Heimdallr – der rätselhafte Gott: Eine philologische und religionsgeschichtliche Untersuchung 9783110421958, 9783110426519

In the world of the Old Norse gods, Heimdallr represents a many-faceted and opaque figure. Researchers have failed until

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Heimdallr – der rätselhafte Gott: Eine philologische und religionsgeschichtliche Untersuchung
 9783110421958, 9783110426519

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen der wichtigsten Handschriften
1 Einführung
1.1 „Der rätselhafte Gott“. Zur Forschungslage
1.2 Die Quellen
1.3 Die frühere Forschung
1.4 Die vorliegende Untersuchung
1.4.1 Positionierung, Methode und Abgrenzung
1.4.2 Das Ordnungsmodell der Mythologie
2 Die Vaterschaft Heimdalls
2.1 Die Belege
2.2 Die Rígsþula als Quelle
2.2.1 Der Status der Stände
2.2.2 Die altenglischen Lehnwörter
2.2.3 Die Beziehung zur Sigurðr- und Helgidichtung
2.2.4 Bedeutung und Ursprung des Namens Rígr
2.2.5 Die Formulierung einer sozialen Ideologie
2.3 Auslegung
2.3.1 Rígs Identität: Textinterne Argumente
2.3.2 Rígr und Heimdallr
3 Der Kampf um das Brísingamen
3.1 Die Belege
3.2 Auslegung
4 Heimdalls Geburt
4.1 Die Belege
4.1.1 Húsdrápa 2
4.1.2 Heimdallargaldr
4.1.3 Die Hyndlu ljóð
4.1.4 Weitere Belege der Formel in Hyndlu ljóð 38
4.2 Auslegung
4.2.1 Heimdalls neun Mütter
4.2.2 Heimdalls Kraftstärkung
5 Heimdalls Horn
5.1 Die Voluspá als Quelle
5.2 Die Belege
5.2.1 Voluspá 46
5.2.2 Voluspá 27
5.3 Auslegung
6 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndlu ljóð
6.1 Die Hyndlu ljóð als Quelle
6.2 Die Rahmenerzählung
6.2.1 Nacherzählung und Forschungsübersicht
6.2.2 Óttarr ungi und das Odalrecht auf das Königtum
6.3 Das mythologische Thema der skamma
6.4 Die Hyndlu ljóð als Ganzes
6.4.1 Die Mythologisierung des Erbstreits
6.4.2 Heimdallr und die soziale Ideologie der Hyndlu ljóð
6.4.3 Heimdalls Wiederkehr?
7 vordr goða
7.1 Zu Heimdalls angeblich dualistischem Charakter
7.2 Die Belege des Begriffes vorðr goða in der Eddadichtung
7.2.1 Grímnismál 13
7.2.2 Lokasenna 48
7.2.3 Skírnismál 28
7.3 Auslegung
7.3.1 Der Wächter der Götter in der Eddadichtung
7.3.2 Der Wächter der Götter bei Snorri Sturluson
8 Heimdalls Wohnort
8.1 Die Belege
8.1.1 Die schriftlichen Quellen
8.1.2 Heimdalshaugen
8.2 Auslegung
9 Der Name Heimdallr
10 Heimdallr und der Widder
10.1 Die Belege
10.2 Auslegung
10.2.1 Die Entwicklung der „Widdertradition“
10.2.2 Heimdalls Tod?
11 Schlussbetrachtungen
12 Literaturverzeichnis
12.1 Primärliteratur
12.2 Sekundärliteratur
13 Register
13.1 Wörter, Sachen und mythologische Wesen
13.2 Quellen und Autoren der Primärliteratur
13.3 Forscher und Autoren der Sekundärliteratur

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Sebastian Cöllen Heimdallr – der rätselhafte Gott

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Heinrich Beck · Sebastian Brather · Dieter Geuenich · Wilhelm Heizmann · Steffen Patzold · Heiko Steuer

Band 94

Sebastian Cöllen

Heimdallr – der rätselhafte Gott Eine philologische und religionsgeschichtliche Untersuchung

ISBN 978-3-11-042651-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042195-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042201-6 ISSN 1866-7678 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Seite VI: Der Runenstein von Jurby, Isle of Man. Aus: P. M. C. Kermode. Traces of the Norse mythology in the Isle of Man. London: Bemrose & Sons, 1904. © Bemrose & Sons. Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Heimdallr h(eitir) eiɴ; hann er kalladr hviti as; hann er mikill ok heilagr; hann barv at syni meyiar niv ok allar systr; hann heitir ok Hallinskiþi ok Gvllintaɴi; teɴr hans varv af gvlli; hestr hans h(eitir) Gvlltoppr. Hann býr þar er heitir Himinbiorg vid Bifrꜹst; hann er vꜹrðr goþa ok sitr þar við himins enda at gæta brvariɴar firir bergrisvm; hann þarf miɴa svefn en fvgl; hann ser iafnt nott sem dag hvɴdrat rasta fra ser; hann heyrir ok þat, er gras vex aiorþv e(ða) vll a savþvm ok allt þat, er hæra lætr; hann hefir lvðr þaɴ er Giallarhorn h(eitir), ok heyrir blastr hans ialla heima. (Snorra-Edda, Gylfaginning 15, 32 f.)

Der Runenstein von Jurby, Isle of Man

Vorwort Der Gott Heimdallr stellt in der alt(west)nordischen Götterwelt eine ebenso vielschichtige wie undurchsichtige Gestalt dar. Die Frage nach dem Charakter und der Funktion dieses Gottes hat die bisherige Forschung, siebzig Jahre nach der letzten Heimdallr-Monographie, nicht befriedigend beantworten können. Diese Sachlage wird schon durch die im Titel dieser Arbeit aufgenommene und in der Sekundärliteratur geläufige Bezeichnung von Heimdallr als „dem rätselhaften Gott“ angedeutet. Der Versuch, diesen Gott zu „enträtseln“ und das Wissen über ihn zu vertiefen, ist die Aufgabe des vorliegenden Werkes. Bevor diese Aufgabe in Angriff genommen wird, sollen aber einige kleinere Bemerkungen hier vorausgeschickt werden, um die Untersuchung mit diesen später nicht unterbrechen zu müssen. Bei Zitaten aus der Lieder-Edda wird in der Arbeit die diplomatarische Ausgabe Sophus Bugges1 verwendet, die sich für eine textkritische Arbeit vor den normalisierten Ausgaben wie z. B. der für Studien der Nordistik geeigneten Ausgabe Gustav Neckels und Hans Kuhns empfiehlt2. Der Kursivdruck von in den Handschriften nicht ausgeschriebenen Wortteilen macht zwar die Wiedergabe etwas unschön; ich habe es aber für besser befunden, diese beizubehalten, als Bugges Interpretation der Abkürzungszeichen zu übernehmen. Zitate und Nummerierungen der Snorra-Edda folgen gewöhnlich Finnur Jónssons diplomatarische Ausgabe von 19313, nicht der normalisierten Ausgabe von Faulkes. Bei Übersetzungen folge ich dem Prinzip, Prosa aus der Primär- und Sekundärliteratur nur in der Originalsprache wiederzugeben, längere poetische Zitate aus den fremdsprachigen Primärquellen werden dagegen stets mit Übersetzungen versehen, da jene häufig archaische Ausdrücke, komplizierte Wortfolgen oder Ähnliches enthalten. Bei Zitaten aus der Lieder-Edda werden in der Regel die Übersetzungen der Frankfurter Edda-Ausgabe4 gefolgt, wobei ich mir das Recht vorbehalten habe, die altisländischen Personennamen und die deutsche Rechtsschreibung gemäss den in der vorliegenden Arbeit gefolgten Regeln stillschweigend zu ändern. Die Übersetzungen und alle eckigen Klammern stammen, wenn nicht anders angegeben wird, von mir, dem Verfasser. Namen von Liedern, Personen und mythologischen Wesen werden immer in der Schreibweise der Originalsprache wiedergegeben. Des Wohlklanges wegen werden dabei im deutschen Text altisländische Personennamen, die urnordisch auf ein später assimiliertes bzw. nichtassimiliertes -ʀ enden, außer wenn das -ʀ zur Wurzel

1 Norrœn Fornkvæði. 2 Vgl. Lindblad, Centrala eddaproblem, 25. 3 Snorra-Edda, ed. Finnur Jónsson. 4 Edda, ed. von See I ff.

VIII 

 Vorwort

gehört, im Genitiv als Stamm + -s5 wiedergegeben, also Heimdallr, Genitiv Heimdalls aber Baldr, Genitiv Baldrs. Daneben werden einige im Deutschen eingebürgerte, ursprünglich altnordische Begriffe wie „Odal“, „Ragnarök“ und „Asgard“, die in der Arbeit häufig wiederkehren, in eingedeutschter Form geschrieben. Terminologisch ist dabei zum Begriff „Utgard“ (altnordisch Útgarðr) zu bemerken, dass er zwar als Quellenbegriff schlecht belegt ist6, auf der Metaebene aber eine Größe bezeichnet, die auf der Objektebene unzweideutig relevant ist: Die feindlich konzipierte Welt in der Peripherie von Asgard und Midgard. Der Begriff wird hier in diesem Sinn verwendet. Die Hinweise folgen dem System: [Kurztitel x], 1 = [x], S. 1; [x] 1 = [x], Str. (Kap. usw.) 1; [x] 1. 2 = [x], Str. 1 und 2; [x] 1, 2 = Kap. 1, S. 2; [x] 1,2 = [x], Str. 1, Z. 2. Die Kurztitel umfassen gewöhnlich die ersten ein bis vier Wörter des Haupttitels des referierten Werkes; wenn sich in Ausnahmefällen aus diesen keine semantisch sinnvolle Einheit darstellen lässt, werden ein bis zwei andere zentrale Wörter des Haupttitels als Kurztitel verwendet. Einige besonders häufig verwendete Wörterbücher und Ausgaben sind in den Hinweisen mit Siglen bezeichnet; diese sind im Literaturverzeichnis aufgelöst. Weiters ist anzumerken, dass im Interesse des Textflusses und der Lesefreundlichkeit in der vorliegenden Arbeit nach Möglichkeit geschlechtsunspezifische Termini verwendet werden. Alle sonstigen im Sinne einer Gleichbehandlung der Geschlechter in Frage kommenden Bezeichnungen schließen in ihrer Bedeutung im Text durchgehend gleicherweise die weibliche und die männliche Form mit ein, ausgenommen sind lediglich Formulierungen, die sich tatsächlich nur auf ein bestimmtes Geschlecht beziehen. Die Arbeit wurde im September 2011 von der Theologischen Fakultät der Universität zu Uppsala als Dissertation angenommen. Seitdem wurde der Inhalt in Teilen überarbeitet und die Sekundärliteratur durch einige einschlägige Titel ergänzt. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde habe ich Prof. Dr. Dr. h. c. Heinrich Beck, Prof. Dr. Wilhelm Heizmann und den Herausgebern meinen ausdrücklichen Dank auszusprechen. Im Laufe der Jahre waren viele Personen für die Fertigstellung der Arbeit von Bedeutung. Meinen Dank habe ich natürlich meiner Doktormutter Prof. Dr.  Eva Hellman und meinem assistierenden Doktorvater Dr.  Torsten Blomkvist auszusprechen. Dankbar gedenke ich auch des höheren Seminars für Religionsgeschiche am Theologischen Institut an der Universität Uppsala mit deren beiden Professoren,

5 Der Erkennbarkeit halber werden keine Genitivformen verwendet, die sich von der Bildung des Genitivs im Deutschen auf -s unterscheiden (wie beispielsweise Sigríð-r, Genitiv -ar oder Snorr-i, Genitiv -a), ausgenommen, es handelt sich um fixe und/oder allgemein bekannte (Fach-) Ausdrücke (z.   B. Snorra-Edda). 6 Kuhn, Religionsgeschichte; vgl. später Clunies Ross, Prolonged echoes I, 50 ff.; Brink, Mytologiska rum; Vikstrand, Ásgarðr.

Vorwort 

 IX

Prof. Dr.  Mattias Gardell und Prof. emir. Dr.  Peter Schalk, wobei mir der Letztere auch unschätzbare Kontakte vermittelte. Ständige Quellen für Anregungen und Inspiration waren die Seminare von SSESSoC, später ENES, und von Fornnordisterna, „unter anarchistischer Führung“ von Dr.  Heimir Pálsson und Prof. Dr.  Henrik Williams. Für wertvolle Diskussionen und Anmerkungen bzw. für die Lektüre von beibehaltenen oder später weggelassenen aber für die Vorarbeit dieser Untersuchung trotzdem wichtigen Kapiteln habe ich Prof. Dr. Dr. h. c. Heinrich Beck, Prof. Dr. Stefan Brink, Prof. Dr. Michael Gelting, Prof. Dr. Wilhelm Heizmann, Prof. emer. Dr. Anders Hultgård, Dr.  Lasse Mårtensson, Dr.  Astrid van Nahl, Dr.  Daniel Sävborg und nicht zuletzt Dr.  Olof Sundqvist zu danken. Schließlich sei ein besonderer Dank an Gästrike-Hälsingland Studentennation und die Stiftung Göransson-Sandviken, deren Stipendium einen Teil meiner Forschungsarbeit ermöglichte, gerichtet. Uppsala, im April 2015 Sebastian Cöllen

Inhaltsverzeichnis Vorwort | VII Abkürzungen der wichtigsten Handschriften | XV 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2

Einführung | 1 „Der rätselhafte Gott“. Zur Forschungslage | 1 Die Quellen | 3 Die frühere Forschung | 10 Die vorliegende Untersuchung | 19 Positionierung, Methode und Abgrenzung | 19 Das Ordnungsmodell der Mythologie | 26

2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.2

Die Vaterschaft Heimdalls | 40 Die Belege | 40 Die Rígsþula als Quelle | 49 Der Status der Stände | 53 Die altenglischen Lehnwörter | 62 Die Beziehung zur Sigurðr- und Helgidichtung | 64 Bedeutung und Ursprung des Namens Rígr | 71 Die Formulierung einer sozialen Ideologie | 79 Auslegung | 92 Rígs Identität: Textinterne Argumente | 92 Rígr und Heimdallr | 96

3 3.1 3.2

Der Kampf um das Brísingamen | 106 Die Belege | 106 Auslegung | 118

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2

Heimdalls Geburt | 130 Die Belege | 130 Húsdrápa 2 | 130 Heimdallargaldr  | 130 Die Hyndluljóð | 131 Weitere Belege der Formel in Hyndluljóð 38 | 135 Auslegung | 137 Heimdalls neun Mütter | 137 Heimdalls Kraftstärkung | 149

XII 

 Inhaltsverzeichnis

5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3

Heimdalls Horn | 154 Die Vǫluspá als Quelle | 154 Die Belege | 162 Vǫluspá 46 | 162 Vǫluspá 27 | 169 Auslegung | 172

6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3

Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð | 178 Die Hyndluljóð als Quelle | 180 Die Rahmenerzählung | 187 Nacherzählung und Forschungsübersicht | 187 Óttarr ungi und das Odalrecht auf das Königtum | 199 Das mythologische Thema der skamma | 204 Die Hyndluljóð als Ganzes | 209 Die Mythologisierung des Erbstreits | 209 Heimdallr und die soziale Ideologie der Hyndluljóð | 210 Heimdalls Wiederkehr? | 215

7 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2

vǫrdr goða | 221 Zu Heimdalls angeblich dualistischem Charakter | 223 Die Belege des Begriffes vǫrðr goða in der Eddadichtung | 228 Grímnismál 13 | 228 Lokasenna 48 | 232 Skírnismál 28 | 238 Auslegung | 241 Der Wächter der Götter in der Eddadichtung | 241 Der Wächter der Götter bei Snorri Sturluson | 243

8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.2

Heimdalls Wohnort | 247 Die Belege | 247 Die schriftlichen Quellen | 247 Heimdalshaugen | 247 Auslegung | 249

9

Der Name Heimdallr | 254

10 Heimdallr und der Widder | 259 10.1 Die Belege | 260 10.2 Auslegung | 267 10.2.1 Die Entwicklung der „Widdertradition“ | 267 10.2.2 Heimdalls Tod? | 270

Inhaltsverzeichnis 

11

Schlussbetrachtungen | 272

12 12.1 12.2

Literaturverzeichnis | 278 Primärliteratur | 278 Sekundärliteratur | 282

13 13.1 13.2 13.3

Register | 300 Wörter, Sachen und mythologische Wesen | 300 Quellen und Autoren der Primärliteratur | 303 Forscher und Autoren der Sekundärliteratur | 309

 XIII

Abkürzungen der wichtigsten Handschriften Die Ältere oder Lieder-Edda: A = Codex Arnamagnæanus, AM 748, 4o F = Flateyjarbók, Codex Regius 1005, fol. H = Hauksbók, AM 544, 4o R = Codex Regius, GKS 2365, 4o Die Snorra-Edda: r = Codex Regius, GKS 2367, 4o T = Codex Trajectinus, Utrecht 1374 (Papierhandschrift) U = Codex Upsaliensis, DG 11, 4o W = Codex Wormianus, AM 242, fol. 748 I = AM 748 I, 4o 748 II = AM 748 II, 4o, früher 1eβ 757 = AM 757, 4o Heimskringla F = Codex Frisianus, AM 45 fol. J = Jǫfraskinna, J1 = AM 37 fol.; J2 = AM 38 fol. K = Kringla, AM 35, 36, 63 fol. Landnámabók H

= Hauksbók, AM 544, 4o

1 Einführung Heimdall ist eine rätselhafte Gestalt. Was von ihm überliefert ist, klingt märchenhaft. Das Dunkel, das über ihm schwebt, war bisher noch nicht befriedigend zu lichten.¹

1.1 „Der rätselhafte Gott“. Zur Forschungslage Der Gott Heimdallr (Heimdalr)² gehört zu den bekanntesten und gleichzeitig auch zu den unbekanntesten der Götter der altwestnordischen Mythologie. Bekannt ist er, weil man bei der Lektüre der Lieder-Edda zumindest bei der Hälfte der Götterlieder auf Heimdallr stößt und weil die Snorra-Edda ihn in den Listen über die Götter als einen der ersten erwähnt³ und ihm in der Schilderung der Mythologie einen entsprechenden Platz einräumt. Unbekannt bleibt er dennoch, weil es der Forschung bis heute nicht gelungen ist, seine verschiedenen Charakterzüge in ein überzeugendes Verhältnis zueinander zu setzen und so aus den schwer greifbaren Andeutungen der Überlieferung eine Gestalt „Heimdallr“ zu formen. Die frühere Forschung hat, wie in den Forschungsübersichten bemerkt wird⁴, keine übergreifende Kategorie und keine einheitliche Funktion finden können, die die fragmentarischen Angaben zu diesem Gott sinnvoll miteinander verbunden hätte, ohne jeweils einige Seiten von ihm zu vernachlässigen. Aus mehreren Quellen kennen wir Heimdallr vor allem als vǫrðr goða. Die Bezeichnung war in der Forschung Gegenstand kontroverser Interpretationen; geleitet vom Bild Heimdalls, wie es die Snorra-Edda zeichnet, wurde sie aber häufig in der Bedeutung ‚Wächter der Götter‘ übersetzt. Diese Übersetzung ist jedoch nicht unbestreitbar; in der altnordischen Literatur ist auch eine Bedeutung von vǫrðr im Sinn von ‚Beschützer, Verteidiger‘ belegt, und auch andere, weiter hergeholte Deutungen sind vorgeschlagen worden. Die Bezeichnung vǫrðr goða bildet deshalb keinen sicheren Ausgangspunkt für das Verstehen von Heimdalls Wesen, und wie sie genau zu übersetzen ist, soll in der vorliegenden Arbeit zunächst offengehalten werden. Auch wenn die traditionelle Deutung von vǫrðr goða im Sinn von ‚Wächter der Götter‘ (und damit auch Snorris Auffassung von Heimdallr) gutgeheißen wird, wird Heimdalls Charakter nicht viel verständlicher. Das Material scheint zu zeigen, dass Heimdallr in jedem Fall nicht nur ein „Wächter“ war. So werden in der ersten Strophe

1 Golther, Handbuch der germanischen Mythologie, 359. 2 Die Gründe, in dieser Arbeit die Namensform Heimdallr zu bevorzugen, werden in Kap. 9 erläutert. 3 Skáldskaparmál 1, 78; 12  ff. 4 Ellis-Davidson, Gods and myths, 172  f. Ähnlich F. Ström, Nordisk hedendom, 135. Auch Dumézil (Remarques comparatives, 263) spricht von einer „structure unitaire“, die es erlauben würde, die Angaben zu Heimdallr zu einem Gesamtbild zu vereinigen.

2 

 Einführung

der Lieder-Edda (Vǫluspá 1) die gedachten Zuhörer – seien es nun Menschen oder Götter – die „Söhne Heimdalls“ (megir Heimdallar) genannt. Diese zumindest der Anzahl nach nicht gerade unbeträchtliche Nachkommenschaft und das sich daraus ergebende Motiv Heimdalls als Vaterfigur konnten die Forscher nur schwer mit der angeblichen Wächterrolle in Einklang bringen. Zu diesen beiden Eigenschaften kommen aber noch weitere, nicht weniger undurchsichtige: Snorri Sturluson schreibt, Heimdallr habe Zähne aus Gold, und verknüpft seinen Namen mit Bezeichnungen, die auch für den Widder verwendet werden konnten. Weiterhin soll Heimdallr der Sohn von nicht weniger als neun Müttern sein. Als solcher wird er unter anderem in der zweiten Strophe von Úlfr Uggasons Gedicht Húsdrápa bezeichnet. Diese Strophe ist im Übrigen inhaltlich wenig klar, scheint aber einen Kampf des Gottes mit Loki zu schildern. Der Gegenstand, um den sie kämpfen, ist verschieden gedeutet worden: als ein Schmuck, als die Erde, als das Ur-Feuer. Heimdalls Wohnort ist die Himinbjǫrg, die ‚Himmelsberge‘ (?), die sich nach Snorri dort befinden, wo die Regenbogenbrücke die Welt der Götter erreicht. Im Besitz des Gottes befindet sich das Gjallarhorn, das nach der eschatologischen Vision der Vǫluspá am Ende der Welt ertönen soll. Die Aufzählung braucht nicht fortgesetzt zu werden. Die Schwierigkeiten, aus diesen Angaben einen schlüssigen Charakter und eine einheitliche Funktion Heimdalls zu ermitteln, liegen auf der Hand. An Vorschlägen dazu hat es freilich nicht gemangelt, im Gegenteil. In ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit sind sie jedoch nicht weniger verwirrend als die Primärquellen⁵. Aus den z.  T. absolut unvereinbaren Auffassungen von Heimdallr, die seit der Begründung einer eigentlichen „germanischen Religionswissenschaft“ 1835 durch Jacob Grimms „Deutsche Mythologie“⁶ vorgelegt wurden, vermag gemäß dem heutigen Forschungsstand nur eine einzige, wenig ermutigende zu bestehen: die eines „rätselhaften Gottes“⁷. So publizierte z.  B. der bekannte niederländische Religionshistoriker Jan de Vries 1955 unter diesem Titel (französisch „Heimdallr, dieu énigmatique“⁸) einen Artikel, den er mit einer vielsagenden Beurteilung der Resultate der früheren Forschung einleitete: „Maintes fois on a fait des efforts sérieux pour déterminer le caractère du dieu scandinave Heimdallr ;

5 So F. Ström, Nordisk hedendom, 133  f. Für eine ausführlichere Behandlung der früheren Hypothesen zu Heimdallr, siehe unten, Abschnitt 3. 6 J. Grimm, Deutsche Mythologie Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, § 34. 7 Diese Auffassung bestand schon im 19. Jahrhundert. Über die Namensgebung der 1891 gegründeten konservativen Studentenverbindung Heimdal wird z.  B. folgendes erzählt: „Man överlade och man tittade efter de olika namnens betydelse i olika uppslagsböcker. I en – en dansk tror jag – stod ungefär följande: „Om Heimdal känner man ganska litet.“ Detta blev avgörande. Namnet passade förträffligt för den ännu okända föreningen“ (Lindhult, Mytologi och heraldik, 107). Nur einige Jahre früher hatte der gelehrte Germanist Karl Müllenhoff (Frija und der halsbandmythus, 246) vom „rätselhafte[n], ‚märchenhafte[n]‘ wesen des gottes“ gesprochen. 8 de Vries, Heimdallr, dieu énigmatique.

Die Quellen 

 3

le résultat en est néanmoins presque nul“⁹. Der Stand der Forschung hat de Vries allerdings nicht davon abgeschreckt, einige neue Ideen, teilweise mithilfe von Georges Dumézils Theorie der „Ideologie der drei Funktionen“, vorzuschlagen. Dass das Rätsel „Heimdallr“ damit gelöst wäre, scheint aber auch Dumézil selbst nicht gemeint zu haben, denn nur einige Jahre später erklärte er, der Titel von de Vries’ Artikel sei nach wie vor gerechtfertigt¹⁰. Dieses Urteil spiegelt sich auch in den aus dem 20. und gar 21.  Jahrhundert stammenden Handbüchern zur germanischen Religionsgeschichte wider. So bemerkte der schwedische Forscher Folke Ström in seinem Buch „Nordisk hedendom“¹¹, das Bild von Heimdallr sei noch „dunkel“ und die Erklärungsversuche seien ebenso vieldeutig und daher verwirrend wie die Angaben in den Primärquellen selbst. Åke V. Ström schloss sich in seinem Buch „Germanische Religion“ aus dem Jahr 1975 dieser Auffassung an und erklärte Heimdallr zu einer „schwer greifbare[n] Gottheit“¹². Selbst noch in der schwedischen Ausgabe von Gro Steinslands Einführung „Norrøn religion“ aus dem Jahr 2005 finden de Vries’ Worte Nachhall¹³. Diese Forschungslage ist natürlich nicht befriedigend. Wie oben angedeutet, zeigen ja die relativ große Anzahl und der Umfang der Textstellen, die von Heimdallr handeln, dass dieser Gott einen nicht unbedeutenden Platz neben den anderen Göttern der Lieder-Edda einnimmt. In den Handbüchern zur germanischen Religion hingegen führt er ein kümmerliches Dasein und wird es auch weiterhin führen, wenn seine Funktion, sein Charakter und ganz generell seine Bedeutung in der Welt der Nordgermanen nicht näher identifiziert werden.

1.2 Die Quellen Die Quellen, auf die sich die Konstruktion eines Bildes des Gottes Heimdallr zu stützen hat, sind wie gesagt nicht so rar wie jene zu manchen kleineren Gottheiten der altwestnordischen Mythologie. Bezüglich ihrer Art und geographischen Verbreitung sind die Quellen zu Heimdallr allerdings begrenzter. Für Heimdallr gilt der für die größeren Götter ungewöhnliche Umstand, dass seine Existenz fast ausschließlich durch literarische Quellen – und zwar Quellen des nordgermanischen, genauer gesagt des altwestnordischen Sprachgebiets – bezeugt

9 Ebd., 257. 10 „le titre toujours justifié“. Dumézil, Remarques comparatives, 263. 11 2. Aufl. 1967, 133  ff. 12 S. 158; ähnlich Turville-Petre, Myth and religion, 148 („a complicated and enigmatical figure“). 13 So in der vielsagenden Kapitelüberschrift S. 221 „Heimdall – den gåtfulle guden“. Vgl. auch Lindow, Mythology (1988), der den Eintrag „Heimdallr“ treffend überschreibt: „Important but enigmatic god“; ferner Näsström, Fornskandinavisk religion (2002), 127: Heimdallr sei der rätselhafteste aller Götter der „altskandinavischen“ Mythologie, „den mest gåtfulle av alla gudarna i den fornskandinaviska mytologin“.

4 

 Einführung

ist. Abgesehen von einer möglichen Abbildung Heimdalls auf einem Runenstein auf der Isle of Man und einer auf einem Steinstück in Ovingham (Northumberland)¹⁴ schweigt das archäologische Material zu seiner Existenz¹⁵. Nicht besser sieht es bei den Ortsnamen aus, die sonst häufig von älteren, später verblassten Gottheiten oder von solchen, die vorwiegend ostnordisch von Bedeutung waren, Zeugnis ablegen. Ob die mögliche Ausnahme – der norwegische Berg Heimdalshaugen¹⁶ – den Namen des Gottes enthält, ist nicht sicher. Ähnlich „schweigsam“ ist auch das außernordische Schrifttum. Ein Spinnwirtel von Saltfleetby, Lincolnshire, aus dem frühen 11.  Jahrhundert weist wahrscheinlich seinen Namen neben dem des Óðinn auf¹⁷. In lateinischen Quellen, die eine lange und größere Bekanntheit Heimdalls hätten bestätigen können, wird er nicht erwähnt, und auch in ost- und westgermanischen Quellen kommt er nicht vor oder kann als euhemerisierte Gestalt höchstens erahnt werden¹⁸. Im altisländischen Schrifttum dagegen, vor allem in der Eddadichtung und der sich darauf stützenden Snorra-Edda, wird Heimdallr häufig genannt. Wenn man dem gelehrten Snorri Sturluson glauben darf, war ein ganzes Lied – der Heimdallargaldr¹⁹ – nach dem Gott benannt, und mehrere Forscher waren der Meinung, dass Heimdallr der (dann allerdings Rígr genannte) Protagonist des langen Liedes Rígsþula sei. Der weit bekanntere Gott Freyr ist, verglichen damit, nicht in einem einzigen Eddalied die zentrale Gestalt²⁰. Eine besonders herausstechende Position nimmt Heimdallr unter anderem auch in der Vǫluspá und den Hyndluljóð (mit der häufig als interpoliert betrachteten „Kurzen Vǫluspá“, Vǫluspá in skamma) ein. In weiteren Eddaliedern, wie der Lokasenna und der Þrymskviða, tritt er in einigen Strophen handelnd oder sprechend in Erscheinung. In anderen, wie den Grímnis- und den Skírinismál, wird er nur erwähnt. In der späten Skíðaríma (um 1400), die zu den Rímur gehört, hat Heimdallr eine sehr kleine Rolle²¹.

14 Dieses Steinstück wurde erst 1946 gefunden und war den Verfassern der beiden früheren Heimdallr-Monographien nicht zugänglich. 15 Die Abbildung an der Westseite des Gosforthkreuzes stellt wohl nicht Heimdallr, sondern Christus dar; siehe weiter unten, Kap. 5.3. Auch die Identifizierung von Heimdallr mit der Figur auf dem auf dem Altunastein abgebildeten Gerüst ist nicht sehr wahrscheinlich, wie G. W. Weber (Das Odinbild des Altunasteins, 327  f.) festgestellt hat. 16 Siehe unten, Kap. 8.1.2. 17 Daubney, LIN-D92A22. 18 Die Annahme, Jordanes, Getica 14 hätte Spuren von Heimdallr bewahrt, muss als überholt angesehen werden. Dagegen wird Bēowulf (Z. 1197–1201) noch häufig als Quelle zu Heimdallr herangezogen und soll auch in dieser Untersuchung beachtet werden. 19 Das Lied, von dem nur zwei Zeilen bewahrt sind, wird in Ohlmarks’ Heimdallr-Monographie auf S. 119  f. zu den Eddaliedern gezählt. Ein vergleichbarer Titel wäre Grógaldr oder Hrafnagaldr Óðins. 20 In den Skírnismál sind es ja Skírnir und Gerðr, die die Handlung tragen, auch wenn Skírnir auf Freys Befehl zu handeln scheint. 21 Es ist dies eine späte Verwendung des Motivs von Heimdallr und seinem Horn. Hier schlägt er mit diesem einen Mann auf den Mund. Vgl. unten, S. 176.

