Heine und Goethe [Reprint 2019 ed.] 9783111404349, 9783111040875

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Heine und Goethe [Reprint 2019 ed.]
 9783111404349, 9783111040875

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
Einleitung
1. Teil: Das Verhältnis entwicklungsgeschichtlich dargestellt
2. Teil: Das Verhältnis stilkritisch betrachtet
Literatur

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Germanisch und Deutsch S t u d i e n zur S p r a c h e und K u l t u r 7. Heft

Fritz Friedlaender

Heine und Goethe

Heine und Goethe von

Fritz Friedlaender

1932

Walter de Gruyter & Co, vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. B e r l i n und L e i p z i g

Archiv-Nr. 43 03 32 Druck Ton J . J. Angustili io Glückitadt und Hamburg

Dem Andenken meiner Mutter

Vorwort Die nachfolgende Untersuchung versucht den Einfluß Goethes auf Heines Bildungsgeschichte nachzuweisen. Der Text mußte der Not der Zeit entsprechend gekürzt werden. Der zweite Teil der Abhandlung ist bereits erweitert in der Zweimonatsschrift „Der Morgen" (Jahrgang 3, Nr. 4 erschienen. Die Moses Mendelssohn-Stiftung zur Förderung der Geisteswissenschaften hat die Veröffentlichung dieser Schrift durch ihre Beihilfe ermöglicht. Ich sage ihr dafür an dieser Stelle meinen herzlichen Dank. Berlin, im Februar 1932. Der Verfasser.

Inhaltsübersicht Vorwort Einleitung 1. Teil: Das Verhältnis entwicklungsgeschichtlich dargestellt I. Heines Entwicklung bis zum Besuch bei Goethe II. Der Besuch bei Goethe III. Weiterentwicklung des Verhältnisses zu Goethe bis zu Goethes Tode IV. Weiterentwicklung des Verhältnisses zu Goethe bis zu Heines Tode 2. Teil: Das Verhältnis stilkritisch betrachtet I. Heines lyrischer Stil und seine Beziehungen zu Goethe II. Sonstige Einwirkungen Goethes auf Heines Kunst und Weltanschauung Literatur

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Einleitung Es ist das historische Verdienst Heinrich Wölfflins, daß er in seinem Dürerbuche und späterhin in seinen „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen" das Formproblem des deutschen Geistes klar zu bestimmen und scharf zu formulieren versucht hat. In dem letztgenannten Buche heißt es: „Nordische Schönheit ist nicht eine Schönheit des In-sich- Geschlossenen und Begrenzten, sondern des Grenzenlosen und Unendlichen (S. 158)". Daher ist es von jeher das Grundgesetz des deutschen Geistes gewesen, für seine unendliche Ausdruckssehnsucht die geeignete Form zu finden, die schlechthin vollendete Form, die den überreichen Gehalt in der Weise bannte, die man in der klassischen Kunst des Südens als vollendet zu erkennen vermeinte. Dieser Zwiespalt zwischen Ausdruck und Form und dieser Glaube an das klassische Stilideal waren es, die den deutschen Gestalter südwärts trieben, mochte er nun Dürer, Goethe oder Hans von Marees heißen. Der Mangel an einer einheitlichen und allgemeingültigen Form des deutschen Geistes trat aber nirgends so deutlich hervor als in der Beschaffenheit des Instrumentes, das ihm für seinen literarischen Ausdruck zur Verfügung stand: in der Sprache. Die fehlende Geschlossenheit der deutschen Literatur des Mittelalters findet ihren unverhüllten Ausdruck in dem Nichtvorhandensein einer vorherrschenden nationalen Gemeinsprache, denn eine solche ist weder die lateinische Bildungssprache, noch die auf eine exklusive Gesellschaftsschicht beschränkte mittelhochdeutsche Dichtersprache gewesen, wie hoch man auch den Wert der mittelhochdeutschen Poesie veranschlagen mag. In der Folgezeit vermochte weder der Humanismus eine deutsche Bildungssprache zu schaffen, — denn das Latein seiner Zeit war ja, wie wir aus Eduard Nordens Entwicklungsgeschichte der antiken Kunstprosa ersehen, eine tote Sprache —, noch



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konnte Luther, wie der weit verbreiteten Anschauung entgegen Konrad Burdach nachgewiesen hat, die Anerkennung seiner Sprache als einer nationalen Gemeinsprache restlos durchsetzen. Auch das Zeitalter des Barock hat, so sehr es auch die Tendenz zu einer organischen Kultur in sich trug, keine einheitliche Sprache und Literatur hervorbringen können, denn die wohlwollende Ehrenrettung der modernen Forschung kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Gegensatz zu den gewaltigen architektonischen Leistungen des Barock seine Uterarischen Schöpfungen bei aller Kunstfertigkeit einen erheblichen Mangel an seelischem Gute verraten; und ein Lyriker wie Günther darf doch nur als ein Vorklang des Kommenden gewertet werden. Und wie sehr bildete diese mangelnde sprachliche Einheit zugleich ein Sinnbild für die politischen Schicksale der Nation! Daher ist es kein bloßer Zufall, sondern eine tiefe geschichtliche Notwendigkeit, daß erst zu dem Zeitpunkt eine deutsche Gemeinsprache und auf ihrer Grundlage eine klassische deutsche Literatur entstehen konnte, als, worauf Goethe mit jener berühmten Stelle seiner Selbstbiographie hinzielte, durch die Existenz Friedrichs des Großen ein neuer nationaler Gehalt die schlummernden Keime einer deutschen Kulturentwicklung befruchtete. Vieles lag auf dem Wege, der zu dem ragenden Gipfel der klassisch-romantischen Epoche führte. Wir müssen uns dabei zuerst dankbar an jenen geschichtlich bedeutsamen Vorgang erinnern, der wohl am treffendsten als das Erwachen des Bürgertums zu bezeichnen wäre. Ebenso wie in den westlichen Nachbarstaaten das System des politischen Liberalismus, das aus der Naturrechtslehre des XVIII. Jahrhunderts hervorgegangen war, eine Erziehung des Bürgers zum öffentlichen Leben durchführte, wurde auch der deutsche Bürger in seinem Selbstbewußtsein gestärkt und lernte sich als einen wesentlichen Faktor der geschichtlichen Entwicklung empfinden. Weniger auf politische Rechte, als auf den Erwerb von Bildung war fürs erste sein Sinn eingestellt; geistig mündig wollte er sein, und er durfte es als den schönsten Erfolg seiner Bildungs-



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bestrebungen verbuchen, daß von den beiden Grundmächten seines geistigen Daseins, von der Aufklärung und von dem Pietismus, die beiden Männer gespeist wurden, die wegbereitend die Grundzüge der neuen Epoche festlegen sollten: Lessing und Klopstock. Lessing war nicht nur der Führer in dem großen Emanzipationskampfe, der schließlich die deutsche Literatur von der Herrschaft des Auslands befreite, er gab auch unserer Literatur dasselbe, was bereits die Größe eines Voltaire innerhalb der französischen Literatur ausgemacht hatte: den Begriff des grand écrivain, die Vorstellung einer schriftstellerischen Persönlichkeit, die lediglich durch literarische Wirkungsmittel eine führende Rolle im öffentlichen Leben zu spielen in der Lage ist. Hierzu wird sie aber nur imstande sein, wenn sie zugleich als Bannerträger einer neuen Weltanschauung auf den Plan tritt, wie es auch bei Voltaire und Lessing dei; Fall ist, die als Propheten der Aufklärungsbewegung ihre geschichtliche Geltung erlangt haben. Aufklärung bedeutete einen radikalen Bruch mit den traditionellen Lebensmächten, sie bedeutete eine derartige Revolution der selbstherrlichen Vernunft, daß ein Kulturpsychologe wie Ernst Troeltsch erst mit ihr die Überwindung der konventionellen Gebundenheit des Mittelalters gegeben sah. So vielseitig Lessing nun im Dienste dieser Aufklärung wirkte, bahnbrechend wirkte er doch vor allem als Verkünder eines neuen Ethos, denn der Kern seiner Größe liegt, wie Goethe wundervoll empfunden hat, in seinem Charakter. Die Kritik der Aufklärung an der Kirche und ihren Einrichtungen war aber keineswegs gleich bedeutend mit einer Abkehr vom religiösen Empfinden, vielmehr bricht parallel mit der Aufklärung eine echte und tiefe religiöse Bewegung innerhalb der bürgerlichen Kreise sich Bahn: der mit Elementen der altdeutschen Mystik durchsetzte Pietismus, dessen erhabenster poetischer Ausdruck Klopstock wurde, der seinerseits das Verdienst erwarb, den Begriff der dichterischen Persönlichkeit für seine Zeit erneuert und zur Geltung gebracht zu haben.



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Soviel war bereits erreicht: die Freiheit des Denkens und die Freiheit der dichterischen Empfindung; aber diese Errungenschaften zu den Ausmaßen einer universalen Weltund Lebensbetrachtung erweitert zu haben, war doch erst das Werk des vielseitigsten Geistes der Epoche: Herders. In diesem größten schöpferischen Anreger unserer Literatur brauste die unvergleichliche Leidenschaft des Erlebens und Empfindens, die über die Vermittlung Hamanns aus der Seelenglut der deutschen Mystik in ihn eingeströmt war; deshalb verwarf er die Gesetze und Regeln, die sogar einem Lessing noch als unveräußerliches Gut erschienen waren, weil er nur das Sich-aus-leben der produktiven Begabung als oberstes Gebot anerkannte. Er, der als erster die „Mär der Weltgeschichte" deutlich vernahm, empfand die Poesie nicht mehr als literarischen Betrieb, sondern als „Welt- und Völkergabe" ; darum wies er die aufstrebenden jungen Talente nachdrücklich auf die reichste poetische Welt, auf Shakespeare, hin. Aber diese krampfhaften Versuche der Stürmer und Dränger, eine deutsche Form gewissermaßen auf dem Wege der Unform zu erzwingen, trugen von vornherein den Keim des Mißlingens in sich, denn so groß auch die Titanen begannen, zu dem ewig Guten, ewig Schönen zu leiten, war der Götter Werk. Der deutsche Geist erlahmte in der Bemühung, aus eigenen Elementen seine Welt zu errichten; er begab sich daher auf die traditionelle Suche nach einer deutschen Form im Süden, und er fand sie — ob zu seinem Heile, bleibe unerörtert — in dem Stilideal der Antike vorgebildet. Es handelte sich aber dabei nicht um ein graziöses Formenspiel, wie es etwa in der Beeinflussung des Rokoko durch römischklassische Formen vorliegt, sondern die Idee der hellenischen Kalokagathie wurde durch Männer wie Winckelmann, W. v. Humboldt, Moritz, Goethe, Schiller und Hölderlin ästhetisch in den Begriff der harmonischen Persönlichkeit und ethisch in die Humanitätsidee umgesetzt, wobei letztere, was sich Sprangers Nachweisen unschwer entnehmen läßt, geradezu den Charakter und die Wertgeltung einer ethisierten Religion



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erhielt . ; ) Reine Menschlichkeit wurde das Losungswort dieser klassisch gerichteten Geister, das sie zugleich als Bildungsproblem ihrer Epoche stellten, deren politische und auch kulturelle Unfertigkeit in einem störenden Mißverhältnis zu jenem ethisch hochgestimmten Ideal stand. Dieses Prinzip führte naturgemäß zu einer völligen Ablehnung des Naturalismus. Hatte man noch in der Genieperiode versucht, soziale Probleme anzuschneiden, so flüchtete man nun vollends in des Ideales Reich; und der unverfälschteste Ausdruck dieses Strebens ist wohl Hölderlin gewesen. Freilich begünstigte die große Philosophie der Zeit durch ihren antinaturalistischen Charakter jene Tendenz, war doch ihr stolzer von der Vernunftkritik über die Natur- und Identitätsphilosophie zur Philosophie des Geistes führender Siegeszug eine ebenbürtige und innerlich nächst verwandte Parallelerscheinung zu der Entwicklung der deutschen Literatur von Klopstock bis Kleist. Gerade die innige Verschmelzung und wechselseitige Befruchtung von Dichtung und Philosophie begründet den Anspruch, den diese Epoche auf historische Größe erheben darf; denn ihre literarische Produktion erschöpft sich nicht in einer rein artistischen Formenwelt, sondern es war, worauf Troeltsch hingewiesen hat, „das Wesen dieser großen Poesie, bei aller poetischen Phantasietätigkeit zugleich eine Weltund Lebensanschauung zu sein." (S. Kultur der Gegenwart I, IV, i, 2, 702). Der unermeßliche Ertrag, der sich aus diesem Lebensbunde der klassischen Poesie und der Philosophie des Idealismus ergab, läßt sich an seinen Früchten deutlich erkennen, namentlich an jener überreichen und vielfältig-zwiespältigen Frucht, die als das wertvollste und zugleich merkwürdigste Erzeugnis dieses einzigartigen Lebensbundes angesprochen werden muß: der Romantik. Die Frage nach dem Sinn und Wert dieser großen geistigen Bewegung steht gegenwärtig derart im Mittelpunkt der geistesgeschichtlichen Forschung, l

idee.

) Vgl. Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitäts-



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daß Julius Petersens „Wesensbestimmung der deutschen Romantik" sie mit gutem Grunde für das zentrale Problem der modernen Literaturwissenschaft überhaupt erklären durfte. Vielleicht muß es als eine einseitige Beschränkung der überaus zahlreichen und sich scharf widersprechenden Theorien über die Romantik angesehen werden, daß sie allzustark von literarhistorischen Voraussetzungen ausgehen und ihre Auffassung nicht so sehr nach allgemeingeschichtlichen Merkmalen quellenmäßig begründen, wie man es etwa einem nachdrücklichen Hinweise Rankes zufolge tun könnte, der gegen Ende seines Essays „Die großen Mächte" von einer „Verjüngung des nationalen Geistes im ganzen Umfange der europäischen Völker und Staaten" spricht. In der Tat war doch entsprechend ähnlich gerichteten geschichtlichen Werdeprozessen auch die Romantik, auf ihre ursprünglichen Elemente zurückgeführt, vor allem eine schöpferische Jugendbewegung, die geistige Revolution einer genialen Jugend, deren fortzeugende Kraft ein Betrachter wie Friedrich Gundolf geradezu in der Apotheose der Bewegung an sich gegeben sieht.1) Es ist nun aber entscheidend, daß diese Bewegung nicht, wie die von der populären Aufklärung bis zu Schmitt-Dorotic laufende antiromantische Kritik behauptet, eine Angelegenheit eines auf sich selbst beschränkten Iyiteratenkreises blieb, sondern daß sie durch ihr lösendes Wort Tendenzen entfesselte, die — was wahrscheinlich Ranke andeuten wollte — im Schöße dieses europäischen Zeitalters ihrer Entbindung harrten. Nichts Geringeres als eine Neugestaltung der überkommenen Welt hatte mit prometheischer Vermessenheit Friedrich Schlegel im Sinne, als er in dem berühmten Zentralfragment des „Athenäums" verkündete, die romantische Poesie sei eine progressive Universalpoesie. Kühn und einschneidend waren die Neuerungen dieser geistigen Conquistadoren, von denen bloß die wesentlichsten namhaft gemacht seien: wollte der klassizistische Neuhumanismus nur den Geist der Antike als echten x ) Vgl. das Schlußkapitel seines Buches „Shakespeare und der deutsche Geist"; und neuerdings seine „Romantiker".



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Bildner des modernen Iyebens anerkennen, so griffen die Romantiker darüber hinaus auf das christlich-ritterliche Mittelalter zurück und drangen über die romanische Geschichtswelt sogar bis zum Orient vor, um diese Bildungsgüter in den Dienst ihrer Idee eines Kulturaufbaues zu stellen; hatte der Klassizismus in dem harmonischen und naiv gedachten Kunstwerk das höchste Ziel gesehen und zu diesem Zwecke eine streng normative Ästhetik aufgestellt, so erging sich die Romantik, ihrer fragmentistischen Art entsprechend, in einer Anarchie der Formen und erhob durch die Lehre von der romantischen Ironie die „absolute Willkür des Dichters" über die Zufälligkeit des künstlerischen Gebildes; ließen die Klassiker, in dem selbsterbauten Reich des schönen Scheines wohnend, die Dinge dieser Welt auf sich beruhen, so durchbrachen die Romantiker durch ihre Ethik des autonomen Subjektivismus die Schranken der bürgerlichen Moral und stellten das zwischen dem Einzelnen und dem Staat und der Gesellschaft bestehende Verhältnis zum soziologischen Problem. „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg", hatte das religiöse Genie eines Novalis verkündet; und hierin lag tatsächlich die Größe der Romantik, daß sie, dem antinaturalistischen Grundzug ihrer Epoche getreu, die Wirklichkeit durch die Macht der Innerlichkeit umzugestalten hoffte. Aber in dieser Größe lag zugleich ihr Todeskeim beschlossen, denn die im XIX. Jahrhundert einsetzende Rehabilitation der Materie, die Rechtfertigung der Diesseitswerte, deren deutlichste Zeugen etwa Hegel, Feuerbach, Schopenhauer und die westeuropäischen Positivisten sind, mußte notwendigerweise zum Untergang der Romantik führen. Nur ein literarisches Genie trotzte siegreich dieser unerbittlichen Umwertung der geschichtlichen Werte, weil seine geistige Existenz, — deren unvergleichliches Wesen sich darin aussprach, daß sie in allen Situationen sichere Gegenwart darstellte, — zugleich infolge einer beispiellosen Entwicklungsfähigkeit die Mächte der Vergangenheit und der Zukunft in sich barg. Wollte man über ihn reden, so



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müßte man wohl mit dem Worte beginnen, das er selbst voller Ehrfurcht auf Shakespeare anwandte: man kann über ihn gar nicht reden, es ist alles unzulänglich! Durchlief seine von der Aufklärung über den Sturm und Drang zu der klassischen Kunst führende dichterische Entwicklung derart alle Stationen dieser doch auch sonst unermeßlich reichen Epoche, daß neuerdings Korff mit gutem Rechte ihren Charakter als „Geist der Goethezeit" definieren durfte. 1 ) Der Ertrag dieses im Geiste ewiger Jugendlichkeit wunderbar vollbrachten Lebens war so unerschöpflich, daß Friedrich Schlegel das eine Hauptwerk dieses Lebens, den „Wilhelm Meister", neben der französischen Revolution und der Fichteschen Metaphysik als das größte Ereignis seiner Zeit erklären durfte; während das andere Hauptwerk durch die klassisch-romantische Phantasmagorie „Helena" das Wesen der beiden herrschenden Stilrichtungen genial auf die höchste Form brachte und überdies der Faust am Ende des zweiten Teils die Verfassung des X I X . Jahrhunderts prophetisch vorausverkündete. Goethes Persönlichkeit und Werk bedeutete somit den großartigen Abschluß der idealistischen klassischromantischen Epoche; mochten die Altäre noch so hochstehender Götter gestürzt werden, dieser eine hielt stand und zwang jede nachfolgende Strömung, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Daher mußte auch für den Mann, in dessen Person der modernen psychologisch-realistischen Kunst eine der stärksten und eigenartigsten dichterischen Begabungen erstand, die Stellung zu Goethe ein Kardinalproblem seiner Lebens- und Kunstanschauung bilden; und der Geschichte dieses Verhältnisses haben wir uns zuzuwenden, nachdem wir den Zustand der deutschen Literatur in einem Zwiespalt zwischen dem idealistischen und naturalistischen Stile befindlich gesehen haben. *) Vgl. Geist der Goethezeit. I. Sturm und Drang 1923, II. Klassik 1931,

Erster Teil I. Die Bedeutung des Dichters Heine innerhalb der deutschen • Geistesgeschichte wird dadurch gekennzeichnet, daß er die Wandlung von der idealistischen Goethezeit zu der realistischen Geistesverfassung des XIX. Jahrhunderts — eine Wandlung, die nicht etwa nur eine peripherische Übergangskrise, sondern eine große geschichtliche Umwälzung war — in seiner Persönlichkeit und Kunst am bedeutsamsten dargestellt hat. Gerade infolge dieser Zugehörigkeit zu zwei getrennten Lagern der geschichtlichen Entwicklung und daher nicht allein wegen der divergierenden moralischen Bewertung seiner Existenz schwankt sein Charakterbild in der Literaturgeschichte; daher ist Scherer, der sein Wesen vollends in der Romantik wurzeln läßt, genau so im Rechte wie andererseits etwa Brandes und Proelss, die in Heine den führenden Kopf der jungdeutschen Bewegung zeichnen. „Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet"; mitten hineingestellt in den unvermeidlichen und schmerzensreichen Erziehungsprozeß, der das deutsche Volk aus der weltbürgerlich-ideologischen Sphäre der Romantik zu der nationalstaatlich-realpolitischen Tatsachenwelt Bismarcks führte, hat Heine dieses Schicksalsgesetz seiner Zeit klar empfunden und hat dem hieraus folgenden Geschehen, das er mit wissenden Augen durchschaute, in seinen dichterischen und schriftstellerischen Äußerungen einen tiefgreifenden Kommentar gewidmet. Eben hierdurch erweist er seinen persönlichen Rang, daß er die Entwicklungstendenz seiner Zeit als eine geschichtliche Notwendigkeit zu verstehen versuchte, daß er nicht etwa wie z. B. die zarten Ästheten der schwäbischen Dichterschule unmutig und scheu den drängenden Problemen der Zeit aus dem Wege ging oder gar ihre Meinung teilte, daß der erste Lokomotivenpfiff das Ende der Poesie bedeute, 2 Friedlaender, Heine und Goethe.



