ein Objekt theoretisch auf einen Wert bezogen ist, ohne dabei als Gut oder als Uebel, als wertvoll oder als wertfeindlich gewertet zu sein? Greifen wir, um dies zu verstehen, noch einmal auf die Auffassung des praktischen Lebens zurück, welche stets Objekte auch wertet, und denken wir dabei an zwei Menschen, die stark in dem, was sie lieben und hassen, also werten, voneinander abweichen. Kann trotzdem nicht mit Rücksicht auf bestimmte Werte, wie z. B. die politischen Ideale es sind, die Wirklichkeit für beide in ü b e r e i n s t i m m e n d e r Weise in solche Objekte zerfallen, von denen die einen für sie als Exemplare eines Gattungsbegriffes in Betracht kommen, wenn sie überhaupt an sie denken, die anderen dagegen durch ihre Individualität für sie bedeutsam sind? 115

Selbst dieser Satz hat die ärgsten Mißdeutungen meiner Theorie nicht verhindert. Vgl. die Anmerkung auf S. 322.

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Der eine von den beiden möge ein radikaler Demokrat und Freihändler, der andere ein radikaler Aristokrat und Schutzzöllner sein. Sie werden dann gewiß in ihren Wertungen oder Werturteilen über die politischen Vorgänge ihrer Zeit oder der Vergangenheit, in ihrem Vaterlande oder bei andern Völkern, in wenigen Fällen übereinstimmen, d. h. sehr Verschiedenes für Güter oder für Uebel halten, aber wird darum etwa der eine von ihnen nur solche individuellen politischen Vorgänge mit Interesse verfolgen, die dem andern gleichgültig sind? Gewiß nicht. | Auch unter Politikern der denkbar verschiedensten Richtungen bilden d i e s e l b e n individuellen Vorgänge den Gegenstand des I n t e r e s s e s , d. h. die Differenzen der Wertung müssen sich auf eine g e m e i n s a m e W i r k l i c h k e i t s a u f f a s s u n g beziehen, denn wo zwei Menschen verschiedener Meinung über den Wert einer Gestaltung sind, würden ja die Streitenden gar nicht von d e m s e l b e n Objekte sprechen, falls eine solche g e m e i n s a m e Wirklichkeitsauffassung nicht bestünde, und es wäre daher ein Streit über den Wert des betreffenden Objektes überhaupt unmöglich. Schon dieses Beispiel muß klarmachen: man kann die Güter und die Akte des Wertens nicht allein so ansehen, daß man nach der Geltung der mit ihnen verbundenen Werte fragt und dann festzustellen sucht, mit welchem Rechte die positiven oder negativen Wertungen vollzogen, d. h. die Dinge als Güter oder als Uebel bezeichnet werden, sondern es gibt außerdem noch eine Betrachtung mit Rücksicht auf Werte, die nach dem Wert oder Unwert der Dinge, nach ihrer Eigenschaft als Gut oder Uebel nicht fragt. Sie greift vielmehr lediglich das aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit heraus, was überhaupt in einer B e z i e h u n g zu Werten steht, so daß es mit Rücksicht auf die Werte irgendwie d i f f e r e n t wird, und diese Art der Wertbeziehung allein kommt hier für uns in Frage. Nach der Berechtigung, Objekte als Güter oder als Uebel positiv oder negativ zu werten, hat nämlich die Geschichte als reine Wissenschaft nicht zu fragen, und wer sich gegen solche Wertungen in einem r e i n wissenschaftlichen historischen Zusammenhange sträubt, ist daher gewiß nicht zu widerlegen. Eine theoretische B e z i e h u n g der Objekte aber auf Werte, durch die sie in solche zerfallen, die indifferent gegen Werte sind, und solche, die mit Rücksicht auf Werte überhaupt Bedeutung haben, läßt sich auch von der rein wissenschaftlichen geschichtlichen Betrachtung nicht loslösen. Die theoretische Wertbeziehung ist für die Geschichtswissenschaft von so entscheidender Bedeutung, daß man ohne sie nicht imstande wäre, das Material, welches historisch in Betracht kommt, von dem Realen zu trennen, das historisch gleichgültig bleibt. Man kann z. B. die Persönlichkeit Luthers für ein Gut oder für ein Uebel halten, d. h. man kann glauben, daß sie für die Kulturentwicklung Deutschlands segensreich gewesen ist oder

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Unheil gebracht hat. Darüber werden die Meinungen der Historiker vielleicht immer auseinandergehen. Darüber aber, daß Luther überhaupt eine B e d e u t u n g mit Rücksicht auf allgemein anerkannte Werte gehabt hat, wird unter denen, welche die | Tatsachen kennen, kein Zweifel bestehen, und es kann niemals einem Historiker einfallen, zu sagen, Luthers Persönlichkeit sei für die Geschichte u n w e s e n t l i c h . So darf man nicht bezweifeln, daß das positive oder negative Werten sich prinzipiell von dem theoretischen Beziehen der Objekte auf Werte unterscheidet. Das Werten ist immer positiv oder negativ, und das Werturteil erklärt das Objekt, das es meint, für ein Gut oder für ein Uebel. Das bloß theoretische Beziehen auf Werte dagegen hält sich von solcher Alternative fern. Ist ihm ein Objekt wesentlich, so braucht es darum nicht nach dem Charakter des Objekts als Gut oder Uebel zu fragen. Wenn trotz dieses unzweifelhaften Unterschiedes die Begriffe des positiven und negativen Wertens nicht von dem Begriff der theoretischen Wertbeziehung getrennt werden, liegt das vielleicht an folgendem. Wird das eine Ereignis ausdrücklich als wesentlich, das andere ausdrücklich als unwesentlich beurteilt, so ist d a s allerdings ein Akt des Wertens oder der Stellungnahme. Aber ein solches Stellungnehmen fällt mit dem theoretischen Beziehen der Objekte auf Werte, wodurch h i s t o r i s c h e Individuen entstehen, nicht einfach zusammen. Das ausdrückliche Scheiden in wesentliche und unwesentliche Merkmale bedeutet vielmehr in j e d e r wissenschaftlichen Begriffsbildung ein Werten, und i n s o f e r n ist auch die Naturwissenschaft von Wertungen nicht frei. Wesentliches vom Unwesentlichen trennen, das setzt überall den Wert der W i s s e n s c h a f t voraus, mit Rücksicht auf den die einen Bestandteile wesentlich, die andern unwesentlich sind. Wo die Wissenschaft nicht als G u t gewertet wird, kann es überhaupt nicht zu einer Scheidung von wesentlichen und unwesentlichen Bestandteilen im Realen kommen. Es läßt sich daher der Unterschied der naturwissenschaftlichen von der historischen Auffassung auch so ausdrücken, daß, wenn jemand die Naturwissenschaft als theoretisches Gut setzt und bei seinem Denken von der Absicht geleitet ist, allgemeine Naturbegriffe zu bilden, andere Faktoren der empirischen Wirklichkeit für ihn wesentlich und andere unwesentlich werden müssen als dann, wenn jemand die Geschichtswissenschaft als theoretisches Gut setzt und nun mit Rücksicht auf das Ziel, geschichtliche Wissenschaft zu verwirklichen, wesentliche und unwesentliche Bestandteile in der empirischen Wirklichkeit voneinander trennt. Diese l o g i s c h e n Werte aber, die der Forscher wertet, und die bei j e d e r wissenschaftlichen Begriffsbildung stillschweigend vorausgesetzt sind, lassen wir in den methodologischen Untersuchungen | absichtlich im Hintergrund. Wir kümmern uns

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allein um das Verhältnis, in dem das M a t e r i a l der begrifflichen Darstellung zu Werten steht, und da können wir feststellen: für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung ist es charakteristisch, daß die Objekte, die sie darstellt, von allen Beziehungen zu Werten losgelöst werden und losgelöst werden müssen, wenn sie nur als Gattungsexemplare allgemeiner Begriffe angesehen werden sollen; die Geschichtswissenschaft dagegen hat sich zwar von dem praktischen Werten der Objekte und ihrer Beurteilung als Güter oder als Uebel ebenfalls freizuhalten, kann aber niemals die Beziehungen der Objekte auf Werte überhaupt aus dem Auge lassen, da es sonst für sie gar nicht möglich wäre, in der empirischen Wirklichkeit geschichtlich wesentliche von geschichtlich unwesentlichen Vorgängen zu trennen. Der Umstand, daß j e d e wissenschaftliche Begriffsbildung die Wertung von w i s s e n s c h a f t l i c h e n Zielen voraussetzt, darf uns nicht darüber täuschen, daß die Beziehung der Objekte auf Werte etwas für die historische Begriffsbildung Eigentümliches ist, und daß die theoretische Wertbeziehung von der praktischen Wertung unterschieden werden muß. Wir sollten also jedenfalls die voneinander a b w e i c h e n d e n positiven oder negativen Wertungen nicht verwechseln mit der g e m e i n s a m e n Wirklichkeitsauffassung, durch die nur bestimmte Objekte zu In-dividuen werden und andere nicht. Die Scheidung in wesentliche und unwesentliche Elemente vollzieht sich für die Geschichte in einer von der Verschiedenheit der praktischen Werturteile u n a b h ä n g i g e n Weise. Andererseits jedoch bleibt auch die den verschiedenen Parteien gemeinsame Auffassung an die „Beziehung“ zu Werten g e b u n d e n . Falls irgendein Objekt durch seine Individualität politische oder ästhetische oder religiöse Bedeutung erhalten, zum Gegenstand des Streites werden und historisch wichtig oder unwichtig erscheinen, d. h. sich als In-dividuum aus der unübersehbaren Fülle der Objekte herausheben soll, darf man das politische, künstlerische oder religiöse Leben nicht für etwas Gleichgültiges oder Wertindifferentes halten, sondern muß i r g e n d welche politischen, künstlerischen oder religiösen Werte ausdrücklich a l s We r t e k e n n e n , denn für Menschen, die dies nicht tun, würde keine Veranlassung bestehen, der individuellen Gestaltung bestimmter Objekte ein anderes I n t e r e s s e zuzuwenden als der irgendwelcher beliebigen andern. Bezeichnen wir also das, wodurch eine den verschiedensten Wertbeurteilungen g e m e i n s a m e Auffassung der Wirklichkeit entsteht, die als Wirklichkeit weder negativ noch | positiv gewertet wird, als ihre bloße Beziehung auf Werte, so kann man diese Beziehung als rein theoretisch streng von der praktischen Bewertung scheiden. Werten ist stets entweder positiv oder negativ. Beziehen auf Werte ist keines von beiden. Das allein schon macht den prinzipiellen Unterschied klar. Durch das bloße Beziehen entsteht dementsprechend eine Welt von Individuen für alle in d e r -

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s e l b e n Weise. Der Wert dieser Individuen dagegen kann sehr v e r s c h i e d e n geschätzt werden. Darüber, was in einer solchen wertbezogenen Welt von Individuen Gut oder Uebel, wertvoll oder wertfeindlich ist, wird durch die bloß theoretische Beziehung auf Werte noch nicht das geringste gesagt. Jetzt verstehen wir: das l o g i s c h e I d e a l der historischen Auffassung ist, falls die Geschichte nichts als W i s s e n s c h a f t sein will, dadurch charakterisiert, daß sie von allem praktischen Wo l l e n den Objekten gegenüber sich freihält und daher auch von jeder Wertung absieht, dagegen die bloße B e z i e h u n g auf allgemein anerkannte Werte in dem angegebenen Sinne beibehält. Es gliedert sich dann für sie die Wirklichkeit in In-dividuen und Exemplare von Gattungsbegriffen in der Weise, daß sogar die verschiedensten Parteien mit ihren voneinander abweichenden Wertungen dieser Auffassung als einer gemeinsamen zustimmen können. Wenn wir hier von einem „Ideal“ der historischen Darstellung sprechen, ist dieser Begriff jedoch zugleich vor Mißverständnissen zu schützen. Er muß ebenso wie das Ideal der „letzten Naturwissenschaft“ r e i n l o g i s c h genommen werden, d. h. wir beanspruchen damit in keiner Weise, dem Historiker praktische Vorschriften darüber zu machen, wie er verfahren s o l l e . Es kommt hier vielmehr allein darauf an, theoretisch zu v e r s t e h e n , was in einer geschichtlichen Darstellung rein wissenschaftlich ist, und was eventuell darüber hinausgeht. Insbesondere wollen wir mit der Aufstellung unseres „Ideals“ nicht etwa leugnen, daß viele, vielleicht alle Historiker f a k t i s c h auch atheoretische Werturteile fällen, und vollends denken wir nicht daran, ihnen das zu v e r b i e t e n . Damit würden wir wenig Glück haben. Nur das eine stellen wir fest: atheoretische Wertungen, die stets positiv oder negativ sind, gehören nicht zum logisch n o t w e n d i g e n Wesen der Geschichte als Wissenschaft, während das theoretische B e z i e h e n der Objekte auf Werte von jeder geschichtlichen Darstellung b e g r i f f l i c h unabtrennbar bleibt und ihre Wissenschaftlichkeit auch in keiner Weise trübt. Unsere Scheidung von praktischer Wertung und theore- | tischer Wertbeziehung müßte daher im logischen Interesse sogar dann gemacht werden, wenn sich zeigen ließe, daß die Historiker faktisch ohne praktische Wertungen n i e auskommen, oder wenn eine rein theoretische Darstellung der Geschichte, die sich jeder atheoretischen Stellungnahme enthält, im Interesse der allgemeinen, a u ß e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Kultur nicht g e w ü n s c h t werden dürfte. Für die Aufstellung eines rein l o g i s c h e n „Ideals“ der wertungsfreien Geschichtswissenschaft bliebe selbst dieser Umstand ohne Bedeutung. Das mit Nachdruck hervorzuheben, gibt es noch einen besonderen Grund. Die S t i m m u n g , die in weiten Kreisen gegenüber We r t fragen herrscht, pflegt sich im Laufe der Zeiten zu wandeln, und von solchem Stimmungs-

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wechsel, der andere als theoretische Gründe hat, muß die L o g i k sich frei halten. Bisweilen herrscht ein allgemeines Mißtrauen gegen j e d e s Wertmoment in der Wissenschaft überhaupt. Dann kommt es vor allem darauf an, das Minimum an Wertgehalt aufzuzeigen, ohne das keine geschichtliche Darstellung des Individuellen m ö g l i c h ist. Zu andern Zeiten dagegen treten außerwissenschaftliche Interessen so stark in den Vordergrund, daß man auch von der Wissenschaft verlangt, sie solle nicht n u r theoretische Wahrheit geben, sondern zugleich „dem Leben dienen“. Dann wird für die Logik etwas anderes wichtig. Dann kann nämlich leicht eine andere Stimmung gegenüber den Wertfragen Platz greifen. Es liegt auf der Hand, daß jeder „lebendige“ Mensch zugleich ein w e r t e n d e r Mensch ist, und daß eine Zurückstellung aller außertheoretischen Wertungen dem „Leben“ nicht dienen kann. Der Historiker wird sich, wo solche Lebensinteressen herrschen, das Recht auch auf praktische Wertungen nicht nehmen lassen wollen. Mit Rücksicht darauf ist dann von der Logik vor allem klarzulegen, daß man mit jeder praktischen Wertung in die Geschichte ein Moment hineinträgt, welches nicht mehr rein wissenschaftlich ist. Doch darf nun selbstverständlich diese Konstatierung nicht etwa selbst eine Wertung in dem Sinne einschließen, daß sie die wertende Geschichte irgendwie h e r a b s e t z t . Hier wie überall sucht die Logik vielmehr nur nach theoretischer K l a r h e i t , und zu diesem Zweck allein braucht sie auch die begriffliche Trennung von Wertung und Wertbeziehung. Nach der einen Seite hin kann sie damit zeigen: völlig wertfreie Geschichtswissenschaft gibt es nicht, und nach der andern Seite hin ebenso entschieden betonen: trotzdem ist eine von praktischen Wertungen | freie historische Darstellung logisch sehr wohl m ö g l i c h , so wenig sie auch im Interesse einer „lebendigen“ Kultur wünschenswert zu sein braucht.116 116

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Es scheint mir auf einer Verkennung der Aufgaben der Logik der Geschichte zu beruhen, wenn Fr. M e i n e c k e in seiner sehr interessanten und für die g e g e n w ä r t i g e Stimmung gegenüber Wertfragen recht bezeichnenden Abhandlung über „Kausalitäten und Werte in der Geschichte“ ([in:] Historische Zeitschrift, Band 137) sich gegen meine Abtrennung außertheoretischer Werturteile auch von dem logischen I d e a l der Geschichtswissenschaft wendet. Meinecke stimmt mir darin zu, daß die Beziehung auf Werte für den Historiker unvermeidlich sei, lehnt dagegen meine Behauptung ab, der Historiker habe, wenn er in den Grenzen seiner Wissenschaft bleiben wolle, nicht selbst zu werten. „Die erste These“, sagt Meinecke, „ist berechtigt und stellt nur das fest, was mehr oder minder von den Historikern stets geübt worden ist. Die zweite These entspringt der Sorge um die Bewahrung des wissenschaftlichen Charakters der Historie, der Sorge vor dem Eindringen subjektiver Tendenzen. Aber kann man sie erfüllen? Sie ist unerfüllbar“. Vielleicht hat Meinecke mit diesem „unerfüllbar“ recht, und trotzdem muß man sagen: hier trennt Meinecke die Frage nach dem, was faktisch geschieht, nicht genügend von der andern Frage, was Aufgabe einer Logik der Geschichtswissenschaft ist. Er meint: „Eine Geschichtslogik, die ihr Ziel erreichen will, muß ... den wirklichen, voll lebendigen, nicht den logisch konstruierten Historiker analysieren, und der verhält sich in der Regel, auch wenn er es nicht will, wertend.“ Die zuletzt behauptete Tatsache kann man zugeben und dennoch oder vielmehr gerade deswegen behaupten, daß die Logik die Aufgabe habe, den rein theoretischen Wahrheitsgehalt der Geschichts-

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Hier kommt es vor allem auf die theoretische Wertbeziehung an, und ihre Unentbehrlichkeit kann man sich auch so zum Bewußtsein bringen. Als zugestanden dürfen wir voraussetzen, daß die Geschichte sich hauptsächlich mit M e n s c h e n beschäftigt, und daß innerhalb des Menschenlebens nicht alles für sie gleiche Bedeutung hat. Das ist „selbstverständ- | lich“, wird man sagen. Gewiß, aber dafür muß es doch Gründe geben. Wa r u m erzählt die Geschichte von dem einen Menschen und schweigt von dem andern? Die individuellen Unterschiede zwischen ihnen sind an sich nicht größer als die zwischen allen Dingen, denn ohne daß wir dieses Eine als wesentlich hervorheben und jenes Andere als unwesentlich beiseite lassen, ist jedes Ding einer bestimmten Gattung von jedem anderen in unübersehbar vielen Beziehungen verschieden. Erst Wertbeziehungen bestimmen die „Größe“ der individuellen Differenzen. Sie allein lassen uns den einen Vorgang bemerken und den andern zurücktreten. Je mehr wir geneigt sind, daran als an etwas Selbstverständlichem achtlos vorüberzugehen, desto mehr Grund hat die Logik, auf dies Selbstverständliche mit Nachdruck hinzuweisen und hervorzuheben, daß ohne Beziehung auf Werte uns die individuellen Unterschiede im geschichtlichen Leben der Menschen ebenso gleichgültig sein würden wie die Unterschiede der Wellen im Meer oder der Blätter im Winde. Jedes beliebige Beispiel zeigt, was hier vorliegt. Will ein Historiker die Geschichte der Renaissance oder der romantischen Schule schreiben, so kann er sich zwar gewiß ein Ideal von historischer „Objektivität“ bilden, bei dessen Erreichung niemand merken würde, ob seine politischen oder künstlerischen Ueberzeugungen und die mit ihnen verbundenen Wertungen ihm die Renaissance oder die Romantik sympathisch oder unsympathisch wissenschaft begrifflich aufs schärfste von allem zu trennen, was in den Werken der Historiker über die reine Theorie hinausgeht. So allein wird man das Wesen der Geschichtswissenschaft nach ihren v e r s c h i e d e n e n Seiten, sowohl den rein theoretischen als auch den übertheoretischen oder überwissenschaftlichen, verstehen und würdigen können. Im übrigen stimme ich Meinecke in weitestem Maße zu. Ja, wenn er im Gegensatz zu G. v. Below, der behauptet hat: „eine Verknüpfung von Tatsachen k a n n ohne Werturteile nicht vorgenommen werden“, sagt: „Wohl kann der Historiker, das gebe ich Rickert zu, sich jeder Wertbeurteilung seiner Gegenstände enthalten“, so erkennt er damit meine Trennung von Wertung und Wertbeziehung nicht nur als begrifflich berechtigt, sondern sogar als faktisch durchführbar an. Das entscheidet dann vollends zugunsten des von mir aufgestellten logischen Ideals. Meineckes darauf folgende Worte: „Solche von Wertungen freie Geschichtsschreibung ist entweder nur Materialsammlung und Vorarbeit für die eigentliche Geschichtsschreibung, oder wenn sie den Anspruch auf solche macht, wirkt sie fade“, vermögen, selbst falls man ihnen völlig zustimmt, an dem von mir aufgestellten logischen Ideal gewiß nichts zu ändern. Denn Meinecke spricht mit diesen Worten nicht ein rein theoretisches Urteil aus, sondern vollzieht eine atheoretische Wertung. Das bleibt selbstverständlich sein gutes Recht, aber er könnte sogar diese Wertung in voller begrifflicher K l a r h e i t nicht vollziehen, falls er nicht dabei selbst den Unterschied von theoretischer Wertbeziehung und praktischer Wertung v o r a u s s e t z t e .

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machen, ob sie ihm als höchste Blüten oder als Stadien des tiefsten Verfalls in der Entwicklung der Menschheit erscheinen, und wenn er dieses Ideal auch nicht wirklich erreicht, so kann er eine Urteilsenthaltung über den Wert der behandelten Objekte wenigstens für seine wissenschaftliche Pflicht halten, da für ihn als Historiker nur über den tatsächlichen Verlauf, niemals über seinen Wert eine wissenschaftlich begründete Meinung möglich ist. Werte aber spielen trotzdem bei seiner Tätigkeit eine entscheidende Rolle, denn er würde sich um die einmaligen und individuellen, Renaissance oder romantische Schule genannten Vorgänge überhaupt nicht k ü m m e r n , falls sie nicht durch ihre Individualität zu politischen, ästhetischen oder anderen allgemein anerkannten Werten in Beziehung ständen. Deshalb ist der Glaube, man könne in der Geschichte jemals einen absolut wertfreien Standpunkt vertreten, d. h. nicht nur praktische positive oder negative Werturteile, sondern auch theoretische Wertbeziehungen vermeiden, eine Selbsttäuschung. Daß die Geschichte allein das „Wesentliche“ darzustellen habe, gibt jeder ohne weiteres zu, ja, man macht dem Historiker einen schweren | Vorwurf daraus, wenn er diese Regel nicht befolgt und Unwesentliches mit in seine Darstellungen aufnimmt. Die Worte „wesentlich“ aber, oder auch „interessant“, „charakteristisch“, „wichtig“, „bedeutsam“, die man auf das Historische immer muß anwenden können, verlieren ohne die Beziehung der so bezeichneten Objekte auf irgendwelche Werte jeden angebbaren Sinn. Wir bringen also im Grunde genommen durch die Behauptung, daß jedes Objekt, welches Gegenstand der Geschichte ist, auf einen Wert bezogen sein muß, nur die sehr triviale Wahrheit, nach der alles, was die Geschichte darstellt, interessant, charakteristisch, wichtig oder bedeutsam ist, auf einen l o g i s c h b r a u c h b a r e n Ausdruck. Das Interessante, das Charakteristische, das Wichtige kann sowohl ein Gut als auch ein Uebel sein, und es braucht daraufhin, ob es ein Gut oder ein Uebel ist, gar nicht betrachtet zu werden. Insofern tritt seine We r t u n g zurück. Aber alles verliert sofort den Charakter des Interessanten, des Wichtigen, des Charakteristischen, wenn jede Art der B e z i e h u n g auf Werte abgeschnitten wird. Wertung und Wertbeziehung sind also auch aus diesem Grunde streng zu scheiden. Blicken wir jetzt noch einmal zurück. Die Begriffsbestimmung des historischen Individuums ist in d r e i S t u f e n erfolgt. Zuerst war das Historische das einmalige und besondere Wirkliche schlechthin, das überall individuell im Sinne von einzigartig ist, und dieser Begriff genügte, um die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung klarzulegen. Sodann wurde das Historische das von einem wollenden Wesen mit einem Wert verbundene und in seiner Einzigartigkeit zugleich einheitliche Wirkliche, wie z. B. der Diamant Kohinoor, und damit lernten wir die Wirklichkeitsauffassung des praktischen Lebens kennen. Endlich konnten wir das histori-

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sche Individuum als die Wirklichkeit bestimmen, die sich durch bloß theoretische Beziehung auf einen allgemeinen Wert zu einer einzigartigen und einheitlichen Mannigfaltigkeit für jeden zusammenschließt, und die dann so, wie sie unter dem Gesichtspunkt dieser theoretischen Betrachtung in wesentliche und unwesentliche Bestandteile zerfällt, auch wissenschaftlich von der Geschichte dargestellt werden kann. Damit ist erst der Begriff erreicht, der das Historische als das Objekt der historischen W i s s e n s c h a f t e n umfaßt. Die beiden ersten Stufen der Begriffsbestimmung haben j e t z t für uns kein Interesse mehr, und insbesondere von Beispielen wie dem Diamanten Kohinoor müssen wir absehen, damit nicht das Mißverständnis entsteht, er solle als Beispiel für ein im engeren Sinne „historisches“ | Individuum gelten. Die ersten Stufen bilden nur den Weg, auf dem wir allmählich zum Begriff des eigentlichen historischen Individuums vorzudringen suchten, und wenn wir im folgenden von historischen Individuen oder In-dividuen ohne weiteren Zusatz sprechen, so ist immer der Begriff auf der dritten Stufe der Bestimmung gemeint. Selbstverständlich bleibt auch dieser Begriff vorläufig formal und im Vergleich zum sachlichen Begriff der Geschichte daher noch immer viel zu w e i t . Aber logisch läßt sich jetzt der Begriff der Geschichte so angeben: sie ist W i r k l i c h k e i t s wissenschaft, insofern sie es mit einmaligen, individuellen Wirklichkeiten als solchen zu tun hat, welche die einzigen Wirklichkeiten sind, von denen wir überhaupt etwas wissen. Sie ist Wirklichkeitsw i s s e n s c h a f t , insofern sie einen für alle gültigen Standpunkt der bloßen Betrachtung einnimmt und daher allein die durch Beziehung auf einen allgemeinen Wert bedeutungsvollen oder wesentlichen individuellen Wirklichkeiten oder die historischen In-dividuen zum Objekt ihrer Darstellung macht. Erst durch diese Bestimmung hört der Begriff einer Wirklichkeitswissenschaft auf, lediglich Problem zu sein, wie er es anfangs war, oder gar einen Widerspruch einzuschließen, insofern das Wirkliche, g e n a u so wie es unabhängig von jeder Auffassung besteht, in k e i n e Wissenschaft eingeht. Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß auch der Sprachgebrauch sich mit den drei Stufen unserer Begriffsbestimmung gut verträgt. Das vieldeutige Wort „historisch“ brauchen wir e r s t e n s , um die bloße Tatsächlichkeit zu bezeichnen, wie das in dem Sprachgebrauch früherer Zeiten, z. B. in der Aufklärungsphilosophie, allgemein üblich war. Wenn wir also sagen, der viel zitierte Ausspruch Galileis: und sie bewegt sich doch, ist nicht historisch, so heißt das nur: Galilei hat diese Worte nicht wirklich gesprochen. Historisch bedeutet hier also genau so viel wie w i r k l i c h , und wir verstehen dann auch, warum alle Rationalisten sich über

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die bloß tatsächlichen Wahrheiten als über die „bloß historischen“ abfällig äußern. Dieser erste Sinn des Wortes historisch war unser erster Begriff. Z w e i t e n s aber sprechen wir mit Emphase von einem „historischen Moment“, wenn wir meinen, daß ein Ereignis große Bedeutung besitze, die es dadurch hat, daß es ein Gut ist, an welchem ein Wert haftet. Ja, wir kommen uns selbst wichtig vor, wenn uns gestattet ist, einen solchen historischen Moment mitzuerleben, und diese Bedeutung kann nur durch die Verbindung mit einem Werte entstehen, der sich dann auf uns überträgt. Der zweite Sinn des Wortes historisch deckt sich also mit der zweiten Stufe unseres Begriffs. | D r i t t e n s sagen wir endlich: dies oder jenes ist „historisch geworden“, oder noch besser, weil darunter leicht das negative Werturteil, es sei veraltet, verstanden werden kann, es „gehört der Geschichte an“, und damit meinen wir wieder etwas anderes. Wir wollen sagen, daß ein vergangenes Geschehen keinen direkten positiven oder negativen Wert mehr für das Leben der Gegenwart hat und so von unserm Wollen losgelöst ist. Manche Philosophen wünschen z. B., daß Kant endlich „historisch“ in diesem Sinne werden möge, d. h. sie möchten ihn aus dem philosophischen Kampfe der Gegenwart entfernen. Andererseits jedoch würde auch ein noch so „historisch“ gewordener Kant immer in bestimmten Beziehungen zu den wissenschaftlichen Werten bleiben und nur wegen dieser Beziehungen der Geschichte angehören. Wir sehen somit, wie die dritte Bedeutung des Wortes „historisch“ sich mit dem Begriffe deckt, den wir als den letzten zu dem Begriffe des Individuums hinzufügen mußten, um einen für die Wissenschaftslehre brauchbaren Begriff des historischen Individuums zu gewinnen. Kurz, wir können sagen, daß die drei verschiedenen Bedeutungen, die das Wort historisch hat, nämlich: wirklich, bedeutsam und dem Streit entzogen, alle von uns in gleicher Weise berücksichtigt oder in unserm Begriffe „aufgehoben“ werden konnten, und dies dürfte wenigstens einen kleinen Beitrag auch zur Rechtfertigung unserer Ausführungen liefern.

III. Die wertbeziehende Begriffsbildung.

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Nachdem wir nun wissen, was ein historisches Individuum ist, wird auch über das P r i n z i p d e r h i s t o r i s c h e n B e g r i f f s b i l d u n g , wenigstens soweit es sich um das absolut Historische und um einzelne, noch nicht in den Strom des Geschehens hineingezogene Individuen handelt, auf die wir uns zunächst beschränken, kein Zweifel mehr bestehen. In die historischen Begriffe gehört das, was sich durch die bloß theoretische Beziehung eines Objektes auf allgemein anerkannte Werte aus der Wirk-

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lichkeit heraushebt und zu individuellen Einheiten zusammenschließt. Wie auf diesem Wege sowohl die extensive als auch die intensive unübersehbare Mannigfaltigkeit in prinzipiell anderer Weise als durch bloße Beschreibung eines willkürlich herausgegriffenen Realitätsstückes überwunden wird, bedarf keiner weiteren Erörterung mehr. | Aus der extensiven Mannigfaltigkeit der verschiedenen Gestaltungen geht nur ein kleiner Teil in historische Begriffe ein, und ebenso bildet aus der intensiven Mannigfaltigkeit des einzelnen historischen Individuums wiederum nur ein kleiner Teil den wesentlichen Inhalt des historischen Begriffs. Die Leistung dieser Begriffsbildung ist also der der naturwissenschaftlichen mit Rücksicht auf die Vereinfachung analog, mit Rücksicht auf das inhaltliche Ergebnis ihr jedoch logisch entgegengesetzt. Während der naturwissenschaftliche Begriff das mehreren individuellen Gestaltungen Gemeinsame enthält und das, was allein den einzelnen Individuen zukommt, aus dem Begriffsinhalt selbst dann ausschließt, wenn der Begriff a n einer einzigen individuellen Realität gebildet ist, nimmt der historische Begriff gerade das auf, wodurch die verschiedenen Individuen sich voneinander unterscheiden, und läßt das ihnen Gemeinsame entweder ganz beiseite oder behält es lediglich soweit bei, als es auch für die Bestimmung der Individualität nicht entbehrt werden kann. Wir lernen also eine Art der begrifflichen Bearbeitung kennen, durch die der Inhalt der Wissenschaft sich nicht, wie es bei der Vereinfachung durch die Naturbegriffe der Fall war, immer weiter von der Individualität der Wirklichkeit entfernt, sondern durch die er so gestaltet wird, daß er zwar nicht die Anschauung, wohl aber die Individualität des empirischen Seins zum Ausdruck bringt. Damit klar wird, inwiefern hiermit das allgemeinste logische Problem einer historischen Darstellung gelöst ist, muß noch ausdrücklich bemerkt werden, daß das gewonnene Prinzip der Wertbeziehung dazu dient, sowohl die extensive als auch die intensive unübersehbare Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit zugleich zu überwinden. Man könnte nämlich meinen, die Wertbeziehung komme allein insofern in Betracht, als aus der e x t e n s i v e n Mannigfaltigkeit der Dinge bestimmte Objekte als wesentlich für die Geschichte herausgehoben werden, die Darstellung der i n t e n s i v e n Mannigfaltigkeit der einzelnen historischen Individuen dagegen sei von dem Prinzip der Wertbeziehung frei. Dadurch würde die Bedeutung dieses Prinzipes für die historische Begriffsbildung erheblich eingeschränkt werden. Man müßte dann sagen: welche Objekte überhaupt wesentlich sind, sei zwar von Werten abhängig, aber das bedeute doch nur, daß der Historiker irgendwelche Objekte aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit auszuwählen habe, um sie historisch darzustellen. Seine eigentlich wissenschaftliche Arbeit beginne daher erst, nachdem die Auswahl vollzogen sei, und insofern könne, wenn das Prinzip der Wertbeziehung nicht weiter reicht als zur Auswahl der |

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historisch wesentlichen Objekte überhaupt, von ihm als einem Prinzip der historischen B e g r i f f s b i l d u n g nicht gesprochen werden. Diese Ansicht ist jedoch unhaltbar. Das Prinzip der Wertbeziehung muß, wenn es überhaupt in der Geschichtswissenschaft eine wesentliche Rolle spielt, sowohl bei der Ueberwindung der extensiven als auch bei der Ueberwindung der intensiven Mannigfaltigkeit maßgebend sein. Nur w e g e n der Individualität einer intensiven Mannigfaltigkeit entsteht ja die Bedeutung des betreffenden Objektes für den allgemeinen Wert, und nur mit Rücksicht auf die Individualität seiner intensiven Mannigfaltigkeit kann daher das einzelne Individuum als historisches Individuum aus der unübersehbaren Fülle der anderen Individuen heraustreten. Es ist also das Prinzip der Wertbeziehung bei der Darstellung des intensiv mannigfaltigen Inhalts genau ebenso entscheidend wie bei der Auswahl des betreffenden Objektes aus der extensiven Unübersehbarkeit der Dinge und Vorgänge überhaupt. Freilich gilt das nur für d i e wesentlichen Bestandteile, die wir später als „primär historische“ zum Unterschied von den „sekundär historischen“ hervorheben werden.117 Aber insofern der Begriff des primär Historischen bestimmt, was sekundär historisch ist, bleibt das Prinzip der Wertbeziehung maßgebend auch für den bloß sekundär historischen Inhalt der geschichtlichen Darstellung. Solange wir lediglich feststellen, was aus der extensiven Mannigfaltigkeit der Dinge historisch wesentlich wird, und was es sodann ermöglicht, innerhalb der intensiven Mannigfaltigkeit des einzelnen historischen Individuums wesentliche von unwesentlichen Bestandteilen zu unterscheiden, müssen wir streng daran festhalten, daß in b e i d e n Fällen das Prinzip der Wertbeziehung in gleicher Weise maßgebend für die Unterscheidung und damit für den Charakter der historischen Begriffsbildung ist. Es kommt nun darauf an, die historische Begriffsbildung im Einzelnen noch etwas näher kennenzulernen. Daß die Elemente, die sich zu einem historischen Begriff zusammenschließen und so die durch Wertbeziehung wesentliche Individualität darstellen, selbst durchweg allgemein sind, haben wir bereits hervorgehoben. Wir wissen auch, warum dadurch die geschichtliche Begriffsbildung nicht aufhört, individualisierend zu sein, denn darauf allein kommt es an, daß das Z u s a m m e n der Elemente nicht etwas Allgemeines, sondern etwas Individuelles bildet. Hieran wird selbstverständlich nicht das geringste geändert, wenn man die Elemente des historischen Begriffes so zusammenschließt, daß man | zuerst einen a l l g e m e i n e n Begriff für das historische G a n z e nennt, der gewissermaßen den „Rahmen“ abgibt für die Eintragung der Faktoren, die nun den vorher nur allgemein bestimmten Gedanken an den historischen Gegenstand näher determinieren 117

Vgl. unten Abschnitt V dieses Kapitels.