Die Quellen 

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Auch die Skaldendichtung – Úlfr Uggasons Húsdrápa von ca. 983 und eine Strophe des unbekannten Bjarni (bei Snorri nur mit einem mit A.son abgekürzten Patronymikon näher gekennzeichnet) – enthält Angaben und Mythen zu Heimdallr. Dagegen weist die umfangreiche isländische Sagaliteratur nur wenige Spuren des Gottes auf: Er wird lediglich in Sǫgubrot af fornkonungum und in einer Ausweitung des isländischen Übersetzungswerkes Clemens saga erwähnt. Was aus dieser Sachlage zu folgern ist, kann erst danach diskutiert werden, wenn ein klareres Bild von Heimdalls Charakter gewonnen wurde. Es kann allerdings bereits festgestellt werden, dass Heimdallr hauptsächlich in der altisländischen literarischen Tradition vorkommt, und dort fast ausschließlich in den mythologischen Quellen, d. h. denjenigen Quellen, in denen die Welt der Götter isoliert zum Thema gemacht wird. Von einem „Heimdallr-Kult“, den man – angesichts der herausragenden Position Heimdalls in der Mythologie – vielleicht in der Sagaliteratur vermuten könnte, wird nicht ein Wort erwähnt. Diese Übersicht der Quellen muss an dieser Stelle ausreichen. Wegen der mehrfachen Wiederholungen, die ein Quellenkapitel mit vollständiger Wiedergabe der den Gott Heimdallr betreffenden Textstellen mit sich bringen würde, werden die Textstellen und die Hinweise zu den Stellen ihrer Behandlung lediglich am Ende dieser Arbeit in einem Register gesammelt. Der Quellenwert der einzelnen Texte wird im Laufe der Untersuchung gewöhnlich dort, wo eine Textstelle als Hauptquelle zu Heimdallr zum ersten Mal herangezogen und zitiert wird, näher besprochen. Dabei werden nur für die Lesart unmittelbar relevante Abweichungen verschiedener Textvarianten berücksichtigt; für eine ausführliche Übersicht aller Varianten wird auf die etwa 140 Seiten bei Ohlmarks²² hingewiesen. Auch die Datierung vor allem der Eddalieder soll aus denselben Gründen erst bei den einzelnen Texten näher diskutiert werden. Einige Bemerkungen zum Problem der Datierung seien jedoch vorausgeschickt. Das Problem berührt bekanntlich nicht in erster Linie die Entstehungszeit der überlieferten Handschriften, die recht gut datierbar sind und deren schriftliche Vorlagen in keinem Fall viel weiter als bis zur ersten Redaktion der Snorra-Edda in den ersten Jahrzehnten des 13.  Jahrhunderts zurückgehen²³. Das Problem betrifft vielmehr vor allem das Alter der mündlichen „Textwerke“ („Lied“, im Unterschied zur abstrakteren „Sage“)²⁴, die in der Forschung häufig als Vorstufe der bewahrten Aufzeichnungen vorausgesetzt werden. Fest steht, dass diese Textwerke aus metri-

22 Heimdalls Horn, Teil I A. Merkwürdigerweise verzeichnet Ohlmarks, der sonst auch sehr unsichere Belege aufnimmt, nicht die Forspallsljóð unter den Quellen zu Heimdallr. Da Heimdallr hier in den Strophen 9. 11. 14. 16 und 26 erwähnt wird, wird das allerdings spät entstandene Lied in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt. 23 Lindblad, Centrala eddaproblem. 24 Allgemein zur Frage, wie das zu datierende mündliche bzw. schriftliche „Textwerk“ zu definieren sei, siehe die Diskussion bei Fidjestøl, The dating of Eddic poetry, 196–201, besonders S. 198: Zwei

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 Einführung

schen Gründen nicht vor dem Ende der Synkopenperiode (um 800 n. Chr.) entstanden sein können²⁵. Wie früh oder spät nach dieser Zeit ein Lied entstanden ist, ist jedoch fast immer Gegenstand kontroverser Diskussionen. Generell halte ich es aber für durchaus legitim, für ein Entstehungsdatum eines Textwerks zu argumentieren, welches vor dessen Verschriftlichung liegt. Zwar wurde die sogenannte „oral formulaic theory“, die auf Albert B. Lords und Milman Parrys Untersuchungen zur mündlichen serbischen Volksdichtung zurückging und die jede mündliche Wiedergabe als einen neuen „Text“ betrachten wollte, auch auf das Studium der altnordischen Eddadichtung übertragen²⁶. Wenn dies berechtigt ist, würde es bedeuten, dass immer nur die jüngste einer Reihe ganz unterschiedlicher Variationen zu einem gewissen Thema schriftlich fixiert würde; über die früheren „Texte“ könnte dann wenig ausgesagt werden. Wie Lars Lönnroth gezeigt hat, ist es aber nicht sicher, dass diese Theorie auch die Eddadichtung, die sowohl kürzer als „dichter strukturiert“ als die von Parry und Lord untersuchten epischen Volkslieder ist, treffend beschreiben kann²⁷. Einleuchtend scheint mir eher der Vergleich mit der der Eddadichtung nicht diametral unähnlichen Skaldendichtung²⁸, die ja einige Jahrhunderte vor der Verschriftlichung tradiert wurde. Auf der anderen Seite gibt es Eddalieder, die vermutlich nicht viel älter als ihre Niederschrift sind. Auf Island wurden Eddalieder in den Klöstern redigiert und die alten Götter wurden als die vergöttlichten, d. h. zwar zu Abgöttern degradierten, aber durchaus ehrwürdigen Vorfahren der Isländer betrachtet²⁹. Rudolf Simeks³⁰ Vergleich etwa der – offenbar späten – Skírnismál mit Goethes Spiel mit Göttergestalten in seinem „Prometheus“ scheint hier angebracht. Dass ein Lied mit heidnischen Protagonisten ganz oder teilweise aus christlicher Feder stammen konnte, scheint mir demnach keineswegs so unglaubwürdig, wie manchmal angenommen wird. Im Rahmen dieser Thematik ist auch festzuhalten, dass die altwestnordische Götterdichtung nicht in derselben Weise als „religiös“ betrachtet werden kann wie etwa die christlichen Hymnen. Das geringe Vorkommen von in diesem Sinn „religiöser“

Varianten sollen eine „reasonable identity“ aufzeigen, um als ein und dasselbe Textwerk angesehen werden zu können. 25 Bezüglich eines eventuellen Übergangs von Texten aus dem Urnordischen in die altnordische Sprache bin ich geneigt, wie auch Fidjestøl (ebd., 198  f.), dies als eine „Übersetzung“ und damit als die Entstehung eines neuen Textes („Textwerkes“) zu sehen. 26 Siehe zur Forschungsgeschichte Thorvaldsen, Vísindum, 19–31. 27 Lönnroth, Death-song, 2. 28 Vgl. Thorvaldsen, Vísindum, 38, Simek/Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, s. v. „Skaldendichtung“, 318  f., folgend; vgl. die bei Thorvaldsen, ebd., 42–47 angeführten Beispiele zur fließenden Grenze zwischen den beiden Gattungen der Edda- und Skaldendichtung. 29 Vgl. Klaus von See, Mythos und Theologie, Kap. IV, oder dens., Europa und der Norden, Kap. 10. 30 Die Religion der Germanen, 264; ders., Use and abuse, 377. Vgl. Marolds Bemerkung (Die mächtige Nachkomme, 753) zu später Eddadichtung als frühem Euhemerismus.

Die Quellen 

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vorchristlicher altwestnordischer Dichtung kann freilich auf einer selektiven Überlieferung beruhen; dass im Norden auch die dem entsprechende christliche Dichtung im Verhältnis zur Bekehrung spät ist, mag aber darauf hindeuten, dass diese Art der Dichtung auch vorchristlich ziemlich ungewöhnlich war³¹. Daher darf aber vielleicht auch der gewagte wie reizvolle Schluss gezogen werden, die frühchristlichen Nordgermanen hätten den Widerspruch zwischen Götterdichtung und Gottglauben keineswegs so scharf konzipiert wie die ältere Christenheit. Auf die methodischen Folgen dessen, dass möglicherweise also eine „christliche“ Verfasserschaft für jene Dichtung über heidnische Götter angenommen werden muss, kommen wir später³² noch zurück. Neben der Eddadichtung stellt die Snorra-Edda die ausführlichste Quelle zu Heimdallr dar. Einige Worte zur Bewertung dieses Werkes seien deshalb an dieser Stelle gestattet. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde Snorri häufig unkritisch als eingeweihte und unmittelbare Quelle zur vorchristlichen Mythologie der Isländer (und Norweger) bewertet. In den 20er Jahren des 20.  Jahrhunderts entstanden jedoch mehrere Schriften, nicht zuletzt jene des Germanisten Eugen Mogk³³, die sich kritischer mit dem 200 Jahre nach der öffentlichen Christianisierung Islands schreibenden Snorri und seinem Werk auseinander setzten. Die kritische Betrachtung von Snorris Edda als literarischem Werk, die in der heutigen Forschung auf unterschiedliche Art und Weise weiter elaboriert worden ist, liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde. Zwar muss eingestanden werden, dass Snorri nicht nur die uns überlieferten Texte kannte. In manchem befand er sich somit auf einem sichereren Fundament als wir. Gleichzeitig stand aber auch er den Mythen gewissermaßen als ein Fremder gegenüber. Er versuchte sie zu verstehen und – z.  T. wohl kontrovers zur Natur seiner Quellen – zu systematisieren. Dass er dabei auch manches falsch verstand und sich zahlreicher Umdeutungen schuldig machte, steht außer Zweifel³⁴. Wenn gezeigt werden kann, dass sich Snorri wahrscheinlich auf Strophen bezieht, die uns völlig verlorengegangen sind, und seine Ausführungen im Licht der älteren bewahrten Quellen sinnvoll erscheinen, ist ihm folglich ein potentiell höherer Quellenwert zuzuschreiben, als für den Fall, dass einzelne Angaben Snorris im Widerspruch zu den älteren vorhandenen

31 McKinnell bemerkt (Meeting the Other, 28): „It is as if the whole concept of poetry designed to uphold religious practice was alien to Norse culture and had to be learned from the rest of Christendom“. 32 Siehe unten, Kap. 1.4.1. 33 Z. B. Mogk, Novellistische Darstellungen (1923); vgl. dens., Zur Bewertung der Snorra-Edda (1932). 34 Man beachte etwa seine Beschreibung in Gylfaginning 8, 22 von den drei Wurzeln des Weltenbaums, wovon die dritte „in den Himmel“ laufe: Þriðia rot asksins stendr ahimni ok vndir þeiri rot er brvnr sa, […] er heitir Vrþarbrvnr – wohl nur deshalb, weil Snorri ebd. Urðs Brunnen im „Himmel“ (Ein er með asvm) lokalisierte und in seiner Systematisierung des Weltbilds jede der drei Wurzeln mit einem von drei Brunnen verknüpfte.

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 Einführung

Quellen stehen. Es gilt deshalb in jedem Fall nachzuprüfen, ob es Hinweise darauf gibt, dass eine unikale Angabe Snorris auf verschollenes älteres Material oder eher auf Missverständnisse der auch uns erhaltenen Informationen zurückgeht. Eine andere kritische Betrachtungsweise der Snorra-Edda als Quelle hat in neuerer Zeit vor allem der Frage gegolten, ob Snorri das mythologische Material nach einem übergreifenden konzeptuellen Plan verarbeitet hat, um es in Beziehung zum Christentum zu setzen. In jüngster Zeit sind wieder, seit der während der 1980er Jahre zunehmenden Kritik gegen die – wie Klaus von See sie nannte³⁵ – „Theologisierung“ der altisländischen Literatur vonseiten der Forschung³⁶, z.  T. interessante Versuche in einer diese Frage bejahenden Richtung gemacht worden. Vor allem ist hier Heinrich Beck zu erwähnen, der wieder den (indirekten) Einfluss theologischer Konzepte auf Snorris Darstellung annimmt³⁷. Während aber die früheren Auslegungen von Pionieren dieser Forschungsrichtung wie Walter Baetke³⁸ und Anne Holtsmark³⁹ ein (meines Erachtens nicht vorhandenes) negatives Verhältnis zwischen Christentum und Heidentum in Snorris Perspektive hineininterpretierten, meint Beck, Snorri habe durch die Darstellung der alten Religion als ein „Analogon“ zur neuen bezweckt, der heidnischen Vorzeit eine eigene Würde zuzubilligen, ohne sie aber mit dem universa-

35 Z. B. von See, Mythos und Theologie, 17; ders., Europa und der Norden, 277; ders., Texte und Thesen, 183. Vgl. Beck, Snorri Sturluson, 7. 36 Siehe von See, Mythos und Theologie, vor allem S. 18–30; 79–83; dens., Europa und der Norden, 275–310; Kritik an Baetke findet sich auch bei Beck, Euhemerist, 63, dems., Snorri Sturluson, 25 und dems., Die Uppsala-Edda, 13. 28  f., an Holtsmark und der Dämonenlehre bei Beck, Euhemerist, 64  f. und dems., Die Uppsala-Edda, 18. 37 So wird der Begriff der „Analogie“ (siehe unten) z.  T. in Beziehung zum theologischen Begriff der analogia entis gesetzt (vgl. Beck, Die Uppsala-Edda, 21  ff., besonders 25) – der, wie Beck (Gylfaginning, 92) selbst bemerkt, auch ein natürliches Bindeglied zur Lehre der naturalis religio wäre. Das heißt aber nicht, dass Snorri selber mit der theologischen Debatte bekannt war; vgl. Beck, Snorri Sturluson, 39. 38 Baetke (Die Götterlehre; zuerst veröffentlicht 1950) meinte, im Formáli (Prolog) der Snorra-Edda die kirchliche Lehre der „natürlichen Theologie“ zu erkennen und machte diese zum Ausgangspunkt seiner Interpretation der „Götterlehre der Snorra-Edda“. Besonders in der „Odinstheologie“, also in der Verchristlichung von Óðinn, seien die Spuren einer „natürlichen Gotteserkenntnis“ zu sehen. Diese Lehre bildet seit Baetke eine Konstante in den Auslegungen der konzeptionellen Dimension von Snorris Werk; vgl. z.  B. Weber, Siðaskipti; Lönnroth, The noble heathen; Klingenberg, Tres vidit, besonders § 7. 39 Holtsmark stellte in ihren „Studier i Snorres mytologi“ von 1964 fest, dass die Lehre des Euhemerismus – der ja in der Snorra-Edda auffallend ist – in der mittelalterlichen Kirche häufig mit Dämonologie gepaart ist (ebd., 7). Sie machte es zu ihrem Anliegen, darzulegen, dass auch die Gylfaginning das Heidentum als Teufelswerk darstellen wollte, vor allem durch die Mittel der Ironie und „assosiasjon ved kontrast“. Mit dem letzteren Begriff bezeichnete Holtsmark ein angebliches Deutungsmodell Snorris, nach dem die „Dämonen“ sich christliche Züge angeeignet hätten; durch die Kontrastierung von diesen mit heidnischen Zügen habe der Autor dann den Rezipienten überlassen, die „christlichen“ Eigenschaften als Teil einer teuflischen Irrlehre zu durchschauen.

Die Quellen 

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len Wahrheitsanspruch des Christentums in Konflikt zu bringen⁴⁰. In derselben Richtung wie Beck geht in jüngster Zeit Jan van Nahls lexematische Analyse der SnorraEdda⁴¹. van Nahl weist auf das bedeutungsvolle IV. Laterankonzil 1215, von dessen Ergebnissen Snorri wohl Gelegenheit hatte, aus erster Hand zu hören⁴². Hier nahm unter anderem der Gedanke der „unähnlichen Ähnlichkeit“ – dass, obwohl ein Analogieverhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf besteht, die Ähnlichkeit zwischen ihnen niemals so groß sein kann, dass die Unähnlichkeit nicht immer größer wäre – feste Form an; durch die Betrachtung der gottgeschaffenen Welt könne der Mensch mittels der Vernunft zu einer Art „natürliche Religion“ gelangen, die jedoch immer unvollkommen bleibe. Durch eine Untersuchung zentraler Lexeme in Snorris Schrifttum gelingt es van Nahl zu zeigen, dass diese Konzepte es Snorri erlaubten, in seiner Gylfaginning den vorchristlichen Stoff in ein geschichtstheologisches Verständnis einzugliedern, in dem gleichzeitig das Heidentum in Bezug zum Christentum gesetzt und die Idee der Unähnlichkeit der beiden aufrechterhalten werden konnte. Die Überlegungen von Beck und van Nahl würden z.  B. auch mit Snorris Verwendung des Euhemerismus übereinstimmen: nicht apologetisch-polemisch, sondern als historiographische Methode, um die „Göttersagen“ in die christliche Zeit retten zu können⁴³. Deshalb hält sich Snorri auch von der Dämonenlehre fern, von der es – entgegen Holtsmarks Ausführungen – in der Gylfaginning keine Spur gibt⁴⁴. Bei Snorri ging es nicht um Dämonisierung, sondern um Verstehen – aber zwar um ein Verstehen im Rahmen der Denkschemata und Vorstellungen des christlichen Mittelalters. Bei einer quellenkritischen Verwendung der Snorra-Edda als Quelle gilt es, diesen Deutungsrahmen mitzudenken. Dabei sind aber nicht nur konzeptuelle Theorien, sondern auch mögliche Missverständnisse und Snorris Drang nach Systematik zu beachtende Faktoren. Wie Snorri seine Quellen verwendet und seinen Stoff gestaltet hat, muss in jedem einzelnen Fall nachgeprüft werden.

40 Siehe Beck, Euhemerist, 67  ff.; dens., Snorri Sturluson, 39  ff.; dens., Die Uppsala-Edda, 25; dens., Gylfaginning, 90. 41 van Nahl, Snorri Sturlusons Mythologie. 42 Siehe ebd., S. 60. 43 Nach Beck (Snorri Sturluson, 36) und, ihm folgend, van Nahl (Snorri Sturlusons Mythologie, 84– 88) hingegen sei „Euhemerismus“ kein für die Snorra-Edda angebrachter Begriff. 44 Kritik gegen die Holtsmark’schen Behauptungen: von See, Mythos und Theologie, 34  f.; Beck, Die Uppsala-Edda, 18; vgl. auch von See, Euhemerismus, 90. Zur Verwendung des Euhemerismus im Mittelalter, siehe Thraede, Euhemerismus, 889.

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 Einführung

1.3 Die frühere Forschung Das oben skizzenhaft angeführte Schriftmaterial ist nicht zuletzt deshalb inhaltlich mehrdeutig, weil es zumeist nur Andeutungen auf für die ursprünglichen Rezipienten wahrscheinlich schon bekannten Vorstellungen beinhaltet; nur selten zeigen uns die Quellen Heimdallr in einem vollständig überlieferten Mythos als handelnde Figur. Ohne Zweifel lag ein großes Problem der mehr als hundertjährigen Heimdallr-Forschung bereits in dieser verwickelten Natur des Quellenmaterials. Diesem Problem, welches die vorliegende Untersuchung mit der früheren Forschung teilt, ist nicht beizukommen. Doch die Ursache, warum Heimdallr in der Sekundärliteratur als Gott der Morgenröte⁴⁵, des „Lichthimmels“⁴⁶, des Mondes⁴⁷, der Sonne oder Sonnenstrahlen⁴⁸ oder des Regenbogens⁴⁹, einem nordischen Dyauḥ⁵⁰ oder Christus⁵¹ bis hin zu einem Widdergott⁵², einem göttlichen Alb oder Hofwicht⁵³, einer Entsprechung des vedischen Agni⁵⁴ oder einer Personifizierung des „Weltenpfahls“ bzw. des „Weltenbaums“⁵⁵,

45 Müllenhoff, Frija und der halsbandmythus (1886: Gott der Kimmung, des Frühlichts und des Anfangs, eine Hypostase des lichten Himmelsgottes); Golther, Handbuch der germanischen Mythologie (1895), 363; Herrmann, Nordische Mythologie (1903), 244; von der Leyen, Die Götter und Göttersagen (1909), 218  f. 46 Koegel, Germanische Etymologien (1894), 313; Much, Der germanische Himmelsgott (1898); R. M. Meyer, Beiträge, 252 (1907: Gott des hellen Tages); von Schroeder, Arische Religion I (1914), 512–14; Clemen, Altgermanische Religionsgeschichte, (1934), 70 (Gott des Lichtes); vgl. Herrmann, Nordische Mythologie (1903), 244–49. 47 Müller, Geschichte und system (1844); Siecke, Mythologische Briefe (1909), 39. 208. 220. 224; vgl. andeutungsweise Much, Der nordische Widdergott (1930), 67. Der Mond als Heimdalls Attribut: Ohlmarks, Heimdalls Horn (1937), 371  f. 48 la Cour, Hejmdals Navne (1923); Ohlmarks, Heimdalls Horn (1937); auf Ohlmarks fußend meinte Lindquist in „Guden Heimdall“ (1937, 97  f.), Heimdallr sei ein Frühlingsgott, verbunden mit dem Zodiakzeichen des Widders. 49 N. M. Petersen, Nordisk Mythologi, 245–56 (1849); Hellquist, Bidrag (1891), 171; E. H. Meyer, Völuspa (1889), besonders 15–39; ders., Germanische Mythologie (1891), 228  f.. 50 So implizit oder explizit bei den Forschern, die Heimdallr im 19. Jahrhundert als einen alten – indogermanischen – Himmelsgott auffassten; siehe die Literatur oben. Explizit nahm der Indogermanist George Dumézil (Remarques comparatives) dieselbe Hypothese im Jahr 1959 wieder auf. 51 Starke Beeinflussungen der Heimdallr-Mythologie durch die Christus-Gestalt behauptete schon E. H. Meyer, Völuspa (1889); als reine Nachahmung von Christus wurde Heimdallr von Krohn, Skandinavisk mytologi (1922), 134  ff., aufgefasst. 52 Falk, Die nomina agentis (1889), 48; Rosén, Studier, 64  ff. (1919); Much, Der nordische Widdergott. 53 von der Leyen, Die Götter und Göttersagen, 220  f. (jedoch mit der Annahme, der germanische Lichtelbe sei bei den „Wikinger Poeten“ später ein Gott des frühen Tages geworden); Pering, Heimdall (1941). 54 Rydberg, Undersökningar i germanisk mythologi I (1886), § 82; F. R. Schröder, Heimdall (1967). 55 Zuerst bei Pipping, Eddastudier I–III (1925–28), besonders I, 1–52; II, 103–10; III, 38–43; vgl. Pipping folgend de Vries, Studiën (1935); dens., Heimdallr, dieu énigmatique (1955); und mit teilweiser Zustimmung auch in Altgermanische Religionsgeschichte II, 240 (2. Ausg. 1957); Ellis-Davidson, Scan-

Die frühere Forschung 

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kurz: buchstäblich als alles zwischen Himmel und Erde erscheint, kann nicht ausschließlich im Quellenmaterial begründet liegen; meiner Meinung nach hat es in der früheren Forschung auch methodische Probleme gegeben, die zusammen mit der problematischen Quellenlage zur Entstehung des heutigen, unstimmigen Bildes des Gottes Heimdallr beigetragen haben. Eine vollständige Besprechung dieser umfassenden Forschung kann die hier vorliegende Arbeit nicht leisten. Relevante Einzelinterpretationen werden im Laufe der Untersuchung bei der Behandlung der Textstellen angeführt und diskutiert; Übersichten der Deutungen von Heimdallr sind in anderen Werken zugänglich⁵⁶. Auch soll hier nicht der Versuch unternommen werden, die früheren Theorien zu widerlegen. Stellung zu den Interpretationen kann und wird erst im Verhältnis zum Quellenmaterial bezogen werden. Was uns im Folgenden beschäftigt, ist eher, die großen Linien zu ziehen, um daraus erkennen zu können, was sich in der bisherigen HeimdallrForschung als problematisch erwiesen hat und somit auf eine andere Art und Weise bewältigt werden muss. In der 2. Hälfte des 19.  Jahrhunderts hatte die sogenannte naturmythologische Schule in der vergleichenden⁵⁷ und auch der jungen germanischen Religionswissenschaft⁵⁸ eine starke Stellung eingenommen. Diese Lehre war von Anfang an mit der gerade entstehenden vergleichenden indogermanischen Sprachwissenschaft eng verbunden. Wenig überraschend wurde die Wortgeschichte auch in der Religionsforschung zur wegbereitenden, manchmal zur einzigen Methode. In den Namen und Mythen der Götter wurden die Natursubstrate – vor allem das Licht – gesucht, die nach der für die Richtung grundlegenden Theorie der Ursprung aller Götterwesen sein sollen. Diese Forschungsrichtung prägte bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auch die Heimdallr-Forschung. Hierhin gehören z.  B. die ersten Deutungen von Heimdallr als Sonnen- oder Himmelsgott, eine Auffassung, die noch Mitte des 20. Jahrhunderts, wenn auch basierend auf einer neuen methodischen Grundlage, vertreten wurde⁵⁹ und die

dinavian mythology (1969), 105; Dronke, Eddic poetry (1992), 667, und in Edda, ed. Dronke II (1997), 107 (zu Vǫluspá 1,3  f.); North, Heathen gods (1997), 283–87; Heizmann, Der Raub des Brísingamen (2009), 514. Tolley (Shamanism, Kap.  14) vertrat im Jahr 2009 Pippings Theorie von Heimdallr als einer Personifizierung des Weltenbaums, lehnte aber gleichzeitig die Vorstellung von Heimdallr als Weltenpfahl ab (nach Pipping seien die Auffassungen miteinander vereinbar). 56 Für eine umfassende Übersicht der Forschung vom 19.  Jahrhundert bis 1937 siehe Ohlmarks, Heimdalls Horn, Kap. I, B, 1; vgl. auch de Vries, Studiën (erschienen 1935), 54–63. Eine systematischere Übersicht der Forschung vor 1941 gab Pering, Heimdall, Kap. II. Für spätere Deutungsversuche vor 1988, siehe Lindow, Scandinavian mythology, s. v. „Heimdallr“. Die Forschung nach 1988 wird im Folgenden bei den jeweils spezifischen Stellen der vorliegenden Arbeit berücksichtigt. 57 Siehe de Vries, Forschungsgeschichte der Mythologie, VII,A. 58 Dazu und zum Folgenden Seipp, Entwicklungszüge der germanischen Religionswissenschaft, 27  f.; de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte I, 54  f. 59 Ohlmarks, Heimdalls Horn.

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 Einführung

auch heute hier und da wieder auftaucht⁶⁰. Der Auslöser solcher Deutungen lag jedoch nicht in den Mythen, denn diese scheinen erst dann Heimdallr überhaupt mit atmosphärischen Dingen zu verbinden, wenn man zuerst schon seine Weiße als das Tageslicht, seinen Streit mit Loki als den Kampf zwischen Tag und Nacht usf. sinnbildlich umgedeutet hat. Entscheidend für das Bild von Heimdallr als Lichtwesen war vielmehr die Etymologie seines Namens, dessen Zweitglied nämlich gewöhnlich auf altenglisch deall ‚superbus, clarus‘ zurückgeführt wurde⁶¹. Die Übersetzung von Heimdalls Namen mit ‚der über die Welt Leuchtende‘ und  dergleichen legitimierte den Versuch, seine Mythologie als reine Naturdichtung zu lesen⁶². Auch nachdem die naturmythologische Schule um 1900⁶³ an Einfluss verloren hatte, blieben die vergleichende Tendenz und die hohe Bewertung der Etymologie stark⁶⁴. Als eine der Heimdallr-Hypothesen, die über die Jahre die meisten Anhänger gefunden haben, kann hier die umfangreiche Untersuchung Hugo Pippings⁶⁵ als Beispiel dienen. Pipping fing damit an, mit einer auf Niels Matthias Petersen⁶⁶ und Ludwig Uhland⁶⁷ zurückgehenden Etymologie Heimdallr mit ‚der Weltenbaum‘⁶⁸ zu übersetzen. Allerdings hat Heimdallr nicht offensichtlich etwas mit Bäumen zu tun. Zwar wird er in der Vǫluspá (Str. 27. 46  f.) neben dem „Weltenbaum“ Yggdrasill erwähnt; das

60 Als der Archäo-Astronom Bob G. Lind eine Gruppe von Bautasteinen in der Nähe von Vitemölla, Schonen, (neu-) entdeckte, gab er ihr den Namen „Heimdalls stenar“ – nach Heimdallr, der in der Edda als „der leuchtendste Sonnengott der Welt“ („den mest lysande solguden i världen“) beschrieben werde, wie die überregionale schwedische Tageszeitung „Dagens Nyheter“ (9. 12. 2007) berichtete. 61 Zu dieser lange vorherrschenden Etymologie siehe unten, Kap. 9. 62 Leopold von Schroeder stand zwar mit seinem 1914 erschienenen Werk „Arische Religion“ am Ende dieser Forschungslinie, seine Beschreibung von Heimdallr ist jedoch wegweisend. Ein Gott, der der „lichteste von den Asen“ sei (eigentlich sagen die Quellen nur „der weißeste“!) und dessen Name ‚der über die Welt Leuchtende‘ bedeute (was doch keineswegs sicher ist!), müsse nämlich eine „himmlische Lichtgottheit“ sein, „und man könnte nur zweifeln, ob er als die Sonne, resp. der Mond, oder als Lichthimmelgott zu fassen sein dürfte“ (Arische Religion I, 512). 63 Dazu Arvidsson, Ariska idoler, 140–46. Wie die obenstehenden Literaturhinweise zeigen, waren die naturmythologischen Deutungen in der germanischen Religionswissenschaft jedoch noch in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geläufig. 64 So in F. R. Schröders 1929 aufgestelltem Vergleich mit Mithra (Altgermanische Kulturprobleme, 107–18), der mit Heimdallr identisch sein sollte, oder in Muchs hauptsächlich etymologisch begründeter Auslegung von Heimdallr als „dem nordischen Widdergott“ (im gleichgenannten Artikel von 1930); vgl. die Forschungsübersicht zu „den modernen Heimdallsauffassungen“ bei Ohlmarks, Heimdalls Horn, 245–54. 65 Eddastudier I–III; die Seiten wurden oben auf S. 10 f., Anm. 55 angeführt, ebenso finden sich dort weitere Vertreter und Anhänger von Pippings Thesen. 66 Nordisk Mythologi, 247. 67 Schriften, 14, Anm. 2. 68 „världsträdet“. Eddastudier I, 9. Zu heimr ‚Welt‘ und dem nicht ganz sicher belegten dallr ‚fruchttragender Baum‘ (zu griechisch θαλλος ‚junger Sproß, junger Zweig‘). Die Etymologie wird später näher besprochen, siehe unten, Kap. 9.