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sondern daß er mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit stehend, die gewaltigen sozialen Fragen, die das Zeitalter der beginnenden Industrialisierung aufwarf, in dichterischer Vision erfaßte. Diese Fähigkeit stempelt ihn zum politischen Denker, aber mochte er auch seines Wesens Fülle in die politisch-polemische, literarisch-kritische oder ästhetisch-intellektualistische Provinz aufteilen, überall bewies er doch nur seine urdichterische Natur. Diese leidenschaftliche Anteilnahme an den Dingen der Zeit und der Umwelt hat Heine stets als die Triebfeder seiner literarischen Produktion zu schätzen gewußt, so durfte er noch 1852 mit berechtigtem Stolze vor einem Besucher behaupten: „Ich habe alle Phasen des modernen Denkens und Fühlens durchgemacht — ich war Werther, René, I,ara, Faust, Mephistopheles — ich habe mich mit Hegel, dem größten Himmelsstürmer, zur Selbstvergötterung verstiegen —ich habe mich in die traumhaften Abgründe mystischer Exstase gestürzt — ich brach mit der Literatur des Weltschmerzes — ich stimmte selbst mit ein in den wilden Chor des Jungen Deutschlands — man nennt mich mit vollem Recht den Chorführer des Sensualismus — ich habe das ganze Universum durchmessen und es mit einem zarten Schleier der Ironie verhüllt. — (Vergi. Houben, Gespräche S. 843)". Eine solche Natur, die derartig die Inhalte ihrer Zeit in sich aufnimmt und verarbeitet, muß sich selbstverständlich stets gedrängt fühlen, Rechenschaft abzulegen; sie muß dichten, um, wie der tiefgründige Psycholog Ibsen erkannte, über das eigene Ich Gerichtstag zu halten. Sie muß weiterhin in dem Streben, die Elemente ihres Wesens zu scheiden und zu entwickeln, festzustellen suchen, welche bereichernden Kräfte und fruchtbringenden Anregungen ihr aus dem geschichtlichen Vätererbe zugeflossen sind. Hierbei war es nicht mehr als naturgemäß, daß eine solche Feststellung von selbst zu einer Klärung des Verhältnisses führen mußte, das gegenüber einem Manne bestand, der die dichterische Kraft der Nation derart in sich dargestellt hatte, daß die erstaunende Mitwelt geradezu den „Statthalter des poetischen.Geistes auf Erden"

in ihm zu sehen vermeinte. Dieser von unversieglicher Lebenskraft und rastloser Schaffenslust erfüllte Mann bedeutete nichts Geringeres als ein Sinnbild der schöpferischen Kraft des Menschen überhaupt; ihn nennen, hieß sich zu der Sendung des deutschen Geistes bekennen; die Stellung zu ihm wurde ein deutsches Bildungsproblem. Weil nun Heine mit jeder Faser seines Wesens ein Deutscher und zwar ein schöpferischer Deutscher war, mußte ihm die Existenz Goethes zum Gegenstand seines Selbstklärungsprozesses werden; das Goetheproblem hat ihn daher auf den verschlungenen Wegen seines Lebens stets begleitet. Der junge Heine wuchs in einer Umgebung auf, die, falls man sie zusammenfassend charakterisieren wollte, vor allem durch zwei Umstände gekennzeichnet wird: durch seine rheinische Heimat und durch seine jüdische Stammeszugehörigkeit. Hier in dem herrlichen Rheinland wurde bereits in dem empfänglichen Gemüt des Knaben der Sinn für die wunderbare Schönheit der deutschen Landschaft geweckt, die späterhin seine lyrische Kunst zu nie ermüdendem Lobpreis begeistern sollte; hier lernte er ferner die hoffnungsvollen Ansätze eines freiheitlichen und bewußteren Volkslebens kennen, die vornehmlich der liberalen Gesetzgebung des Mannes, der das Schicksal dieses europäischen Zeitalters in der Hand hielt, zu verdanken waren. Das Bild des Helden, das in der leidenschaftlichen Seele eines jeden jugendlichen Menschen glüht, nahm daher für den jungen Heine im wesentlichen die Züge Napoleons an; und dieser Verehrung Napoleons als des schlechterdings heroischen Menschen hat er, unbewußt auf Goethes Spuren wandelnd, für das deutsche Empfinden den ergreifendsten und würdigsten Ausdruck gegeben. Aber dieser Sohn des Rheinlands ging zugleich aus einer Glaubensgemeinschaft hervor, die innerhalb der gesamtdeutschen Lebenseinheit die schmerz- und wechselvollsten Schicksale durchgemacht hatte; die, obwohl sie insbesondere hier am Rheine seit der fernen Römerzeit ansässig war, dennoch in ihrer nationalen Zugehörigkeit grausam beeinträchtigt worden war, und die ihre Gleichberechtigung,

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schmerzvoll genug, erst der französischen Fremdherrschaft zu verdanken hatte. Diese Ausnahmestellung hat in dem Leben Heines, der als erster großer Dichter deutscher Zunge aus dem Kreis jener Glaubensgemeinschaft in die moderne Welt eintrat, eine tragische Furche gezogen; aber wie innig sich Rheinisches und Jüdisches in ihm mischten und zur untrennbaren Einheit verschmolzen, das zeigt sein unvollendetes Meisterwerk „Der Rabbi von Bacherach". Heine empfing somit in seinem Elternhause die Eindrücke, die aus einer jahrhundertelangen religiösen und kulturellen Überlieferung genährt wurden; ferner berührten bereits wesentliche Bildungsmächte seinen aufnahmebereiten Sinn, wenn auch die eigentlichen Grundlagen seiner geistigen Entwicklung erst später gelegt werden sollten. So wurde er durch die Einwirkung seiner hochgebildeten Mutter damals schon mit Goethe bekannt, denn Betty Heine war eine lebhafte Verehrerin dieses Dichters, und sie hat allem Anschein nach diese Vorliebe ihren Söhnen mitgeteilt : berichtet doch Max Heine in seinen Erinnerungen aus seiner Primanerzeit von der Bewunderung der „Römischen Elegien", und will er doch diese Bewunderung an seinen berühmten Bruder Heinrich weitervermittelt haben. Dieser geniale Jüngling hatte inzwischen seine Unfähigkeit, im bürgerlich-praktischen Leben Fuß zu fassen, in den Augen seiner berufstüchtigen Verwandten genügend dargetan; er hatte in der gleichen Zeit, wo sein kaufmännisches Berufsexperiment scheiterte, auf Grund tiefer erotischer Erlebnisse und Erfahrungen seine Weihe zum Dichter empfangen. Nun wollte es eine günstige Schicksalsfügung, daß er, von der Familie zur Betreibungeines „Brotstudiums" abkommandiert, während dieser akademischen Laufbahn, die er der Not gehorchend als Jurist und dem eigenen Triebe nach als Germanist zurücklegte, in jahrelanger Arbeit seine Weltanschauung aufbauen konnte. Als er zuerst die heimatliche Universität Bonn bezog, traf es sich für ihn glücklich genug, daß er sich in die Schule eines der bedeutsamsten Wortführer der romantischen Bewegung begeben konnte. August Wilhelm Schlegel



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erwarb das von Heine späterhin leider verkannte Verdienst, die hohe dichterische Begabung seines Schülers erkannt und ihn durch reiche Belehrung auf metrisch-didaktischem und literarisch-kritischem Gebiet stark gefördert zu haben. Er, der große Literarhistoriker und Meister des künstlerischen Übersetzens, verkörperte ja in seiner Person die fruchtbringenden Tendenzen der Romantik; ungemein kulturfördernd mußte daher der Umgang mit ihm sein, wobei nach altem romantischem Brauche der Hinweis auf Goethe nicht fehlen durfte. Wie erheblich der Bildungszuwachs war, den der gelehrige Schüler von dem aus vollen Händen spendenden Meister empfing, dafür besitzen wir ein bedeutsames Zeugnis in dem 1820 entstandenen Aufsatz „Die Romantik", der überhaupt für den damaligen Kulturzustand seines Verfassers höchst bezeichnend ist. Hatte Schiller den Gegensatz zwischen der antik-objektiven und der modern-subjektiven Poesie in den Begriff der naiven und der sentimentalischen Dichtung zu fassen gesucht, so machte sich Heine diese Unterscheidung zu eigen, indem er diesen begrifflichen Gegensatz zwischen plastisch und romantisch, wie er es nennt, zwar festhält, aber — dies ist seine bedeutsame Neuerung — die Berechtigung dieses Gegensatzes für den wahrhaft großen Künstler in Abrede stellt. Bereits hier kann man die I^ehre von dem sensualistischen und dem spiritualistischen Dualismus, die Heines gesamtes Denken durchzieht, wahrnehmen, wenn auch diese Begriffe noch nicht direkt verwendet werden; wobei allerdings jetzt noch beide Ideenrichtungen als gleichberechtigt angesehen werden. Auf der einen Seite wird das Altertum als die Geburtsstätte der plastischen und auf der anderen Seite das orientalische Christentum als die Wiege der romantischen Poesie in Anspruch genommen; die wahre poetische Meisterschaft wird aber in der Vereinigung der beiden Kunstprinzipien gesehen, wofür Goethe und A. W. Schlegel das schönste Beispiel bieten sollen, weil sie, die beiden größten Romantiker, zugleich die größten Plastiker seien (VII, 151). Die überschwengliche und später grausam korrigierte Wert-



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Schätzung A. W. Schlegels erklärt sich aus der unfertigen Lage des damaligen Heine; es ist der übliche Lobpreis, den der geistig noch nicht selbständige Schüler dem verehrten Meister zollt; dagegen beweist das gleichzeitige Urteil über Goethe, daß Heine sich über die einzigartige Stellung dieses Mannes bereits im klaren war. Er führt im einzelnen den „Faust", die Lyrik, die Elegien, sowie „Iphigenie" und „Hermann und Dorothea" an: dies ist ein Beweis, wie eindringlich er die Werke des Dichters, dessen Größe er durchaus zutreffend auf der Verschmelzung des plastischen und des musikalischen (romantischen) Elementes beruhend empfand, zum Gegenstand seines Studiums gemacht hatte; fallen doch in diese Zeit auch jene vergnüglichen Scherzverse, mit denen er seinem jüngeren Bruder Max ein Exemplar des „Faust" überreichte (vergl. Houben, Gespräche S. 25). Es konnte bei einer so ungewöhnlich künstlerischen Natur wie Heine nicht anders sein, als daß er die Lektüre der Goetheschen Dichtungen nur in der Weise betrieb, daß er zugleich zu einem selbsterworbenen Urteil gelangen durfte: so nahm er im folgenden Jahre, Sommer 1821, die Besprechung der Tragödie „Tassos Tod", die ein unbedeutender Literat namens Wilhelm Smeets verfaßt hatte, zum Vorwand, um seine Meinung über die Eigenart des dramatischen Stils von Goethe niederzulegen. Hierbei bezeichnet er in völlig richtiger historischer Erkenntnis die attischen Tragiker, Shakespeare und sodann Lessing als die Vorstufen des Goetheschen Dramas; Überraschenderweise wird auch in die dramatisch-theatralische Welt des Mimus im Vorbeigehen bereits ein Blick getan. Von erstaunlicher Schärfe ist seine Einsicht über die Entwicklung des Dramas bis auf Goethe: den Griechen habe die moderne Kunst des Charakterdramas noch gefehlt, weil nämlich die Helden ihrer Dramen allgemein bekannte Charaktertypen gewesen wären; das moderne Drama hätte sich aber nicht mit der Darstellung bloßer Handlungen und Leidenschaften begnügen können, sondern in der Charakterschilderung die ihm gemäße Ausdrucksform finden müssen. Dies hätten Shakespeare und nach ihm Lessing getan;



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während diese beiden aber die Schilderung von Handlungen, Leidenschaften und Charakteren verschmolzen hätten, läge Goethes Bedeutung darin, das reine Charakterdrama geschaffen und namentlich die Zeichnung künstlerischer Naturen gepflegt zu haben (VII, 164). Diese feinsinnige Beobachtung beweist, in welchem Maße Heine in das Wesen der dramatischen Technik Goethes sich hineingefühlt hatte, die ja darin bestand, eine psychologische Entwicklung vorwiegend lyrisch-dialogisch abzuwandeln. Soweit war Heine schon in der Erkenntnis Goethes fortgeschritten, als ihn sein Lebensweg an die Stätte führte, die für seinen Bildungsgang und insbesondere für seine Beziehung zu Goethe von größtem Einfluß werden sollte: Berlin. In der preußischen Hauptstadt ließ er sich von dem Wellenschlag des ungewöhnlich regen und fruchtbaren Geisteslebens tragen, das von der in hoher kultureller Blüte stehenden Universität und Gesellschaft ausströmte. In den Räumen der Universität wurde ihm das schlechthin entscheidende geistige Erlebnis zu teil durch einen gewaltigen Denker wie Hegel, der die Keime seiner universalen Lehre vom absoluten Geiste derart tief in die Seele des Schülers senkte, daß die aufgeworfenen und niemals vollends beantwortbaren Fragen bis an das Lebensende Heines Denken beschäftigt haben. Gewiß gehörte auch er zu den Schülern, die das Wort des Meisters für ihre Person eigenwillig auslegten : die großartige Theorie vom logischen Zusammenhang der Welt und der geschichtlichen Entwicklung hat weniger auf ihn Eindruck gemacht als der letzten Endes revolutionäre Solipsismus, den er entsprechend der junghegelianischen Linken der Hegeischen Idee eines Kulturfortschritts entnehmen zu dürfen glaubte. Das zweite große Erlebnis vermittelte ihm der gesellschaftliche Verkehr der Stadt, als er in den Bannkreis jener Persönlichkeit trat, die er selbst als die „geistreichste Frau des Universums" bezeichnet hat: Rahel Varnhagen. An der Seite ihres Gatten, des klugen und haltungsvollen Diplomaten und Schriftstellers Varnhagen von Ense, hat diese wunderbare



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Frau im gemeinsamen Gedankenaustausch mit ihrem gleichempfindenden Manne das Reich Goethes auf Erden verbreitet, indem sie deutlich empfand und verkündete, daß Goethe nicht nur als unvergleichlicher Dichter und Weiser, sondern als eine in das individuelle Leben hinübergreifende Kulturmacht angesehen werden müsse. Goethes Art und Kunst zur Richtschnur der menschlichen Lebensgestaltung zu machen, das erschien ihr als innerster Beruf und Leitgedanke, unter den sie die Ausstrahlungen ihres reichen Geistes stellte. Unter diesem Gesichtspunkt nahm sie nunmehr die ästhetische und ethische Erziehung des jungen Heine, über dessen dichterische Begabung sowohl sie als auch ihr Gemahl einer Meinung waren, in ihre feste Hand. Die große Anregerin und Kennerin der Menschen und ihrer Schicksale erkannte treffsicher, daß dem unbeständigen Charakter Heines vor allem Stetigkeit und E m s t not tue; über das wechselseitige Verhältnis berichtet sie selbst in ihrer entzückenden Art: „Heine wurde uns vor mehreren Jahren zugeführt . . d a er fein und absonderlich ist, verstand ich ihn oft, und er mich, wo ihn andere nicht vernahmen, das gewann ihn mir; und er nahm mich als Patronin. Ich lobte ihn wie alle, gern; und ließ ihm nichts durch, sah ich's vor dem Druck: doch das geschah kaum; und ich tadelte dann scharf. (Brief an Gentz, 9. Okt. 1830; vergl. Houben, Gespräche S. 3 8 ) . " Da nun das beherrschende Dogma des Hauses Varnhagen Goethe lautete, konnte Rahel kein leuchtenderes Vorbild vor das Auge des jungen Poeten stellen als ihn; aber von ihrer subjektiven Art, Goethes Dichtungen durch Einfühlung in die Seele ihres Schöpfers nachzuleben, war der junge Stürmer und Dränger noch weit entfernt, weil ihm bei seiner Vorliebe für moderne Zeitideen bisweilen Lessing, Herder und Schiller mehr als der abgeklärte Goethe zusagten. (Vergl. Brief an Sethe, Hirth Bd. I, S. 145). E r beugte sich zwar der überlegenen Meinung seiner auf Goethe schwörenden Freunde, ohne sich jedoch zu der widerspruchslosen Höhe ihrer Goetheverehrung erheben zu können; immerhin ist der Begleitbrief, mit dem er sein im Dezember 1 8 2 1 erschienenes



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Gedichtbuch an Goethe sandte, ein Zeugnis dafür, von wie starkem Einfluß dieser Goethekult auf ihn gewesen ist. Dieser Brief spricht unbedingt die Sprache der Aufrichtigkeit, er gesteht ehrfürchtig seine Liebe und Dankbarkeit für den Meister; um so schmerzlicher berührt es uns, daß Goethe ihn unbeantwortet ließ (vergl. Hirth Bd. I, S. 174/175). Der nunmehrige Stand seines Verhältnisses zu Goethe wird am deutlichsten ersichtlich aus den gleichzeitigen „Briefen aus Berlin" (1822), einem Stück Anfängerprosa, dem noch recht wenig der künftige Meister der „Reisebilder" anzumerken ist. Diese munteren und witzigen Schilderungen aus dem Leben der Residenz zeigen, daß ihr Verfasser sich noch keine abschließende Meinung über Goethe gebildet hatte, sondern sein eigenes Gefühl erst gegenüber dem Varnhagenschen Einfluß rechtfertigen mußte. Er gesteht, daß Goethes Name in aller Munde sei, kann sich aber mit seiner vornehmen Haltung nicht befreunden, obwohl es andererseits seinem Dichterstolze wohltut, daß Goethe der lärmend inszenierten Angelegenheit seines Frankfurter Denkmals mit kühler Ablehnung begegnet sei (VII, 577). Die Nachwirkung des Verkehrs mit Varnhagen wird weiterhin dadurch ersichtlich, daß er ihn, den man irrtümlich für den Verfasser der Pustkuchenschen „Wanderjahre" gehalten habe, für einen der größten Verehrer Goethes erklärt, dem dieser sogar für seine Bemühungen höchstes Lob gezollt habe; um welchen Umstandes willen er ihn lebhaft glücklich preist. Nur ein einziges selbständiges, aber um so bemerkenswerteres Urteil enthalten diese Betrachtungen: Heine kommt auf Goethes Selbstbiographie zu sprechen und erkennt mit sicherem Instinkt den besonderen Charakter dieses Werkes darin, daß es nicht wie etwa die Bekenntnisse Rousseaus nur die eigene Person im Auge habe, sondern im Rahmen der eigenen Lebensgeschichte zugleich die Zeitgeschichte wechselseitig erhelle; und wenn er in ihm „gleichsam ein großes Zeitepos" sieht, so ist damit der Begriff Dichtung und Wahrheit aufs glücklichste umschrieben (VII, 593). Dieser untrügliche Einblick in das Wesen der künstlerischen Kompo-