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und so aus ihm den individuellen Begriff eines historischen Objektes machen. Der allgemeine Begriff tritt dann ebenso wie die andern Begriffselemente in den Dienst einer individualisierenden Auffassung. Was wir hier im Auge haben, können wir schon klarlegen, wenn wir noch einmal auf den Kohinoor zurückkommen, obwohl er, wie wir wissen, noch nicht ein historisches Individuum im eigentlichen, engeren Sinne darstellt. Es ist selbstverständlich richtig, daß, um seinen individuellen Begriff zu gewinnen, wir sagen müssen, dieses so beschaffene Individuum sei ein Diamant und nicht etwa nur ein Ding überhaupt. Wir brauchen also den allgemeinen Begriff des Diamanten, um das Individuum Kohinoor unter einen Begriff zu bringen, der auf ihn paßt. Aber dadurch wird der Begriff des Kohinoor selbst nicht allgemein. Ebenso setzt der Historiker voraus, daß, wenn er von Goethe redet, damit nicht ein Ding überhaupt, sondern ein Mensch gemeint ist, und insofern wird auch von der Geschichte das historische Individuum unter einen a l l g e m e i n e n Begriff gebracht. Das aber ist ein Umstand, der an dem logischen Gegensatz der generalisierenden und der individualisierenden Begriffsbildung nichts ändert, denn wenn wir statt eines Dinges überhaupt von einem Diamanten oder von einem Menschen mit so bestimmten Eigenschaften sprechen, dann werden diese Allgemeinbegriffe nur als Mittel der Individualisierung benutzt. Ein „Ding“ mit den und den näheren Bestimmungen bezeichnet eben n i c h t dasselbe Individuum wie ein „Diamant“ oder ein „Mensch“ mit den und den Bestimmungen, und es kommt hier gar nicht darauf an, ob auch ein umfassender Allgemeinbegriff notwendig ist, um die Individualität darzustellen, und ob insofern die Geschichtswissenschaft die Allgemeinbegriffe der Naturwissenschaft als Mittel benutzt. Es bleibt stets dabei, daß, in welchem Umfange solche Allgemeinbegriffe auch verwendet sein mögen, sie immer n u r Mittel zur Darstellung des Individuellen sind, also nicht als Ziele der historischen Begriffsbildung in Frage stehen. Wichtiger sind andere Eigentümlichkeiten der historischen Begriffe, die mit dem Umstande zusammenhängen, daß das Prinzip ihrer Bildung die Beziehung des Realen auf einen We r t ist, und sie müssen wir noch ausdrücklich erörtern. Insofern die Einheit des historischen Individuums stets auf Wert- | beziehung beruht, kann man sie als t e l e o l o g i s c h e Einheit und die historischen Individuen als teleologische Individuen bezeichnen. Das hängt damit zusammen, daß der Begriff des Zweckes als der eines in der Zukunft liegenden und zu verwirklichenden G u t e s gedacht wird, also mit ihm der Begriff eines Wertes, der daran haftet, verbunden ist, und man sich daher daran gewöhnt hat, jede Betrachtung, in der Werte eine entscheidende Rolle spielen, „teleologisch“ zu nennen. Die historische Begriffsbildung, die sich sol-

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cher teleologischen In-dividuenbildung anzuschließen hat, läßt sich dann ebenfalls als teleologisch ansehen, und die historischen Begriffsbildungen sind von den naturwissenschaftlichen dementsprechend als t e l e o l o g i s c h e B e g r i f f s b i l d u n g e n zu unterscheiden. Wäre es gestattet, einen philologisch nicht zu rechtfertigenden Terminus zu bilden, so könnte man für historisches Individuum auch „Individuendum“ und für historische Begriffsbildung „Individuendenbildung“ sagen. Doch wird es besser sein, überall, wo angedeutet werden soll, daß ein Individuum eine teleologische, d. h. eine n i c h t z u t e i l e n d e Individualität bedeutet, die Schreibweise In-dividuum zu gebrauchen, die freilich das teleologische Moment des Nicht-geteilt-werden-s o l l e n s nicht zum Ausdruck bringt. Zugleich erweckt jedoch andererseits der Ausdruck teleologisch bei vielen gewiß Verdacht, und besonders wer von Teleologie in den historischen Wissenschaften spricht, muß sich vor Mißverständnissen hüten. Gerade die Geschichtsteleologie steht mit Recht in einem schlechten Ruf, da es in der Tat unwissenschaftliche geschichtliche Teleologie gibt. Es ist daher noch genau zu bestimmen, in welchem Sinne allein die wertbeziehende Begriffsbildung „teleologisch“ heißen darf. Häufig bringt man die Begriffe k a u s a l und teleologisch in Gegensatz zueinander, und dann gilt jede Teleologie für unhaltbar, weil sie unvereinbar mit der kausalen Auffassung zu sein scheint. Freilich ist die Gegenüberstellung terminologisch nicht besonders glücklich, denn der Unterschied, den man meint, kann, falls die teleologische Auffassung die kausale ausschließen soll, nur darin bestehen, daß bei der kausalen Auffassung der Endeffekt gedacht wird als hervorgebracht durch Ursachen, die zeitlich vor ihm liegen, während er bei der teleologischen Auffassung als Zweck die Fähigkeit haben soll, zu wirken, ehe er verwirklicht ist. Es sind somit eigentlich b e i d e Auffassungen „kausal“, denn daß der Endeffekt als Zweck gesetzt und damit zugleich mit einem Wert verknüpft wird, ändert an den kausalen Verhältnissen als solchen noch nichts. Man sollte daher nicht von einem Gegensatz von Kausali- | tät und Teleologie überhaupt, sondern von zwei verschiedenen A r t e n von Kausalität sprechen, wie dies in den Worten causa efficiens und causa finalis zum Ausdruck kommt. Sehen wir von allen Wertgesichtspunkten ab, so bleibt auch die causa finalis eine w i r k e n d e Ursache. Der gemeinte Unterschied besteht also n u r darin, daß bei der teleologischen Kausalitätsauffassung die zeitliche Folge von Ursache und Effekt u m g e k e h r t ist, d. h. die Ursache schiebt in dem einen Fall das Bewirkte gewissermaßen vor sich her, während in dem andern Falle das Endziel, mit dem der Wert verknüpft wird, also der Zweck, die Fähigkeit hat, das, wodurch er wirklich werden soll, zu sich heranzuziehen. Aber, wie dem auch sein möge, bei einer empirischen Auffassung der Wirklichkeit ist in der Tat immer nur die erste Art des Kausalbegriffes ver-

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wendbar. Der Kampf gegen d i e Teleologie, die auf eine zeitliche Umkehr des Kausalitätsverhältnisses hinauskommt, indem sie wirkende Zwecke annimmt, ist daher auch in der Geschichtswissenschaft gewiß berechtigt. Ursachen, die wirken, ehe sie wirklich sind, können uns niemals als geschichtliche Tatsachen gegeben sein, und die Frage, ob die Wirklichkeit durch Ursachen beeinflußt wird, welche die Fähigkeit haben, das Material zu ihrer eigenen Verwirklichung zu sich hinzuleiten, darf daher für die Geschichte, falls sie eine empirische Wissenschaft sein soll, nicht in Betracht kommen. Das Problem einer teleologischen Kausalität in dem angegebenen Sinne gehört vielmehr, wenn es überhaupt ein Problem ist, in die Metaphysik, und wir wollen diese Art von Teleologie, die mit jenseits aller empirischen Wirklichkeit liegenden Ursachen rechnen muß, als m e t a p h y s i s c h e Te l e o l o g i e bezeichnen, um sie von der Geschichtswissenschaft hier fernzuhalten. Eine gewisse Umkehr der zeitlichen Aufeinanderfolge von Ursache und Effekt scheint jedoch auch dort vorzuliegen, wo ein bewußtes Wesen ein Ziel ins Auge faßt und es durch seine vom Willen geleiteten Handlungen erreicht. Ja, es würde der Begriff der metaphysischen Teleologie vielleicht nicht entstanden sein, hätte er nicht nach Analogie solcher Vorgänge gebildet werden können. Es ist jedoch klar, daß diese teleologische Auffassung trotzdem von der metaphysischen Kausalitätsteleologie geschieden werden muß. Eine Umkehr der Zeitfolge von Ursache und Wirkung, die sich mit einer empirischen Wissenschaft nicht verträgt, verlangt sie nicht. Der G e d a n k e an das Ziel, nicht das Ziel selbst, wirkt, und der Gedanke geht auch der Zeit nach dem beabsichtigten Effekt voran. Ein teleologischer Vorgang solcher Art | ordnet sich also durchaus dem für die empirische Wirklichkeit allein gültigen Begriff der Kausalität ein. Mit der Geschichtswissenschaft hat diese Teleologie nun insofern etwas zu tun, als sie in der Tat zum Verständnis historischer Vorgänge verwendet werden k a n n . Man wird, wo sich Dinge finden, die offenbar zur Erfüllung eines Zweckes dienen, und bei denen dieser Zweck als Motiv eines handelnden Wesens empirisch nicht festzustellen ist, um solche Vorgänge zu erklären, auf die Tätigkeit von Wesen schließen, deren Handlungen von einem bewußten zwecksetzenden Willen geleitet sind. Man kann dann die Betrachtungsweise auch so verallgemeinern, daß man sie auf alles menschliche Leben ausdehnt, d. h. ü b e r a l l nach bewußten Absichten und Zwecken sucht. Auch die Geschichte hat dies bisweilen getan. Sie glaubt dann, den Verlauf der historischen Ereignisse nur begreifen zu können, wenn sie zeigt, welchen Wert die geschichtlichen Gebilde für die Menschen besitzen, und daraus schließt, daß sie überall mit Rücksicht auf diesen Wert von vernünftigen Wesen absichtlich geschaffen wurden. Die Geschichte verfährt dann also

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ebenfalls prinzipiell „teleologisch“, und wir wollen eine solche Teleologie als r a t i o n a l i s t i s c h e Te l e o l o g i e bezeichnen, weil nach ihr die geschichtlichen Vorgänge als beabsichtigte Ergebnisse vernünftiger, zwecksetzender Wesen aufgezeigt werden. Es ist bekannt, welche Rolle diese Teleologie in der Geschichte gespielt hat: es sollten die Menschen die Sprache geschaffen haben, weil sie sie zur gegenseitigen Verständigung brauchten, sie sollten den Staat gegründet haben, um ihr Leben zu regeln und glücklich zu gestalten, usw. usw. Durch Voraussetzungen dieser Art muß der Inhalt jeder historischen Darstellung ein rationalistisch-teleologisches Gepräge bekommen. Haben wir nun etwa diese Teleologie im Auge, wenn wir von einer wertbeziehenden Methode der Geschichtswissenschaft sprechen? Es unterliegt keinem Zweifel, daß manche historischen Vorgänge in ihren wesentlichen Bestandteilen von Personen beeinflußt worden sind, die rational nach bewußten Zwecken handelten. Aber von der Absicht, die rationalistische Teleologie zum allgemeinen P r i n z i p der Geschichte zu machen, darf schon deswegen keine Rede sein, weil die historischen Individuen in unserem Sinne durchaus nicht immer Wesen zu sein brauchen, die sich Zwecke setzen und danach handeln, sondern auch Körper zu historischen Individuen werden können. Die rationalistische Teleologie liegt also wie die metaphysische hier außerhalb unseres Gesichtskreises. | Das ausdrücklich zu bemerken, haben wir noch einen andern Grund. Man kann nämlich von der rationalistischen Geschichtsteleologie sagen, daß sie „individualistisch“ ist. Wer die bewußte Zwecksetzung und die daraus hervorgehende Handlung als treibenden Faktor aller geschichtlichen Bewegungen und infolgedessen den Zweck als Erklärungsprinzip der Geschichte betrachtet, muß nicht nur in einzelnen Persönlichkeiten den Hauptgegenstand der Geschichte erblicken, weil in ihnen allein bewußte Zwecksetzungen zu konstatieren sind, sondern er muß infolgedessen auch meinen, daß die einzelnen Individuen die Geschichte m a c h e n , so daß alles Produkt individueller Absicht wird. Wir aber sind weit davon entfernt, eine individualistische Geschichtsauffassung in diesem Sinne zu vertreten. Wenn wir das Individuelle als Objekt der historischen Darstellung ansehen, so handelt es sich dabei nicht darum, den individuellen W i l l e n als den maßgebenden Faktor für den geschichtlichen Verlauf hinzustellen, sondern lediglich darauf kommt es an, daß die Geschichte es mit dem Individuellen als dem Einmaligen und Besonderen zu tun hat, und diese Meinung bleibt als rein logische Behauptung verträglich mit den verschiedensten Ansichten darüber, welches die eigentlich wirksamen Faktoren im historischen Verlauf sind. Solche Faktoren festzustellen, kann nicht Aufgabe der Logik, sondern nur Aufgabe der Geschichte selbst sein. Wir fragen hier noch gar nicht

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danach, ob in dem Ta t s a c h e n m a t e r i a l der Geschichte individuelle Zwecksetzungen überhaupt vorkommen. Wie weit zwischen dem leitenden Wert, mit Rücksicht auf den die wesentlichen Bestandteile eines historischen Begriffs zur Einheit verknüpft werden, und den Eigentümlichkeiten der Geschichte, die daraus folgen, daß sie es unter anderm auch mit zwecksetzenden Persönlichkeiten zu tun hat, notwendige Beziehungen bestehen, die von logischer Bedeutung sind, ist freilich eine Frage, die schließlich ebenfalls aufgeworfen werden kann. Aber sie gehört zu den Problemen, die aus der Eigenart des historischen M a t e r i a l s sich ergeben, und von ihr müssen wir daher hier noch vollständig absehen. Weil also nicht Zwecke, die im historischen S t o f f e vorkommen, sondern Wertgesichtspunkte, mit Rücksicht auf welche die historischen B e g r i f f e gebildet werden, den „teleologischen“ Charakter der Geschichte bedingen, dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn im Inhalte vieler geschichtlicher Darstellungen von Teleologie nichts zu finden ist, und wenn daher viele Historiker glauben, sich von allen Wertbeziehungen freizuhalten. Meist werden die mit Rücksicht auf den lei- | tenden Wert zusammengehörigen Elemente der historischen Begriffe einfach n e b e n e i n a n d e r gestellt, als ob etwas rein Tatsächliches konstatiert werden sollte. Ihre Einheit, die darin besteht, daß n u r sie das für den Historiker Wesentliche eines Vorgangs bilden, braucht darum auch in keiner Weise ihren sprachlichen Ausdruck zu finden. Ihre mit Rücksicht auf den Wert bestehende Zusammen g e h ö r i g k e i t offenbart sich vielmehr darin allein, daß sie überhaupt in der Darstellung vorkommen. Schon damit, daß von ihnen geredet ist, sind sie als wesentlich hervorgehoben. Deswegen muß die logische Struktur einer geschichtlichen Darstellung erst ausdrücklich herausgesucht werden, ja, wir dürfen nicht erwarten, an j e d e m Satze eines geschichtlichen Werkes das nachweisen zu können, was wir meinen. Es gibt historische Darstellungen, in denen erst der Zusammenhang des Ganzen die leitenden Wertgesichtspunkte der Begriffsbildung erkennen läßt, und es würde einer ausführlichen, bis ins einzelne gehenden Analyse bedürfen, um das wertbeziehende Prinzip aufzuzeigen. Nur bisweilen finden wir in historischen Schriften Sätze, die schon äußerlich das deutlich erkennen lassen, was wir hier meinen, und zwar wird das besonders dort der Fall sein, wo der Historiker das Bedürfnis hat, die Darstellung eines vielen vielleicht unwesentlich erscheinenden Vorganges ausdrücklich zu rechtfertigen. Dann muß die für gewöhnlich selbstverständliche Voraussetzung, daß nur das Wesentliche in die Darstellung aufzunehmen ist, zum Problem werden und ihren sprachlichen Ausdruck finden. Aber das sind Ausnahmefälle. Mit Rücksicht auf den leitenden Wert wesentlich oder teleologisch notwendig in diesem Sinne ist in der Geschichte das, was „zur Sache“ gehört. Deshalb wird von ihm berichtet, von anderem nicht. In diesem Sinne allein dürfen wir sagen, daß es

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noch niemals einen Historiker gegeben hat, der nicht wertbeziehend oder „teleologisch“ verfahren wäre. Weil vor allem die Eigenart der historischen Begriffsbildung in ihrem Verhältnis zur naturwissenschaftlichen deutlich werden soll, vergleichen wir beide noch genauer miteinander und schließen uns dabei an die verschiedenen Stadien der Vollkommenheit an, die wir beim naturwissenschaftlichen Begriff unterscheiden konnten. Empirische Allgemeinheit, Bestimmtheit und unbedingt allgemeine Geltung haben wir als seine drei Seiten kennengelernt, und wir wollen daher jetzt zusehen, inwieweit es entsprechende Probleme der historischen Begriffsbildung gibt. Was zunächst die empirische Allgemeinheit betrifft, so erinnern wir uns, daß die naturwissenschaftliche Begriffsbildung eines vorwissen- | schaftlichen Ansatzpunktes bedurfte, um die Vereinfachung der Wirklichkeit vornehmen zu können, d. h. sie mußte sich als die bewußte und systematische Weiterbildung einer vorwissenschaftlichen Begriffsbildung verstehen lassen, und deren Resultate fanden wir in den a l l g e m e i n e n Wo r t b e d e u t u n g e n der Sprache des täglichen Lebens. Suchen wir nun für die historische Begriffsbildung nach einem Analogon, so haben wir nicht auf Worte mit allgemeinen Bedeutungen zu achten, sondern im Gegenteil darauf, daß es E i g e n n a m e n gibt, die sich auf nur einmal vorhandene individuelle Objekte beziehen. Schon durch diese Art der Bezeichnung wird in der unübersehbaren extensiven Mannigfaltigkeit der Dinge eine bestimmte Anzahl abgesondert, die durch die Einzigartigkeit bedeutsam, also Individuen im engeren Sinne des Wortes sind, und an denen diejenigen Bestandteile, deretwegen sie mit einem Eigennamen vor den übrigen ausgezeichnet werden, sich aus ihrer unübersehbaren intensiven Mannigfaltigkeit mehr oder weniger deutlich herausheben. Das kann aber nur darauf beruhen, daß bestimmte Individuen gerade wegen ihrer Individualität auf einen Wert bezogen werden, und in der unwillkürlich begonnenen Scheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem im vorwissenschaftlichen Leben, die in der Bezeichnung mit Eigennamen zum Ausdruck kommt, dürfen wir daher die primitivste Form einer historischen Individuenbildung im weitesten Sinne des Wortes erblicken. Solche Scheidung jedoch wird oft als Resultat rein individueller Willkür auftreten. Der Einzelne bezeichnet seine Haustiere mit Eigennamen, während für die anderen diese Objekte lediglich Katzen, Hunde usw., also Gattungsexemplare sind. Es fehlt dann dem Wertgesichtspunkt, mit Rücksicht auf den im vorwissenschaftlichen Leben die Hervorhebung durch den Eigennamen erfolgt, noch jede a l l g e m e i n e Bedeutung, die vorhanden sein muß, falls der Prozeß der Auswahl auch nur als Vorstufe zur wissenschaftlichen Begriffsbildung der Geschichte angesehen werden soll. Daher ist wieder zwischen Individuen zu unterscheiden, die für irgendein beliebiges wer-

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tendes Wesen, und solchen, die für alle durch einen Eigennamen aus der Masse hervortreten, und die sich also wirklich „einen Namen gemacht“ haben. Unter „Allen“ können wir dabei jede Mehrheit von in Gemeinschaft lebenden stellungnehmenden Menschen verstehen. Die primitivste Form der „historischen“ Begriffsbildung läßt sich hiernach vielleicht in Familiengeschichten konstatieren. Die Trennung dessen, was Individuum im engeren Sinne, von dem, was bloßes Gattungsexemplar ist, wird von | allen Mitgliedern der Familie auf Grund der ihnen gemeinsamen Wertgesichtspunkte vollzogen, und dann ist eine Familiengeschichte möglich, die zugleich als empirisch g ü l t i g angesehen werden darf. Sie wendet sich an einen Kreis von Menschen, bei denen eine Uebereinstimmung in dem Urteil darüber besteht, welche individuellen Gebilde genug Bedeutung besitzen, um in der Erinnerung aufbewahrt zu werden. Dasselbe muß bei vielen anderen Gruppen von Menschen zu konstatieren sein, in denen überhaupt irgendeine Gemeinsamkeit der Interessen herrscht. Trotz aller Verschiedenheiten des Geschmacks oder der Ideale zerfällt für ihre Glieder in übereinstimmender Weise die Wirklichkeit in solche Gebilde, die durch ihre individuelle Eigenart Bedeutung besitzen, und in solche, die nur als Gattungsexemplare in Betracht kommen, ja, wo dies geschieht, wird meist „Geschichte“ in irgendeiner Form der Ueberlieferung vorhanden sein, und hieran vermag dann die Forschung anzuknüpfen. Sie hat die vorgefundene individualisierende Auffassung der Wirklichkeit mit Bewußtsein weiter auszubilden, ebenso wie die Naturwissenschaft an die vorwissenschaftlichen allgemeinen Wortbedeutungen anknüpft, um zu naturwissenschaftlichen Allgemeinbegriffen zu kommen. Daß solche primitiven historischen Darstellungen auch von direkten Wertungen positiver und negativer Art nicht frei sein werden, also nicht allein Wertbeziehung, sondern mehr als das enthalten, kommt in unserm Zusammenhange nicht in Betracht. Jedenfalls ist in ihnen das Analogon und zugleich der Gegensatz zur primitivsten Art der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung aufgezeigt. Was entspricht sodann dem Prozeß der Begriffs b e s t i m m u n g in der Geschichte? Wir wissen, daß in der Naturwissenschaft die wesentlichen Elemente des Begriffs als „Merkmale“ durch eine Reihe von Urteilen ausdrücklich herausgehoben und durch eine Definition fixiert werden, so daß die anschauliche Mannigfaltigkeit, die sich als Stellvertretung bei den meisten naturwissenschaftlichen Begriffen einfindet, sobald man ihren Inhalt sich ausdrücklich zu vergegenwärtigen sucht, keinen störenden Einfluß mehr auf die Bestimmtheit des Begriffsinhaltes gewinnt.118 Wird nun etwa die Aufga118

Aus naheliegenden Gründen können wir hier und an anderen Stellen nur naturwissenschaftliche D i n g begriffe mit den historischen vergleichen.

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be der geschichtlichen Begriffsbildung ebenfalls darin bestehen, die mit Rücksicht auf den leitenden Wert wesentlichen Elemente eines Individuums in einem jederzeit zu analysierenden „Merkmalskomplex“ zusammenzufassen | und alle übrigen Bestandteile, aus denen seine anschauliche Mannigfaltigkeit besteht, so weit wie möglich zurückzudrängen? Ist mit andern Worten der Unterschied einer naturwissenschaftlichen und einer geschichtlichen Darstellung n u r darin zu finden, daß die eine die Elemente in einen Begriff vereinigt, die mehreren Objekten gemeinsam sind, die andere dagegen solche, auf denen die Bedeutung eines einzigen individuellen Objekts beruht? Solange wir den prinzipiellen Gegensatz zwischen beiden Arten der Begriffsbildung auf eine abstrakte Formel zu bringen suchten, mußten wir hierauf den Schwerpunkt legen. Jetzt aber ist ebenso entschieden hervorzuheben, daß das angegebene Prinzip der Wertbeziehung für die historische Darstellung lediglich den leitenden Gesichtspunkt liefert, der es ihr möglich macht, in allgemeingültiger Weise Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden, daß dagegen eine vollständig ausgeführte historische Darstellung stets über das, was man historische B e g r i f f s bildung im strengen Sinne des Wortes nennen kann, hinausgeht, und zwar ergibt sich dies wiederum aus dem Begriff der Geschichte als der Wissenschaft von dem Einmaligen und Individuellen, so wie es wirklich abläuft. Alles empirisch Wirkliche ist nicht allein individuell, sondern zugleich anschaulich, und wenn auch die v o l l s t ä n d i g e Anschauung in keine Wissenschaft aufgenommen werden kann, so wird die Geschichte ihr doch wenigstens n ä h e r zu kommen suchen, als dies durch bloße Zusammenstellung der durch Wertbeziehung wesentlichen und notwendigen Elemente zu einem individuellen Begriff möglich ist. Sogar in den Naturwissenschaften läßt sich das Wesen der Begriffsbildung nur schematisch dadurch angeben, daß man von wesentlichen „Merkmalen“ eines Begriffes spricht. Vollends reicht in den historischen Darstellungen solche Schematisierung der Begriffsbildung nicht aus, und das gilt nicht allein insofern, als die Geschichte jede beliebige Kombination von eventuell noch so allgemeinen Begriffen benutzen kann, falls es ihr dadurch gelingt, die Individualität des betreffenden Objektes, soweit sie für sie wesentlich ist, zum Ausdruck zu bringen, sondern es kommen in den Begriffsinhalt noch ganz andere Elemente hinein, die sich aus dem Prinzip der Wertbeziehung überhaupt nicht verstehen lassen. Was in der Naturwissenschaft nicht zur Sache gehört, sondern sich unwillkürlich einstellt und zumal dann, wenn die begriffliche Darstellung durch Bilder unterstützt wird, faktisch nicht vermieden werden kann: das Ueberschreiten der Grenzen des | begrifflich Erkennbaren und die Darstellung einer anschaulichen Mannigfaltigkeit, das wird für die Geschichte als der Wissenschaft von dem einmaligen individuellen Geschehen zur notwen-

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digen A u f g a b e . Sie muß versuchen, auch individuelle A n s c h a u u n g e n ihrer Objekte zu geben, in denen die mit Rücksicht auf den leitenden Wert wesentlichen Bestandteile sich neben solchen finden, die lediglich zur Anregung der Phantasie dienen und die Darstellung der Wirklichkeit möglichst nahe bringen sollen, so daß dann in den historischen Begriffen die beiden Faktoren, erstens die mit Rücksicht auf den leitenden Wertgesichtspunkt wesentlichen und zweitens die über das Wesentliche zur Anschauung hinausgehenden, sich zu einem einheitlichen anschaulichen Ganzen verknüpfen. Eine Bestimmtheit ihrer Darstellung strebt also auch die Geschichte an, aber in manchen Fällen nicht durch Definitionen, sondern durch möglichst scharfe und deutliche anschauliche Bilder. Die infolge der Wertbeziehung wesentlichen Bestandteile geben dann nur die allgemeine Grundlage für ein Bild, das die geschichtliche Darstellung mit einer Fülle von „lebendigen“ Zügen weiter auszugestalten hat. Ja, der Historiker kann sich geradezu bemühen, das Prinzip, welches seine Darstellung leitet, d. h. den Wertgesichtspunkt, der bestimmt, was wesentlich und was unwesentlich ist, zu verdecken, oder er wird sich in den meisten Fällen dessen überhaupt nicht bewußt sein, was mit Rücksicht auf den leitenden Wert wesentlich ist, und was er in seine Darstellung allein deshalb aufnimmt, um sich auch der Anschaulichkeit der Wirklichkeit durch ein möglichst genau bestimmtes individuelles Bild zu nähern. Er mag seine Aufmerksamkeit vor allem darauf richten, daß seine Darstellung die Vergangenheit anschaulich wieder vergegenwärtigt und „nachzuerleben“ gestattet. Selbstverständlich kann er niemals ein in jeder Hinsicht bestimmtes Bild entwerfen, sondern muß vieles dem freien Spiel der Phantasie überlassen, aber der Spielraum der möglichen Differenzen ist doch in hohem Maße durch die Darstellung einzuengen, so daß die Phantasie wenigstens in eine bestimmte Richtung hineingewiesen wird. Dabei kann unter Umständen schon die Zusammenstellung einer geringen Anzahl von Elementen genügen, um in jedem ein anschauliches Bild der individuellen Eigenart des historischen Objektes hervorzurufen. Bisweilen sind dagegen ausführliche Schilderungen notwendig, bis die verschiedenen Wortbedeutungen sich zu bestimmten Anschauungen einer Individualität vereinigen. Auf jeden Fall aber tritt, | falls nicht in historischen Definitionen, sondern lediglich in der Ausgestaltung möglichst bestimmter individueller Anschauungen das Analogon zur naturwissenschaftlichen Begriffs b e s t i m m u n g zu erblicken ist, der prinzipielle Unterschied zwischen den beiden Arten der wissenschaftlichen Darstellung von neuem in seiner ganzen Schärfe hervor. Und auch das ist klar, wie dieser Unterschied wieder mit dem Gegensatz der individualisierenden und der generalisierenden Begriffsbildung zusammenhängt. Bei

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generalisierend gebildeten Begriffen hat eine weitere Ausgestaltung, die bis zu der Schöpfung des individuellen Bildes vordringt, keinen Sinn. Bei der individualisierenden Begriffsbildung verstehen wir dagegen sehr gut, weshalb, wo die Wirklichkeit in ihrer Individualität erfaßt werden soll, auch Mittel herbeigezogen werden, die zugleich die Anschaulichkeit der Wirklichkeit wiedergeben, da uns ursprünglich die Individualität einer Wirklichkeit oft n u r in ihrer Anschaulichkeit zum Bewußtsein kommt. Freilich sind wir hiermit wieder an einen Punkt gekommen, wo in gewisser Hinsicht dem logischen Begreifen der Geschichtswissenschaft eine unüberwindliche Grenze gesetzt ist. Wie es im einzelnen logisch unverständlich blieb, welche Lücken eine geschichtliche Darstellung wegen Mangels an Material zeigt, und was sie daher w e n i g e r enthält, als sie mit Rücksicht auf das logische Ideal an wesentlichen Bestandteilen enthalten sollte, ebenso wenig vermag man es im einzelnen logisch zu begreifen, was m e h r von der Wirklichkeit dargestellt wird, als in dem angegebenen Sinne wegen der Wertbeziehung notwendig und wesentlich ist, denn bei dem auf die Anschaulichkeit der Darstellung gerichteten Bestreben ist der rein persönlichen Neigung und Begabung des Historikers der breiteste Spielraum gelassen. Die Geschichte wendet sich hier an die Phantasie und bedarf selbst der Phantasie. Sobald aber die Phantasie ins Spiel kommt, hat die L o g i k nichts mehr zu sagen. Genauer: sie kann lediglich im a l l g e m e i n e n verstehen, warum die historischen Darstellungen sowohl infolge des Materialmangels hinter dem, was mit Rücksicht auf die Wertbeziehung notwendig ist, z u r ü c k bleiben, als auch infolge des Bedürfnisses nach Anschaulichkeit über das h i n a u s gehen müssen, was als wesentlich im strengen Sinne zu bezeichnen ist. Aber in jedem b e s o n d e r e n Falle bleibt sowohl das minus als auch das plus für sie logisch zufällig. Dies logisch zufällige plus macht es von neuem verständlich, warum die Möglichkeit einer Logik der Geschichte überhaupt bestritten worden | ist, oder warum man sich weigert, in der Methodologie der Geschichtswissenschaft von einem logischen Prinzip auszugehen. Wir kommen hier in der Tat an eine Stelle, wo das rein logische Verstehen des geschichtswissenschaftlichen Denkens versagt. Sobald wir aber eingesehen haben, auf welche Teile der geschichtlichen Darstellung sich die logische Unableitbarkeit beschränkt, und warum diese Teile logisch unbegreiflich bleiben müssen, ist zugleich klar, daß hieraus gegen die Möglichkeit eines logischen Verständnisses der Geschichte überhaupt gar nichts folgt. Im Gegenteil, der Umstand, daß in den Darstellungen des Individuellen das logisch Unbegreifliche, d. h. auch durch das Prinzip der Wertbeziehung nicht mehr als wesentlich zu Verstehende, eine so große Rolle spielt, ist selber unter logischen Gesichtspunkten charakteristisch und dient mit dazu, das logische Wesen der Geschichtswissenschaft verstehen zu lassen.

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Ferner zeigt dieser Umstand noch, wie unfruchtbar in logischer Hinsicht eine Untersuchung bleiben muß, die davon a u s g e h e n will, daß der Historiker die Aufgabe habe, die vergangene Wirklichkeit der Gegenwart wieder „lebendig“ zu machen, oder daß in einem „nacherlebenden Verstehen“ das logische Wesen der Geschichtswissenschaft zu erblicken sei. Solche Behauptungen sind zwar insofern nicht falsch, als ein Te i l der geschichtlichen Arbeit in der Tat auf „nacherlebendes Verstehen“ hinauskommt. Aber der Begriff des Verstehens bleibt seiner allgemeinsten Bedeutung nach noch indifferent in bezug auf die l o g i s c h e Eigenart der Geschichte. Denn das „Verstehen“ kann sowohl einen generalisierenden wie auch einen individualisierenden Charakter tragen. Nur wenn wir die individualisierende Begriffsbildung der generalisierenden entgegenstellen und dann zeigen, warum die individualisierende B e g r i f f s b i l d u n g über das mit Rücksicht auf die Werte Wesentliche h i n a u s zur individuellen A n s c h a u u n g gehen muß und zur Schöpfung anschaulicher Gestaltungen ein nicht allein begrifflich individualisierendes, sondern auch anschaulich nacherlebendes „Verstehen“ braucht, dürfen wir hoffen, in das logische Wesen der Geschichtswissenschaft einzudringen.119 Damit dies zunächst formal vollständig geschieht, müssen wir die Behauptung, daß es keine logische Grenze für den bei der anschaulichen Darstellung vorhandenen Spielraum der Phantasie gibt, in | gewisser Hinsicht auch wieder einschränken. Ist es zwar in der Hauptsache Sache des Taktes und Geschmackes, wie weit man im Interesse der Anschaulichkeit bei einer wertbeziehenden Begriffsbildung die logisch wesentlichen Bestandteile überschreiten und Details berücksichtigen will, die keine Beziehung zu den leitenden Werten mehr besitzen, und läßt sich dieser Teil der Tätigkeit des Historikers auch niemals auf logische Formeln bringen, so besteht die Unmöglichkeit, unter logischen Gesichtspunkten die individuellen Neigungen des Historikers einzuschränken, doch eben nur in bezug auf das, was die Geschichte zu dem begrifflich Notwendigen an i n d i v i d u e l l e n Zügen der Darstellung h i n z u f ü g t , nicht in bezug auf das, was sie mit a l l g e m e i n e n Begriffen zum Ausdruck bringt. Die Darstellung wird zwar z. B. von einer historischen Persönlichkeit wie Goethe oder Bismarck gewiß nicht ausschließlich das erzählen, was in einem mit Rücksicht auf die leitenden Werte notwendigen Zusammenhang steht, sondern das geschichtliche Bild von ihnen auch durch solche individuellen Züge bereichern, die lediglich der größeren Anschaulichkeit dienen, und die sich vielleicht zum Teil erst mit Hilfe eines nacherlebenden Verstehens herbeischaffen lassen. Aber 119

Genauer kann der Begriff des historischen Verstehens und Nacherlebens erst im Zusammenhang mit den s a c h l i c h e n Eigentümlichkeiten des geschichtlichen Materials erörtert werden. Das wird später geschehen.

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es wäre sinnlos, in der Geschichte von diesen Männern etwas zu berichten, was sie mit allen den Individuen teilen, die unter denselben allgemeinen naturwissenschaftlichen Begriff fallen. Was ihnen naturnotwendig zukommt, weil sie zur Gattung homo sapiens gehören, wie überhaupt alles, was sich aus Naturgesetzen ableiten läßt, wird niemals in ihren historischen Begriffen Platz finden, denn, daß die betreffenden Objekte, die dargestellt werden sollen, mit all dem ausgestattet sind, was ihnen naturnotwendig zukommt, kann in einer geschichtlichen Darstellung lediglich stillschweigend vorausgesetzt, niemals aber zum ausdrücklichen Gegenstande der Behandlung gemacht werden. Mit Rücksicht auf ihre naturnotwendigen Bestandteile könnten die historischen Individuen ja durch jedes beliebige andere Individuum derselben Gattung ersetzt werden und sind somit historisch uninteressant. Es beginnt vielmehr, soweit es sich um das a b s o l u t historische Individuum handelt, das Interesse der Geschichte frühestens an der Stelle, wo das naturwissenschaftliche aufhört. Deshalb können die für die begriffliche Individuenbildung notwendigen Bestandteile einer historischen Darstellung niemals die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Geschichte wieder in Frage stellen. Wie wir schon einmal hervorhoben, ist es für die Geschichte selbstverständlich, daß Goethe oder Bismarck „Menschen“ sind, aber von diesem allgemeinen | Menschlichen, wodurch Goethe und Bismarck sich von andern Menschen nicht unterscheiden, hat die Geschichte a u s d r ü c k l i c h zu reden, niemals Veranlassung. Der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Geschichte tritt dadurch von neuem hervor. Wohl aber scheint die anschauliche Seite der historischen Darstellung für viele die Linie unkenntlich gemacht zu haben, welche die Geschichte gegen eine andere menschliche Betätigung abgrenzt, denn sie hat zu der Behauptung Veranlassung gegeben, jede Darstellung des Individuellen, also auch die Geschichte, sei nicht Wissenschaft, sondern K u n s t , oder sie hat zur Aufstellung eines Gegensatzes zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Geschichtsschreibung geführt. Nun läßt sich gewiß nicht leugnen, daß, wo an die Stelle einer Definition eine an die Phantasie sich wendende Darstellung tritt, die Geschichte dieselben Mittel verwenden kann, deren die Poesie sich bedient, um anschaulich zu wirken. Aber ist darum der Historiker, der Individuelles darstellt, aus der Reihe der wissenschaftlichen Männer zu verweisen und unter die Künstler zu setzen, weil er zur Vergegenwärtigung des Vergangenen unter anderem auch künstlerische Ausdrucksformen braucht? Wir dürfen erstens nicht vergessen, daß nicht die Individualität, sondern die Anschaulichkeit der Wirklichkeit für die Geschichte eine Schilderung unentbehrlich macht, bei der eventuell Mittel, wie der Künstler sie verwendet, angewendet werden, und zweitens, daß für den Künstler die anschau-

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liche Darstellung Z w e c k , für den Historiker dagegen lediglich M i t t e l ist. Schon dann muß der prinzipielle Unterschied klar sein. Die künstlerische Tätigkeit besteht in einer Ausgestaltung der Anschauung selbst, die ästhetisch wirken soll, und man wird es sogar in Frage stellen müssen, ob der Künstler seine ästhetischen Absichten erreichen kann, falls er n u r individualisierend verfährt. Der Historiker dagegen will die Anschauung nicht um der ästhetischen Wirkung willen hervorrufen, sondern um mit ihrer Hilfe zu zeigen, wie es wirklich gewesen ist, und das individualisierende Verfahren gewinnt daher, auch wenn er die Anschauung ausgestaltet, für ihn eine prinzipiell andere Bedeutung als für den Künstler. Der Künstler ist in seinem Verhältnis zur tatsächlichen Wahrheit „frei“, d. h. er braucht sich nicht an das zu halten, was nur einmal wirklich war. Der Historiker dagegen bleibt immer an die einmaligen Tatsachen gebunden, insofern seine anschauliche Darstellung mit einer bestimmten einmaligen individuellen Wirklichkeit übereinstimmen, d. h. wahr | sein muß. Zwar spricht man auch von „künstlerischer Wahrheit“, aber das Wort hat dann einen uneigentlichen und übertragenen Sinn, den näher darzulegen nicht notwendig ist.120 Es genügt, hervorzuheben, daß wahr in der theoretischen Bedeutung des Wortes nur Urteile sind oder Begriffe, sofern sie den Gehalt von Urteilen besitzen. Auf wahre Urteile geht der Künstler niemals, der Historiker dagegen immer aus. Ganz ungerechtfertigt ist es vollends, wissenschaftliche und künstlerische Bestandteile in ein und derselben Darstellung so zu scheiden, daß die Wissenschaft darin die allgemeinen Begriffe, die Kunst dagegen die individuelle anschauliche Ergänzung gäbe, und auf diese Weise die Gleichsetzung von Wissenschaft und Naturwissenschaft aufrechtzuerhalten. Wie sollen zwei in logisch entgegengesetzter Richtung sich bewegende Tendenzen, von denen die eine auf das Allgemeine, die andere auf das Individuelle geht, zu einer Einheit zusammenwirken? Zwar scheint sich die Kunst mit einer allgemeine Begriffe bildenden Darstellung dort zu vereinigen, wo z. B. eine zoologische oder botanische Untersuchung Abbildungen ihrer Objekte gibt, denn diese werden als Anschauungen einen individuellen Charakter tragen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die individuellen Züge solcher Abbildungen unwesentlich sind, ja, im wissenschaftlichen Interesse unberücksichtigt bleiben müssen. Die Bilder wollen einen Durchschnittstypus darstellen. Sie haben daher auffallende individuelle Abweichungen zu vermeiden, und abgesehen davon ist es gleichgültig, in welcher besonderen Richtung sie individuell sind. In der Geschichte dagegen kommt gerade das in einer bestimmten Richtung indivi120

Vgl. J o n a s C o h n , Allgemeine Aesthetik, 1901, S. 69 ff.