Die frühere Forschung 

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aber spricht wohl eher dafür, dass er mit diesem nicht identisch war⁶⁹. Den ausschlaggebenden Beweis lieferte aber für Pipping das samische Material. Im samischen Kult konnte die kultische Repräsentation des Weltenpfahls mit einem den Nordstern (stella polaris) symbolisierenden Nagel an der Spitze versehen werden, und möglicherweise sind die Spuren von ähnlichen Vorstellungen in den sogenannten reginnaglar der nordgermanischen Hochsitzpfeiler zu erkennen. Auch diese werden freilich nie mit Heimdallr verbunden. Nach Pipping wurde Heimdallr zwar ‚nagelköpfig‘ genannt, die altnordische Bezeichnung, die mehrdeutig ist und zudem emendiert werden muss, bevor sie überhaupt einen Sinn ergibt⁷⁰, macht aber kein starkes Glied der Beweiskette aus. Die übrigen „direkten“ Beziehungen, die Pipping zwischen Heimdallr und dem Weltenbaum herstellt, bestehen aus jeweils vieldeutigen Etymologien von den bei Snorri dem Heimdallr zugeschriebenen Namen⁷¹. Die darauf folgende Mythendeutung Pippings ruht also auf sehr unsicheren Fundamenten und ist auch schon an sich viel weniger überzeugend als die etymologischen Auslegungen⁷². Unser Zweck ist aber nicht, Pipping Punkt für Punkt zu widerlegen⁷³, sondern nur die methodischen Tendenzen zu illustrieren, die die frühere Forschung zu einem hohen Grad geleitet haben. In der ersten großen Heimdallr-Monographie, Åke Ohlmarks’ 1937 erschienenem „Heimdallr und das Horn“, das eigentlich nur den ersten Teil eines größer geplanten Werkes zu „Heimdalls Horn und Odins Auge“ bildet, wurde Heimdallr noch in der Linie der Naturmythologen als Sonnengott erklärt. Ein Problem dieser Deutung ist aber, dass nirgendwo in den Quellen von einem „Sonnenberg“ (nach Ohlmarks ist

69 North (Heathen gods, 287) erklärt dies so, dass Heimdallr die „Persöhnlichkeit“ („personality“) des Weltenbaums, Yggdrasill den Gegenstand repräsentiert habe. Bei einer solchen Erklärung müssten wohl jedoch alle Auslegungen, die sich darin begründen, dass z.  B. Heimdalls neun Mütter die neun Wurzeln des Weltenbaums wären, mit einem Mal wegfallen. Tolley (Shamanism, 405) scheint sich vorzustellen, dass Heimdallr als Wicht mit dem „Schutzbaum“ (vårdträ) assoziiert worden ist und auf diesem Weg die Züge des Baumes übernommen hat. 70 Siehe unten, S. 132  f. 71 Hallinskíði (zu halla ‚neigen, sinken lassen‘ und skíð ‚länglich-schmales Holzstück‘) bezeichne den schiefen Pfahl, weil die Samen im Zelt manchmal den Weltenpfahl schrägstellen hätten müssen (Eddastudier I, 18  ff.); Gullintanni ‚der Goldzähnige‘ und (der Name von Heimdalls Pferd!) Gulltoppr – den Pipping als ‚Goldspitze‘ versteht, obwohl es als Pferdename (‚der mit blonder Mähne‘) vollständig klar wäre – würden wieder den Polarstern-Nagel andeuten (I, 17  f.), Vindhlér einen, ‚der gegen den Wind schützt‘ (zu hlé ‚Lee‘), also die Himmelskuppel, die Heimdallr auch darstellen würde (I, 28). Besonders weit hergeholt scheint mir die Erklärung der alternativen Namensform Heimdalr zu dalr = ‚Bogen‘; in der Dichtung konnte „Bogen“ mit ýr ‚Eibenbaum‘ umschrieben werden; als Eibenbaum sei (nach einer Theorie von L. Fr. Läffler) der Weltenbaum (Heimdallr) vorgestellt worden; also sei Heimdallr = Heimdalr (I, 8  ff.). 72 Zu dieser Mythendeutung gehört der Versuch, die kenningar von „Heimdalls Haupt“ durch einen verlorenen, phallischen Heimdallr-Kult (Pfahlkult) zu erklären; siehe Pipping, Eddastudier I, 25  ff. Tolleys Weiterführung der Pipping’schen Hypothese in jüngster Zeit (Shamanism, Kap.  14) bringt nicht viele neue Argumente. 73 Vgl. die Auseinandersetzung mit Pippings Hypothesenbau bei Ohlmarks, Heimdalls Horn, 226–35.

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 Einführung

das Heimdalls Wohnort) gesprochen wird, auch wird weder sein Pferd als „Sonnenpferd“, noch werden seine Kinder als „Sonnenkinder“ – so einige Kapitelrubriken des Ohlmarks’schen Buches – geschildert. Die Methode, die angeblich wahre Natur der Heimdallr-Mythologie trotzdem zu „beweisen“, war schon von Ohlmarks’ Vorgängern vorbereitet worden: der Komparativismus. Doch lag nicht mehr die Theorie einer indogermanischen Kulturverwandtschaft den Vergleichen Ohlmarks’ zugrunde, sondern die sogenannte Kulturkreislehre. Diese von Fritz Graebner und Bernhard Ankermann begründete, später von Pater Wilhelm Schmidt weiter ausgebaute Theorie entstand am Anfang des 20.  Jahrhunderts als Kritik gegen den Evolutionismus, der von der unhaltbaren Vorstellung einer universalen gleichförmigen Entwicklung der Menschheit ausging. Stattdessen führte die Kulturkreislehre den Gedanken an verschiedene „Kulturkreise“ ein, die, nachdem sie sich aus einer ursprünglichen primitiven „Urkultur“ entwickelt hatten, sich später durch Verbreitung und Wanderungen der einzelnen Völker vermischt und überlagert haben sollten⁷⁴. Weil Ohlmarks nun die in den Primärquellen zu Heimdallr geschilderte Kultur als eine Überlagerung unterschiedlicher Kulturkreise verstand, sah er sich in seiner Untersuchung berechtigt, „die germanisch-nordische Kultur als eine im wesentlichen noch primäre Hirtenkultur zu behandeln und Vergleiche aufzustellen sowohl mit anderen primären Herrscherkulturen als auch Patriarchalkulturen überhaupt, sowie mit älteren Schichten von Hochkulturen oder Sekundärkulturen, die sich auf dem Boden einer primären Patriarchalkultur entwickelt haben“⁷⁵. Ob durch diese Methode Ohlmarks’ Studie wirklich einen höheren Grad an „Systematik“ aufweisen kann als die naturmythologischen Untersuchungen, ist zweifelhaft⁷⁶. Sie führte allerdings dazu, dass man in Ohlmarks’ Buch zumeist einige wenige Seiten über Heimdallr lesen darf, bevor man einem Wirrwarr von Mythen etwa über die „Sonnenkinder“ unter den Ägyptern und Babyloniern, dem Mayavolk und den Samoanern, den Puebloindianern und Indern, den Finnen und Russen ausgesetzt wird⁷⁷, oder, wenn man eine quellennahe Untersuchung von „Heimdalls Horn“ erwartet, in Wirklichkeit Ausführungen über Sichelschwerter, Bumerange und Kinnbacken erhält⁷⁸. Auch dies wird nicht gesagt, um die Deutungen des Forschers und den Wert seiner Vergleiche insgesamt zu disqualifizieren. Diese sind häufig weder mehr noch weniger einleuchtend als die seiner Vorgänger. Hier sei nur zur Methode bemerkt, dass das Vorhandensein einer Vorstellung vom Sonnen-

74 Die methodologische Diskussion nimmt die ersten 60 Seiten von Ohlmarks’ Buch ein. 75 Ohlmarks, Heimdalls Horn, 55. Hervorhebungen vom Verf. 76 In Ohlmarks’ eigenem „Genmäle“ (S. 360) gegen die Kritik, die unter anderem gerade gegen seine Methode gerichtet worden war, findet man z.  B. die vielsagende Beweisführung: „då hos pygméer, samojeder, eldsländare, buschmän, zuñis, polynesier, egypter, babylonier, indoiraner, greker och [nach Ohlmarks!] nordbor sol och måne tänkas som skapargudens två ögon […], kan man för fornnordisk kenningsteknik, som i djärv fantasi överträffar det mesta, […]“ usw. 77 Heimdalls Horn, 280–85. 78 Ebd., Teil II.

Die frühere Forschung 

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auf- oder -untergang aus oder über einem Berg in „höheren patriarchalen Kulturen“⁷⁹ keineswegs auf ähnliche Vorstellungen unter den Nordgermanen schließen lässt. Bevor man komparatives Material heranzieht, muss geprüft werden, welche Deutung ausgehend vom einheimischen Material diesem am nächsten liegt. Auch ein anderes Problem hatte Ohlmarks mit der früheren komparativen Forschung gemeinsam. Was nämlich zu dem religionsphänomenologischen „Typus“ oder dem (angeblich genetisch verwandten) Vergleichsobjekt, im Licht dessen man sich glaubte und das man heranzog, um Heimdalls Wesen vollständiger oder klarer als in den isländischen Quellen deuten zu können, nicht „passte“, wurde in der Forschung häufig als spätere Entwicklung oder literarische Hinzufügung (weg-)erklärt⁸⁰. So galt bei Ohlmarks das freilich nicht eindeutige, in den Quellen jedoch so häufig angedeutete⁸¹ Wächteramt Heimdalls als eine vor allem von Snorri Sturluson vorgenommene Weiterentwicklung eines kleineren Aspekts des ursprünglichen Sonnengottes. Dass derartige Entwicklungen tatsächlich stattfinden können, kann nicht bezweifelt werden; doch würde man methodisch erwarten, dass nicht der vom Forscher bestimmte „Typus“ die „Wünschelrute“⁸² sein sollte, mit der nach dem Alter der Motive gefragt wird. In der gleichen Weise können Vergleiche z.  B. innerhalb des indogermanischen Sprachgebiets nur dann etwas über das Alter germanischer Motive aussagen, wenn die Identität der Vergleichsobjekte gesichert ist. Für Heimdallr konnte von einer solchen Sicherheit nie gesprochen werden. Nur einige Jahre nach Ohlmarks’ öffentlicher Verteidigung seiner HeimdallrMonographie erschien die zweite⁸³ – auch diese von einem Schweden, auf Deutsch publiziert und in Lund vorgelegt: Birger Perings „Heimdall“ (1941)⁸⁴. Pering wandte sich nicht nur scharf gegen Ohlmarks’ Untersuchung⁸⁵, sondern auch gegen die

79 Ebd., 286. 80 Siehe z.  B. la Cour, Hejmdals Navne, 68; R. M. Meyer, Beiträge, 255; E. H. Meyer, Germanische Mythologie, § 311; Rosén, Studier, 71 und besonders 68. 81 Rein sprachlich könnte auf die schon in den poetischen Quellen dreimal vorkommende, später eingehend zu behandelnde Bezeichnung von Heimdallr als vǫrðr und, in Húsdrápa 2, als vári hingewiesen werden, beides Begriffe, die – abgesehen von den spezifischen Deutungsvorschlägen – mit altnordisch verja (zur indogermanischen Wurzel *u̯er) ‚wehren, schützen, verteidigen‘ zusammenhängen sollen. Zu den Problemen insbesondere der Etymologie von vári werden wir in einem späteren Kapitel zurückkommen. 82 So nannte Pering (Anmälan, 349) die Methode Ohlmarks’. 83 Falls man nicht bereit ist, Pippings Studien als eine „Monographie“ zu bezeichnen. 84 Pering hatte jedoch seine Arbeit, wie Ohlmarks später selber erzählte, schon „ein halbes Mannesalter“ vor der Ohlmarks’schen begonnen. In der Tat wurde Ohlmarks’ Untersuchung in nur fünf Monaten fertiggestellt – ob das nun Ehrfurcht oder Missachtung erwecken mag. Ohlmarks, Doktor i Lund, 107. 111. 135. 85 Siehe vor allem seine „Anmälan“ in Arkiv för nordisk filologi 54, 1939. In der Forschungsübersicht seiner Dissertation begnügte er sich damit, in einer Fußnote (16, S. 60) auf diese Besprechung von Ohlmarks’ Arbeit hinzuweisen. – Die Korrespondenz, die sich zwischen den beiden Verfassern

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 Einführung

vergleichende Methode der ganzen bisherigen Forschung⁸⁶. Der methodischen und theoretischen Diskussion der vorliegenden Arbeit kann schon hier vorausgeschickt werden, dass Perings Untersuchung aufgrund des Festhaltens daran, Heimdallr aus dem altwestnordischen Sprachgebiet heraus zu verstehen, eine derjenigen Heimdallr-Studien ist, die der vorliegenden Untersuchung wissenschaftlich gesehen am nächsten steht. Gleichwohl bestehen auch Perings Arbeit betreffend wichtige methodische Bedenken. So nahm Pering z.  B. die von Ohlmarks verwendete Kulturkreislehre auf, um Heimdalls rätselhafte Abstammung von neun Müttern erklären zu können⁸⁷; die Probleme, die sich aus seiner Auslegung ergeben, sind aber anderer Art als die von Ohlmarks⁸⁸. Zu in der Heimdallr-Forschung bekannteren und für Perings Untersuchung gewichtigeren Problemen kommen wir bei Perings Verwendung des volkskundlichen Materials, das mit seiner Hypothese von Heimdalls Charakter eng zusammenhängt. Perings (manchmal belächelte⁸⁹) Hypothese war, dass Heimdalls Ursprung und Wesen in der Gestalt des Hofwichts (schwedisch vätte, tomte)⁹⁰, also einer Art Kobold, gefunden werden könnte. Ausgangspunkt dabei war die Annahme, dass der Quellenbegriff vǫrðr goða im Sinn von ‚Wächter der Götter‘ ein Missverständnis von Seiten Snorris und der modernen Forscher sei und ursprünglich eher ‚Wicht der Götter‘ bedeutet habe. Diese Wesen des Volksglaubens sind jedoch in den mythologischen Quellen, wo Heimdallr vor allem vorkommt, kaum zu finden. Um die Vorstellungen von Wichten, wie sie zur Zeit der vorchristlichen Heimdallr-Traditionen ausgesehen haben mögen, rekonstruieren zu können, musste sich Pering deshalb der späteren Volkskunde zuwenden. Freilich stellte er sich die Aufgabe so, dass er primär solchen Volksglauben einbezog, der „auf dem alten Island und in den westlichen Teilen Norwegens fortgelebt“ hatte⁹¹; doch was Jan de Vries für das jüngere volkskundliche Material gesagt hat, gilt schon für die ältesten bewahrten Quellen: sie haben einen „vagen, verschwommenen Charakter: die verschiedenen Wesen der niederen Mythologie sind oft kaum voneinander zu unterscheiden; ihre Eigenschaften und Tätigkeiten fließen leicht ineinander über […]“⁹². Ein in Bezug

entwickelte, bietet eine ebenso unterhaltsame wie manchmal gemeine Lektüre; siehe außer Perings „Anmälan“ Ohlmarks, „Anmärkningar och genmäle angående Heimdall“, und seine viel später geschriebene Abrechnung „Doktor i Lund“. 86 Heimdall, 93  f. 87 Ebd., Kap. IX; vgl. ebd., 94  f. 88 Siehe unten, S. 137, Anm. 32. 89 Der freilich nicht unparteiische Ohlmarks sprach in „Doktor i Lund“ (117) von Perings „geniala stollerihypotes om den lilla tomtebissen“. 90 Auf Deutsch auch „Wichtel, Wichtelmännchen“ usf. „Wicht“ und „Hofwicht“ sind aber die von Pering benutzten Begriffe und sollen auch hier verwendet werden. 91 Heimdall, 96. 92 de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte I, 14; vgl. dens., Die Bedeutung der Volkskunde, besonders S. 32. Die Kritik, die de Vries (The problem of Loki, Kap. XI) gegen H. Celander richtet, hätte auch Perings Arbeit gegolten haben können.

Die frühere Forschung 

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auf Perings Untersuchung relevantes Beispiel, das de Vries ebenfalls⁹³ angeführt hat, ist Gunnar Landtmans Untersuchung vom „hustomte“. In der Volkskunde nämlich schmelzen diese mit „underbyggare“, „älvor“, „bergtroll“, „vattenvarelser“, „troll“ und anderen Wesen zusammen; dieselben Erzählungen und dieselben Wesenszüge können von der einen Gruppe zu der anderen übergehen⁹⁴. Auch Pering sah dies ein; praktisch führte das aber dazu, dass er in seiner Untersuchung Vorstellungen und Bilder sowohl von álfar, landvættir und spámenn verwendete, um darin den vorchristlichen vǫrðr wiederfinden und aus diesem wiederum Heimdallr erklären zu können. Mein Einwand ist natürlich nicht in der Annahme begründet, dass die Wurzeln der Vorstellungen des Volksglaubens einst einheitlich und klar unterscheidbar gewesen wären⁹⁵. Auch meine ich nicht, dass es immer unberechtigt ist, volkskundliches Material zur Erhellung von älteren mythologischen Vorstellungen heranzuziehen. Hier soll nur methodisch einerseits auf die allzu große Schwierigkeit hingewiesen werden, aus einem so breiten und lose zusammengehaltenen Material die ältesten und so für Heimdallr relevanten Informationen herauszuschälen. Andererseits soll betont werden, wie anhand eines solchen Materials allzu leichtfertig immer wieder etwas gefunden werden kann, das mit dem hier zu untersuchenden Gott in Einklang gebracht werden kann. Mit Perings Hypothese war aber auch ein zweites theoretisches Problem verbunden. Pering scheint nämlich die evolutionistische Idee seiner Zeit geteilt zu haben, dass die schlichteren Vorstellungen z.  B. des Volksglaubens die älteren und die komplexeren der Mythologie die jüngeren sind. Die Figur Heimdallr habe sich folglich aus dem Wicht entwickelt. Seine Existenz im Götterhimmel sei nur durch die Existenz des Wichts in der „irdischen“ Vorstellungswelt gerechtfertigt: Weil dieser in der letzteren einen Platz hatte, müsse er auch in der ersteren aufgenommen werden. Dabei sei die wirkliche religiöse Bedeutung immer dem kultisch verehrten Wicht zugekommen. Der Gott hingegen wurde in Perings Untersuchung, wie Loki in einem Eddalied spöttisch von Bragi sagt, gleichsam zu einem bekkskrautuðr, zu einer ‚Bankzierde‘ oder einem nutzlosen Gott⁹⁶. Vielleicht teilweise deshalb, weil man ahnte, dass Heimdallr eine größere Bedeutung hatte als die von Pering vorgeschlagene, wird Perings Hypothese in späteren Übersichtswerken zur germanischen Religionsgeschichte zumeist nicht beachtet⁹⁷.

93 Ebd., 36  f. 94 Landtman, Hustomtens förvantskap; die von de Vries zitierte Stelle: siehe S. 15. 95 Vgl. Landtman, ebd., 16  f. 96 Lokasenna 15. Das hapax legomenon soll ausdrücken, dass Bragi „nutzlos und feige auf der Bank herumsitzt“; siehe Edda, ed. von See II, 411 (zu Lokasenna 15,3). 97 Hierfür braucht man nur das Kapitel „Heimdallr“ jedes Übersichtswerks germanischer Religionsgeschichte aufzuschlagen; nirgendwo begegnet einem hier ein göttlicher Wicht oder Kobold. Zwar erwähnt de Vries (Altgermanische Religionsgeschichte II, 240) die Hypothese, weist sie aber bezwei-

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 Einführung

Man setzte fort, neue Erklärungsversuche – wenn auch nicht in Untersuchungen desselben Umfangs – vorzulegen. Häufig ging man zur vergleichenden Methode zurück. Beispielsweise wurde in F. R. Schröders umfassendem Artikel „Heimdall“ aus dem Jahr 1967 die zuerst vom schwedischen Dichter und Gelehrten Viktor Rydberg formulierte Hypothese, Heimdallr sei im Grunde mit dem vedischen Feuergott Agni identisch, wieder aufgenommen. Die Tendenzen der früheren Forschung waren auch darin erkennbar, dass hier viel von den Eigenschaften eines indischen Mitra oder Sūrya, eines iranischen Mithra oder griechischen Helios zu lesen war, dagegen weniger davon, ob die angeblich entsprechenden Eigenschaften dieser Götterwesen angewandt auf Heimdallr und die Welt der Nordgermanen einen entsprechenden Sinn hätten, d. h. ob etwa der Inhalt der Bezeichnung altnordisch vǫrðr goða wirklich vergleichbar sei mit dem der altindischen Bezeichnung divás pāyúḥ ‚des Himmels Wächter‘: die altisländischen Quellen, in denen die erstere Bezeichnung zum Thema wird, werden kaum um ihrer eigenen Aussagekraft willen untersucht⁹⁸. Ein Vorteil von Schröders Untersuchung war freilich, dass Übereinstimmungen mit einem Gott eines verwandten Sprachgebiets aufgezeigt werden konnten. Doch es muss beachtet werden, dass die vedischen Gottheiten ihren Natursubstraten immer ziemlich nahe stehen. Derartiges kann nicht für die Götter der altwestnordischen Überlieferung behauptet werden. Und so drängt sich die Frage auf, was denn das Kultfeuer, bzw. was der „Feuergott“ Heimdallr in der Welt der Germanen bedeutet haben könnte. Die Antwort auf beide Fragen bleibt unklar, denn eine der Rolle des Feuers bei den alten Indern entsprechende ist bei den Germanen nicht sicher nachgewiesen worden, und von einem Feuerwesen des Heimdallr sehen wir in den überlieferten Mythen eigentlich keine Spur. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht wenig erstaunend, dass die Forschung im ausgehenden 20. und frühen 21.  Jahrhundert in hoherem Grad als die frühere Forschung geneigt zu sein scheint, auf Feststellungen zum Charakter des Heimdallr zu verzichten. Auch jüngst sind Versuche gemacht worden, die Angaben zum Gott

felnd zurück, und Baetke (Rezension, 193) bewundert zwar in einer frühen Besprechung von Perings Buch, dass dieser es gewagt hätte, eine neue Theorie aufzustellen, meint aber, diese sei am Ende jedoch ebenso wenig befriedigend wie die früheren. 98 Siehe F. R. Schröder, Heimdall, 6  f. – Zwar versucht Schröder die – aus den Quellen allerdings nicht völlig sicher ableitbare – Geburt Heimdalls aus den Wellen, die Schröders Ausgangspunkt für den Vergleich mit Agni, apm nápāt ‚Sprössling der Wasser‘, ausmacht, in den altisländischen Quellen zu befestigen, er deutet aber diese wieder ausgehend von vedischen Vorstellungen von Agni. Denn wenn sævar niðr in Þjóðólfs Ynglingatal 4 (Skj. B I, 7) ‚Feuer‘ heißt, bedeutet dies nicht, das Feuer sei aus dem Wasser geboren, sondern nur, dass es ein ‚Verwandter‘ (niðr) des Wassers ist; als Element wurde das Feuer nämlich als der Bruder des Wassers gesehen. Wie Schröder „den Ursprung des Feuers im Wasser“ (ebd., Anm. 6) aus der auf dieses Verhältnis klar verweisenden Umschreibung Ægis bróðir (‚der Bruder des Meeres‘) = ‚Feuer‘ herauslesen kann, ist nur als eine falsche Umdeutung der nordischen Quellen im Licht der altindischen begreifbar.

Die vorliegende Untersuchung 

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durch Einzelvergleiche zu erleuchten⁹⁹. Populär ist es, z.  B. irische Parallelen heranzuziehen¹⁰⁰, die jedoch häufig aus einem Material stammen, deren Angaben häufig nicht viel sicherer und nicht weniger fragmentarisch als die altwestnordische erscheinen¹⁰¹. Die neue Tendenz ist aber eher diejenige, Heimdallr aus einheimischen Kontexten, etwa aus grundlegenden Strukturen der Mythologie¹⁰² oder dem altisländischen Verwandtschaftssystem¹⁰³, zu beleuchten, oder sogar die Funktion des Gottes aus solchen Textstellen, in denen er vorkommt, und der in diesen zum Vorschein kommenden Ideologie heraus¹⁰⁴ zu verstehen. Diese Tendenz scheint mir überaus verdienstvoll. Zu einem Gesamtbild des Gottes und zur Weise, wie die ihm zugeschriebenen verschiedenen Eigenschaften und Attribute miteinander zusammenhängen, haben sie aber nicht geführt.

1.4 Die vorliegende Untersuchung 1.4.1 Positionierung, Methode und Abgrenzung Die früheren Heimdallr-Untersuchungen alle über einen Kamm zu scheren und auf ein Problem zu reduzieren, ist nicht möglich. Jedes Forschungsparadigma, jede Zeit und jede Studie hatte ihre Probleme und ihre Vorteile. Meines Erachtens sind es jedoch nicht etwa die Paradigmen oder die sprachliche Unmöglichkeit einiger Etymologien, die dazu geführt haben, dass keine der Heimdallr-Untersuchungen in der heutigen Forschung auch nur annähernd allgemeine Zustimmung hat gewinnen können. Wie wir in der Forschungsübersicht gesehen haben, war es vor allem die komparative Methode – abgesehen davon, welche Theorien ihr unterstellt wurden –, die zum Erhellen der Informationen zu Heimdallr immer wieder herangezogen wurde. Ange-

99 In jüngster Zeit wird Heimdallr im 14.  Kapitel von Tolleys Buch „Shamanism“ behandelt. Hier wird wieder (mit etwas anderen Resultaten) Pippings Theorie von Heimdallr als Repräsentation des Weltenbaums vertreten. 100 In letzter Zeit bei Sayers, Irish perspectives on Heimdallr (1993), und Amory, The historical worth (2001), herangezogen. Vgl. Turville-Petre, Myth and religion, 152  f. Kritik äußerte Klaus von See, Texte und Thesen, 213  f. – Die Diskussion und Forschung zum altirischen Lehnwort Rígr, das häufig und schon in den mittelalterlichen Handschriften als ein Name des Heimdallr aufgefasst wird, soll im Zusammenhang des Eddalieds Rígsþula näher besprochen werden. 101 Siehe die Vergleiche bei Young (Rígsþula, 1933) und Sayers (Irish perspectives on Heimdallr, 1993). 102 Clunies Ross, Prolonged echoes I (1994), siehe Index s.  v. „Heimdallr“. Schon Dumézil hat in seinen „Remarques comparatives“ (1959) versucht, Heimdallr aus seinem (freilich auf komparativem Weg rekonstruierten) „System der drei Funktionen“ aber auch mit Hilfe indischer Parallelen zu verstehen. 103 Thorvaldsen, Mǫgr átta mðra (Masterarbeit, 2002). 104 Steinsland, Det hellige bryllup (1991), Teil C; Midttun, Hyndluljóð (Masterarbeit, 2007).

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 Einführung

sichts des großen Materialumfanges, den diese Methode lieferte, ist es wenig überraschend, dass man Züge und Epitheta fand, die sich mit den mehrdeutigen Angaben zu Heimdallr vergleichen ließen. Allzu selten wurde aber geprüft, ob die Rezipienten der von Heimdallr handelnden Mythen wirklich Grund hatten, den Angaben dieselben Bedeutungen wie den von der Forschung gefundenen Vergleichsobjekten zuzuschreiben: Die Vergleichspunkte bildeten also nicht den Ausgangspunkt für das, was untersucht werden sollte, sondern gewissermaßen den „Beweis“, dass der eine oder andere Zug Heimdalls auf eine gewisse Weise zu deuten sei. Wenn wir aber nirgendwo in der altwestnordischen Mythologie von einem „Sonnenberg“ hören oder, umgekehrt: wenn wir mehrmals von einem „Sonnenpferd“ hören, aber niemals in Verbindung mit Heimdallr, dann sollte es methodisch sehr bedenklich erscheinen, diese Vorstellungen in die Heimdallr-Mythologie hineinzuinterpretieren. Vorwiegend weil auf dieses notwendige Korrektiv der die Mythen rezipierenden Kultur durchgehend verzichtet wurde, konnten die mit Heimdallr genannten Züge – wie auch der Gott selber – in jeder neuer Untersuchung als etwas anderes erscheinen, und die Mehrdeutigkeit der Quellen half nicht gerade, die Deutungsmöglichkeiten einzuschränken. In Wirklichkeit handelte es sich also – krass ausgedrückt – darum, die Lücken unseres Verständnisses von Heimdallr mit fremden Vorstellungen aufzufüllen. Mit ähnlichen Problemen ist die oft verwendete Methode der etymologischen Herleitung von Heimdalls Namen (Snorri nennt ihn außer Heimdallr unter anderem Hallinskíði und Vindler) behaftet, und zwar besonders dann, wenn von der Meinung ausgegangen wurde, dass Heimdallr in den Quellen einen deus otiosus, einen verblichenen Gott widerspiegle, dessen eigentliche Bedeutung in einer Zeit weit vor der Zeit der Überlieferung läge, dessen „Wesen“ aber in seinen Namen noch bewahrt wäre. Wegen des offenkundigen Risikos dieser Methode, „anachronistisch“ zu werden – d. h. Bedeutungen zu rekonstruieren, die schon den Rezipienten der überlieferten Mythen undurchsichtig und in der Tat „bedeutungslos“ waren, – hat der Sprachwissenschaftler Wolfgang Meid¹⁰⁵ begründete Einwände gegen sie erhoben. Im Fall von Heimdalls Namen erscheint es ebenfalls problematisch, dass es selten möglich war, allein aus sprachlichen Gründen die eine oder andere alternative Herleitung für richtig zu erklären. Gerade dieselben überlieferten Mythen, in deren unmittelbarem Kontext der Gott als deus otiosus also schon halb vergessen gewesen sei, mussten hier herangezogen werden, um die vorgeschlagenen Etymologien zu bestätigen. Weder die etymologische Methode, noch die Annahme von Heimdallr als deus otiosus sind also, für sich genommen, problematisch. Die Etymologie kann aber nicht mehr den Ausgangspunkt für eine Untersuchung zu dieser Gottheit ausmachen. Eher müssen die möglichen Herleitungen aus den Schlussfolgerungen der textnahen Analyse der übrigen Angaben zu Heimdallr heraus bewertet werden.