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sition von „Dichtung und Wahrheit" ist daher als ein weit ausholender Schritt auf dem Wege zur Erkenntnis Goethes anzusehen. Der Samen, den Varnhagen und seine Rahel als unermüdliche Priester der Goethe-Begeisterung streuten, war in Heines Innerem auf fruchtbaren Boden gefallen. Von nun an häufen sich die Äußerungen über Goethe in seinen Briefen und Gesprächen, weil dieses Problem, nachdem es ihn einmal gepackt hat, ihn nicht eher verläßt, als bis er sich im Interesse der eigenen künstlerischen Entwicklung über das, was ihm dieser Dichter bedeutet, endgültig Rechenschaft abgelegt hat. Ähnlich wie den grünen Heinrich in Gottfried Kellers Roman drängte es ihn nunmehr, als er sich im Mai 1823 aus dem großstädtischen Treiben in das stille Lüneburg zurückgezogen hatte, eine Gesamtvorstellung von Goethes Persönlichkeit zu erhalten; darum scheute er nicht die Mühe einer umfassenden Lektüre, über die er am 2 7 . 1 1 . 1 8 2 3 an den befreundeten Dichter Ludwig Robert, den Bruder der Rahel, berichtet: „Sie können kaum glauben, wie artig ich mich jetzt gegen Frau von Varnhagen betrage — ich habe jetzt, bis auf eine Kleinigkeit, den ganzen Goethe gelesen!!! Ich bin jetzt kein blinder Heide mehr, sondern ein sehender. Goethe gefällt mir sehr gut (vergl. Hirth, Bd. I, S. 267)." Nicht nur um ihres tatsächlichen Inhaltes willen ist diese Briefstelle bedeutsam, sondern wir erfahren auch durch sie, daß Heine auf Grund der Lektüre in den Stand gesetzt wurde, Goethes gesamte Existenz unter einen gemeinsamen Begriff zustellen: den des Heidnischen. Die Wirkung, die Goethes Schriften auf ihn ausgeübt haben, sieht er vor allem in der klaren Erkenntnis des eigenen heidnischen Wesenselementes: der erdhaften Religiosität und Weltfrömmigkeit eines antikischen Menschen begegnet er bei Goethe, hierdurch gewinnt in seinem Auge das Bild des apollinischen Goethe, das die Geschichte der deutschen Goetheauffassung bis auf George beherrscht, deutlich Gestalt. E r wußte wohl, wer ihm den Anstoß zu dieser Erkenntnis gegeben hatte, deshalb rissen auch während seiner ziemlich verworrenen Lüneburger Zeit



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die Fäden, die ihn mit dem Hause Varnhagen in Berlin verknüpften, nicht ab. Die während jener Zeit gewonnene Ansicht beschäftigte ihn so sehr, daß er sie, wie Varnhagen am 20. 7. 1823 mitteilt, in einem Buche niederlegen wollte (vergl. Houben, Gespräche S. 54), aber aus diesem Buche ist nur ein Aufsatz geworden, der, für Varnhagens Anthologie „Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden" bestimmt, wegen verspäteten Eintreffens nicht aufgenommen wurde und leider verloren gegangen ist (vergl. Hirth, Bd. I S. 229). Gewiß wird in diesem Aufsatz die neue Anschauung über Goethe, die jene Briefstelle andeutet, genauer ausgeführt gewesen sein; und gerade diese eigenwillige Anschauung dürfte vielleicht, wie Heine vermutet, Varnhagen verstimmt und zur Ablehnung des Aufsatzes veranlaßt haben (vergl. Hirth, Bd. I, S. 247). Denn während der Heinesche Goethe die Züge eines Apostels der antik sinnüchen Weltmoral anzunehmen begann, war der Varnhagensche Goethe im wesientlichen der humane Bürger und gemessene Weltmann des X V I I I . Jahrhunderts. Die Wertschätzung Goethes, die bei freilich andersseitiger Begründung doch beiden Männern gemeinsam war, bildete auch ein Bindeglied zwischen Heine und dem Dichter, in dem er einen „hohen Mitstrebenden" verehrt hat: Immermann. In dem gleichzeitigen Briefwechsel gesteht er, eine unbedachte Äußerung vom 24. 12. 1822 abgerechnet, dem Freunde seine Diebe zu Goethe; er vergleicht Immermanns Kunst wegen ihres Formenreichtums mit dem Werke des Meisters (vergl. Hirth, Bd. I, S. 188, 208, 2 1 1 , 226); er wird nicht müde, die Kunstform Goethes zu studieren und sich an ihr zu schulen; so wenig er auch die Errungenschaft der antiken Metrik sich zu eigen machen kann (vergl. Brief an Zunz bei Hirth, Bd. I, S. 240 und M. Heine bei Houben, Gespräche S. 56/57). Aber nicht nur auf den Dichter selbst, sondern auch auf die geistige Bewegung, die er entfesselt hatte, richtet er sein Augenmerk: er verfolgt die etwa seit K . E. Schubarth einsetzende wissenschaftliche Goetheliteratur; er läßt durchblicken, daß ihm das Varnhagensche



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Sammelwerk als ein etwas unkritischer Panegyrikus erscheine ; er beschäftigt sich mit den Schriften, die Immermann und Schütz dem leidigen Zwischenfall der Pustkuchenschen Fälschungen gewidmet hatten; er liest ferner Eckermanns soeben erschienenen „Beiträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe", worin dieser treueste Jünger das Bild des klassisch geruhsamen Goethe skizziert hatte. „Ach! wie gern möcht' ich den Goetheschen Befreiungskrieg mitmachen als freiwilliger Jäger —", diesen Ausruf lesen wir in dem oben erwähnten Briefe an Robert! Und dieser Stoßseufzer ist zugleich ein Selbstbekenntnis! Er zeigt, daß Heine, wenn er Goethes geschichtliche Sendung so eigenartig deutete, auf der richtigen Fährte war; er verlangte nach dem Goethe, der selber ein Befreier von Philistemetzen sein wollte; es war aber die tragische Paradoxie dieses gegenseitigen Verhältnisses, daß sich gerade jener Goethe ihm verschloß, so daß er ihn, je mehr er ihn suchte, desto weniger fand. II. Mit Heine wurde innerhalb unserer Literatur die neue Form einer schöpferischen Individualität sichtbar; deshalb konnte er sich auch nicht mit der allgemein herrschenden Meinung, wie sie ihm in der Goethe-Apotheose des Varnhagenschen Kreises und in den literarhistorischen Bemühungen der aufkeimenden Goethe-Philologie entgegengetreten war, zufrieden geben; sondern, weil in ihm neues geschichtliches Leben das Recht auf Existenz und Geltung erhob, mußte er sich über das von Goethe empfangene Erbe klar werden und außerdem für seine eigene Art Anerkennung und Bestätigung fordern. Weder als blinder Anbeter, noch als reiner Genießer oder gar als kritischer Nörgler nahte er Goethe, sondern als Schaffender; und zwar als Schaffender von hohem Wertbewußtsein. Denn mochten seine undramatischen Tragödien nur interessante Ausläufer des romantischen Dramas sein, so hatte er doch in seinen Jugendgedichten eine erotische Lyrik gegeben, die in der sub-

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jektiven Wahrhaftigkeit ihres Tonfalls der Iyiebespoesie eines Catull und eines Goethe in nichts nachstand. Der bürgerlichunpraktische Dichter führte, von Examenssorgen beunruhigt, ein unstetes Wanderleben, bald in Hamburg, bald am Meere, bald in Göttingen, bald in Berlin. Aber wohin er sich auch immer wandte, überall begegnete er den Spuren der Wirkungen Goethes: als er im Januar 1824 abermals in Göttingen eintraf, da lenkte der ihm befreundete Historiker Sartorius seine Aufmerksamkeit wiederum in diese Richtung; als er ferner zu Ostern desselben Jahres Berlin besuchte, da befand er sich zum zweiten Male im Brennpunkt der Goetheverehrung. Noch war das Gestirn, zu dem die Zeitgenossen begeistert aufblickten, nicht erloschen; daher wurde in Heine, wie in manchem anderen Mitlebenden der Wunsch rege, Goethe persönlich aufzusuchen. Im Herbst des Jahres begibt er sich zur Erholung auf seine seither unvergänglich gewordene Harzreise; am 1. Oktober steht er vor Goethe. Es war der Höhepunkt in der Geschichte des hier zu beschreibenden Verhältnisses; zugleich ein Wendepunkt! Und es mutet wie eine tragische Ironie an, daß gerade hier das Quellenmaterial die Auskunft verweigert und zu Mutmaßungen zwingt. Nachempfinden können wir jedoch die ehrfürchtige Stimmung, die den jungen Dichter erfüllte, als er dem ruhmgekrönten Meister nahte; sie ist durchaus dem überschwänglichen Gefühle, das der junge Hölderlin für den verehrten Heimatgenossen Schiller hegte, vergleichbar. Außer seiner ersten Gedichtsammlung hatte er im Mai 1823 seine zweite Veröffentlichung „Tragödien nebst einem lyrischen Intermezzo", als „ein Zeichen seiner tiefsten Verehrung" an Goethe geschickt. Wollte man diese Widmung nur für eine konventionelle Floskel halten, so würde diese Meinung gründlichst widerlegt durch den ergreifenden Brief, mit dem Heine am 1. Oktober 1824 seinen Besuch bei Goethe anmeldete. Genau betrachtet verrät dieser Brief ebenso ein stammelndes Liebeswerben wie die erschütternden Zeilen, mit denen sich Kleist „auf den Knieen seines Herzens" an Goethe wandte. (Vergl. Hirth, Bd. I, S. 331)•

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„Ew. Exzellenz bitte ich, mir das Glück zu gewähren, einige Minuten vor Ihnen zu stehen. Ich will gar nicht beschwerlich fallen, will nur Ihre Hand küssen und wieder fortgehen. Ich heiße H. Heine, bin Rheinländer, verweile seit kurzem in Göttingen und lebte vorher einige Jahre in Berlin, wo ich mit mehreren Ihrer alten Bekannten und Verehrer (dem sei. Wolf, Varnhagens & c.) umging und Sie täglich mehr lieben lernte. Ich bin auch ein Poet und war so frey, Ihnen vor drey Jahren meine „Gedichte" und vor anderthalb Jahren meine „Tragödien" nebst einem lyrischen Intermezzo (Ratcliff und Almansor) zuzusenden. Außerdem bin ich auch krank, machte deshalb auch vor drey Wochen eine Gesundheitsreise nach dem Harze, und auf dem Brocken ergriff mich das Verlangen, zur Verehrung Göthes nach Weimar zu pilgern. Im wahren Sinne des Wortes bin ich nun hergepilgert, nemlich zu Fuße und in verwitterten Kleidern, und erwarte die Gewährung meiner Bitte, und verharre mit Begeisterung und Ergebenheit H. Heine." Weimar, den i. October 1824. Am nächsten Tage empfängt ihn Goethe, und damit wird die Begegnung, auf die Heine ein außerordentliches Gewicht gelegt hatte, zum Ereignis. Sie wird zu einem geschichtlichen Ereignis, das immer wieder berufene und unberufene Geister beschäftigt hat und noch beschäftigen wird! Wie ist, so haben wir zuerst zu fragen, die Aussage der Quellen beschaffen? Von Goethes Hand liegt lediglich die lakonische Tagebuchnotiz „Heine von Göttingen" vor; nichts weiter. Umso begieriger fahnden wir nach den daraufbezüglichen Mitteilungen in Heines Briefwechsel; aber auch hier werden wir enttäuscht. Kein begeisterter Niederschlag des vorangegangenen heißersehnten Erlebnisses, sondern nur verlegene und widerspruchsvolle Äußerungen werden uns zuteil. Erst am 25. Oktober erstattet Heine dem treuen Freunde Moses Moser Bericht; überraschenderweise hören wir kein Wort über den



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Besuch bei Goethe, sondern nur Anerkennendes über die Verpflegungsverhältnisse in Weimar (vergl. Hirth Bd. I, S. 337). Eine deutliche Verlegenheit ist in dieser ausweichenden Wendung spürbar; auch in dem nächsten, am 30. X . 1824 an Moser gerichteten Briefe wird mit keiner Silbe Goethes gedacht; erst am ix. Januar des folgenden Jahres gesteht er ziemlich kleinlaut, es genüge nicht, ein poetisches Genie zu sein, wie er es sei, sondern man müsse wie Goethe Genie und Talent vereinigen (vergl. Hirth Bd. I, S. 338/40). Hierbei läßt sich nur schwer entscheiden, welche Rolle in Heines Terminologie der Begriff Talent spielte; gewiß wollte er behaupten, daß nicht die bloße Begabung, vielmehr die Art ihrer Anwendung den Ausschlag gäbe. Jedoch wir brauchen nicht erst zwischen den Zeilen zu lesen, um den Grund seines Schweigens in seiner Enttäuschung über den Besuch zu finden, weil er sich, einer Mitteilung von Adolf Peters zufolge, nach seiner Rückkehr im Göttinger Freundeskreise unverhohlen über den „ungebührlich kalten" Empfang beklagt hat (vergl. Houben, Gespräche S. 91). Moses Moser scheint mit der erhaltenen Auskunft nicht zufrieden gewesen zu sein und seiner Wißbegierde haben wir es daher zu verdanken, daß Heine, allerdings erst in einem Briefe vom 1. Juli 1825, sich zu einer Rechtfertigung seines Verhältnisses zu Goethe genötigt sah. Er weist ziemlich mißmutig auf „recht viel Freundliches und Herablassendes" hin, womit ihn Goethe bedacht habe, im übrigen will er nur einen Mitleid erregenden Schatten seiner einstigen Größe an ihm wahrgenommen haben; weit wichtiger sind die Schlußfolgerungen, die er aus diesem Eindruck zieht, er vergleicht sein Wesen mit dem Goetheschen und stellt die Heterogenität beider Naturen fest, weil Goethe als ein leichter Iyebemensch nur den Lebensgenuß als Höchstes kenne, der das lieben für und in der Idee wohl zuweilen fühle und ahne und in Gedichten ausspreche, aber nie tief begriffen und noch weniger gelebt habe, während er, Heine, ein bis zur Aufopferung begeisterter Schwärmer für die Idee sei, der, wenn auch der Zwiespalt zwischen der schwärmerischen Neigung und dem Lebensgenüsse in ihm bestehe,



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vielleicht in einem Momente mehr und glücklicher lebe als Goethe während seines langjährigen egoistisch behaglichen Lebens (vergl. Hirth Bd. I, S. 367). Denselben ungemein wichtigen Gedankengang hatte Heine schon vorher, am 26. Mai, seinem Freunde Christiani auseinandergesetzt: er stellt hier Goethe als den Meister der schönen und ausgeglichenen Lebensführung hin, während ihm, Heine, dieses eigentlich Praktische zuwider sei, weil er im Grunde das Leben geringschätze und trotzig hingeben möchte für die Idee; hiermit begründet er seine Abneigung gegen Goethes Werke, so hoch er sie auch in künstlerischer Hinsicht verehre; aber er muß ebenfalls gestehen, daß bei ihm selbst die lebensbejahende Vernunft mit seiner angeborenen Neigung zur Schwärmerei im Kriege liege; überraschenderweise gleitet er jedoch hier über die persönlichen Umstände des Besuches nicht hinweg, vielmehr erwähnt er sein Erschrecken über Goethes Aussehen und andererseits Goethes tief menschliche Besorgnis wegen seiner Gesundheit (vergl. Hirth Bd. I, S. 360/361). Soviel läßt sich aus diesen unschätzbaren Zeugnissen vorderhand für die Beurteilung jener Begegnung entnehmen, daß sie nämlich keine flüchtige Episode, sondern für die Entwicklung der Weltanschauung Heines epochemachend gewesen ist. Walzel hat das, was Heine mit tastenden Worten anzudeuten sucht, als den die Zeit beherrschenden Widerstreit zwischen impressionistischer und systematischer Weltbetrachtung großzügig erklärt (Einl. z. seiner Ausgabe von Heines Werken); wir möchten im Anschluß daran annehmen, daß hier von dem Gegensatz zwischen klassischer und romantischer oder, um in Heines Sprache zu reden, zwischen sensualistischer und spiritualistischer Lebensanschauung gehandelt wird. Heine gibt offen zu, daß diese beiden Ideenmächte gleich zwei feindlichen Seelen in seiner Brust wohnten; er ist sich ferner wohl bewußt, daß erst das Zusammentreffen mit Goethe ihm über die Doppelpoligkeit seiner eigenen Natur Klarheit verschafft habe. Er, der Sohn eines Zeitalters der wiedererwachten Leidenschaft, hatte in seinem Innern den

Widerspruch zwischen Vernunft und Leidenschaft, Erfahrung und Idee, Verstand und Gefühl, zwischen einer rationalen Lebensform der Weltheiligung und einer supranaturalen Lebensform der Entmaterialisierung auszutragen. Dementsprechend hat er, je nachdem er im Verlauf seines Daseins der einen oder der anderen Ideenmacht huldigte, die Existenz Goethes entweder nach der antik-heidnisch-sensualistischen oder nach der schwärmerisch-spiritualistischen, ja, sagen wir christlichen Seite hin interpretiert; und die Untersuchung wird zu zeigen haben, wie bis zuletzt die eine Auffassung der anderen den Rang streitig gemacht hat. Goethe hat somit Heine unbewußt und ungewollt über seine Wesensbeschaffenheit belehrt; aber gerade die aktive Teilnahme an seinem Schicksal, die der junge Dichter in ihm zu erregen suchte, hat er ihm nicht gewährt. Wenigstens spricht aus Heines spärlichen Andeutungen eine offensichtliche Enttäuschung, und tatsächlich hat ja diese Begegnung nichts Direktes nach sich gezogen, weder einen gelegentlichen Briefwechsel, geschweige denn einen persönlichen Verkehr. In welchem Umfange hatte Goethe wohl eine Vorstellung von der Persönlichkeit Heines? Walzel antwortet: „Ich glaube kaum, daß Goethe schon damals eine sichere Vorstellung von Heine und von Heines Wesen hatte (Voss. Ztg. Sonntagsbeilagen 1895, 39 und 40)." Bekanntlich hat Goethe die beiden Erstlingswerke Heines zugesandt erhalten, ob er sie aber gelesen hat, läßt sich nicht ermitteln; jedenfalls mahnt Goethes schnellfertiges Urteil über Gustav Pfizers Gedichte zur Skepsis. Gewiß vermutete er in dem jungen Poeten einen Sprößling der von ihm mißbilligten romantischen Gefühlspoesie; daß jedoch die jüdische Abkunft des Besuchers sein Urteil bestimmt habe, vermögen wir nach den Untersuchungen, die neuerdings Heinrich Teweles und Julius Bab veranstaltet haben, nicht anzunehmen. Dagegen läßt sich mit ziemlicher Bestimmtheit behaupten, daß der ohnehin zu nervösen Indispositionen neigende Heine in Goethes Gegenwart von jener Befangenheit befallen wurde, der, worauf Walzel hinwies, auch Grillparzer bei seinem Besuche unterlag; freilich 3 Friedlaender, Heine und Goethe.



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hat Walzel außerdem die Ursache des mißglückten Besuches als in Heines Charakter liegend hingestellt: „Im Verkehr mit ganz großen Männern widerfahren ihm alle Fehlgriffe, die anspruchsvolle, zur Eitelkeit neigende, ihres inneren Wertes zu wohl bewußte Jünglinge begehen, vor allem der schlimmste: demütige, übertrieben zur Schau getragene Huldigung und daneben ein unversehens hervorbrechendes Wort, das den Größeren, Älteren, Anerkannten wie einen Gleichgestellten vom Standpunkt innerer Ebenbürtigkeit behandelt. Das mag Goethe gefühlt und deshalb mag er Heine abgelehnt haben. (Einl. z. s. Ausg. von Heines Werken XXIII)." Hierbei scheint aber der gerecht abwägende Forscher gleichfalls dem Eindruck jenes Berichtes erlegen zu sein, der bis in weite Kreise des literarisch interessierten Publikums hinein gekannt und geglaubt zu werden pflegt: wir meinen jene vielberufene Schilderung, die Max Heine und ihm folgend Maria Embden-Heine (Erinnerungen an Heine, 1881, S. 64) über den Besuch in Umlauf gebracht haben. Danach sei das Gespräch erst über belanglose Gegenstände geführt worden, bis dann auf Goethes plötzliche Frage, womit er sich zur Zeit beschäftige, Heine ebenso schnell geantwortet habe: mit einem Faust, worauf Goethe die Unterhaltung jäh abgebrochen habe (vergl. Houben, Gespräche S. 90/91). Diese Anekdote ist gewiß sehr reizvoll, so daß man an ihrer Wahrheit nur wenig gerüttelt hat, wenn dieser Max Heine nur nicht seiner völligen Unzuverlässigkeit überwiesen worden wäre (vergl. Hirth, Einl. zur Briefausg. S. 34ff. und Houben, Gespräche S. 1013).1) Allerdings gewinnt die Erzählung dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß sich Heine in der Tat während dieser Zeit mit einem Faustplan trug, über den das Tagebuch seines Freundes Eduard Wedekind am 20. Juni und am 16. Juli recht wertvolle und eingehende Aufschlüsse gibt. Demzufolge sollte der Heinesche Faust insofern das genaue Gegenteil ') Zur Steuer der Wahrheit sei vermerkt, daß auch Walzel späterhin in der Erläuterung zu Heines „Paust" (1917) Zweifel an der Brauchbarkeit des Berichtes geäußert hat.