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duelle Bild als solches in Betracht. Es hat sich eng an den individuellen Inhalt des Begriffes anzuschließen, den es anschaulich machen soll, und wäre daher nicht auch die Begriffsbildung von vornherein auf das Individuelle gerichtet, so würde die geschichtliche künstlerische Schilderung nichts vorfinden, was sie mit ihren Mitteln umkleiden und bis zu einer bestimmten individuellen Anschauung steigern könnte. Nur ein individueller Begriff, niemals ein allgemeiner kann demnach die wissenschaftliche Basis für eine individuelle anschauliche Darstellung abgeben, die ein Nacherleben der individuellen Vergangenheit ermöglicht. Man hat also zwar richtig gefühlt, daß die Geschichte etwas enthält, was über die rein begriffliche Wissenschaft hinausgeht, aber die Art, wie man dies plus von ihr abgrenzt, bleibt verfehlt. Jedes Bestreben, einen Gegensatz von begrifflicher und darstellender Geschichte so zu | konstruieren, daß die begriffliche es mit dem Allgemeinen, die darstellende es mit dem Individuellen zu tun habe, ist als ein hoffnungsloser Versuch zu betrachten, gegenüber der Tatsache, daß alle Geschichte es mit Individuen zu tun hat, wenigstens einen kleinen Rest von der gepriesenen naturwissenschaftlichen Universalmethode zu retten. Daß die Geschichte dabei in zwei unvereinbare, heterogene Bestandteile zerlegt werden muß, kann lediglich die Unhaltbarkeit der Meinung dartun, es habe auch der Historiker als Mann der Wissenschaft allgemeine Begriffe zu bilden. Die Darstellung des Individuellen im historischen Begriff braucht nicht einmal künstlerische M i t t e l , und der Umstand, daß der Historiker bisweilen m e h r zu geben hat als das, was sich auf logische Formulierungen bringen läßt, darf niemals dazu dienen, seiner Tätigkeit den wissenschaftlichen Charakter zu nehmen und sie zur Kunst zu machen. Auf die Frage, inwiefern die Geschichte eine Wissenschaft ist, werden wir noch von einer anderen Seite her geführt, wenn wir schließlich den historischen mit dem naturwissenschaftlichen Begriff in bezug auf die unbedingt allgemeine G e l t u n g vergleichen, die wir als dessen dritte Seite kennengelernt haben. Die mehr als empirisch allgemeine Geltung zeigt sich in der Naturwissenschaft am deutlichsten in der Möglichkeit, Naturgesetze zu finden. Auch in der historischen Begriffsbildung stoßen wir wieder auf ein analoges Problem. Die Geltung der geschichtlichen Darstellung muß nämlich abhängig sein von der Geltung der Werte, auf welche die historische Wirklichkeit bezogen wird, und daher setzt der Anspruch auf unbedingt allgemeine Geltung der historischen Begriffe die Anerkennung von unbedingt allgemeinen Werten voraus. Zwar schließt diese Anerkennung, wie wir ausführlich gezeigt haben und nicht nachdrücklich genug hervorheben können, nicht etwa die Möglichkeit einer übereinstimmenden We r t u n g der historischen Ob-

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jekte ein, aber das bleibt doch notwendig, daß überhaupt Werte anerkannt werden, zu denen jeder auch als wissenschaftlicher Mensch Stellung nehmen, und auf die er die Wirklichkeit beziehen muß, denn dann allein kann ihr individueller einmaliger Verlauf ihm niemals ganz gleichgültig sein und daher auch eine Darstellung ihrer Individualität ihm niemals als rein willkürlich oder überflüssig erscheinen. Es genügt demnach nicht, daß wir die rein individuellen Werte ausschließen und als leitende Prinzipien einer historischen Darstellung solche Werte bezeichnen, die allen Gliedern einer bestimmten Gemein- | schaft gemeinsam sind, sondern wir müssen, falls die Geschichte mit der Art von Allgemeingültigkeit wetteifern soll, auf welche die Naturwissenschaft bei der Aufstellung von Naturgesetzen Anspruch macht, annehmen, daß gewisse Werte nicht allein faktisch von allen Gliedern bestimmter Gemeinschaften anerkannt werden, sondern daß die Anerkennung von Werten überhaupt jedem wissenschaftlichen Menschen als unvermeidlich zugemutet werden darf, und daß daher die Beziehung der einmaligen und individuellen Wirklichkeit auf i r g e n d welche Werte von mehr als empirisch allgemeiner Geltung n o t w e n d i g ist. Erst unter dieser Bedingung kann eine historische Darstellung als wissenschaftliche Notwendigkeit gelten. Der Frage jedoch, was unter der Geltung der unbedingt allgemeinen Werte zu verstehen ist, und wie sie mit dem Problem der wertbeziehenden Begriffsbildung zusammenhängt, wenden wir uns erst im letzten Kapitel zu. Nur wenn die logische Struktur der historischen Wissenschaften bereits vollständig klar vor uns liegt, und wenn die Werte, die faktisch ihre Begriffsbildung leiten, uns näher bekannt sind, können wir verstehen, in welchem Sinne der Anspruch der Geschichtswissenschaften auf „Objektivität“ von der Geltung unbedingt allgemeiner Werte abhängt. Hier kam es darauf an, auf das P r o b l e m hinzuweisen, das in der Geschichtswissenschaft dem Problem der überempirischen, unbedingten Geltung von Naturgesetzen entspricht. Die Frage nach der Geltung von Naturgesetzen haben wir früher ebenfalls nicht beantwortet, sondern wir setzten ohne weitere Begründung voraus, es habe einen Sinn, mehr als empirisch allgemeine Urteile zu fällen. Wir zeigten also nur, daß allein dann, w e n n es unbedingt allgemeingültige Gesetze gibt, eine mehr als willkürliche Begriffsbildung bei der Bearbeitung der Wirklichkeit als Natur möglich ist. Ebenso beschränken wir uns hier darauf, zu sagen: w e n n die Anerkennung der Geltung von Werten überhaupt und die Beziehung der individuellen Wirklichkeit auf sie von keinem wissenschaftlichen Standpunkt aus als willkürlich erscheinen kann, dann und nur dann ist eine mehr als willkürliche Bearbeitung der Wirklichkeit als Geschichte möglich. Ob und mit welchem Rechte wir von unbedingt allgemeinen Naturgesetzen einerseits und wissenschaftlich notwendiger Be-

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ziehung der Wirklichkeit auf unbedingt allgemeine Werte andererseits reden, das sind nicht mehr rein methodologische Fragen. Wir verhehlen uns freilich nicht, daß die Verwendung unbedingt allgemeiner Werte als wissenschaftlicher Voraussetzung der Geschichte | dem größten Mißtrauen begegnen, dagegen die Frage, ob es so etwas wie unbedingt allgemeine Naturgesetze gebe, als ziemlich überflüssige erkenntnistheoretische Grübelei betrachtet werden kann. Aber Vorurteile solcher Art hängen mit der einseitigen Auffassung vom Wesen der „Wissenschaft“ zusammen, die zu bekämpfen, das Ziel dieser ganzen Untersuchung ist. Eine vorurteilslose Betrachtung sollte die Frage nach der unbedingten Geltung von Werten zunächst wenigstens ebenso als offene behandeln wie die nach der unbedingten Geltung von Naturgesetzen. Ein überempirischer Faktor ist in b e i d e n Fällen nicht zu umgehen. Vorläufig kann es bei dieser Feststellung sein Bewenden haben.

IV. Der historische Zusammenhang. Wenn wir jedoch auch von allen Wertproblemen absehen, so genügt das, was wir über die Darstellung individueller Wirklichkeiten durch die Geschichte gesagt haben, zur Bestimmung des logischen Begriffes der Geschichtswissenschaft noch immer nicht. Um den Begriff des historischen Individuums in seiner einfachsten Form zu gewinnen, mußten wir zuerst die Objekte der Geschichte nicht nur als individuelle, sondern auch als gewissermaßen in sich abgeschlossene und dadurch v e r e i n z e l t e Gestaltungen betrachten. Man darf nun aber das Individuelle oder Einzelne nicht für das Vereinzelte halten. In der empirischen Welt, so wie sie einmal wirklich abläuft, gibt es etwas Vereinzeltes niemals, und auch die Geschichte als Wissenschaft vom individuellen Verlauf der empirischen Wirklichkeit kann nicht „individualistisch“ in dem Sinne sein, daß sie ihr Material in i s o l i e r t e Individuen oder „Gestalten“ auflöst. Isolierung wäre nach unseren Voraussetzungen unhistorisch. Nur die generalisierende Begriffsbildung ist mit isolierender Abstraktion verbunden. In der Geschichte kommen zwar auch Beschreibungen von Zuständen vor, in denen die Verbindung der beschriebenen Objekte mit andern Dingen und Vorgängen ignoriert ist, aber mit solchen isolierenden Darstellungen wird die historische Wissenschaft ihre Aufgabe nicht als erschöpft betrachten. Ihre Arbeit ist vielmehr erst dann getan, wenn sie jedes Objekt, das sie behandelt, dem Z u s a m m e n h a n g eingeordnet hat, in dem es sich wirklich befindet.

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Was ergibt sich hieraus für die Logik der Geschichte? Zunächst scheint dieser weitere Schritt von neuem die Richtigkeit des bisher | gewonnenen Begriffs des Historischen in Frage zu stellen. Der Zusammenhang, in den die einzelnen historischen Individuen gehören, muß doch im Gegensatze zu ihnen a l l g e m e i n genannt werden. Hört also durch seine Berücksichtigung die Geschichte nicht auf, die Wissenschaft vom Individuellen zu sein? Wir treffen hier in der Tat wieder auf ein „Allgemeines“, und zwar ist es neben den allgemeinen Begriffs e l e m e n t e n und den allgemeinen We r t e n das d r i t t e A l l g e m e i n e , das in jeder Geschichte vorkommt. Aber es läßt sich leicht zeigen, daß die geschichtliche Darstellung eines individuellen Objektes in seinem allgemeinen h i s t o r i s c h e n Zusammenhang und die Unterordnung desselben Objekts unter einen allgemeinen n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Begriff zwei Denkgebilde sind, die eine prinzipiell verschiedene, ja geradezu einander ausschließende logische Bedeutung haben. Der „allgemeine“ geschichtliche Zusammenhang nämlich ist ein umfassendes G a n z e s , und die einzelnen Individuen sind dessen Te i l e . Das Allgemeine im Sinne der Naturwissenschaft dagegen ist der allgemeine Inhalt eines B e g r i f f e s , unter den die einzelnen Individuen als E x e m p l a r e fallen, und daß das Verhältnis der Teile zum Ganzen ein anderes ist als das der Exemplare zu dem ihnen übergeordneten allgemeinen Begriff, sollte keines Beweises bedürfen. Ueberall, wo die „individualistische“ Geschichtsauffassung mit dem Hinweis darauf bekämpft wird, jedes Individuum gehöre zu einem „allgemeinen“ Zusammenhang, und der Historiker müsse daher, wie man mit Vorliebe sagt, „kollektivistisch“ und d e s h a l b naturwissenschaftlich oder generalisierend verfahren, sind diese beiden Verhältnisse miteinander verwechselt. Wir haben nicht nur die Allgemeinheit des naturwissenschaftlichen B e g r i f f e s und die Allgemeinheit des We r t e s voneinander zu scheiden, sondern diesen beiden Allgemeinheiten als dritte noch die ebenfalls sorgfältig von ihnen zu trennende Allgemeinheit des historischen Z u s a m m e n h a n g e s als des umfassenden historischen G a n z e n gegenüberzustellen. Das historische Individuum, das wir bisher betrachteten, ist dann stets dem historischen Ganzen einzuordnen, aber solche E i n o r d n u n g fällt durchaus nicht mit der U n t e r o r d n u n g unter einen allgemeinen Gattungsbegriff oder ein Naturgesetz zusammen. Die Scheidung ist so klar und selbstverständlich, daß man fragen muß, wie eine Verwechslung überhaupt möglich war. Sie kann nur dort entstehen, wo das Ganze, dessen Teil das einzelne historische | Individuum ist, eine G r u p p e bildet, deren Teile sich alle unter e i n e n allgemeinen Begriff bringen lassen, und dies Ganze infolgedessen denselben N a m e n führt, mit dem man auch jeden seiner Teile zu bezeichnen pflegt. Man nennt das Ganze dann die G a t t u n g . Bekommt nun ein historisches Individuum als Teil

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einer solchen „Gattung“ den allgemeinen Gattungsnamen, so scheint es dadurch bereits dem allgemeinen Gattungsbegriff untergeordnet, also naturwissenschaftlich generalisierend begriffen zu sein. Man sollte aber nicht vergessen, daß das Wort „Gattung“ nicht allein den naturwissenschaftlichen Allgemeinbegriff, sondern auch eine konkrete M e h r h e i t von I n d i v i d u e n bedeutet, und daß etwas, das Teil der konkreten Gattung ist, deshalb nicht schon nur als Exemplar des Gattungsbegriffes angesehen werden darf.121 Die konkrete Gattung, der Zusammenhang, oder wie man sonst ein historisches G a n z e s nennen will, sind vielmehr ebenso wie jeder seiner Teile etwas Individuelles und Besonderes, d. h. sie sind wohl umfassender und größer, aber nicht begrifflich allgemeiner als die einzelnen Individuen, aus denen sie bestehen. Die italienische Renaissance z. B. ist ebenso ein historisches Individuum wie Macchiavelli, die romantische Schule ebenso wie Novalis. Wir wollen, um stets zu wissen, ob ein Teil eines Ganzen durch das in Betracht kommt, was ihm mit den übrigen Teilen desselben Ganzen gemeinsam ist, also nur als Gattungsexemplar eines allgemeinen Begriffes wesentlich wird, oder ob er in seiner Individualität aufgefaßt werden soll, durch die er sich von allen andern Teilen seiner Gattung unterscheidet, im ersten Falle von dem E x e m p l a r eines Gattungsbegriffs, im zweiten Falle dagegen von dem individuellen G l i e d e der konkreten Gattung oder des Kollektivums sprechen. Macchiavelli und Novalis sind dann für die Geschichte nicht Exemplare, sondern Glieder. Ihre Einordnung in den „allgemeinen“ historischen Zusammenhang der Renaissance oder der Romantik bedeutet die Einordnung eines Individuums in ein anderes umfassenderes Individuum, und daß dieser Denkvorgang nicht mit der Unterordnung eines Objektes als eines Exemplares unter einen allgemeinen Begriff zusammenfällt, kann allein von dem bezweifelt werden, der nicht gelernt hat, den allgemeinen I n h a l t eines Begriffes von seinem allgemeinen U m f a n g zu unterscheiden. Das aber sollte nur Anfängern in der Logik | Mühe machen, deren Zahl allerdings unter den „modernen“ Geschichtstheoretikern, welche die Geschichte zu einer Naturwissenschaft machen wollen, nicht klein ist. Für sie sei bemerkt: der Inhalt eines Begriffes ist allgemein, weil er das einer Mehrheit von Individuen Gemeinsame enthält oder auf beliebig viele Individuen anwendbar ist, der Umfang ist allgemein, weil er a l l e Glieder einer Mehrheit von Individuen in einem individuellen Zusammenhange oder Ganzen umfaßt. Muß also auch von der Geschichte jedes historische Objekt als Glied eines „allgemeinen“, d. h. umfassenderen Zusammenhanges betrachtet werden, so hört darum der Historiker nicht auf, individualisierend 121

Vgl. S i g w a r t , Logik [Bd.] I, 4. Aufl., S. 36 ff., und Th. K i s t i a k o w s k i , Gesellschaft und Einzelwesen, 1899, besonders S. 126 f., 138 f. u. 178 f.

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zu verfahren. Er stellt auch den „allgemeinen Zusammenhang“ als ein individuelles einmaliges Gebilde dar. Insofern das Ganze oder das Kollektivum für die Geschichte als einmalige individuelle Wirklichkeit in Betracht kommt, steht die individualisierende historische Methode, wie wir sie verstehen, zu dem, was man allein unter einer „kollektivistischen“ historischen Methode meinen kann, in keinem l o g i s c h e n Gegensatz. Die Verwechslung der Allgemeinheit, die dem Ganzen im Verhältnis zu seinen einzelnen Teilen zukommt, mit der Allgemeinheit, die der Inhalt eines Begriffes gegenüber seinen Exemplaren besitzt, liegt auch der Ansicht zugrunde, die Kant in seiner Lehre von Raum und Zeit bekämpfte, und es wird zur Klarlegung unserer Gedanken beitragen, wenn wir hierauf mit ein paar Worten eingehen. Man kann „sich nur einen einzigen Raum vorstellen, und wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Teile eines und desselben alleinigen Raumes“, oder: „verschiedene Zeiten sind nur Teile ein und derselben Zeit“. Der allgemeine Raum und die allgemeine Zeit sind also nicht allgemeine Begriffe, sondern Anschauungen, und zwar besondere und einmalige. Dadurch, daß man einen Raumteil und eine Zeitstrecke einem größeren Raum und einer größeren Zeitstrecke oder auch dem Raum und der Zeit überhaupt einordnet, ordnet man sie noch nicht dem allgemeinen Raumbegriff und dem allgemeinen Zeitbegriff unter. Wenn man dies vor Kant nicht deutlich gesehen hat, kam das wenigstens zum Teil ebenfalls daher, daß der ganze Raum und die ganze Zeit mit denselben Namen bezeichnet werden wie jeder ihrer Teile, so daß man unwillkürlich das Ganze als den übergeordneten allgemeinen Begriff auffaßte. Es lag dies aber noch aus einem anderen Grunde nahe. Die einzelnen Teile des Raumes kommen für die Wissenschaft, die sich mit ihnen beschäftigt, für die Mathematik, immer n u r | durch solche Faktoren in Betracht, die sich bei jeder anderen räumlichen Gestaltung, welche unter denselben mathematischen Begriff fällt, ebenfalls finden, und daher sind die mathematischen Gebilde niemals insofern von Bedeutung für die Wissenschaft, als sie sich dem allgemeinen, d. h. ganzen Raum als individuelle Glieder einordnen, sondern insofern, als sie sich dem allgemeinen Begriff eines räumlichen Gebildes als Exemplar unterordnen lassen. Auch handelt es sich in der Mathematik nicht um empirische Wirklichkeiten, die in dem Sinne individuell sind, wie ein heterogenes Kontinuum es ist, sondern um quantitativ bestimmte Raumgebilde, und weil der mathematische Raum homogen ist, muß es gleichgültig sein, in welchen Raumteil wir z. B. ein zu untersuchendes Dreieck bringen, um zu zeigen, daß seine Winkelsumme die Größe von zwei rechten Winkeln hat. Daraus aber folgt nur, daß wir in der Geschichte noch viel mehr Veranlassung haben, den allgemeinen Begriff von dem allgemeinen Ganzen zu schei-

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den, als bei der Betrachtung quantitativer räumlicher Gebilde, denn das Verhältnis der einzelnen Raumteile zum Raumganzen wäre erst dann dem Verhältnis der historischen Individuen zu dem Ganzen, dessen Teile sie sind, logisch gleichzusetzen, wenn wir nicht an die mathematische Begriffsbildung, sondern an die in lauter individuelle Stücke geteilte raumerfüllende Wirklichkeit denken und dann auch das an diesen Teilen berücksichtigen, was in die Begriffe der Mathematik nicht eingeht, nämlich die individuelle Lage und Gestalt jedes einzelnen Gebildes, d. h. also das, was die räumlichen Teile erst wirklich zu G l i e d e r n des einen räumlichen Ganzen macht. Zwar sind diese Teile noch keine individuellen historischen Wirklichkeiten, solange man nur an ihre Ausdehnung denkt, denn die empirische Realität ist niemals homogen, und es unterscheiden sich also die Teile des historischen Ganzen in noch anderer Weise voneinander als die individuellen räumlichen Gebilde, aber es ist dann doch in beiden Fällen jeder Teil wenigstens ein Individuum, das durch Einordnung in den allgemeinen Zusammenhang nicht schon unter allgemeine Begriffe gebracht wird, die für alle Teile des Ganzen gelten, und das ist hier für uns von Wichtigkeit. Bleibt nämlich ein Gebilde als Teil eines allgemeinen Ganzen selbst dann ebenso individuell wie als vereinzeltes Individuum, wenn es nur ein Stück des überall homogenen Raumes ist, so darf vollends von naturwissenschaftlichem Begreifen eines individuellen Gebildes durch Einordnung in einen „allgemeinen“ Zusammenhang dort nicht gesprochen werden, wo dieser Zusammenhang nicht einmal homogen | ist und seine Teile daher noch in ganz anderer Weise individuell sein müssen, als die individuellen räumlichen Formen es sind. Wenn nun aber der „allgemeine“ Zusammenhang, d. h. das Ganze, dem die Geschichte die einzelnen Individuen als Teile oder Glieder einzuordnen hat, ebenfalls ein I n d i v i d u u m ist, dann kann auch über die logischen Prinzipien seiner historischen Darstellung kein Zweifel bestehen. Es ist von ihm stets ein individueller Begriff zu bilden, dessen Elemente in einer absolut historischen Darstellung, auf die wir uns zunächst beschränken, aus den Begriffen bestehen, die man von seinen historisch bedeutsamen individuellen Gliedern gebildet hat, und die „Einheit“ dieser verschiedenen Elemente wird ebenfalls durch eine Wertbeziehung konstituiert, d. h. die Elemente schließen sich mit Rücksicht auf die Bedeutung zusammen, die das individuelle Ganze durch seine Besonderheit für den leitenden Wert besitzt. Das Ganze ist freilich wiederum nicht ein vereinzeltes Individuum, sondern gehört einem noch größeren Ganzen an, aber auch dieses neue, umfassendere Ganze ist selbstverständlich ebenfalls kein allgemeiner Begriff, sondern ein neues Individuum, und es muß von ihm daher ein neuer individueller Begriff gebildet werden, dessen Elemente die individuellen Begriffe seiner verschiedenen historisch bedeutsamen Teile sind.

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Kurz, wir sehen, an den Prinzipien der historischen Begriffsbildung wird durch die Einordnung des einzelnen Individuums in den allgemeinen, d. h. umfassenderen, aber im übrigen ebenfalls individuellen Zusammenhang nichts geändert. Es kann das schon deswegen nicht anders sein, weil das Verhältnis des Teiles zum Ganzen relativ bleibt, d. h. weil jede extensive Mannigfaltigkeit von Teilen zugleich als eine intensive Mannigfaltigkeit aufzufassen ist, und weil daher jedes Individuum sich sowohl als Glied eines Ganzen wie auch als ein Ganzes betrachten lassen muß, das selber Glieder hat. Doch ein Punkt scheint gerade deshalb Schwierigkeiten zu bereiten. Ordnen wir jedes Individuum einem neuen Ganzen ein, so müssen wir schließlich zu einem Ganzen kommen, das nun nicht mehr zu einem noch größeren Zusammenhange gehört, und dies „letzte Ganze“ wäre dann notwendig etwas Vereinzeltes, also etwas, das es in der Geschichte nicht geben darf. Tatsächlich aber entsteht hieraus für uns kein neues Problem. Logisch betrachtet wäre nämlich das letzte historische Ganze das wirkliche Weltall, und so lange es wie im Mittelalter „Weltgeschichte“ im eigentlichen Sinne des Wortes gab, mußte ihr umfassendster Zusammenhang, der zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht lag, | in der Tat ein vereinzeltes Individuum sein. Die Welt als Ganzes war begrenzt durch Nicht-Welt. Seitdem wir jedoch aufgehört haben, das reale „Weltganze“ als Gegenstand möglicher Erfahrung anzusehen, da es von ihm als einem Ganzen, wie wir zeigen konnten, nicht einmal eine generalisierende Naturwissenschaft gibt, hat dieser Begriff für die Logik der Geschichte keine Bedeutung mehr. Das „letzte“ h i s t o r i s c h e Ganze wird zwar immer noch als Glied in einen größeren Zusammenhang gebracht werden können, der faktisch ebenfalls ein Individuum ist. Dieser umfassendere Zusammenhang kann aber schließlich nicht mehr als Ganzes, sondern nur noch in einem seiner Teile durch seine Einzigartigkeit Bedeutung haben, also eine historische Individualität besitzen, und seine übrigen Teile werden daher allein als Exemplare naturwissenschaftlicher Begriffe in Frage kommen, in der Weise, wie wir das früher gezeigt haben. Berücksichtigen wir überhaupt das Weltall im strengen Sinne, so hat die Naturwissenschaft dafür Begriffe zu bilden und auch sie lediglich insofern, als diese Begriffe für alle seine Teile gültig sind. Die Geschichte dagegen hebt einen seiner Teile wegen seiner mit Rücksicht auf Werte bedeutsamen Individualität heraus und sieht in ihm das l e t z t e Ganze, um das sie sich als Geschichte noch kümmert. Dieser durch Wertbeziehung individualisierend aufgefaßte Teil des Weltalls ist dann der denkbar umfassendste oder „letzte“ h i s t o r i s c h e Zusammenhang. Um dies ganz klar zu machen, versuchen wir, die Verhältnisse von historischem Glied und historischem Zusammenhang und den Begriff des letzten

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historischen Ganzen auch an Beispielen zu erläutern, und zwar gehen wir dabei von einer historischen Persönlichkeit aus. Sie ist ein individuelles Ganzes und zugleich ein individuelles Glied, eine extensive und eine intensive historische Mannigfaltigkeit. Ein einheitliches Ganzes bildet sie, insofern sie alles das umfaßt, was an ihr historisch bedeutsam wird. Jede einzelne ihrer Taten und jedes einzelne ihrer Schicksale ist individuell, und soweit ihre Taten und Schicksale historische Individuen sind, besteht sie für die Geschichte aus ihnen als ihren Teilen, die sich in ihr zu einer Einheit mit Rücksicht auf die Bedeutung, welche sie als Ganzes für den leitenden Wert besitzt, zusammenschließen. Zugleich aber ist eine solche Persönlichkeit Glied eines größeren Ganzen, einer Familie, einer Generation, eines Volkes, eines Zeitalters, zu dem sie sich ebenso verhält wie jeder ihrer Teile zu ihr, denn jeder der größeren Zusammenhänge kann wieder als ein einheitliches Individuum aufgefaßt werden, dessen Bestandteile die | Persönlichkeiten oder Familien oder Völker bilden, die zu ihm als wesentliche Glieder gehören. Dieses Ganze ist dann einem noch größeren individuellen Ganzen einzuordnen, usw. usw. Das letzte historische Ganze endlich kann die Kulturmenschheit sein oder die Menschheit überhaupt. Die Kulturmenschheit wäre dann ein Glied der Menschheit, aber auch diese wieder ein Glied der organischen Welt. Oder bildet die organische Welt noch ein historisches Individuum, d. h. kommt von ihren Teilen nicht allein die Menschheit als historisches Individuum in Betracht, sondern lassen sich auch ihre andern Teile als historische Individuen ansehen? Ist schließlich vielleicht die Grenze noch weiter hinauszurücken? Kann unsere Erde als ein historisches Individuum gelten, und ist sie dann das letzte historische Ganze, oder muß gar auch sie als Glied eines umfassenderen Zusammenhanges, des Sonnensystems, angesehen werden, und hätten wir erst in ihm das umfassendste, „letzte“ historische Individuum? Beim Sonnensystem würden wir auf jeden Fall Halt machen müssen, denn von den übrigen Teilen des Ganzen, dessen Glied es ist, wissen wir zu wenig, als daß sie durch ihre Individualität noch historisch bedeutsam werden könnten, und sie kommen daher jedenfalls vorläufig lediglich als Exemplare allgemeiner Begriffe in Betracht. Aber das ist logisch zufällig, denn ohne Kenntnis des Inhalts, den die leitenden Werte der Auswahl haben, läßt sich der Begriff des letzten historischen Ganzen inhaltlich nicht bestimmen, und es kommt hier auch nur darauf an, daß an irgendeiner Stelle einmal das umfassendste historische Ganze einem noch größeren Zusammenhang eingeordnet wird, der kein historisches Individuum mehr ist, sondern in seinen andern Teilen nur für eine generalisierende Wissenschaft Interesse besitzt. Im übrigen hatte unsere Betrachtung vor allem den Zweck, zu zeigen, wie die Geschichtswissenschaft, selbst wenn sie ihre Objekte mit den „allge-

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meinsten“, d. h. umfassendsten Weltzusammenhängen in Verbindung bringt, nicht aufhört, Wissenschaft vom Individuellen, Einmaligen und Besonderen zu sein. Der denkbar weiteste historische Zusammenhang, das Nebeneinander und Nacheinander aller historisch wesentlichen individuellen Dinge und Vorgänge, bildet e i n großes historisches Individuum. Es nimmt eine besonders bestimmte Stelle des Raumes ein und füllt eine besonders bestimmte Strecke der Zeit, und in ihm hat die Geschichte jedem individuellen Ding oder Vorgang, der historisch wesentlich wird, seinen besonders bestimmten Platz an einer besonderen Stelle anzuweisen. Auch wenn es keine historische | Darstellung geben sollte, die sich auf den umfassendsten historischen Zusammenhang als auf ein einheitliches Individuum bezieht, muß doch jede historische Wirklichkeit, so klein oder so groß sie sein mag, sich in der Weise betrachten lassen, daß sie im Prinzip dem umfassendsten historischen Zusammenhang eingeordnet werden kann. Eine Biographie wäre mangelhaft, die nicht zeigte, wie ihr Held im Zusammenhange mit seinem Volk gelebt hat. Die Geschichte dieses Volkes läßt erkennen, welche Beziehungen es zu den andern Völkern, die neben, vor und nach ihm existierten, also schließlich zur ganzen Kulturmenschheit hatte. Eine Geschichte der Kulturmenschheit muß als Teil der Menschheitsgeschichte begriffen werden können, und falls es eine Geschichte der Menschen überhaupt gibt, ist auch diese, wenn sie absolut vollständig sein soll, als die Geschichte eines Gliedes der Lebewesen überhaupt in ihrem einmaligen und individuellen Werdegang zu denken. Immer aber wird es sich dabei um die Einordnung einer individuellen Wirklichkeit in eine andere, ebenfalls i n d i v i d u e l l e Wirklichkeit, also um individualisierende historische Begriffsbildung, nicht um Unterordnung unter ein System allgemeiner Begriffe, d. h. um generalisierende Naturwissenschaft handeln.122 Doch, es ist nicht nur leicht zu sehen, weshalb durch die Einordnung des Einzelnen in einen noch so „allgemeinen“ Zusammenhang nichts an dem logischen Unterschied von Naturwissenschaft und Geschichte oder generalisierender und individualisierender Begriffsbildung geändert wird, sondern auch, daß gerade die Berücksichtigung des allgemeinen Zusammenhanges die historische Darstellung prinzipiell von den ihr irrtümlicherweise oft gleichgesetzten Tätigkeiten des Menschengeistes unterscheidet, nämlich sowohl von der naturwissenschaftlichen Auffassung als auch vom künstlerischen Bilden. 122

Auch E. Troeltsch hebt in Uebereinstimmung mit meinen Ausführungen die grundlegende Bedeutung hervor, welche die „ K a t e g o r i e d e r i n d i v i d u e l l e n To t a l i t ä t “ für die Geschichte im Gegensatz zur Naturwissenschaft besitzt. (Die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauung, 1918.) „Der historische Gegenstand wird konstituiert durch den Begriff der individuellen Totalität, und diese Totalität ist nur zu bestimmen durch den eines immanenten Wertes oder Sinnes.“ S. 35.

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Der Kunst bleibt der Zusammenhang ihrer Objekte mit der sie umgebenden Wirklichkeit nicht allein gleichgültig, sondern sie hat ihn sogar als störend zu beseitigen. Erst wenn eine Gestaltung sich gegen die Umgebung abschließt, vermag sie künstlerisch zu wirken, d. h. das Gebilde der Kunst muß sich anschaulich loslösen von allem, worin | unser wirkliches Leben besteht, und wir sehen hier wieder von neuem, wie falsch es ist, j e d e Darstellung des Individuellen als Kunst zu bezeichnen. Möglich wurde dieser Irrtum dadurch, daß es Mischformen gibt, in denen ein geschichtlicher Stoff nicht wissenschaftlich, sondern künstlerisch behandelt ist, und infolgedessen bei gewissen Arten von Kunstwerken historische und künstlerische Interessen durcheinandergehen. Das Porträt oder ein historischer Roman mögen dafür als Beispiele dienen. Es sind aber das historische und das künstlerische Element nicht nur begrifflich voneinander zu scheiden, sondern wir können sogar sagen, daß der Künstler bei der Darstellung eines geschichtlichen Vorganges erst dann seine Aufgabe erfüllt, wenn es ihm gelingt, seinen Stoff so zu gestalten, daß der Zusammenhang mit der übrigen historischen Wirklichkeit gleichgültig wird. Während also die Kunst immer isolieren muß, hat die Geschichte immer zu verknüpfen. Aus diesem Grunde sollte man nicht sagen, wie sogar Windelband 123 es noch tut, daß die Geschichte „Gestalten“ zu geben versuche, im Unterschied von der Naturwissenschaft, die es mit Gesetzen zu tun habe, denn dieser Umstand trifft nicht den l o g i s c h e n Charakter der Geschichte, ja, die Hervorhebung der „Gestalt“ als der eigentlichen Aufgabe der historischen Darstellung kann dazu dienen, die für ihren w i s s e n s c h a f t l i c h e n Charakter ausschlaggebenden Momente zu verdecken. Löst aber die Kunst den Zusammenhang ihrer Objekte mit der Wirklichkeit anschaulich auf, so nimmt die Naturwissenschaft durch Generalisation eine begriffliche Vereinzelung vor. Schon früher haben wir darauf hingewiesen, daß es nicht angeht, eine isolierende Betrachtung der generalisierenden entgegenzustellen. Die Generalisation ist vielmehr notwendig mit einer Isolation der Objekte verbunden. Freilich bringt auch die Naturwissenschaft ihre Gegenstände in einen „Zusammenhang“, aber d i e s e r Zusammenhang ist eben nicht das historische, individuelle Ganze, sondern ein System von allgemeinen Begriffen. An welcher bestimmten Stelle des einen Raumes und der einen Zeit und in welcher bestimmten individuellen Umgebung die Objekte vorkommen, für welche die Gesetzesbegriffe gelten sollen, bleibt besonders den allgemeinsten naturwissenschaftlichen Theorien ganz gleichgültig; ja, es kann sogar der allgemeine Begriff erst dann gebildet werden, wenn von dem realen historischen Zusammenhange, in dem das einzelne Exem123

Geschichte und Naturwissenschaft.