105 Die germanische Religion, 498.

Die vorliegende Untersuchung 

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Die methodische Problematik der früheren Forschung lag meines Erachtens somit nicht hauptsächlich darin, dass der eine oder andere Vergleich oder die eine oder andere Etymologie aus sachlichen Gründen falsch gewesen wäre, sondern sie lag in der Weise, in der die komparative und die etymologische Methode in der HeimdallrForschung häufig verwendet wurden, d. h. unter weitgehendem Verzicht darauf, das Verstehen von Heimdallr kontextuell zu begründen. Ich schließe mich hier der oben ausgeführten Tendenz der neueren Forschung an, den altwestnordischen Gott Heimdallr zunächst aus dem altwestnordischen Material heraus verstehen zu wollen. Damit soll nicht der Wert der komparativen Methode als solcher in Frage gestellt werden; es lässt sich aber fragen, ob Heimdallr schließlich nicht eine zu spezifische Erscheinung ist, um in komparative Kategorien eindeutig gefasst werden zu können. Wie die obenstehende Forchungsübersicht zeigte, scheint die Suche nach übergreifenden Kategorien eher die Gefahr mit sich zu bringen, jeweils einige Eigenschaften des Gottes in den Schatten der anderen zu stellen und in einem Bild von Heimdallr zu resultieren, das manchmal mit der Überlieferung noch wenig zu tun zu haben scheint. Methodisch gilt für die vorliegende Arbeit, dass die überlieferten mythologischen Vorstellungen zuerst und so weit als möglich aus ihrer eigenen Welt – das bedeutet in der Praxis: a) aus den überlieferten Texten (dem Kotext), b) aus der Vorstellungswelt (dem „System“) der Mythologie und c) aus dem geschichtlichen Kontext, d.  h. der Gesellschaft und Kultur der Überlieferung – heraus erklärt werden soll, bevor man sich eventuell fremden Kulturen zuwendet. Auch soll die Etymologie von Heimdalls Namen nicht mehr zum Ausgangspunkt für die Gesamtdeutung des Charakters und der Funktion des Gottes genommen werden, sondern erst gegen Ende der Arbeit, im Licht der vorhergehenden Resultate, behandelt werden. Die Forderung, Heimdallr aus seiner eigenen Welt heraus zu beleuchten, benötigt wegen des in der Quellenübersicht dargestellten problematischen Charakters der schriftlichen Quellen einige weiterführende Kommentare, besonders bezüglich der beiden letzten der oben angeführten Punkte 1. zum geschichtlichen Kontext der Überlieferung und 2. zur Vorstellungswelt der Mythologie. 1. Die Abgrenzung des geschichtlichen Kontexts der Überlieferung erfolgt z.  T. automatisch durch das Ergebnis der Quellenübersicht. Das Material bilden fast ausschließlich literarische Quellen des altwestnordischen Sprachgebiets, und zwar das isländische Schrifttum, und da vor allem die Eddadichtung. Entsprechend der eben aufgestellten methodischen Forderung, im nächsten Kontext des Gottes Heimdallr den Ausgangspunkt anzunehmen, wird demnach hauptsächlich das altwestnordische Sprachgebiet, Island und Norwegen, vom Anfang der Wikingerzeit bis zur Textüberlieferung des Hochmittelalters die Grenzen der Untersuchung bilden. Diese zeitlichräumliche Abgrenzung soll behelfsmäßig die „Welt“, die Gesamtheit der jeweiligen Kontexte, in denen die Vorstellungen von dem „Heimdallr“ genannten Gott tradiert wurden, umreißen. Material aus dieser Welt soll hier immer bevorzugt werden, um die Vorstellungen von Heimdallr zu beleuchten. Zu diesem Material gehören nicht

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 Einführung

nur die Edda- und die Skaldendichtung, sondern z.  B. auch die isländische Sagaliteratur, die wie viele der Primärquellen zu Heimdallr zwar aus Bearbeitungen aus christlicher Zeit überliefert ist, die aber wie diese trotzdem ältere Vorstellungen widerspiegeln kann. Dagegen sollen spätere volkskundliche Ideen, die die Christianisierung ins Hochmittelalter und bis in moderne Zeiten überlebt haben können, erst sekundär herangezogen werden. Die Abgrenzung zur Wikingerzeit ist nicht selbstverständlich. Weil die Quellen zu Heimdallr hauptsächlich auf Island im 13. bis 14.  Jahrhundert schriftlich fixiert wurden, während die mündlichen Vorstufen selten sicher datierbar sind, könnte es als angemessen erscheinen, sich auf die isländische Gesellschaft der Entstehungszeit der überlieferten Handschriften und die der vorhergehenden christlichen und frühchristlichen Periode zu beschränken. Mir scheint es selbstverständlich, dass diese letzten Stufen, einschließlich der allerletzten Phase, der Verschriftlichung selbst, für jeden Forscher nordgermanischer Religionsgeschichte unbedingt von großer Bedeutung sein müssen. Um die Beachtung der Einflüsse des Christentums, aber auch der Umgestaltung oder sogar Produktion vor allem der Eddadichtung in christlicher Zeit, können die Religionsforscher nicht mehr herumkommen, spätestens seit sie begonnen haben, einzusehen, dass die Mehrheit der eddischen Götterlieder keine alten „Kultlieder“ oder statische Aussagen einer vorchristlichen Vergangenheit sind. Dies soll in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt werden. Obwohl der Forscher nordgermanischer Religion somit z.  T. „Literaturhistoriker“ sein muss, weil er es gerade mit „Literatur“ zu tun hat¹⁰⁶, ist diese Aufgabe und dieser Kontext aber nicht sein primäres Anliegen. Er will die Mythen aus einem Kontext und aus einer Perspektive heraus studieren, aus dem bzw. aus der sie nicht nur literaturgeschichtliche Geltung hatten¹⁰⁷. Die Texte aus ihrem christlichen Deutungsrahmen heraus zu studieren ist für die vorliegende Arbeit mit anderen Worten in erster Linie deshalb wichtig, weil dies etwas über die Verwendung und eventuelle Ausgestaltung eines gegebenenfalls älteren Materials in diesen spezifischen Texten sagen kann und somit auch etwas davon erahnen lassen mag, was neu und was alt ist, was der persönlichen Präferenz und Intention des Dichters entsprungen sein mag und was von seinem Material herstammt. Die textkritischen Diskussionen zum Alter der Quellen bilden deshalb nur den ersten Schritt zur Bewertung der überlieferten Informationen. Obwohl ein junges Alter eines Textes ein Indiz dafür sein kann, dass eine darin vorkommende unikale oder im Vergleich zu anderen Quellen abweichende Angabe spät ist, ist eine junge Textform bekanntlich nicht immer mit einem jungen Inhalt gleichbedeutend¹⁰⁸. Neben der

106 Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, § 4. 107 Damit ist nicht gesagt, dass die Götter nicht auch in späteren Zeiten z.  B. auch ideologische oder identitätsschaffende Funktionen gehabt haben könnten; aber sie dürften dann kaum mehr als eben „literarische Gestalten“ gewesen sein. 108 Vgl. Meulengracht-Sørensen, Om eddadigtenes alder.

Die vorliegende Untersuchung 

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Datierung muss auch der Charakter der Quelle bedacht werden. Zum Teil im Unterschied zu Texten, wo Informationen nur antiquarisch aufgerechnet oder als schon bekanntes Wissen nur angedeutet werden, stellt sich in Texten, in denen die Angaben ausführlicher wiedergegeben werden bzw. mehr im Angelpunkt des Geschehens stehen, die Frage, ob diese Informationen vom Schreiber oder Dichter gemäß seiner konzeptuellen Intentionen eventuell umgestaltet wurden. Besonders für Texte wie die Vǫluspá, die Rígsþula und die Hyndluljóð ist deshalb die Frage, in welcher Weise das Material hier verwendet wurde, in dieser Arbeit etwas ausführlicher zu behandeln. Ich möchte unterstreichen, dass die oben umrissene Abgrenzung keineswegs ausschließen soll, dass der Gott Heimdallr, so wie er aus der Überlieferung bekannt ist, auf ältere und einst verbreitetere Vorstellungen und Entwicklungsstufen zurückgehen könnte. Derartige Annahmen sollen aber nicht der Ausgangspunkt dieser Arbeit sein, sondern dürfen erst dann diskutiert und erwogen werden, wenn das Bild der überlieferten Gestalt in ein helleres Licht gerückt werden konnte. Der Religionsgeschichtler und Germanist Jan de Vries sagte einmal¹⁰⁹, die Forschung sei immer geneigt, vertikale Linien zu ziehen, vergesse aber, dass ein „Glaubenssystem“ zu jeder Zeit nur es selbst sei, nicht seine Ursprünge. Die vorliegende Arbeit wird sich gerade an den waagerechten Linien orientieren. Zunächst sollen nur Entwicklungen innerhalb der Texttradition, d. h. insoweit die Überlieferung es zulässt, ihnen nachzugehen, nachgeprüft werden. Mit dem Charakter der Quellen am Schnittpunkt zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition, Heidentum und Christentum wird schließlich auch die Frage nach dem „Vorchristlichen“ und „Christlichen“ relevant. Meines Erachtens wurde die Grenze zwischen den beiden in der Heimdallr-Forschung oft allzu scharf gezogen. Christliches, das mit den althergebrachten Vorstellungen vereinbar erscheint, darf nicht als „unauthentisch“ abgetan werden. Es kann gleichzeitig von „christlicher Beeinflussung“ und „vorchristlicher Religion“ gesprochen werden. Wo auf der anderen Seite alle Argumente dafür sprechen, dass die ganze Weltanschauung eines Textes christlich ist und dessen Inhalt in dieser Richtung mitgestaltet hat, dann meine ich, dass man berechtigterweise „Christliches“ „Vorchristlichem“ gegenüberstellen kann. Der Begriff „vorchristlich“, wie er in der vorliegenden Untersuchung verwendet wird, hat also wenig damit zu tun, ob einzelne „christliche“ Vorstellungen akzeptiert werden, denn in einer polytheistischen Religion ist es nicht merkwürdig, etwa einen neuen Gott unter die anderen Götter aufzunehmen. Viel wichtiger ist es, wie McKinnell¹¹⁰ gesagt hat, wenn all die anderen Götter verworfen werden¹¹¹. Zugegeben – mit der Vǫluspá beispielsweise begeben wir uns hier auf eine Gratwanderung.

109 Altgermanische Religionsgeschichte I, 23  f. 110 Vǫluspá, 3. 111 Ein Beispiel für die Verneinung der heidnischen Götter sind die lausavísur 7 und 9 von Hallfreðr vandræðaskáld (Skj. B I, 158 bzw. 159), der in den Jahren um den Religionswechsel dichtete. Dies sei

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 Einführung

2. Ähnliche Probleme wie jene, die den geschichtlichen Kontext der Überlieferung betreffen, werden auch bei der Definition dessen, was mit der „Vorstellungswelt der Mythologie“ als Kontext der Heimdallr-Tradition gemeint sein soll, aktuell. Sobald dem Begriff „Mythologie“ ein Wahrheitsanspruch oder eine Definition als ‚fundierende Erzählungen‘ und dergleichen unterstellt wird, erscheint die Applizierbarkeit auf die germanische Religionsgeschichte nämlich schon deshalb problematisch, weil die „Mythen“ in diesem Sinn gegebenenfalls in Texten überliefert sein können, denen solche Qualitäten völlig fehlen. Die vorliegende Arbeit soll aber nicht bei irgendwelchen Theorien darüber, was Mythologie „eigentlich sei“, oder mit einer Diskussion darüber, ob die Überlieferungen eigentlich „Mythen“ (in dem einen oder anderen Sinn) wiedergeben, ihren Anfang nehmen. „Mythologie“ wird hier in der breiten Definition von ‚Erzählungen von den Göttern‘ – als Quellen also vor allem die Edda- und Skaldendichtung – verstanden und soll in erster Linie ein funktionelles Sammlungswort sein, das erlaubt, vom gesamten die Göttern behandelnden Textkorpus und den dahinterliegenden Vorstellungen zu sprechen. Es soll jedoch nicht für unmöglich gehalten werden, dass die verschriftlichte Tradition Spuren von Erzählungen enthalten kann, die dieselben Funktionen gehabt haben können, die die Religionswissenschaft manchmal dem „Mythos“ zuschreibt. Wie später hervorgehen wird, liegt gerade darin ein wichtiger Unterschied der vorliegenden Arbeit gegenüber der früheren Forschung, dass hier überlegt werden soll, welche Bedeutung die „Mythologie“ im oben definierten Sinn als Phänomen sui generis, und nicht bloß als Ausdruck von etwas Anderem – sei es ein verloren gegangener HeimdallrKult oder eine in den Quellen poetisierte Naturerscheinung  –, gehabt haben mag. Theoretisch können die Heimdallr-Traditionen schon an sich Ideologien geschaffen oder hervorgehoben, Vorstellungen und Verhaltensweisen befestigt, Institutionen gerechtfertigt haben¹¹². Ob es glaubwürdig gemacht werden kann, dass dies wirklich der Fall war, wird sich jedoch erst im Lauf der Untersuchung, und nicht von einem Vorverständnis vom Wesen des „Mythos“ ausgehend, herausstellen. Wie aus der untenstehenden Untersuchung hervorgehen wird, kann gezeigt werden, dass die Gestaltung des Stoffes in mehreren Quellen der „mythologischen“ Literatur an ein Denkmodell orientiert ist, das die geschilderte Welt räumlich, aber auch sozial und gemäß genealogischen Strukturen, in Zentrum und Peripherie gliedert. Wenn auch Heimdallr, der vor allem in dieser Literatur belegt ist, an dieses Modell partizipiert, ist zu erwarten, dass die Darlegung von diesem auch für das Ver-

auch laut McKinnell in der Sagaliteratur das gewöhnliche Verhältnis gegenüber den alten Göttern. Siehe McKinnell, ebd., 3  f., mit weiteren Beispielen. 112 Ich wende mich hier also gegen die Anschauung, die z.  B. in Baetkes rhetorischer Frage am Ende seiner Besprechung von Perings Heimdallr-Untersuchung zum Vorschein kommt: Baetke fragt, ob es sich wirklich lohne, eine Gestalt zu erklären, die keine Kultgottheit war. Seine Antwort: „Die germanische Religionsgeschichte kann dabei auf jeden Fall nur wenig gewinnen“ (Rezension, 194).

Die vorliegende Untersuchung 

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stehen des Gottes ergebnisreich sein wird. Mit dem Ansatz, Heimdallr aus der Vorstellungswelt der Mythologie zu beleuchten, hängt daher die empirische Ausarbeitung dieses Modells, nicht aus vorgefassten Theorien, sondern empirisch aus den Quellen und deren historisch-sozialem Kontext, zusammen. Die grundlegenden Züge dieses Modells näher zu bestimmen, soll die Aufgabe des folgenden Abschnitts sein. Im 2. Kapitel soll darauf der wichtige Mythos von Heimdalls Vaterschaft untersucht werden, wobei der problematische Status der Rígsþula als Quelle – neben Vǫluspá 1 der wichtigste Text, der von diesem Mythos berichtet – etwas ausführlicher behandelt werden soll. Im 3.  Kapitel wird dann die 2. Strophe der ältesten einigermaßen sicher datierbaren Quelle, in der Heimdallr behandelt wird, Úlfr Uggasons Húsdrápa, untersucht. Worüber diese Strophe eigentlich geht, war bisher Gegenstand unterschiedlicher Auffassungen. Das 4. Kapitel behandelt Heimdalls Geburt, die im größtenteils verschollenen Heimdallargaldr belegt ist und in den Hyndluljóð weiter ausgearbeitet wird. Kapitel 5 hat Heimdalls Horn, Gjallarhorn, zum Thema. Die wichtigste Quelle zu diesem Motiv ist die Vǫluspá, deren Status als Quelle hier ausführlich besprochen wird. Im 6. Kapitel wird dann Heimdalls Rolle in den Hyndluljóð untersucht. Dieses Eddalied wird in der Forschung häufig als eine sekundäre Zusammenfügung von zwei ursprünglich selbständigen Texten angesehen, wobei seit Sophus Bugge eine gewöhnliche Auffassung ist, dass die beiden Teile inhaltlich wenig miteinander zu tun haben sollten. Dieses Problem wird etwas eingehender behandelt und die Handlung des Liedes analysiert. Das 7. Kapitel behandelt Heimdalls angeblich dualistischen Charakter, den er in seiner Eigenschaft einerseits als erhabener Stammvater, andererseits als „Wächter der Götter“ haben sollte. Es wird untersucht, was der Begriff vǫrðr goða in den verschiedenen Belegstellen der Eddadichtung – Grímnismál, Lokasenna und Skírnismál – bedeutet und wie der damit zusammenhängende Aspekt Heimdalls von Snorri Sturluson konzipert wurde. Der Quellenwert dieser Eddalieder wird hier behandelt. Im darauffolgenden 8. Kapitel werden Heimdalls Wohnort Himinbjǫrg und der möglicherweise mit Heimdallr zusammenhängende Ortsname Heimdalshaugen erörtert. Erst am Ende der Arbeit werden – in Übereinstimmung mit den obenstehenden Erwägungen zur Etymologie als religionsgeschichtlicher Methode – der Name Heimdallr (Kap. 9) sowie Heimdalls ebenfalls mit seinen (von Snorri ihm zugeschriebenen) Namen zusammenhängende Verbindung mit dem Widder und die Entwicklung dieser „Widdertradition“ (Kap.  10) analysiert. Das letzte, 11.  Kapitel besteht aus einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung und aus einigen weiterführenden Anmerkungen zu diesen.

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1.4.2 Das Ordnungsmodell der Mythologie Im Unterschied zur gängigen Auffassung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts¹¹³ gilt es in der heutigen Forschung als communis opinio, dass die germanische Gesellschaft bilateral war. Dieses System war individuenbezogen. Jedes Individuum gehört gleichzeitig einer Menge von Verwandtschaftsgruppen an. Die „offene“ oder „wechselnde“ Sippe eines Kindes war nicht wie in der „geschlossenen“ oder „festen Sippe“ identisch mit jener seiner Eltern¹¹⁴. Die soziale Anerkennung und Stärkung der Verwandtschaftsbeziehungen z.  B. durch Freundschaft konnte aber strategische personelle Bindungen schaffen, die in der Zeit der Not Aktionsgruppen, die dem Einzelnen bei Blutrache oder in Rechtsfragen als Schutz und Stütze beistehen konnten, mobilisieren ließen. Wer eine große Sippe hatte, konnte nachhaltige Hilfe erwarten. Ein stehendes Attribut mächtiger Männer ist deshalb frændríkr, oder es wird gesagt, sie haben frændastyrkr, d. h. die Stärke einer großen Sippe hinter sich¹¹⁵. Verwandtschaft war in diesem Sinne Macht und konnte dann auch als Instrument dienen, um die Macht zu steigern. Gleichzeitig mit dem bilateralen Prinzip scheint in der nordgermanischen Gesellschaft – z.  B. im Odalrecht¹¹⁶ – ein agnatisches existiert zu haben. Darin muss nicht

113 Siehe die frühe, scharfe und noch lesenswerte Kritik daran bei Genzmer, Die germanische Sippe (1950). Exakt zehn Jahre später erschien die gleichartige Kritik von Kroeschell, (Die Sippe, 1960). Genzmer behandelte die ältesten, als Beweise für eine ursprüngliche Sippengesellschaft häufig angeführten Stellen und kam zu dem Ergebnis, diese sagten über ein solches Gebilde gar nichts aus. Auch in den isländischen Gesetzen über Fehde und Wergeld träten keine Sippen, sondern nur verwandte Individuen mit durchgehend individuellen Ansprüchen auf. Kroeschell behandelte ausführlicher das kontinentale und das altenglische Material. Auf das nordische ist Gaunt (Familjeliv i Norden, 186–210) tiefer eingegangen; vgl. zu den altschwedischen Rechten Sjöholm, Metod, besonders 244  f. und die angeführte Literatur bei Saar/Strauch, Sippe, bis zum Sp. 478a. Übergreifend Winberg, Grenverket, 10–30. Dem Runensteinmaterial hat B. Sawyer (Property and inheritance, Kap.  3) eine gründliche Untersuchung gewidmet und ist zum Ergebnis gekommen, dass auch Frauen, wenigstens wenn keine männliche Erben da waren, Erbrechte an Grund und Boden hatten, welches dann auch nicht in einer Patrilinie bleiben musste; dabei scheinen aber sowohl die Runensteine wie die Germanenrechte eine stärkere Bevorzugung der Männer gegenüber den Frauen verglichen mit dem römischen Recht zu zeigen (vgl. ebd., 16  f.). 114 Vgl. die schematische Darstellungen bei Gaunt, Familjeliv i Norden, 194; Winberg, Grenverket, 16. 115 Von dieser Sachlage sprechen auch Wörter wie ætt- oder kynstórr maðr, die man in Verbindung mit großen Männern zu hören pflegt. In einem Zusammenhang wie der der Guðmundar saga 35 (Biskupa sǫgur I, 71) kommt die Bedeutung, die Sippe und Getreue besonders in Situationen der Bedrängnis haben konnten, in Beziehung zu einem dieser Wörter klar zum Vorschein. Kolbeinn, heißt es dort, var ættstórr maðr, vóru sumir hans frændr, sumir mágar, er mest máttu afla í úfriðinum. Siehe auch die Belege ähnlicher Begriffe wie frændmargr, -ríkr usw. bei Frz., s. vv. Vgl. Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains and power, 145. 116 Dies wird ausführlich in Kap. 6 behandelt.

Die vorliegende Untersuchung 

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notwendig ein Widerspruch liegen. Wie Christer Winberg¹¹⁷ dargelegt hat, ist eine Gesellschaft selten ausschließlich bilateral, vielmehr mag die Konstruktion der Verwandtschaftsbeziehungen situationsbedingt sein. Sozial mag die bilaterale, wechselnde Sippe am wichtigsten sein, während z.  B. in Erbschaftsfragen kognatische Beziehungen, d. h. Beziehungen entweder durch die Matri- oder Patrilinie, relevanter sein können. Auch in der altwestnordischen Mythologie scheinen beide Verwandtschaftsprinzipen relevant zu sein, und zwar in demselben Konflikt zwischen den beiden wichtigsten genealogisch unterscheidbaren Gruppen der mythologischen Überlieferung, der schließlich zum Untergang der Welt führt. Der „antagonistische Dualismus“¹¹⁸, der in den überlieferten mythologischen Quellen zwischen den Göttern (Asen und Wanen) und den Riesen besteht, durchzieht die ganze Mythologie und muss als eine grundlegende Spannung derselben verstanden werden. Obwohl die Quellen, in denen dieser Dualismus am reichsten ausgestaltet ist – in der Götterdichtung der Lieder- und in der Snorra-Edda –, in christlicher Zeit schriftlich fixiert worden sind, dürfte damit gerechnet werden können, dass er ein Erbe heidnischer Zeit ist, – was gleichzeitig nicht ausschließt, dass er auch in der Gesellschaft, in der er schriftlich überliefert wurde, von einiger Relevanz gewesen sein konnte. Diese Spannung wird z.  T. territorial konzipiert. Die Wanen werden allem Anschein nach imaginiert, anderen Ursprungs als die Asen zu sein, wohnen aber mit diesen in Asgard¹¹⁹. Asgard erscheint hier als ein Zentrum. Schon der Name, altnordisch Ásgarðr – eine unter anderem der Wortbildung nach zu beurteilen alte Nachbildung von Miðgarðr¹²⁰, – deutet die Existenz einer feindlichen umgebenden Welt an. Denn Miðgarðr bezeichnet wohl in der altwestnordischen Überlieferung nicht einen ‚Hof (garðr) in der Mitte [des Kosmos]‘, sondern einen ‚Zaun‘ (garðr), der die Welt der Menschen (Midgard) von der Welt der Riesen und Unholde (Utgard) trennt – so im Mythos von der Schöpfung der Erde und der Entstehung von Midgard, in dem letztere als das Errichten eines Zaunes beschrieben wird, der für die Menschen aus den Wimpern des Riesen Ymir gefertigt wurde¹²¹. Und auch Asgard wird in der Überliefe-

117 Jord, 267. 271; ders., Grenverket, 17. 118 „Antagonistic dualism“. So McKinnell, Meeting the Other, 4. 119 Vgl. Vafþrúðnismál 38  f.; Lokasenna 37. 120 Vgl. zu Ás-garðr, ohne Flexionsendung nach dem Erstglied, den Ortsnamen As-hem (Åsum) und, auf der anderen Seite, die Neubildungen Ásaheimr, Ásaland bei Snorri. Vikstrand, Ásgarðr, 354. Während Gegenstücke von altnordisch Miðgarðr in mehreren germanischen Sprachen nachweisbar sind (siehe IED, s. v. „mið-garðr“; Kuhn, Religionsgeschichte, 299  f.), fehlen verwandte Bezeichnungen von Ásgarðr außerhalb des Altnordischen. 121 Grímnismál 41. Die Vorstellung scheint auch bezüglich des mehrmals belegten Ausdrucks und Miðgarði, eigentlich ‚unter‘ oder ‚im Schutze von Midgard‘, also unter dem „mittleren Zaun“, vorausgesetzt worden zu sein. Belege in Hárbarzljóð 23,8; Hyndluljóð 11; Arnórr jarlaskáld (11. Jahrhundert),

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 Einführung

rung nicht als ein Hof imaginiert, sondern als das (evt. eingehegte) Land der Götter. Snorris Vorstellung von Asgard als einer Burg (borg)¹²² mag seine eigene Konstruktion sein; gleichzeitig mag sie etwas Richtiges treffen: Midgard und Asgard – von Anfang an in einer „Schicksalsgemeinschaft“ gegen die Riesen miteinander verbunden¹²³ – sind eingezäunt und belagert. Die Riesen – deren Welten (Jǫtunheimar) als eindeutig in der Peripherie der Welt der Menschen und Götter gelegen gedacht werden müssen¹²⁴ – verlangen nach dem Zentrum. Einmal wird ihnen das gelingen. Das ist Ragnarök, das Ende der Welt. Der Konflikt zwischen Riesen und Göttern ist aber nicht ganz eindeutig ein Kampf zwischen Sitte und Unordnung. Obwohl die Dichotomie Ordnung–Chaos naheliegt, können die Riesen nicht als Chaos schlechthin aufgefasst werden. Die Riesen werden z.  B. gedacht, in einem nicht geringeren Ausmaß als die Götter in einem Netzwerk von Familien und Verwandtschaftsbeziehungen zu leben¹²⁵, und obwohl sie in der älteren Skaldendichtung zumeist als Bergbewohner gekennzeichnet werden, wohnen sie in einigen der späteren Eddalieder genau wie die Götter in Höfen, also in einem kultivierten Raum; sie heiraten; sie züchten Vieh. Ja, wie Margaret Clunies Ross¹²⁶ bemerkt hat: Wenn „Ordnung“ unter anderem auch als Ethik verstanden wird, dann muss zugestanden werden, dass es im Kampf gegen die Riesen häufig die Götter sind, die „chaotisch“, gegen diese Ordnung handeln. Die Riesen scheinen eher ein Zwischenglied zwischen dem Zentrum und den total andersartigen Bestien Utgards wie dem Fenriswolf darzustellen. Aber gerade deshalb können die Riesen als eine andere Ordnung mit den Göttern kontrastiert werden. Aus all dem sollte hervorgehen, dass der kosmische Antagonismus merkwürdigerweise nicht als ein Streit zwischen Wertsystemen oder über die Existenz oder Nicht-Existenz von Werten erscheint. Eher dürfte es darum gehen, die eigene Position im System zu fördern. Wenn in diesem Kampf auch ein unethischer Sieg der Götter als eine Aufrechterhaltung der Ordnung konzipiert wird, dürfte dies darauf beruhen, dass die Ideologie, die die Mythen dominiert, aus der Perspektive der Götter formuliert worden ist. „Die Ordnung“ ist in der mythologischen Darstellung die dominante Ordnung der Götter. Objektiv gesehen sollen die Riesen folglich in dieselbe (gemäß dem Status der sozialen Gruppen gestufte) rechtliche, soziale und sittliche Ordnung wie die Götter

Haraldsdrápa 18,2 (Skj. B I, 325). Siehe zur Bedeutung Kuhn, Religionsgeschichte, 297  f. Auch wenn und ‚neben‘ bedeuten kann (Edda, ed. Detter/Heinzel II, 47, zu Vǫluspá 35,2, mit Beispielen), würde das im Zusammenhang mit Midgard einen Zaun voraussetzen. 122 Gylfaginning 6, 16. 123 H. Naumann, Germanische Schicksalsglaube, 22  f. Vgl. McKinnell, Meeting the Other, 4. 124 Die Götter, vor allem Þórr, müssen immer eine lange Reise antreten, um dorthin zu gelangen. 125 Vgl. auch Ellis [Davidson], Fostering by giants, 71. 126 Prolonged echoes I, 62. Clunies Ross hat auch die unten besprochene „dominante Perspektive“ der Götter in der Mythologie meines Erachtens richtig identifiziert.

Die vorliegende Untersuchung 

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eingeordnet sein. Diese umfassendere Ordnung könnte als ein Behelf vereinfacht die „kosmische Ordnung“ genannt werden oder, mit einem emischen Begriff, siðr – ‚Sitte‘. Die Riesen sind nicht unethisch. Ihre Einordnung in die kosmische Ordnung bedeutet aber zugleich eine Über- und Unterordnung. Subjektiv gesehen, aus der (Wir-) Perspektive der Götter, gehören die untergeordneten, also peripheren Riesen deshalb weniger der (Über-)Ordnung an als die dominante Sippe der Götter. Nach dieser Sichtweise sind die Riesen wirklich das Andere, das Fremde, ein für die dominante Gruppe potentiell fruchtbares, aber auch potentiell gefährliches Chaos: Um das aus der Perspektive der dominanten Gruppe formulierte Ordnungsmodell aufrechtzuerhalten, müssen die darin eingeordneten Teile an ihrem Platz bleiben. Schematisch kann dies in der folgenden Weise dargestellt werden: objektiv

die kosmische Ordnung/das Ordnungsmodell

subjektiv

dominante Gruppe Zentrum/Ordnung

untergeordnete Gruppe Peripherie/Chaos

Doch – warum können die Riesen die territorialen Grenzen nicht überqueren, z.  B. die Seite wechseln? Die Antwort wird vielleicht offenkundiger, wenn derjenige Riese betrachtet wird, der die Grenzen tatsächlich überschreiten kann: Loki. Denn er kann es, weil er mit Óðinn Blut gemischt¹²⁷ und so eine künstliche Verwandtschaft mit den Göttern geschaffen hat. Als er trotzdem im Endkampf an der Seite der Riesen steht, zeigt sich dadurch nur, dass im Konflikt zwischen den Göttern und den Riesen die agnatische Abstammung der Asen vom Urwesen Burr und seinem Vater Búri und der davon verschiedene Ursprung der Riesen aus dem Urwesen Ymir schwerer wiegen als alle anderen Verwandtschaftsbande. Es kommt somit zur territorialen Seite des Konflikts eine genealogische Seite hinzu. Die Riesen haben nicht nur einen anderen Status und bewohnen ein anderes Gebiet als die Götter, sie haben auch einen anderen genealogischen Ursprung. Man muss nicht jener Forschungsrichtung folgen, nach der Asgard ein Abbild und Gegenstück zum bäuerlichen Odalhof sein soll¹²⁸, um hier die Relevanz der Mentalität der Institution des Odals anzuerkennen. Denn hier waren Ahnen und Abstammung mit Grund und Boden, und diese ferner mit dem sozialen Status, eng verbunden. Darauf weist schon die etymologische Verknüpfung von óðal mit Ursprung und

127 Lokasenna 9: Mantv þat, Oþinn! | er við i ardaga | blendom bloþi saman. 128 So sprach Gurevič von einem mythologischen „Weltmodell“, das nach dem Odalhof konzipiert worden sei und Asgard im Zentrum gehabt haben soll. Siehe Gurevič, Historical anthropology, 200; vgl. ebd., 178. 200–9; dens., Categories of medieval culture, 47 („model of the universe“) ≈ ders., Das Weltbild, 48 („Modell des Weltalls“; vgl. ebd., 46  ff.); Zachrisson, The odal, 220a („mentality“). Vgl. ferner Gurevič, Space and time, besonders S. 42–45; dens., Edda and law, 82  f.; Hastrup, Culture and history, 59  f. und Kap. 5, 136–54.