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des Goetheschen Faust werden, als bei Heine nicht Faust, sondern Mephisto das handelnde und positive Prinzip bilden sollte; Faust selbst sollte ein Göttinger Professor sein, der an der Wissenschaft verzweifelnd, auf Abwege gerät; die Verbindung mit der überirdischen Welt sollte burleskerweise durch Teegesellschaften hergestellt werden; über den Ausgang jedoch war sich der Dichter noch ungewiß (vergl. Houben, Gespräche S. 74/75). Ausdrücklich hatte er aber seinem Freunde versprochen, daß er mit Goethe nicht rivalisieren wolle, dabei hatte er das bedeutsame Wort fallen lassen: jeder Mensch solle einen Faust schreiben. Diese auf den ersten Anschein hin paradox klingende Äußerung beweist, wie tief Heine in die Grundidee des Goetheschen Dramas eingedrungen war; er begriff, daß Goethe, indem er ein Sinnbild des ringenden Menschen vor dem Angesicht der Menschheit errichtete, jeden ihrer Angehörigen verpflichtete, den von ihm vorgezeigten Weg innerhalb seines Schicksals noch einmal zurückzulegen ; er begriff ferner, daß er hier ein Urproblem in künstlerisch vollendeter Gestaltung vorfand, daß jeden produktiven Menschen — man denke an die von Hessing zu Grabbe und Lenau führende Linie — zur dichterischen Formung reizen mußte. Es ist nun ein tragisches Mißverständnis, daß Goethe, falls Heine tatsächlich mit seinem gefährlichen Geständnis herausgerückt ist, den ernsten Beweggrund des jungen Dichters verkannte und ihn vielleicht sogar zu der läppischen Schar der Nachahmer seines ,,Faust" rechnete. Wie dem auch sei, jedenfalls bedurfte Heine einer langen Zeit, um die unangenehmen Begleitumstände seines Besuchs zu verwinden, und erst in der begeisterten Schilderung, die er 1833 in der „Romantischen Schule" über die Begegnung entwarf, ist es ihm, um in der Sprache der wissenschaftlichen modernen Parapsychologie zu reden, gelungen, die damit verknüpften Unlustgefühle zu verdrängen. Dennoch möchten wir den hier verarbeiteten Eindruck nicht für eine bloße dichterische Ausschmückung halten, denn ein bemerkenswerter Zug, der bereits in dem Briefe an Christiani hervor3*



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getreten war, hat sich in dem späteren Bilde erhalten: das Erlebnis des Augenmenschen Goethe. Schwerwiegend waren jedenfalls die Folgen, die sich aus Goethes ablehnender Haltung für Heine ergaben: hätte ihm Goethe nur ein wenig Wohlwollen erzeigt, er wäre einer der begeistertsten Bannerträger des verehrten Meisters geworden; nunmehr wurde seine Beziehung zu ihm schwierig, weil er ihm selbst den Zugang zu seinem Herzen versperrt hatte. Indem Goethe, ebenso wie Uhland und Tieck, ihm jede Anteilnahme versagte, wurde er, der — was meistens übersehen wird — ungemein Bejahungswillige, in die Opposition gedrängt, und der Aufenthalt in seinem heißgeliebten Vaterande wurde ihm allmählich verleidet. III. „Goethe", hatte Heine dem Freunde Eduard Wedekind gegenüber erklärt, „ist der Stolz der deutschen Literatur, Schiller der Stolz des deutschen Volkes". Diese merkwürdige Äußerung bildet gewissermaßen das Leitmotiv des zwischen ihm und Goethe herrschenden Verhältnisses bis zu seiner Übersiedlung nach Paris. Sie vertritt kurz gesagt die Meinung, daß Goethe in künstlerischer Hinsicht unbestritten die Führung innehabe — wie ja Heine ihn auch als dramatischen Dichter über Schiller stellte: den „Egmont", sagte er zu Wedekind, habe derselbe nie erreicht —, daß dagegen Schillers Größe darauf beruhe, durch seine Kunst den nationalen Empfindungen und Hoffnungen ein weittragendes Sprachrohr geschaffen zu haben. Heine sah in Goethe vornehmlich den Dichter-Ästheten und in Schiller den Dichter-Politiker. Es ist nun offensichtlich, daß Heine hier nur eine Empfindung in Worte faßte, die allgemein als Tendenz in der Zeit enthalten war. Goethes Persönlichkeit bedeutete eine derart gewaltige Umwälzung im Bezirk der deutschen Geistesgeschichte, daß es nur allzu begreiflich war, wenn die von ihm erregten Wellenkreise sich nahezu ins Uferlose zu verbreiten schienen. Nach der Rückkehr von seiner Wanderfahrt goß Heine



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seine Erlebnisse in jene wunderbare Ausgeburt seiner romantisch verspielten Laune, in die „Harzreise", jene Ouvertüre seines literarischen Unternehmens der „Reisebilder", die seinen Weltruhm begründeten. Da diese „Harzreise" ihrer künstlerischen Anlage nach Fragment bleiben mußte, sind wir leider um eine Schilderung des Besuches bei Goethe, die sich im Anschluß an eine Darstellung der Reise durch Thüringen ergeben hätte, gekommen. Doch suchen wir in dem vorhandenen Text vergeblich einen Nachklang des Unmuts über das vorangegangene Ereignis, vielmehr begegnen wir der Verwunderung des Verfassers darüber, daß das Wort Goethes so tief ins Leben des Volkes eingedrungen sei (III, 24) ; deshalb bemerken wir auch ein entlegenes Werk wie Goethes „Briefe aus der Schweiz" mit der Handlung verflochten (III, 57); wir empfinden bei der Besteigung des Brockens seine Erinnerung an die Walpurgisnacht der „großen mystischen deutschen Nationaltragödie" mit (III, 52); ja, wir treffen in der anfänglichen Fassung sogar auf die Ansicht, daß Goethe die künstlerische Kraft Deutschlands in sich vereinige (III, 512). Demnach ist von einem deutlichen Groll gegen Goethe und von einer Änderung der bisherigen Gesinnung zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu verspüren, auch die privaten Töne einer Mißstimmung werden stummer, als Heine sichtlich erfreut dem Freunde Moser mitteilen darf, daß sein Lehrer Hugo ihn bei der Promotion mit Goethe verglichen habe (vergl. Hirth, Bd. I, S. 368/369). Diese verehrende Stimmung steigerte sich in seinem nächsten Werke, der „Nordsee" (1826), sogar zu offener Begeisterung. Angesichts des herrlichen Meeres, das sein dichterisches Gemüt um einen der tiefsten und befreiendsten Eindrücke bereicherte, drängt sich ihm die Überragende Gestalt Goethes auf und zwingt den hierüber nicht wenig Erstaunten zur heimlichen Zwiesprache. Er gedenkt respektvoll der magischen Grundidee der „Wahlverwandtschaften", sei es auch nur, um eine satirische Schlußfolgerung aus ihr zu ziehen (III, 94); bei seiner Abneigung gegen den Kirchenbesuch kommen ihm jene entlegenen Verse des „Faust" in den Sinn, die er in K. Ph. Moritz' psycholo-



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gischem Romane „Anton Reiser" angetroffen hatte und die seitdem erst durch die „Paralipomena" bekannt geworden sind (III, 95 f.) ; im Anschluß daran gibt er eine tief ergreifende Gesamtcharakteristik des Meisters. Er bemerkt, daß Goethe bereits bei Lebzeiten die größte Begeisterung erweckt habe: aber erst seine Generation, die er das „dritte nachwachsende Geschlecht" nennt, hält er für fähig, seine wahre Größe zu begreifen. Dieselbe sieht er in der nackten Wirklichkeit seines sittlichen Empfindens sowie in dem Vermögen des plastischen Anschauens, Fühlens und Denkens, zu deren Bezeichnung er den Begriff des „gegenständlichen Denkens" wiederaufnimmt; er hält Goethe für eine so unvergleichliche Erscheinung, daß er den schon damals beliebten Vergleich mit Schiller ablehnt; er hebt hervor, wie Goethes klares Griechenauge zum ersten Male im Gegensatz zu Archenholz und Frau von Staël ein objektives und tatsächliches Bild Italiens gezeichnet habe. Er erwähnt, daß dasselbe, Goethe begreifende Geschlecht aber auch einen Tugendpöbel erzeugt habe, der, Schillers Tugend und Reinheit preisend, das Kreuz gegen den großen Heiden predige; er ist sich ferner wohlbewußt, daß spätere Zeiten ganz neue Offenbarungen in Goethe finden werden, zumal ein Kritiker wie K. E. Schubarth nur halbe Arbeit getan habe (III, 96/100). Es verdient als ein besonders wesentlicher Punkt festgehalten zu werden, daß Heine bei dieser Beschreibung Goethes dessen berühmte, von Eckermann überlieferte Unterscheidung des Klassischen und Romantischen sich zu eigen macht; er empfindet Goethe im Gegensatz zu den kranken, zerrissenen, romantischen Zeitgefühlen als gesund, einheitlich und plastisch; hierin sieht er mit Recht das Geheimnis der objektiven und naiven Kunst des Meisters. Diese Wesensanalyse wird sodann in dem gleichfalls 1826 entstandenen „Buche Le Grand" genauer ausgeführt und namentlich Goethes Behandlung des Lebensproblems eingehend glossiert. Heine betont mit sichtlicher Sympathie Goethes Liebe zum Leben, das, wie er tiefsinnig erkennt, ohne Verbindung des Pathetischen mit dem Komischen nicht erträglich wäre, weshalb Goethe, dem er aus-



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drücklich huldigt, den großen Denkerschmerz des „Faust" in Knittelverse gefaßt habe (III, 136, 166, 175). Faßt man diese Feststellung der merkwürdigen autobiographischen Beichte mit den vorher getanen Äußerungen zusammen, so ergibt sich, daß Heine Goethes Existenz im Sinne einer Renaissancemoral deutete, wie sie seit Nietzsche jedermann geläufig ist. Das freie Sichauswirken der Persönlichkeit, die über die Enge der bürgerlichen Moralbegriffe erhaben ist, steht im Blickpunkt dieser Goetheauffassung. Diesen Goethe, der sich selbst als dezidierten Nichtchristen bezeichnet hatte, wollte der jüngere Zeitgenosse für seine Weltanschauung gewinnen; darum sandte er ihm seine ,,Reisebilder" 1826 „als ein Zeichen der höchsten Verehrung und Iyiebe", aber Goethe stieß die werbende Hand wiederum zurück; immerhin scheint er sich jetzt mit Heines Schriften befaßt zu haben, ohne jedoch genau wie bei Kleist von der subjektiv-modernen Art des Verfassers sonderlich angesprochen worden zu sein. Heine hatte, wie wir sehen, bisher gleichmütig und vornehm Goethes Zurückweisung ertragen; nunmehr fühlte er sich aber als der berühmte Verfasser der „Reisebilder"; sein Selbstgefühl empörte sich gegen die erlittene Kränkung, und er begann in seiner Treue zu Goethe zu wanken, wenn er auch keineswegs seinen Unmut in eine so herbe und häßliche Form kleidete wie Kleist. Das lieblose Verhalten Goethes gegenüber seinem Werke trübte leider seinen unbefangenen Blick gegenüber dem Schaffen des Meisters: als damals das Wunderwerk Goethescher Poesie, die „Helena", in die Öffentlichkeit trat, äußerte er sich zu seinen Freunden Merckel und Christiani ziemlich zurückhaltend; er empfindet die Schönheiten im einzelnen, ohne jedoch — obwohl er den Euphorion als Sinnbild der romantischen Poesie tiefsinnig deutet — den eigentlichen Sinn zu erfassen (vergl. Hirth Bd. I, S. 475/77)Inzwischen dürfte er durch Mittelspersonen erfahren haben, daß Goethe sich über ihn ungünstig geäußert habe; nun kann er seinen Groll nicht länger verhehlen: am 30. Oktober 1827 schreibt er gleichzeitig an seine Berliner Freunde



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Moser und Varnhagen: er fände es in der Ordnung, schreibt er dem ersten, wenn er dem „Aristokratenknecht" Goethe mißfalle; Goethes Tadel sei ehrend, seitdem er alles Schwächliche lobe, er fürchte als ein schwacher abgelebter Gott die anwachsenden Titanen; „Wolfgang Goethe mag immerhin das Völkerrecht der Geister verletzen, er kann doch nicht verhindern, daß sein großer Name einst gar oft zusammen genannt wird mit dem Namen H. Heine", mit diesen vermessenen und dennoch wahren Worten beschließt er den zweiten Brief (vergl. Hirth, Bd. I, S. 482/484). Heine hat stets die private von der öffentlichen Mitteilung streng geschieden, deshalb betrachtet er diese für einen vertrauten Freundeskreis bestimmten Äußerungen noch keineswegs als eine offizielle Fehdeansage. Die Scheu davor, zur offenen Auflehnung überzugehen oder gar die Partei der Goethegegner zu ergreifen, vermischt sich mit dem Groll über die von Goethe empfangene Behandlung und schafft jene seltsame Zwitterstimmung, deren merkwürdigstes Zeugnis die 1828 erschienene, eindringliche Besprechung von Wolfgang Menzels Buche „Die deutsche Literatur" bildet. Dieses zum ersten Mal 1828 erschienene Werk war gewissermaßen das Sammelbecken, in dem die größtenteils unsauberen Gewässer der Opposition gegen Goethe ziemlich geräuschvoll zusammengeströmt waren. „Der Mucker hat den grünen Blick auf alle Sexualität", mit diesem Ausspruch eines modernen Schriftstellers läßt sich vielleicht am treffendsten die Gesinnung bezeichnen, aus der heraus diese Schmähschrift konzipiert wurde. Wolfgang Menzel, der als Literaturkritiker sich einen erstaunlichen Einfluß zu verschaffen wußte, ist nur ein besonders deutliches Anzeichen für einen allgemeinen Entwicklungsvorgang, der die ursprünglich freiheitlich eingestellte Burschenschaftsmoral in reaktionärer Verstocktheit und moralisierender Scheinheiligkeit enden ließ; aus leidenschaftlichen Freiheitskämpfern wurden bornierte Kleinbürger, aus heißen Patrioten polternde Vereinsmeier; denn Menzel ist trotz seiner unverkennbar großen Begabung bloß ein Ausdruck jener Renaissance des Philisters,



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deren Aufkommen der Psycholog Heine in seinem „Nordsee"Buche treffend beschrieben hatte. Menzel war namentlich gegen die blinden Anbeter Goethes, die er durchaus richtig als eine „herrschende ästhetische Kirche" hinstellt, zu Felde gezogen; hierdurch mußte sich vor allem Varnhagen getroffen fühlen, deshalb scheint er auf Heine nachdrücklich eingedrungen zu sein, sich nicht etwa durch Menzel, mit dem Heine damals durchaus noch freundschaftlich verkehrte, verführen zu lassen. Daraufhin erteilte ihm Heine am 2 8 . 1 1 . 1 8 2 7 von München aus eine beruhigende Antwort: er stimmt zwar Menzel im allgemeinen zu, lehnt aber die Goethe betreffenden Stellen aufs schärfste ab, er versichert, trotz seiner Verstimmung unfähig zu sein, gegen Goethe Partei zu nehmen, denn der jetzige Gegensatz der Goetheschen Denkweise, den er sehr richtig in einem beschränkten Nationalismus und einem seichten Pietismus sieht, sei ihm am verhaßtesten; deshalb müsse er bei dem großen Heiden aushalten, er wolle ihm sogar bei der Abwehr des ,,Pustkuchentums" behilflich sein; er sieht verständnisvoll ein, daß er kein Recht habe, ihm feindlich gewordene Sterne für bloße Irrlichter zu erklären, er empfindet es überhaupt als Dummheit, „gegen Männer zu sprechen, die wirklich groß sind, selbst wenn man Wahres sagen könnte" (vergl. Hirth, Bd. I, S. 486/87). Diese Briefstelle zeigt eine Reife und Überlegenheit des Urteils, die sich mit wunderbarer Eindringlichkeit von der geläufigen Opposition gegen Goethe abhebt; Heine unterscheidet sich von ihr auch durch eine größere Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit, er will Goethe erst begreifen, ehe er über ihn richtet; deshalb wünscht er am Sylvester 1827 von Merckel genaue Mitteilungen über die von dem — ihm befreundeten — Hamburger Ästhetiker Zimmermann gehaltenen Goethe-Vorlesungen, die er selbst nicht besuchen zu können, lebhaft bedauert. (Vgl. Hirth, Bd. I, S. 494-) Heine fühlte sich nun veranlaßt, seine eigengeartete Goetheauffassung vor der Öffentlichkeit zu vertreten, deshalb nahm er die in den „Neuen Politischen Annalen" (Bd. 27, 3) erscheinende Kritik des Menzelschen Buches nur zum Vor-



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wand, um durch die Feinheit und Besonderheit seiner Ansicht die lahmgewordene Erörterung über Goethe durch eine ungemeine Vertiefung des Problems zu bereichern. Er weist eingangs nicht mit Unrecht darauf hin, daß Goethe seine Stellung eines Königs der Literatur der Bemühung Friedrich Schlegels verdanke; er lehnt späterhin die Vergleichung Schillers mit Goethe durch den Hinweis auf die vollkommene Überlegenheit des letzteren ab; sodann macht er genau wie in dem Briefe an Varnhagen aus seiner Verwerfung des Menzelschen Standpunktes kein Hehl, er mißbilligt die Tonart dieses Kritikers, weil Goethe doch immerhin der König sei. Er verlegt freilich die Gründe für die Feindschaft gegen Goethe in dessen eigene Haltung, er wirft ihm vor, die großen Geister unterdrückt und die mittelmäßigen emporgehoben zu haben; er meint mit sichtlicher Genugtuung, daß die großen Geister trotzdem neben ihn treten würden. Höchst bedeutsam ist weiterhin seine Erklärung der veränderten Zeitstimmung: das Prinzip der Goetheschen Zeit, so folgert er, die Kunstidee, verschwinde; an die Stelle der schönen objektiven Welt trete ein Reich der wildesten Subjektivität, neue frische Geister würden gleich nordischen Barbaren das zivilisierte „Goethentum" beseitigen; dies sei ein Vorgang, den Goethe vielleicht selbst fühle. Er bringt hierauf den großen Gegensatz der Zeiten auf die glänzende Formel: wird Kunst und Altertum imstande sein, Natur und Jugend zurückzudrängen? Er verneint diese Frage ausdrücklich, damit verneint er aber nicht etwa Goethe selbst, dessen Werk und Weltanschauung in ihrer Größe für ihn außer Frage stehen, sondern nur das, was er „Goethentum" nennt, worrunter er die seiner Ansicht nach lebensunfähige klassizistische Kunstrichtung versteht, welcher der alte Goethe durch seine Abkehr von seiner titanischen Jugend- und kampffrohen Manneszeit selber Vorschub geleistet habe (VII, 245f., 253ff.). Es ist unverkennbar, daß mit dieser Rezension, auf die Heine selbst ziemliches Gewicht legte, ein ganz neues Moment in seine Goethe-Betrachtung eingetreten ist. Diese Wandlung ist nur erklärlich aus Heines eigener Bildungsgeschichte: sie