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plar sich befindet, abgesehen wird. Denn es ist nicht nur jedes reale Objekt von jedem andern verschieden, sondern | auch seine Beziehungen zu andern realen Objekten oder zur „Umgebung“ im weitesten Sinne des Wortes gleichen einander in zwei Fällen niemals vollständig. Die Unterordnung unter allgemeine Begriffe erfordert daher nicht allein, daß man die verschiedenen Individuen als gleich ansieht, sondern zwingt zugleich den Forscher, auch die Individualität des individuellen Ganzen, dessen Teile sie sind, unberücksichtigt zu lassen. Der Begriffsinhalt der Naturgesetze läßt sich oft sogar erst dann auf die Wirklichkeit anwenden, wenn man die Objekte, für die er gelten soll, künstlich vereinzelt, und darin besteht die Bedeutung des Experimentes, daß es diese Isolierung herstellt. Lediglich an dem isolierten Objekt kann man den allgemeinen Gesetzesbegriff bilden. Ist, wie in vielen Fällen, die Vereinzelung faktisch unmöglich, dann wird sie begrifflich vollzogen, und so hebt die Herstellung des begrifflichen naturwissenschaftlichen „Zusammenhanges“ den historischen Zusammenhang von Teil und Ganzem notwendig auf. Doch ist auch hier wieder auf die Relativität der naturwissenschaftlichen und historischen Begriffsbildung hinzuweisen, die bedingt, daß in manchen Zweigen der Naturwissenschaft zwar nicht der einmalige individuelle Zusammenhang, in dem das darzustellende Objekt steht, berücksichtigt wird, wohl aber der allgemeine Begriff seiner Umwelt gebildet werden muß, der ebenso relativ historische Bestandteile enthält wie die relativ historischen Objekte, die in dieser Umwelt leben. So kann z. B. bei der Erforschung gewisser Arten von Tieren und Pflanzen der Charakter der Gegenden wesentlich sein, in denen allein sie vorkommen. Aber auch hier wird niemals die historische Individualität einer einzigen und einmaligen Situation wichtig. Wir brauchen darauf nicht näher einzugehen, denn es würde sich dabei um eine allzu selbstverständliche Weiterentwicklung der bisher dargestellten Gedanken handeln. Es genügt, wenn wir zeigen, daß n u r die Geschichte ihre Objekte in ihrem individuellen einmaligen wirklichen Zusammenhange darstellt, die Naturwissenschaft oder die Kunst ihre Gegenstände begrifflich oder anschaulich isolieren müssen, und daß diese Besonderheit der historischen Darstellung wieder aus dem Begriff der Geschichte als der Wissenschaft von der einmaligen individuellen Wirklichkeit folgt. Ein Punkt sei jedoch noch ausdrücklich erwähnt, weil dabei von neuem weit verbreitete Irrtümer zurückzuweisen sind. Hat man eingesehen, daß die Darstellung des historischen Zusammenhanges die Einordnung eines individuellen Objektes in ein größeres oder um- | fassenderes individuelles Objekt bedeutet, so muß sich auch ergeben, wie falsch es ist, die individualisierende Geschichtsauffassung mit einer atomisierenden gleichzusetzen. Die individualisierende Methode der Geschichte macht jede Atomisierung der

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historischen Objekte unmöglich, und gerade die generalisierende, naturwissenschaftliche Methode ist es, die den Historiker dazu bringt, in der aus zusammenhängenden Individuen bestehenden Wirklichkeit ein Aggregat zusammenhangsloser, nicht individueller Atome zu sehen. Wir haben gezeigt, wie das Bestreben, die gesamte Wirklichkeit unter ein einheitliches System von Begriffen zu bringen, mit einer Tendenz zur Atomisierung notwendig verknüpft ist, und wie daher die Begriffe des Individuums und des Atoms einander ausschließen. Deshalb kann ein Hinweis darauf genügen, daß jeder Versuch, in den geschichtlichen Individuen nach naturwissenschaftlicher Methode lediglich Exemplare eines allgemeinen Gattungsbegriffs zu erblicken und sie so in der „Masse“ verschwinden zu lassen, auf das engste mit jenen atomisierenden Gedanken verwandt ist, denen jedes historische Verständnis für die bedeutungsvolle Eigenart des Einmaligen und Individuellen fehlt. So dürfen wir sagen: n u r für eine generalisierende, naturwissenschaftliche Auffassung wird die menschliche Gesellschaft zu einem Komplex von einander gleichen, also atomartigen Wesen, und diesem generalisierenden, unhistorischen, atomisierenden Verfahren ist daher das individualisierende, geschichtliche Verfahren gegenüberzustellen. Nur die individualisierende, niemals aber die generalisierende naturwissenschaftliche Methode kann uns von den unhistorischen Abstraktionen der Aufklärungsphilosophie befreien, die man als „Individualismus“ bezeichnet. Die Vertreter der „alten“ Richtung der historischen Wissenschaften haben denn auch längst den Atomismus in der Geschichte überwunden, die Vertreter der „neuen“ Richtung dagegen bleiben in dem von ihnen mit Worten so lebhaft bekämpften „Individualismus“ der Aufklärungsphilosophie stecken, der Atome nicht von Individuen zu unterscheiden vermag, und sie sind daher die eigentlichen „Alten“. Daß viele das Gegenteil für „selbstverständlich“ halten und infolgedessen den geschichtlichen Atomismus durch die generalisierende Naturwissenschaft austreiben wollen, ist ein Zeichen der ungewöhnlichen Verwirrung, die in manchen „modernen“ Schriften über das Wesen der historischen Methode herrscht. Grade die individualisierende Tendenz der Geschichte bleibt das Mittel, um den atomisierenden Aufklärungsindividualismus zu beseitigen. | Endlich heben wir im Anschluß an die Klarlegung des Unterschiedes von allgemeinem Begriff und Exemplar einerseits, allgemeinem, d. h. umfassendem Ganzen und Glied andererseits noch eine formale Konsequenz hervor, die zeigt, wie die Einseitigkeit der an der Naturwissenschaft orientierten Logik sich bis auf die elementarsten Sätze der Schullogik erstreckt. Es kommt nämlich das Verhältnis von Inhalt und Umfang eines Begriffes, wenn wir an den historischen Zusammenhang denken, noch in einer andern Hinsicht als bisher in Frage. Die Größe des Begriffsinhaltes soll bekanntlich

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zur Größe des Begriffsumfanges in einem umgekehrten Verhältnis stehen, so daß man einem Begriffe um so mehr Gegenstände unterordnen kann, je weniger „Merkmale“ sein Inhalt hat. Dieser Satz gilt nur für Begriffe, die durch die Verhältnisse ihrer Ueber- und Unterordnung zu demselben systematischen Zusammenhang gehören, aber für diese Begriffe gilt er trotz mancher Angriffe, die er erfahren hat,124 in der Tat, sobald man die Einschränkung hinzufügt, daß es sich um allgemeine oder naturwissenschaftliche Begriffe handelt, und er gilt dann nicht etwa nur für die Begriffe eines klassifikatorischen Systems, sondern auch für Gesetzesbegriffe, was sich z. B. an dem Begriff des Fallgesetzes und des Gravitationsgesetzes leicht klarmachen läßt. Besonders deutlich wird das, was wir hier meinen, wenn wir uns die einzelnen Teile der Naturwissenschaft in der früher angegebenen Weise in ein System gebracht denken, für dessen Aufstellung das Maß von relativ historischen Bestandteilen in den verschiedenen Disziplinen ausschlaggebend ist. Dann werden die Begriffe, die von allen Körpern überhaupt gelten, den ärmsten Inhalt besitzen. Je mehr dagegen die Untersuchung sich spezialisiert, und einen je kleineren Teil der Wirklichkeit sie in Betracht zieht, desto mehr wird auch der Inhalt ihrer Begriffe wachsen. Es gilt ja für jede Gruppe von Körpern nicht allein das, was gerade ihnen eigentümlich ist, sondern zugleich auch das, was von allen Körpern überhaupt ausgesagt werden kann, und in diesem Sinne bleibt es in der Tat richtig, daß die naturwissenschaftlichen Begriffe um so mehr von den Objekten enthalten, je kleiner der Kreis ist, für den sie gelten sollen, worin wieder zum Ausdruck kommt, daß die antike Art der Begriffsbildung durchaus nicht in jeder Hinsicht der modernen Art der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung entgegengestellt werden darf, und daß besonders mit Rücksicht auf den „pyramidalen“ Aufbau der Begriffe kein Unterschied zwischen der antiken und der modernen Anordnung zum System besteht. | Für die geschichtswissenschaftliche Begriffsbildung dagegen kehrt sich das Verhältnis von Umfang und Inhalt der Begriffe um. Der historische Begriff eines „allgemeinen“ Ganzen enthält immer m e h r als die Begriffe der besonderen realen Teile, aus denen es besteht, ja, sein Inhalt ist geradezu der Inbegriff aller Begriffselemente, aus denen die historischen Begriffe seiner Glieder gebildet sind. Der umfassendste Begriff hat hier also den größten Inhalt. Die „Weltgeschichte“ würde a l l e s enthalten, was historisch wesentlich ist. Selbstverständlich gilt dies allgemein nur für a b s o l u t historische Begriffe, die unter demselben leitenden Wertgesichtspunkt der Auswahl ste124

Vgl. besonders: L o t z e , Logik, [2. Aufl. 1880,] S. 50 f.

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hen, und auch hier nur für deren logisches I d e a l , denn einmal ist es wieder der Mangel an Stoff, der bewirken kann, daß die historische Darstellung dem logischen Ideal nicht entspricht, und sodann dringen die sehr umfassenden historischen Darstellungen, besonders das, was man Weltgeschichte nennt, niemals so weit bis zum Individuellen vor, wie sie es könnten, sondern begnügen sich mit relativ historischen Begriffen aus Gründen, die wir später kennenlernen werden. Aber, dies ändert nichts daran, daß in einer vollständigen generalisierenden Darstellung bei wachsendem Umfang der Inhalt der Begriffe kleiner wird, dagegen in einer vollständigen individualisierenden Darstellung bei wachsendem Umfang ceteris paribus auch der Inhalt der Begriffe sich vergrößern muß. Oder: die Begriffe der Naturwissenschaft werden um so leerer, je umfassender sie sind, gleichviel ob sie durch Vergleichung entstandene Gattungsbegriffe oder durch Analyse gewonnene Gesetzesbegriffe darstellen, und sie entfernen sich infolgedessen mit der wachsenden Allgemeinheit immer mehr von der individuellen empirischen Wirklichkeit. Die Begriffe der Geschichte dagegen müssen, je größer ihr Umfang ist, auch um so mehr von dem historisch Wesentlichen in sich aufnehmen, also einen um so reicheren Inhalt haben. Man darf dann geradezu sagen, daß der umfassendste generalisierende naturwissenschaftliche Begriff die denkbar größte Vereinfachung seiner Objekte darstellt, der umfassendste individualisierende Begriff dagegen die größte Mannigfaltigkeit des geschichtlich Wesentlichen darstellen müßte. Dies kann von neuem wieder den prinzipiellen logischen Unterschied naturwissenschaftlicher und historischer oder generalisierender und individualisierender Begriffsbildung in das hellste Licht rücken. Aber unter der Aufgabe der Geschichte, die einzelnen Individuen in ihren realen historischen „Zusammenhang“ einzuordnen, muß noch | etwas anderes verstanden werden. Die historischen Tatsachen nämlich sind nicht allein insofern nicht vereinzelt und isoliert, als sie stets Teile eines größeren Ganzen bilden, sondern auch insofern, als sie sich gegenseitig beeinflussen oder in einem k a u s a l e n Zusammenhange mit andern Tatsachen stehen. Es gibt keinen Teil der empirischen Wirklichkeit, in dem nicht jedes Ding die Wirkung von andern Dingen ist und für andere Dinge eine Ursache bildet. Wenn daher die Geschichte die Wissenschaft von der einmaligen individuellen Wirklichkeit sein soll, dann wird sie sich auch hiermit zu beschäftigen haben, ja, es muß eine ihrer wesentlichen Aufgaben sein, nicht nur darzustellen, was war, sondern auch nach den U r s a c h e n zu forschen, die das, was war, hervorgebracht haben. Wir kommen damit an einen Punkt, an dem die Meinungen weit auseinander gehen, und leider wird hier auch von denen, die genug von Geschichte und Naturwissenschaft wissen, um beide logisch voneinander trennen zu

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wollen, die Trennung nicht selten in dem Sinne vollzogen, daß allein die Natur durchweg kausal bedingt sein, für die Geschichte dagegen der kausale Zusammenhang nicht überall in Frage kommen oder gar überhaupt geleugnet werden solle. Dann entsteht jene vielgenannte und umstrittene Alternative: Kausalität oder Teleologie. Unter logischen Gesichtspunkten ist jedoch eine solche Gegenüberstellung, die die Wirklichkeit selbst in zwei verschiedene Reiche auseinander fallen läßt, unhaltbar. Die Anhänger einer naturwissenschaftlichen Universalmethode sind vielmehr durchaus im Recht, wenn sie die durchgängige kausale Bestimmtheit auch aller historischen Tatsachen behaupten und ihre Berücksichtigung von der Geschichtswissenschaft verlangen, ja, es ist vielleicht durch nichts in höherem Maße der Schein entstanden, daß die Umwandlung der Geschichte in eine Naturwissenschaft notwendig sei, als durch die falsche Entgegensetzung von kausal bedingter Natur und ursachlosem historischen Geschehen. Wollen wir zu einem von allen unbeweisbaren Voraussetzungen freien Verständnis der empirischen Wissenschaften vordringen, so müssen wir streng daran festhalten: wir kennen nur e i n e empirische Wirklichkeit, die das einzige Material der naturwissenschaftlichen sowohl als auch der historischen Disziplinen bildet, und die a l l g e m e i n e n Formen dieser Wirklichkeit, z. B. die Kausalität, müssen für die generalisierenden ebenso wie für die individualisierenden Wissenschaften von Bedeutung sein. Setzen wir daher in der Naturwissenschaft voraus, daß nichts ge- | schieht, das nicht seine Ursache hat, die bewirkt, daß es ist, und daß es so ist, wie es ist, dann kann auch die Geschichtswissenschaft hiervon niemals absehen, denn warum sollte das reale Sein weniger kausal bedingt sein, wenn es auf seine Individualität und Besonderheit hin betrachtet wird, als wenn man es unter allgemeine Begriffe oder Gesetze zu bringen sucht? Freilich, der Begriff der Kausalität kann von der Erkenntnistheorie zu einem Problem gemacht werden, aber mit den methodologischen Unterschieden, die wir hier behandeln, hat d i e s Problem der Kausalität nichts zu tun, denn falls auch die kausale Auffassung sich als eine bloße „Auffassung“ des Subjektes erweisen sollte, muß sie doch zu jenen allgemeinen erkenntnistheoretischen Formen gerechnet werden, in die j e d e empirische Wirklichkeit eingeht, und die Frage nach ihrer Geltung darf daher niemals in den Gegensatz naturwissenschaftlicher und historischer Begriffsformen hineinspielen. Ganz verfehlt sind aus diesem Grunde besonders die Theorien, welche die kausale Bestimmtheit der empirischen Wirklichkeit dadurch in Frage zu stellen suchen, daß sie sich auf Kants transzendentalen Idealismus berufen. Zwar scheint bei einer flüchtigen Betrachtung ein gewisses Recht dazu vorhanden zu sein, weil das Kausalitätsproblem von Kant im Zusammenhange mit der speziellen Frage behandelt worden ist, wie N a t u r wissenschaft

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„möglich“ sei, und Kant daher das a l l g e m e i n e Problem der Kausalität von jener b e s o n d e r e n Form, welche die Kausalität in einem naturwissenschaftlichen Zusammenhang annimmt, nicht geschieden hat. Wenn Kant die Kausalität als eine Kategorie ansieht, in der wir die Wirklichkeit denken müssen, um sie als „Natur“ auffassen zu können, so liegt es vielleicht nahe, zu meinen, diese „subjektive“ Auffassung besitze n u r bei der Betrachtung der Wirklichkeit als Natur Geltung und Notwendigkeit. Sehen wir jedoch genauer zu, dann finden wir, daß, obwohl Kant die allgemeinen Formen, welche für j e d e wissenschaftliche Auffassung der Welt unentbehrlich sind, nicht ausdrücklich von den besondern Formen geschieden hat, die wir allein bei der Betrachtung der Wirklichkeit als Natur anwenden, doch auch nach ihm die Wirklichkeit für j e d e spezialwissenschaftliche Bearbeitung unter der Kategorie der Kausalität gedacht werden muß. Ja, für die Geschichte als Darstellung des einmaligen individuellen z e i t l i c h e n Ablaufes der Ereignisse ist gerade nach Kant die durchgängige kausale Bestimmtheit nicht wegzudenken, denn ein solcher Ablauf muß sich für den Historiker als eine „objektive“ Zeitfolge darstellen, und dieser Begriff setzt für Kant bereits den Begriff der kausalen | Bestimmtheit voraus. Eine Berufung auf Kants Erkenntnistheorie ist also weit davon entfernt, uns an der kausalen Bestimmtheit a l l e r empirischen Wirklichkeit und besonders an der Geltung dieser Auffassung für die Geschichte zweifeln zu lassen. Im Gegenteil, gerade falls Kant recht hat, stellt sich das wirkliche Sein für den Historiker notwendig als lückenlose Kette von Ursachen und Wirkungen dar, da es ohne Zusammenhang von Ursache und Wirkung nach Kant keine objektive geschichtliche Zeitfolge geben würde. So richtig nun dies aber auch ist, so falsch sind die Konsequenzen, die man hieraus im Interesse einer naturwissenschaftlichen Universalmethode gezogen hat. Wenn nämlich, meint man, alles historische Geschehen kausal bestimmt ist, dann ergebe sich daraus mit Notwendigkeit für die Geschichte die Aufgabe, die Kausal g e s e t z e dieses Geschehens festzustellen. In einer solchen Argumentation werden wie in der vorher bekämpften Ansicht wieder die a l l g e m e i n e n (erkenntnistheoretischen) Voraussetzungen, die für den Begriff einer „objektiven Wirklichkeit“ überhaupt unentbehrlich sind, nicht von den b e s o n d e r e n (methodologischen) Begriffsformen getrennt, die für spezielle wissenschaftliche Zwecke eine Bedeutung haben, und es entsteht deshalb jetzt gewissermaßen der entgegengesetzte Irrtum wie vorher. Man darf den Begriff der Kausalität nicht mit dem des Naturgesetzes identifizieren. Wo dies geschieht, liegt der Grund dafür wohl oft darin, daß man die Voraussetzung, nach der alles Geschehen seine Ursache hat, als „das Kausalitäts g e s e t z “ bezeichnet. Zwar ist gegen die Bezeichnung an sich nichts einzuwenden, aber sie wird sofort bedenklich, falls man unter

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„Gesetz“ soviel wie N a t u r gesetz versteht. Die Naturgesetze der empirischen Wissenschaft werden dann nämlich als etwas aufgefaßt, das sich zu dem allgemeinen Kausalitätsgesetz verhält wie die untergeordneten Begriffe zu dem ihnen übergeordneten, und daraus scheint sich die Folgerung zu ergeben, daß alle Wissenschaften die Aufgabe haben, die besonderen Kausalitätsgesetze für das unter dem allgemeinen Kausalitätsgesetz stehende Geschehen aufzusuchen. Diese Ansicht ist unhaltbar, und der darin steckende Irrtum wird nur deswegen nicht sofort durchschaut, weil zwischen dem Suchen nach Naturgesetzen und der Geltung des sogenannten Kausalitätsgesetzes in der Tat ein Zusammenhang besteht. Die Annahme der durchgängigen kausalen Bestimmtheit des wirklichen Seins kann nämlich als die Vo r a u s s e t z u n g angesehen werden, welche die Aufstellung | von Naturgesetzen überhaupt erst möglich macht. Aber, gerade falls dies richtig ist, sollte einleuchten, daß die Voraussetzung, die Naturgesetze erst „möglich“ macht, nicht selbst schon ein Naturgesetz sein und sich deshalb zu den Naturgesetzen nicht wie der allgemeine Gattungsbegriff zu den besonderen Artbegriffen verhalten kann. Kausalität und Naturgesetzlichkeit müssen auch aus diesem Grunde streng geschieden werden, und zwar wird es für unsere Zwecke genügen, wenn wir, ohne das Verhältnis, das zwischen den beiden Begriffen besteht, erschöpfend zu behandeln, die folgenden d r e i Begriffe auseinanderhalten. Die Voraussetzung, daß alles Geschehen seine Ursache hat, wollen wir, um sie von den Naturgesetzen der empirischen Wissenschaften zu unterscheiden, nicht Kausalitäts g e s e t z , sondern G r u n d s a t z der Kausalität oder Kausal p r i n z i p nennen. Es ist damit nichts anderes gesagt, als daß die Kategorie der Kausalität für j e d e empirische Wirklichkeit gilt. Sodann muß, da jede Ursache und jede Wirkung von jeder andern Ursache und jeder andern Wirkung verschieden, also individuell ist, jeder wirkliche Zusammenhang von Ursache und Wirkung nach unserer Terminologie als ein individueller und damit zugleich als ein im allgemeinsten Sinne des Wortes h i s t o r i s c h e r K a u s a l z u s a m m e n h a n g bezeichnet werden. Selbstverständlich ist die allgemeine Kategorie der Kausalität nicht selbst individuell, aber jener wirkliche Zusammenhang, den wir als Verhältnis von Ursache und Wirkung bezeichnen, wird notwendig als ein einmaliges, individuelles Wirklichkeitsstück gedacht.125 Schließlich sprechen wir von einem Kausal g e s e t z , wenn individuelle oder historische Kausalzusammenhänge auf das hin betrachtet werden, was ihnen mit andern Kausalzusammenhängen 125

An den hier bestimmten Begriff der historischen Kausalität hat S e r g i u s H e s s e n angeknüpft und ihn in sehr interessanter Weise näher ausgestaltet: Ueber individuelle Kausalität, 1909.

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gemeinsam ist, oder wenn ein unbedingt allgemeines Urteil gebildet wird, dessen Gehalt aus dem besteht, was an beliebig vielen individuellen Kausalzusammenhängen sich wiederholt, wie dies von jedem Naturgesetze gilt. Kurz, wir scheiden individuelle und allgemeine oder historische und naturwissenschaftliche Kausalzusammenhänge voneinander und beide wiederum von dem Kausalitätsprinzip oder der Kategorie der Kausalität, deren Geltung die Voraussetzung sowohl von historischen als auch von naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhängen bildet, und sobald | diese Dreiteilung beachtet wird, ergibt sich jedenfalls, daß der Begriff der kausalen Verknüpfung als solcher den der Naturgesetzlichkeit noch nicht einschließt. Der Begriff einer einmaligen und individuellen Kausalreihe, d. h. die Anwendung der Kausalitätskategorie auf die individuelle empirische Welt schließt es vielmehr aus, daß die Darstellung ihrer realen Individualität mit dem Begriff eines Naturgesetzes zusammenfällt. So ist es z. B. gewiß ein kausal vollkommen bestimmter Vorgang, daß Lissabon am 1. November 1755 durch das bekannte Erdbeben zerstört wurde, oder daß Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte, aber es gibt keine allgemeinen Kausalgesetze, in deren Inhalt diese einmaligen individuellen Kausalreihen ihren Platz finden, so wenig wie es irgendwelche allgemeinen Begriffe gibt, in denen das Einmalige und Individuelle als solches untergebracht werden kann. Ja, der Gedanke eines Naturgesetzes, in das ein einmaliger individueller Kausalvorgang eingeht, schließt geradezu einen logischen Widersinn ein, denn jedes Gesetz ist allgemein mit Rücksicht auch auf seinen Inhalt und kann daher von den individuellen Ursachen des einmaligen Vorgangs, auf die es dem Historiker ankommt, nichts enthalten.126 Mag man auch sagen, daß nach Kant nur das g e s e t z m ä ß i g Bestimmte Realität hat, so braucht man dies darum noch nicht für richtig zu halten, selbst wenn man anerkennt, daß lediglich das k a u s a l Bestimmte als real bezeichnet werden darf, denn es fällt eben der Begriff des kausal Bestimmten mit dem des gesetzmäßig Bestimmten durchaus nicht zusammen. So sehen wir: mit dem Wort „kausal“ ohne weiteren Zusatz ist noch nichts über die Methode einer empirischen Wissenschaft gesagt. Man muß immer fragen, welche Kausalität ist gemeint? Die allgemeine oder die individuelle, die naturwissenschaftliche oder die historische? Die Kategorie der Kausalität überhaupt oder das Kausalprinzip ist gegenüber dem Unterschiede der generalisierenden und der individualisierenden Auffassung indifferent. Oder umgekehrt: in einer generalisierenden wie in einer individualisierenden 126

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Hierdurch erledigt sich auch der Einwand, den Max F. S c h e l e r, Die transzendentale und die psychologische Methode, 1900, S. 142 f. gegen meine Theorie erhoben hat.

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Auffassung, also in einer naturwissenschaftlichen wie in einer historischen Begriffsbildung liegt bereits eine Umbildung der die „objektive Wirklichkeit“ überhaupt konstituierenden Kausalität vor. | Die Trennung der verschiedenen Kausalbegriffe ist noch aus einem andern Grunde wichtig. Oft wissen nämlich auch diejenigen, welche die Unmöglichkeit einer Uebertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Geschichte mehr oder weniger klar einsehen, gegenüber dem nichtssagenden Schlagwort von der „kausalen Methode“ sich nicht anders als dadurch zu helfen, daß sie die F r e i h e i t der historischen Persönlichkeit hervorheben, eine Freiheit, die in diesem Falle nur so viel wie Ursachlosigkeit bedeuten kann. Demgegenüber ist zu betonen, daß der l o g i s c h e Gegensatz von Natur und Geschichte mit dem Gegensatz von kausaler Notwendigkeit und Freiheit noch nichts zu tun hat, und daß die individualisierende Geschichte keine „individuelle Freiheit“ im Sinne von Ursachlosigkeit voraussetzen darf. Das Historische entzieht sich unter logischen Gesichtspunkten n i c h t deswegen dem generalisierenden naturwissenschaftlichen Begreifen, weil es Produkt f r e i e r Wesen ist, sondern weil es in seiner I n d i v i d u a l i t ä t dargestellt werden soll, und durch den Satz, die Geschichte habe es mit freien Individuen, die Naturwissenschaft mit kausal bestimmten Vorgängen zu tun, wird daher eine Entscheidung der methodologischen Streitfragen niemals zu gewinnen sein. Ja, hinge die Entscheidung von der Alternative: Kausalität oder Freiheit ab, so wären die Anhänger des e m p i r i s c h e n Determinismus, denn um den allein kann es sich hier handeln, bei ihrer Betrachtung der Erfahrungswissenschaften vom realen Sein im Recht. Gegen den Glauben an eine „transzendente“ Willensfreiheit soll damit nichts gesagt sein, aber es bliebe sehr bedenklich, ihm auf die empirischen Untersuchungen der Geschichte einen Einfluß zu gestatten oder gar die Methode der historischen Darstellung von ihm abhängig zu machen. Endlich muß die Unterscheidung der individuellen historischen Kausalität von der kausalen Naturgesetzlichkeit dazu dienen, noch einen Einwurf gegen unsere Auffassung der historischen Wissenschaft zurückzuweisen. Wie der Begriff der Freiheit so steht auch der der Z u f ä l l i g k e i t im Gegensatz zu dem der kausalen Notwendigkeit, und die Ansicht, die Geschichtswissenschaft habe es mit dem Individuellen und Einmaligen zu tun, wird vielfach damit bekämpft, daß dann ja das Zufällige ihr Objekt sei, und daß es eine Wissenschaft vom Zufälligen nicht geben könne. Mit solchen Wendungen ist jedoch, solange man den Begriff der kausalen „Notwendigkeit“ nicht genau bestimmt, wiederum nichts gesagt, was für unser Problem von Wichtigkeit sein kann, denn, wenn der Begriff des Zufälligen in seiner Bedeutung | ganz von dem Begriffe der kausalen Notwendigkeit abhängt, zu

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dem er in einen Gegensatz gebracht wird, dann können auch verschiedene, ja einander ausschließende Begriffe von Zufall entstehen.127 Nennt man „zufällig“ das, was nicht in einen allgemeinen Begriff oder ein naturwissenschaftliches Kausal g e s e t z eingeht, und versteht man unter „notwendig“ das Gesetzmäßige, so ist a l l e s Wirkliche als solches zufällig, denn alle Wirklichkeit ist individuell und geht in kein allgemeines Naturgesetz ein. Es ist z. B. in diesem Sinne zufällig, daß gerade der Saturn und nicht die Erde Ringe besitzt, daß Friedrich der Große die Schlacht bei Leuthen gewonnen hat, oder daß es im Osten Deutschlands mehr Rittergüter gibt als im Westen, d. h. es lassen sich keine allgemeinen Gesetze aufstellen, in denen diese individuellen Tatsachen als gesetzmäßig notwendig enthalten wären. Versteht man dagegen unter zufällig im Gegensatz zum kausal Notwendigen das, was keine Ursache hat, so ist umgekehrt n i c h t s in der realen Welt zufällig, sondern alles notwendig, denn daß der Saturn Ringe besitzt, und Friedrich die Schlacht gewonnen hat, ist ebenso kausal bestimmt, also notwendig, wie daß das Wasser in der Tonne vor meinem Hause heute Nacht bei weniger als 0 Grad fest wurde, und in diesem Sinne hat es die Geschichte dann niemals mit Zufälligem, sondern immer mit Notwendigem zu tun, wobei es dahingestellt bleiben mag, wie weit das Notwendige sich auch als notwendig begreifen läßt. Scheiden wir also individuelle und allgemeine oder historische und naturgesetzliche Kausalität als die zwei möglichen Gestaltungen, die das Kausalprinzip oder die Kategorie der Kausalität annehmen kann, so ist alle Wirklichkeit notwendig mit Rücksicht auf den einen und zufällig mit Rücksicht auf den andern Kausalitätsbegriff, und der Satz, die individualisierende Geschichte sei die Wissenschaft vom Zufälligen, sagt dann entweder nichts, was als Einwand gegen ihren wissenschaftlichen Charakter gelten kann, oder er ist falsch, weil er das Individuelle mit dem Ursachlosen verwechselt. Doch hat das Wort zufällig noch eine d r i t t e Bedeutung. Notwendig kann nämlich auch so viel wie „wesentlich“ heißen, und dementsprechend ist dann das Zufällige dem Unwesentlichen gleichzusetzen. Die Behauptung, daß die individualisierende Geschichte die Wissenschaft vom Zufälligen in diesem dritten Sinne sei, würde also nur bedeuten können, es fehle in der Geschichte an einem Prinzip zur Auswahl des Wesentlichen, welches auf wissenschaftliche Geltung Anspruch | erheben darf. Das aber käme wieder auf die Voraussetzung hinaus, daß wesentlich für die Wissenschaft n u r der Inhalt allgemeiner Begriffe oder Naturgesetze sei, und schlösse also den Glauben an eine naturwissenschaftliche Universalmethode bereits ein. Hat 127

Vgl. W i n d e l b a n d , Die Lehren vom Zufall, 1870.

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man dagegen eingesehen, daß eine solche Voraussetzung sich nicht halten läßt, so ist damit zugleich jede Möglichkeit, den Begriff des Zufälligen zur Ablehnung der individualisierenden historischen Darstellung zu benutzen, geschwunden. Die Geschichte ist nicht eine Wissenschaft vom Zufälligen als dem Unwesentlichen, sondern der Inhalt ihrer Begriffe gehört notwendig zusammen, insofern als alles in dem angegebenen Sinne Zufällige, d. h. nicht mit Rücksicht auf den leitenden Wert der Darstellung Wesentliche, von ihr fern gehalten wird. Es sollte also niemand sich von so leeren Schlagworten wie dem einer „Wissenschaft des Zufälligen“ schrecken lassen. Sie sagen nichts gegen die individualisierende Geschichte, sobald man genau bestimmt, was das Wort zufällig bedeutet. Wir sehen, eine „kausale Methode“ im Gegensatz zur geschichtlichen, individualisierenden Methode gibt es nicht, und es hat vollends keinen Sinn, naturwissenschaftliche und kausale Methode einander gleichzusetzen. An den individuellen historischen Kausalzusammenhängen findet vielmehr die generalisierende naturwissenschaftliche Begriffsbildung ebenso wie an jeder anderen individuellen geschichtlichen Wirklichkeit ihre Grenze. Niemals kommt für eine Gesetzeswissenschaft dieser einmalige Vorgang, bei dem aus dieser individuellen Ursache dieser individuelle Effekt hervorgeht, als solcher in Frage, sondern es werden immer allgemeine Begriffe gebildet, die das mehreren individuellen Kausalverhältnissen Gemeinsame enthalten. Es entsteht dadurch dann die gewiß wertvolle Einsicht, daß, wo auch immer ein Objekt sich zeigt, das als Exemplar unter einen bestimmten allgemeinen Begriff einer Ursache fällt, ein anderes Objekt sich einstellen muß, das die Merkmale eines bestimmten allgemeinen Effektbegriffes trägt, aber es wird dabei von jeder einmaligen individuellen Kausalreihe abgesehen, und „Geschichte“ darf man also eine solche Darstellung nie nennen, solange man von der Geschichte die Darstellung des einmaligen individuellen zeitlichen Verlaufes der Wirklichkeit verlangt. Es kann ferner auch ein naturwissenschaftlicher Allgemeinbegriff, der in dem einen Falle den Begriff der Ursache bildete, als der Begriff eines Effektes betrachtet werden, und wenn man nun weiter nach dem Begriff der zu ihm gehörigen Ursache fragt, so handelt es sich wieder | darum, einen allgemeinen Begriff aufzustellen, der in demselben Verhältnis zu ihm steht, wie er zu dem Begriffe stand, mit dem er in dem vorigen Fall als dessen Ursachenbegriff verknüpft war. Ja, dieser Prozeß der Bildung von allgemeinen Ursachen- und Effektbegriffen läßt sich immer weiter fortsetzen, d. h. die Naturwissenschaft kann darauf ausgehen, ein System von allgemeinen Kausalbegriffen zu bilden, in das jeder beliebige Vorgang der empirischen Wirklichkeit, sei er physisch oder psychisch, sich sowohl als Ursache wie auch als Wirkung einordnen läßt. Aber so wichtig jeder Schritt sein mag, der

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die Wissenschaft diesem Ziele näher führt, es wäre selbst mit der vollkommenen Realisierung des denkbar höchsten Ideals einer Erkenntnis der kausalgesetzmäßigen Zusammenhänge eine Darstellung der h i s t o r i s c h e n Zusammenhänge nicht gewonnen, denn der kausale „Zusammenhang“, der dann dargestellt wäre, bliebe der eines Systems von allgemeinen Begriffen, in das die individuellen historischen Kausalzusammenhänge sowenig eingehen wie die individuellen historischen Objekte in allgemeine Begriffe überhaupt. Absichtlich haben wir bisher nicht danach gefragt, wie der Begriff der kausalen Verbindung zwischen zwei als Ursache und Effekt bezeichneten Wirklichkeiten zu definieren ist. Eine allgemeine Theorie der Kausalität würde weit über den Rahmen dieser Untersuchung hinausführen. Doch wollen wir das, was wir mit dem Worte „kausale Verknüpfung“ meinen, wenigstens an einem Beispiel zeigen, und dabei zugleich klar machen, weshalb eine allgemeine Theorie der Kausalität überhaupt bei der Behandlung methodologischer Probleme entbehrt werden kann. Wenn wir die Hand auf den vor uns stehenden Tisch aufschlagen lassen, hören wir einen Schall. Wir bezeichnen dann die Bewegung unserer Hand als Ursache und den Schall als Effekt und nehmen an, daß beide notwendig miteinander verknüpft sind. Jeder Schlag der Hand und jeder Schall, den wir hören, ist individuell, d. h. von jedem anderen Schlag und jedem anderen Schall verschieden. In der Ursache und im Effekt wiederholt sich nichts genau. Worin das „Band“ z w i s c h e n Ursache und Effekt besteht, brauchen wir hier nicht zu fragen, weil wir nur den Unterschied allgemeiner und individueller oder naturwissenschaftlicher und historischer Kausalität feststellen wollen. Der Begriff des „Bandes“ zwischen Ursache und Effekt muß dem Begriff der h i s t o r i s c h e n Kausalität und dem des Kausal g e s e t z e s g e m e i n s a m sein. Er steckt in dem Begriff des Kausal p r i n z i p e s , | das die empirische Wirklichkeit überhaupt als Kausalzusammenhang konstituiert. Wichtig ist für uns dagegen, daß in jedem individuellen Kausalvorgang die Ursache vom Effekt v e r s c h i e d e n ist, d. h. stets etwas Neues, vorher noch nicht Vorhandenes hervorbringt, wie der Schlag der Hand den Schall, und wir müssen diese Verschiedenheit von Ursache und Wirkung, d. h. den Umstand, daß in der empirischen Wirklichkeit stets ein A mit einem Non-A kausal verknüpft ist, als Eigentümlichkeit jedes historischen Kausalverhältnisses auf das schärfste hervorheben. Wenn die Naturwissenschaft Naturgesetze aufstellt, kann sie dazu kommen, von der stets vorhandenen Verschiedenheit der beiden, Ursache und Wirkung genannten Objekte zu abstrahieren und zu sagen, daß die Ursache niemals mehr hervorbringe, als sie selbst enthalte. Dies findet dann in dem Satz: causa a e q u a t effectum, seinen Ausdruck,

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der somit das logische G e g e n t e i l von dem sagt, was für jede individuelle historische Verbindung von Ursache und Effekt gilt. Offenbar liegt hier ein Problem vor. Doch begnügen wir uns mit wenigen Worten über die Differenz zwischen historischer und naturwissenschaftlicher Auffassung des Kausalverhältnisses, die ausreichen, das klar zu stellen, was für die historische Methode wichtig ist. Wo die Naturwissenschaft unbedingt allgemeine Sätze über die Verbindung von Ursache und Effekt aufstellt, nimmt sie an, daß „dieselbe“ Ursache jedesmal „dieselbe“ Wirkung hervorbringt. Aus diesem Prinzip der Aequivalenz der Ursachen läßt sich dann mit Gründen, die wir hier nicht näher zu verfolgen haben, das Prinzip der Aequivalenz von Ursache und Effekt ableiten. Die beiden Prinzipien können freilich r e i n erst dann angewendet werden, wenn es sich um Begriffe handelt, die quantitativ bestimmt sind, doch sie werden vielleicht in aller Naturwissenschaft insofern von Bedeutung sein, als man versuchen mag, auch alle qualitative körperliche Wirklichkeit, ja vielleicht sogar das Seelenleben, wenigstens nach Analogie der Ursachenäquivalenz und des Satzes causa aequat effectum zu denken. Ebenso aber ist hervorzuheben, daß schon die Voraussetzung der Ursachenäquivalenz allein auf eine generalisierend bearbeitete Wirklichkeit sich anwenden läßt, ja streng genommen erst in der hypothetischen Form richtig ist, daß, w e n n „dieselbe“ Ursache auftritt, sie auch „dieselbe“ Wirkung haben muß, denn faktisch gleichen zwei als Ursache zu bezeichnende Teile der empirischen Wirklichkeit einander niemals, d. h. es kommt nicht vor, daß genau „dieselbe“ individuelle Ursache | wieder genau „denselben“ individuellen Effekt hervorbringt.128 Wir haben also schon im Begriff der Ursachenäquivalenz das Produkt einer spezifisch generalisierenden oder naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung zu sehen. Bedeutet aber diese spezifisch naturwissenschaftliche Voraussetzung nur, daß ein unter den allgemeinen Begriff A fallender Vorgang immer einen unter den allgemeinen Begriff B fallenden Vorgang hervorbringt, so hat es vollends keinen Sinn, die Gleichheit einer historischen Ursache mit ihrem historischen Effekt zu behaupten. Der Satz: causa aequat effectum, will lediglich sagen: Ursache und Effekt müssen sich von einer allgemeinen naturwissenschaftlichen Theorie so unter zwei Allgemeinbegriffe bringen lassen, daß deren im naturwissenschaftlichen Sinne wesentliche Elemente mit Rücksicht auf einen bestimmten Maßstab als einander äquivalent anzusehen sind. Die Geschichte, die nicht allgemeine, sondern individuelle Begriffe bildet, 128

Der Unterschied von Identität und Gleichheit bleibt hier absichtlich unberücksichtigt. Vgl. darüber meine Abhandlung: Das Eine, die Einheit und die Eins. [In:] Logos II, 1911, S. 26 ff., 2. Aufl. als erstes Heft der Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, 1924.