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 Einführung

Herkunft hin. Die Herleitung von altnordisch óðal ist zwar nicht völlig klar¹²⁹. Germanisch *ōþala, *ōþila ist aber eine dehnstufige Bildung (germanisch a : ō, altnordisch a : ó) zu einem germanischen *aþala-, ein Wort, das mit Adel, althochdeutsch adel ‚gute Familie, edle Abstammung, Adel‘ identisch ist. Zu ihm gehören auch altnordisch aðal ‚Natur, angeborenes Wesen; Abkomme‘, altsächsisch aðal ‚Geschlecht, Adel‘, altenglisch æðelo ‚nobilitas, principatus, origo, natales, prosapia, natura, indoles, ingenium‘ usw.¹³⁰. Adel und Odal gehörten zusammen, denn zum Odalhof gehörte die Ahnenreihe, die ætt, ebenso sehr, wie die ætt zum Odalhof gehörte¹³¹. Man könnte somit sagen, dass óðal und ætt zwei Seiten einer Medaille waren¹³². Bedeutungsvoll aber auch folgerichtig erscheint in dieser Hinsicht die Gleichsetzung der norwe-

129 Die traditionelle, noch heute häufig zitierte Etymologie aðal < indogermanisch *ató- ‚Vater‘ ist fraglich, da die vorausgesetzte Form mit kurzem Konsonant im Germanischen nicht belegt ist (siehe AEW, s. v.). Nach der im Artikel „Adel und Gefolgschaft“ (1916) vorgelegten Ansicht Gustav Neckels sei althochdeutsch eidiling ‚vornehmer Mann‘ eigentlich ‚der zum adal [Stammgut] Gehörige‘. Diese Bedeutung *aþala = ‚*ōþala‘ meinte Neckel in altbayrisch adal-poro ‚Gutsbesitzer‘ gefunden zu haben; die abstrakteren Bedeutungen seien aus der konkreteren Vorstellung von Grund und Boden entwickelt. Neckels Lösung wurde aber später von Szemerényi (The etymology) kritisiert, vornehmlich, weil die angenommene Bedeutung altbayrisch adal ‚Erbgut‘ wenig Stütze in den verwandten Sprachen finden könne. Anstelle dessen schlug Szemerényi vor, dass nicht aþ-, sondern -al- die Wurzel von germanisch *aþala sei, also parallel zu und z.  T. verwandt mit lateinisch indolēs ‚nature, inborn quality‘ (< *endo-alēs, zur Wurzel *al- im gotischen Verb alan usw. ‚wachsen, nähren‘). Das Wort soll folglich ‚off-spring‘, mit der Vorsilbe Präposition *at(i) ‚beyond, out from‘, bedeutet haben, wozu die dehnstufige Form *ōþala gebildet sei. Dass dieses Wort später auf die Bedeutung ‚patrimonia‘ reduziert wurde, lasse sich nach Szemerényi damit erklären, dass das Erbgut das ausgeprägteste Erkennungsmerkmal der edlen Geschlechter sei. Aus sprachgeschichtlichen Gründen hat aber später de Vries (AEW, s. v.) auch gegen Szemerényis Etymologie Einwände erhoben; wäre die Wurzel von germanisch *aþala, wie dieser meinte, die zweite Silbe, sollte nämlich der Ablaut diese Silbe, nicht die erste betroffen haben, da ja der Hochstufe-Vokal im Stamm und nicht im Präfix zu erwarten ist. Sämtliche Dialekte der germanischen Sprachfamilie zeigen aber Ablaut auf aþ-, nicht auf -al-. 130 Bosworth/Toller, An Ango-Saxon dictionary, s.  v. „óðal“. Von germanisch *aþala- sind ferner andere Bildungen, die mit (edler) Herkunft zu tun haben, abgeleitet. Vgl. altnordisch eðli ‚Ursprung, Herkunft; Natur, angeborene Eigenschaften‘, Adjektiv althochdeutsch edili ‚von edler Abstammung‘, altsächsisch eðili, altenglisch æðele ‚edel; von edler Geburt usw.‘ (germanisch *aþalja-), ferner altnordisch ǫðlingr ‚Mann von edler Geburt, Fürst usw.‘, mit Gegenstücken in althochdeutsch adalung, ediling, altenglisch æðeling, altfranzösisch etheling usw. (= mittellateinisch adalingus, adelingus, ethelingus) ‚Edelgeborner, Edel‘. – Die altnordisch anzunehmende, u-umlautende Grundform *aþulingsollte eine nach Analogie, im Verhältnis zur germanischen Grundform, deren Weiterentwicklungen und Derivative in den anderen germanischen Sprachen sonst nur auf ein a, nie auf ein u in der zweiten Silbe hindeuten, sekundär gebildete Form sein (siehe Szemerényi, The etymology, 43  f.). Für das Urgermanische ist eindeutig die Form *aþaling anzunehmen. 131 Vgl. Gurevič, Das Weltbild, 48 bzw. 49. 132 Vgl. Vestergaard, System, 180. Vgl. auch die etymologische Verwandtschaft zwischen altnordisch ætt und altnordisch eiga ‚besitzen, haben‘, d. h. mit dem „Eigenen“, mit dem, was einem gehört oder angeboren ist – sowohl Eigenschaften als auch Eigentum (vgl. gotisch áihts, altenglisch æhte ‚Eigentum‘, althochdeutsch ēht ‚Besitz, Grundbesitz, Erbgut‘).

Die vorliegende Untersuchung 

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gischen Rechte des vollfreien Bauers mit dem óðalmaðr oder óðalborinn maðr: Zur Vollfreiheit gehörte eigenes Erbland, gehörte Grund und Boden; óðalborinn war aðalborinn¹³³. In der Mythologie war die dominante ætt die der Asen und ihr „Odal“ Asgard, nach dem die sozial und geographisch periphere ætt der Riesen verlangen, aber den sie – aus jetzt geklärten Gründen – nie rechtmäßig besitzen können. Die einzige Weise, außer durch Krieg, in der sich in der bilateralen Gesellschaft die sozial untergeordnete Gruppe dem Zentrum der Macht nähern kann, ist durch die Erschaffung von affinalen Bänden, d. h. durch Heirat. Die höchststehende Gruppe der Mythologie, die Asen, scheint deshalb – wie schon Margaret Clunies Ross im ersten Band ihrer „Prolonged echoes“¹³⁴ dargelegt hat – zu einer Binnenheirat (Endogamie) zu tendieren, um ihre Position zu behalten. Dies führt zu dem, was ich eine „genealogische Problematik“ in der mythologischen Vorstellungswelt nennen will, und erklärt die sexuellen Beziehungen zwischen den drei Gruppen, wobei die Asen die Riesen gewöhnlich ausnützen, ohne dabei dauernde Beziehungen zu schaffen¹³⁵, während die Riesen die Göttertöchter begehren und nach Heirat mit ihnen verlangen¹³⁶.

133 Vgl. Gurevič, Historical anthropology, 178; dens., Das Weltbild, 46  f.; dens., Edda, 83. 134 Und noch auf der Konferenz „Myth and theory in the Old Norse world“ (Aberdeen, 22.–23. Okt. 2009; zur Zeit, im Okt. 2014, steht die geplante Veröffentlichung noch aus). 135 Das chronologisch allererste Beispiel der Mythologie ist die Geburt der ersten Göttergeneration von Burr und der Riesin Bestla. Keine Einzelheiten des Mythos sind überliefert, es kann aber konstatiert werden, dass der Beischlaf des Urwesens mit der Riesin aus Not geschah: es gab zu dieser Zeit keine anderen Wesen, die der Fortpflanzung hätten dienen können. Nach dieser ersten geschlechtlichen Zeugung (die früheren waren hermaphroditisch) bekommen wir vor dem Mythos Vǫluspá 8 (siehe unten) wenig überraschend von einem Verkehr zwischen den beiden ættir nichts mehr zu hören. – Aus Not oder für bestimmte Zwecke werden auch später die Relationen der Götter mit den Riesinnen verbunden, so Óðins Beischlaf mit Gunnlǫð (Das „zweite Odinsbeispiel“, Hávamál 103–110 und Skáldskaparmál 6; vgl. Hávamál 108,4: Gvnnladar […] nytac) und seine Zeugung der beiden Rächersöhne Víðarr und Váli, obwohl die Identität der Mütter als Riesinnen hier unklar ist. Für Gríðr, Víðars Mutter, mögen einige Wolfkenningar (siehe Lex. poet., s.  v.) auf eine Riesinnennatur hindeuten. Die Anhaltspunkte sind jedoch nicht eindeutig; vgl. die kenningar für ‚Mut‘: Gríðar byrr, Stúfsdrápa 1, 11. Jahrhundert (Skj. B I, 373); Gríðar glaumvindr, anonymes Fragment (Skj. B I, 601). Sehr befremdend für eine Riesin scheint auch, dass Gríðr dem Þórr – dem größten Riesenfeind aller Götter! – freiwillig beisteht und ihm sogar ihren Stab, Gríðarvǫlr, nach Snorri auch megingiarþa ok iarngreipr gibt, um ihm zu helfen, (den Riesen!) Geirrøðr zu bekämpfen, Skáldskaparmál 23, 106, vgl. Þórsdrápa 9 (Skj. B I, 141). Rindr (Rinda bei Saxo), die Óðins Sohn Váli i væstrsǫlvm (Baldrs draumar 11,2) gebiert, wird von mehreren Forschern für eine Riesin gehalten (so Steinsland, Fornnordisk religion, 232; dies., Giants as recipients, 217; Clunies Ross, Prolonged echoes I, 28. 100. 272). Vgl. aber Neckel (Die Überlieferungen vom Gotte Balder, 213), der meinte, die Ortsangabe i væstrsǫlvm deute eher auf den Bereich der Götter. – Das Thema wird auch von Clunies Ross, ebd., 127–43, behandelt. 136 Das klassische Beispiel, für unsere Zeit durch Richard Wagners „Rheingold“ verewigt, ist natürlich das Verlangen der Riesen nach Freyja; siehe Þrymskviða, Vǫluspá 25 (vgl. Gylfaginning 25, 45  ff.) und Bragis Ragnarsdrápa 1 (Skj. B I, 1) aus dem 9. Jahrhundert, wo der Riese Hrungnir Þrúðar þjófs ‚Dieb des Þrúðr‘ – nach Eysteins Lied von Þórr, Strophe 2 (Skj. B I, 131) Þórs Tochter – genannt wird

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 Einführung

Zu diesen beiden Haupttypen kommt zwar ein dritter: die Heirat zwischen einem Gott und einer Riesin. Die Fälle sind aber nicht häufig. 1. Der Mythos von Njǫrðs unglücklicher Heirat mit Skaði ist, soweit ich ersehen konnte, eindeutig nur in der Snorra-Edda überliefert. Die anderen Anhaltspunkte sind schwach¹³⁷. Es ist auch mit Recht behauptet worden, dass der Mythos viele Züge enthält, die in den Märchen häufig sind¹³⁸, und in Snorris Erzählung gibt es manches, das zweifellos an das Burleske gemahnt¹³⁹. Margaret Clunies Ross hat aber die Episode in einer Richtung interpretiert, die ihr einen Sinn gibt, der die Erzählung gerade als Ausnahmefall im Rahmen sowohl einer jüngeren isländischen als auch einer älteren Gesellschaft verständlich macht. Die Erzählung soll deshalb kurz behandelt werden. Snorri berichtet: Nachdem die Götter den Riesen Þjazi getötet haben, kleidet sich seine Tochter Skaði in Helm und Brünne und fährt nach Asgard, um ihren Vater zu rächen. Als Buße bieten ihr die Götter an, einen Mann zu wählen, unter der Bedingung allerdings, dass sie nur die Füße der Männer sehen darf. Da Skaði glaubt, der schöne Baldr müsse auch die schönsten Füße haben, wählt sie ihren Mann nach diesem Kriterium; die schönsten Füße hatte aber Njǫrðr¹⁴⁰. Diese auf einem Fehlschluss gegründete Ehe wird nicht glücklich, und die Riesin kehrt schließlich zum Hof ihres Vaters zurück¹⁴¹. Warum war die Riesin für die Götter so gefährlich? Clunies Ross hat darauf hingewiesen, dass nach der Ringtafel der Grágás¹⁴² die Tochter des Getöteten als „Ringherrin“ (baugrygr) die Buße nur empfangen kann, solange sie nicht verheiratet ist; danach sollen die Verwandten sie empfangen (enða scolo frændr a lengr taca). Vonseiten der Riesin entspricht die Ehe dem früheren Versuch ihres Vaters, die Göttin Iðunn zu verheiraten. Die Götter dagegen haben kein Verlangen danach. Vonseiten der Götter erweist sich das Heiratsangebot lediglich als eine notgedrungene Methode, die Riesin als Ringherrin zu disqualifizieren. – 2. Den anderen Fall zeigen die Skírnismál. Das überlieferte Lied ist wahrscheinlich erst nachheidnisch. Das Motiv an sich – eine Heirat¹⁴³ Freys mit der Riesin Gerðr (vgl. Hyndluljóð 30) –, wie nachweisbar auch andere Motive und Strukturen, die mit diesen verbunden waren, können aber älter sein, obwohl in einem neuen Zusammenhang verwendet. Jedenfalls stimmen die Skírnismál mit dem vergleichbaren mythologischen Material darin überein, dass auch hier die Kosten der Heirat (vor allem Freys Verlust seines Schwertes) ins Zentrum gestellt werden und dass der göttliche Protagonist wegen seines Verlangens, eine Riesin zu heiraten, die Göttergemeinschaft gegen sich hat (Skírnismál 7).

(vgl. Skáldskaparmál 25, 101). Vgl. den Mythos von Iðunn in Þjóðólfs Haustlǫng (9. Jahrhundert) 1–13 (Skj. B I, 14  ff.) und in den (jungen) Alvíssmál. Siehe ferner Clunies Ross, Prolonged echoes I, 107–26. 137 Snorri verknüpft in Gylfaginning 12 einige Strophen mit Njǫrðr und Skaði. Die Protagonisten sind in den nur hier belegten Strophen nicht mit Namen erwähnt. Saxo verknüpfte sie (in lateinischer Übersetzung) in seiner Gesta Danorum, 33 mit Hadingus und Regnilda. Daneben erwähnt eine Strophe des Þórðr Særeksson (11. Jahrhundert; Skj. B I, 303, 4, Strophe 3) kontextlos eine goðbrúðr, die das Leben mit dem Wanen (Vani) nicht ertragen konnte. 138 So schon Fr. von der Leyen, Das Märchen, § 7, mit mehreren Vergleichen, einige überzeugend, andere nicht. In ihrer Gesamtheit zeigen sie aber den märchenhaften Charakter der Erzählung. Treffend ist auch der Vergleich von Clunies Ross, Prolonged echoes I, 123. 139 So das Motiv, in dem Loki die Riesin – als Teil der Buße – dadurch zum Lachen bringen soll, dass er seine Geschlechtsteile mit dem Bart eines Ziegenbocks zusammenbindet. Beide zogen und schrien. 140 Snorra-Edda, Skáldskaparmál 3. 141 Ebd., Gylfaginning 12; vgl. Grímnismál 11. 142 Grágás, 201. 143 Vgl. Klingenberg, Fǫr Skírnis, 26.

Die vorliegende Untersuchung 

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Sozial ist diese genealogische Problematik verständlich. Die Riesen konnten bei der Verschwägerung mit der höherstehenden ætt der Götter nur gewinnen. Die nordgermanische Gesellschaft war damit nicht allein, in der Eheschließung zwischen Mitgliedern verschiedener Sippen in erster Linie eine Investition zu sehen. Der Ertrag war sozial und politisch. Bestenfalls konnten förderliche Bande mit einer mächtigeren Sippe geknüpft werden. Diese Anschauungsweise wird nicht zuletzt durch die Zahlung von mundr und heimanfylgja bestätigt. Die Heirat wurde mit dem kennzeichnenden Namen brúðkaup ‚Brautkauf‘ bezeichnet. Dahinter liegt eine Institution, die sich wahrscheinlich auf gemeingermanische Zeit zurückführen lässt¹⁴⁴. Im Norden waren die Bestandteile der dadurch angedeuteten Transaktion einerseits die Mitgift (heimanfylgja), die die Sippe der künftigen Gattin mitgeben sollte, andererseits der Mahlschatz (mundr¹⁴⁵), den der Bräutigam dem Vater oder Vormund des Mädchens, das er heiraten wollte, abzuliefern hatte¹⁴⁶. Das Gewicht, das darauf gelegt wurde, zeigt die Bestimmung, dass nach Gulaþingslǫg 51 nur das Kind einer mit Mahlschatz gekauften Frau erbfähig wurde. Auch auf Island war die Bezahlung des Mahlschatzes notwendig, um die Ehe dem Gesetz entsprechend schließen zu können¹⁴⁷. Der Mahlschatz aber sollte wenigstens ebenso groß wie die Mitgift sein¹⁴⁸. Diese Regel hat die Gleichwertigkeit der Sippe des Bräutigams gesichert. Die Frau war idealerweise hypergam, d. h. sozial hinauf zu verheiraten. Der Zahlung von Mahlschatz und Mitgift war ferner ein ökonomisches Ungleichgewicht eigen¹⁴⁹. Auf die Dauer würde der Mahlschatz (durch den Erbgang) in der Patrilinie der Sippe des Ehemanns bleiben, während die Mitgift zwischen Sippen, von Brautgeber zu Brautnehmer, wechseln würde. Die ursprünglichen Brautgeber haben nichts davon zurückbekommen, sie haben das Geld und die Tochter weggegeben. Auch hier tritt der Charakter der Eheschließung als Investition zu Tage. Was die Brautgeber zurückbekamen, war die Bindung mit der anderen Sippe. Und wenn Mitglieder verschiedener Sippen in Konflikt gerieten, ist es keineswegs sicher, dass das Blut schwerer wog. Als z.  B. Þórðr kakali in Sturlunga saga in Konflikt mit Kolbeinn gerät, bittet er Bǫðvarr Þórðarson, seinen Vetter, ihm zu helfen. Er bekommt aber die Antwort, at hónum [nl. Bǫðvarr] var mikill vandi [‚Verpflichtung‘] á við hvárntveggja þeirra Kolbeins; þvíat hann átti Sigríði

144 Vgl. schon Tacitus, Germania 18: dotem non uxor marito, sed uxori maritus offert. Westgermanisch hat wittum dieselbe Art Zahlung bezeichnet. 145 Etymologisch wohl zu mund ‚Zeitpunkt‘, miðmundi ‚die Mitte zwischen etwas‘ usw. zu stellen, mit der Bedeutung ‚det afpassede, det tilmaalte‘ (Hertzberg, Glossarium, s. v.), vgl. mundang ‚hvad der er passeligt‘. 146 Reichliche Belege der Sitte im Westnordischen liefern nicht nur die Sagaliteratur (siehe Frz., s. v. „mundr“), sondern auch die Landschaftsrechte (siehe die Hinweise in Hertzberg, ebd., s. v. „mundr“). 147 Hastrup, Culture and history, 94  f. 148 Gulaþingslǫg 51. 54. 149 Dazu und zum Untenstehenden Vestergaard, The system of kinship, 188  f.

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 Einführung

Arnórsdóttur systur Kolbeins¹⁵⁰. Hier wiegt die Schwägerschaft sogar schwerer als die Konsanguinität. In der nordgermanischen Gesellschaft war Heirat mit einem Wort eine Strategie, ein Grund, auf dem Allianzen aufgebaut werden konnten und sichergestellt wurden. Im Verlangen der Riesen nach den Töchtern der Götter liegt folglich nicht nur ungezügelte Liebesbrunst, sondern vielmehr ein kühl berechnendes Interesse. Lokis Blutsbrüderschaft mit Óðinn – eine andere Weise, feste Verbindungen durch Blut zu schaffen – hat ihm bereits einen Platz in Asgard gesichert, und schon dadurch ist den Göttern viel Übel geschehen. Hinter dem Verlangen der Riesen nach den Göttinnen liegt ihr Verlangen nach Midgard überhaupt, nach der Welt, aus der sie ausgeschlossen sind, nach dem „Zentrum der Welt“ (Eliade) aus deren Peripherie. Der für die Riesen eigentlich ideale Fall wäre aber Typ 3: eine Riesentochter wird mit einem Gott verheiratet. Das wurde schon oben, anhand der Heirat als Investition einer sozial niedrigeren Sippe, dargelegt: die Heirat erzeugt Allianzen. Wie Torben A. Vestergaard¹⁵¹ gezeigt hat, ist eine Folge der Eheschließung, dass Blutsverwandte in anderen Gruppen produziert werden. Die Brautgeber würden hier alle Vorteile haben. Wenn die Tochter hypergam verheiratet wurde, bekam die Patrilinie der Brautgeber Blutsverwandte in der Patrilinie der höherstehenden Sippe der Brautnehmer, die Brautnehmer jedoch keine Blutsverwandten in der Patrilinie der Brautgeber¹⁵². Ein relevanter Aspekt davon ist, dass es nach dem norwegischen Wergeldsystem die Blutsverwandten sind, die z.  B. bei Rache als Allierte zählen¹⁵³. Dies würde natürlich für Island weniger der Fall sein, da die Patrilinien dort nachweisbar von geringerer Bedeutung waren als in Norwegen; gleichzeitig ist es nicht undenkbar, dass norwegische Strukturen im mythologischen System auf Island weiterlebten, genau wie die Vorstellungen von ætt und óðal ihre Bedeutung im neuen Land nie ganz verloren. Da die Sippe des Mannes traditionell die Werbung vornimmt, die Götter aber kein Interesse an Eheverbindungen mit den Riesinnen haben, scheint es folgerichtig, dass

150 Íslendinga saga 175 (Sturlunga saga II, 22); schematisch (V = Mann, X = Frau):

| K

| ○ SS

|

|

B

ÞÞ

151 The system of kinship, 182  f. 152 Schematisch:





153 Vestergaard, The system of kinship, 182.

Die vorliegende Untersuchung 

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das Motiv der Heirat einer Riesin mit einem Gott in den Quellen auf jeden Fall ungewöhnlich ist. Die einzige Möglichkeit stellt der – sozial regelwidrige – Fall dar, dass die Riesin, wie Skaði, selber zu den Göttern fährt. Es gibt aber noch ein Beispiel für dieses Motiv. Und dieses Beispiel zeigt, dass der Fall des Motivs wirklich als schicksalhaft, ja, als von kosmologisch entscheidender Bedeutung betrachtet wurde. Nach der Schilderung am Anfang der Vǫluspá, als die Götter alle Dinge ordnen, den Himmelskörpern ihre Plätze am Himmel geben und Heiligtümer erbauen, folgt eine Strophe, deren zweiter helmingr die Schilderung mit unglücksschwangeren Worten abbricht: 8.

Tefldu í túni, teitir váru, var þeim vettugis vant ór gulli unz þrjár kvámu þursa meyjar, ámátkar mjǫk, ór jǫtunheimum.

‚Auf dem Hof spielten sie Brettspiel, | waren froh; | nichts aus Gold | fehlte ihnen, | bis drei kamen, | Thursenweiber, | sehr mächtig, | aus Jǫtunheimar.‘

Das darauf folgende stef (Strophe 9, þá gengu regin ǫll…) unterstreicht, dass die Ankunft der Riesinnen¹⁵⁴ ein Problem darstellt, zu dem die Götter Stellung nehmen müssen, – so wie es in Strophe 6 auf die Unordnung der Himmelskörper folgt, denen dann in Strophe 7 ihre richtigen Plätze, ihre Aufgaben und ihr Gang über den Himmel zugewiesen werden. Das stef folgt auch in Strophe 23 und 25. Jedes Mal deutet es ein heikles Verhältnis an, das eine Lösung fordert. Klar ist also, dass mit den Riesinnen ein Bruch – und zwar der erste, unwiderrufliche Bruch – zwischen dem ursprünglichen glücklichen Zeitalter und der folgenden langen Periode des Weltverfalls einsetzt, der in der Vǫluspá erst mit den Ragnarök ihren Klimax erreichen wird¹⁵⁵. Es lässt sich fragen, welche schicksalhafte Bedrohung nun drei Riesinnen haben ausmachen können. Kein Zusammenstoß der Feldscharen, kein Sturm von Eisen und Feuer beendigt das goldene Zeitalter, „der erste Volkstreit der Welt“ (fólkvig | fyrst í heimi, 21,1  f.) wird erst viel später erwähnt.

154 Die Bezeichnung þurs (Z. 5) ist, wie bekannt, teilweise synonym mit dem in Z. 8 verwendeten Substantiv jǫtun; das erstere Wort scheint aber besonders negativ konnotiert gewesen zu sein, ein Aspekt, der in späteren isländischen Redewendungen und Ableitungen weitergeführt worden ist; vgl. Blöndal, Islandsk-dansk ordbog, s. vv. „þurs“, „þussi“ und Ableitungen („þussalegur“, „-skapur“ und andere). Die Bezeichnung þursa meyiar verstärkt also semantisch die „Unheimlichkeit“, die – im doppelten Sinne dieses Wortes – die drei von außen kommenden Wesen gekennzeichnet. 155 Vgl. Finnur Jónsson, Literaturhistorie I, 125  f.: Die Ankunft der drei Riesenfrauen sei die erste Rachetat der Riesen für die Tötung von Ymir. Worin die Rache bestand, lässt Finnur aber ungesagt. Schon Mogk (Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 579) und Bang (Vøluspaa, 11  f.) sahen im Motiv den Anfang des Endes.

36 

 Einführung

Die Frage ist verschieden beantwortet worden. Seit Müllenhoff¹⁵⁶ meinten die meisten Interpreten, die Riesinnen wären mit den drei Nornen gleichzusetzen¹⁵⁷. Mit den Nornen käme der Tod in die Welt, und damit ende die fröhliche Urzeit. Das einzige, was die Riesinnen mit den Nornen vereint, ist aber die Dreizahl. Ferner ist es wenig wahrscheinlich, dass die Nornen als þursa meyjar¹⁵⁸ oder als Riesinnen bezeichnet werden können¹⁵⁹. Gísli Sigurðsson¹⁶⁰ schlug an der Stelle eine Identität mit der dreimal verbrannten Gullveig vor, die er, wegen des Erstglieds ihres Namens, ihrerseits als „kraftur gullsins, holdi klæddur“ deutete: Mit ihrer Ankunft sei bei den Göttern die Gier erwacht¹⁶¹. Allein: die Götter scheinen vor der Ankunft der drei Riesinnen nicht gerade in Askese gelebt zu haben (vgl. Strophe 7,6: auð smíðuðu, 8,3  f.: var þeim vettugis ǀ vant ór gulli, 61,3: gullnar tǫflor, in Anspielung auf 8,1: teflðu í túni). Eine etwas umfassendere Untersuchung widmete Anton Gerardus van Hamel¹⁶² der Strophe. Wie der Dichter selbst ließ van Hamel die Identität der Riesinnen unbestimmt. Statt dessen fokusierte er das Brettspiel. Aus der Annahme, dass das Brettspiel eine zentrale Rolle für die Strophe hatte – die Götter spielten ja Brettspiel „bis“ (unz) die drei Riesinnen kamen  –, schloss van Hamel erstens, dass das Brettspiel eine ganz besondere magische Kraft gehabt haben müsste, was er dann aus Parallelen vor allem aus der keltischen Literatur zu unterstützen versuchte¹⁶³, und zweitens, dass die Riesinnen nun – weil mit derer Ankunft das Spiel offenbar aufhörte – die Spielfiguren gestohlen haben müssten. Dass die gullnar tǫflur nach Ragnarök auf dem Iðavǫllr, auf dem die Götter anfangs mit ihnen tafl spielten, wieder gefunden werden (Vǫluspá 60  f.), scheint van Hamel nicht als Widerspruch empfunden zu haben. Ursula Dronke¹⁶⁴ meinte sich wohl diese Argumentationslücke durch die nicht weniger phantasiereiche Annahme retten zu können, dass die Riesinnen eher zu den Göttern gekommen seien, um mit diesen um das begehrliche Brettspiel eine Partie Brettspiel zu spielen (eine ziemlich abstruse Verdoppelung des Motivs); dann aber, „[a]t the last minute, on the brink of losing the game […], the gods will smash their tafl board rather than surrender it“¹⁶⁵. Ganz abgesehen davon, dass weder van Hamel noch Dronke überzeugende altnordische Parallelen für ein mythologisches

156 Deutsche Altertumskunde V, 92  ff. 157 So Edda, ed. Sijmons/Gering III 1, 11; Edda, ed. Detter/Heinzel II, 18  f.; Mogk, Zur Gigantomachie; Edda, ed. Boer II, 5. 158 B. M. Ólsen, Hvar eru Eddukvæðin orðin?, 40. 159 Weitere Kritik gegen die These hat S. Nordal (Völuspá, 39) vorgebracht. 160 Edda, ed. Gísli Sigurðsson, 7. 161 Ebd., 10. 162 The game of the gods. 163 Vgl. auch de Vries (Altgermanische Religionsgeschichte, § 299), der van Hamels Hypothese mit weiteren indogermanischen Parallelen versah. 164 Edda, ed. Dronke II, 119  ff. 165 Ebd., 120.