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wird im wesentlichen herbeigeführt durch seine stärker werdende Loslösung von der idealistisch-romantischen Welt, für die er den bedeutsamen Begriff der Kunstperiode prägte, und durch seine lebhafter gewordene Anteilnahme an der naturalistischen Geistesverfassung der neuen Zeit. Fast sämtliche Bekenntnisse Heines aus dieser Zeit stehen unter dem Eindruck jener grundlegenden geschichtlichen Tatsache. Heine erkannte mit unfehlbarem Instinkt das Wesen dieser Tatsache: er sah ein, daß nicht mehr wie in dem Zeitalter Goethes und der Romantik das schöne lieben an sich, die „schöne objektive Welt", den Gegenstand der künstlerischen Gestaltung bilden dürfte, sondern daß die neue Zeit mit ihren gewaltigen Mächten der Politik, Wirtschaft und Technik, mit ihren sozialen Problemen und nationalstaatlichen Regungen, das Programm der Literatur beherrsche und bestimme. Daher übte er hier zum ersten Mal offene Kritik an Goethe, gegen den er einwandte, daß er, alt, mild und zahm geworden, den Geist seiner eigenen Jugend verleugne und daher nicht imstande sei, den aktuellen Problemen, die die neue Zeit in politischer und sozialer Hinsicht stelle, sich verständnisvoll zu nähern. Verkannte er hierbei in verhängnisvoller Weise, daß Goethes Denken diesen praktischen Zeitfragen durchaus nicht aus dem Wege ging, wenn er sie auch nicht durch die ihm verhaßte äußerliche Betriebsamkeit, sondern durch sein Gesetz der inneren Bildung gelöst wissen wollte, so trennte er sich in zwei Punkten doch nach wie vor scharf von dem beschränkten Standpunkt Menzels: er hält Goethe schlechthin für den Gipfel der künstlerischen Entwicklung, er wirft sich zweitens nicht zum moralischen Ankläger auf, er scheint im Gegenteil zu befürchten, daß die glut- und blutvolle Moral eines heidnischen Hedonismus, als deren Zeugen er vordem Goethe pries, nunmehr durch die abgekühlte Selbstzufriedenheit des alten Goethe einerseits, sowie durch die abstrakt kalten Virtuosenkunststücke seiner klassischen Nachzügler andererseits verleugnet werde. Jedenfalls hatte er sich mit dieser durchweg urspriing-

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liehen Auffassung innerlich von beiden Parteien losgesagt und begreiflicherweise ihren beiderseitigen Widerspruch erregt. So sucht er am 6. Juni 1824 in einem Brief an Varnhagen der unausbleiblichen Verstimmung dieses orthodoxen GoethePriesters vorzubeugen (vergl. Hirth, Bd. I, S. 517); danach muß er am 16. Juli in einem recht freundlichen Briefe an Menzel, nachdem er einem vermutlichen Einspruch des Adressaten begegnet ist, berichten, daß man in Berlin seine Ansichten über Goethe am feinsten verstanden und Zeter geschrien habe (vgl. Hirth, I, S. 520). Wie sehr allein um dieser Ansichten willen die Rezension geschrieben wurde, geht aus einem Hinweis an Moser deutlich hervor (vgl. Hirth, I, S. 525). Ferner verdient als ein Beispiel der veränderten Art, Goethe unter dem Eindruck der herrschenden Zeitströmung zu sehen, Heines Auffassung des „Werther", den er Ende 1825 z u m ersten Mal las, festgehalten zu werden: in der Anfang April 1828 geschriebenen Besprechung von Beers „Struensee" meint er, in seiner Zeit würde am „Werther" nicht so sehr der subjektive Seelenroman, als vielmehr das soziale Problem fesseln (VII, 226); eine sehr bezeichnende Auffassung, die bereits in der „Nordsee" anklingt (III, 110). Immerhin konnte Heine auch diese neu gewonnene Ansicht nicht für endgültig halten; vielmehr, als er der Sehnsucht der deutschen Seele nach dem Süden folgend, im Sommer 1828 nach Italien kam, da trat die Gestalt des klassischen Schilderers jenes Landes wiederum so eindringlich vor ihn hin, daß er, die innere Gemeinschaft betonend, für seine große Beschreibung Italiens ein bezeichnendes Motto aus Goethes „Westöstlichem Divan" wählte (III, 210). Schon früher war ihm an Goethes „Italienischer Reise" die überragende Größe dieses Mannes klar geworden; jetzt fand er den bisher nur literarischen Eindruck durch seine Bekanntschaft mit der italienischen Landschaft vollkommen bestätigt. Diese klassische Darstellung berührte ihn in ihrer heiteren Sachlichkeit und überlegenen Anmut geradezu wie ein Werk der Natur; er sagt hierüber: „Die Natur wollte wissen, wie sie aussieht, und sie erschuf Goethe". Er kostet die wunderbare Schönheit



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des Mignonliedes aus, das „mit seufzenden Farben der Sehnsucht" das ganze Italien schildere. Hiermit hat Heine verständnisvoll die Eigenart des künstlerischen Zusammensehens, die den Plastiker Goethe auszeichnet, herausempfunden; aber gerade diese kongeniale Art des Nacherlebens macht ihm die blinde Vergötterung Goethes unerquicklich, die er in Eckermanns „Beiträgen zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe" vollführt sieht und deshalb ihren Verfasser mit einem satirischen Seitenhieb abtut (III, 265f.). Freilich aus einer unterdrückten Stelle der „Reise von München nach Genua" geht klar hervor, daß nicht etwa nur das durchschnittliche geistige Format dieses eifrigsten Goethe-Jüngers ihn zum Angriff reizte, sondern daß etwas Neid dabei mitsprach; er gesteht hier auch in einer poetisch-burlesken Wendung seine Reue über die Rezension Menzels: „Damals hatte ich um Mitternacht das Menzelsche Buch gelesen, und mich in diese literarische Wolfsschlucht so vertieft, daß ich Freikugeln gießen half gegen Goethe selbst. Gott oder Goethe verzeih mir diese Sünde, und erhalte mich gesund, denn wenn ich mich schlecht befinde, bin ich immer antigoethianisch gesinnt (III, 547)." Vielleicht daß mit dieser letzten dunklen Wendung die scheelsüchtige Beziehung des romantisch kranken Künstlers zu dem klassisch gesunden Meister gemeint ist, vielleicht daß auch die Sehnsucht des enthusiastisch-zwiespältigen Schwärmers nach einem rein ästhetisch genießenden Hedonismus laut wird, jedenfalls liegt der Gegensatz zwischen seiner Natur und der Goetheschen in dem Abstand der reinen und ruhigen Klassizität von der subjektiv-romantisch-verworrenen Modernität ihrer beiderseitigen Schilderung Italiens so offen, daß Scherer unschwer die Überlegenheit Goethes behaupten konnte. Aber gerade diese Überlegenheit einer ästhetisch-aristokratischen Lebensharmonie hielt Heine unter dem Eindruck der gewaltigen Mächte der neuen Zeit für unzeitgemäß; nur so ist es zu verstehen, daß er Goethe männliche Gesinnungen abspricht (III, 266). Das Bewußtsein, daß die politischen und realistischen

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Inhalte der Zeit auch der Literatur härtere Gesetze vorschreiben, erfüllt ihn während seiner furchtbaren Polemik gegen Platen; er schreibt hierüber am 4. 2. 1830 an Varnhagen: „Der Schiller- Goethesche Xenienkampf war doch nur ein Kartoffelkrieg, es war die Kunstperiode, es galt den Schein des Lebens, die Kunst, nicht das Leben selbst — jetzt gilt es die höchsten Interessen des Lebens selbst, die Revolution tritt in die Literatur, und der Krieg wird ernster (vergl. Hirth, I, S. 576)." Dies machte er dem Dichter Platen geradezu zum Vorwurf, daß er ebenso wenig wie der alte Goethe die brausende Leidenschaft der neuen Zeit verspürt habe, sondern als unbeteiligter Ästhet die klassizistisch-artistische Dichtweise des seiner Jugend untreu gewordenen Goethe nachgeahmt habe (III, 358, 360). Goethe hat nun die tiefgreifende Überzeugung Heines, daß das reale Lebensinteresse seinen beherrschenden Einzug in die Literatur halte, nicht geteilt; er sah nicht in dem erbitterten Kampfe zwischen Platen und Heine den Zusammenprall der politisch feindlichen Grundtendenzen der Zeit, nämlich das Ringen zwischen der Tradition der Standesvorrechte und dem demokratischen Gleichberechtigungsprinzip ; er verkannte diese im Hintergrunde lagernden Motive und erblickte nur, wie aus seiner bekannten Äußerung zu Eckermann (14. 3. 1830) hervorgeht, bedauerliches Literatengezänk: „Und wenn noch die bornierte Masse höhere Menschen verfolgte! Nein, ein Begabter und ein Talent verfolgt das andere. Platen ärgert Heine, und Heine Platen, jeder sucht den anderen schlecht und verhaßt zu machen, da doch zu einem friedlichen Hinleben und Hinwirken die Welt groß und weit genug ist, und jeder schon an seinem eigenen Talent einen Feind hat, der ihm hinlänglich zu schaffen macht!" Mit diesem Ausspruch legt der ruhmgekrönte Greis seine Erkenntnis, daß nur organisches Wachstum und harmonische Entfaltung der Persönlichkeit das Heil verbürgen, als Wertr

) Vgl. hierzu meinen Aufsatz „Jüdische Freunde deutscher Dichter im neunzehnten Jahrhundert". (Der Morgen, Jahrg. 4, Nr. 5 u. 6.)



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maßstab an eine stürmische und gärende Jugend, die natürlich von solcher reifen Lebensweisheit noch nichts innehat. Immerhin ist der Ausspruch nicht nur deshalb bemerkenswert, weil er der einzige über Heine getane ist, sondern weil aus ihm die Wandlung des Goetheschen Urteils über Heine deutlich zutage tritt: Heine ist ihm kein Unbekannter mehr, er erkennt sogar seine Bedeutung an, denn er rechnet ihn zu den höheren Menschen, wenn er freilich auch seinem klassischen Stilgefühl entsprechend die subjektiv-romantische Manier Heines für eine künstlerisch gefährliche Tendenz hält. Fast gleichzeitig, als diese Revision des Goetheschen Urteils erfolgte, hatte sich Heine in seinem glitzernd geistreichen Buche „Die Stadt Lucca" wiederum über sein Verhältnis zu dem Meister ausgesprochen; er wählt hierzu, ohne Goethe direkt zu nennen, eine allegorische Form und erzählt von einem königlichen Adler, der ihn selbst erst nicht habe gelten lassen wollen und nunmehr dennoch seinen Wert erfahren werde (111,384/85). Demnach wird Heines damalige Goethe-Auffassung vornehmlich durch drei Grundgedanken gekennzeichnet: erstens durch den nachklingenden Groll über Goethes ablehnende Haltung und die hieraus folgende Verletzung seines berechtigten Wertgefühls; zweitens durch die unerschütterliche Überzeugung, daß Goethe, obwohl er in seiner letzten Schaffenszeit sich zu sehr als reiner Kunstdichter betätige, dennoch unbestritten der größte Dichter Deutschlands sei; drittens schließlich durch den festen Glauben an den von Grund jus veränderten Charakter der Zeit, in der, wie er meint, das Leben selbst und nicht mehr wie einst der Schein des Lebens, die Kunst, tonangebend sei. Mit dieser zwiespältigen und nur aus der Problematik seiner Natur heraus erklärlichen Auffassung war er selbstverständlich in einen scharfen Widerspruch zu dem unbedingten Dogma des Varnhagenschen Kreises geraten, der bei seinem Besuche in Berlin am 1 1 . und 13. März 1829 zum Austrag kam. Allem Anschein nach hat die große Seelenführerin Rahel den Dichter, dessen Wesen und Wert sie wie kaum ein anderer erfaßte und beeinflußte,



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an seiner mühsam errungenen Meinung irre gemacht; wenigstens läßt sich dies aus dem Satze schließen, den sie neben anderen köstlichen Bemerkungen über Heine ihrem in Bonn befindlichen Gatten mitteilt: „Er wollte gegen Goethe sprechen: ich mußte lächeln; es ging nicht." Außerdem scheint die herrliche Frau, die das klassische Bildungsideal vollkommen in sich aufgenommen hatte, das starke, auf seinen zeitlich-repräsentativen Rang pochende Selbstbewußtsein Heines straff gezügelt und ihn auf Goethes erhabenes Vorbild der ausgeglichenen Persönlichkeitsentwicklung nachdrücklich verwiesen zu haben; denn sie bemerkt zu ihrem Gatten in einem Briefe vom 15. März scharf tadelnd, daß Heine sich sogar mit Goethe verwechsele und überhaupt an Ruhm denke (vergl. Houben, S. 136/38). So wurde der überaus leicht belehrbare Heine in heilsamer Weise darauf aufmerksam gemacht, daß seine Geltung innerhalb der aktivistischen Zeitströmung keineswegs genüge, um die Überlegenheit, die der objektiv-sachliche Stil des kontemplativen Synthetikers Goethe über seine eigene subjektiv-impressionistische Manier besaß, wettzumachen. Zum zweiten Mal macht er sich daher unter Raheis Einfluß daran, den organischen Bildungstrieb, dieses eigentliche Stilgesetz des Goetheschen Schaffens, zu begreifen. Er liest Goethes „Wilhelm Meister" und droht während der Lektüre des gewaltigen Romans schalkhaft seinem Freunde Varnhagen, wieder gegen Goethe rebellieren zu wollen (Br. an Friederike Robert im Mai 1829; Hirth I, 542). Das ertragreiche und sehr bedeutsame Ergebnis seines Studiums legte er sodann in einem Briefe an Varnhagen am 28. 2. 1830 nieder: er teilt höchst feine Stilbeobachtungen mit, die er bei der Lektüre des Goethe-Schiller Briefwechsels gemacht hat; er scheidet scharf den Verfasser des „Werther" von der „späteren Kunstbehaglichkeit des großen Zeitablehnungsgenies, das sich selbst letzter Zweck" sei; sodann hebt er glänzend „Abründung, Helldunkel, Perspektive der Zwischensätze, mechanisches Untermalen der Gedanken" als Stilmerkmale Goethes hervor, meint aber, daß nach der Endschaft der



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Kunstperiode — der ästhetisierenden, philosophierenden Kunstsinnzeit — die neue Zeit der Begeisterung und der Tat den unmännlichen Goethe, dem er außerdem seinen Haß gegen die Revolution und seine aristokratische Gesinnung vorhält, nicht gebrauchen könne (vergl. Hirth I, 582f.). Wie genau der unermüdlich lernende Heine seine stilkritischen Studien betrieb, zeigt ein Brief an denselben vom 16. 6. 1830, in dem er an Goethes Altersstile den Fortfall des bestimmten Artikels und seine Ersetzung durch ungenauere Formen tadelt, ihm aber andererseits die Schaffung einer konventionellen Gesellschaftssprache nachrühmt (vergl. Hirth I, 615). Demnach ringen die beiden Pole, die wir vordem unterstrichen, bei seiner Beurteilung Goethes um die Oberhand: das Interesse an der Kunst führt ihn ebenso nahe an den Künstler Goethe heran, wie die glühende Anteilnahme an den Dingen der Zeit ihn von dem Verächter dieser Zeit entfernt. Fast schien es, als ob die wahre und endgültige Goetheauffassung, zu der er sich während seiner Pariser Periode hindurchrang, bereits jetzt hervorquellen würde, denn in den „Helgoländer Briefen", die er 1830 wiederum unter dem erweckenden Eindruck des Meeres verfaßte, meldete sich keimhaft und noch recht unschlüssig das Bestreben, Goethe als den Überwinder des dualistischen Weltcharakters in seine Theorie der geistigen Bewegung einzuordnen; aber diese vorauseilenden Gedanken waren noch nicht spruchreif, weshalb sie bezeichnenderweise erst nach zehn Jahren in der Denkschrift „Börne" veröffentlicht wurden. Vielmehr als Heine in der Pariser Julirevolution den Anbruch des neuen Reiches der Freiheit begrüßt, da wird er von den Wehen des gewaltigen Zeitereignisses so sehr geschüttelt, daß er die Selbstbeherrschung, wie sie die „Kunstschule" verlangt, verliert und sich in dem leidenschaftlich erregten Schlußstück seiner „Englischen Fragmente" soweit vergißt, das deutsche Volk zu bedauern, daß es einen Goethe seinen größten Mann nennen müsse (III, 503). Unwillkürlich fühlt man sich dabei an die bekannte Anekdote erinnert, 4 Friedlaender. Heine und C^ethe.



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derzufolge ein Besucher Goethe von dem die Mitwelt erschütternden Ereignis der Julirevolution erfüllt vermeint, während in Wirklichkeit derselbe den wissenschaftlichen Streit zwischen Cuvier und St. Hilaire im Auge hat. Eben diese Loslösung von der Zeit erregte den Ingrimm des zeitgläubigen Heine; zwar scheidet er in seinem Buche „Französische Maler" (1831) die Art Goethes vortrefflich von der Schillerschen, indem er die eine naiv und leicht graziös und die andere sentimental und idealistisch nennt, aber er empfindet doch Goethes Teilnahmlosigkeit als Egoismus und er hält weiterhin an seiner Prophezeiung vom Ende der Kunstperiode fest und sieht mit einer deutlichen Spitze gegen Goethe die Größe der griechischen und florentinischen Künstler gerade darin, daß sie an der Zeitbewegung lebhaften Anteil nahmen (IV, 28, 71/2). Die Stimme der Revolution, die die Mitwelt aufhorchen ließ, hatte Goethe nicht vernommen: diesen Umstand hatte Heine wohl im Auge, wenn er in Scherzversen seinen Freund Christiani zu seiner vermeintlichen Abkehr von dem „klugen Kunstgreis" beglückwünscht (I, 302); oder wenn er in seinen „Französischen Zuständen" den gemessenen Staatsmann Thiers geistreich einen Goethe der Politik nennt (V, 36). Allerdings machte Heine es sich nicht genügend klar, daß er seine Forderung nach einem Miterleben der Zeit an einen Greis richtete, der bereits das biblische Alter überschritten hatte, umso heftiger war daher seine Betroffenheit, als Goethe am 22. März 1832 starb. Nunmehr bemächtigte sich seiner dieselbe ehrfürchtige Erschütterung, die der Verstorbene einst beim Tode Friedrichs des Großen verspürt hatte; er empfand dieses Ereignis als eine Mahnung zur Selbsteinkehr und hieraus ergab sich ein neuer Wendepunkt in seinem Verhältnis zu dem großen Toten. IV. „Nun Goethe tot ist, bemächtigt sich meiner darob ein wunderbarer Schmerz": in diesem Satze hat Heine seine Er-



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griffenheit und wohl auch seine Reue aussprechen wollen (V, 216). Aber der große Umschwung zu einer gerechten und in ihrem Ergebnis schlechthin großartigen Beurteilung Goethes trat ein, als er aus dem Strudel der erregenden Tageserlebnisse emportauchte, als er in historischer Besinnung eine eingehende Darstellung und Kritik der deutschen Geistesgeschichte unternahm. In zwei großen Arbeiten behandelte er zuerst die literarischen und sodann die philosophischreligiösen Vorgänge des letzten deutschen Entwicklungsabschnittes. E r war von der Entstehung einer neuen Literatur fest überzeugt und hielt sich für berechtigt, ihr das Programm vorzuschreiben, denn er fand, wie er am 8. 4. 1833 Heinrich Laube mitteilt, es nötig, „nach Goethes Tode dem deutschen Publikum eine literarische Abrechnung zu überschicken" (vergl. Hirth II, 34). E r empfand somit Goethes Ableben als einen tiefen geschichtlichen Einschnitt, als den Ausklang einer in sich geschlossenen Epoche und in seiner „Romantischen Schule" — so wurde die 1832/33 entstandene Programm- und Streitschrift endgültig benannt — steht daher die majestätische Gestalt Goethes durchaus im Mittelpunkt. Wie stellt sich in Heines Augen die Entwicklung dar? Goethes Tod bedeutet einen großen Einschnitt in der deutschen Geistesgeschichte. Die sogenannte Kunstperiode geht zu Ende und die Romantik setzt ein. Goethe, in seiner Zeit vereinsamt und keineswegs genügend anerkannt, lehnte die Romantik entschieden ab. Denn ihr reaktionärer Hintergrund blieb seinem freiheitlichen Geist nicht verborgen. Seine Weltansicht war ästhetisch-artistisch; und eine rein künstlerische Weltanschauung kann weder zeitnah noch kämpferisch sein. Deshalb entstand die Entfremdung zwischen Goethe und den modernen „Männern der Bewegung"; während die reaktionären Romantiker an seinem sinnenfreudigen Heidentum Anstoß nahmen. Und welche Stellung nahm er, Heine, zu Goethe ein? Obwohl Goethe die jungen Talente verkannte, verfiel er, Heine, niemals in den Fehler Wolfgang Menzels, der Goethes Künstlerschaft für kaltes Virtuosentum hielt. Stets war er 4*