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hat also keine Möglichkeit, von dem Prinzip der Gleichheit von Ursache und Effekt Gebrauch zu machen oder ihre Kausalzusammenhänge auch nur nach Analogie dieses Prinzipes zu denken. Alle Ursachen, die eine absolut historische Darstellung berücksichtigt, sind voneinander verschieden, und ebenso ist der historische Effekt stets etwas anderes als die Ursache, die ihn hervorbringt, denn wenn er nichts anderes und nichts Andersartiges wäre, so könnte er auch kein historisches In-dividuum sein, d. h. durch seine Einzigartigkeit keine historische Bedeutung mit Rücksicht auf den die Darstellung leitenden Wert bekommen. Es kennt demnach die Geschichte den Begriff der Kausalgleichung überhaupt nicht, sondern wenn der kausale Zusammenhang zweier individueller historischer Vorgänge dargestellt werden soll, kann das nur in Kausalungleichungen geschehen. Daher ist der Satz: „kleine Ursachen große Wirkungen“ zwar für die Welt der naturwissenschaftlichen Begriffe falsch, der Historiker dagegen braucht sich niemals zu scheuen, historisch wesentliche Wirkungen aus historisch unwesentlichen Ursachen entstehen zu lassen, d. h. aus Ursachen, die durch ihre Einzigartigkeit allein noch keine notwendige Beziehung zu dem leitenden Werte der Darstellung haben, sondern erst durch Uebertragung, nämlich durch den Umstand, daß sie Ursachen für historisch wesentliche Wirkungen sind, historische Bedeutung enthalten. Auch | hier gehen wieder die Wege der Naturwissenschaft und der Geschichte notwendig auseinander. Nur der kann in dieser Inkongruenz einen Widerspruch erblicken, der sich von dem Phantom einer Universalmethode nicht losgesagt hat und in den naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen genaue Abbilder von Realitäten oder gar genaue Abbilder der individuellen empirischen Wirklichkeit sieht. Nicht minder sorgfältig muß eine andere Umbildung, die der Begriff des Kausalzusammenhanges in der Naturwissenschaft erfährt, von der Auffassung der Wirklichkeit als Geschichte ferngehalten werden. Die Begriffe von Ursachen sind nämlich in den naturwissenschaftlichen Kausalgesetzen nicht nur allgemein, sondern es wird vielfach auch ein naturwissenschaftliches Kausal g e s e t z selbst als Ursache bezeichnet. So soll z. B. das Fallgesetz die Ursache der beschleunigten Geschwindigkeit eines fallenden Körpers, die Gesetze über die Brechung von Lichtstrahlen die Ursachen eines Regenbogens, die Assoziationsgesetze die Ursachen des Auftauchens von Vorstellungen aus der Erinnerung sein, oder es wird gar ein Gesetz als Ursache eines andern Gesetzes angesehen. Gegen diese Ausdrucksweise ist so lange nichts einzuwenden, als man sich bewußt bleibt, daß durch sie etwas über das Verhältnis von B e g r i f f e n zueinander gesagt wird, und daß in der empirischen Wirklichkeit selbst immer besondere und individuelle Dinge oder Vorgänge, also niemals Allge-

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meinbegriffe oder Gesetze als Ursachen gelten dürfen. Im übrigen kann man den Gesetzen zwar Effekte unterordnen, aber der übergeordnete Begriff steht zu dem ihm untergeordneten Exemplar notwendig in einem anderen Verhältnis als in dem von Ursache und Effekt. Wenn demnach die Naturwissenschaft als „Ursache“ der beschleunigten Bewegung eines fallenden Körpers das Fallgesetz, oder das Gravitationsgesetz als Ursache des Fallgesetzes betrachten mag, insofern sie allgemeine Begriffe miteinander verbinden will, würde in der Geschichtswissenschaft jeder Versuch, bei der Darstellung eines einmaligen individuellen Kausalzusammenhanges allgemeine Begriffe oder Kausalgesetze als wirkende Ursachen für individuelle historische Effekte anzusehen, uns die Möglichkeit rauben, den historischen Vorgang zu begreifen, denn statt der angestrebten Kenntnis dessen, was einmal wirklich individuelle Ursache war und wirkte, erhielten wir allgemeine, zeitlos gültige begriffliche Abstraktionen, die niemals zeigen könnten, wodurch die historischen Ereignisse so geworden sind, wie sie wirklich zeitlich ablaufen. | Das ist besonders dann zu beachten, wenn es sich darum handelt, die Wirkungen kennen zu lernen, die von einem umfassenden Ganzen oder einem Kollektivum ausgehen und die Individualität eines oder mehrerer seiner Glieder bestimmen. Dabei wird häufig ein allgemeiner Begriff von allen Teilen des Ganzen gebildet, dieser Gattungsbegriff dann mit der konkreten Gattung oder dem historischen Ganzen verwechselt und nun versucht, jedes Glied des Kollektivums als kausal bestimmt durch den allgemeinen Gattungsbegriff anzusehen. Deshalb hat man auch geglaubt, in den Theorien, die über den Einfluß der Umwelt oder des „Milieu“ auf die historischen Persönlichkeiten gebildet worden sind, eine Rechtfertigung der generalisierenden naturwissenschaftlichen Methode in der Geschichte zu besitzen, und nicht selten treten infolgedessen Gedankengänge auf, die man, ohne sich einer Uebertreibung schuldig zu machen, etwa auf folgenden Ausdruck bringen kann. Weil jedes Individuum von seiner „allgemeinen“ Umgebung kausal bedingt sei, könne es nicht mehr als Individuum angesehen werden, denn die allgemeine Umwelt bringe doch selbstverständlich keine individuellen Effekte hervor, und schon deshalb sei jede individualisierende Geschichtsschreibung verwerflich. Die Wissenschaft habe es immer mit den „allgemeinen“ Massen zu tun, in denen die Individuen restlos aufgehen, und die wahren Ursachen des historischen Verlaufes seien also niemals das Besondere und Individuelle, sondern immer das Allgemeine, aus dem das Individuelle mit Gesetzmäßigkeit folge. Es stehe also, weil jeder Einzelne Produkt seiner Umwelt sei, der Geschichte nichts im Wege, sich zu einer Gesetzeswissenschaft zu entwickeln oder wie die Naturwissenschaft nur Gattungen und niemals Individuen zu behandeln. Die Begriffsverwirrung, welche derartigen Behauptungen zugrunde liegt, haben wir, so weit sie auf der Verwechslung der konkreten individuellen

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Gattung mit dem allgemeinen Gattungsbegriff beruhen, bereits aufgedeckt, aber es wird gut sein, auch die Scheidung von allgemeiner Naturgesetzlichkeit und individueller historischer Kausalität noch ausdrücklich auf das Verhältnis von Individuen und Milieu anzuwenden. Daß jeder Mensch wie jedes historische Individuum überhaupt von seiner Umgebung Einwirkungen erfährt und in seiner Eigenart durch sie bestimmt wird, hat wohl noch niemand ernsthaft geleugnet. Aber, selbst wenn man sich diese Einwirkungen so groß und entscheidend denkt wie möglich, bleibt doch nicht nur die Umwelt als Wirklichkeit etwas | Individuelles und Besonderes und von anderen Umwelten zu anderen Zeiten und an anderen Orten individuell verschieden, sondern es müssen ferner, da kein Mensch dem andern gleicht, auch die Kausalzusammenhänge jedes historischen Individuums mit seiner individuellen Umwelt in jedem besonderen Falle von jedem anderen Falle individuell verschieden sein, und sie sind daher von der Geschichte allein unter den Begriff der historischen Kausalität, nicht unter Naturgesetze zu bringen. Hat man sich diese einfache Wahrheit zum Bewußtsein gebracht, so ergibt sich, daß die Milieutheorie für die Logik der Geschichte nichts anderes bedeutet als das, was bereits aus der Anwendung des Kausalprinzips auf alle individuelle Wirklichkeit folgt, dagegen für die Frage, ob die generalisierende oder individualisierende Methode von dem Historiker anzuwenden ist, nichts besagt. Es dürfte überhaupt wenig Schlagworte geben, die so leer sind wie der Ausdruck „Milieu“, sobald er in Theorien über das Wesen der Geschichtswissenschaft auftaucht, und von denen man trotzdem so viel Aufhebens gemacht hat. Jedenfalls ist der Gedanke an die reale Umwelt, in der jedes einzelne reale Individuum lebt, mehr geeignet, den Unterschied als das Gemeinsame zwischen Naturwissenschaft und Geschichte hervortreten zu lassen. Daß die Einordnung des einzelnen Individuums in den „allgemeinen“ historischen Zusammenhang an dem individualisierenden Charakter einer geschichtlichen Darstellung nichts ändert, können wir vielleicht am besten dadurch klar machen, daß wir zeigen, wie auch in einer rein quantitativ gedachten, also in e i n e r Hinsicht vollkommen „rationalisierten“ Welt das quantitativ bestimmte Individuum durch Einordnung in sein Ganzes, zu dem es gehört, nichts von seiner Individualität verliert und daher durch allgemeine Gesetzesbegriffe unbegreiflich bleibt. Denken wir uns den einen „allgemeinen“ Raum in lauter individuelle Raumteile von besonderer Gestaltung zerlegt und fragen dann, wie weit sich die individuelle Gestaltung der Teile aus den allgemeinen Gesetzen des Räumlichen begreifen läßt. Die Antwort ist einfach: jede individuelle Raumgestaltung muß zwar als etwas betrachtet werden, das in seiner Individualität ausschließlich von der Umgebung abhängt, d. h. der individuelle Raumteil ist ein Individuum n u r durch

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das „Milieu“ oder die Umgebung, in der er sich befindet, und er würde sich durch jede Aenderung seiner Umgebung selbst ändern. Aber auch er hört dadurch niemals auf, individuell zu sein, und bleibt somit für eine Wissenschaft, die auf Bildung allgemeiner Begriffe ausgeht, unbegreiflich. Unser Satz, die Geschichte | habe es stets mit Individuellem und naturwissenschaftlich Unbegreiflichem zu tun, das sich nicht anders als individualisierend darstellen läßt, steht selbst mit der Behauptung nicht in Widerspruch, nach der jedes Individuum ausschließlich durch seine Umgebung bestimmt werde und gar nichts „Eigenes“ zeige, denn setzen wir sogar voraus, jede historische Persönlichkeit sei von den „Verhältnissen“, der „Zeit“, oder wie man sich sonst ausdrücken will, so vollkommen und restlos abhängig, daß Spinozas Gleichsetzung von Individualität und Negation zuträfe, so könnte darum die kausale Bestimmtheit eines besonderen Individuums durch das Milieu trotzdem ebensowenig aus allgemeinen Gesetzen abgeleitet werden wie die Besonderheiten eines individuellen Raumteiles aus den allgemeinen Gesetzen, die für das Räumliche überhaupt oder für jeden beliebigen Raumteil gelten, insofern es als Exemplar eines allgemeinen räumlichen Begriffes in Betracht kommt. Wir dürfen auch hier sagen, daß was für die individuellen Gestaltungen des homogenen Raumes gilt, vollends für die individuellen Gestaltungen von Teilen der nirgends homogenen empirischen Wirklichkeit gelten muß, und daß daher kein noch so weitgehender Glaube an den Einfluß des Milieu den Historiker von der Aufgabe entbinden würde, die individuellen Einflüsse der individuellen Umwelt auf die verschiedenen historischen Individuen im einzelnen zu erforschen. Selbstverständlich gilt dieselbe Betrachtung auch, wenn jedes Individuum als notwendiges Produkt der Vergangenheit aufgefaßt wird. Gewiß ist jeder Einzelne in dem Sinne kausal bedingt, daß er in eine bereits vorhandene historische Situation hineinwächst, die sich durch lange Zeiträume hindurch allmählich entwickelt hat. Es lebt daher in ihm die Vergangenheit weiter, und er wird niemals imstande sein, sich von der Tradition vollkommen loszulösen, denn, selbst wenn er es versucht und gegen sie ankämpft, muß sein Kampf von der Art dieser Tradition abhängen. Aber ebensowenig wie die Einflüsse der Umwelt können die der Vorwelt die Bedeutung haben, daß durch sie der Einzelne aufhört, etwas Besonderes, Einmaliges und Individuelles zu sein und als Individuum für den Historiker in Betracht zu kommen. Die Geschichte wird vielmehr wie die Umwelt so auch die Vorwelt immer als i n d i v i d u e l l e Ursachen ansehen, deren individuelle Wirkungen zu erforschen und in historischen Begriffen darzustellen sind. Verkennen kann man dies wiederum nur, wenn man die konkrete Gattung, deren Glied der Einzelne ist, mit dem allgemeinen Gattungs- | begriff verwechselt, unter den er als Exemplar fällt, und dann den Gattungsbegriff

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als „Volksseele“ oder „Zeitgeist“ zu einer gänzlich problematischen „Realität“ hypostasiert, die wirken soll. So muß man freilich dies „Allgemeine“ zur wahren Ursache des Geschehens machen wollen und behaupten, der Gang der Geschichte werde nur scheinbar von individuellen Ereignissen beeinflußt. In Wahrheit ist ein solcher allgemeiner Begriff, wo er als Erklärungsgrund auftritt, nichts als ein asylum ignorantiae. Der echte Historiker wird das auch, gerade wenn er mit allgemeinen Massenbewegungen zu tun hat, deutlich empfinden. So sagt z. B. Treitschke129 ausdrücklich: „Ein M a n g e l läßt sich bei allem Fleiße nicht ganz beseitigen. Das Leben der breiten Massen des Volkes bleibt in einem Zeitalter reflektierter Bildung immer geheimnisvoll, und wie viel der Historiker auch an wirtschaftlichen, politischen, religiösen Erklärungsgründen vorbringen mag, zuletzt kann er doch nur einfach die Tatsache feststellen, daß die S t i m m u n g d e r Z e i t reif wurde für eine Revolution“. Wie Treitschke muß jeder, der sich von metaphysischen Begriffshypostasen frei hält, in individuellen Ereignissen die Ursachen des geschichtlichen Werdens und die Objekte der historischen Darstellung erblicken und wissen, daß allgemeine Wendungen wie „Stimmung der Zeit“ auf Mängel und Lücken im historischen Material hinweisen, also gewiß nichts „erklären“ können. Kurz, es sind auch hier wieder gerade die „Modernen“ und angeblichen Empiristen, welche mit einer unhaltbaren Geschichtsmetaphysik arbeiten und wie die mittelalterlichen Realisten aus begrifflichen Abstraktionen historische Wirklichkeiten hervorgehen lassen wollen. Wir dagegen suchen von einem im guten Sinne „empirischen“ Standpunkt aus die Methode der Geschichtswissenschaften zu verstehen. Schließlich jedoch stellt uns der Begriff der individuellen oder historischen Kausalität, d. h. die einmalige und individuelle Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt, daß sie ein kausal bestimmter Verlauf ist, noch vor ein Problem, das ebenfalls mit Schärfe hervorgehoben werden muß, damit nicht der Schein entsteht, als seien die Schwierigkeiten im Begriff des geschichtlichen Wirkens unterschätzt. Wie gewinnt der Historiker eine allgemein verständliche und übertragbare E i n s i c h t in den individuellen Zusammenhang dieser bestimmten historischen Ursache mit diesem bestimmten historischen Effekt? | Es ist von vorneherein klar, daß hier, ebenso wie bei der Bildung historischer Begriffe überhaupt, wieder ein Umweg gemacht werden muß, der durch a l l g e m e i n e Begriffe hindurchgeht, denn eine volle individuelle Kausalverknüpfung ist wie jede volle Wirklichkeit in ihrer unübersehbaren Mannigfaltigkeit wissenschaftlich niemals darzustellen. Ja noch mehr: die 129

Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 1894, Bd. V, S. V. Der Sperrdruck ist von mir angegeben.

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Geschichte braucht in einem solchen Fall nicht nur überhaupt irgend welche allgemeinen Begriffe, sondern sie muß sogar allgemeine Begriffe von Kausalverhältnissen oder N a t u r g e s e t z e als Mittel der Darstellung verwenden, und damit scheint der logische Gegensatz von Geschichte und Naturwissenschaft von neuem in Frage gestellt. Doch, es scheint nur so, ja um die hier entstehende Täuschung zu durchschauen, brauchen wir nur an das bereits früher über die allgemeinen „Elemente“ jedes historischen Begriffes Gesagte zu erinnern und das dort Dargelegte noch etwas weiter auszuführen. Ein individueller Kausalzusammenhang ist in der Geschichte nicht so darzustellen, daß Ursache und Wirkung in ihrer To t a l i t ä t einem allgemeinen Kausalgesetz untergeordnet werden, denn dadurch müßten sie in der Tat ihre Individualität verlieren und aufhören, historische Vorgänge zu sein. Es sind vielmehr die historischen Objekte, nach deren historischer Ursache gefragt wird, so zu analysieren, daß ihre durch die Elemente ihrer historischen Begriffe dargestellten Bestandteile gesondert hervortreten, und es ist dann für jeden einzelnen Bestandteil die Ursache zu suchen. Die letzten Elemente eines historischen Begriffes bleiben, wie wir wissen, notwendig allgemein, und deshalb wird es möglich, jede der ihnen untergeordneten Wirklichkeiten für sich als Effekt einer Ursache zu begreifen, die ebenfalls unter einen allgemeinen Begriff fällt. Hat man auf diese Weise für die einzelnen Bestandteile des historischen Effektes die Ursachen aufgezeigt, dann schließen sich die gefundenen Begriffe, die, solange jeder für sich betrachtet wird, lauter allgemeine Begriffe von Ursachen sind, als Elemente in ihrer Gesamtheit wieder zu einem historischen Begriff zusammen, und in diesem besitzen wir dann den Begriff der historischen Ursache als Ganzes. Allerdings braucht, wo nach der Ursache eines historischen Objektes gefragt wird, das wir als e i n Ding auffassen, unter den historischen Begriff seiner Ursache nicht ebenfalls wieder e i n Ding zu fallen, sondern es kann der Begriff der historischen Ursache aus Elementen bestehen, die Begriffe der verschiedensten Dinge und Vorgänge sind. So wird der Begriff oft Elemente von verschiedenen | Teilen oder Gliedern des Ganzen enthalten, zu dem der historische Effekt selbst als Teil oder Glied gehört, und diese sind dann nicht wieder zu dem Begriff eines individuellen Dinges zu verbinden. Aber es genügt, damit unsere Prinzipien sich durchführen lassen, wenn nur der so entstehende Begriff in der Totalität seiner Elemente auf jeden Fall ein individueller historischer Begriff ist, und daß dies so sein muß, ist nicht schwer zu zeigen. Um die logische Struktur der historischen Ursachendarstellung zu verstehen, müssen wir uns freilich an ein allgemeines S c h e m a halten, das in keiner Weise den äußerst verwickelten Untersuchungen über historische

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Kausalzusammenhänge gerecht wird. Denn wollten wir anders verfahren, so bliebe nichts übrig, als einen bestimmten Fall nach allen seinen Einzelheiten zu analysieren, und das würde sehr weit führen. Doch genügt ein Schema in diesem Zusammenhang vollkommen, um das Prinzip aufzuzeigen, auf das es ankommt. Nehmen wir also an, der Historiker suche zu zeigen, wodurch ein individuelles historisches Objekt W verursacht ist, und dieses W falle unter den individuellen Begriff S, dessen letzte Elemente a, b, c, d, e sind. Er wird dann nicht ohne weiteres ein anderes historisches Objekt U finden, dessen historischer Begriff Σ in einem als notwendig darstellbaren Zusammenhange mit dem historischen Begriff S steht, aber er wird darauf ausgehen, Ereignisse festzustellen, die unter allgemeine Begriffe von Ursachen für a, b, c, d, e fallen, und wenn dann die so gefundenen allgemeinen Begriffe α, β, γ, δ, ε mit den Elementen des historischen Begriffes S in der Weise zusammenhängen, daß ein unter den Begriff α fallendes Objekt stets die Ursache eines unter den Begriff a fallenden Objekts ist, ein unter β fallendes die Ursache von b usw., so kann der Historiker die allgemeinen Begriffe α, β, γ, δ, ε als Begriffselemente zu dem gesuchten historischen Begriff Σ zusammenstellen und sagen, er enthalte die wesentlichen Bestandteile der historischen Ursache von W. Dann aber muß, falls der aus a, b, c, d, e bestehende Begriff S ein absolut historischer Begriff ist, auch der aus α, β, γ, δ, ε bestehende Begriff ein absolut historischer Begriff sein, dem nur eine einzige historische Wirklichkeit U untergeordnet werden kann, denn wenn es mehrere Objekte U mit den Merkmalen α, β, γ, δ, ε gäbe, müßten sie, da für die Kausalverhältnisse der Begriffselemente der Satz der Ursachenäquivalenz gilt, auch mehrere Objekte W mit den Merkmalen a, b, c, d, e hervorgebracht haben, und das widerspricht der Voraussetzung. Nur dann kann der Begriff Σ einen allgemeinen | Inhalt haben, wenn er unvollständig ist, d. h. nicht alle Elemente enthält, die Ursachen für die Elemente von S sind, und das wird auch häufig der Fall sein, aber der Begriff gehört dann zu der Art der historischen Begriffe, die wegen des logisch zufälligen Materialmangels nicht als negative Instanzen gegen unsere Theorie gebraucht werden dürfen. Ist Σ dagegen ein vollständiger Begriff, d. h. enthält er alle Ursachenbegriffe, nach denen für die wesentlichen Elemente des historischen Effektbegriffes gesucht wurde, so müssen seine Elemente in ihrer Totalität notwendig einen Komplex bilden, der nur auf eine einmalige historische Situation paßt, und es ist dann der historische Kausalzusammenhang zwischen den individuellen Objekten W und U mit Hilfe der allgemeinen Begriffselemente der individuellen Begriffe S und Σ in allgemein verständlicher Weise als notwendig dargestellt, d. h. wir begreifen, warum ein einmaliger individueller historischer Effekt aus einer einmaligen individuellen historischen Ursache hervorgehen mußte.

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Der Umstand, daß die Darstellung historischer Kausalzusammenhänge nur mit Hilfe von Begriffen möglich ist, die allgemeine Kausalbegriffe oder Naturgesetze als Elemente enthalten, weist von neuem darauf hin, daß die Geschichtswissenschaft es nicht allein mit allgemeinen Werten und allgemeinen Kollektivindividuen, sondern auch mit allgemeinen Begriffen, die nach naturwissenschaftlicher Methode gebildet sind, zu tun hat, und daraus ergeben sich B e z i e h u n g e n zwischen der historischen und der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Zwar brauchen die allgemeinen Begriffe, mit deren Hilfe wir einsehen, wie ein individuelles Ereignis das andere bewirkt, nicht w i s s e n s c h a f t l i c h e Begriffe zu sein. Wir wissen alle, daß z. B. ein Dolchstoß die Ursache des Todes eines Menschen sein kann, und wir begreifen daher sofort, warum Cäsar starb, als Brutus und seine Gefährten mit Dolchen auf ihn eindrangen, ohne uns im geringsten um den wissenschaftlichen physiologischen Begriff des Todes durch Stichwaffen zu kümmern. Ja, meist werden in Darstellungen der historischen Kausalzusammenhänge allgemeine Sätze benutzt, die v o r aller Naturwissenschaft in der „Erfahrung des praktischen Lebens“ entstanden sind und etwas über den ursächlichen Zusammenhang aussagen. Doch ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die Geschichte von diesen vorwissenschaftlichen allgemeinen Kenntnissen über ursächliche Verknüpfung zu Begriffen fortschreitet, die erst durch eine naturwissenschaftliche generalisierende Darstellung der Kausalverhältnisse gebildet sind, und | dann können so viele Beziehungen zwischen naturwissenschaftlicher und historischer Begriffsbildung entstehen, daß man vielleicht Mühe hat, in den historischen Darstellungen die durcheinander gemischten Bestandteile von logisch verschiedener Struktur überall zu trennen. Ein solches Ineinander von allgemeinen und individuellen Begriffen zeigt mehr oder weniger jede historische Darstellung, und wir sind weit davon entfernt, derartige Beziehungen zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Tendenzen zu leugnen oder auch nur für methodologisch unwesentlich zu halten. Aber an dem logischen Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte oder generalisierender und individualisierender D a r s t e l l u n g wird, wo die letzten wissenschaftlichen E r g e b n i s s e in Betracht kommen, dadurch trotzdem nichts geändert. Denn es bleibt dabei, daß die allgemeinen Begriffe in den generalisierenden Wissenschaften das Z i e l sind, wonach man strebt, daß sie in einer individualisierenden Wissenschaft dagegen als M i t t e l benutzt werden, um den einmaligen und individuellen Kausalverlauf darzustellen. Man kann sich das leicht an einer Darstellung klar machen, in der z. B. viel von naturalwirtschaftlichen und geldwirtschaftlichen Zeitaltern die Rede ist. Diese Begriffe tauchen oft auf, wo das Verfahren der Geschichte als naturwissenschaftlich zu erweisen versucht wird. So soll nach Lamprecht

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ein methodologischer Unterschied bestehen zwischen den beiden folgenden Sätzen, von denen der zweite ein Beispiel für die „neue Methode“ ist: „750 war um Fulda eine Hungersnot, so daß sogar Leute auswanderten“, und: „750 war um Fulda eine Hungersnot, die entsprechend dem Zeitalter rein naturalwirtschaftlichen Charakter trug bis zu dem Grade, daß selbst Leute auswanderten“. Es ist nicht zu bezweifeln, daß der allgemeine Begriff der Naturalwirtschaft in dem zweiten Satz den kausalen Zusammenhang begreiflicher machen kann, als in dem ersten Satz, aber es ist ebenso sicher, daß die Geschichtswissenschaft zu a l l e n Zeiten allgemeine Begriffe zu einem solchen Zwecke verwendet hat, so daß von einer „neuen“ Methode nicht die Rede sein darf, und daß ferner ein solches Verfahren nicht etwa generalisierend oder naturwissenschaftlich ist, sondern dazu dient, individuelle historische Ereignisse miteinander zu verknüpfen. Treitschke, der nach der „alten Methode“ arbeitet, spricht z. B. von Steins Städteordnung als dem Ausgangspunkt für die deutsche Selbstverwaltung und sagt, durch sie sei der lebendige Gemeinsinn im deutschen Bürgertum wieder erweckt. Auch hier ist der Kausalzu- | sammenhang von Selbstverwaltung und Gemeinsinn sofort begreiflich. Aber die Sätze: Selbstverwaltung erweckt Gemeinsinn, und: Naturalwirtschaft treibt bei Hungersnöten Menschen bis zur Auswanderung, sind nicht etwa „historische Gesetze“, so daß ihre Aufstellung das Z i e l einer historischen Untersuchung bildet, sondern in den geschichtlichen Zusammenhängen bleiben sie M i t t e l zur Darstellung individueller Kausalverknüpfungen. Sie sagen uns über den individuellen h i s t o r i s c h e n Verlauf jener besonderen Fuldaer Hungersnot und über die besondere Erweckung des deutschen Gemeinsinnes durch Steins Reformen noch nichts. Gerade diesen aber will die Geschichte kennen, und so verstehen wir, daß eine noch so ausgedehnte Benutzung naturwissenschaftlicher Kausalgesetze durch den Historiker nicht das geringste an dem logischen Wesen der historischen Begriffsbildung ändert, d. h. nicht imstande ist, aus einer individualisierenden Darstellung eine generalisierende zu machen. Da die Kausalgesetze, die der Historiker benutzt, immer Mittel sind, um den kausalen Zusammenhang individueller historischer Ereignisse zu begreifen, so unterscheiden sie sich im Prinzip nicht von den anderen bisher betrachteten naturwissenschaftlichen Begriffen in der Geschichte, die nicht als um ihrer selbst willen erstrebte, vollständige historische Begriffe auftreten, sondern E l e m e n t e von historischen Begriffen bilden, mit deren Hilfe die Darstellung wieder zum Individuellen zurückkehrt. Wir müssen stets im Auge behalten, daß der Unterschied der individualisierenden historischen von der generalisierenden naturwissenschaftlichen Methode sich auf die letzten Ziele und nicht auf die Mittel der wissenschaftlichen Darstellung bezieht. Vielleicht könnte man sogar sagen, daß wir den allgemeinen Kausalbegriffen eine zu große Bedeutung für die Geschichtswissenschaft beigelegt ha-

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ben, und in der Tat ist, um diese Erörterung zum Abschluß zu bringen, noch eine einschränkende Bemerkung notwendig. An keiner Stelle unseres Versuches, die logischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft kennen zu lernen, ist mit größerem Nachdruck darauf hinzuweisen, daß es sich lediglich um die Konstruktion eines logischen I d e a l s handelt, hinter dem die Geschichtswissenschaft nicht nur bisher weit zurückgeblieben ist, sondern für alle Zeiten zurückbleiben muß. Die Begriffe historischer Ursachen sind nahezu immer unvollständige historische Begriffe und fügen sich deshalb unserm Schema nicht restlos ein, denn mehr als sonst wird der mit dem Wesen der Geschichtswissenschaft notwendig verknüpfte M a t e - | r i a l m a n g e l sich bei der nach absolut historischen Begriffen strebenden geschichtlichen Ursachenforschung geltend machen. Handelt es sich um die Feststellung von historisch wesentlichen Tatsachen, so kann man wenigstens in manchen Fällen hoffen, es werde wegen der B e d e u t u n g , die diese Tatsachen f ü r a l l e haben, auch die Kunde von ihnen nicht ganz verloren gegangen sein. Kommen dagegen die Ursachen der historisch wesentlichen Tatsachen in Betracht, dann besteht kein Grund, der die Erhaltung der Quellen für ihre Kenntnis in größerem Maße begünstigt als die Erhaltung der Quellen für die Kenntnis irgendwelcher beliebigen andern Wirklichkeit. Dieser Umstand erklärt es auch zum Teil, warum viele Historiker das Forschen nach den Ursachen überhaupt glauben ablehnen zu müssen. Sie fühlen richtig, daß sie in den meisten Fällen vor eine faktisch unlösbare Aufgabe gestellt sind, sie durchschauen die Wertlosigkeit der vagen Allgemeinbegriffe, die von den Vertretern der „neuen Methode“ an die Stelle historischer Begriffe von Ursachen, die unbekannt bleiben, gesetzt werden, und sie haben daher für die P r a x i s durchaus recht, wenn sie es als einen in vielen Fällen hoffnungslosen Versuch bezeichnen, die Ursachen für historische Individuen festzustellen. Die L o g i k der Geschichte muß trotzdem Wert darauf legen, daß die historische Ursachenforschung im allgemeinen berechtigt, ja notwendig ist und oft nur an der Unvollständigkeit des Materials scheitert, denn sie kann dann um so sicherer zeigen, daß, selbst falls einmal Vollständigkeit des Materials die denkbar beste Einsicht in den historischen kausalen Zusammenhang gestatten sollte, die Geschichte nicht etwa naturwissenschaftlich oder generalisierend verfährt, sondern ebenso wie überall die Darstellung einmaliger individueller Wirklichkeiten zum Ziel hat, also individualisieren muß. Dann erst wird die durch den Hinweis auf den kausalen Zusammenhang der historischen Ereignisse gestützte Forderung einer „neuen“ historischen Methode, die nicht individualisiert, sondern generalisiert, in ihrer ganzen Haltlosigkeit durchschaut.

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Der Begriff des historischen Zusammenhanges und besonders der kausalen historischen Verknüpfung treibt jedoch noch in einer andern Richtung über den zuerst aufgestellten engeren Begriff des historischen | Individuums hinaus. Die anfangs im Interesse einer allmählichen Begriffsbestimmung gemachte F i k t i o n , als sei ein historisches Objekt eine vereinzelte, in sich abgeschlossene „Gestalt“, haben wir nämlich noch immer nicht ganz verlassen, und infolgedessen tritt der Unterschied des geschichtlichen Verfahrens zu dem stets isolierenden Verfahren der Naturwissenschaften noch nicht deutlich genug zutage. Zwar wissen wir, daß jedes einzelne Individuum einem umfassenderen Individuum einzuordnen ist, und daß die Geschichte nach seinen individuellen Ursachen suchen muß. Aber selbst hiernach erscheint das historische Individuum noch als ein gewissermaßen f e r t i g e s Produkt dieser Ursachen, das nun, nachdem es einmal hervorgebracht ist, gewissermaßen r u h t , und dies ist wieder eine unhistorische Abstraktion. Es sind nicht gewordene, starre Dinge, sondern werdende, in Bewegung befindliche Vorgänge, welche die Geschichte darstellt. Schon als wir nach dem denkbar allgemeinsten Begriff des Historischen suchten, konnten wir zeigen, weshalb die Wissenschaft vom Einmaligen und Individuellen es stets mit zeitlich ablaufenden Werdegängen oder Veränderungsreihen des Geschehens zu tun hat. Die damals begonnenen Ueberlegungen sind jetzt weiter zu führen. Nur in fertigen oder ruhenden Objekten scheinen sich nach der angegebenen Methode die wesentlichen von den unwesentlichen Bestandteilen in der intensiven Mannigfaltigkeit des realen Seins abscheiden und zu einem individuellen Begriff zusammenstellen zu lassen. Wird an ihre Stelle ein kausal bestimmter zeitlicher Verlauf gesetzt, so entstehen neue Schwierigkeiten. Der Historiker muß auch130 We r d e g ä n g e oder Ve r ä n d e r u n g s r e i 130

Troeltsch hat in seinen kritischen Bemerkungen (Ueber den Begriff einer historischen Dialektik. Windelband-Rickert und Hegel. [In:] Histor. Zeitschr. 3. Folge, 23. Bd. S. 385 f.) das „auch“ dieses Satzes gesperrt gedruckt und ihm einen von mir nicht gemeinten Sinn gegeben. Aus dem Zusammenhang geht unzweideutig hervor, daß ich nicht sagen will, die Geschichte stelle u n t e r a n d e r e m a u c h Werdegänge dar, sondern e r s t die Geschichte der E n t w i c k l u n g sei in Wahrheit „Geschichte“. Schon im Vorwort zur ersten Auflage habe ich auf mein s y n t h e t i s c h e s Verfahren hingewiesen, durch das der Begriff der Geschichte S c h r i t t für S c h r i t t bestimmt wird. Das verkennt Troeltsch, wenn er sagt, mein Interesse sei „in erster Linie ein statisches und erst in zweiter Linie ein dynamisches“. In Wahrheit denke ich über die Geschichte „dynamisch“ wie er. Freilich bin ich der Meinung, daß die Wissenschaft auch den kontinuierlichen Strom der Entwicklung unter B e g r i f f e bringt, und dabei kann sie das Kontinuum nicht anders darstellen, als indem sie es gliedert und so in ein Diskretum von „Stadien“ verwandelt. Das aber bleibt unvermeidlich, auch wenn man noch so „dynamisch“ denkt. Im übrigen hat Troeltsch in seiner Schrift über Die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauung, S. 36 ebenso wie ich den Begriff der kontinuier-

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h e n erstens als notwen- | dige Einheiten auffassen, so daß die Elemente ihrer Begriffe wegen der Wertbeziehung zusammengehören, und er muß zweitens die Veränderungsreihen oder Werdegänge nicht nur nach außen hin abzuschließen, sondern auch im Innern in eine Anzahl von Stufen zu zerlegen imstande sein, d. h. er hat eine übersehbare Reihe von verschiedenen S t a d i e n darzustellen, aus denen der historische Ablauf sich als aus seinen wesentlichen Gliedern zusammensetzt. Auf solche Weise erst kommt Geschichte als Wissenschaft vom einmaligen individuellen G e s c h e h e n zustande, und wir haben daher noch ausdrücklich zu zeigen, welcher logischer Mittel es hierzu bedarf. Den historischen Ablauf der Ereignisse oder die geschichtliche Veränderungsreihe pflegt man als E n t w i c k l u n g zu bezeichnen und es dementsprechend als Aufgabe der Geschichte zu betrachten, die Entwicklung ihrer Objekte darzustellen. Wir werden sehen, daß der Entwicklungsbegriff in der Tat, wenn er richtig verstanden wird, das logische Wesen der Geschichtswissenschaft zum Ausdruck bringt, und daß besonders in ihm die Lösung des soeben dargelegten Problems zu finden ist. Ja, es läßt sich zeigen, daß es sich dabei nur um eine Erweiterung des bereits gewonnenen Prinzipes der historischen Begriffsbildung, nämlich der theoretischen Wertbeziehung, handelt. Doch haben wir Grund, hier wieder nicht den direkten und kürzesten Weg einzuschlagen. Der Ausdruck „Entwicklung“ gehört zu den beliebtesten Schlagworten unserer Zeit, und schon dieser Umstand legt den Verdacht nahe, daß in seiner Bedeutung sich mehrere, ja einander ausschließende Begriffe zu trüber Einheit vermischen. Insbesondere spielt die Entwicklung auch in der Naturwissenschaft unserer Tage eine große Rolle, und es gilt daher, um zu wissen, was unter h i s t o r i s c h e r E n t w i c k l u n g zu verstehen ist, zuerst wieder die v e r s c h i e d e n e n Entwicklungsbegriffe gesondert anzugeben, um dann den für uns allein in Frage kommenden sorgfältig von den andern | mit demselben Namen bezeichneten Begriffen abzuheben. Im Zusammenhange damit wird es auch möglich sein, die schon berührten logischen Bestimmungen des Historischen vollständig zu würdigen, welche das Werden, die Veränderung und die Aufeinanderfol-

lichen Entwicklung als den | „zweiten historischen Grundbegriff“ neben den Begriff der „individuellen Totalität“ gestellt, und seine dort angedeutete historische Kategorienlehre weicht im Prinzip nicht wesentlich von der meinigen ab, wie er selbst hervorhebt. Was Troeltsch gegen meine Geschichtstheorie einwendet, scheint mir mehr auf theoretisch nicht zu entscheidende Fragen der „Weltanschauung“ als auf wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten hinauszukommen. Vgl. auch den neunten Abschnitt dieses Kapitels, in dem ich noch einmal auf die Kritik von Troeltsch zurückgreife. Hier wollte ich dem Mißverständnis vorbeugen, als hielte ich den Begriff der Entwicklung für sekundär, weil ich erst jetzt ausführlicher von ihm spreche. Die Reihenfolge, in welcher die verschiedenen Bestandteile eines Begriffes g e n a n n t werden, sagt nichts über ihre sachliche Wichtigkeit.