Die vorliegende Untersuchung 

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Brettspiel produzieren konnte, ruht der Hypothesenbau auf schwachen Gründen¹⁶⁶. An sich genommen ist das Bild von der Welt als eines Brettspiels freilich keine merkwürdige Metapher, und vielleicht kann es – als Metapher – für die Schilderung des „Goldalters“ von einiger Bedeutung sein: Vor der Ankunft der Riesinnen (und beim Wiederfinden der Goldtafeln in der neuen Welt, Strophe 61) sind die Götter noch (bzw. wieder) in Kontrolle über die Welt und ihr Schicksal¹⁶⁷. Detter und Heinzel¹⁶⁸ schlugen aber eine andere Erklärung vor, für weche sie reichliche Belege aus der altnordischen Literatur anführen konnten; hier wurde das Brettspiel nämlich als ein literarischer Topos für behagliche Ruhe verwendet¹⁶⁹ – ein Inhalt, der mit der Darstellung des glücklichen Zeitalters der Götter in Strophe 7  f. vollkommen passt. Die beiden letztgenannten Interpretationen sind miteinander und mit dem textuellen Zusammenhang vereinbar; einen Mythos von einem „magischen Brettspiel“ zu konstruieren, scheint dagegen ganz überflüssig zu sein. Das Brettspiel ist ein Symbol des goldenen Zeitalters, nicht ein Spielstein in dessen Untergang. Fest steht, dass die Ankunft der Riesinnen etwas Neues in der Welt der Asen darstellt. Ihre Ankunft stellt allem Anschein nach den ersten Verkehr der Götter mit den Riesen nach dem urzeitlichen Mord an Ymir bei der Weltschöpfung dar¹⁷⁰. Die räumliche Bestimmung ór jǫtunheimum (Vǫluspá 8,8) unterstreicht, dass die Riesinnen bis jetzt außerhalb Miðgarðr, des aus Ymis Wimpern verfertigten Schutzwalls, gelebt haben. Da aber kein Anzeichen der Fehde auf ihre Ankunft folgt, scheint mir der in der Forschung früher aufgeworfene Gedanke, die eigentliche „Macht“ (vgl. Vǫluspá 8,7, ámátkar mjǫk), die wirkliche Bedrohung der drei Riesinnen liege nicht oder nicht nur in ihrer körperlichen Stärke, sondern vielmehr in ihrer Begehrlichkeit¹⁷¹, erwä-

166 Um noch eine Lücke der Argumentation zu erwähnen: Wenn das Brettspiel tatsächlich eine magisch-kosmologische Funktion hatte, warum stürzten dann die Sterne nicht unmittelbar zu Erde, als das Brettspiel zerstört (Dronke) oder gestohlen wurde (van Hamel)? Und warum müssten übrigens drei Riesen von weiblichem Geschlecht eingesetzt werden, um mit den Göttern eine Partie Tafel zu spielen? 167 Eine Partie Brettspiel kann man auch verlieren; man verwendet aber die Spielsteine nach eigenem Ermessen, um so gut wie möglich auszukommen. 168 Edda, ed. Detter/Heinzel II, 18. 169 So schon Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde V, 92: „das bretspiel ist das zeichen völliger sorglosigkeit“. 170 Vǫluspá 3  f. Einige Forscher sind freilich der Meinung, das Emporheben der Erde aus dem Meer in der Vǫluspá hätte mit der Schöpfung der Erde und des Meeres aus Ymis Körper nichts zu tun (z.  B. Hultgård, Schöpfungsmythen, 251; Simek, Religion und Mythologie, 173). Da aber zum Ersten Ymir kurz vor der Schöpfung (þar er Ymir bygði, 3,2; die Lesart der Snorra-Edda þat [þar, U] er ekki var ist wohl eine Annäherung zum biblischen Schöpfungsmythos) sowohl in H als auch in R erwähnt wird, zum zweiten das Meer aus seinem Blut entstanden sei (Vafþrúðnismál 21; Grímnismál 40), aus dem dann die Erde – sein Körper – aufgehoben werden musste, sollte hier ein und derselbe Mythos vorhanden sein. 171 Vgl. S. Nordal, Völuspá, 39: „Diese Riesenmädchen kommen mit neuen Ansprüchen, erwecken Begierden bei den Asen, denen nun nicht mehr vettergis vant ist, weil ihnen das Gold, das sie be-

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 Einführung

genswert. Der erste kleine Sieg der Riesen nach der Niederlage vom Tod des Urriesen Ymir wurde nicht durch eine Rachetat, sondern durch Eheschließung gewonnen. Das Motiv weist mehrere bedeutende Übereinstimmungen mit dem Mythos von Skaðis Heirat mit Njǫrðr auf. In beiden Fällen ist die Richtung des Heiratsantrages „verkehrt“: es sind die Riesinnen, die die Götter aufsuchen. In beiden Fällen scheint diese Handlung ferner die erste Tat der bußberechtigten Seite nach einem Mord – an Ymir bzw. Þjazi – zu sein. Interessanterweise wird Þjazi zudem in Grímnismál 11,3 mit demselben Attribut versehen wie die drei Riesinnen in Vǫluspá 8: inn amátki iotvnn. Ohne an eine literarische Beeinflussung denken zu müssen, kann konstatiert werden, dass hier ein und derselbe Typ von Mythos vorliegt. Der Unterschied liegt vornehmlich darin, dass das kosmologische Gedicht der Vǫluspá dem Motiv auch eine kosmologische Bedeutung gegeben hat. Mit der Ankunft der Riesinnen und ihrer Mischung mit den Göttern endet unwiderruflich das goldene Zeitalter¹⁷².

sitzen, nun nicht mehr genug erscheint“. – An „the establishment of difficult exogamous marriage alliances“ denkt auch Jochens, Vǫluspá, 348; ähnlich Vestergaard, Marriage exchange, 30. Auch Clunies Ross (Prolonged echoes I, 95. 162–68. 201) denkt an „miscegenation“ („Rassenmischung“) und interpretiert das Motiv im Licht ihrer Theorie der „pseudo-procreation ideology“. 172 Will man unbedingt einen Zusammenhang zwischen Vǫluspá 8 und der darauf folgenden Erschaffung der Zwerge sehen, schlage ich ein Spiel mit dem Thema „Das goldene Zeitalter“ vor. Die glückliche Urzeit, in der die Götter die Institutionen gründeten (þeir er hǫrg ok hof | hátimbruðu, 7,3  f.) und Friede und Wohlstand herrschte, nannten die Römer aurea aetas. Bemerkenswert ist, dass gerade das Gold in Vǫluspá 8 als Merkmal dieser Zeit hervorgehoben wird. var þeim vættugis | vant ór gulli, heißt es in Vǫluspá 8,3  f.: den Göttern fehlte nichts an Gold; „sie ließen sich das genügen, was sie besaßen“ (Nordal, Völuspá, 147). In der Snorra-Edda wird das Motiv fast übertrieben verarbeitet (siehe Gylfaginning 7, 20). Snorri mag das Motiv des gvllaldr, wie er es nennt, durch Vermittlung der lateinischen Tradition kennen gelernt haben. So meinte schon W. H. Vogt (Aldartryggðir og ævintryggðir, Nr. 24; zustimmend Holtsmark, Studier i Snorres mytologi, 44; vgl. neuerdings Teichert, Das Goldzeitalter), dass Snorris Ausdruck auf Ovids aurea aetas zurückginge. In einer Untersuchung zu Begriffen wie ǫld, aldr und ævi zeigte Vogt, dass die Bedeutung aldr ‚Zeitalter, Periode‘ nur im gelehrten Sprachgebrauch vorkam; sonst wurde ǫld verwendet. In der geistlichen Literatur wurde aldr aber im engeren Sinne von ‚Alter der Welt‘ verwendet, was einen Anklang an die klassische Tradition hat (Vogt, Aldartryggðir og ævintryggðir, Nr. 16. 24; vgl. ǫld ‚Zeitalter um Weltenplan‘, Nr. 32). So führen die Annálar der Flateyjarbók (III, 476) unter dem Titel „Aldatal“ sechs heimsalldrar an, d.  h. „Weltalter“ im Sinne Snorris. Obwohl Snorris Begriffswahl durch eine antike Tradition beeinflusst sein mag, ist es aber nicht sicher, dass der Mythos der Vǫluspá derselben Quelle gelehrten Wissens entsprungen ist. Das Motiv eines aetas aurea erinnert etwa an die reiche Schmiedekultur der germanischen Eisenzeit, – eine Zeit, deren Reliquien noch in der Wikingerzeit und im Frühmittelalter als Erbe von Vater zu Sohn durch die Generationen überlebt hatten und in der Phantasie und der Dichtung die Vorstellung eines buchstäblich „goldenen Zeitalters“ des Vergangenen erweckten (vgl. Norr, Old gold). Als diese Zeit zu Ende ging, schufen die Götter die Zwerge – denn was waren die Zwerge, wenn nicht die Hüter unterirdischer Schätze und Goldschmiede κατ΄ ἐξοχήν der eddischen Literatur! Die Belege sind zahlreich; siehe Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, s. v. „Zwerge“: Die Zwerge als Schmiede, S. 490 (auch die Namen zeugen davon, z.  B. Hannarr ‚kunstfertig, geschickt‘, verwandt mit neuschwedisch hinna

Die vorliegende Untersuchung 

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Es soll weder impliziert werden, dass das oben empirisch ausgearbeitete Modell auf sämtliche Texte der altwestnorischen mythologischen Überlieferung applizierbar ist, noch dass es das einzige Modell ist, mit dem diese Texte analysiert werden können. Ein genealogisch-territoriale Spannungen verdeutlichendes Modell scheint aber gerade für Heimdallr, der in seiner Eigenschaft teils als Stammvater, teils als vǫrðr goða – unabhängig davon, wie diese Eigenschaften im Einzelnen zu deuten sind – genau diese beiden Aspekte zu verkörpern scheint, ein angemessenes analytisches Werkzeug darzubieten.

‚erreichen‘; Nœfr ‚tüchtig‘ < urnordisch *nōƀri ~ urnordisch *snōƀri, altnordisch snœfr ‚flink, rasch‘. AEW, s. v. „Hannarr“; „Nœfr“); sie haben „praktisch alle Kleinode der Götter geschaffen“, S. 490  f. Als Hüter von Schätzen, S. 491. Die Schaffung ihrer Rasse wäre daher ohne Zweifel eine logische Antwort auf das Ende des konkret aufgefassten goldenen Zeitalters der Vǫluspá.

2 Die Vaterschaft Heimdalls Es ist uns ein Rätsel. Nirgends gibt uns das germanische Altertum ein Gegenstück zu diesem zeugenden Gotte. Sonst gilt überall nur die Anschauung: nur wenige bevorzugte Fürstenhäuser rühmen sich göttlichen Blutes.¹

Das Motiv der Vaterschaft Heimdalls ist mit einer Reihe von Problemen behaftet. Vor allem ist es nicht eindeutig, welche Figuren als Heimdalls Söhne tatsächlich in Betracht kommen. Dazu kommen quellenkritische Probleme, insbesondere bezüglich des Eddaliedes Rígsþula. Wenn dieses Lied von Heimdallr handelt, ist es nämlich das ausführlichste Gedicht über diesen Gott, das bis heute erhalten ist. In diesem Fall wäre eine Untersuchung darüber, wie der Gott und das Motiv seiner Vaterschaft in diesem Lied und dessen Entstehungskontext verwendet worden sind, für das Verständnis von Heimdallr natürlich höchst aufschlussreich. Leider ist aber weder klar, ob der göttliche Protagonist des Gedichts wirklich Heimdallr ist, noch ob das Lied zu den früheren oder – ganz im Gegenteil – zu den allerspätesten der Eddalieder gehört. Unabhängig vom Resultat scheint es deshalb zweckmäßig, nach einer Übersicht der relevanten Textstellen (1) das vorliegende Kapitel der Vaterschaft Heimdalls mit einer Untersuchung des Inhalts und Quellenwerts der Rígsþula einzuleiten (2). Erst danach wird es möglich sein zu beurteilen, ob dieses Lied zur Erweiterung des Verständnisses der übrigen Stellen über die Vaterschaft Heimdalls beitragen kann oder nicht (3). Zur „Art“ seiner Vaterschaft kommen wir folglich erst am Ende dieses Kapitels zurück.

2.1 Die Belege Insgesamt drei Quellen kommen bei einer Untersuchung der Vaterschaft Heimdalls in Betracht. Sämtliche gehören der Eddadichtung an; weder Snorri, noch die erhaltene Skaldendichtung wissen etwas davon zu erzählen. 1. Im Eddalied Vǫluspá begegnen wir Heimdallr schon in der majestätischen Eröffnungsstrophe: Hljóðs bið ek allar helgar² kindir, meiri ok minni mǫgu Heimdallar [. . . . . .]. ‚Schweigen gebiete ich allen | heiligen Geschlechtern, | mächtigeren und minderen | Söhnen Heimdalls [. . . . . .].‘

1 Heusler, in Edda, ed. Genzmer, 119. 2 H; fehlt in R. Aus metrischen Gründen ist wohl aber anzunehmen, dass auch die Vorlage von R das Wort enthalten hat.

Die Belege 

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Die komplizierte Frage nach dem Alter der Vǫluspá ist in einem späteren Kapitel, wo dieses Gedicht als Ganzes behandelt werden soll, eingehender zu diskutieren. In der Forschung wird häufig noch die Meinung Sigurðr Nordals, die Vǫluspá sei um die Jahrtausendwende entstanden, vertreten, und den deutlichen christlichen Einflüßen des Gedichtes zum Trotz scheint es keine Gründe zu geben, die Auffassung, dass die Vǫluspá zu den älteren Liedern der eddischen Götterdichtung gehört, aufzugeben³. Dass das Motiv der megir Heimdallar in der ersten Strophe als ein den Rezipienten schon bekanntes Wissen erwähnt wird, was sich daraus erschließen lässt, dass es ohne weitere Erklärungen, was damit gemeint sein könnte, im Text verwendet wird, deutet aber an, dass der dahinterliegende Mythos älter als dieses Gedicht ist⁴. Mit dieser Strophe haben wir somit einen guten Beleg für die Vaterschaft Heimdalls, obwohl die Identität seiner Nachkommen zunächst unklar bleibt. 2. Die zweite in Betracht kommende Stelle ist die 43. Strophe des Eddalieds Hyndluljóð. Hier wird von Heimdallr gesagt: Vard einn borinn aullum meiri, sa var aukinn iardar megni; þann kueda stilli storaudgazstann, sif sifiadann siotum giorfaullum.

Die genaue Bedeutung der für den Zusammenhang wichtigsten letzten Langzeile ist nicht ganz einfach zu bestimmen. Das Substantiv f. sif (zumeist im Plural, sifjar) – das entsprechende Wort im Neuhochdeutschen lautet Sippe (germanisch *sebjō > gotisch sibja, altsächsisch sibbia, althochdeutsch sippa) – bezeichnet eine personelle Bindung (‚Verwandtschaft, Freundschaft‘)⁵. Die ältere Meinung der Forschung war, dass diese Bindung im Sinn einer Blutsverwandtschaft zu verstehen wäre. Wie aber Hans Kuhn⁶ gezeigt hat, dürfte die ältere Bedeutung jedoch etwa ein ‚Friedensoder Vertrauensverhältnis‘ gewesen sein, ein Verhältnis, das allerdings „vor allem zwischen den nächsten Verwandten bestand oder bestehen sollte“⁷. Dies steht im Einklang mit dem neueren Forschungsstand zum germanischen Sippenbegriff, der diesen nicht mehr als Bezeichnung eines statischen, durch Blutsbande bei der Geburt erwachsenen Verbundes, in den der Einzelne eben hineingeboren wird, sieht,

3 Siehe unten, Kap. 5.1. 4 Natürlich könnte auch die Strophe als Ganzes älter als das überlieferte Gedicht sein. Specht (Zur indogermanischen Sprache, 1  ff.) meinte sogar, eine urindogermanische Vorgeschichte der Strophe annehmen zu können, was mir aber sehr zweifelhaft erscheint. 5 Ganz abwegig ist wohl die Deutung S. Bugges und Grundtvigs, sif bezeichne Sif, die Frau des Þórr, auf den sich das Lied hier ganz plötzlich bezöge. Siehe Midttun, Hyndluljóð, 20, wo die Hypothese zustimmend referiert wird. 6 Kuhn, Philologisches zur Adoption. Vgl. von See, Texte und Thesen, 215, und dens., Sippe. 7 Kuhn, ebd., 415.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

sondern eher als eine theoretisch offene Gemeinschaft betrachtet, deren Relationen zwar auf Blutsbanden beruhen konnten, in der aber auch andere Wege zu Allianzen offen standen und auch Blutsbeziehungen mit Freundschaftsbanden bestätigt und erhärtet werden mussten⁸. Der von Kuhn angenommene Entwicklungsgang hat auch den Vorteil, Zusammensetzungen wie búsifjar, was ein Freundschaftsverhältnis zwischen Nachbarn bezeichnet, erklären zu können. In den altwestnordischen Belegen scheint eine Bedeutung ‚Verwandtschaft durch Heirat‘ zu überwiegen⁹ (vgl. den festen Ausdruck byggja sifjar ‚verheiraten‘¹⁰). Manchmal wird die mit sif- bezeichnete Verwandtschaftsbeziehung im Sinn von ‚Schwägerschaft, Affinität‘ sogar mit ‚Blutsverwandtschaft‘ kontrastiert, wie in sifkona : frændkona¹¹. Auch in der Eddadichtung ist diese Bedeutung zwar die geläufige; daneben aber wird man, wie von See in seiner neuerdings erschienenen Untersuchung zum Begriff „Sippe“ bemerkt¹², zugestehen müssen, dass sif, sifjaðr und sifjungr sich im freieren, poetischen Gebrauch gelegentlich – gefördert wohl auch durch die Verwendbarkeit im Vers und im Stabreim – auf Verwandtschaft im allgemeinen Sinne (und damit dann auch auf Blutsverwandtschaft) beziehen kann¹³. Bezüglich der Hyndluljóð, die sich stark an die Vǫluspá anlehnen, verdient es besondere Aufmerksamkeit, dass Vǫluspá 45 die letztere Bedeutung vorauszusetzen scheint. Denn Z. 3  f.: munu systrungar | sifjum spilla, ist wohl kaum vom Substantiv sifjaspell getrennt zu lesen, das in den Rechtsbüchern im Sinn von ‚Blutschande‘, also Geschlechtsverkehr unter Blutsverwandten, gut belegt ist¹⁴. Dass der mit Verwandtschaft verbundene, auf Heimdallr bezogene Ausdruck sif sifjaðr etwas Anderes ausdrücken würde als die in Vǫluspá 1 angedeutete Vaterschaft dieses Gottes, scheint zwar denkbar, aber – auch wegen der Verwandtschaft der Hyndluljóð mit der Vǫluspá – wenig wahrscheinlich. Wegen der Mehrdeutigkeit des Ausdruckes ist sie aber bis auf Weiteres inhaltlich ziemlich breit aufzufassen: als ‚durch Verwandtschaft verwandt‘, wo „Verwandtschaft“ auch Verschwägerung umfassen soll. Zu einer näheren Definition werde ich später zurückkommen.

8 Siehe z.  B. Vogt, Slægtens funktion, 17  f. Vgl. die oben in Kap. 1.4.2 geführte Diskussion. 9 Kuhn, Philologisches zur Adoption, 416; von See, Sippe, 111  ff. 10 byggja hier zunächst im Sinn von ‚kaufen‘ (vgl. gotisch bugjan, neuenglisch buy); siehe Frz., s. v. „byggja 1“ (unter dem ersten Eintrag „byggja“). 11 Siehe Frz., s. vv. „sifjar“, „sifkona“; IED, s. v. „sif 3“. 12 von See, Sippe, 112. 13 So in den Eddaliedern Atlamál (85) und Hymiskviða (21,6, von Þórr: Óðni sifjaðr ‚mit Óðinn verwandt‘: Þórr ist Óðins Sohn). 14 Siehe Frz., s. v. „sifjaspell“ und „sifjaslit“. Vgl. Edda, ed. Detter/Heinzel II, zu Vǫluspá 44,3. 4 mit der zutreffenden Bemerkung, dass dann hórdómr mikill folgt. Vgl. auch den dort angestellten Vergleich mit einer Stelle aus der Merlínusspá, die der Vǫluspá-Strophe sehr ähnlich ist und wo kein Zweifel darüber bestehen kann, dass slíta sifjum den Ehebruch unter Verwandten bezeichnen soll.

Die Belege 

 43

Auch die Bedeutung von sjǫt ist unklar. Das Substantiv scheint ein neutrum Plural von set ‚Sitz‘ zu sein (bzw. gewesen zu sein¹⁵). In der Skaldendichtung wird es im Sinn von ‚Wohnsitzen, Wohnstätten, Heimen‘ verwendet, z.  B. Hákonarmál 20, ýta sjǫt ‚Wohnsitze der Menschen‘ (vgl. Vǫluspá 41,3, ragna sjǫt ‚Wohnsitze der Götter‘). In Hyndluljóð 43 darf aber eine metonymische Verwendung ‚Bewohner‘, danach ‚Menschen; Geschlechter‘¹⁶ der räumlichen Bedeutung vorgezogen werden. Diese Verwendung findet man auch in Haldórr skvaldris Útfarardrápa 12, wo eine räumliche Bedeutung ebenfalls ausgeschlossen scheint, wieder: Ér knǫˊttuð þar þeira, (þú vast aldrigi) skjaldar leygr þaut of sjǫt (sigri sviptr) gørsemum skipta¹⁷. ‚Dér kunde I dele deres kostbarheder; sværdet susede over mændene [sjǫt]; du blev aldrig berøvet sejren‘¹⁸.

Die Strophe Hyndluljóð 43 übersetze ich demnach vorläufig: ‚Einer wurde geboren, | größer als alle; | dieser war gestärkt | mit der Kraft der Erde; | diesen Häuptling nennt man | den allerreichsten, | durch Verwandtschaftbeziehung verbunden | mit sämtlichen Menschen/Geschlechtern.‘

Die Datierung der Hyndluljóð soll – wie die der Vǫluspá – in einem späteren Kapitel behandelt werden. Die (wohl berechtigte) communis opinio ist aber, dass das Lied in einem Abhängigkeitsverhältnis zu eben diesem letzteren Lied steht, also später als dieses entstanden sein muss¹⁹. Es wäre sogar denkbar, dass der Dichter der Hyndluljóð das Verwandtschaftsmotiv von der Eingangsstrophe der Vǫluspá holte. Angesichts der reichen mythologischen Kenntnisse des Dichters, von denen auch andere Strophen zeugen, ist dieser Schluss aber nicht zwingend. Zu den denkbaren Beweggründen für den Dichter, das Motiv in sein Gedicht aufzunehmen, werden wir später, bei der genauen Behandlung der ganzen Hyndluljóð, zurückkommen. 3. Die letzte Quelle ist die Rígsþula. Dieses ljóðaháttr-Gedicht ist im Codex Wormianus (W) der Snorra-Edda, der um die Zeit um 1350 datiert ist, überliefert; darüber hinaus ist es nur in von W abhängigen Papierhandschriften bewahrt. Dessen ungeachtet nimmt das Lied eine einzigartige Stellung unter den Eddaliedern ein. Schon Eugen Mogk stellte in seiner Literaturgeschichte fest, dass das Lied das eigentlich

15 Die Form ist zumeist nicht als Plural oder Singular bestimmbar; es könnte folglich ein erstarrter Plural darstellen. 16 ‚Geschlechter‘: vgl. auch Fjǫlsvinnsmál 1, Utan garða | hann sá upp um koma | þursa þjóðar sjöt. 17 Skj. B  I, 460; vgl. Kock, Den norsk-isländska skaldediktningen  I, 226. Für Belege der Lesart „Parenthese innerhalb Parenthese“, siehe dens., Notationes Norrœnæ, § 1158. 18 Skj. B I, 460. Hervorhebung vom Verf. 19 Siehe unten, Kap. 6.1.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

„einzige Gedicht sozialen Inhalts“ der altisländischen Überlieferung ist, und räumte ihm einen dementsprechend herausragenden Platz in der Kulturgeschichte des Nordens ein²⁰. Das Lied erzählt nämlich, wie der sonst unbekannte, in der Forschung gewöhnlich aber mit Heimdallr identifizierte Gott Rígr durch Geschlechtsverkehr die mythologischen Urväter der drei Stände²¹ der þrælar, karlar und jarlar entstehen lässt und dadurch zum Urheber der ständischen Ordnung, oder wenigstens zu dem, der diese Ordnung als Ordnung anerkennt und fixiert, wird. Die Anfangsstrophe verlegt die Handlung in eine graue Urzeit: Ár²² kvaðu ganga grænar brautir ǫflgan ok alldinn s kunnigan, ramman ok rǫskvan Rig stiganda. ‚Einst, erzählte man, kam | auf grünen Pfaden | kräftig und alt | der kundige Ase, | stark und tüchtig, | Rígr einhergeschritten‘²³.

Doch die Urzeit der Rígsþula ist nicht die Urzeit der Vǫluspá, in der nur die Götter das Land bewohnen, in der das Ordnen der Welt und die Gründung der (religiösen) Institutionen stattfinden. Rígs Weg geht durch das Land der Menschen. Zuerst erreicht er ein Haus (hús). Am Herd sitzt ein Ehepaar, Ái und Edda, ‚Urgroßvater‘ und ‚Urgroßmutter‘, die dem Gott eine dürftige Mahlzeit zubereiten. Der Gott gibt den Eheleuten „Rat“ (ráð) und teilt dann die folgenden drei Nächte mit ihnen ihr Bett. Nach neun Monaten gebiert Edda einen Sohn, der den sprechenden Namen Þræll ‚Knecht‘ bekommt. Þræll verbringt seine Tage mit harter Arbeit, bis eines Tages eine Frau, Þír ‚Magd‘, auf den Hof kommt. Von diesen beiden zwei, heißt es in Strophe 13,9  f., stammen der Knechte oder Sklaven Geschlechter: þaðan eru komnar | þræla ættir. Rígr, der sich wieder auf den Weg gemacht hat, kommt jetzt zu einer Halle (hǫll). Wie zuvor sitzt ein Ehepaar beim Feuer, Afi und Amma ‚Großvater‘ und ‚Großmutter‘,

20 Mogk, Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 600. Vgl. de Vries, Altnordische Literaturgeschichte II, 65. 21 Den Begriff „Stand“ für die Bevölkerungsstrukturen des mittelalterlichen Nordens zu verwenden, ist problematisch; klar ist aber, dass die Charakterisierung der Sozialgruppen der Rígsþula unter anderem aufgrund von Kleidung, Aussehen und nicht zuletzt genealogischen (vgl. das Substantiv ætt, z.  B. þræla ætt) Unterscheidungsmerkmalen erfolgt und diese Gruppen, vom Wirklichkeitsbezug abgesehen, als „Stände“ dargestellt werden. 22 At, W. Eine Präposition in diesem Kontext ist aber grammatisch unmöglich, weshalb die Hrsg. ziemlich einstimmig in Ár ‚einst, in der Urzeit‘ emendiert haben. So beginnen bekanntlich auch mehrere andere Eddalieder (z.  B. Hymiskviða; Helgakviða Hundingsbana I). In diesen Zusammenhang gehört auch die 3. Strophe der Vǫluspá, die den Anfang der Schilderung von der „Urzeit der Welt“ und der Einrichtung der Gesellschaft durch die Götter beinhaltet (Ár var alda, Vǫluspá 3,1; siehe weiter unten). 23 Übersetzung Edda, ed. von See III, 519.

Die Belege 

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doch ihre Kleidung und ihre gesellschaftlichen Aufgaben sind durchgehend schöner und edler als die des vorigen Paares. Auch hier bleibt Rígr drei Nächte und teilt das Bett mit den Eheleuten. Und wieder gebiert neun Monate danach die Frau, hier Amma, den Sohn Karl – ‚Bauer, freier Mann‘. Karl baut sich ein eigenes Haus. Er macht einen Pflug und bestellt den Acker. Er heiratet eine freie, ‚mit Schlüsseln behangene‘ (hanginluklu, 23,2) Frau, mit der er in Wohlstand lebt und Kinder bekommt; sämtliche tragen Namen, die ‚Bauer‘ oder einfach ‚Mann‘ bzw. ‚Frau‘ bedeuten. Der Abschnitt schließt mit Strophe 25,7  f.: þaðan eru komnar | karla ættir ‚von ihnen sind der Bauern Geschlechter gekommen‘. Rígr erreicht schließlich einen Saal (salr). Auf dem strohbedeckten Fußboden sitzen Faðir und Móðir, ‚Vater‘ und ‚Mutter‘. Der Ehemann ist gerade dabei, seinen Bogen mit der Sehne zu versehen. Die Ehefrau ist wohlhabend gekleidet und reich ausgestattet; ein Schmuck hängt an ihrer Brust und ihr Hemd ist blau gefärbt, die kostbare Farbe der Aristokratie. Bald wird ein gemustertes Tuch auf den Tisch gelegt und eine köstliche Mahlzeit in silbernen Schlüsseln serviert, Vögel und Schweinefleisch; in der Kanne ist Wein. Drei Nächte liegt Rígr wieder zwischen den Eheleuten. Die Frucht seines Besuches ist das Kind Jarl. Der Junge wächst auf. Doch dieses Mal lässt der Gott seinen Nachkommen nicht im Stich: Er kehrt zurück; aus dem Walde kommt er gewandert, lehrt Jarl die „Runen“, gibt ihm seinen eigenen Namen und die alten „Odalfluren“ und nennt ihn seinen Sohn: 36.

Kom þar or runni Rigr gangandi, Rigr gangandi, runar kendi; sitt gaf heiti, son kveðz eiga; þann bað hann eignaz oðalvǫllu, oðalvollu, alldnar bygðir.

„Rígr Jarl“ (45,1) führt nun eine Zeit lang das Leben, das seinem Stand entspricht. Er führt Krieg, gewinnt Land und Reichtümer und verteilt sie wieder unter seinen Krigern²⁴. Als er einsam über achtzehn Höfe herrscht, sendet er Boten zum Hofe des Hersir (ein norwegischer Herrschertitel), um um dessen Tochter Erna zu werben. Die Kinder, die der Jarl mit Erna gebiert, bekommen alle Namen, die ‚Sohn‘ oder ‚Nachkomme‘ bedeuten. Der jüngste „Sprössling“ (konr) der *jarla ættir²⁵ ist „der junge Konr“, Konr ungr. Mit dem „König“, folglich, Kon-ungr, ist die Soziogonie vollendet.