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ein Bewunderer des Meisters. Zwei Schöpfungen Goethes erscheinen ihm als Gipfelwerke: der „Faust", die weltliche Bibel der Deutschen, und der „Westöstliche Divan". In ihnen ist das Unbeschreibliche Ereignis geworden. Die Alleinherrschaft des abstrakt geistigen Spiritualismus ist gebrochen; der sinnenfreudige Sensualismus tritt in sein Recht. Der Dichtergröße Goethes entsprach seine menschliche Persönlichkeit. Antike Heiterkeit und Ruhe, griechische Klarheit zeichneten ihn aus. Göttliche Majestät umstrahlte seine Gestalt. Das war der Eindruck, den Heine durch seinen Besuch bei Goethe empfing. Goethes Vorbild und hohes Beispiel ist der Prüfstein für jede neu auftretende geistige Bewegung. Sein Werk bildet den ästhetischen Kanon der Deutschen; insbesondere der „Wilhelm Meister" ist das beste Muster eines Romans. Man hat mit Recht in Heines „Romantischer Schule" nicht nur eine bewußte Tendenz- und Parteischrift, sondern auch eine Art Generalbeichte über sein Verhältnis zu Goethe gesehen. Heine umschreibt sozusagen die Entstehungsgeschichte seiner eigenen Goethepolemik innerhalb der allgemeinen Opposition der Zeit; nur spricht dort, wo früher ein leidenschaftlich erregtes Urteil schnell fertig wurde, die Besonnenheit und Gerechtigkeitsliebe des Historikers. Hiernach ist die Stellung zu Goethe vornehmlich von seiner Auffassung und Analyse der Romantik bestimmt, die infolge ihres polemischen Charakters die erheblichen Verdienste, die die Schlegel um Goethe erworben hatten, nicht genügend anerkennt und überhaupt die hassenswerten Auswirkungen der reaktionären Restaurationsromantik zuungunsten des pantheistisch-revolutionären Geistes der Frühromantik ziemlich einseitig hervortreten läßt: man lernt — anders ausgedrückt — in dieser Streitschrift weniger den Friedrich Schlegel der ersten als den der zweiten L,ebensperiode kennen, weil in ihr der kühlwägende Verstand die dichterisch-romantischen Klänge der Heineschen Spätzeit verscheucht. Insofern nun Goethe mittels des von Heinrich Meyer



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verfaßten Aufsatzes „Neudeutsche religiös-patriotische Kunst" sich unzweideutig gegen die Romantik aussprach, fand er Heines uneingeschränkten Beifall; nur verfiel der hiervon angenehm Berührte in den folgenschweren Irrtum, nunmehr in Goethe einen Bundesgenossen der jungen und sozialproblematisch bewegten Freiheitsliteratur sehen zu wollen, während derselbe in Wirklichkeit doch bloß die Geistesart der Klassik gegen die der Romantik energisch verteidigen wollte. Aus diesem Mißverhältnis erklärt sich weit mehr wie aus dem persönlichen Zwischenfall der peinliche Zwiespalt: die Kritik, die der Geist der jungdeutschen Schule übte, bildet gleichermaßen die Folie zu Heines Goethekritik. Darum sprechen Hessing, Herder und Schiller wegen ihrer leidenschaftlichen Hingabe an die Zeit viel stärker zu seinem Herzen als Goethe, so daß er in die üblichen jungdeutschen Vorwürfe der „Geheimrätlichkeit" und des bloßen Artistentums gelegentlich einstimmt. Weil er aber in dieser jungdeutschen Bewegungsliteratur der einzige schöpferische Gestalter war, hielt er sich von dem schwersten Mißgriff fern, den Angriff auf Goethes künstlerische Bedeutung auszudehnen, wenn er auch bei ihm ein Pathos der Seele, gleichviel ob es aus religiösem oder philosophischem Urgründe stamme, vermißt: dies ist gemeint, wenn er seine historische, d. h. artistisch-formale Behandlung des Enthusiasmus mißbilligt. Nur aus diesem Zusammenhange läßt es sich verstehen, wenn Heine mit dem moralischen Mute des Wahrheitsbekenners, den Walzel treffend als seinen schönsten Charakterzug rühmt, seinen einstigen Neid auf Goethes Lebensform gesteht, nur darf man hierin nicht nach der sattsam bekannten Maxime der Heinepolemik einen kleinlichen Zug, sondern ein mythisch bewegtes Seelendrama erblicken: nämlich den Neid, den die im chaotischen Getriebe der Zeit ringenden Titanen auf die olympische Heiterkeit und Ruhe der Götter empfinden; jenen Neid, der eine der Seelenwurzeln zu dem nordischen Gedichte im griechischen Kostüm, der „Penthesilea", bildet. Trotzdem verlor Heine nie wie die übrige jungdeutsche polemische Kritik das Augenmaß für

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die Gesamtpersönlichkeit Goethes, vielmehr erkannte er in ihr eine geschichtliche Größe, die die geistigen Parteien zur Entscheidung zwang. Wie er eine ungewöhnlich tiefe und reiche Kenntnis der Goetheschen Werke sein eigen nennt, so verfolgt er auch mit regem Eifer die Hervorbringungen der wissenschaftlichen Goetheliteratur. Während er dem getreuen Eckermann viel zu herbe mitspielt, lassen ihn freundschaftliche Beziehungen die Verdienste von Varnhagen, Immermann, Willibald Alexis und Prof. Zimmermann ziemlich übertreiben. Sehr günstig" beurteilt er Johannes Falks Buch „Goethe aus näherem persönlichen Umgang dargestellt." Er hebt außerdem Wilhelm von Humboldts „Ästhetische Versuche" hervor, die in den Bahnen von Schillers berühmtem Werbebriefe schreitend das Bild des klassisch-hellenistischen Goethe in den Mittelpunkt der literarischen Erörterung gestellt hatten; seltsamerweise spendet er auch K. E. Schubarth, dem Verfasser des zweibändigen Werkes „Zur Beurteilung Goethes", jetzt hohes Iyob, obwohl er ihn in den „Reisebildern" scharf getadelt hatte. Die namentlich durch Goethes „Faust" entfesselte geistige Bewegung ist ihm gegenwärtig, wobei er wohl die Vorlesungen des bedeutenden und von ihm hochverehrten Hegelianers H. F. W. Hinrichs im Auge hat. Dies macht aber die Goetheauffassung der „Romantischen Schule" so ungemein wesentlich, daß aus ihr deutlich abzulesen ist, wie sehr das Goetheproblem für Heine zum Problem seiner eigenen Weltanschauung geworden ist. Ja, von diesem Blickpunkt aus lassen sich im Spiegel seiner Goethekritik die Wandlungen seiner geistigen Entwicklung wahrnehmen. Indem seine Jugendentwicklung ihn von Schlegel zu Hegel führte, hatte sie ihn gleichzeitig aus der Welt der Romantik in die Welt des Liberalismus geführt. In seiner rheinromantischen Periode lernt er in Goethe den künstlerischen Vollender kennen, der dem plastisch-romantischen Kunstideal der Synthese am meisten entspricht: dies ändert sich natürlich, als er in Berlin in die Atmosphäre der Hegeischen Philosophie der Entwicklung tritt. Dieser



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Denker stand an der Grenze zweier Weltalter, weil er zwar den romantischen Begriff der progressiven Entwicklung zum Untergrund seines Systems gemacht — aber grundlegend gewendet hatte, indem er erkannte, daß er nicht so sehr für die geistige Erscheinung als vielmehr für die Tatsächlichkeit des Lebens Gültigkeit besitze. Die natürliche Folgerung, die der frühliberale Zeitgeist aus dieser Lehre zog, war die Vergötterung des Gegenwärtig-Seienden: nur dadurch konnte der „Schwärmer" Heine von der herrschenden Ansicht erfaßt werden, daß Goethes klassische Kunst eine gemütlose und unverantwortliche art pour l'art sei. Ein großer Umschwung tritt weiterhin ein, als Heine in Paris mit der eschatologisch-sozialistischen Philosophie des Saint-Simonismus bekannt wird: allmählich erkennt er, wie in der angeblich inhaltsleeren Goetheschen „Kunstidee" ein blutvoller und weltbewegender Inhalt wirkt, nämlich die Lebensmacht des Heidentums in der modernen Welt. Der Grundgedanke der Hegeischen Emanationslehre, daß die göttliche Vernunft in der Geschichte walte, sowie Enfantins radikale Fassung des saint-simonistischen Programms, die Gott in allem Seienden enthalten sah, verbanden sich in Heines Geiste zu einem panentheistisch-materialistischen Monismus, der die heidnisch-sensualistischen mit den christlich-spiritualistischen Wesenselementen ausgleichen und somit ein drittes Reich sinnlich-geistiger Synthese und Harmonie begründen wollte. 1 ) Im Sinne dieser These deutet er Goethe als den sinnenfrohen Heiden und lebensbejahenden Feind aller christlich-asketischen Weltentsagung: diese Deutung arbeitet dem Propheten der Renaissancemoral und des „Antichrist" vor, der inmitten einer bürgerlich-liberalen Welt verkündete, daß Lust tiefer noch als Herzeleid sei. Unter diesem Gesichtspunkt umschreibt er die Konzeption des „Faust" in einem Ungenügen am rein Geistigen und feiert ferner den „Divan" als das Meisterwerk einer sinnlich gesättigten Geistigkeit: diese wundervolle Beschreibung hat !) Vgl. Kurt Sternbergs Buch „Heines geistige Gestalt und Welt", Berlin 1929.

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im bewußten Gegensatze zu der rationalistischen Verstandeskritik eines Börne und eines Grillparzer bis auf Burdach und Hofmannsthal fortgewirkt. In diesem Zusammenhange gelingt ihm die feine Beobachtung, wie die künstlerische Überlegenheit Goethes über Schiller sich gerade in dem geringeren moralischen Gehalte der Goetheschen Gestalten ausspreche. Freilich selbst bei diesem weitgehenden Einverständnis mit Goethes Denkweise meldet sich der Gegensatz der Zeiten in der saint-simonistischen Kritik, die er an Goethes gleichförmig pantheistischem Monismus übt. Wenn er Gott nicht gleichmäßig in allen Gebilden der Natur, sondern vornehmlich in den Äußerungen des Fortschritts vernimmt, so setzt er eben wie einst der ästhetische Immoralist Heinse sein dynamisch-dionysisches Heidentum dem statisch-apollinischen Heidentum Goethes entgegen. Jedoch dies sind nur Abwandlungen ein und derselben Weltansicht; ausschlaggebend bleibt das großartige Schlußbild, in dem Heine in dem Sinnbilde des Gottes Jupiter Goethe vorführt: sogar die Zeitgenossen haben den unvergleichlichen Wert dieser Schilderung erfaßt, wie denn ein einstiger Besucher Goethes namens Friedrich Laun bekennt: „Nichts hat mir meine damalige Geistesverfassung besser ins Gedächtnis zurückgeführt, als das, was der geniale H. Heine vor kurzem von seinem Besuche bei Goethe berichtete (vergl. Goethes Gespräche, hrg. Biedermann, I, 361)." Die Goetheauffassung der „Romantischen Schule" ergänzte Heine in dem 1834 veröffentlichten Werke „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland", das den Franzosen die Grundzüge der deutschen Geistesgeschichte erklären und außerdem seine eigene Weltansicht fortführen sollte, die von der hellenischen Thesis und der nazarenischen Antithesis zu einer monistisch-materialistischen Synthesis strebte. Gelegentlich seiner Darstellung der Aufklärung streift er Friedrich Nicolais plumpen Angriff auf Goethes „Werther" und ergreift selbstverständlich die Partei des Genies: wenn er aber früher die Wertherstimmung mit stärkster Intensität nacherlebte (vergl. Brief an Moser,



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14. Dez. 1825), so ergreift er nunmehr die Meinung des männlich herben Hessing, der in seinem Briefe an Eschenburg (26. 10. 1774) die Überwindung der weichlichen Sentimentalität gefordert hatte (IV, 235/36). Weiterhin gibt ihm der berühmte Atheismusstreit, in dessen Verlaufe Fichte sein Jenenser Lehramt niederlegen mußte, Gelegenheit, Goethes Charakter auf Grund seiner damaligen Haltung zu beleuchten. E r findet zwar Goethes, sowie Herders Haltung begreiflich, tadelt aber an der von Goethe in den „Tag- und Jahresheften 1794" gegebenen Darstellung scharf, daß derselbe nicht einmal an Fichtes Meinung, sondern bloß §n seiner Mitteilungsweise Anstoß genommen habe: hierin erblickt er die verwerfliche Reserve des Hofmanns. Aber auch hier findet er Entschuldigungsgründe, indem er meint, Goethes Pantheismus hätte in der Fichteschen Metaphysik nur eine Torheit erblicken können. Dies ist jedoch ein ganz neuartiges Moment, das in seine Betrachtung eintritt, daß er, durch das Interesse seiner verbindenden Weltansicht mitbestimmt, in Goethe jetzt nicht mehr bloß den großen Heiden sieht, sondern sein Heidentum wunderbar modernisiert findet, weil es sich zugleich mit den christlichspirituellen Ideenmächten vereinigt hätte: er ahnt also hier, daß zwei Seelen in Goethes Brust wohnen, nämlich die nordisch-faustische und die antik-humane, und er nennt ihn wegen seines beide Wesensströme vereinigenden Pantheismus den Spinoza der Poesie. Den Spinozismus, der die Polarität zwischen Diesseits und Jenseits durch eine pantheistische Metaphysik aufhob, verlegt er in den Mittelpunkt der Goetheschen Weltanschauung: er erblickt ihn in dem mystischen Vereinigungsstreben, das Faust und Werther der Natur gegenüber an den Tag legen, sowie in dem überirdischen Zauber der reinen Lyrik Goethes. Angesichts dieser Perspektive findet er auch Goethes Verhalten gegen Fichte begreiflich, denn er habe als Minister eines deutschen Kleinstaates weitgehende Selbstbeherrschung üben müssen: hierbei nennt er ihn, auf seinen früheren Gedankengang zurückgreifend, den deutschen Jupiter (IV, 270/75).



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Mit diesen beiden bedeutenden Schriften zur deutschen Geistesgeschichte erhalten Heines Bemühungen um ein Verständnis Goethes eine im weltanschaulichen Sinne abschließende Fassung, denn alle weiteren reichhaltigen Äußerungen bewegen sich durchaus in ihrem Gedankenkreise, nur daß Heine nach dem jeweiligen Stande seines schweren Kampfes, der ihn von der Bipolarität heterogener Weltanschauungselemente zu einer erlösenden Trias führen sollte, die Beurteilung Goethes andersartigen Gesichtspunkten unterwarf. Seitdem er die Gestalt Goethes derart zum Führer und Wegweiser erkoren hatte, daß der Weg zu der Erkenntnis Goethes gleichzeitig in den dornenreichen Weg, den ihm der Wille zur individuellen Klärung vorschrieb, einmündete, kann es für eine Untersuchung der wechselseitigen Beziehungen nur noch angängig sein, in der Entwicklung dieses Verhältnisses zugleich eine Abfolge der Stimmungen in Heines Seelenlage zu ermitteln. Wollte man dagegen mit statistischer Genauigkeit jede einzelne Äußerung peinlich buchen, so könnte man darauf hinweisen, daß z. B. in dem Meisterstück dekadent erotischer Tragik, den ,,Florentinischen Nächten" (1836) ein Detail aus Goethes „Italienischer Reise" zum Vergleich herangezogen wird (IV, 337); doch dies ist bloß ein literarischtechnisches Hilfsmittel, während es uns darauf ankommen muß, die geistesgeschichtlich belangreichen Äußerungen auszuwählen und zugrundezulegen. Der lyrisch-romantische Poet Heine hatte die klassische Kunstweise des Meisters als kaltherzigen Egoismus und als verwerflichen Ästhetizismus abtun wollen; der Pariser Denker hatte dann unter dem Einfluß einer panentheistisch-materialistischen I^ehre in ihr den vollkommenen Ausdruck der naiven Sinnenfreude der antik-heidnischen Diesseitsmoral schätzen gelernt; hiermit war die peinliche Unterscheidung zwischen dem jungen und dem alten Goethe, die als ästhetisch-ethischer Trennungsstrich die jungdeutsche Beurteilung Goethes beherrschte, in Fortfall gekommen. Wenn der junge Heine die Teilnahme des klassisch gewordenen Meisters an dem Feldzug fitr die Freiheit, den die literarische Jugend



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unternahm, erzwingen wollte, dann spielte er unwillkürlich den jungen gegen den alten Goethe aus: der klassische Goethe hatte sich ihm verschlossen, nunmehr gewahrte der inzwischen gereifte „Schwärmer für die Idee" mit Staunen, wie in dem bisher verkannten übermoralischen Heidentum Goethes eine vielleicht wirksamere und mächtigere Idee der Freiheit schlummere als in dem einst gefeierten jungdeutschen Lebensprogramm. Es ist dies die Zeit, in der der abgekühlte politische Satiriker in den Augen der Freiheitskämpfer Balken wahrnimmt, wo der nur vom Tyrannenhaß besessene Schwärmer allenfalls bloß Splitter wahrgenommen hatte; der nüchterne Beobachter, der einst die Freiheitsbewegung als ein Fanal begrüßt hatte, daß das Eis gebrochen und der Frühling im Land sei — er bemerkte nun in den welker werdenden Zügen der ermatteten Mitstreiter das Nahen des Herbstes. Eine dunkle und wehmütige Ahnung, daß die Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus die nationale Hoffnung vorerst nicht in Tat umsetzen werde, wird hier laut. Eine tiefe Enttäuschung bemächtigte sich seiner, als er immer mehr einsah, wie sehr der liberalen Bewegung das Höchste, nämlich die selbstbewußte Freiheit des Geistes fehle, wie schmählich ferner die lautesten Freiheitssänger sich schließlich in bornierte Philister verwandelten (VI, 348f.). Je unaufhaltsamer sich daher seine Loslösung von der jungdeutschen Gesinnungsweise vollzog, desto entschlossener nahm er für das innerlich freie selbstsichere und über bürgerlich-moralische Engherzigkeit erhabene Heidentum Goethes mit agitatorischer Grazie Partei: in diesem Sinne hatte er das Bild des Meisters in der „Romantischen Schule" gezeichnet. Die moralphiliströsen Kleinbürgerseelen, die im liberalen Lager sich mehrten, hatten diese Herausforderung wohl verstanden; sie brachten den Troß der Tugendhüter auf die Beine und schritten unter Führung ihrer Häuptlinge, von denen etwa nur Wolfgang Menzel, Jakob Venedey und Arnold Rüge genannt seien, zum Gegenangriff: wohlbemerkt nicht zum offenen Kampfe, sondern zum Kleinkriege mit kleinlichsten Mitteln.