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ge in den Vo r d e r g r u n d stellen, und die wir zunächst als l o g i s c h nicht g r u n d l e g e n d ablehnen mußten.131 Unter Entwicklung versteht man oft das bloße Geschehen oder We r d e n im Gegensatz zum ruhenden oder beharrenden Sein, und wenn wir auch den Begriff des „Werdens“ zur r e i n logischen Bestimmung des Historischen früher nicht benutzen konnten im Gegensatz zur Naturwissenschaft, die es mit dem „Sein“ zu tun habe, so war doch andererseits schon damals klar, daß die Geschichte in der Tat, soweit sie es vermag, das Geschehen in seinem Werden zu verfolgen hat, und daß insofern die Behauptung, die Geschichte behandle das Werden, nicht etwa falsch genannt werden kann. Das ist so einleuchtend und unbestritten, daß es einer weiteren Begründung nicht mehr bedarf. Nur einem Mißverständnis müssen wir vorbeugen. Stellen wir der Geschichte die Aufgabe, zu zeigen, wie die Dinge g e w o r d e n sind, so meinen wir das nicht in dem Sinne, in dem man heute vielfach diese Forderung ausspricht. Man kann hören, daß die „ältere“ Geschichte die Darstellung des Werdens vernachlässigt und erst die „moderne“ Wissenschaft sich auf diese Aufgabe besonnen habe. Wenn man bei der „älteren“ Auffassung an das bekannte Wort von Ranke132 denkt, der von der Geschichte verlangte, sie solle zeigen, „wie es eigentlich g e w e s e n “, so besteht ein solcher Unterschied zwischen zwei Richtungen der Geschichtswissenschaft nicht. Aus dem Gedankenzusammenhang, in dem das viel zitierte Wort Rankes sich findet, ergibt sich vielmehr, daß von ihm gar nicht das „Sein“ im G e g e n s a t z zum „Werden“ gemeint ist. Er sagt: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu r i c h t e n , die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu b e l e h r e n , beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich der gegenwärtige Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.“ Zu der Frage, die uns hier beschäftigt, hat Ranke in dem angeführten Satz gar nicht Stellung nehmen wollen. Das zeigt der Wortlaut unzweideutig. Nur das Amt, zu richten und zu belehren, lehnt er ab, und im übrigen sucht dieser große Historiker, wo er von dem einmaligen Ablauf der Ereignisse erzählt, selbstver- | ständlich stets zu zeigen, wie es g e w o r d e n ist. Ebenso haben andere Vertreter der „älteren“ Richtung nicht allein faktisch in dem Sinne Entwicklungsgeschichte getrieben, daß sie das We r d e n darstellten, wo sie es konnten, sondern einige von ihnen, z. B. Sybel, Droysen, Waitz, Giesebrecht, Bernheim,133 v. Below134 haben sogar ausdrücklich ihre Wissenschaft, ebenso wie die Vertreter der „neuen“ Richtung, eine Darstellung 131 132

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Dabei kommt besonders das Werk von X é n o p o l in Betracht. S. W. Bd. 33–34, S. VII. Lehrbuch der historischen Methode. 5. u. 6. Aufl. S. 9 f. Die neue historische Methode, [In:] Histor. Zeitschrift, Bd. 81, S. 193 ff.

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der E n t w i c k l u n g genannt. Wie sollte es auch jemals Geschichte gegeben haben, die nicht in dem Sinne Entwicklungsgeschichte war, daß sie von dem wirklichen Geschehen, das immer ein Werden ist, handelt? Es bleibt nun aber nicht nur unmöglich, auf den Entwicklungsbegriff in diesem weitesten Sinne irgendeine „neue“ Geschichtswissenschaft zu begründen, sondern es ergibt sich aus ihm a l l e i n überhaupt noch nichts, was für die Methodenlehre der Geschichtswissenschaft bedeutsam wäre. Das haben wir früher schon angedeutet und müssen es jetzt noch ausführlicher zeigen. Da a l l e empirische Wirklichkeit im Werden begriffen ist, fallen unter d i e s e n Begriff der „Entwicklung“ die Objekte a l l e r empirischen Wissenschaften. Die Ansicht, die Naturwissenschaft habe es mit dem Sein, die Geschichte dagegen mit dem Werden zu tun, konnten wir bereits früher damit zurückweisen, daß dieser Trennung ein Mißverständnis der sprachlichen Formulierungen zugrunde liegt. Wir dürfen den Gegensatz von Sein und Werden nicht an die Stelle des Gegensatzes von zeitlos gültigen allgemeinen Begriffen und zeitlichem Werden schieben. Sobald wir nicht mehr das wirkliche Sein und den unwirklichen, geltenden Begriff miteinander verwechseln, wissen wir, daß a l l e s empirisch reale Sein w i r d . Nur die Geltung des Begriffes bleibt dem Werden entzogen, und auch die Naturwissenschaft abstrahiert nicht überall in der Weise vom Werden, daß ihr dieser Begriff überhaupt fremd wäre. Im Gegenteil, gerade die Gesetzesbegriffe wollen für ein reales Sein gelten, das im Werden begriffen ist, und der Begriff der Entwicklung in seiner einfachsten und denkbar umfassendsten Bedeutung gehört daher gleichmäßig der Naturwissenschaft wie der Geschichte an. Deswegen kann er nicht A u s g a n g s p u n k t für eine Logik der Geschichte sein. Vielleicht wird man sich aus diesem Grunde auch sträuben, jedes beliebige reale Werden schon eine „Entwicklung“ zu nennen. Es ent- | steht, wenn man dies tut, dann ein z w e i t e r, engerer Entwicklungsbegriff. Die Stadien des Werdeganges dürfen nicht eine Wiederholung oder einen Kreislauf bilden, sondern es muß mit dem Nacheinander ihrer zeitlichen Abfolge zugleich eine Ve r ä n d e r u n g verbunden sein, und die Geschichte hat es jedenfalls immer mit Entwicklung als einer Veränderungsreihe zu tun. Auch diese Bestimmung konnten wir freilich, im Gegensatz zu Xénopol, nicht zur rein logischen Bestimmung des Historischen benutzen, denn sie trifft nicht den g r u n d l e g e n d e n logischen Gegensatz von Natur und Geschichte, sondern ist sekundär, d. h. sie f o l g t erst aus dem Begriff der Wissenschaft von dem einmaligen und i n d i v i d u e l l e n Wirklichen. Abgesehen hiervon aber ist sie selbstverständlich nicht falsch. Die Wirklichkeit selbst bildet ja stets nicht nur ein Werden, sondern auch eine Veränderung in dem Sinne, daß jedes Stadium eines Werdeganges sich von jedem vorange-

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gangenen unterscheidet und daher alle zusammen eine Veränderungsreihe ausmachen. Kreislauf und Wiederholung im strengen Sinne kommen ebensowenig wie vollkommenes Beharren oder starres Sein in der empirischen Wirklichkeit selbst vor. Die Begriffe von ihnen entstehen erst durch Abstraktion von den individuellen Differenzen der verschiedenen Werdegänge, d. h. es wird eine Reihe von Veränderungen als gleich einer anderen angesehen, wo ihre individuellen Unterschiede für die leitenden Gesichtspunkte der Begriffsbildung keine Bedeutung haben. So sagt man z. B. zwar, daß in jedem Jahre auf den Winter der Frühling folge, nach diesem der Sommer komme, nach dem Herbst es wieder anfange, Winter zu werden, und daß dann „dieselbe“ Reihe von neuem beginne und sich immer wiederhole. Ein Kreislauf aber liegt hier allein mit Rücksicht auf die allgemeinen Begriffe der vier Jahreszeiten vor, und der Gedanke einer Wiederholung des Wirklichen entsteht lediglich dadurch, daß wir das den verschiedenen, gleich genannten Jahreszeiten Gemeinsame im Auge haben. Als individuelle Wirklichkeit hat noch kein Ablauf des Jahres dem andern geglichen und wird es auch niemals tun. Ebenso ist die Umdrehung der Erde um die Sonne kein genauer Wiederholungsvorgang, denn nur die begrifflich abtrennbaren, für sich unwirklichen, quantitativen Bestimmungen der Ereignisse bleiben sich hier gleich, und selbst von diesen läßt sich bezweifeln, ob sie absolut konstant sind. Ziehen wir die vollen Realitäten in Betracht, so ist es in jedem Jahre eine n e u e Erde, die sich um eine n e u e Sonne dreht. Nur in den allgemeinen Begriffen von Erde und Sonne | werden diese individuellen Unterschiede und Veränderungen ignoriert. Kurz, überall ist, was man auch unter den Begriff einer Reihe von Wiederholungen bringen mag, in Wirklichkeit eine Reihe von Veränderungen, in der nichts sich wiederholt. Der Gegensatz von Wiederholung und Veränderung löst sich für das sinnlich-reale Sein in den logischen Gegensatz von Allgemeinem und Individuellem auf, welcher unserer Unterscheidung von Natur und Geschichte zugrunde liegt. N u r insofern bleibt es richtig, daß die Geschichte stets Veränderungsreihen darzustellen hat, als sie die Wissenschaft von dem Einmaligen und Individuellen ist. Andererseits aber kann gerade deshalb der Begriff der sich verändernden Reihe für sich allein noch nicht zur Bestimmung des historischen Entwicklungsgedankens genügen. Befindet sich a l l e Wirklichkeit in rastloser Veränderung, so darf die Veränderung auch der Naturwissenschaft nicht fremd sein, und es kann dann die bloße Unterscheidung von Veränderungs- und Wiederholungs-Vorgängen nicht als ausschlaggebend bei der logischen Unterscheidung von historischer Entwicklungsgeschichte und generalisierender Naturwissenschaft gelten. Wo die Naturwissenschaft verschiedene zeitliche Veränderungsreihen auf das hin betrachtet, was ihnen gemeinsam ist,

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da entsteht zwar der Begriff einer Wiederholung, aber innerhalb jeder einzelnen Wiederholung bleibt nun doch auch Veränderung erhalten, d. h. es muß immer die Veränderung einer Reihe von verschiedenen aufeinanderfolgenden Stadien sein, die sich wiederholt, ja, die Veränderung allein ist es, die den naturwissenschaftlichen Allgemeinbegriff des sich wiederholenden Werdegangs inhaltlich bestimmt. Deshalb können wir sowohl Allgemeinbegriffe von Veränderungsreihen oder aufeinanderfolgenden Stadien der Werdegänge bilden als auch eine einmalige individuelle Veränderungsreihe daraufhin ansehen, was sie von allen andern individuellen Veränderungsreihen oder Abfolgen verschiedener Stadien unterscheidet. Ja, es gibt sogar Ve r ä n d e r u n g s g e s e t z e , die aussagen, daß eine bestimmte Reihe von untereinander verschiedenen Stadien einer Veränderung naturnotwendig aufeinander folgen, d. h. man kann feststellen, daß überall, wo zuerst ein unter einen Allgemeinbegriff A fallender Vorgang aufgetaucht ist, darauf zeitlich ein anderer folgen wird, der unter einen zweiten Allgemeinbegriff B gehört, und auf diesen dann noch ein dritter anderer, der C unterzuordnen ist. Wiederholung und Aufeinanderfolge einer Veränderungsreihe verschiedener Stadien sind auf diese Weise sehr gut miteinander vereinbar. | Auch der Begriff der Entwicklung als der einer Reihe von Veränderungen gehört demnach ebenso zur Auffassung der Wirklichkeit als Natur wie zur Auffassung der Wirklichkeit als Geschichte, und daraus ergibt sich wiederum, wie wenig der Begriff der „Reihe“ geeignet ist, das Wesen des Geschichtlichen zu bestimmen, falls man darunter nicht ausschließlich einmalige und individuelle Reihen versteht.135 Reihe und Gesetz schließen einander nicht aus, ja nennt man Entwicklung jede Reihe von Veränderungen, dann kann man von allgemeinen E n t w i c k l u n g s g e s e t z e n sogar in der Physik sprechen. Das Fallgesetz z. B. wäre als Ausdruck für die überall und immer in derselben Weise sich verändernde oder sich „entwickelnde“ Geschwindigkeit eines fallenden Körpers ein Gesetz, das alle verschiedenen Stadien der Entwicklung begreift, welche die Geschwindigkeit im Lauf der Zeit durchmacht, und da es sich dabei um einen rein quantitativ bestimmten Begriff handelt, ist hier sogar die denkbar höchste Ueberwindung der Mannigfaltigkeit, die eine unübersehbare Vielheit von Stadien vollständig in den Begriff eines mathematischen und daher übersehbaren Kontinuums zusammenfaßt, auch für eine „Entwicklungsreihe“ erreicht. Vielleicht sollte man von Entwicklungs g e s e t z e n erst dann sprechen, wenn es sich um unbedingt allgemeine Begriffe von Veränderungen handelt, aber man mag schließlich auch diejenigen allgemeinen Begriffe von Verände135

Von neuem zeigt sich, weshalb die grundlegenden Begriffsbestimmungen von X é n o p o l sich logisch nicht halten lassen. Sein Begriff der „Reihe“ ist zu weit. Es gibt Reihen, die nicht geschichtliche Reihen sind.

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rungsreihen, in denen die allen Exemplaren eines bloß empirisch allgemeinen Gattungsbegriffes gemeinsamen Entwicklungsstadien zum Ausdruck kommen, als Entwicklungsgesetze bezeichnen, falls man dabei stets im Auge behält, daß sie als Allgemeinbegriffe von Veränderungsreihen zur Auffassung der Wirklichkeit als N a t u r gehören, dagegen keine Bedeutung mehr besitzen, sobald eine einmalige, individuelle, also geschichtliche Entwicklungsreihe individualisierend dargestellt werden soll. In ein Entwicklungsgesetz geht die Individualität und Besonderheit einer Entwicklung ebensowenig ein wie das Individuelle in ein Naturgesetz überhaupt, und Entwicklungsgesetze in dem angegebenen Sinne für h i s t o r i s c h e Entwicklungsreihen aufstellen zu wollen, bleibt daher ein logisch widersinniges Unternehmen. Auch das Entwicklungsgesetz läßt sich stets in die „hypothetische“ Form bringen: wenn A ist, folgt darauf | B, wenn B eintritt, muß C kommen, usw. Jedenfalls gibt es nicht nur Entwicklungs r e i h e n , sondern sogar Entwicklungs g e s e t z e , die ganz und gar zur Naturwissenschaft gehören und deshalb mit der Darstellung des einmaligen individuellen Ablaufes der Ereignisse, also mit Geschichte, noch nichts zu tun haben. Wir heben dies mit Rücksicht auf das Gesetz besonders hervor, weil es hier Ausnahmen zu geben scheint, auf die man sich bei dem Versuch, die Möglichkeit „historischer Gesetze“ darzutun, oft beruft, und zwar ist es die A s t r o n o m i e , für welche, wie man glauben könnte, unsere Ausführungen nicht gelten. Wir wenden deshalb dieser Wissenschaft, die wir schon einmal gestreift haben, unsere Aufmerksamkeit von neuem zu. Den Grund dafür, daß sie zu Irrtümern über das Wesen des Erkennens verführt, kennen wir. Man kann sie für eine „historische“ Wissenschaft insofern halten, als sie es mit Individuen zu tun hat, ja diese sogar mit Eigennamen benennt. Andererseits arbeitet sie mit Gesetzesbegriffen, die geradezu als Musterbeispiele für den Begriff des unbedingt allgemeinen Naturgesetzes gelten, und es scheint ihr also möglich zu sein, Naturgesetze für historische Entwicklungen, z. B. für die verschiedenen aufeinanderfolgenden individuellen Stadien der einmaligen Veränderungsreihe des Sonnensystems aufzustellen. Kann man doch von jedem beliebigen seiner individuellen Zustände aus die individuelle Entwicklung in die Vergangenheit zurückverfolgen und für die Zukunft voraus berechnen. Stellt daher nicht die Tatsache der Astronomie unsern Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft in Frage? Decken sich hier der naturwissenschaftliche Begriff und die individuelle historische Wirklichkeit nicht vollständig, so daß von Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung in unserem Sinne nicht geredet werden darf? Du Bois-Reymond konnte, um seinen Begriff vom Naturerkennen, den er selbstverständlich mit dem des wissenschaftlichen Erkennens überhaupt gleichsetzt, zu erläutern, nichts Besseres tun, als auf die Tätigkeit

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des Astronomen hinweisen, der „nur der Zeit in den Mondgleichungen einen gewissen negativen Wert zu erteilen braucht, um zu ermitteln, ob als Perikles nach Epidauros sich einschiffte, die Sonne für den Piräus verfinstert ward“. Was also liegt näher, als der Geschichtswissenschaft dieses Ideal einer astronomischen Erkenntnis vorzuhalten? Mag sie es auch so vollkommen wie die Astronomie niemals erreichen, so kann doch für sie das, was in dem einen Falle geschieht: das Begreifen einer einmaligen | individuellen Entwicklungsreihe durch Naturgesetze und die Berechnung historischer Tatsachen, nicht im P r i n z i p unmöglich sein, oder es darf jedenfalls der Begriff eines historischen Entwicklungsgesetzes, wenn er in der Astronomie vorkommt, nicht als logischer Widersinn bezeichnet werden. Sehen wir jedoch genauer zu, inwieweit eine individuelle wirkliche Entwicklung sich durch astronomische Gesetze darstellen läßt, so finden wir bald, daß es wieder lediglich die q u a n t i t a t i v e n Bestimmungen an den Weltkörpern sind, welche in ihrer „Individualität“ in die Gesetze eingehen, daß dagegen alles Qualitative an den einmaligen individuellen Entwicklungsreihen in seiner Individualität naturwissenschaftlich unbegreiflich bleibt. Man übersieht dies leicht, weil die nicht-quantitativen Bestimmungen der Weltkörper uns entweder unbekannt sind oder für die Teile der Astronomie, die mit mathematisch formulierten Gesetzesbegriffen arbeiten, kein Interesse besitzen. Die unbegriffenen Qualitäten sind aber deshalb nicht weniger real vorhanden, und es geht also in der Astronomie, wo sie mit Gesetzesbegriffen arbeitet, nicht etwa die volle einmalige und individuelle sinnlich w i r k l i c h e Entwicklung selbst, sondern lediglich ein kleiner, begrifflich zu isolierender, nicht faktisch abtrennbarer Teil von ihr in die Gesetze ein. Abgesehen von den „individuellen“ Raum- und Zeitangaben, in denen sich die Individualität einer Realität niemals erschöpft, ist auch in den astronomischen Gesetzesbegriffen alles allgemein, und sie beziehen sich also, so paradox es klingen mag, selbst dann, wenn sie auf Objekte mit Eigennamen angewendet werden, doch nicht auf einmalige individuelle Wirklichkeiten. Es kommt in ihnen vielmehr der sinnlich reale Weltkörper lediglich als Exemplar eines allgemeinen Begriffes in Betracht, d. h. er könnte durch jeden beliebigen andern ersetzt werden, der dieselbe Größe, Schwere, Dichte, Raumlage usw., d. h. dieselben quantitativen Bestimmungen hat, dagegen als empirische Wirklichkeit sonst eventuell ganz anders beschaffen wäre. Dann allein, wenn man jener schon erwähnten Metaphysik huldigt, nach der es Wirklichkeiten gibt, die bloß unsinnlich quantitative und keine sinnlich qualitativen Bestimmungen haben, wird man glauben, die Individualität von W i r k l i c h e m lasse sich restlos in Gesetzesbegriffe bringen. Doch

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verdankt eine solche Metaphysik erst einer falschen Deutung der Physiologie der Sinnesorgane ihre Entstehung, und auch sie vermöchte, selbst wenn sie richtig wäre, daran nichts zu | ändern, daß sinnlich e m p i r i s c h e Wirklichkeiten mit Rücksicht auf ihre Individualität nie in Gesetzesbegriffe eingehen werden. Die Weltkörper aber, mit denen es die Astronomie zu tun hat, sind doch den empirischen Wirklichkeiten zuzurechnen, in denen sich das Qualitative zwar begrifflich, aber niemals real abtrennen läßt, und ihre Individualität bleibt deshalb in der Astronomie ebenso unbegreiflich wie die Individualität irgendeiner anderen Wirklichkeit durch andere naturwissenschaftliche Disziplinen. Das gilt sowohl, wenn wir an den jetzt vorhandenen Zustand unseres Sonnensystems, als auch wenn wir an die Entwicklung denken, die es durchgemacht hat, bevor es zu seiner jetzigen Gestaltung gelangt war. Daß der Saturn Ringe zeigt, ist „zufällig“, sagten wir schon einmal, wenn Zufall im Gegensatz steht zum Gesetz, und ebenso müssen wir festhalten: daß gerade der Jupiter Monde hat, oder daß das Individuum Mars eine andere Farbe zeigt als das Individuum Venus, das sind individuelle Tatsachen, die man konstatieren, aber niemals aus Gesetzesbegriffen als notwendig ableiten kann. Naturwissenschaftlich begreifen läßt sich nur, wie überhaupt „Ringe“ oder „Monde“ an einem Planeten entstehen, nicht, warum sie gerade bei diesem Individuum in dieser bestimmten Zahl oder Form vorhanden sind. Daß der einmalige Werdegang, den wir die Entwicklung unseres Sonnensystems nennen, in seiner Einmaligkeit und Individualität unter naturwissenschaftliche Begriffe nicht zu bringen ist, gilt sogar dann, wenn wir allein die q u a n t i t a t i v e n Bestimmungen beachten. Man kann zwar vielleicht begreifen, wie aus einem Gasball durch Verdichtung irgendeine „Sonne“ mit einem System von Planeten sich entwickelt, aber diese unsere Sonne und dieses unser Planetensystem geht niemals als Individuum, sondern immer nur als Gattungsexemplar in eine allgemeine naturwissenschaftliche Theorie ein, d. h. von den einmaligen und individuellen Eigentümlichkeiten seiner Entwicklung erzählt die allgemeine Theorie über die Entstehung von Planetensystemen überhaupt nichts, und sie gibt daher auch nicht seine Geschichte. Jeder Versuch, die Darstellung der einmaligen und individuellen Entwicklung unseres Sonnensystems mit allgemeinen Gesetzen vorzunehmen, ist genau ebenso widersinnig wie der Versuch, die einmalige Entwicklung eines Mannes wie Goethe oder Bismarck aus allgemeinen Gesetzesbegriffen abzuleiten. Vollends ist der Gedanke einer Entwicklungsgeschichte des U n i v e r s u m s mit Hilfe einer generalisierenden Begriffsbildung, dessen | logische Möglichkeit man unseren Ausführungen als Einwand entgegengehalten hat, eine logische Absurdität, falls unter Universum die Totalität der realen Welt

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verstanden werden soll. Das Universum ist, wie wir gesehen haben, in seiner „unendlichen“ Ganzheit nicht einmal unter ein System a l l g e m e i n e r Begriffe zu bringen. Sogar die allgemeinsten Naturgesetze sind nur auf jeden beliebigen seiner Te i l e anzuwenden und werden wegen ihrer quantitativen Bestimmtheit sofort sinnlos, falls man mit ihnen etwas über das quantitativ unbestimmte Ganze selbst sagen will. Wie soll also gar das Universum in seiner Totalität Objekt einer Entwicklungs g e s c h i c h t e werden, die seinen einmaligen und individuellen realen Verlauf mit Gesetzesbegriffen darstellt? Das hat noch niemand zu denken vermocht. Immerhin zeigen die Entwicklungsgesetze der Astronomie eine Eigentümlichkeit, die sie von den andern Naturgesetzen zu unterscheiden scheint. Setzt man nämlich in sie „individuelle“ Größen, d. h. diese oder jene besondere quantitative Bestimmung ein, dann kann man sie ohne weiteres auf individuelle Raum- und Zeitstrecken eines individuellen Entwicklungsganges anwenden, und diese Möglichkeit bleibt auffallend. Um die Geltung eines physikalischen Gesetzes auch nur mit Rücksicht auf seine quantitativen Bestimmungen für eine individuelle Wirklichkeit aufzuzeigen, müssen wir auf der E r d e meist einen Körper erst durch das Experiment aus seinem „historischen“ Zusammenhange herausnehmen und künstlich isolieren, so daß das, was an ihm gemessen werden soll, nicht durch den Einfluß anderer Wirklichkeiten „gestört“ wird. Ja, daß ein Körper g e n a u so fällt, wie es das Fallgesetz lehrt, kommt auf der Erde nicht vor, selbst wenn der reale Vorgang noch so sorgfältig isoliert und gegen Störungen geschützt wird. Insofern scheinen die Sätze der Astronomie also doch eine Ausnahme zu bilden. Der Grund dafür ist jedoch allein der, daß die Körper, mit denen sich die Astronomie beschäftigt, faktisch so gegeneinander isoliert sind, wie sich das für einen Körper auf der Erde gar nicht oder nur mit großer Mühe bewerkstelligen läßt. Die einzelnen Weltkörper liegen räumlich so weit voneinander entfernt, daß ihre quantitativen Bestimmungen durch unberechenbare qualitative Einwirkungen nicht geändert werden. Daraus aber ergibt sich, daß selbst die Anwendung von Formeln mit bestimmten quantitativen individuellen Größen auf quantitativ bestimmte individuelle Wirklichkeiten n u r in der Astronomie möglich ist, weil eben ihre Objekte allein in keinem v o l l e n „historischen“ Zusammenhange stehen und des- | halb auch ohne künstliche Isolierung quantitative Bestimmungen zur Messung darbieten. An der Unbegreiflichkeit voller, immer auch qualitativ bestimmter Individualitäten im Wirklichen wird also durch die Tatsache der Astronomie nichts geändert, und selbst die Ausnahmestellung der astronomischen Gesetze ist nicht etwa gesetzlich notwendig, sondern besitzt lediglich eine tatsächliche und insofern logisch zufällige Bedeutung. Es bleibt sehr wohl d e n k b a r, daß einmal irgend ein Weltkörper von außen her in unser Son-

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nensystem eindringt, und darin alle räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, die wir dort bisher als konstant gefunden haben, vollständig verändert, so daß dann z. B. die für die Zukunft vorausberechneten Mond- und Sonnenfinsternisse nicht zu den Zeiten eintreten würden, für die man sie berechnet hat, also die wirklichen Ereignisse mit den astronomischen Gesetzen dann ebensowenig zusammenfielen wie die Bewegungen eines Körpers auf der Erde mit der Formel des Fallgesetzes. Kurz, man darf sich in keiner Hinsicht auf die Astronomie stützen, wenn man zeigen will, daß auch geschichtliche Vorgänge sich nach Gesetzen berechnen lassen. Die übrigen logischen Eigentümlichkeiten der Astronomie aber, die den Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte aufzuheben scheinen, erklären sich daraus, daß das Objekt dieser Wissenschaft wegen seiner Einzigartigkeit eine B e d e u t u n g erhält, die unser Interesse über die Allgemeinbegriffe hinaus zur Erforschung auch der individuellen und gesetzmäßig stets unbegreiflichen Gestaltung der Teile hinleitet. Kenntnisse über die Individualität des „letzten“ oder umfassendsten historischen Ganzen, das wir kennen, scheinen vielen für unsere Weltanschauung und Lebensauffassung von Wichtigkeit zu sein, und daher wird das Ganze, dem unsere Erde als Schauplatz aller Geschichte sich einordnet, in einem gewissen Sinne zu einem historischen Individuum. So kommt es, daß Urteile, die Gesetze enthalten, und Urteile, die lediglich individuelle historische Tatsachen konstatieren, in der Wissenschaft vom „Weltganzen“, das faktisch ein Teil des realen Universums ist, nahe beieinander liegen. Begrifflich können sie trotzdem geschieden werden, und vorbildlich für irgendeine andere Wissenschaft darf die logische Struktur der Astronomie nicht sein. Das Ideal einer „astronomischen Erkenntnis“ gilt ausschließlich für die Astronomie selbst. Es bleibt also dabei, daß individuelle Entwicklungsreihen, die als volle Wirklichkeiten niemals nur quantitative, sondern auch qualitative Bestim- | mungen haben, aus rein logischen Gründen unter keinen Gesetzesbegriff zu bringen sind. Die Astronomie ist eine von den Disziplinen, in denen generalisierende und individualisierende Begriffsbildung sich auf das engste miteinander verknüpfen. Daß es solche Wissenschaften gibt, wird niemand bestreiten. An der Notwendigkeit einer begrifflichen Scheidung der beiden Arten der Begriffsbildung durch die Logik kann diese Tatsache aber nichts ändern. Dies alles, was mit Rücksicht auf weit verbreitete rationalistisch-metaphysische Irrtümer ausführlich klar zu legen war, dient nur dazu, von neuem die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zum Bewußtsein zu bringen, führt uns jedoch über das bei der Aufstellung des Begriffes einer historischen Kausalkette gewonnene Resultat nicht hinaus: der Unterschied von Wirklichkeiten, die sich wiederholen, und solchen, die sich ver-

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ändern, genügt für sich allein zur Bestimmung des Begriffes der historischen Entwicklung nicht, denn er besagt nichts anderes, als daß die Geschichte die Werdeprozesse mit Rücksicht auf ihre individuelle Veränderung, die Naturwissenschaft sie dagegen mit Rücksicht auf das betrachtet, was an ihnen unter allgemeine Begriffe fällt, und das wissen wir bereits. Nur insofern bleibt die Veränderung der Geschichte eigentümlich, als sie eine einmalige und individuelle ist, also etwas noch nie vorher Dagewesenes, N e u e s hervorbringt. Nun ist aber a l l e s Individuelle auch zugleich „neu“ in diesem Sinne, und deshalb bleibt die Frage unbeantwortet, w e l c h e s Neue und w e l c h e Reihen von aufeinander folgenden Veränderungen die Geschichte darzustellen hat. Darauf darf die Antwort nur lauten, daß es die „wesentlichen“ Veränderungen sind, d. h. daß das Neue nicht allein anders, sondern durch seine Neuheit auch von B e d e u t u n g für die leitenden Gesichtspunkte der historischen Darstellung sein muß. Es sind also zu dem Begriff der einmaligen Reihe von aufeinander folgenden Veränderungen noch andere Momente hinzuzufügen, damit er zu dem einer historischen Entwicklungsreihe wird, ebenso wie zu dem Begriff des Individuums überhaupt noch etwas hinzukommen mußte, damit er zum Begriff des historischen Individuums wurde, und tatsächlich klingt denn auch schon bei dem Worte „Entwicklung“, ebenso wie bei „Entfaltung“, wohl für jeden eine Bedeutung mit, die über den Begriff der bloßen Veränderungsreihe hinausführt. Sagen wir, daß etwas s i c h entwickelt, so denken wir dabei von vornherein entweder an das E n d e oder an das G a n z e des betreffenden Werdeganges und beziehen die | verschiedenen aufeinander folgenden Stadien darauf so, als ob sie zu einem Z i e l e hinführten. Ja, wir können sagen: ein „teleologisches“ Moment in diesem Sinne ist für das Sprachgefühl vom Worte „Entwicklung“ in dem Maße untrennbar, daß es wünschenswert wäre, Werden und Veränderung als solche würden noch nicht Entwicklung genannt. Dann hätte der Entwicklungsbegriff in Wissenschaften, die a l l e teleologischen Prinzipien ausschließen, überhaupt keine Stelle. Jedenfalls: wird durch die Bezeichnung „Entwicklung“ der Gedanke an das E n d e einer Veränderungsreihe mit dem Begriff der Veränderung verknüpft, und ist man sich dessen nicht ausdrücklich bewußt, so müssen daraus die vielen Begriffsverwirrungen entstehen, die besonders im modernen naturalistischen „Evolutionismus“ eine große Rolle spielen. Die Darwinisten kämpfen mit Emphase gegen jede Teleologie, und sie halten doch nicht allein den Begriff der Entwicklung, sondern auch so eminent teleologische Begriffe wie „Fortschritt“, „höheres Stadium“ und dergleichen fest, was zu sehr unklaren und unhaltbaren Theorien über „natürlichen Fortschritt“ geführt hat.

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Aber selbst dann, wenn wir im folgenden unter Entwicklung stets eine teleologisch aufgefaßte Veränderungsreihe von aufeinanderfolgenden Stadien verstehen, reicht dieser Begriff zur Bestimmung dessen, was historische Entwicklung ist, noch immer nicht aus. Wir müssen vielmehr auch die verschiedenen Arten der teleologischen Entwicklung ebenso voneinander trennen, wie wir die teleologische Entwicklung überhaupt von dem bloßen Werden und der bloßen Veränderungsreihe getrennt haben, um so allmählich zum Begriff der historischen Entwicklung zu kommen. Vorläufig haben wir die Entwicklung von der Veränderung allein dadurch unterschieden, daß sie mit Rücksicht auf ihr R e s u l t a t betrachtet wird, welches in den verschiedenen aufeinanderfolgenden Stadien allmählich zustande kommt, und dieser Begriff ist noch sehr unbestimmt, d. h. er gestattet noch verschiedene Determinationen, durch die eine ganze Reihe von Entwicklungsbegriffen entsteht. Einer von ihnen scheidet für unsern Zusammenhang von vornherein aus. Wenn wir den Inhalt eines allgemeinen Begriffes nach einem bestimmten Prinzip durch Hinzufügung neuer „Merkmale“ determinieren, wie wir es z. B. jetzt mit dem Begriff der Entwicklung machen, um dadurch die ihm untergeordneten Begriffe zu bilden, dann kann man auch diesen D e n k p r o z e ß als eine „Entwicklung“ bezeichnen. So sucht Spinoza im dritten Buch seiner Ethik aus allgemeinen Begrif- | fen von Affekten das ganze System der menschlichen Leidenschaften vor uns entstehen zu lassen, und dies ist deshalb eine teleologische „Entwicklung“, weil dabei das endgültige Begriffssystem als Z i e l gedacht wird, welches durch die Determination und Division erreicht werden soll. Ebenso können wir von allen hier geführten logischen Untersuchungen sagen, daß sie entwickelnd verfahren, denn wir haben von vornherein das Ziel ins Auge gefaßt, den Begriff der Geschichtswissenschaft durch allmählich fortschreitende Determination des denkbar allgemeinsten Begriffes der Geschichte festzustellen oder S c h r i t t für S c h r i t t zu entwickeln. Wir konnten nicht mit dem endgültigen Begriff a n f a n g e n , sondern mußten z u e r s t einen viel umfassenderen Begriff als den der faktisch betriebenen Geschichtswissenschaften bilden, um stufenweise den Begriff entstehen zu lassen, der erst am E n d e unserer „entwickelnden“ Darstellung sich ergeben soll.136 Entwicklung von Begriffen in diesem Sinn ist nun aber niemals Aufgabe des Historikers, ja, wir müssen eine solche Art der Begriffsbildung geradezu in einen Gegensatz zur geschichtlichen Darstellung bringen. Wo die Geschichte es mit einer Entwicklung zu tun hat, wird von dem einmaligen und 136

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Diesen Umstand haben manche Kritiker meines Geschichtsbegriffes nicht genügend berücksichtigt. Ihre Einwände, die an ein besonderes, v o r l ä u f i g e s Stadium seiner Entwicklung, nicht an das endgültige G a n z e des Begriffes anknüpfen, lassen sich durch einen Hinweis auf mein „synthetisches“ entwickelndes Verfahren leicht erledigen.