24 Zu Rígsþula 38,7 hringom hreyta ‚Ringe werfen‘ als Bezeichung der Freigiebigkeit des Häuptlings findet sich eine Parallele im Ausdruck hringa hreytir ‚Schleuderer der Ringe‘ = ‚Häuptling‘ in einer Strophe, die Grettir (gest. 1031) zugeschrieben wird (Skj. B II, 464, Strophe 8). Siehe ferner die Belege in Lex. poet., s. v. „hreyta“. 25 Der Ausdruck ist in der Rígsþula nicht explizit belegt (dagegen wird von den ættir der Jarlar in Rígsþula 40,7 gesprochen), kann aber per Analogie mit þræla und karla ættir konstruiert werden.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

Und nun verlässt auch Rígr, und damit die um ihn kreisende Struktur von Wiederholungen, den Mythos. Mit der Adoption von Jarl und der Übergabe seines Namens an ihn hat der Gott seine Funktion im Lied erfüllt. Wie Einar Ól. Sveinsson²⁶ bemerkt hat, wird der systematische Realismus der ersten drei Teile im vierten Teil durch etwas von „hetjusagnablær“ ersetzt. Wir verlassen hier die Göttersage und kommen ins Gebiet der Heldensage. Die letzten Strophen des Liedes schildern Kons Kenntnisse der Runen und seine magische Fähigkeiten. Als er zum Runenwettkampf gegen seinen Vater Rígr Jarl antritt, besiegt er ihn und bekommt – wie einst der Vater – das Recht, Rígr zu heißen und Runen zu verwenden²⁷. Aber eines Tages, als er in den Wald auf die Jagd reitet, trifft er auf eine Krähe, die auf einem Baum sitzt. Sie redet ihn an: 47,3. Hvat skaltu, Konr ungr! kyrra fugla? helldr mætti〈ð ér〉²⁸ hestum riða, [. . . . . .]²⁹ ok her fella. ‚Warum, Konr ungr, solltest du | Vögel jagen³⁰? | Eher vermöchtet ihr³¹ | Pferde reiten, | […] | und ein Heer fällen.‘

26 Íslenzkar bókmenntir, 290. 27 45,5  ff.: þa ǫðladiz | ok þa eiga gat | Rigr at heita | runar kunna. 28 Norrœn Fornkvæði hat nach den Handschriften mætti þer (vgl auch 28,4, þér). 29 Da Z. 5, 6 und 8 zusammengenommen eine allzu lange Zeile ausmachen würden, ist hier eine verlorene Kurzzeile anzunehmen, die mit Z. 8 eine Langzeile gebildet haben muss. 30 Die Bedeutung des Verbs kyrra ist unklar. von See (Rígsþula, 96; Texte und Thesen, 212  f.) meinte, es würde sich auf das Einfangen und Zähmen von Jagdfalken beziehen; vgl. die Bedeutung kyrra ‚zur Ruhe bringen‘. (Gegen die Annahme, man könne auch dadurch einen Vogel ‚zur Ruhe bringen‘, dass man ihn ‚töte‘, siehe von See, Texte und Thesen, 212  f.; vgl. Edda, ed. von See III, zu Rígsþula 46,4). Die Jagd mit Falken wurde aber schon in der Völkerwanderungszeit in Skandinavien aus dem Süden stammend eingeführt und wäre auch mit einer frühen Datierung des Gedichts vereinbar. In Gräbern aus der Zeit um 500 hat man Falkenskelette gefunden und in Vendel III und Valsgärde VI Beutevögel (Shetelig/Falk, Scandinavian archaeology, 306; Lamm, Jagd, § 3). Der Dänenkönig Godfred soll während einer Jagd, gerade als er den Falken loslassen wollte, getötet worden sein (9. Jahrhundert). Eine deutliche Abbildung findet man auf dem Runenstein von Alstad, Toten (Norges innskrifter, Nr. 61), aus dem 11. Jahrhundert. Zwei berittene Jäger werden hier von Hunden begleitet; der eine Mann hat auf seinem ausgestreckten Arm einen Raubvogel. Die Ritzung ist auch von einem großen Raubvogel gekrönt. Auch auf dem Runenstein von Bökstad (U 855, 11. Jahrhundert; siehe auch die Abbildung in Olrik, Nordisk Aandsliv, 77, Billed 39), wo eine Hirschjagd auf Schiern, mit Pferd, Hund und Bogen geschildert wird, schwebt ein Vogel über der Inschrift. – Die Interpretation würde mit dem Ausdruck kólfi fleygði, dem auch in Strophe 46 kyrði fugla vorhergeht, zusammenpassen. kólfr bezeichnete nämlich zunächst einen besonderen Pfeil mit stumpfer Spitze (vgl. altnordisch kylfa ‚Keule‘; siehe auch Hertzberg, Glossarium, 350), der wohl geeignet war, die zu zähmenden Vögel herunterzuschießen (von See, Texte und Thesen, 213, will kólfi fleygði auf ein anderes Bild beziehen, nämlich auf die Jagd auf Wildtiere). 31 Der Plural dürfte nicht so zu verstehen sein, dass die Krähe, die Konr in Z. 3 gedutzt hat, ihn jetzt plötzlich mit „Ihr“ anredet. Eher sind Konr und seine Männer gemeint.

Die Belege 

48.

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 Danr ok Danpr dyrar haller, æðra oðal, enn er hafit; þeir kunnu vel kiol at riða, egg at kenna, undir riufa.

‚Es haben Danr und Danpr | kostbare Hallen, | einen besseren Erbbesitz [Odal], | als ihr habt; | sie wissen gut | mit dem Schiff zu fahren, | die (Schwert-) Schneide zu prüfen, | Wunden zu reißen‘³².

Mit diesen Worten bricht das Lied ab. Auf der zweiten Seite des Blattes, auf dem das Lied in W überliefert ist, steht genau so viel Text, wie Platz vorhanden ist; das letzte Blatt der Lage fehlt aber³³. Es ist deshalb fast³⁴ einstimmig angenommen worden, dass das Lied einmal eine heute verlorene Fortsetzung hatte. Im Grunde verändert dies jedoch, wie Klaus von See³⁵ bemerkt hat, nicht viel. Das grundlegende Thema ist mit dem erhaltenen Teil schon etabliert worden: die Einrichtung der dreigliedrigen Ständeordnung und der Aufstieg des Königs³⁶. Der Name Heimdallr tritt nur ein Mal, und zwar in der Einleitungsprosa auf, wo Heimdallr und Rígr gleichgesetzt werden: Sva segia menn i fornum sǫgum, at einnhverr af sum, sa er Heimdallr het, fór ferðar sinnar ok framm með siofarstrǫndu nockurri, kom at einum husabę ok nefndiz Rigr. Eptir þeirri sǫgu er kvæði þetta.

Wenn, wie in der Einleitungsprosa gemutmaßt wird, der göttliche Protagonist des Lieds mit Heimdallr identisch ist, würde das bedeuten, dass ein ganzes Lied sozialen Inhalts vorläge, das von Heimdallr handelt. Für das Verständnis von Heimdalls Verhältnis zur Geschichte im Sinn der Entwicklung von sozialen Institutionen oder der sozialen Ordnung als solche wäre die Rígsþula folglich eine unerhört wertvolle Quelle. Der Quellenwert der Prosa für das Verständnis von Heimdallr ist jedoch nicht nur deshalb zu beanstanden, weil sie wahrscheinlich erst zur Entstehung der Handschrift W, also erst im 14. Jahrhundert verfasst wurde. Die Hand, die W geschrieben hat, ist seit Langem als mit der Hand der Hauksbók – einer Textsammlung, in der unter anderem die Vǫluspá enthalten ist – identisch erkannt worden³⁷. Es ist deshalb

32 Übersetzung Edda, ed. von See III, 661. 33 Bugge, Norrœn Fornkvæði, Anm. zur Rígsþula. 34 Eine Ausnahme bildet Karl Lehmann (Die Rígsþula, 18), der in der überlieferten Form ein „abgeschlossenes Kunstwerk“ sieht. 35 Edda, ed. von See III, 665. Vgl. Bagge, Old Norse theories, 9. 36 Vgl. Mogk, Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 602; Edzardi, Ueber die heimat, 367. 37 Siehe Johansson, Studier i Codex Wormianus, Kap. 5,2. Vgl. dens., Rígsþula och Codex Wormianus, 80.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

anzunehmen, dass der Schreiber Vǫluspá 1 gelesen hat und daher das Motiv von der Vaterschaft Heimdalls, von der dort berichtet wird – Rígs Aufgabe κατʼ ἐξοχήν  –, gekannt hat. Da W eine Version der Snorra-Edda enthält, war den Lesern der Handschrift Heimdallr schon bekannt; Rígr dagegen kommt in der Snorra-Edda nicht vor. Um den Namen Rígr zu „erklären“ und um eine Einheit in seiner Textzusammenstellung zu schaffen, mag der Schreiber den unbekannten Rígr mit dem bekannteren Gott Heimdallr gleichgestellt haben. Die Assoziationskette zwischen den beiden Göttern bildete Vǫluspá 1³⁸. Dadurch verliert die Prosa für unsere Zwecke sehr an Quellenwert. Vielleicht ist es deshalb nicht weiter erstaunlich, dass keine der beiden großen Monographien zu Heimdallr die Rígsþula als Quelle verwendet hat. So schloss Ohlmarks³⁹, dass die Gleichsetzung von Rígr und Heimdallr, unabhängig davon, ob sie im Gedicht oder erst in der Prosa gemacht wurde, von Vǫluspá 1 abhängig ist und deshalb „für unser Wissen von Heimdallr ziemlich an Wert“ verliert⁴⁰. Und Pering⁴¹ meinte – freilich ohne überzeugende Argumente dafür anführen zu können⁴² –, dass Rígr dem irischen Albenkönig, dem Oberon der Chansons de geste, nachgebildet sei. Mit Heimdallr habe er nichts zu tun; die Gleichsetzung der beiden Götter in der Prosa der Rígsþula beruhe darauf, dass der „Wicht“ Heimdallr identische Züge mit den Alben haben sollte⁴³. Bei denjenigen Forschern dagegen, die die Rígsþula für das Verständnis von Heimdallr herangezogen haben⁴⁴, hat die erforderliche philologische Kritik häufig gefehlt: Rígr wird aufgrund der Prosaeinleitung oder einiger ausgewählter Eigenschaften mit Heimdallr gleichgestellt, obwohl andere Eigenschaften im Lied selbst nie mit Heimdallr, so wie wir ihn aus anderen Quellen kennen, genannt werden und vielmehr mit Óðinn übereinstimmen⁴⁵. Dazu kommt die verwickelte Frage nach dem Alter und Entstehungskontext des Liedes. Das letztere Problem ist von großer Bedeutung dafür, ob das Gedicht als Quelle herangezogen werden kann, denn wurde das

38 Die Argumentation wird von Johansson (Rígsþula och Codex Wormianus, 80  f.) geführt. 39 Heimdalls Horn, 102. 40 Ähnlich auch Pipping, Eddastudier I, 35; Rosén, Studier, 76. 41 Heimdall, 208  f. 42 Pering (ebd., 208) verweist auf eine von Thurneysen und Meißner (Rígr, 125) erwähnte irische Sage, nach der der Held einen göttlichen und einen menschlichen Vater habe. Auf diesem Motiv solle die im mittelalterlichen Sagengut häufig vorkommende Vorstellung beruhen, dass der Vater des Helden ein Alb ist. Folglich sei Rígr ein Alb. 43 Pering, ebd., 209. Das Argument ist schon deshalb widersprüchlich, weil es voraussetzt, dass ein Schreiber des 14. Jahrhunderts „gewusst“ hätte, dass Heimdallr ein „Wicht“ sein soll, was nach Pering aber schon für den gelehrten Snorri am Anfang des 13. Jahrhunderts vergessenes Wissen gewesen sein muss. 44 Darunter Rydberg, Undersökningar i germanisk mythologi I, 106; Herrmann, Nordische Mythologie, 248; Much, Der nordische Widdergott; F. R. Schröder, Heimdall, 40; Clunies-Ross, Prolonged echoes I, 180. 45 Das Letztere erkannte schon Edzardi, Ueber die heimat, 367.

Die Rígsþula als Quelle 

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Lied – wie manche Forscher gemeint haben⁴⁶ – tatsächlich erst im 13. Jahrhundert von einem isländischen „Antiquar“ gedichtet, der höchstens literarische Kentnisse der vorchristlichen religiösen Vorstellungen hatte, dann sind keine Aufschlüsse zum Verständnis von Heimdallr aus der Rígsþula zu erwarten. Es scheint somit erforderlich, diese Fragen hier zu erörtern.

2.2 Die Rígsþula als Quelle Gerade bezüglich der Frage des Alters und der Herkunft der Rígsþula gehen die Ansichten der Forschung weit auseinander. Die Vorschläge zur Provenienz der Rígsþula reichen von Island⁴⁷ und Norwegen⁴⁸ bis zu den Britischen Inseln, besonders der Insel Man⁴⁹, den Orkaden⁵⁰, Irland⁵¹ und England⁵². Mit dieser Gliederung gehören auch bestimmte Tendenzen der Datierung zusammen. Die Forscher, die das Lied in die Wikingerkolonien der Britischen Inseln verlegen, pflegen das Alter des Liedes natürlich in die Jahre vor dem Ende der Wikingerzeit um 1066 zu bestimmen⁵³. Die Forscher, die Norwegen und vor allem Island vorziehen, neigen eher dazu, ein junges Alter (das 12. oder 13.  Jahrhundert) anzunehmen⁵⁴. Letztlich scheint es interessan-

46 Vor allem Heusler, Heimat und Alter, 273; von See, Das Alter der Rígsþula. 47 Heusler, ebd., 270–81; Neckel, Beiträge zur Eddaforschung, 112. 48 Viele Forscher siedeln die Handlung in Norwegen an, können sich aber einen isländischen Dichter des Lieds vorstellen. Vgl. Meißner, Rígr, 125 (zur Herkunftsbestimmung, siehe ebd., 124  f.). Ferner B. M. Ólsen, Hvar eru Eddukvæðin orðin?; Finnur Jónsson, Rígsþula; von See, Das Alter der Rígsþula. Für de Vries (Altnordische Literaturgeschichte II, 65) beweist das Lied aber, dass die These „Norwegia non cantat“ einen Fehlschluss darstellt. 49 Siehe Olrik, Nordisk Aandsliv, 57. Die These geht vor allem auf das verlorene Ende des Liedes zurück (siehe oben) und wird deshalb hier nicht weiter erörtert. 50 A. Bugge, Vesterlandenes indflydelse, 256 und öfters. 51 Edzardi, Ueber die heimat, 367; Young, Rígsþula; Einar Ól. Sveinsson, Íslenzkar bókmenntir, 290  f.; Amory, The historical worth; Sayers, Irish perspectives on Heimdallr. 52 Edda, ed. Dronke II, 203. 207 (im nördlichen England); Marold, Die mächtige Nachkomme (Danelag). 53 A. Bugge, Vesterlandenes indflydelse, 212 und passim (Anfang des 10. Jahrhunderts); Finnur Jónsson, Rígsþula, 170 (im 1. Viertel des 10. Jahrhunderts); Olrik, Nordisk Aandsliv, 57 (im 10. Jahrhundert); Einar Ól. Sveinsson, Íslenzkar bókmenntir, 291 (im 10. Jahrhundert); Young, Rígsþula, 106  f. (um 1000); Edda, ed. Dronke II, 207 (um 1020); Turville-Petre, Rezension (im 10. Jahrhundert); Marold, Die mächtige Nachkomme (10. oder 11. Jahrhundert). – Boer (Edda, ed. Boer II, 365  f.) nimmt irischen Einfluss an und datiert das Lied auf die Regierungszeit des Dänenkönigs Knut (1018–35), meint aber, dass es wahrscheinlich auf Island entstanden ist. 54 Z. B. de Vries, Altnordische Literaturgeschichte II, 64  f. (Mitte des 12. Jahrhunderts); Neckel, Beiträge zur Eddaforschung, 119 (die ersten Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts); Heusler, Heimat und Alter, 273 (Anfang des 13. Jahrhunderts); von See, Das Alter der Rígsþula (das Ende der Regierungszeit von Hákon gamli, 1217–63). Vgl. (zusammenfassend) dens., Mythos und Theologie, 135. Auch Helgi Guðmundsson (Um haf innan, 316  ff.) neigt zu einer späten Datierung (13.  Jahrhundert). – Zu den

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 Die Vaterschaft Heimdalls

terweise möglich zu sein, eine Gliederung auch aufgrund der Nationalitäten der Forscher zu machen, nach der die deutschsprachige Forschung zu einer späteren, die nordische und angelsächsische dagegen zu einer früheren Datierung neigt⁵⁵. Schon am Anfang des vorigen Jahrhunderts stellte Andreas Heusler⁵⁶ daher fest, dass man bei der Bestimmung von Heimat und Alter „bei keinem zweiten Eddagedichte so verschieden geraten“ habe. Hundert Jahre später stehen wir im Großen und Ganzen vor denselben Alternativen wie damals, und keine davon konnte völlige Zustimmung finden⁵⁷. So schrieb der norwegische Geschichtsforscher Sverre Bagge⁵⁸ im Jahr 2000, die verbreiteste Ansicht sei die in jüngerer Zeit vor allem von Klaus von See⁵⁹ vertretene Datierung ins 13. Jahrhundert; auf der anderen Seite sind aber, auch im 21. Jahrhundert, andere Meinungen publiziert worden⁶⁰. Als Belege für ein junges Alter des Gedichts sind vor allem sein Wortschatz, seine Sozialstruktur und seine Verbindung mit angeblich späten Motiven aus der Jungsigurddichtung⁶¹, ferner die Ausformung des Lieds als þula oder Synonymensammlung⁶² samt die unregelmäßige Strophenform⁶³ herangezogen worden. Wie Edith

Ausnahmen gehören die beiden Isländer B. M. Ólsen (Hvar eru Eddukvæðin orðin?, 72  f.: Ende des 10. Jahrhunderts) und Finnur Jónsson (Rígsþula, 170: um 900 oder am Anfang des 10. Jahrhunderts). 55 Vgl. die Hinweise oben. Ein hohes Alter ist auch in Studien der realienkundlichen Forschung zu diesem Lied vertreten worden, so vom Archäologen Birger Nerman (Rígsþulas ålder; ders., Rígsþula 16:8). Am bekanntesten ist sein Vorschlag, die „Zwerge“ der Amma (Rígsþula 16,8: dvergar ꜳ ǫxlum) würden die kleinen, gelochten Schmuckstücke bezeichnen, die in Skelettgräbern vom 7. Jahrhundert bis um 1000 in der Nähe der Schultern der beerdigten Frauen gefunden worden sind; der Name dvergar beruhe nach Nerman auf der Kürze der Schmuckstücke. Die Textilforscherin Charlotte Blindheim (Vernesfunnene og kvinnedrakten) analysierte die Kleidung der Frau in Rígsþula 29. Die völlig abweichende Auslegung von Rígsþula 29, die Annika Larsson in ihrer Dissertation „Klädd krigare“ (S. 304– 27) vorgelegt hat, ist vom Verf. (Zum Geschlecht der Personen) widerlegt worden. 56 Heimat und Alter, 270. 57 Für eine Übersicht vor allem der älteren Forschung, siehe Edda, ed. von See III, 479–86. Eine ausführliche Zusammenstellung der Sekundärliteratur findet man bei Dillmann, Rígsþula, 627  f. 58 Bagge, Old Norse theories, 21. 59 von See, Das Alter der Rígsþula, 94  f.; ders., Europa und der Norden, 408  ff.; ders., Texte und Thesen, 206–16. Zu einer späten Datierung neigen auch Simek/Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, s. v. „Rígsþula“; vgl. expliziter Simek, Religion und Mythologie, 272  f. (Ständedidaxe des 13. Jahrhunderts). 60 Darunter Edda, ed. Dronke I, 207 (1997): um 1020; Amory, The historical worth (2001): Ende des 10. Jahrhunderts; Gurevič, À propos des interprétations (2006): der Mythos gehöre in die „antiquité germano-scandinave“; Marold, Die mächtige Nachkomme (2009): das wikingerzeitliche England. 61 Siehe zur Forschung unten. 62 Vgl. Heusler, Heimat und Alter, 272; Neckel, Beiträge zur Eddaforschung, 104  f. 63 Ausführlich zum Vers- und Strophenbau Neckel, Beiträge zur Eddaforschung, 104–12. Zusammenfassend bemerkt Neckel (S. 107), die „beobachteten abnormitäten weisen die Rígsþula in eine zeit, die von der geburtsstunde der germanischen langzeile weiter abliegt als die entstehungszeit der mehrzahl der Eddalieder“; für den Dichter der Rígsþula sei es charakteristisch, dass er „bei einem höchst lebendigen und eigenartigen stilgefühl sämtliche alten einheiten so frei wie möglich behandelt“ (109).

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Marold⁶⁴ neuerdings bemerkt hat, könnten aber die vielleicht eher „noch nicht“ regelmäßige Strophenform und die Nähe zur „Katalogdichtung“ – also eher zum altenglischen Wīdsīþ (9. Jahrhundert) als zu den späten Synonymensammlungen – auch für ein hohes Alter sprechen⁶⁵. Dasselbe gilt für die ersteren Argumente. Abhängig davon, wie man sie interpretiert, könnten auch sie für ein hohes Alter des Lieds sprechen (siehe unten). Die offenkundigste Ursache dafür, dass die Rígsþula mit den Britischen Inseln verbunden worden ist, ist der Name des Gottes, Rígr, der zum altirischen Herrschertitel rí gestellt zu werden pflegt, eine Etymologie, die – obwohl es andere Vorschläge gibt⁶⁶ – mit dem Inhalt der Rígsþula zweifellos gut zusammenpasst. Dazu kommen Lehnwörter, inhaltliche Motive, die vor allem auch auf Irland, in irischen Texten vorkommen sollen (die Parallelen sind zu allgemein bzw. quellenkritisch zu unsicher, um eigentlich von Wert zu sein⁶⁷), samt einer Verwandtschaft des Stoffes und des Wortschatzes mit anderen Gedichten, für die eine Beziehung zu den Britischen Inseln angenommen werden kann.

64 Die mächtige Nachkomme, 756. 758  f. 65 Der Name Rígsþula zeigt lediglich, dass der Schreiber der Handschrift Codex Wormianus das Gedicht als Synonymensammlung aufgefasst und deshalb in seine Handschrift, die auch die SnorraEdda enthielt, eingefügt hat (Johansson, Rígsþula och Codex Wormianus, 74; vgl. Marold, Die mächtige Nachkomme, 756). 66 Siehe weiter unten. 67 Am prägnantesten kommt die Auffassung eines irischen Ursprungs der Rígsþula in Axel Olriks Bemerkung zum Vorschein, das Lied werde eigentlich zu Unrecht zu den Götterliedern der Älteren Edda gerechnet, denn der Stoff der Rígsþula gehöre nicht der nordischen, sondern der keltischen Mythologie an (Olrik, Nordisk Aandsliv, 57). Im Jahre 1933 veröffentlichte aber Rudolf Meißner einen Artikel (Rígr), in dem er mit Hilfe des Schweizer Keltologen Rudolf Thurneysen fast sämtliche der von Olrik und später von Alexander Bugge (Vestfold og Ynglingeætten, 451 mit Anm. 2) angeführten Motive als „Missverständnisse“ oder als überhaupt nicht nachweisbar zurückweisen konnte. In demselben Jahr nahm Jean I. Young (Rígsþula) die „keltischen Einflüsse“ wieder auf, ihre Vergleiche sind aber wenig überzeugend. Die augenscheinlichste Parallele – ein Märchen zur Entstehungsgeschichte des Flussnamens Inber n’Oilbine, d. h. Delvin (in der Nähe von Dublin) – repräsentiert, wie Young S. 105 selbst bemerkt, am besten eine „verworrene und verzerrte Version“ („confused and distorted version“) der Heimdallr-Mythologie. Zu den altnordischen Mythen kann es nicht den Anstoß gegeben haben, eher scheint eine Entlehnung in die umgekehrte Richtung denkbar: gerade die Gegend um Dublin war starken nordischen Einflüssen ausgesetzt. Das Motiv der sexuellen Gastfreundschaft (ebd., 101; Dronke, Eddic poetry, 671, mit Anm. 5) scheint mir auch eine schwache Parallale zu sein, denn dass ein Mann Kinder mit mehreren Frauen haben kann, wusste man auch ohne die Kenntnis dieses institutionalisierten Brauchs. Das in der altirischen Literatur allgemein große Interesse an Kleidung und Aussehen der Stände und ihrer Vertreter ist auch belanglos, da dieses Thema in der Rígsþula von der Handlung her motiviert ist. Schließlich hat William Sayers (Irish perspectives on Heimdallr) verschiedene irische Mythen oder (quasi-) mythologische Märchengestalten in Hinblick auf Heimdallr und Rígr untersucht, sein Resultat ist aber im Großen und Ganzen negativ oder bezieht sich auf Vorstellungen, die ihrerseits zuerst rekonstruiert werden müssten.

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Bei jeder Auswertung der Argumente muss methodisch zuerst unterschieden werden, ob die zu verwertenden Züge der Zeit des Dichters oder eher der fernen Urzeit, die er offenbar schildern wollte, zuzurechnen sind. So scheint mir die Identifizierung von Konr ungr bzw. von Danr und Danpr mit historischen Königen verfehlt. Diese Hypothese, die sich besonders auf den letzten, „heroischen“⁶⁸ Teil der Rígsþula bezieht, kehrt in der früheren Forschung häufig wieder. Die nicht selten scharfsinnigen Vorschläge reichen von Haraldr hárfagri⁶⁹ (gest. 933) und seinem Einkönigtum über Haraldr blátǫnn⁷⁰ (gest. 987), Hákon Jarl⁷¹ (gest. 995) und Hákon Eiríksson⁷² (gest. 1029) bis zu Hákon Hákonarson (gest. 1263)⁷³, wobei gewöhnlich angenommen wird, dass Konr einen norwegischen König, Danr und Danpr das Königtum Dänemark repräsentierten. Obwohl die Annahme zweifellos richtig ist, dass der Dichter von den politischen Verhältnissen seiner eigenen Zeit beeinflusst wurde, zeigen schon die sehr verschiedenen Antworten der Forscher auf die Frage, welcher spezifische König mit Konr ungr gemeint sei, deutlich genug, dass das Lied selbst wenige feste Anhaltspunkte für eine solche Identifizierung gibt. Eine Identifizierung mit historischen Personen kann demnach meines Erachtens möglicherweise als Folgerung aus der Datierung geschlossen werden, nicht aber als Datierungskriterium dienen⁷⁴.

68 Vgl. Einar Ól. Sveinsson, Íslenzkar bókmenntir, 290. 69 Dem ersten König des ganzen Norwegen. Er heiratete eine dänische Königstochter, was auch Konr ungr im verlorenen Ende der Rígsþula getan haben soll. Das Lied wäre folglich eine Art Preislied, welches eine göttliche Abstammung des Königs glaubhaft machen sollte. Finnur Jónsson, Literaturhistorie I, 192  f.; ders., Rígsþula, 170  f. – A. Bugge (Vestfold og Ynglingeætten, 453  f.) meinte, dass nicht Haraldr, sondern Guðrøðr veiðikonungr, dessen Nachkommen in Dublin regiert haben sollen, der Erste gewesen sei, der den Titel konungr annahm. 70 Nach B. M. Ólsen (Hvar eru Eddukvæðin orðin?, 72  ff.) muss die Rígsþula mindesten 100  Jahre nach Haralds Königsreich, d. h. am Ende des 10. Jahrhunderts entstanden sein. Mit Danr und Danpr wolle der Dichter das dänische Königsreich Haraldr blátǫnns verherrlichen, in welches Hákon Jarl (= Konr ungr) als des Königs Verbündeter damals versuchte, Norwegen einzugliedern. 71 Dronke, Eddic poetry, 677. Vgl. Edda, ed. Dronke II, 204  f. 207. Der Zweck, „Jarl“ (Hákon) durch Konr einen Sohn zuzuschreiben, wäre, Hákons Ambition, eine königliche Dynastie zu schaffen, zu unterstreichen. Die mit den wirklichen Verhältnissen dagegen wenig übereinstimmende Fortsetzung des Lieds, in der Jarl „himself becomes the first king and eponym of kingship in northern lands—actually fathering the traditional eponymous Dan of Danmark“, könnte, Dronkes Meinung nach, „have been ‚thought up‘ as a charming political plaisanterie at the expense of the Danes“. Ebd., 205. 72 So meinte R. C. Boer, Konr sei zwar ein Norweger, er werde aber mit dem Dänenkönig Knútr (= Danr) verglichen. Vielleicht sei der Skalde sogar am Hof Knúts in England gewesen, daher hätte er auch die Lehnwörter gekannt. Wenn der Skalde nun gleichzeitig für Norweger dichtete und ein Freund des Knútr sei, dann müsse er der Partei Eiríkr Jarls gehört haben. Boer schließt seine Argumentation mit einem Wortspiel: Wie Eiríkr Jarl sich wie Rígr Jarl anhöre, so komme der Name von Eiríks Sohn, Hákon, dem Namen Konr nahe. Dieser aber hat Knúts Schwester geheiratet, – ähnlich wie Konr im vorlorenen Ende des Gedichts sich mit Dana verheiratet haben soll. Edda, ed. Boer II, 365  f. 73 von See, Das Alter der Rígsþula, 94  f.; ders., Texte und Thesen, 208  f. 74 Vgl. auch Marold, Die mächtige Nachkomme, 755.

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Dagegen scheint mir eine kategorische Ablehnung des Werts der im Zentrum des Liedes stehenden Sozialstruktur für die Datierungsfrage nicht berechtigt. Zwar ist es richtig, dass man ebenso wenig kategorisch davon ausgehen kann, dass der Skalde etwa im 10. Jahrhundert gelebt haben muss, weil es im 13. Jahrhundert keine Sklaven mehr gab⁷⁵. Man braucht in diesem Zusammenhang nur an die Sklavenschilderungen der Isländersagas erinnern⁷⁶. Für die Rígsþula muss aber eine derartige auf historischen Schnittlinien beruhende Rekonstruktion, die einige Forscher annehmen⁷⁷, ausgeschlossen werden. Auch wenn der Dichter die Entstehung des Königtums in die Urzeit verlegt hat, muss nämlich zugestanden werden, dass die ausführliche Thematisierung einer Gesellschaftsordnung, die zur Zeit des Dichters bereits verschwunden wäre, äußerst seltsam anmuten würde. Das Lied schildert keine „soziale Evolution“, in der die späteren Schichten der Gesellschaft der früheren überwinden würden⁷⁸, denn die ættir leben ja fort und führen die Eigenschaften ihrer Eltern weiter. Karls ætt ersetzt ebenso wenig die des Þræll wie der König den Jarl ersetzt. Viel wahrscheinlicher bezweckt die Sozialschilderung der Rígsþula, die Sozialordnung der Gesellschaft des Dichters zu erklären, und vielleicht sogar mehr als nur zu erklären. Denn, wie der Geschichtsforscher Sverre Bagge⁷⁹ im Vergleich mit anderen „Theorien“ zu den Ständen im christlichen und feudalen Europa bemerkt hat, ist die Frage, die die Mehrheit von ihnen zu beantworten versucht, nicht bloß äthiologisch, sondern vielmehr ein Problem der Legitimität: Wie ist die Ungleichheit der Menschen zu rechtfertigen? Die Ungleichheit im Vergangenen braucht aber nicht legitimiert zu werden. Von diesen Erwägungen ausgehend, soll im Folgenden zuerst die Sozialordnung in der Rígsþula untersucht werden. Danach wird auf die wichtigsten der anderen oben aufgezählten Argumente zu Heimat und Alter des Gedichts eingegangen.