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Worum ging es in jenem Kampfe? Ohne Umschweife gesehen, handelte es sich um das erneute Ringen zwischen antiker und jüdisch-christlicher Moralanschauung: Heine betrachtete sich als ein bewußter Fortsetzer und Erbe von Goethes sittlichem Empfinden, wenn er gegen die Ächtung des sinnlichen Trieblebens und gegen fad frömmelnde Tugendheuchelei zu Felde zog; ungeachtet dessen, welche Unzahl von Feinden er sich dadurch machte. Wohl war er, wie das ergreifende „Tannhäuser"-Gedicht bezeugt, sich bewußt, daß erst durch die Vereinigung beider Ideenmächte — des hellenischen Hedonismus und des christlich-pneumatischen Supranaturalismus — Staat und Gesellschaft neu aufgebaut werden müsse; bevor dies aber möglich war, galt es vorderhand der antik-heidnischen Lebensform überhaupt Existenzberechtigung zu verschaffen. Eine zweite bedeutsame Wandlung begleitet diesen Schritt: er macht sich klar, daß es nicht genüge, das in eine Sackgasse geratene Sexualproblem im freiheitlichen Sinne der Antike zu lösen, sondern daß außerdem die aristokratische Würde der antiken Persönlichkeit wiedererobert werden müsse; und das Vorbild für diese vornehme Haltung sieht er jetzt in dem Manne, den er einst einen Aristokratenknecht schalt: in Goethe (VII, 3 1 1 ; VI, 349). Den Verlauf des erbitterten Kampfes, den Heine im Namen Goethes führte, können wir im Spiegel seiner Werke genau verfolgen. Als ein alterfahrener Kämpe stürzte er sich zuerst auf den Hauptangreifer, den ehemaligen Gesinnungsgenossen Wolfgang Menzel; gegen ihn schleuderte er 1837 seine zertrümmernde Streitschrift „Über den Denunzianten": in demselben Jahre hatte Menzel die zweite Auflage seiner „Deutschen Literatur" auf den Markt geworfen; dies nimmt Heine zum Anlaß, um seine einstige Zustimmung zu diesem literarhistorischen Tugendarsenal energisch zu widerrufen (IV, 3 1 5 f). Den schönsten Ausdruck fand die Vorstellung eines heidnisch-sinnlichen Goethe durch die dichterische Formung in dem satirischen Zeitepos „Atta Troll": in der herrlichen Vision einer wilden Jagd erkennt der Dichter den Meister an dem heiteren Glanz der Augen, wie er mit heid-



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nischen Kumpanen des Lebens Jagdlust fortsetzt (II, 392); und zum Zwecke der künstlerischen und tendenziösen Kontrastwirkung überschüttet er — den gegen Uhland und Gustav Pfizer gerichteten schneidenden Hohn Goethes wiederaufnehmend — die schwäbische Dichterschule wegen ihrer säuberlichen Wohlanständigkeit mit den Pfeifen seines Spottes (II, 408 f). J a , es scheint, als wolle Heine vollends mit der Vergangenheit brechen, wenn er in den Briefen „Über die französische Bühne" (1837) sein Verhältnis zu Goethe also umstilisiert, daß er sich einen „in der Unparteilichkeit Goethescher Künstlerweise" auferzogenen Dichter nennt (IV, 519), und weiterhin den Altmeister gegen die üblichen Vorwürfe der Begeisterungsunfähigkeit, der moralischen Haltlosigkeit und des Egoismus in Schutz nimmt (IV, 525). Nicht nur in dieser Hinsicht berichtigt er sein früheres, der jungdeutsch-liberalen Meinung verpflichtetes Urteil, sondern er, der in seiner Jugend über die Greisenhaftigkeit Goethes klagte, feiert jetzt in ihm den ewigen Jüngling (s. Vorrede z. 2. Aufl. des Buches der Lieder, 1837; I, 498). Den endgültigen und folgenschweren Bruch mit der Weltanschauung des deutschen Frühliberalismus vollzog die 1840 erschienene Denkschrift „Ludwig Börne". Dieses Werk ist sozusagen der Endpunkt eines Emanzipationsprozesses, der Heine von dem Dienste an der Zeitidee loslöste und der allmählich begriffenen Kunstidee Goethes zuführte: er hatte in Paris namentlich durch Marx das System des Sozialismus kennen und in ihm eine geschichtliche Macht schätzen gelernt, die er für weit zukunftsvoller halten mußte als die politische Ohnmacht des kleinbürgerlich-demokratischen Liberalismus; ferner hatte er in der Goetheschen Kunstidee die Stimme eines Heidentums vernommen, das auf die Auferstehung alles Fleisches sann. Darum führte er gewissermaßen Goethes Geist gegen den Doktrinarismus des politischen Moralisten Börne ins Feld: seitdem er sich selbst von der Schwärmerei für die liberale Zeitidee losgerungen hat, ist er auf Grund seiner neuen, im wesentlichen aus Goethe



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herausdestillierten Weltansicht imstande, in der moralisierenden Goethekritik Börnes den Haß, den der sinnenfeindliche Nazarener gegen den sinnlich genießenden Hellenen hegt, festzustellen. Der Gegensatz zwischen der einst verehrten Zeitidee und der nunmehr neu begriffenen Kunstidee wird noch einmal in aller Schärfe fühlbar, wenn er den widerwärtigen Kapuzinerton, den Börne gegen Goethe und gegen ihn — wobei er sich als Nachfolger Goethes und Pantheisten von der heiteren Observanz umschreibt — angeschlagen habe, mit der märtyrerhaft-asketischen Unfähigkeit Börnes erklärt, das Leben aus vollen Zügen genießen zu können (VII, 24). Dieser Grundgedanke, das Recht einer naturhaft freizügigen Sinnlichkeit gegen die Sittlichkeit einer konventionell verbildeten Zivilisation zu vertreten, hat Heine, wie seine privaten Äußerungen zeigen, in dieser Zeit lebhaft beschäftigt: er hat hier Anregungen gegeben, die bis zu der messerscharfen Moralkritik eines Nietzsche und eines Shaw fortgewirkt haben; namentlich Wedekind ist bewußt den Spuren Heines gefolgt. Wir können deutlich verfolgen, wie sich der Bruch mit Börne und der frühliberalen Geistesart allmählich, aber unaufhaltsam vorbereitet; wir erhalten zugleich den Beweis, wie grundlos und niederträchtig die Behauptung seiner Gegner, besonders Gutzkows, ist, er habe mit seiner Streitschrift erst nach Börnes Tode hervorzutreten gewagt: bereits 1835 protestiert er energisch gegen die freilich unausrottbare Zusammenstellung seines Namens mit dem Börneschen (vergl. Houben, S. 242/43; auch S. 219); im Frühjahr 1838 beklagt er sich darüber, daß Börne ihn genau so wie Goethe wegen seiner aristokratischen Haltung und ästhetischen Immoralität angreife (vergl. Houben, S. 308); sodann spricht er sich (1839/40) aufs entschiedenste gegen Börnes Goethehaß aus, weil er jetzt die Poesie für eine weitere und unvergänglichere Welt hält als die Politik des Tages (vergl. Houben, S. 352/53); er bedauert in seiner neuartigen Seelenlage durchaus die einstige Polemik gegen Goethe (vergl. Houben, S. 360). Eine weitere nachhaltige Auseinandersetzung mit Goethe



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und namentlich mit der Geisteswelt seines Hauptwerkes wurde durch eine rein äußerliche Anregung herbeigeführt, als der bereits von schwerem Siechtum überschattete Dichter auf den Wunsch eines befreundeten Londoner Theaterdirektors im Februar 1847 das Tanzpoem „Der Doktor Faust" verfaßte. Wir erinnern uns daran, daß er bereits in seiner Jugend sich mit einer dichterischen Bearbeitung des Fauststoffes trug, weil, wie seine tiefschürfende Ansicht lautete, jeder Mensch einen Faust schreiben solle. Der damalige Plan reihte sich entwicklungsgeschichtlich durchaus in die weisheitsschwere Gedankenfuge der deutschen Faustliteratur ein: Faust war gewissermaßen das Sinnbild einer Entelechie, die die Entfaltungsmöglichkeit der Monas „Mensch" in ihrer Beziehung zum Universum in sich enthielt. Die philologische Forschung hat mit genügendem Nachdruck darauf hingewiesen, daß Heines ursprünglicher Plan, der die barock-byroneske Seelensatire eines an der wissenschaftlichen Erkenntnis verzweifelnden Faust umfassen sollte, kaum etwas mit der in eine kapriziöse Ballettform gebrachten Spätfassung gemein hat. So hat Georg Mücke in seiner lehrreichen Schrift „Heines Beziehungen zum deutschen Mittelalter" (1908) darauf aufmerksam gemacht, wie die stark entwickelten wissenschaftlichen Interessen, die Heine auf germanistischem, mythologischem und dämonologischem Gebiet besaß, in diesen merkwürdigen Spätling seiner Muse eingemündet sind. Hermann Friedemanns Untersuchung „Die Götter Griechenlands von Schiller bis Heine" (1905) und besonders Walzeis Kommentar (1917) haben außerdem die seelischen Motive dieser Faustdichtung klargestellt: danach sind dieselben weit bedeutsamer an Gewicht als das ausgeführte Libretto. Für unser Empfinden offenbart sich der Gegensatz zwischen Goethes und Heines Metaphysik des Eros in ihren beiderseitigen Faustdichtungen: der eine sieht in dem EwigWeiblichen die Macht, die uns hinanzieht, der andere sieht dagegen in ihr die teuflische Macht, die uns vernichtet; die eine Auffassung steht der Idee des Marienkultes, die andere

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den antifeministischen Partien des Alten Testamentes nahe. Während Goethe den Sieg des positiven Lebens über die Materie feiert, führt der von tiefer Melancholie befallene todkranke Dichter Heine den Teufel als Weib vor, er stimmt einen Schwanengesang auf den Untergang der Schönheit an, den dämonische Kräfte bewirken: diese typische deutsche Empfindung hat dieser „Faust" mit dem „Romancero" gemeinsam; sie klingt seitdem bis zu Wagners „Tristan" und Gerhart Hauptmanns „Pippa" fort. Der langsam Sterbende nimmt wehmütig Abschied von der Heiterkeit und Genießerfreude des sensualistischen Griechentums, als deren künstlerische Gestalter er, wie aus der Pantomime „Die Göttin Diana" (1853) hervorgeht, jetzt neben Ovid und Gottfried von Straßburg Goethe glücklich preist (VI, 109). Aus dieser seelischen Situation heraus wird auch der verblüffende Umstand begreiflich, daß Heine die Faustidee in ein Tanzpoem hineinverlegt: dies bedeutete keine Herabwürdigung des Stoffes, vielmehr erschien dem todgeweihten Künstler ebenso wie später dem Hellenisten Nietzsche der Tanz als der bezeichnendste Ausdruck dionysischen Rausches; die Reform des Ballettes hat er daher als eine genau so bedeutungsvolle Kulturangelegenheit behandelt wie Goethe die Reform des Theaters. Freilich war er sich angesichts Goethes der Größe seines künstlerischen Wagnisses bewußt: dies zeigen die ausführlichen Bemerkungen erläuternder Art, mit denen er sein Werk umkleidete. Aus ihnen geht deutlich hervor, wie eingehend er sich mit den quellenmäßigen Grundlagen des Goetheschen Faust befaßt hat; er zeigt hier wieder einmal seine angeborene philologisch-kritische Begabung: er begeht zwar, worauf Walzel aufmerksam gemacht hat, einige Schnitzer, erkennt aber wichtige Fragen der Faustforschung wie etwa die Beziehung von Marlowes „Faust" zum deutschen Puppenspiel oder die Benutzung der Volksbücher durch Goethe viel feiner und schärfer als der Berufsphilologe Heinrich Düntzer (VI, 477f.). In den Erläuterungen zu der Buchausgabe vergleicht Heine etwas kleinlaut den ungeheuren Formenreichtum,



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durch den Goethe während eines langen göttlich verbrachten Lebens seine Dichtung zu einem Gesamtkunstwerk ausweiten konnte, mit seiner bescheidenen, nur auf Musik und Gebärde angewiesenen Pantomime, die er als Kranker innerhalb kurzer Zeit unternehmen mußte. E r führt aber zu seiner Entschuldigung an, daß seine Arbeit der wirklichen Faustsage weit näher stände als das Werk Goethes; denn dieser „Skeptiker des achtzehnten Jahrhunderts" habe die Einheitlichkeit seines Werkes durch das Abweichen von der Sage so schwer geschädigt, daß sein Faust in Anbetracht des schwachen zweiten Teiles und namentlich des ballettartigen Schlusses als Fragment angesehen werden müsse (VI, 495 f.). Überhaupt urteilt er herbe und ungerecht über den zweiten Teil der Goetheschen Tragödie, er bezeichnet ihn geradezu als allegorische und labyrinthische Wildnis; umso nachdrücklicher nimmt er von diesem absprechenden Urteil den dritten Akt, die „Helena", aus; in ihr erblickt er schlechthin das höchste Erzeugnis plastisch formender Poesie: heidengöttlich liebreizend nennt er sie und verlegt mit genialer Vermutung ihre Entstehung in Goethes Manneszeit, obwohl sie weniger eine Hervorbringung ekstatisch-intuitiver als vielmehr harmonisch ausgestaltender Art sei (VI, 509f.). Abgesehen hiervon begegnen wir in Heines Betrachtungen einem merkwürdigen Urteilswechsel: während er in den „Elementargeistern" (1834) seine unverhohlene Freude über den cynisierenden Charakterzug des Goetheschen Mephisto ausgedrückt hatte, wird nunmehr dieses Einverständnis gründlich revidiert (IV, 414/15; VI, 510). E s wäre jedoch durchaus irreführend, wenn man von der geringen Bewertung des zweiten Teils des Faust auf eine veränderte Schätzung Goethes schließen wollte, denn die Erkenntnis jenes Gipfelwerks der deutschen Literatur blieb unserem Zeitalter vorbehalten, während es seinerzeit selbst Goethekenner wie Gottfried Keller und Fr. Th. Vischer verkannten. Wir sind als Erben der Tradition des deutschen Idealismus und ungeachtet der Schulung, die wir durch Schopenhauer und Nietzsche erfahren haben, in der Regel mehr 5

Friedlaender, Heine und Goethe.

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spekulierende Metaphysiker als analysierende Psychologen: darum sind wir leicht geneigt, einen äußerlich materiellen Moment wie die schwere Erkrankung Heines als Ursache für seine letzte tiefeingreifende Seelenwandlung zu unterschätzen. In Wirklichkeit haben die furchtbaren acht Leidensjahre, die der Dichter in der sprichwörtlich gewordenen Matratzengruft ertragen mußte, in ihm die heidnisch-hedonistische Seelenwurzel ausgereutet; vorbei war jetzt die purpurne Zeit des Glanzes, die eine sittliche Rechtfertigung des sinnlichen Genusses durch seine göttliche Verklärung erkämpfen wollte. Der seltsame Dreitakt der Hegeischen Logik offenbart sich wiederum in Heines Lebensgange: in seiner deutsch-romantischen Jugendzeit empfindet er sich als den spiritualistischen Schwärmer für die Idee; in seiner Pariser Manneszeit wird er unter dem grundlegenden Einfluß der saint-simonistischen Sozial- und Sexualreform zum Entdecker und Verkünder der sensualistischen Diesseitswerte, die er unter dem Aspekte eines modern stilisierten Hellenentums durchaus in dieser Welt findet; in der darauf folgenden Krankheitszeit erfolgt gewissermaßen eine Rückkehr zu jener schwärmerischen Stimmung des Enthusiasmus und der Idee, mit welchen Begriffen er die Hingabe an die supranatural-metaphysischen Werte umschrieb; nur fiel jetzt alles auf einen reineren, tieferen, geläuterteren Boden, weil inzwischen die jugendlichdionysische in eine apollinisch-gereifte Seelenlage übersetzt ward. H. H. Houbens erschöpfendes Quellenwerk gestattet unschwer den Nachweis, wie gerade in der schweren Krankheitszeit sich die Äußerungen Heines über Goethe häufen. Aus diesen Bekenntnissen und Bemerkungen, die mit Wehmut das Bild der Lebensfülle Goethes vor Augen haben, wird übrigens ersichtlich, wie wenig Heine gewillt war, dem Geiste aus der vorangegangenen Zeit des Lebensglanzes zu entsagen. So protestiert er in einem wichtigen Briefe an Georg Weerth (5. 1 1 . 1851) gegen das damals umlaufende Gerücht, er habe sich zum Theismus bekehrt; er beruft sich hierbei nachdrücklich auf Goethe (vergl. Hirth III, 222). Sein



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Arbeitsgehilfe Karl Hillebrand, der spätere große Essayist, hat berichtet, wie er mit dem kranken Dichter eine Anzahl Goethescher Meisterwerke gelesen habe. Das einzige, was den Todgeweihten ein wenig über sein schweres I^os hinwegtröstet, ist das Bewußtsein seines hohen Wertes, der es ihm gestattet, sich mit Goethe zu vergleichen (vergl. Geständnisse; VI, 71/72). Und gerade im Bewußtsein dieses Wertes überfällt ihn wohl einmal die Sorge um sein geistiges Vermächtnis, so daß er nunmehr einem „vertrauten Menschen" wie Eckermann, dem er noch im „Taimhäuser" übel mitgespielt hatte, Gerechtigkeit widerfahren läßt (vergl. Houben, S. 777); er liest jetzt mit erneutem Interesse seine berühmten Aufzeichnungen (vergl. Hirth III, 222). Vorherrschend bleibt jedoch die qualvolle Empfindung, daß Goethes Leben in sich vollendet, das seine aber ein Bruchstück sei. Mit rücksichtslosem Sarkasmus zieht er noch einmal die erschütternde Bilanz seines Verhältnisses zu Goethe: „Ich bin kein göttlicher Bipede mehr; ich bin nicht mehr der ,freieste Deutsche nach Goethe', wie mich Rüge in gesünderen Tagen genannt hat, ich bin nicht mehr der große Heide No. II, den man mit dem weinlaubumkränzten Dionysos verglich, während man meinem Kollegen No. I den Titel eines großherzoglich weimarschen Jupiters erteilte; ich bin kein lebensfreudiger, etwas wohlbeleibter Hellene mehr, der auf trübsinnige Nazarener heiter herablächelte — ich bin jetzt nur ein armer, todkranker Jude, ein abgezehrtes Bild des Jammers, ein unglücklicher Mensch!" So klingt in den Epilog seines Verhältnisses zu Goethe der herzzerreißende Akkord von Hyperions Schicksalslied hinein.

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Zweiter Teil I. Mit der Dankbarkeit und Verehrung, mit der der Nachgeborene auf die Taten der Väter bückt, begrüßte der junge Heine das Vermächtnis der Goetheschen Poesie; sie wurde neben der romantischen Poesie seine eigentliche I^ehrmeisterin. In einem an Wilhelm Müller, den Dichter der Griechenlieder, gerichteten Briefe zieht er am 7. 6. 1826 die Summe seiner bisherigen poetischen Existenz: als das erste Stadium seiner dichterischen Entwicklung führt er die Beschäftigung mit dem deutschen Volkshede an, sodann die Einweihung in die Geheimnisse der Metrik, die er A. W. Schlegel verdanke; er hält darauf unter den zeitgenössischen Lyrikern Umschau und gesteht, außer Goethe keinen so sehr zu Heben wie Wilhelm Müller; während sein scharfes Auge an Uhland und Rückert deutliche Mängel nicht übersieht, ist er in seiner echt künstlerischen Selbstkritik aufrichtig genug, um an seiner eigenen Produktion zu tadeln, daß sie nur in der Form volksliedhaft sei, inhaltlich aber noch der konventionellen Gesellschaft angehöre (vergl. Hirth I, 421). Hiermit hat Heine unbewußt den Gegensatz zwischen seiner Jugendlyrik und der Goetheschen Kunst formuliert: denn was er unter der Volksliederform versteht, ist nichts anderes als das, was der Gestaltungswille Goethes erstrebt und erreicht hatte, nämlich die künstlerische absolute Objektivierung eines höchst subjektiven Erlebnisvorganges, wobei der gestaltende Künstler in dem gestalteten Kunstwerk aufgehen sollte. Wenn nun Heine mit bemerkenswerter Offenheit meinte, daß der Gehalt seiner lyrischen Empfindung noch zusehr konventionell gebunden sei, so bedeutete dies nichts anderes, als daß es ihm noch nicht gelungen sei, wie Goethe den poetischen Gehalt aller sub-



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j ektiv-persönlichen Zufälligkeiten zu entkleiden und als künstlerisch selbständigen Organismus aus dem Innenraum der Seele zu entlassen. Erst in Italien war Goethe in den Besitz dieser Meisterschaft künstlerischen Gestaltens gelangt: wenn er daher im Rückblick auf seine voritalienische Zeit und im Vollgefühl seiner neuen Errungenschaft über den Dichter Heine das Urteil fällte, sein eigenes Talent sei der Feind, der ihm am meisten zu schaffen mache, so wollte er damit sagen, daß er den damaligen Heine noch zu den subjektiv-modernen Künstlern rechnen müsse, die im Gegensatz zu den objektiv-klassischen Künstlern statt der Existenz lediglich den Effekt zur Darstellung brächten. Wenn es aber dem jungen Dichter noch nicht vergönnt war, den Aufstieg von der sentimentalischen zu der naiven Poesie zu vollziehen, so lag die Ursache darin, daß zwischen Goethe und Heine die Romantik lag. Der Gegensatz zwischen der klassischen und romantischen Ästhetik tönt als Echo wieder in dem Gegensatz dieser beiden Persönlichkeiten, denn der einen Richtung bedeutete das absolute Kunstwerk und der anderen der autonome Künstler das letzte und höchste Ziel der Gestaltung. Es ist nun sehr bedeutsam wahrzunehmen, wie in der Brust des Dichters Heine die Goethesche und die romantische Kunstlehre mit einander ringen und seine Produktion mit tiefen Spuren färben: dieser Zwiespalt ist aber überraschenderweise zum vollen Glücke des Betroffenen ausgeschlagen. Als ein Erbe der zauberischen Schönheit rheinischer Romantik war der junge Dichter im deutschen Lande bekannt geworden, er wurde berühmt, als er die desillusionierende Technik der romantischen Ironie in seinen „Reisebildern" auf die Schilderung der Wirklichkeit übertrug, indem er unter der Schutzmaske einer humoristisch-ironischen Form eine bis dahin unmögliche Kritik der öffentlichen Zustände Deutschlands begründete. Aber die hierdurch erreichte Freiheit drohte wie bei so manchem der romantischen Anreger, denen die feste Norm der klassischen Bildner fehlte, zur Willkür und Zersplitterung zu entarten: es ist daher das große Verdienst Rahel Varnhagens, Heine vor dem Schicksal eines