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individuellen Werdegang eines r e a l e n Objektes berichtet, nicht von den verschiedenen Stadien eines irrealen Begriffs, und dabei geht die Darstellung nicht wie eine Begriffsentwicklung vom Allgemeinen zum Besonderen, sondern sie schreitet von einem Besonderen zum andern Besonderen fort, denn jedes Stadium der realen Entwicklungsreihe ist etwas Einmaliges und Individuelles. Trotzdem wird vielfach das Hervorgehen eines Systemes von spezielleren Begriffen aus allgemeineren nicht von der Darstellung einer historischen Entwicklungsreihe geschieden, und dann entsteht wieder die uns schon bekannte verhängnisvolle Täuschung, als sei die Geschichte imstande, aus der mit dem allgemeinen Gattungsbegriff verwechselten konkreten Gattung das geschichtliche Leben als notwendig abzuleiten oder zu „entwickeln“. Man glaubt im Zusammenhang damit auch, daß der Historiker naturwissenschaftlich verfahre, weil er den allgemeinen Inhalt von Begriffen nur immer mehr zu determinieren brauche, um schließlich zu Begriffen von einmaligen individuellen | Objekten zu kommen. Ja, es wird sogar die „entwickelnde Methode“ geradezu als die „neue“ der deskriptiven Methode als der „alten“ gegenübergestellt. Eine solche Terminologie ist irreführend. Der Gegensatz von entwickelnder und deskriptiver Methode darf nicht einmal mit dem Gegensatz der Darstellung eines beharrenden und eines sich verändernden oder werdenden Objektes identifiziert werden, denn man kann das Beharrende ebenso „beschreiben“ wie das Werdende, und wenn man den Ausdruck Beschreibung überhaupt zur Kennzeichnung einer wissenschaftlichen Methode verwenden will, könnte gerade die Geschichte eine beschreibende Wissenschaft genannt werden: sie beschreibt die Objekte, so wie sie werden oder sich entwickeln. Will man dagegen das Wort Beschreibung nur für die Darstellung von beharrenden Zuständen verwenden und hervorheben, daß die Geschichte es mit Veränderungen zu tun hat, so würde man besser von einer erzählenden Darstellung im Gegensatz zur beschreibenden sprechen. Doch sind auch diese Ausdrücke Mißverständnissen ausgesetzt und daher nicht geeignet, das historische Verfahren zu charakterisieren. Jedenfalls sollte man den Ausdruck „entwickelnde Methode“ in der Logik der Geschichte vermeiden. Man kann j e d e Begriffsbildung eine Begriffsentwicklung nennen, insofern sie auf ein wissenschaftliches Ziel gerichtet ist. Es wird also alles wissenschaftliche Verfahren, soweit es aus Begriffsbildung besteht, zugleich entwickelnd, und dann ist vollends mit diesem Wort nichts gesagt, was für die eine Methode im Gegensatz zu einer anderen charakteristisch wäre. In der Forderung einer „entwickelnden“ historischen Methode steckt eine prinzipielle Unklarheit. Der richtige Gedanke, daß alle O b j e k t e der Geschichte sich entwickeln, verbindet sich mit dem falschen

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Gedanken, daß für diese Objekte ein System allgemeiner Begriffe zu „entwickeln“ sei. Im übrigen haben wir mit B e g r i f f s entwicklung im allgemeinen hier nichts weiter zu tun. Wir reflektieren vielmehr darauf, daß r e a l e Veränderungsreihen sich als teleologische Entwicklungen auffassen lassen, und wenn wir nun festzustellen suchen, welche logische Bedeutung dies in der Geschichte hat, so fassen wir von den verschiedenen teleologischen Entwicklungsbegriffen zunächst den ins Auge, der von dem der bloßen Veränderung am weitesten abliegt. Alles reale Geschehen wurde von uns bisher als ein Werdegang angesehen, dessen verschiedene aufeinanderfolgende Stadien kausal | so miteinander verbunden sind, daß die Ursache den Effekt gewissermaßen vor sich her schiebt, oder daß jedes Stadium einer Reihe bewirkt wird durch etwas, das ihm zeitlich vorangeht. Nun wissen wir aber, daß sich der Begriff eines Kausalzusammenhanges mit dem des τέλος auch so verbinden kann, daß die Annahme einer metaphysischen Teleologie entsteht, wonach ein Effekt die Fähigkeit haben soll, die Wirklichkeit in den Dienst seiner Verwirklichung zu stellen, bevor er selbst wirklich geworden ist. Wenden wir diesen teleologischen Kausalbegriff auf einen Werdegang oder eine Veränderungsreihe an, so entsteht dadurch der Begriff einer metaphysisch-teleologischen Entwicklung, und sie kann hier insofern von Bedeutung zu sein scheinen, als sie stets eine in sich geschlossene und gegliederte Reihe sein muß. Sobald nämlich die Stadien eines Werdeganges in den Dienst der Aufgabe gestellt werden, die am E n d e liegt, treten sie dadurch zu einer teleologisch notwendigen E i n h e i t zusammen, und in der Tat hat man denn auch von dem Gedanken einer solchen teleologischen Entwicklung besonders dort Gebrauch gemacht, wo man ein philosophisches Verständnis des I n h a l t e s der gesamten Geschichte anstrebte. So ist z. B. Hegels „Geist“, der im Verlaufe der historischen Entwicklung zu sich selbst und damit zur Freiheit kommt, eine causa finalis, welche die Wirklichkeit zur Entwicklung ihres wahren Wesens, der Vernunft, hinzuleiten versteht, und zweifellos hat Hegel in seiner Geschichtsphilosophie dem historischen Stoffe auf diese Weise Einheit und Gliederung zu geben vermocht. Wir brauchen jedoch vorläufig noch nicht danach zu fragen, ob es in Wahrheit gerade die m e t a p h y s i s c h -teleologischen Momente in den Entwicklungsbegriffen Hegels und ähnlicher geschichtsphilosophischer Theorien sind, denen diese ihre Bedeutung verdanken, denn, wie man auch über den Wert einer derartigen philosophischen Geschichtsauffassung urteilen mag, für uns, die wir vorläufig weder Geschichtsmetaphysik treiben noch überhaupt irgend eine inhaltlich ausgeführte Geschichtsphilosophie im Auge haben, welche den „Sinn“ der gesamten Weltgeschichte deuten will, sondern

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an die logische Struktur der empirischen Geschichtswissenschaft denken, ist ein Begriff der Art, wie Hegel ihn verwendet hat, zu voraussetzungsvoll. Enthält der Begriff der bloßen Veränderung zu w e n i g , so enthält der Begriff der metaphysisch-teleologischen Entwicklung zu v i e l , um zur Bestimmung des logischen Wesens d e r historischen Entwicklung brauchbar zu sein, welche die empirische Geschichtswissenschaft darzustellen hat. | Doch glaubt man vielleicht, einen metaphysisch-teleologischen Entwicklungsbegriff auch in den empirischen Wissenschaften nicht entbehren zu können. Ja, sogar die Naturwissenschaft hält an ihm fest, und zwar gilt das besonders dann, wenn man in der Biologie von „Zielstrebigkeit“ der Organismen als einer besonderen Realität spricht oder den „Vitalismus“ prinzipiell dem Mechanismus entgegensetzt, denn das kann nichts anderes bedeuten, als daß man in dem organischen Leben eine Art von Kausalität annimmt, die mit der in den physikalischen oder chemischen Vorgängen vorausgesetzten Kausalität unvereinbar ist. Selbstverständlich liegt es nicht im Plan unserer Arbeit, die hier auftauchende Frage, welche in die Logik der Biologie gehört,137 erschöpfend zu behandeln, aber wir haben doch so weit auf sie einzugehen, daß das Verhältnis des historisch-teleologischen Entwicklungsbegriffes auch zum Entwicklungsbegriff der Biologie deutlich wird.138 Stellt man die Alternative: Mechanismus oder Teleologie in dem Sinne, daß entschieden werden soll, ob entweder eine rein mechanische Erklärung der Lebewesen ohne jeden teleologischen Gesichtspunkt zu geben ist, oder ob sich vielmehr die Organismen der Einordnung in die allgemeinste mechanische Theorie der Körperwelt überhaupt entziehen, weil für sie eine metaphysische Art des teleologisch-kausalen Zusammenhanges angenommen werden muß, dann wird es zu einer befriedigenden Lösung des l o g i s c h e n Problems niemals kommen. Es geht nämlich einerseits nicht an, zu sagen, die teleologische Auffassung habe in der Biologie überhaupt kein Recht, denn man muß diese Wissenschaft geradezu so definieren, daß sie von Körpern handelt, deren Teile sich zu einer teleologischen „Einheit“ zusammenschließen. Ein solcher Einheitsbegriff ist vom Begriff des Organismus so unabtrennbar, daß wir nur wegen des teleologischen Zusammenhanges die Lebewesen überhaupt „Organis137

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Vgl. R. K r o n e r, Zweck und Gesetz in der Biologie, 1913, und: Das Problem der historischen Biologie, 1919. Die folgende Erörterung der metaphysischen Biologie gehört auch deshalb in diesen Zusammenhang, weil ihre Ergebnisse auf die metaphysische Geschichte zu übertragen sind. In b e i d e n Fällen müssen die m e t a p h y s i s c h e n Begriffe der Entwicklung von den empirischen s p e z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e n getrennt werden. Weshalb der Gegensatz: Mechanismus-Vitalismus in der Biologie auf einer falschen Alternative beruht, zeigt Fr. C h r i s t m a n n : Biologische Kausalität (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Heft 16, 1928).

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men“ n e n n e n . Die Biologie würde also, wenn sie j e d e Teleologie vermiede, aufhören, Wissenschaft von den Organismen als Organismen zu sein. Die „organische“ Entwick- | lung ist ihrem Begriff nach stets auch eine teleologische Entwicklung, und daher kann eine Wissenschaft von ihr niemals von a l l e r Teleologie abstrahieren wollen. Ja, es hängt mit dem Begriff des Organischen und der Entwicklung noch eine Reihe von weiteren teleologischen Begriffen zusammen, die der Biologe, solange er Biologe bleibt, d. h. von Organismen in ihrer Entwicklung redet, ebenfalls nicht zu entbehren vermag. Worte wie z. B. Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit bedeuten etwas nur mit Rücksicht auf die Erhaltung des Daseins gewisser Objekte, so daß eine Wissenschaft von den Organismen ohne j e d e s „teleologische“ Moment eine contradictio in adjecto wäre. Aber das alles ist nur die e i n e Seite der Sache. Faßt man mit Rücksicht hierauf die Entwicklung der Lebewesen so auf, daß es sich dabei um Zielstrebigkeit als eine metaphysische Art der nicht-mechanischen K a u s a l i t ä t handelt, dann kommt man in andere unüberwindliche Schwierigkeiten. Mögen nämlich auch noch so viele Gründe dafür vorgebracht werden, daß der Begriff des Mechanismus zur Erklärung der Organismen nicht ausreiche, so kann doch die Naturwissenschaft das Streben nach mechanischer Auffassung der g a n z e n Körperwelt, genauer aller ihrer Teile, niemals aufgeben, und sie muß daher auch das als „organisch“ bezeichnete Sein dem Körperganzen als einen ebenfalls mechanisch irgendwie zu begreifenden Teil einordnen. Ja, selbst falls sie hierauf verzichten wollte, würde die Einführung von metaphysisch-vitalistischen Zweckursachen, die prinzipiell mit der mechanischen Auffassung unvereinbar sind, niemals etwas naturwissenschaftlich erklären, insofern die Voraussetzung einer metaphysisch-teleologischen Entwicklung die reale zeitliche Reihenfolge von Ursache und Wirkung verändert und damit zur Annahme von Realitäten führt, welche mit den zeitlich stets einsinnig ablaufenden empirischen Daten der Biologie in eine wissenschaftlich fruchtbare Verbindung zu bringen, nicht mehr möglich wäre. Kurz, es scheint unter Voraussetzung der angegebenen metaphysischen Alternative: Kausalität oder Teleologie, ein unlösbarer Widerspruch zwischen einer notwendigen teleologischen Auffassung der Lebewesen durch die Biologie einerseits und einer ebenso notwendigen Ablehnung jeder teleologischen Kausalität, die prinzipiell mit der mechanischen unvereinbar bleibt, andererseits zu bestehen. Doch läßt sich vielleicht eine andere Auffassung durchführen, wenn wir an das denken, was wir über das Wesen der mechanischen Naturansicht im allgemeinen und über die Grenzen der naturwissenschaft- | lichen Begriffsbildung, auch dem relativ Historischen gegenüber, im besonderen festge-

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stellt haben. Daß die Organismen von der B i o l o g i e mechanisch nicht erklärbar sind, erscheint dann durchaus verständlich, da diese Wissenschaft von den Organismen als etwas S p e z i f i s c h e m handelt und ein „mechanischer Organismus“ einen logischen Widersinn einschließt. Aber Konsequenzen, die mit den Grundsätzen der mechanistischen Naturwissenschaft, d. h. mit einer mechanischen Auffassung aller Teile des Naturganzen unvereinbar sind, brauchen sich daraus nicht zu ergeben, denn es wäre nicht notwendig, die als Organismen bezeichneten Wirklichkeiten für unvereinbar mit einer a l l g e m e i n e n mechanistischen Theorie der Körperwelt zu halten. Wir müssen nur, um eine solche Betrachtung durchführen zu können, erstens von allen Wertgesichtspunkten, die mit dem Begriff der Teleologie sich verbinden, absehen und außerdem noch zwei andere Momente im Begriff des Organismus voneinander trennen, die faktisch immer miteinander verknüpft sind, aber darum nicht restlos zusammenfallen. Die Organismen sind nicht n u r teleologische Gebilde überhaupt, sondern von den andern Körpern noch in anderer Weise spezifisch verschieden, was schon daraus hervorgeht, daß nicht a l l e teleologischen Gebilde auch Organismen sind. Achten wir zunächst nun einmal allein auf das S p e z i f i s c h e des Organischen, ohne dabei gerade an den teleologischen Zusammenhang zu denken, dann können wir sagen: der Begriff des Organischen bleibt, so allgemein wir ihn auch fassen mögen, immer ein Begriff mit relativ historischem Inhalt und darf schon deswegen niemals restlos unter die allgemeinsten, von relativ historischen Elementen freien Begriffe der „letzten“ Naturwissenschaft gebracht werden. Das folgt aus dem Wesen und den Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, die wir kennen gelernt haben. Die Begriffe der allgemeinsten Körpertheorie enthalten n i e m a l s das, was n u r für einen besonderen Te i l der Körperwelt gilt. Aus demselben Grunde sind auch die qualitativen Bestimmungen der chemischen Elemente von der Chemie nicht restlos unter physikalische Begriffe zu bringen, und ebensowenig lassen sich die qualitativen Differenzen zwischen Schall, Licht und Wärme von der Physik in rein quantitative Verschiedenheiten auflösen, und daraus folgt dann, daß die Organismen in ihrer spezifischen Eigenart, abgesehen von dem teleologischen Moment, mechanisch nicht unbegreiflicher sind als jede andere empirische Wirklichkeit, die wir auf das ihr Eigentümliche hin betrachten. | Hat man aber dies verstanden, so muß andrerseits auch klar sein, daß d i e s e Art von mechanischer Unbegreiflichkeit des Organischen, die allein auf dem Spezifischen der „Organismen“ genannten Gebilde beruht, ihre Einordnung in den allgemeinsten mechanischen Naturzusammenhang und die Durchführung der mechanischen Naturauffassung für alle Teile der Körperwelt nicht in prinzipiell anderer Weise ausschließt, als die mechanische

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Unbegreiflichkeit der chemischen und physikalischen Qualitäten uns hindert, sie unter dem Gesichtspunkte der allgemeinsten Körpertheorie in rein quantitativ bestimmten Begriffen zu denken. Wir sehen vielmehr die Organismen, soweit lediglich das Spezifische überhaupt, also noch nicht das Teleologische an ihnen in Betracht kommt, mit genau demselben Recht oder Unrecht als von rein mechanischen Gesetzen beherrschte Atomkomplexe an, mit dem wir die qualitativen Differenzen der chemischen Stoffe und die qualitativ voneinander verschiedenen physikalischen Vorgänge auf quantitative Differenzen von Atombewegung zurückführen. Mit demselben R e c h t , denn es ist gestattet, auch das unter ein System von rein quantitativ bestimmten Begriffen zu bringen, was selbst mehr als quantitativ ist, und mit demselben U n r e c h t , denn es ist von j e d e r qualitativ bestimmten Wirklichkeit, also auch von den Organismen, niemals zu sagen, daß sie n u r quantitativ bestimmte Wirklichkeiten seien. Doch bleibt dabei, falls das Recht der mechanischen Auffassung klar sein soll, Folgendes zu beachten. Denkt man einen Organismus als einen chemischen oder physikalischen Vorgang oder gar als einen rein mechanischen Atomkomplex, so v e r l ä ß t man damit das Gebiet der b i o l o g i s c h e n Wissenschaft und hört auf, die Organismen a l s Organismen zu behandeln, aber man tut damit im Prinzip wiederum nichts anderes, als wenn man chemische Elemente oder Wärme und Licht als rein quantitativ bestimmte Atombewegung denkt, denn auch in diesem Falle hören die Elemente auf, chemische Elemente im engeren Sinne des Wortes zu sein, und an Wärme und Licht bleibt nichts, was noch wärmt oder leuchtet, d. h. es ist der chemische oder der im engeren Sinne physikalische, z. B. thermische oder optische Standpunkt ebenfalls verlassen. Zu Widersprüchen kommt es erst, wenn der Biologe a l s Biologe die Organismen a l s Organismen rein mechanisch denken will, denn dann abstrahiert er gerade von dem, um dessentwillen er seine Objekte zum Gegenstande einer besonderen biologischen Wissenschaft gemacht hat. Bei der nicht-biologischen, mechanischen Auffassung der Orga- | nismen als Atomkomplexe kommt nun allerdings zu der für j e d e naturwissenschaftliche Begriffsbildung notwendigen Abstraktion vom Spezifischen noch die zweite Aufgabe hinzu, auch von aller Teleologie abzusehen, und hieran scheint die mechanische Auffassung des Organischen dann doch zu scheitern, denn Organismus und Mechanismus sind nicht nur niemals restlos zur Deckung zu bringen, sondern stehen ausdrücklich in einem Widerspruch zueinander. Der B e g r i f f des Organismus schließt es aus, daß er jemals als Mechanismus gedacht wird. Aber auch hieraus entstehen, wenn man überhaupt einmal die Grenzen der Biologie überschritten und aufgehört hat, b i o l o g i s c h e Begriffe für

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die Organismen zu bilden, keine prinzipiell neuen Schwierigkeiten. Die Durchführung der Betrachtung der Organismen als Mechanismen setzt nur voraus, was Voraussetzung des Verständnisses a l l e r naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ist, nämlich daß man gelernt hat, nicht metaphysisch Begriffe als Realitäten zu denken, sondern in dem unmittelbar als wirklich Gegebenen den einzigen realen Stoff der Naturwissenschaft zu sehen, und das bedeutet in diesem Falle: der teleologische Zusammenhang der Organismen darf von vornherein nicht als der Ausdruck einer metaphysischen Wesenheit, wie „Zielstrebigkeit“ oder dergleichen, sondern nur als eine Auffassung angesehen werden, welche die von uns „Organismen“ genannten Körper durch ihre Besonderheit dem erkennenden Subjekt aufdrängen, und von der deshalb der Biologe als Biologe, solange er Organismen als Organismen behandelt, auch niemals absehen kann. Dann macht die für den Biologen notwendige teleologische Auffassung die Organismen für die allgemeinste mechanische Körpertheorie nicht mehr zu Rätseln, denn eine solche Teleologie bleibt, mag sie in der Biologie auch unvermeidlich sein, vom mechanischen Standpunkt aus doch eben n u r „Auffassung“, also mit der mechanischen Kausalität sehr wohl vereinbar, und andererseits muß die Anerkennung der Berechtigung und Notwendigkeit der teleologischen Auffassung innerhalb der Biologie jeden begründeten Anspruch des Biologen auf teleologisches Denken vollkommen befriedigen. Damit das ganz klar wird, sei noch ein Wort über den Begriff dieser teleologischen A u f f a s s u n g hinzugefügt. Es kommt allein darauf an, daß man im biologischen Denken den Begriff einer Ursache vermeidet, die das, was sie selbst nur δυνάμει, der Möglichkeit nach, enthält, wirklich zu machen oder andere Wirklichkeiten zu ihrer eigenen Ver- | wirklichung zu bestimmen vermag. Eine solche „Endursache“ würde mit jeder mechanischen Auffassung in der Tat unvereinbar sein. Verlegen wir dagegen die Teleologie in die Auffassung des biologisch erkennenden Subjektes, so heißt das nichts anderes als: wir sind genötigt, gewisse Objekte wegen ihrer Besonderheit so zu betrachten, daß wir dabei an das Ganze oder an das Ende denken und nun alles übrige als notwendige B e d i n g u n g e n zur Verwirklichung des Endes ansehen. Gerade diese k o n d i t i o n a l -teleologische Auffassung,139 die der mechanischen Körpertheorie zu widersprechen scheint, ist mit dem Mechanismus nicht unverträglich, wie sich am besten daran zeigt, daß wir auch mechanische Gebilde ebenso unter sie bringen können wie die organischen. Jede M a s c h i n e ist ein teleologischer Zusammenhang in dem Sinne, daß ihre Teile Bedingungen für den Bestand des Ganzen sind, und doch kann hier von etwas mechanisch Unerklärbarem gewiß nicht gesprochen

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Vgl. dazu meine Abhandlung: Lebenswerte und Kulturwerte, 1911, [in:] Logos II, S. 142 ff. und: Philosophie des Lebens, 1920, 2. Aufl., 1922, S. 117 ff.

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werden. Ja, es läßt sich sogar jeder beliebige mechanische Zusammenhang so ansehen, daß aus ihm ein konditional-teleologischer wird. Man braucht nur die Ursachen für den Effekt als dessen Bedingungen zu betrachten, also in G e d a n k e n die kausale Reihenfolge umzukehren. Dann ist aus dem kausalen Verhältnis ein konditionales und insofern auch ein teleologisches geworden, und sieht man nun in dem Endeffekt außerdem noch den Zweck, so erhält der ganze Vorgang eine teleologische Einheit. Von irgendwelcher metaphysisch-teleologischen Kausalität ist aber dann offenbar keine Rede mehr. Eine mechanische Auffassung auch dieser teleologischen Zusammenhänge wird möglich, sobald man von der konditional-teleologischen Umkehrung absieht. Freilich kommt uns bei den meisten anorganischen Vorgängen die teleologische Auffassung willkürlich vor, und nur die Organismen scheinen uns zu ihr zu zwingen. Das läßt sich vielleicht daraus verstehen, daß wir selber, die wir erkennen, zwecksetzende Wesen sind und daher auch unsern eigenen Körper teleologisch betrachten müssen. Diese Betrachtungsweise wenden wir dann auf alles an, was uns ähnlich ist, d. h. die spezifischen Eigentümlichkeiten, die wir selbst besitzen, veranlassen uns überall, wo wir sie finden, zu einer teleologischen Auffassung, und deswegen werden nur die Körper, die sich von dem übrigen Naturgeschehen ebenso wie wir selbst spezifisch unterscheiden, von | uns Organismen genannt.140 Daß sie aber deshalb mit einer mechanischen Auffassung in W i d e r s p r u c h stehen, darf man nicht behaupten, und darauf allein kommt es an. Die Biologie hat also lediglich insofern eine Ausnahmestellung, als die besondere Beschaffenheit der von ihr Organismen genannten Objekte infolge ihrer spezifischen Eigentümlichkeiten das auffassende Individuum veranlaßt, die kausalen Verhältnisse als konditionale oder durch Betrachtung des Endstadiums als eines Zweckes vollends als teleologische Zusammenhänge zu denken. Der Begriff einer m e t a p h y s i s c h -teleologischen K a u s a l i t ä t jedoch braucht sich mit dieser Betrachtungsweise nicht zu verknüpfen, ja, er darf nicht mit ihr verbunden werden, falls die Biologie sich nicht in einen Widerspruch mit der allgemeinsten Körpertheorie setzen will. Wir kommen damit zu folgendem Ergebnis. Die Anhänger der „natürlichen Teleologie“ haben gewiß recht, wenn sie die mechanische Erklärbarkeit der Organismen durch die B i o l o g i e bestreiten, denn die Biologie hat es stets mit Organismen a l s Organismen, d. h. mit teleologisch aufgefaßten Zusammenhängen von einer besonderen Beschaffenheit zu tun, die sie aus 140

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Die Einheit des Organismus wäre dann in Verbindung zu bringen mit jener Einheit oder Ganzheit der irrealen Sinngebilde, die sich auf den realen Träger des Sinnes überträgt. Von ihr wird im IX. Abschnitt dieses Kapitels die Rede sein. Das hat Bedeutung auch für die Geschichte.

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der übrigen Körperwelt heraushebt, und ein mechanischer Organismus bleibt ein in sich widerspruchsvoller Begriff. Dadurch aber braucht die Einheit der mechanischen Auffassung des Natur g a n z e n in allen seinen Teilen nicht durchbrochen zu werden, denn diese Auffassung besteht nur für den Standpunkt der allgemeinsten Körpertheorie zu Recht, für den a l l e individuellen Differenzen notwendig verschwinden, also auch die Eigentümlichkeiten, die zu einer teleologischen Auffassung gewisser körperlicher Gebilde veranlassen. Der Widerspruch zwischen Mechanismus und Teleologie steckt, wenn man von aller metaphysisch-teleologischen Kausalität abzusehen sich entschließt, nicht in den Objekten selbst, sondern allein in zwei einander ausschließenden Betrachtungsweisen derselben Dinge: in der denkbar allgemeinsten naturwissenschaftlichen, d. h. rein mechanischen einerseits und in der mit Begriffen von relativ historischem Inhalt arbeitenden andererseits, die auf uns selbst ähnliche und daher von uns notwendig teleologisch aufgefaßte Objekte bezogen sind. Solche Doppelheit der Betrachtungsweise ist aber nicht etwa | unberechtigt, sondern im Wesen der richtig verstandenen naturwissenschaftlichen Begriffsbildung begründet. Sie ist auch, abgesehen von der zur bloßen Spezifikation noch hinzutretenden teleologischen Auffassung, kein Ausnahmefall, sondern sie zieht sich durch die ganze Naturwissenschaft hindurch. Man kann in k e i n e r Spezialwissenschaft die r e i n mechanische Betrachtungsweise durchführen, d. h. man kann die Biologie als Biologie so wenig in Chemie und Physik auflösen, wie die Chemie sich restlos in Physik und die Physik sich restlos in reine Mechanik auflösen läßt. Andererseits aber bleibt nur für den Biologen die teleologische Auffassung seiner Objekte unentbehrlich,141 wie nur für den Chemiker die qualitativen Unterschiede der Stoffe nicht wegzudenken sind, und die allgemeinste Körpertheorie hat nicht allein das Recht, sondern sogar die Pflicht, die spezifischen Differenzen und Auffassungen in ihren Begriffen zu ignorieren. Erst dann würde man diesen Gedankengang nicht anerkennen können, wenn man dem „Lebendigen“ und daher notwendig zugleich teleologisch Aufgefaßten eine andere Art von Wirklichkeit beilegte, als sie die anorganischen Objekte besitzen. Man käme damit zu einer Art von Metaphysik, wie sie heute vielfach vertreten wird und auch Beifall gefunden hat. Daß aber mit Hilfe solcher Voraussetzungen zugleich eine die gesamte Körperwelt umfassende allgemeine Theorie gebildet werden kann, die alle Teile der körperlichen Natur einheitlich zu erklären vermag, das müßte erst gezeigt werden. Wir gehen darauf hier schon deswegen nicht ein, weil ein wissenschaftlich bedeutsamer Versuch dazu überhaupt noch nicht 141

Von einer sinndeutenden P h i l o s o p h i e der Natur im allgemeinen und der organischen Welt im besonderen sehen wir hier selbstverständlich ab. Ueberall sind S p e z i a l w i s s e n s c h a f t e n gemeint, die sich um philosophische Sinn- und Wertprobleme nicht kümmern.

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gemacht worden ist. Außerdem glauben wir, gezeigt zu haben, daß aus rein logischen Gründen keine andere als die quantifizierende und in diesem Sinne mechanische Auffassung der Körperwelt es zu Begriffen bringen kann, die sich auf jeden beliebigen Teil und insofern auf das Körperganze anwenden lassen. Eine Theorie aber, die dies leistet, muß die Naturwissenschaft stets als letztes Ziel im Auge behalten. Dies alles soll jedoch nur eine flüchtige Andeutung von Gedanken sein, mit denen die Schwierigkeiten, welche sich bei der Einordnung der Organismen in den allgemeinen mechanischen Naturzusammenhang ergeben, logisch verständlich zu machen sind, und die Richtig- | keit des folgenden Gedankenganges ist hiervon nicht abhängig. Es genügt, wenn die Ansicht, die wir entwickelt haben, keinen logischen Widerspruch enthält. Für uns kommt es jetzt darauf allein an, welchen teleologischen Entwicklungsbegriff eine Biologie, die sich von aller metaphysischen Teleologie freihalten will, benutzen muß, und da zeigt sich, daß dieser Begriff gewissermaßen z w i s c h e n dem einer bloßen Veränderung und dem eines von metaphysisch-teleologischer Kausalität beherrschten Werdeganges liegt. Was unter ihn fällt, ist stets eine Reihe von e m p i r i s c h kausal miteinander verknüpfter Stadien, von denen jedes v o r a n g e h e n d e die U r s a c h e des darauf folgenden bildet, aber es wird der ganze Prozeß so angesehen, als ob er sich in einer bestimmten Richtung auf ein bestimmtes E n d e hin bewegt, und er stellt sich demnach als eine teleologische Entwicklung insofern dar, als seine verschiedenen Teile notwendige Bedingungen zur Erreichung dieses Endes sind. Es unterliegt keinem Zweifel, daß einer solchen konditional-teleologischen Auffassung der Wirklichkeit und der Anwendung des sich daraus ergebenden Entwicklungsbegriffes auch in einer empirischen Wissenschaft keine Bedenken entgegenstehen. Weil dabei von jeder metaphysischen Zweckursache abgesehen wird, kann die Betrachtung keiner andern empirischen Auffassung der Wirklichkeit widersprechen, und wir erhalten so den gewissermaßen voraussetzungslosesten teleologischen Entwicklungsbegriff, der sich denken läßt. Er entsteht durch Verwandlung der kausalen Verhältnisse in konditionale und durch Betonung des letzten Stadiums als des Endes der Reihe, zu dessen Realisierung die übrigen Glieder als notwendige Bedingungen beitragen. Wir können eine solche teleologische Auffassung auf jede beliebige Kausalkette anwenden, ja, wir werden sogar sagen dürfen, daß es der Gedanke an eine teleologische Betrachtung dieser Art ist, der fast immer mitklingt, wenn wir überhaupt eine Veränderungsreihe als „Entwicklung“ bezeichnen. Auch wo man z. B. von der Entwicklung einer Wolke spricht, und wo jeder Gedanke einer End- oder Zweck u r s a c h e ausgeschlossen bleibt, fassen wir doch den Prozeß als einen auf ein Endstadium hin sich bewegenden auf und bringen damit in den Begriff ein konditional-teleologisches Moment.

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Kehren wir nun nach dieser unvermeidlichen Erörterung über „Entwicklung“ im a l l g e m e i n e n wieder zu unserm Versuch, den h i s t o r i s c h e n Entwicklungsbegriff durch Abgrenzung gegen die verwandten Begriffe zu gewinnen, zurück und fragen, was der soeben | dargelegte Begriff für die Geschichtswissenschaft bedeutet, so liefert er offenbar ein Prinzip, mit dem ein Werdegang ebenso zu einer Einheit zusammenzuschließen und zu gliedern ist, wie dies mit Hilfe des metaphysisch-teleologischen Entwicklungsbegriffes geschehen kann. Das Ganze, das sich in dem angegebenen Sinne entwickelt, hat an einem durch die teleologische Beziehung bestimmten Zeitpunkt mit einem bestimmten Stadium begonnen, ist an einem ebenso bestimmten anderen Zeitpunkt mit einem anderen bestimmten Stadium abgeschlossen, und alle seine verschiedenen Stadien heben sich dadurch voneinander ab, daß jedes seine bestimmte Bedeutung für die Realisierung des Endes oder des Ganzen hat, d. h. sie werden zu konditional-teleologisch notwendigen Gliedern, weil ohne sie das Ergebnis in seiner Totalität nicht zustande kommen würde. Der Begriff der bloßen Genesis oder der Veränderung führt also zwar immer ins Unbegrenzte, der Begriff des bestimmt gerichteten Werdens oder der Orthogenesis macht dagegen eine Veränderungsreihe zu einer gegliederten und einheitlich geschlossenen Kette. Trotzdem ist die teleologische Entwicklung in diesem Sinne noch keine h i s t o r i s c h e Entwicklung, und das ergibt sich daraus, daß sie ebenso wie eine bloße Veränderung sowohl mit Rücksicht auf das, was ihr mit andern teleologischen Entwicklungen gemeinsam ist, angesehen werden kann als mit Rücksicht auf ihre individuelle Eigenart, d. h. es ist auch der Begriff der konditional-teleologischen Entwicklung ebenso mit einer Auffassung der Wirklichkeit als „Natur“ wie mit ihrer Auffassung als „Geschichte“ vereinbar. Nichts hindert uns, die teleologischen Entwicklungsreihen unter ein System allgemeiner Begriffe zu bringen, ja, wenn die dabei entstehenden Begriffe unbedingt allgemein sind, müssen wir sogar von t e l e o l o g i s c h e n E n t w i c k l u n g s g e s e t z e n sprechen, die in demselben logischen Sinne Naturgesetze sind wie die Gesetze der Physik oder der Chemie. Der Satz z. B., daß jedes Wirbeltier zunächst ein Einzellenstadium durchmacht, dann einen Komplex von gar nicht oder unwesentlich differenzierten Zellen bildet, hierauf sich zu einem Organismus mit drei Keimblättern umformt, dann ein ungegliedertes Achsenskelett erwirbt, um endlich ein gegliedertes Achsenskelett zu erhalten, dem die Klasse den Namen „Wirbeltier“ verdankt, ist als ein solches Entwicklungsgesetz anzusehen, das ein teleologisches Moment selbst für den enthält, der von dem mechanisch-kausalen Werden aller Lebensvorgänge fest überzeugt ist. Die verschiedenen Stadien dieser Veränderungsreihe | werden hier mit Rücksicht auf das betrachtet und zusammengeschlossen, wodurch allein gerade die durch das gegliederte

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Achsenskelett charakterisierte, Wirbeltier genannte und am Ende der Reihe stehende Art allmählich zustande kommen kann. Mit „Geschichte“, selbst wenn wir das Wort im rein logischen, also denkbar weitesten Sinne nehmen, haben derartige Allgemeinbegriffe von teleologischen Entwicklungen noch nichts zu tun, denn, mag der I n h a l t der Begriffe, insofern es sich um einen Organismus handelt, relativ historische Momente enthalten, so bleibt doch die M e t h o d e der Begriffsbildung rein naturwissenschaftlich, d. h. es wird für den Begriff allein das wesentlich, was den verschiedenen Entwicklungen gemeinsam ist, und die Bildung des Begriffs beruht somit auf demselben Prinzip, das die naturwissenschaftliche oder generalisierende Begriffsbildung überhaupt leitet. Kommt eine individuelle Entwicklungsreihe als solche in Betracht, so leistet also die konditional-teleologische Auffassung zur Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen für sich noch nichts. Schon weil sie auf jeden beliebigen Werdegang angewendet werden kann, gibt sie eine einheitliche Zusammenfassung höchstens in dem Sinne wie etwa der Dingbegriff oder der Begriff der Seele, macht es aber nicht möglich, einen einmaligen Werdegang zu einer sowohl einzigartigen als auch einheitlichen oder zusammengehörigen Mannigfaltigkeit von Stadien zusammenzuschließen, und solche Einheit der i n d i v i d u e l l e n To t a l i t ä t ist es gerade, die wir für den geschichtlichen Werdegang suchen. Sobald das klar ist, wissen wir aber auch sogleich, was dem konditional-teleologischen Entwicklungsbegriff noch fehlt, damit er ein Prinzip für die Darstellung einer historischen Entwicklung werden kann. Soll in einer mehr als willkürlichen Darstellung die Individualität der Wirklichkeit erhalten bleiben, dann darf ihre Mannigfaltigkeit nur durch Beziehung auf einen We r t in wesentliche und unwesentliche Bestandteile zerfallen, und von einem Werte haben wir vorläufig abgesehen. Das war möglich, obwohl der Begriff eines Zieles ursprünglich stets mit dem eines Wertes verbunden sein wird, denn es läßt sich, sobald einmal der Gedanke des Strebens in einer bestimmten Richtung vorhanden ist, dies Streben auch als bloße Bewegung nach einem nicht gewerteten Ende hin auffassen, und wenn das möglich ist, so war es zugleich notwendig, die teleologische Auffassung einer Veränderung in ihrer voraussetzungslosesten Gestalt zu gewinnen, in der auch die | Naturwissenschaft von Organismen sie nicht entbehren kann. Mag nämlich der Umstand, daß das Ende als Ziel oder als Zweck gewertet wird, die Ve r a n l a s s u n g dafür bilden, daß wir einen Kausalzusammenhang konditional-teleologisch betrachten, so kann doch diese Veranlassung, nachdem sie einmal ihren Dienst getan hat, fortgedacht werden, und es bleibt dann nur noch die Richtung der Entwicklung auf das Ende hin bestehen, ganz unabhängig davon, ob dies Ende ein Zweck ist und ein Wert dadurch reali-

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siert wird, d. h. ob schließlich ein Gut entsteht oder nicht. Von der teleologischen Entwicklungsreihe, wie die Biologie sie kennt, ist der Gedanke eines Wertes sogar notwendig fernzuhalten, falls es zu einer generalisierenden Begriffsbildung kommen soll. Wie aber zum Begriff des historischen Individuums überhaupt die Beziehung auf einen Wert gehört, so muß auch die teleologische Entwicklungsreihe auf einen Wert bezogen werden, damit Entwicklungs g e s c h i c h t e im logischen Sinne, d. h. Darstellung einmaliger und individueller Entwicklung entsteht. Was die theoretische Beziehung auf einen Wert im allgemeinen für die historische Begriffsbildung bedeutet, haben wir früher gesehen. Doch können sich Werte mit dem Entwicklungsgedanken in so verschiedener Weise verknüpfen, daß wir uns auch die dadurch entstehenden verschiedenen Formen wieder gesondert zum Bewußtsein bringen müssen, um dann endlich den Entwicklungsbegriff, der für die Geschichte allein in Frage kommen darf, von diesen ihm am nächsten verwandten Begriffen zu scheiden. Damit wir alle möglichen mit Wertgesichtspunkten verbundenen teleologischen Entwicklungsbegriffe vollständig übersehen, ziehen wir zuerst noch einmal den metaphysisch-teleologischen mit in Betracht. Er wird wohl fast immer so gedacht, daß das den ganzen Prozeß beherrschende Endstadium nicht nur die Ursache ist, die alles bewirkt, sondern zugleich das G u t e , zu dem alles hinstreben s o l l , und die teleologische Entwicklung bedeutet bei dieser Auffassung dann soviel wie „Fortschritt“ zum Besseren oder Wertsteigerung. Wir können wieder als Beispiel auf Hegels zu sich selbst kommenden „Geist“ hinweisen, der nicht nur die Zweckursache, sondern auch das Gut ist, an dem ein objektiver Wert haftet, und zu dessen Realisierung es einer List der Vernunft bedarf, welche die einzelnen Individuen den überpersönlichen Wert fördern läßt, während sie meinen, im Dienste ihrer persönlichen Interessen tätig zu sein. Glaubt der Historiker an ein solches metaphysisches Prinzip des | Guten in der Geschichte, oder meint er gar, es in seiner inhaltlichen Besonderheit zu erkennen, dann ist es ihm gewiß nicht verboten, daß er seiner Ueberzeugung auch bei der geschichtlichen Darstellung Ausdruck verleiht, aber, solange er nichts anderes als ein empirischer Forscher sein will, hat er sich um solche transzendenten Momente nicht zu kümmern, und auf jeden Fall ist der geschichts w i s s e n s c h a f t l i c h e Wert seiner Darstellung von allen metaphysischen Ansichten unabhängig zu machen, d. h. die Fragen, wie die Dinge wirklich verlaufen sind, durch welche Ursachen sie bestimmt waren, und was historisch wesentlich oder unwesentlich ist, müssen ohne Rücksicht auf eine transzendente Weltmacht des Guten entschieden werden. Vollends gehört das Problem, ob es eine solche Macht w i r k l i c h gibt, nicht in die empirische Geschichte, sondern falls es überhaupt im Zusammenhang mit