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Brentano bewahrt zu haben; sie öffnete ihm, wie der dankbare Schüler noch im Börne-Buche ausdrücklich bezeugt hat, die Augen für die Größe des Goetheschen Stiles und verordnete ihm dadurch ein wirksames Gegengift, denn vor den Gefahren romantischer Zersetzung bewahrte ihn nunmehr der Sinn für das Organische sowie die Idee der Plastizität. Goethe hatte in seinem tiefsinnigen Aufsatz „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil" das Stufenreich der künstlerischen Gestaltung umrissen : von dem primitiven Naturalismus sollte der Weg des vollendeten Künstlers über den poetischen Realismus zu dem Gipfel der objektiv reinen Selbstdarstellung führen; allen drei Entwicklungsphasen hatte er innerhalb des Gesamtverlaufes selbständige Existenzberechtigung zugesprochen. Die drei großen Gedichtsammlungen Heines entsprechen nun aber genau dieser évolution créatice: das „Buch der Lieder" aus der deutschen Jugendphase entspricht der ersten, die „Neuen Gedichte" aus der Pariser Periode der zweiten und der „Romancero" aus der Krankheitszeit der dritten und letzten. Es ist daher eine weitere Tragik in dem zwischen beiden Dichtern obwaltenden Verhältnis, daß Goethe nur den Heine der ersten Phase kennen lernte und bloß ihr zufolge beurteilen konnte; denn wie stetig sich Heine der Erfüllung der Goetheschen Forderung näherte, lehrt ein Blick auf seine lyrische Stilentwicklung. Der lyrische Ertrag seiner deutschen Jugendjahre, wie er in dem „Buch der Lieder" (1827) vorliegt, hat mit Goethes Lyrik vor allem ein Moment gemeinsam : auch in ihm herrscht Eros, der alles begonnen. In die Tändeleien und Drolerien des Rokoko waren zuerst Günthers naturhafte Klänge hineingebrochen, aber erst Goethe hatte der erotischen Lyrik eine von der Leidenschaft bis zur Entsagung auf- und abgleitende Skala von Tönen geschenkt, im Vergleich zu der selbst Sappho oder Petrarca arm erscheinen mochten. Während aber aus Goethe ein mächtiger Gefühlsstrom hervorquillt, der die Lust erbeutet und selbst noch im Verzicht die Miene des Siegers beibehält, ist der junge Heine der von nagenden Schmerzen zerrissene Sänger verschmähter Liebe, die er frei-

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lieh mit derselben poetischen Lebenswahrheit in sich auszutragen und zu idealisieren weiß wie der siegende Meister. Der Ernst seiner Erlebnisse duldet aber genau so wenig wie bei der Goetheschen Liebeslyrik die Schranken der Standespoesie: die niedere Minne nimmt daher in seinem lyrischen Schaffen einen breiten Raum ein, denn er wußte die Schätze, die in der naiven Sinnlichkeit der Mädchen aus dem Volke lagern, ebenso gut zu würdigen wie Goethe oder Walther von der Vogelweide; es ist daher wohl kein Zufall, wenn Burdach gerade in seinem Walther-Buche Heine einen „der genialsten und ursprünglichsten Lyriker" nennt (S. 115). Goethes ,,Divan" hatte Heine das erhabenste Muster einer erotischen Erlebnis- und Reflexionslyrik dargeboten; er wurde außerdem sein Vorbild in der meisterhaften Kunst, Gedichte zu Zyklen und Büchern zu vereinen: um dieser Gabe willen hat ihn Brecht in seinem C. F. Meyer-Buche den großen Ordner genannt. Die ersten Jugendpoesien Heines blieben allerdings in einem Punkte weit hinter der reifen Kunst Goethes zurück: ihrer impressionistischen Stimmungsmalerei gelang es nämlich nicht, entsprechend Goethes synthetischer Art Natureindrücke mit dem Ausdruck des Seelischen symphonisch zu verbinden, weil romantische Traumtöne und Phantasien noch die Klarheit des Heineschen Naturgefühls beeinträchtigten; erst die unvergleichlichen Nordseegesänge bringen einen gewaltigen Natureindruck zu einem ebenso gewaltigen künstlerischen Ausdruck: indem Heine die Poesie des Meeres für die deutsche Literatur entdeckte, ging er entschieden über den Umkreis der Goetheschen Lyrik hinaus. Wenn er vorher seinen epigrammatisch knapp gefaßten Versstil an der reinen Lyrik Goethes geschult hatte, so ging er nunmehr auch darin über Goethe hinaus, daß er endgültig den Hemmschuh der antiken Metrik bei Seite warf und zu dem eigentlich deutschen Versprinzip des freien Rhythmus zurückkehrte. Trotz ihres dithyrambischen Schwunges besitzen diese freien Rhythmen eine größere innere Geschlossenheit als das äußerlich zusammenschließende Versschema, wie es sowohl im Bereiche der antikisierenden deutschen Verskunst als auch im exo-

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tischen Formenspiel der Spätromantik anzutreffen ist: denn das Geheimnis der inneren Form verbindet Heine mit Goethe, sie beide bannen den lyrischen Gehalt gewissermaßen in eine geschlossene Form, während er bei einem höchstbegabten Romantiker wie Brentano in einer offenen Form stecken bleibt und daher trotz seiner mächtigen Intensität sich verflüchtigt. — Heine ward nicht müde, den Zauber der Goetheschen Liederkunst auf sich wirken zu lassen und in seiner Eigenart zu ergründen: gerade in seine zweite Schaffensperiode fallen hochbedeutsame Äußerungen über dieses Thema. Wie tief der Dichter den Dichter nachzuerleben weiß, erhellt die wundervolle Paraphrase aus dem Buche über die deutsche Religion und Philosophie: „Diese Goetheschen Lieder haben einen neckischen Zauber, der unbeschreibbar. Die harmonischen Verse umschlingen dein Herz wie eine zärtliche Geliebte; das Wort umarmt dich, während der Gedanke dich küßt. (IV, 274)" Die höchsten Erhebungen des deutschen Geistes findet er daher in der Philosophie und im Iviede (VI, 71); und denselben Gedankengang spinnt die „Einleitung zum Don Quichotte" (1837) weiter: er vergleicht die einzelnen Völker untereinander und findet den Vorrang Deutschlands in der lyrischen Dichtung namentlich durch Goethe garantiert, weil für sein Wertempfinden neben Cervantes als dem größten Epiker und Shakespeare als dem größten Dramatiker Goethe als der größte Lyriker ebenbürtig dasteht (VII, 316). Er hält sich hierbei für besonders befugt, Goethe als den bedeutendsten Lyriker zu preisen, weil die ihm nahe stehende Kunstrichtung einen in Goethes Sinne gesunden Realismus pflege, während die ihm antipodische schwäbische Dichterschule sich kränkelnd und frömmelnd betätige: und in der Tat ist seine zweite lyrische Sammlung, die „Neuen Gedichte" (1844), erfolgreich bemüht, aus den Erkenntnissen der Goetheschen Art die künstlerischen Schlußfolgerungen zu ziehen. Hier trifft Heines Tonfall die große lyrische Form der kleinen Lieder Goethes; er beherrscht mit souveräner Gebärde das Arsenal der metaphorischen und allegorischen Vorstellungen; wiederum rollt in dem Zyklus

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„Verschiedene" das Eros-Thema in unerschöpflichen Variationen an uns vorüber, während die prächtigen Zeitgedichte und die großen satirischen Epen das Niveau der plastischen Anschaulichkeit Goethes innehalten. Gewiß darf man die andersartige Atmosphäre dieser Poesie nicht außer Acht lassen: Goethes Urerlebnis deutet auf mystischen Ursprung, seine Weltfrömmigkeit, die das Göttliche im Werdenden verehrt, teilt sich daher auch seinen lyrischen Gebilden mit; Heines Urerlebnis ist dagegen humoristisch im hohen Sinne Schopenhauers: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung spiegeln sich deshalb in seinem lyrischen Stil. So verschieden demnach die Inhalte seiner Lyrik von den Goetheschen waren, durch den Wert seiner künstlerischen Arbeit trat er dennoch an die Seite des Meisters: nie kam er ihm so nahe wie in seiner lyrischen Todessymphonie, dem „Romancero" (1851). In ihm erreicht er die höchste Stufe einer symbolischen Poesie, die den erlebten Vorgang nicht mehr nach seinem realen Sachverhalte, sondern als Gleichnis höherer Erkenntnisse und Wahrheiten deutet; in diesen grandiosen Versen schließt sich der Ring einer künstlerischen Entwicklung, denn Tragik und Komik halten sich in ihnen die Wage. In dieser letzten lyrischen Ernte sind auch die Früchte am herrlichsten gereift, die von jeher den Blüten aus dem Wundergarten der Goetheschen I^yrik am meisten nahekamen: die großen Balladen. Wie sehr Heine auch auf diesem Gebiete Goethe bewundert und ihm nachgeeifert hat, geht etwa aus der Schrift „Elementargeister" hervor, wo er die „Braut von Korinth" als eines der schönsten Gedichte Goethes bezeichnet und sogar die Quellenfrage in den Kreis seiner wissenschaftlichen Erörterung einbezieht (IV, 392). In der Balladenkunst ist er zu der synthetisch zusammenfassenden Gestaltung Goethes gelangt und hat die impressionistische Bewegtheit seiner reinen Lyrik verlassen: das Anekdotische der Handlung weist als Symbol auf ein höheres Geschehen, alles ist auf den prägnantesten und schlagendsten Ausdruck gebracht, so daß wir sehr wohl begreifen können, wenn man neuerdings vor allem den Balladendichter Heine feiert.



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II. Goethe und Heine als Künstler stimmen darin überein, daß sie beide ergrimmte Feinde einer dilettantischen Kunstausübung sind. Gemeinsam ist ihnen daher auch der ungeheure Ernst, mit dem sie ihre künstlerische Arbeit verrichten, sowie der erstaunliche Fleiß, der sie im Lernen nicht ermüden läßt. Freilich ist diese Gabe Heine ebenso wenig wie Goethe mühelos zuteil geworden: in seiner Frühzeit drohte ihm sogar das echt romantische Schicksal, ein Opfer einer großen, aber undisziplinierten Begabung zu werden, bis dann Rahel durch den Hinweis auf Goethe ihn zur Konzentration verpflichtete. Mit welcher Hingabe Heine dieser hohen Forderung nachkam, lassen die Aufzeichnungen Karl Hillebrands erkennen: seit Raheis Weckruf wendet er von der dichterischen Technik Goethes das Auge nicht mehr ab. So beruhigt er gewissermaßen sein künstlerisches Gewissen durch die Feststellung, daß Goethe gleichfalls vorhandene Stoffe und Motive sorglos übernommen habe (IV, 527; VII, 429; Houben, S. 746). So oft er sich freilich die Eigenart des Goetheschen Prosastiles klar zu machen suchte, mußte ihm der Gegensatz zu seiner eigenen Prosa bewußt werden. Während er auf dem Gebiete der Lyrik Goethe uneingeschränkte Verehrung widmete, wovon noch manche geistreiche Bemerkung der „Gedanken und Einfälle" zeugt, war er kein so unbedingter Bewunderer der Prosa des Meisters. Wir sahen, wie er in dem früher erwähnten Briefe an Varnhagen das Schwerfällig-Abstrakte des Goetheschen Altersstiles tadelte; und dieser Einwand wird noch in der „Einleitung zum Don Quichotte" bei aller Anerkennung festgehalten (VII, 317). Trotzdem erkannte er auch auf diesem Gebiete die gewaltigen Leistungen Goethes an: wir erinnern nur daran, wie treffend er im ,,Werther" die leidenschaftliche Seelengeschichte, im „Wilhelm Meister" den schlechthin großen Roman und der Weisung Goethes folgend in „Dichtung und Wahrheit" das umfassende Zeitgemälde gekennzeichnet hatte. Aus einem Briefe an Lewald (25. 1. 1837) geht hervor, wie er in Goethe den Klassiker der Prosa

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ebenfalls zu schätzen weiß und wie er sich selbst als den Erben der großen deutschen Stilkonvention empfindet (vergl. Hirth, II, 136). Freilich von dem monumentalen Wurfe einer sprachlichen Architektur, wie er sie unter Raheis Führung bei Goethe vorgefunden hatte, war der impressionistisch vibrierende Stil seiner eigenen Prosa weit entfernt. Ihre subjektive Färbung besaß weder die großartige Einheitlichkeit noch die Fähigkeit, einzelne Episoden zu mächtigen Komplexen zusammenzuschließen. Hier erweist sich die Gestaltungskunst Goethes ebenso überlegen wie in dem weit größeren Formenreichtum und vor allem in der Kraft der Menschendarstellung. Freilich werden wir guttun, wenn wir den andersartigen Charakter der Heineschen Prosa nicht nur nach ästhetischen, sondern auch nach allgemein geschichtlichen Voraussetzungen erklären: in Goethes Sätzen schwingt noch das vornehme Fluidum aus den Salons des Dixhuitieme, — in Heines Sätzen stürmt dagegen das Tempo einer neuen Zeit voller sozialer Probleme und politischer Aktualitäten; in diesem Sinne ist es wohl nicht unrichtig, wenn ein moderner Romankünstler Heine als den Mann hinstellt, der vielleicht das erste moderne Deutsch geschrieben habe. Heine war Künstler, folglich erlebte er Goethe nicht bewußt verstandesmäßig, sondern hinter dem Geschaffenen wurde für ihn die sinnliche Nähe des Schöpfers spürbar: daher ist es vor allem die große Persönlichkeit, die ihn teils anzog, teils abstieß und schließlich durch die siegreiche Macht ihres Wesens gewann. Wir wissen ein jeder aus eigener Erfahrung, wie sehr ein persönlicher Eindruck alle übertragenen Eindrücke hinter sich läßt: und tatsächlich erhält Heines Verhältnis zu Goethe erst durch die persönliche Begegnung einen nachdrücklichen Akzent; seitdem war die Gestalt des königlichen Greises unverlierbar seinem Gedächtnis eingeprägt. Fragen wir nun zuletzt, welches Ergebnis dieses wechselseitige Verhältnis für Heine zeitigte, so kann es nicht hoch genug veranschlagt werden. Nicht nur daß ihm Goethe zu der Erkenntnis seines eigenen Wesens verhalf, er gab ihm noch



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mehr: nämlich den Glauben an den deutschen Menschen und an die Möglichkeit einer deutschen Kultur. Dieselbe Empfindung, die Goethe zur Flucht nach Italien veranlaßte, hatte ihn nach Paris getrieben: eine erschütternde Vereinsamung, die ihn trotz lauter Erfolge daran zweifeln ließ, ob er bei der damaligen Beschaffenheit des deutschen Wesens für seinen eigentlichen Wert jemals das Verständnis und die Liebe finden werde, deren keine schöpferische Natur entraten kann. Wie jeder große Sohn einer Nation bedurfte er der fördernden Liebe der Mutter; und wie so mancher der großen Deutschen wollte er schier verzweifeln über den Geist der Schwere, der sich im Vaterlande auf seine Organe legte. Denn es muß als eine tragische Ironie seines Lebens angesehen werden, daß eine ebenbürtige Natur wie etwa Hebbel ihm erst in Paris nahetrat; wenn er aber nahe daran sein mochte, wie Hölderlin, Platen oder Kleist am Geiste der Heimat irre zu werden, dann richtete er wohl sein Auge auf die Gestalt Goethes, die ihm die Möglichkeit einer künftigen deutschen Kultur zu verbürgen schien. Es ist sehr bemerkenswert, daß bereits in seinen Gesprächen der Gedanke auftaucht, Goethe sei nur zufällig ein Deutscher; dasselbe hatte Nietzsche im Sinne, wenn er Goethe als den Ausnahmedeutschen bezeichnete: sie beide wollten damit sagen, daß erst eine dem Geiste Goethes entsprechende Form des deutschen Daseins die wahre deutsche Kultur darstellen werde. Heine fühlte sich aber Goethe verwandt durch den Willen, das individuelle Leben unter Einsatz seiner seelischen Energie in dieser irdischen Existenz zu verwirklichen, und wegen dieser Eigenschaft durfte ihn Nietzsche ein europäisches Ereignis nennen.

Literatur W. Robert-tomow: Goethe in Heines Werken, 1883 (im wesentlichen eine Exzerptensammlung). L. Geiger: Goethe und Heine, Die Gegenwart Bd. 25 (1884) Nr. 8 (Kritik des Robert-tornowschen Buches, dessen Aufgabe als ungelöst bezeichnet wird.) G. Karpeles: Heinrich Heine und seine Zeitgenossen, 1888 (darin Abschnitt Goethe und Heine ohne tiefgreifende Gesichtspunkte). E . Grisebach: Das Goethesche Zeitalter, 1891 (beschäftigt sich auf S. 141/44 mit dem Einfluß Goethes auf den Dichter Heine). 0 . Walzel: Heine und Goethe, Sonntagsbeilagen der Voss. Ztg. 1895, Nr. 39/40 (stellt das Problem in einen größeren Zusammenhang). E . Elster: Heine und Christiani, DeutscheRundschau, 1900/01 (befaßt sich mit Heines Besuch bei Goethe). O. Kanehl: Der junge Goethe imUrteil des jungen Deutschland, 1913 (verficht die einseitige These, daß Heine vor allem den jungen Goethe geliebt habe). E . Loewenthal: Studien zu Heines Reisebildern, Palästra 138, 1922 (behandelt die Stellung zu Goethe in den Reisebildern). J . P. Eckermann: Beiträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe, Stuttgart 1823. H. F . W . Hinrichs: Aesthetische Vorlesungen über Goethes Faust, Halle 1825. W. v. Humboldt: Aesthetische Versuche, Braunschweig 1799. K . E . Schubarth: Zur Beurteilung Goethes, Breslau 1820. F . K . Schütz: Goethe und Pustkuchen, Halle 1822. K . A. v. Varnhagen: Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden, Berlin 1823. F . G. Zimmermann: Neue dramaturgische Blätter, Hamburg 1827/28. J . B a b : Goethe und die Juden, 1926. E . H. Boucke: Heine im Dienste der Idee, Euphorion, Bd. 16. G. Brandes: Das junge Deutschland. Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts Bd. 6. J . W. Braun: Goethe im Urteile seiner Zeitgenossen, 1883. A. W. Fischer: Ueber volkstümliche Elemente in Heines Gedichten, 1904.



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H. Friedemann: Die Götter Griechenlands von Schiller bis Heine, 1905R . Götze: Heines Buch der Lieder und sein Verhältnis zum deutschen Volkslied, 1895. Helene Herrmann: Studien zu Heines Romancero, 1906. M. Holzmann: Aus dem Lager der Goethegegner, 1904. H. H. Houben: Jungdeutscher Sturm und Drang, 1 9 1 1 . H. Maync: Geschichte der deutschen Goethebiographie, 1914. G. Mücke: Heines Beziehungen zum deutschen Mittelalter, 1907. J . Proelss: Das junge Deutschland, 1892. P. Remer: Die freien Rhythmen in Heines Nordseebildern. 1889. M. Seelig: Die dichterische Sprache in Heines Buch der Lieder, 1891. H. Teweles: Goethe und die Juden, 1925. R. Unger: Wandlungen des literarischen Goethebildes seit hundert Jahren; in den Aufsätzen zur Literatur- und Geistesgeschichte, 1929. O. Walzel: Heines Tanzpoem „Der Doktor Faust", 1917. Heines Werke sind nach der kritischen Ausgabe von Ernst Elster (erste Fassung), Heines Briefe nach der kritischen Ausgabe von Friedrich Hirth, Heines Gespräche nach der kritischen Ausgabe von H. H. Houben zitiert.

Germanisch und Deutsch Studien zur Sprache und Kultur Heft i : Die Texgteschlchte des Wolframschen Parzlval.

Von

E D U A R D H A R T L . I. T e i l : Die jüngeren G-Handschriften. i. Abteilung: Die Wiener Mischhandschriftengruppe W (Gn G8 GfJt G