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dem historischen Leben behandelt werden soll, in eine Geschichtsmetaphysik. Mit Werten also, insofern sie als transzendent reale Wesenheiten gedacht werden, hat es der Historiker als H i s t o r i k e r niemals zu tun. Daher haben wir den metaphysisch-teleologischen Entwicklungsbegriff wie in der Biologie so auch in seiner Verknüpfung mit einem Wert hier fernzuhalten, wo es sich darum handelt, die Prinzipien der empirischen Geschichtswissenschaft zu verstehen. Wir mußten ihn noch einmal erwähnen, um ihn von einem andern Entwicklungsbegriff zu scheiden, mit dem er in einer Hinsicht übereinstimmt. Es ist möglich, einen Wert, der durch eine Entwicklung in einem Gute realisiert wird, zwar von den Ursachen, die den Entwicklungsprozeß tatsächlich bestimmen, zu trennen, trotzdem aber den Gedanken einer notwendigen Verbindung zwischen der zeitlichen Abfolge verschiedener Entwicklungsstadien und einem Fortschritt zum Besseren beizubehalten, d. h. wir können einen Werdegang, der zu einem wertvollen Ergebnis führt, nicht allein darauf hin betrachten, wie ein Stadium das andere mit kausaler Notwendigkeit hervorbringt, sondern auch glauben, diese Stadien seien genau in dem Maße höher zu werten, in dem sie zeitlich später liegen, denn, falls die Entwicklung notwendig durch jedes Stadium hindurch muß, um das wertvolle Ziel zu erreichen, scheint mit derselben Notwendigkeit jedes folgende Stadium der Reihe in höherem Maße als das vorangegangene das zu verwirklichen, was sein soll. So kann z. B. der biologische Entwicklungsprozeß, der „phylogenetisch“, also im logischen Sinne (wenn auch nur relativ) historisch von den „niederen“ Organismen allmählich bis zu den „höchsten“, den | Menschen führt, so angesehen werden, daß die rein mechanisch kausal miteinander verknüpften einzelnen Stadien notwendig Schritt für Schritt einen größeren Wert in Gütern realisieren, d. h. es wird den verschiedenen Tiergattungen ein um so „höherer“ Wert beigelegt, je näher sie auf der mit dem zeitlichen Ablauf zusammenfallenden Fortschrittslinie dem Menschen stehen. Es scheint dann ferner möglich, die Reihe innerhalb des Werdeganges der Menschheit selbst weiter zu verfolgen und ebenfalls als eine Kette kausal miteinander verbundener Glieder aufzufassen, von denen jedes folgende den vorangegangenen gegenüber eine „höhere“, d. h. wertvollere Stufe bildet, so daß von den niedersten Organismen bis zu dem heutigen Kulturmenschen hin eine einheitliche, rein kausal bestimmte und doch notwendig zu immer „höheren“, d. h. w e r t v o l l e r e n Formen aufsteigende einmalige geschichtliche Entwicklung zu konstatieren wäre. Wir untersuchen zunächst nicht, wie weit ein solcher Gedanke wissenschaftliche Berechtigung hat, sondern fragen nur, ob dieser Entwicklungsbegriff für die Klarlegung des logischen Wesens der geschichtlichen Begriffs-

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bildung in Betracht kommt. Wohl läßt sich mit seiner Hilfe eine einmalige individuelle Veränderungsreihe abschließen und gliedern, wie dies schon das Beispiel des einmaligen Fortschrittes der Organismen von den niedersten Tieren bis zum Menschen zeigt. Andererseits aber darf die historische Entwicklung, die wir meinen, und die das Wesen jeder historischen Darstellung zum Ausdruck bringen soll, gerade nicht „Fortschritt“, d. h. nicht eine mit der zeitlichen Reihenfolge der verschiedenen Stadien notwendig zusammenfallende We r t s t e i g e r u n g sein, denn, selbst wenn wir voraussetzen wollten, der Historiker sei auf Grund eines inhaltlich bestimmten Wertmaßstabes in der Lage, wissenschaftlich zu begründen, was in einer geschichtlichen Entwicklung Fortschritt zum Besseren ist und was nicht, so müßte er bei jedem Versuch, dies zu tun, dazu kommen, das Ende oder wenigstens ein bestimmtes Stadium der Entwicklungsreihe als den fortgeschrittensten Teil, dieses Stadium daher als den eigentlichen Zweck und damit als „Höhepunkt“ der Geschichte, die übrigen Stadien dagegen entweder als bloße Mittel zu seiner Verwirklichung oder als „Abfall“ von ihrer Bestimmung anzusehen. Dies Verfahren würde, um ein Wort Rankes zu gebrauchen, die früheren Perioden zugunsten der späteren mediatisieren und wäre daher unhistorisch.142 | 142

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Da auch Troeltsch die methodologischen Probleme der Geschichte von der Geschichtsmetaphysik trennen will, scheint es mir nicht konsequent, wenn er (a. a. O. | S. 386) zu dieser Stelle meines Buches bemerkt, das sei „ein erkenntnistheoretisch gänzlich ausgesogener, aller wirklichen Dynamik beraubter Ranke“, auf den ich mich berufe. Es liegt mir sehr fern, den F l u ß und den untrennbaren Z u s a m m e n h a n g der historischen Ereignisse zu leugnen. Im Gegenteil, dadurch, daß ich die W i r k l i c h k e i t s n ä h e der Geschichte betone und die Wirklichkeit als heterogenes K o n t i n u u m charakterisiere, habe ich das „dynamische“ Moment gegenüber dem statischen von vornherein mit Nachdruck hervorgehoben. Nur die m e t a p h y s i s c h e „Dynamik“ lehne ich als Prinzip der e m p i r i s c h e n Geschichte ab, und dafür darf ich mich wohl auch auf Ranke berufen. Gewiß hatte dieser große Historiker eine metaphysische „Weltanschauung“, aber er war bemüht, ihr auf seine g e s c h i c h t l i c h e n Darstellungen möglichst wenig Einfluß zu gestatten, der ihre „Objektivität“ beeinträchtigen konnte. Das steckt in seinem Wort, er wolle bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen. Und selbst wenn man das bestreiten sollte, meine Aufgabe ist hier die, ganz unabhängig von den We l t a n s c h a u u n g e n der Historiker, die logische Struktur der G e s c h i c h t e als einer empirischen S o n d e r w i s s e n s c h a f t zum Bewußtsein zu bringen. Dabei m u ß t e ich von allen metaphysischen, ja von allen überempirischen Wertvoraussetzungen, die den S t o f f der historischen Darstellungen betreffen, absehen. Ich denke ja nicht daran, zu sagen, der Historiker s o l l e seiner Weltanschauung nicht Ausdruck verleihen. Ich stelle nur fest, daß solche Bestandteile nicht zum Wesen der Geschichte als einer e m p i r i s c h e n Disziplin gehören. Zu einer Auseinandersetzung mit Hegel war in d i e s e m Gedankenzusammenhang kein Platz. Hegel hat die empirische Geschichte ebenfalls von der Geschichtsphilosophie getrennt, doch eine Methodenlehre der geschichtlichen Spezialwissenschaften nicht versucht. Gerade das mache ich mir zur Aufgabe, und Troeltsch kann auch in Bezug auf den Begriff der Entwicklung nicht bestreiten, daß ich dabei auf dem rechten Wege bin, denn man braucht den von ihm akzeptierten Begriff der „individuellen Totalität“ mit seiner Bestimmung durch den Wertgedanken nur auf den kontinuierlichen Fluß des Geschehens zu übertragen, so entsteht genau das, was ich historische Entwicklung nenne, ein einmaliger kontinuierlicher Werdegang, der nach außen durch die Wertbeziehung zur „Totalität“ zusammengeschlossen und nach innen in eine Reihe von „Stadien“ gegliedert ist. Zieht man, um mit Troeltsch von einem „immanenten“ Wert reden zu können, ferner noch den Begriff

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Die Aufgabe der Geschichte ist vielmehr, jede historische Gestaltung in der ihr eigentümlichen Bedeutung zu würdigen, also sie niemals als bloße Vorstufe in dem Sinne zu betrachten, daß sie, nachdem die folgende Stufe aus ihr entstanden und damit ihr Zweck erfüllt ist, als überflüssig geworden gelten darf. Stets ist das G a n z e des betreffenden Werdeganges im Auge zu behalten, wie es durch die Gesamtheit seiner wesentlichen Teile allmählich verwirklicht wird, denn so | allein sind die verschiedenen Stadien nicht bloße Vorstufen, sondern notwendige Glieder der Entwicklung, von denen jedes seine eigenartige Bedeutung behält. Der Fortschrittsbegriff ist gerade solcher geschichtlichen Auffassung feindlich. Ja, wir können sogar sagen, daß die Stufen einer Fortschrittsreihe nur noch Verkörperungen einer Reihe von allgemeinen Begriffen sind, die man nach dem Prinzip einer immer höheren Werthaltigkeit angeordnet hat, und die deshalb den ihnen untergeordneten Objekten die individuelle, um ihrer selbst willen bedeutsame Eigenart ebenso nehmen wie dann, wenn man sie als Gattungsexemplare ansieht. Die Entwicklung als Fortschritt oder Wertsteigerung gehört also weder in ihrer metaphysischen noch in ihrer soeben betrachteten Gestalt unter die logischen Prinzipien der empirisch historischen Begriffsbildung, sondern in die Geschichtsphilosophie. Wie aber soll dann ein Wert mit dem Entwicklungsgedanken so verknüpft sein, daß daraus der historische Entwicklungsbegriff wird? Es gibt zunächst folgende Möglichkeit: man sieht von der Frage nach dem Fortschritt oder der Wertsteigerung, soweit das G a n z e der Entwicklung in Betracht kommt, vollkommen ab. Trotzdem drängen sich noch immer die einzelnen Stadien der Reihe als Wertsteigerungen oder Wertverminderungen auf und fordern damit die Kritik heraus. So wird der Werdegang in jedem einzelnen seiner Stadien gewürdigt, und die Gefahr einer Vernichtung ihrer individuellen Bedeutung liegt deshalb nicht vor. Es gibt dann vollends keinen Grund, vorauszusetzen, daß die zeitliche Aufeinanderfolge der verschiedenen Stadien des einmaligen Werdeganges in einem notwendigen Zusammenhang mit den Wertgesichtspunkten steht, unter denen sie betrachtet werden. Es unterscheidet sich also der so entstehende Entwicklungsbegriff prinzipiell von dem des Fortschrittes oder der Wertsteigerung, und zwar fehlt ihm gerade das, was den Fortschrittsbegriff spezifisch unhistorisch macht. des historischen Zentrums heran, zu dem wir später kommen werden, dann ist vollends deutlich, wie der Entwicklungsbegriff, zu dem Troeltsch kommen muß, sich in seiner l o g i s c h e n Struktur nicht von dem meinigen unterscheidet. Troeltsch kann daher nicht mit Recht sagen, daß hier die „Geschichtslogik Rickerts versagt“. Nicht meine Logik, sondern meine „Weltanschauung“, genauer meine F e r n h a l t u n g von Weltanschauungsfragen in der Logik läßt Troeltsch unbefriedigt. Ich hebe dies hervor, nicht um Troeltsch zu bekämpfen, sondern weil ich auf die U e b e r e i n s t i m m u n g mit ihm in den l o g i s c h e n Grundbegriffen der Geschichte Wert lege.

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Tatsächlich gibt es auch viele historische Darstellungen, in denen diese Art, einmalige Werdegänge aufzufassen, vorherrscht. Ganze Richtungen der Geschichtswissenschaft sind dadurch charakterisiert, daß der Historiker mit seinen inhaltlich bestimmten sittlichen, ästhetischen, religiösen Wertmaßstäben den geschichtlichen Vorgängen gegenüber w e r t e n d Stellung nimmt, ja, von solcher positiven oder negativen Wertung ist faktisch wohl kein Geschichtswerk vollkommen frei, und sie tritt sogar recht leidenschaftlich gerade bei einigen Historikern auf, die nicht genug hervorheben können, daß mit Werten die | Wissenschaften es überhaupt nicht zu tun haben. Nicht nur Schlossers Geschichtsschreibung kann als Beispiel für eine Darstellung gelten, die typisch für die angegebene Art des Wertens ist, sondern auch das Verfahren Taines ist hiervon nicht prinzipiell verschieden, so wenig dieser Historiker nach seinem Programm, Geschichte zu schreiben, wertend Stellung nehmen dürfte. Jedenfalls, wir stehen hier vor einer Art der Verknüpfung des historischen einmaligen Werdeganges mit Wertgesichtspunkten, die der wirklich vorhandenen Geschichtswissenschaft nicht fremd ist, und keine Logik der Geschichte wird sie daher als ganz unberechtigt bezeichnen dürfen. Zumal die politische Geschichte bekommt nicht selten gerade durch sie ihren besonderen Reiz. Trotzdem können wir auch bei ihr nicht stehen bleiben, denn unter dem Gesichtspunkt eines logischen I d e a l s der r e i n wissenschaftlichen Geschichte sind die positiven oder negativen Wertbeurteilungen, die, um gültig zu sein, die Geltung eines inhaltlich bestimmten Wert m a ß s t a b e s voraussetzen, ebensowenig die Aufgabe des Historikers, wie der Ausdruck seiner Ueberzeugung über die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit transzendenter Mächte des Guten oder Bösen zu seiner Aufgabe gehört. Wir haben bereits gesehen: der w i s s e n s c h a f t l i c h e Wert einer Darstellung muß von der wertenden Stellungnahme des Darstellers u n a b h ä n g i g sein, weil so allein der Historiker in einer f ü r a l l e g ü l t i g e n Weise zeigen kann, wie es eigentlich gewesen oder geworden ist. Die Verknüpfung eines Werdeganges mit einem Wertgesichtspunkt darf sich bei der r e i n wissenschaftlichen Darstellung einer historischen Entwicklung also wiederum nur so vollziehen, daß das Geschehen in der früher angegebenen Weise rein t h e o r e t i s c h auf einen Wert bezogen wird, wodurch ohne positive oder negative Wertung der historischen Objekte wesentliche von unwesentlichen Bestandteilen in dem einmaligen Werdegang unterschieden werden können. Es heben sich dann aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Ablaufes der Ereignisse bestimmte Stadien heraus und schließen sich zu dem Begriff einer einmaligen Entwicklung zusammen. Das Ganze erhält durch die theoretische Beziehung auf den Wert einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende, insofern die vorangehenden oder nachfolgenden Ereignisse für

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den Wert nicht mehr bedeutungsvoll sind, und zugleich gliedert alles sich in eine bestimmte Reihe von verschiedenen Stadien, die zwischen Anfang und Ende liegen, weil überall dort ein Einschnitt in den kon- | tinuierlichen Fluß des Werdens entsteht, wo die allmähliche Veränderung groß genug geworden ist, um eine andersartige Bedeutung mit Rücksicht auf den leitenden Wertgesichtspunkt der Darstellung zu besitzen. Kurz, das „teleologische“ Prinzip, das die historische oder individualisierende Darstellung eines historischen Prozesses oder eines einmaligen geschichtlichen Werdeganges leitet, ist genau dasselbe wie das, welches wir für die historische Begriffsbildung überhaupt bereits gewonnen hatten. Allein um theoretische Wertbeziehung, nicht um praktische Wertbeurteilung darf es sich bei der rein wissenschaftlichen Darstellung geschichtlicher Veränderungsreihen handeln. Es ist nur nötig, den Begriff des historischen Individuums vom Simultanen auf das Sukzessive auszudehnen, um den Begriff einer rein wissenschaftlich dargestellten historischen Entwicklung zu erhalten. Auch im übrigen gilt von dem so erweiterten Begriff des Geschichtlichen alles das, was wir über das historische Individuum überhaupt gesagt haben. Jede einzelne Entwicklungsreihe gehört als Glied zu einem größeren Zusammenhange oder zu einem Ganzen, und dieses Ganze bildet selbst wieder eine historisch wertbezogene Entwicklung. Schließlich muß das „letzte“ historische Ganze sich als ein einziger einheitlicher Entwicklungsgang ansehen lassen, dessen Begriff aus den Begriffsinhalten aller seiner Teilentwicklungen besteht. Doch sind die Konsequenzen, die sich aus der vorgenommenen Erweiterung des Begriffes vom historischen Individuum ergeben, so selbstverständlich, daß wir sie nicht ausdrücklich zu ziehen brauchen. Es kommt überall nur darauf an, daß bei der Darstellung auch des zeitlich ablaufenden G e s c h e h e n s die theoretische Wertbeziehung von der praktischen Wertbeurteilung geschieden wird. Selbstverständlich soll, wie noch einmal zu betonen ist, das n i c h t heißen, daß ein solches Ideal der nicht wertenden, sondern wertbeziehenden Geschichtsbetrachtung dem Historiker von der Logik e m p f o h l e n werde. Die Logik hat dem Historiker überhaupt keine Vorschriften zu machen, und wenn er über die bloße Wertbeziehung zur Wertbeurteilung in der Weise Schlossers oder Taines hinausgehen w i l l , so ist das sein gutes Recht. Das allein haben wir im Auge, daß der Begriff der rein wissenschaftlichen Geschichte als einer e m p i r i s c h e n Disziplin Entwicklungsbegriffe, die mit Fortschritt und Wertsteigerung verknüpft sind, nicht in sich aufzunehmen hat, weil eine Wissenschaft, die sie benutzt, über das, was empirisch erkannt | werden kann, h i n a u s geht. Man mag ein solches Hinausgehen über das empirisch Erkennbare unter den verschiedensten Gesichtspunkten für höchst empfehlenswert und als eine überwissenschaftliche Bereicherung der Geschichtswissenschaft ansehen, aber man muß ebenso in der Logik

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streng an einem rein wissenschaftlichen Geschichtsbegriff festhalten. Sonst wird man das Wesen der Geschichte als einer empirischen Wissenschaft nicht verstehen. Blicken wir jetzt noch einmal zurück, so haben wir im ganzen nicht weniger als s i e b e n verschiedene Entwicklungsbegriffe gewonnen, die sich in etwas veränderter Reihenfolge auch so auseinander ableiten lassen. Erstens bedeutet Entwicklung soviel wie We r d e n oder G e s c h e h e n überhaupt, und dann ist uns kein wirkliches Sein bekannt, das nicht Entwicklung wäre. Das Material aller empirischen Wissenschaften „entwickelt“ sich in diesem Sinne. Zweitens wird alle Wiederholung von dem, was Entwicklung sein soll, ausgeschlossen, und dann fällt der Begriff der Entwicklung mit dem des Geschehens als der w i r k l i c h e n Ve r ä n d e r u n g zusammen, d. h. wir kommen zu dem, was wir das Historische im denkbar umfassendsten, rein logischen Sinne genannt haben. Drittens tritt zu dem Begriff einer Reihe von Veränderungen der Gedanke hinzu, daß die verschiedenen Teile zusammen ein Ganzes realisieren oder Bedingungen des Endstadiums sind, und dadurch entsteht der umfassendste t e l e o l o g i s c h e Entwicklungsbegriff, den wir auch den k o n d i t i o n a l -teleologischen genannt haben, und bei dem das Wort Telos nichts anderes als das Ende bedeutet, ohne daß irgendeine Verknüpfung mit einem Werte oder der Gedanke eines gewollten Zweckes vorzuliegen braucht. Viertens wird ein einmaliger individueller Werdegang in der Weise zu einer teleologischen Einheit zusammengeschlossen, daß man seine Einzigartigkeit und I n d i v i d u a l i t ä t auf einen Wert rein theoretisch bezieht, ohne positiv oder negativ zu werten, und auf diese Weise verknüpft sich die Einzigartigkeit mit der Einheit eines Werdeganges zu dem historischen Entwicklungsbegriff, der für jede geschichtswissenschaftliche Darstellung unentbehrlich ist. Fünftens kann hierzu noch eine ausdrückliche We r t b e u r t e i l u n g des ganzen Werdeganges oder seiner einzelnen Stadien hinzutreten, die dann immer positiv oder negativ wertend sein muß, und diese geht schon über die rein wissenschaftliche Aufgabe der Geschichte | hinaus, so berechtigt sie unter anderen Gesichtspunkten sein mag. Sechstens läßt sich die Entwicklungsreihe in der Weise betrachten, daß die Zunahme des Wertes ihrer einzelnen Stufen in einem notwendigen Zusammenhange mit ihrer zeitlichen Abfolge steht, wodurch die Entwicklungsreihe zum F o r t s c h r i t t oder zur Wertsteigerung wird, eine Betrachtungsart, deren wissenschaftliche Bedeutung hier problematisch bleiben muß. Siebentens endlich kann der Wert, den die Reihe realisiert, zur Zweckursache gemacht werden, so daß er seine eigene Verwirklichung hervorbringt, wodurch wir dann in das Gebiet der M e t a p h y s i k hineingeraten.

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Der Vollständigkeit halber sei noch bemerkt, daß es sich nicht nur um Entwicklung zum Guten, sondern auch zum Bösen hin handeln kann. Doch bedürfen diese Entwicklungsbegriffe keiner gesonderten logischen Betrachtung, da sie sich formal von den beiden letzten nicht unterscheiden. Entwicklung zum Bösen nennen wir Rückschritt, und der bedeutet dann nur die Umkehrung des Fortschrittes als der Entwicklung zum Guten. Für uns kommt es vor allem darauf an, den v i e r t e n Entwicklungsbegriff als den für die logische Struktur der Geschichtswissenschaften maßgebenden von den übrigen abzugrenzen. Die drei ersten führen allmählich zu ihm hin, genügen aber für unsere Zwecke nicht, weil sie von der Beziehung auf einen Wert frei sind und somit kein Prinzip der Auswahl für die Darstellung eines einmaligen Werdeganges liefern können. Ohne Wertbeziehung kommen wir bei der Auffassung des Einmaligen nicht über bloße Tatsachenfeststellung hinaus, gleichviel ob es sich dabei um ein einmaliges ruhendes Sein oder um ein einmaliges Werden und Geschehen handelt. Die drei letzten Entwicklungsbegriffe dagegen enthalten für uns zu v i e l , d. h. sie gehen über das l o g i s c h e Ideal einer empirischen Geschichtswissenschaft hinaus. Sie sind um so sorgfältiger abzutrennen, als gerade in ihnen die Elemente stecken, die oft irrtümlicherweise für notwendige Bestandteile der individualisierenden Geschichte gehalten werden und daher Veranlassung zu deren Bekämpfung gegeben haben. Aber der jetzt festgestellte Begriff der historischen Entwicklung beantwortet noch immer nicht alle die Fragen, vor die wir durch den Begriff der historischen Kausalität gestellt sind. Wenn die Kausalketten mit Rücksicht auf einen Wert sich auch ebenso als historische In-dividuen auffassen und dadurch begrenzen und gliedern lassen wie | ruhend gedachte historische Objekte, so treibt doch der Begriff der kausalen Verknüpfung immer wieder über die durch theoretische Wertbeziehung hergestellte Einheit und Zusammengehörigkeit der historischen Begriffselemente hinaus. Ja, das gilt sogar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst bildet jede wirkliche Entwicklung ein K o n t i n u u m , und wenn sie nun in bestimmte wesentliche „Stadien“ gegliedert wird, so sind damit zugleich die allmählichen Uebergänge zwischen den Stadien aufgehoben. Die Geschichtswissenschaft kann jedoch solche Lücken nicht stehen lassen, sondern muß sie wieder so mit kausalem Werden ausfüllen, daß die verschiedenen Stadien sowohl mit Rücksicht auf die Werte voneinander getrennt als auch zugleich mit Rücksicht auf den kausalen Zusammenhang miteinander verbunden bleiben. Ueberall aber, wo dies nötig wird, werden Bestandteile der Wirklichkeit dargestellt, die nicht wegen ihrer bedeutungsvollen Eigenart für einen Wert wesentlich sind. In anderer Hinsicht ist der Gedanke an den kausalen Zusammenhang von noch größerer Bedeutung. Wir brauchen nur an das bekannte Wort Schopen-

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hauers zu erinnern, daß die Kausalität kein Fiaker ist, den man beliebig halten lassen kann, und es scheint dann auch das feste Band, das die theoretische Beziehung auf einen Wert um einen Werdegang legt und ihn damit zu einer notwendigen Einheit zusammenschließt, wieder gesprengt zu werden. Jede individuelle Ursache, die wir feststellen, ist selbst ein individueller Effekt, der von neuem seine individuelle Ursache hat, und denken wir daran, daß kein historisches Objekt ohne die individuelle Beschaffenheit einer anderen individuellen Ursache so sein würde, wie es ist, dann wird sich die Beziehung zu dem Werte, die einen Werdegang zu einer historischen Entwicklung macht, auf die individuelle Gestaltung der Vorgänge übertragen, die, ohne durch ihren Inhalt für den Wert wesentlich oder bedeutsam zu sein, kausal mit ihm verknüpft sind. Es muß dann erstens jede Entwicklungsreihe in die Vergangenheit zurückverfolgt werden, und zweitens scheint sie, wenn unser Kausalitätsbedürfnis befriedigt sein soll, nicht nur in der Längendimension, sondern auch in der Breitendimension zu wachsen, denn ein geschichtlicher Werdegang ist nicht nur in jedem Stadium von vorangegangenen Ereignissen, sondern auch von gleichzeitig mit ihm ablaufenden Vorgängen kausal bestimmt. Wir werden also noch einen neuen Begriff einführen müssen, um die logische Struktur der Darstellung historischer Entwicklungsreihen | vollständig zu verstehen, und zwar ist es notwendig, daß wir zwei Arten von historischen In-dividuen auseinanderhalten. Die einen haben eine direkte, die andern eine indirekte, d. h. durch den kausalen Zusammenhang v e r m i t t e l t e Beziehung auf den leitenden Wert, und so können wir von p r i m ä r e n und s e k u n d ä r e n historischen Individuen sprechen. Im einzelnen wird es nicht immer leicht sein, anzugeben, welche historischen Objekte zu der einen, welche zu der andern Art gehören. Es kann vorkommen, daß unter dem einen leitenden Wertgesichtspunkt ein Individuum primär historisch wird, dem unter einem andern lediglich eine sekundär historische oder überhaupt keine geschichtliche Bedeutung zukommt. So kann z. B. Friedrich Wilhelm I. für die Geschichte der P h i l o s o p h i e nur ein sekundäres Interesse besitzen, insofern er die Schicksale Christian Wolffs beeinflußt hat, für Preußens p o l i t i s c h e Geschichte dagegen ein eminent primäres historisches Individuum sein. Von wenigen Individuen wird man sagen können, daß sie unter jedem Gesichtspunkt, von vielen dagegen, daß sie unter keinem Gesichtspunkt eine primär historische Bedeutung haben. Schillers Vater wird z. B. lediglich in der Geschichte der deutschen Literatur behandelt werden und in dieser nur als ein sekundär historisches Individuum anzusehen sein, d. h. als ein Mann, der uns nicht interessieren würde, wenn er nicht eben Schillers Vater wäre. Auf jeden Fall aber ist die Scheidung von primären und sekundären historischen Individu-

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en begrifflich eindeutig, sobald wir daran festhalten, daß für einen bestimmten leitenden Wertgesichtspunkt die eine Art der Objekte unmittelbar durch die Eigenart ihrer inhaltlichen Mannigfaltigkeit sich zu In-dividuen zusammenschließt, bei der andern dagegen das historische Interesse an ihnen erst durch das Mittelglied der kausalen Verbindung entsteht, die zwischen ihnen und den unmittelbar wesentlichen oder primären historischen Individuen vorhanden ist. Durch diese Scheidung wird dann auch das relative Recht des Gedankens anerkannt, der dem Prinzip der Wertbeziehung dadurch zu entgehen sucht, daß er das historisch Wesentliche dem historisch „Wirksamen“ gleichsetzt. Ein Te i l dessen, was der Historiker in seine Darstellung aufnimmt, gehört in der Tat nur deswegen in sie hinein, weil es wirksam gewesen ist, d. h. primär historische Vorgänge kausal beeinflußt hat. Andererseits aber zeigt gerade die Scheidung des primär vom sekundär Historischen, wie u n z u r e i c h e n d das Prinzip der | „historischen Wirksamkeit“ für sich a l l e i n sich erweist, sobald es gilt, das historische Auswahlprinzip zu formulieren. Nur ein Te i l des historisch Wesentlichen darf als das „historisch Wirksame“ bezeichnet werden, und ohne die theoretische Wertbeziehung würde auch der Begriff des sekundär Historischen hinfällig. Irgendwelche Wirkungen übt ja j e d e Wirklichkeit aus, und deswegen kann der Begriff der Wirksamkeit nie für sich allein dazu dienen, um zu bestimmen, was historisch wesentlich ist und was nicht. Erst wenn die theoretische Wertbeziehung schon v o r a u s g e s e t z t ist, hat es einen Sinn zu sagen, der Historiker müsse a u c h das in seine Darstellung aufnehmen, was historische Wirkungen ausgeübt hat. Die Worte „historisch wirksam“ haben dagegen für sich allein, falls man nicht bereits weiß, was „historisch“ ist, keine in der Logik brauchbare Bedeutung.143 Läßt sich endlich auch für die sekundär historischen Individuen das Prinzip der Auswahl noch genauer logisch formulieren? Was die Bestandteile betrifft, die zur Ausfüllung der kausalen Lücken zwischen den infolge der Wertbeziehung wesentlichen Stadien einer Entwicklung dienen, so haben wir ein analoges Problem schon einmal berührt, 143

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Ausführlicher habe ich die Unbrauchbarkeit des Prinzipes der historischen Wirksamkeit als des Prinzipes der Auswahl für das historisch Wesentliche in meiner Schrift: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. u. 7. Aufl. S. 93 ff. gegen die Einwände von R i e h l und E. M e y e r dargelegt. Auch hier sei auf einen Satz von Troeltsch hingewiesen, in dem es heißt: „so ist eben das „Wirksame“ selbst in der Hauptsache auf seine Bedeutung für Sinnund Wertverwirklichung zurückzuführen, sogar wenn es ein äußerer Vorgang wie Erdbeben, Hungersnot, Epidemien wäre.“ (Die Bedeutung der Geschichte usw. S. 25.) Das ist ganz „wertphilosophisch“ gedacht, und hätte Troeltsch meinen Begriff des historischen Zentrums mehr berücksichtigt, von dem später die Rede sein wird, so wäre ihm nicht verborgen geblieben, daß von hier aus der Weg zu voller Anerkennung des dem historischen Stoff i m m a n e n t e n Sinnes und Wertgehaltes führt.

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als wir darauf hinwiesen, weshalb die Geschichte als Wissenschaft von der einmaligen Wirklichkeit stets über das, was man historische B e g r i f f s bildung im strengen Sinne des Wortes nennen kann, hinausgehen und zu einer a n s c h a u l i c h e n Darstellung ihrer Objekte zu kommen suchen wird. Handelte es sich damals um die Umkleidung der durch Wertbeziehung notwendigen Begriffselemente mit anschaulichem Material, das die historischen Begriffe bis zu B i l d e r n der historischen Gestaltungen steigert, so dienen die jetzt in Betracht kommenden sekundär historischen Fakta nicht allein der Anschaulichkeit, sondern haben zugleich das k o n t i n u i e r l i c h e kausale Werden begreiflich zu machen, das zu jeder anschaulichen und | individuellen Wirklichkeit gehört. Trotzdem ist es im Grunde genommen dasselbe Bedürfnis der Geschichte nach W i r k l i c h k e i t s n ä h e , das hier befriedigt werden soll. Eine v o l l s t ä n d i g e Darstellung der kausalen Zusammenhänge ist ja prinzipiell ausgeschlossen. Wir können daher in bezug auf das Prinzip der Auswahl des sekundär historischen Stoffes wieder nichts anderes sagen, als daß der Historiker jedes Faktum in seine Darstellung aufzunehmen hat, welches dem angegebenen Zwecke dient, das Geschichtliche als Wirklichkeit eventuell „nacherleben“ zu lassen. Besondere logische Regeln sind für diesen Teil der geschichtlichen Darstellung nicht aufzustellen, und es wird auch niemand sie vermissen.144 Dagegen scheinen größere Schwierigkeiten aus d e n sekundär historischen Bestandteilen zu erwachsen, die außerhalb der durch Wertbeziehung wesentlichen Entwicklungsreihe liegen, und die wir als deren Vor- oder Nebengeschichte bezeichnen können. Wollte man hier mit dem Gedanken Ernst machen, daß für jedes historische Faktum a l l e Ursachen dargestellt werden müssen, von denen seine individuelle Gestaltung abhängt, so würde diese Aufgabe in die extensiv unübersehbare Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit hineinführen, da wir ja, um mit Fichte zu reden, „kein Sandkörnchen von seiner Stelle verrücken können, ohne durch alle Teile des unermeßlichen Ganzen hindurch etwas zu verändern“. Es versteht sich von selbst, daß eine historische Ursachenforschung in solchem Sinne unmöglich ist, und trotzdem stecken in dieser Seite des Begriffes der historischen Kausalität Probleme, die wieder durch den Umstand verdeckt werden, der, wie wir 144

Doch ist hier einer der Ansatzpunkte für die Gedanken, mit denen man auf dem Boden meiner Geschichtslogik allem Berechtigten Genüge tun kann, was z. B. in der Forderung von Troeltsch zum Ausdruck kommt, der meint, für den Historiker sei „die Entwicklung eine innere Bewegung des Gegenstandes selbst, in die man sich intuitiv (!) versenken kann“. Genauer läßt sich dies erst im Zusammenhang mit dem s a c h l i c h e n Begriff der Geschichte bei der Frage des Nacherlebens von fremdem Seelenleben erörtern. Freilich vermag die „Intuition“ in der W i s s e n s c h a f t nur ergänzend zur Begriffsbildung hinzuzutreten und ist insofern l o g i s c h von sekundärer Bedeutung, ebenso wie das bloß intuitiv erfaßte und nicht begrifflich durchdrungene historische Material begriffswissenschaftlich sekundär bleibt. Vgl. unten den IX. Abschnitt: Die irrealen Sinngebilde und das historische Verstehen.

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gesehen haben, dazu beitragen kann, daß in manchen Gebieten der Geschichtswissenschaft ein besonderes Prinzip der Begriffsbildung oder der Auswahl des Wesentlichen überhaupt nicht notwendig erscheint. Man wird vielleicht sagen, eine historische Darstellung, die sich die denkbar umfassendsten Aufgaben stellt, suche tatsächlich die Kausalreihen | so weit wie m ö g l i c h zu verfolgen und höre erst dann damit auf, wenn ihr das Quellenmaterial ausgeht. Aber daß dies nicht richtig ist, ergibt sich aus einer einfachen Ueberlegung. Wir wissen, daß nichts von dem existieren würde, womit die Geschichte es zu tun hat, wenn z. B. das Individuum Erde nicht von dem Individuum Sonne in bestimmter und individueller Weise erleuchtet und erwärmt würde, und dennoch hat der Historiker keine Veranlassung, von diesem Faktor, der a l l e historischen Ereignisse kausal bedingt, ausdrücklich zu handeln. Warum tut er das nicht? Auch dafür muß es Gründe geben, und wir haben also zu fragen, worin sie bestehen. Wie weit die Geschichte die sekundär historischen Kausalreihen verfolgt, ist freilich wie überall, wo die Darstellung das mit Rücksicht auf die Wertbeziehung Wesentliche und Notwendige überschreitet, zum großen Teil der Neigung und Willkür des Historikers überlassen. Nach den unmittelbar mit dem primär Historischen verknüpften Ursachen sucht man in den meisten Fällen, so daß z. B. die Eltern eines historisch wesentlichen Mannes fast immer wenigstens zu sekundär historischen Individuen werden. Im allgemeinen verliert die Vorgeschichte an Interesse, je weiter sie von der durch ihren Inhalt wesentlichen Entwicklung zeitlich abliegt, und ebenso erscheint die Nebengeschichte immer unwichtiger, je mehr die Zahl der sekundär historischen Mittelursachen wächst. Damit ist freilich für die Logik nicht viel gewonnen. Aber es bleibt nur nötig, dem historischen Interesse an der Verfolgung der Kausalreihen i r g e n d e i n e Grenze überhaupt zu setzen, um so den Gedanken zurückzuweisen, es könne der Begriff der historischen Kausalität jemals wieder in die extensiv unübersehbare Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit hineinführen. Daran allein müssen wir denken, daß jede geschichtliche Darstellung eine Reihe von wesentlichen Ve r ä n d e r u n g e n enthält. Absolut unhistorisch, d. h. in keiner Weise auch nur zur Vor- oder Nebengeschichte zu rechnen, werden daher gerade die Ursachen sein, die auf a l l e Stadien der primär historischen Entwicklung g l e i c h bedeutsame Wirkungen ausüben, denn sie sind dann auch von der Geschichte als konstant zu betrachten und verlieren infolgedessen für die Darstellung der wesentlichen Veränderung ihre Bedeutung. So ist, um auf das früher gebrauchte Beispiel zurückzukommen, die individuelle Stellung des Individuums Erde zum Individuum Sonne und die daraus hervorgehende Art der Erwärmung und Beleuchtung während des ganzen zeitlichen Ablaufes der Menschheitsgeschichte ein als konstant

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an- | zusehender Faktor, d. h. er wird für jedes Ereignis der Entwicklungsreihe in derselben Weise als Ursache wesentlich und braucht deshalb von der Geschichtswissenschaft niemals erwähnt zu werden, weil er nicht für die I n d i v i d u a l i t ä t wesentlich werden kann. D. h. die Wirkungen, die er ausübt, sind für alle historischen Vorgänge allein insofern bedeutsam, als diese zu Exemplaren eines alle Stadien umfassenden allgemeinen Gattungsbegriffes werden, und da sie als solche geschichtlich nicht in Betracht kommen, so können auch die Ursachen, die zu ihnen lediglich insofern gehören, als sie Gattungsexemplare sind, nicht einmal sekundär historisch wesentlich sein. Sie werden niemals durch ihre Einzigartigkeit und Individualität eine geschichtliche Bedeutung erhalten. Selbstverständlich ist diese Konstanz der Ursachen relativ, d. h. nur mit Rücksicht auf die Zeitstrecke vorhanden, innerhalb deren sich die historischen Entwicklungsreihen bewegen. Da die Bestimmung der Zeitstrecke aber, wie alle inhaltlichen Bestimmungen, von den Wertgesichtspunkten abhängt, welche die Auswahl des historisch Wesentlichen leiten, so kann auch eine solche Relativität nicht ins Grenzenlose führen, und mehr brauchen wir für eine formal logische Abgrenzung des historischen Stoffes nicht. Solange z. B. die Geschichte von Menschen handelt, bleibt alles für sie unwesentlich, was die allgemeine „Natur“ des Menschen bedingt, d. h. es ist zwar für die Geschichte eine selbstverständliche und stillschweigende Voraussetzung, daß die Individuen, von denen sie berichtet, Menschen und als solche mit all dem ausgestattet sind, was ihnen als Exemplaren des allgemeinen Gattungsbegriffes „Mensch“ zukommt, aber der Historiker hat niemals Veranlassung, davon ausdrücklich zu reden, und zu solchen selbstverständlichen Voraussetzungen ist dann ebenso auch die Stellung der Erde zur Sonne zu rechnen. Es hört also hier das historische Interesse wieder an der Stelle auf, an der das naturwissenschaftliche anfängt. Das mag genügen, um den Begriff der historischen Entwicklung auch mit Rücksicht auf die sekundär historischen Bestandteile klarzulegen.

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