2.2.1 Der Status der Stände Die ternäre Ordnung der Rígsþula, die drei Stände der jarlar, karlar und þrælar, hat natürlich das Interesse der Forscher germanischer und nordgermanischer Geschichte immer gefesselt. Dabei sind aber die Meinungen verschieden gewesen, ob das Lied eher die Sozialstruktur der Wikingerzeit oder die des Hochmittelalters schildern würde. Die hier vertretene Auffassung ist, dass die Ständeschilderung der Rígsþula eher auf ein hohes als auf ein junges Alter verweist.

75 So Marold, ebd., 752, Anm. 26, gegen A. Bugge, Vestfold og Ynglingeætten, 449, und Finnur Jónsson, Rígsþula, 160  ff. 76 Vgl. Wilde-Stockmeyer, Sklaverei auf Island, Kap. 6. 77 Siehe vor allem Heusler, Heimat und Alter, 278  ff. 78 So Dronke (Edda, ed. Dronke II, 179  ff.). Das Gedicht würde den „human progress“ weg vom „predatory life of Vikings“ (ebd., 181) darstellen. Ähnlich von See, Texte und Thesen, 215. 79 Old Norse theories, 35.

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Die Rígsþula listet unter jedem der drei Stammväter Söhne und Töchter mit sprechenden Namen auf, die, zusammen mit ihrer Gliederung nach den ættir und der Schilderung dieser, in einigen Fällen zur kontextuellen Bestimmung des Lieds beitragen können. Bei Þræls Nachkommen ist dies aber nicht der Fall. Auffälligerweise tragen seine Kinder keine Namen, die Tätigkeiten oder „Berufe“ bezeichnen, sondern meistens Namen, die grob herabsetzend auf ihre Hässlichkeit oder Widerlichkeit anspielen (z.  B. Gengilbeina ‚die Krummbeinige‘, 10,2; Strophe 12,5, Klúrr ‚der Grobe, Klotzige‘; ebenso Z. 7, Drumbr, 13,2, Drumba; 12,6 Fúlnir ‚der Stinkende‘; 13,3 Økkvinkálfi ‚die Dickbeinige‘ usf.⁸⁰). Auch dies sagt aber viel. Es verweist auf ein bestimmtes Ethos des Dichters und seines Publikums, und zwar, dass sie sich selbst ebenso viel über den niedrigsten Stand gesetzt sehen, wie der Mensch sich über dem Affen glaubt. Wir scheinen hier unendlich weit entfernt von der mittelalterlichen Idee der Gesellschaft als corpus Christi oder domus Dei zu stehen. Es ist dies nicht die Rede eines Geistlichen an die armen Bauern, um ihnen ihr hartes Schicksal als erträglich, ihren angewiesenen Platz im Ganzen als wertvoll darzustellen. Dies war ansonsten ein gewöhnliches Thema des 13. Jahrhunderts. Beispielsweise meinte der Rektor und Predigerverfasser Hugo von Trimberg (ca. 1230–1313), dass die Unfreiheit zwar schon durch Noahs Fluch über Ham entstanden und somit der Ordnung zuzurechnen ist, man kann ihr nicht entkommen (Zürnten wir armen immer und immer, | herren und vögte zerinnet uns nimmer), gleichzeitig sei aber der im Schweiß seines Angesichts arbeitende Bauer eigentlich „edler“ als sein ihn ausbeutender Herr⁸¹. Andere suchten im besseren Jenseitigen nach Rechtfertigung. Wie Siegfried Epperlein bemerkt hat, zielten ähnliche Gedanken im 13. Jahrhundert freilich nicht auf das Aufheben der ständischen Ordnung ab, im Gegenteil: Die Relativierung alles Irdischen sollte letztendlich jedem bäuerlichen Widerstand der Boden entziehen. Die stärksten Wortführer der „Harmonie der Stände“ entpuppten sich häufig zugleich als die hartnäckigsten Vertreter bäuerlicher Knechtschaft; die „Infragestellung“ des Loses des Bauern war keineswegs eine Kritik an seinem Platz in der Gesellschaftsordnung, sondern diente dazu, die bestehende Ordnung zu formulieren und so zu verstärken. Nur für die untertänig ergebenen der Bauern waren Dichter und Mönche bereit, das Wort zu führen⁸². Der Dichter der Rígsþula aber führt nicht das Wort der Bauern oder Knechte. Hier spricht ein Mann aus der Herrscherschicht zu seinesgleichen. Waren þrælar unter den Rezipienten der Rígsþula, so kann vorausgesetzt werden, dass das Lied ihnen nicht das Gefühl gab, zu Hause zu sein im „Haus Gottes“.

80 Einige Ausnahmen: 12,4 Fjósnir ist wohl zu fjós ‚Kuhstall‘ zu stellen und verweist auf den Arbeitsplatz des so Bezeichneten; 12,5 Kleggi ist spät im Sinn von ‚Heuschober‘ belegt; 12,6 Kefsir ist schlecht belegt, bedeutet wohl aber ‚Knecht‘ (vgl. Þulur IV j 10 = Skj. B I, 663). Siehe ferner Edda, ed. von See III, zur Stelle. 81 Epperlein, Der Bauer, 83. 82 Vgl. ebd., 83  ff.

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Der Abstand zwischen den oberen Ständen und dem der þrælar deutet an, dass mit Þræll eher ein Sklave als ein Minderfreier gemeint ist. Für die Datierung des Denkschemas ist diese Distinktion nicht ohne Bedeutung. Hinter dem Verschwinden der Sklaverei lagen vor allem ökonomische Gründe; die Rolle der Kirche und des Christentums im Prozess des Abschaffens der Sklaverei war nicht so groß, wie man früher dachte⁸³. Im 12. Jahrhundert war die Sklaverei nicht mehr einträglich und lohnte sich nicht mehr⁸⁴. Seit dieser Zeit ist in den Gesetzen eine Tendenz erkennbar, die Unfreiheit schrittweise aufzulösen. In Norwegen war die Sklaverei um 1200 im Schwinden begriffen⁸⁵, auf Island ging sie mit dem Ende der Sagazeit, spätestens mit dem ausklingenden 11.  Jahrhundert, zu Ende⁸⁶. Wenn Þræll ein Unfreier ist, sollte also die Entstehung der Rígsþula in die Zeit vor 1200 fallen. Dass die Bezeichnung von Þræll als ein Unfreier wahrscheinlich richtig ist, hat Sverre Bagge in seiner Zurückweisung der schon von Karl Lehmann⁸⁷ behaupteten These, Þræll führe eigentlich eine eigene Wirtschaft in Person eines Pächters, erhärtet. Laut Bagge sei es z.  B. mit der Wikingerzeit völlig vereinbar, dass Sklaven wie Þræll in der Rígsþula in eigenen Häusern wohnten⁸⁸. Dem kann ergänzend hinzugefügt werden, dass es dann auch nichts Merkwürdiges ist, wenn eine neue Sklavin (Þír) in Rígsþula 10 zum Haus der Sklaven kommt (kom at garði) und sich in einen der dort Wohnenden (Þræll) verliebt; dazu muss sie ja nicht erst frei gewesen sein. Was dagegen bemerkenswert scheint, ist, dass Þræll und Þír – im Unterschied zu Mann und Frau der beiden Klassen der Freien⁸⁹ – nicht heiraten. Das aber ist wohl nur so zu erklären,

83 Iversen, Trelledomen, 31. Wilde-Stockmeyer, Sklaverei auf Island, 32  ff. und 153. Schon Konrad Maurer sah eher ökonomische Faktoren als ausschlaggebende an: Unfreie konnten nur insofern gegenüber freien Arbeitern gewinnbringender eingesetzt werden, als „einerseits der Preis der Sklaven noch ein sehr niedriger und andererseits das Angebot an freier Arbeit ein sehr beschränktes war“. Maurer, Vorlesungen I 1, 98  f. 84 Iversen, Trelldommen, 474  ff. Wilde-Stockmeyer, Sklaverei auf Island, 150  f. – Iversen (Trelldommen, 468–81) nennt mehrere Faktoren, die bei der Beendigung der Sklaverei wirksam gewesen waren, unter anderem die begrenzte Zufuhr von Sklaven von den Britischen Inseln und den Zugang zu billiger freier Arbeitskraft. 85 Siehe Iversen, Trelldommen, 458–64. 86 Wilde-Stockmeyer, Sklaverei auf Island, 150, mit Literaturhinweisen, Anm. 3. 87 Die Rígsþula, 25  f. Zustimmend Heusler, Heimat und Alter, 278; von See, Das Alter der Rígsþula, 93. 88 Bagge, Old Norse theories, 28. Bagge bezieht sich auf Tore Iversens Studie zur Sklaverei in Norwegen, in der unter anderem durch Ortsnamen-Material gezeigt worden ist, dass Sklaven strategisch ausgesandt wurden, um auf Neurodungen am Randbezirk des Odalhofs zu besiedeln, dabei aber ihren unfreien Status behielten (siehe Iversen, Trelldommen, öfters). Iversen (Fra trell til leilending, 31 und 34) hat die Erscheinung ein „primitives Lehnwesen“ genannt. – Interessant ist, dass die Bezeichnung hús, die für Áis und Eddas Wohnstatt gewählt wird, mit z.  B. brenna, buð, gerði und kot in eine Wortgruppe gehört, die eben diese Art sozial niedrig konnotierter Randsiedlungen bezeichnet hat. Ebd., 27. 89 Karl und Snør, Rígsþula 23,4  ff.: giptu Karli | […] | settiz undir ripti; Jarl und Erna, 40,3  f.: giptu Iarli, | gekk hon und lini.

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dass ihnen das Recht dazu fehlte, – eine Einschränkung der Freiheit, die für halbfreie Pächter des 13. Jahrhunderts schwer vorstellbar wäre⁹⁰. Wie Bagge bemerkt⁹¹, führt Þræls ætt ferner keineswegs die Arbeit eines seinen eigenen Lebensunterhalt verdienenden Bauers aus, wie Lehmann meinte, sondern gerade die härteste und niedrigste Arbeit, die gern den Sklaven überlassen wurde⁹². In Rígsþula 12 steht nur, dass die þrælar den Acker „düngten“. Aber um Früchte tragen zu können, müssen die Felder auch gepflügt werden, und zu dieser Arbeit ist offenbar Karl berufen, der freie Bauer, der nicht zögert, seinen eigenen Acker zu durchfurchen (Rígsþula 22)⁹³. Þræls Status im Lied soll demnach als der eines Sklaven, eines Unfreien, verstanden werden. Þræls ætt führt die härteste, schmutzigste Arbeit aus. Einen eigenen Acker zum Pflügen hat sie aber nicht; als eigener Haushalt kann die Familie nur existieren, weil sie zum größeren Hof des Odalbauern, Karl, gehört. Eher als für eine Entstehung der Rígsþula nach dem Ende der Sklaverei, scheint das Lied folglich für eine Entstehungsperiode zu sprechen, in der die Sklaverei noch eine lebendige Wirklichkeit war. Die Auffassung, die Schilderung der Sklaven sei eine antiquarische Nachkonstruktion des Dichters⁹⁴, kann dagegen nicht überzeugen, wie schon oben anhand der Sozialstruktur der Rígsþula im Ganzen gesehen gezeigt wurde. Ganz im Gegenteil, wird doch die politische Relevanz, die der Dichter der sozialen Ordnung und der Unterscheidung von Freien und Unfreien zuschreibt, dadurch bestätigt, dass der Skalde

90 Auch nach den frühen Leges barbarorum stand es den Minderfreien (westgermanisch liti, laz, lazzi, langobardisch oberdeutsch aldius usf.), wenn auch nur mit Einwilligung des Herren, frei, sich zu verheiraten. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, 102. 91 Old Norse theories, 28. 92 Sie legen Zäune an, düngen die Äcker, hüten die Schweine und Ziegen und stechen Torf (Rígsþula 12); Þræll selbst trägt Reisig nach Hause „den ganzen Tag“ (gerstan dag), Strophe 9. Vgl. die Erzählung in Landnámabók 8,43 von Hjǫrleifr und seinen irischen Sklaven, die später den Vestmannaeyjar ihren Namen gaben: Nach der Erzählung spannte Hjǫrleifr die Sklaven vor den Pflug. Der Bericht ist sicher übertrieben, er zeigt aber, dass harte Arbeit der Sklaverei als fester Topos angehörte. Nach Frostuþingslǫg XIII,2 gehört Neurodung und nach XV,16 Brennholz und Erz tragen zur Arbeit der þrælar. Auch nach Iversens Untersuchung „Trelledomen“ (Kap.  5,2) sollten die þrælar gerade die schwerste Arbeit geleistet haben: sie trugen Heu und Holz, gruben Teiche und rodeten Ackerstreifen. – Zum sozialen Status des Hütens von Ziegen und Schweinen, vgl. unten, S. 67 mit Anm. 166. 93 Ähnliche Arbeitszuteilungen sind aus anderen Kulturen bekannt, in denen harte Arbeit an sich nicht gescheut wird, in denen insbesondere die Arbeit mit Erde und Boden vielmehr hoch geachtet wird. Für die Bauern in der Kultur der Kabylen (Algerien) z.  B. war das Land nie bloß ausbeutbarer Rohstoff, sondern immer ein Gegenstand der Achtung und Furcht, ein lebendiger Organismus, der sich für jede schlechte Behandlung rächen würde. Der Bauer würde somit nie einen anderen Mann den Pflug leiten lassen; nur mit dem Aufhacken der Erde hinter dem Pflug wurden die ichikran (‚clients‘) betraut (Bourdieu, Outline, 175). Auf einer ähnlichen Zuteilung der Aufgaben beruht es wohl, dass Karl „die Ochsen zähmt“ (ǫxn nam at temia, 22,3) – eine mannhafte Aufgabe, die sich mit einem als wertvoll konnotierten Tier beschäftigt –, während Þræls ætt sich um die Schweine kümmert und die Ziegen hütet. 94 Heusler, Heimat und Alter, 276  f. bzw. 278; von See, Texte und Thesen, 214  f.

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gerade bezüglich dieses Punktes seine volle Wortgewalt einsetzt. Nicht nur die Standeszugehörigkeit wird von den Eltern auf den Sohn und seine Nachkommen, seine ætt vererbt, jede ætt wird auch durch besondere physische Merkmale gekennzeichnet. So heißt es von Móðir in Rígsþula 29, ihre Brauen seien glänzender, ihre Brust heller, ihre Hals weißer als reiner, neugefallener Schnee⁹⁵; ihr Sohn Jarl wird dementsprechend mit bleichem Haar und hellen Wangen geboren⁹⁶. Das Haar von Karl, dem Bauersohn, wird dagegen als „rot“ (rauðan, 21,5) dargestellt, und seine Gesichtsfarbe⁹⁷ ist „rötlich“ (rioðan, 21,5). Þræll seinerseits wird in Rígsþula 7,3⁹⁸ als svartr ‚schwarz, dunkel‘ wohl ursprünglich hǫrundsvartr ‚dunkelhäutig‘ beschrieben⁹⁹. Bei Þræls Frau, Þír, kommt diese Dunkelheit vom Arbeiten in der Sonne¹⁰⁰, bei Þræll ist sie aber schon bei der Geburt da. Auch andere Merkmale, die – wohl nicht nur für den Dichter – die Sklaven gekennzeichnet haben und die eigentlich durch Arbeit erworben sind: die runzelige Haut (hrokkit skinn, 8,4), die dicken Finger (fingr digrir, 8,7), die langen Fersen (langir hælar, 8,10) usw., sind in der Rígsþula wie durch einen primitiven „Lamarckismus“ zu biologisch erblichen Eigenschaften ausgestaltet worden. Unter den anderen physischen Merkmalen ist Þís „nach unten gebogene Nase“ (niðrbiugt er nef, 10,5) von Interesse. Diese auch in der Sagatradition als besonders hässlich geltende „Hexennase“¹⁰¹ wird auch in einem níð des Skalden Stefnir Þorgilsson (um 1000) verwendet, und zwar im herabwürdigenden Satz niðrbjúgt es nef | á níðingi ‚nach unten gebogen ist die Nase des Ehrlosen‘¹⁰². Dronke glaubt, die beiden Kurzzeilen würden implizieren, dass der „Ehrlose“, „– the Danish Jarl Sigvaldi, who plotted the death of Óláfr Tryggvason at Svoldr in 1000 – was no Jarl, but the lowest class of man, a Thrall: if not, indeed – adding sexual scorn – a Thrallwoman“¹⁰³. Die krumme Nase kehrt auch in den Namen der Abkömmlinge Þræls und Þís wieder, nämlich in Arinnefia ‚Adlernase‘, Rígsþula 13,4. Dieser Name, wie überhaupt die krumme Nase, wird auch mit den Riesen verbunden¹⁰⁴, was eine mentalgeschichtlich interessante Gleichsetzung dieser Kategorien „des Andersartigen“ andeutet.

95 Rígsþula 29,5  ff.: brun biartari, | briost liosara, | hꜳls hvitari | hreinni miǫllu. 96 Rígsþula 34,5  f.: bleikt var hꜳr, | biartir vangar. 97 rjóðr wird sonst nur zur Bezeichnung der Gesichtsfarbe verwendet (deshalb muss sich rauðr auf das Haar beziehen). 98 S. Bugge setzt in Norrœn Fornkvæði verlorene Zeilen voraus und numriert die 3. Z. der Handschrift als 7,5. 99 In W lautet die Stelle hǫrfi svartan, was aber keinen Sinn ergibt. Die Hrsg. haben deshalb mit Emendierungen gearbeitet, darunter hǫfði svartan ‚mit schwarzem Haupt, d. h. Haar‘ (siehe Edda, ed. von See III, 540–45, zu Rígsþula 3,7). Am treffendsten ist hǫrundsvartan, was in den Kontext passt und sich am besten durch Parallelen stützen lässt (vgl. hǫrundbjartr, -ljóss). Ebd., 545. 100 Rígsþula 10,3, armr solbrunninn. 101 Siehe die Belege bei Lehmann, Die Rígsþula, 20, Anm. 127. 102 Skj. B I, 146. 103 Edda, ed. Dronke II, 220, zu Rígsþula 10,5. 104 Siehe Edda, ed. von See III, 555 und 564.

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Dadurch, dass der Skalde die Stände durch feste Eigenschaften und biologische Merkmale kennzeichnet, gelingt es ihm, der Ständeordnung eine nicht nur soziale, sondern auch biologische Verankerung zu geben. Stand und Abstammung gehören nach der Vision der Rígsþula zusammen; die Standeszugehörigkeit ist statisch, die Separation total. Die Grenzen sind gegeben und von Anfang an geschlossen¹⁰⁵. Von der christlichen Ethik, die manche Forscher in der Rígsþula haben erkennen wollen¹⁰⁶, gibt es hier keine Spur. Die Sympathie des Dichters liegt fraglos nicht bei den unteren Ständen, und die Vaterschaft Rígs – die keine Anthropogenese, sondern eine Soziogenese ist (die „Materie“ ist ja schon da, als Rígr auf die Bühne kommt)¹⁰⁷ – bedeutet nicht die „Gleichheit aller Menschen“, sondern, ganz im Gegenteil, dass erst durch Rígr die Menschen in ungleiche Stände eingeordnet werden und dieser Ordnung göttliche Legitimität gegeben wird. Ferner ist Rígr nur biologisch der Vater von allen Genannten. Obwohl er „teilnimmt“ an der Erzeugung von jedem der Stände, ist es einzig Jarl, den er als seinen eigenen Sohn anerkennt: zu ihm kehrt er zurück und gibt ihm seinen Namen (Rígsþula 36). Das zeigt noch einmal, wo die Sympathien des Dichters liegen und was er mit seinem Lied anstrebt: nicht die Freiheit oder auch psychologischen Trost für die Unfreien, sondern die Legitimierung der Herrschaft über sie. Da die Sklaverei um 1200 aufhörte, sollte auch die Entstehung der Rígsþula in diese Zeit fallen. Auf dieselbe Zeit der Sklaverei – vor 1200 – weist der freie Stand. Nach dem 9. Jahrhundert war die Bedeutung der Sklaverei auf dem europäischen Festland immer schwächer geworden. Weil die christliche Ethik zum Verbot geführt hatte, Christen zu versklaven, blieb nur noch die Versklavung fremder Völker durch Krieg übrig; als die kriegerische Unruhe in Europa abnahm, wurden auch die Sklaven seltener. Die bereits Unfreien vermehrten sich durch Nachkommenschaft nicht genug, dass ihr Bestand allein dadurch sichergestellt hätte werden können. Um 800–1000 verschwimmt die Distinktion zwischen Knecht und Sklave auf dem Kontinent immer mehr; im Norden wurde das Ende der Sklaverei wie erwähnt etwas verzögert, auch dort dürfte aber die Grenze zwischen Freien und Unfreien allmählich begonnen haben, sich aufzulösen. Im östlichen Deutschland erhielt sich die Institution der Sklaverei auf ähnliche Weise, durch den Zugang zu neuem Lebensraum im Osten, etwas länger; in Bayern waren Sklaven noch im 11. Jahrhundert ein wichtiger Teil der Landwirtschaft. Nach der „Wirtschaftsrevolution“ im 12. Jahrhundert wurde die Unfreiheit aber bald in eine

105 Vgl. Gurevič, À propos des interprétations, 85. 106 So meinte von See (Das Alter der Rígsþula, 94), in der Vaterschaft Rígs aller drei Stände stecke die „christliche Auffassung von der Gleichheit aller Menschen“, und P. und B. Sawyer wollen neuerdings in der Rígsþula und ihrer Schilderung der strebenden (strebenden, ja, aber deutlich nicht nach Freiheit!) unteren Ständen sogar den „frühesten Ausdruck der protestantischen Ethik“ („the earliest statement of the Protestant ethic“; Medieval Scandinavia, 143) erkennen. 107 Vgl. Gurevič, À propos des interprétations, 84. – Auch die Ehefrauen gehören schon dem Stand an, der eigentlich erst mit ihren und ihrer Ehemänner Kinder entstehen wird.

Die Rígsþula als Quelle 

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Form des Arbeitsdienstes umgewandelt¹⁰⁸. Auch in England wurden die Skaven im 12.  Jahrhundert durch bovarii, Eigenkätner, ersetzt. Die grundlegenden Ursachen hinter diesem Geschehen seien laut Tore Iversen¹⁰⁹ am überzeugendsten durch das „open resource“-Modell, durch eine große Arbeitskraft gepaart mit abnehmenden Bodenressourcen zu erklären. Der durch die „Deklassierung“ von nunmehr landlosen Bauern erhöhte Zugang zu billiger Arbeitskraft brachte mit sich, dass Sklaven sich nicht mehr lohnten. Obwohl angenommen werden kann, dass der Herr keinen Unterhalt für landlose Bauern, die auf „eigenen“ Höfen arbeiteten, leisten musste, war er doch rechtlich verantwortlich für sie. In dieser Hinsicht dürften die sich durch die Verknechtung der Bauern ergebenden, leicht zugänglichen Gelegenheitsarbeiter für die Grundbesitzer weit ansprechender gewesen sein als Sklaven, für die sie Unterhalt hätten leisten müssen. Durch diesen Prozess – einerseits die Deklassierung der Bauern¹¹⁰, andererseits die Freilassung von Sklaven – entstand im Lauf des 12. und 13. Jahrhunderts die neue, gemeinsame halbfreie Klasse¹¹¹, die auf dem europäischen Festland schon um das Jahr 1000 den „dritten Stand“, die laboratores, bildete. Von diesem Funktionsstand der „Arbeiter“ sind die karlar der Rígsþula weit entfernt. Sie haben einen hohen Status. Karl „verteilt Ringe“ (baúga deilldu, Rígsþula 23,8) wie ein betuchter Großbauer; die Namen seiner Kinder (Þegn, Smiðr) bezeichnen Männer von hohem Ansehen. Aber „Adel“, wie etwa die bellatores des kontinentalen Schemas, sind sie nicht. Hǫldr (24,4, Haulldr) – übrigens ein ausgeprägt norwegischer Begriff¹¹² – wird neben Drengr und Bóndi (24,3. 5) gestellt, genau wie hǫldr in den älteren norwegischen Provinzialrechten mit dem bóndi gleichgestellt wurde¹¹³. In den späteren Gesetzen dagegen wird hǫldr als separater rechtlicher Status gegen bóndi

108 Iversen, Trelledomen, 38. 109 Ebd., 28  ff. 110 Die „Bauern“, die von dieser Entwicklung betroffen waren, sind nicht in erster Linie mit der Gruppe der „Vollfreien“ gleichzustellen; die neue Klasse dürfte aus einem breiten Spektrum verschiedener Grade von „Abhängigen“ zusammengesetzt gewesen sein. Vgl. ebd., 34. 111 Eine „halvfri fellesklasse“, ebd., 33. 112 Als Lehnwort in englischen Quellen beschränkt sich das Wort auf den nördlichen Teil des Danelags, vor allem Nordumbrien, der stärker von Norwegern besiedelt war (Hofmann, Nordischenglische Lehnbeziehungen, § 222). Bezüglich isländischer Verhältnisse wird es nicht verwendet. 113 Das alte Borgarþing- und das Eidsivaþing-Gesetz nennen in Zusammenhang mit der Grablegung, dass gerade an der Dachtraufe (undir upsardropa) die lendirmenn liegen sollten, die Teil an der Kirche gehabt, daneben diejenigen, die keinen Teil an der Kirche gehabt hatten. Letzterer Platz wurde bóndalega oder hauldslega benannt; danach kamen die freigegebenen Sklaven, für die man Freigebungsbier getrunken hatte, anschließend jene Freigegebenen, für die man diese Sitte nicht durchgeführt hatte; am äußersten an den Zaun legte man die Sklaven (Bøe, Hauld, 251). An anderen Stellen in diesen Gesetzen nimmt der hauldr, hauldborinn maðr usf. den Platz zwischen lendrmaðr und leysingi ein (Maurer, Vorlesungen I 1, 127; Benedictow, Stænder, 391). hǫldr wird also mit dem Status des freien Bauern gleichgesetzt.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

abgegrenzt¹¹⁴. Die Rígsþula stellt in archaischer Weise die hǫldar zur Gruppe der ároder óðalbornir menn, der Odalbauern. Schließlich weist auch der oberste Stand, derjenige der jarlar, eher auf ein hohes Alter der Rígsþula hin¹¹⁵. hersir (Rígsþula 39,4) verschwand schon im 11.  Jahrhundert als Titel; vielleicht wurde er durch lendrmaðr ersetzt. In den Gesetzen kommt das Wort nicht vor¹¹⁶. Ein isländischer Titel war weder hersir noch jarl. Die letztere Bezeichnung hatte ferner nur in den älteren Quellen, der Skalden- und Eddadichtung, eine Bedeutung, die derjenigen der Rígsþula nahekommt. In der Eddadichtung scheint jarl entweder poetisch ‚freier Mann‘ im Allgemeinen¹¹⁷ oder ‚Mann aus der Aristokratie, höher als die gewöhnlichen Bauern‘¹¹⁸ zu bedeuten. Dies stimmt auch mit den außernordischen Belegen überein. Altsächsisch und althochdeutsch

114 Das Gulaþing-Gesetz zieht eine wesentliche Grenze zwischen 1. Odalbauern (óðalbornir menn oder hǫldar) und 2. anderen Bauern (Pächter und Leuten, die nur gekauftes Land, und kein Erbland, hatten; Robberstad, Odelsrett, 495; vgl. Benedictow, Stænder, 391). Dass der hǫldr in einem besonderen Verhältnis zum Odal stand, zeigt auch das Landrecht des Königs Magnus Hakonarson VII 64: sá er hauldr, er hann hefir óðöl at erfðum tekit bæði eptir föður ok móður þau, er hans forellrar hafa átt áðr firir þeim). Hatte man Wehrgeld für Verletzungen zu zahlen, so sollte man laut Gulaþingslǫg 185 für den leysingi 1 baugr zahlen, für seinen Sohn 2 baugar, für den Bauern 3, für den óðalborinn maðr 6, den lendr maðr 12, den Jarl 24 und für den König 48; an anderen Stellen findet man aber in dieser Reihenfolge den hǫldr am Platz des óðalborinn maðr, vgl. Gulaþingslǫg 200, „um rettarfar manna“: Nu a leysingi a ser .vi. aura. at einorðom rette, usw.; darunter hat Boande .xii. aura; Haulldmadr .iij. mercr; Lendr maðr oc stallare .vi. mercr; Jarl oc Biscop .xii. mercr. Der hǫldr gehört also in den Gulaþingslǫg einer Klasse an, die höher als der Bauer (bóndi, búandi) im Allgemeinen, gerade unter der Klasse der königlichen Beamten stand (vgl. wieder Gulaþingslǫg 200: Lenzmannz sun scal taca haullz rett. ef hann fær eigi lond, und Frz., s. v. „hǫldr“). – Im Frostaþing-Gesetz ist der Unterschied zwischen dem hǫldr und dem árborinn maðr, d. h. dem freien Bauer, ebenso größer geworden; das Gesetz unterscheidet manchmal ausdrücklich zwischen bóndi und hǫldr als Personen verschiedener Stände, z.  B. Frostuþingslǫg IV 8 (Norges gamle Love I, 160): bœndr dürfen bei tylftareið als Zeugen aufgerufen werden, ef eigi ero haulldar til; vgl. auch XIV 7. Ähnlich Gulaþingslǫg 200, haulldz und boanda rettr, und das Landrecht des Königs Magnus Hakonarson, das nur Vollfreien kennt, unter diesen aber hǫldar und bœndr unterscheidet. 115 Ursula Dronke (Sem jarlar fordum) meinte, Nachklänge der Rígsþula und ihrer Schilderung von Jarl in einigen Sagastellen gefunden zu haben. Eine in Betracht zu ziehende Kritik zu Dronkes Deutung legte aber Klaus von See in den Nachträgen zu seiner „Edda, Saga, Skaldendichtung“, 516 vor (die Deutung beruhe auf einer Fehllesung der in Frage kommenden Strophe). 116 Bøe, Lendman; Sogner, Herse, 512. 117 Z. B. Atlamál 58; Guðrúnarhvǫt 20  f.; Guðrúnarkviða III 1 (?). 118 Z. B. Hávamál 97; Guðrúnarkviða I 2  f. (nach dem Kontext zu beurteilen); vgl. auch Sigvats Bersǫglisvísur 5,2 (Skj. B I, 235; um 1035). Der bedeutungsvolle Vergleich Hárbarzljóð 24,5  ff.: Óðinn á jarla, | þá er í val falla, | Þórr á þræla kyn, beabsichtigt wohl, wie auch de Vries (Altgermanische Religionsgeschichte II, 148) meint, Óðinn als Schirmherr der Kriegeraristokratie Þórr als Vertreter des Volkheers gegenüberzustellen; dass Þórr dabei die þrælar und nicht die karlar bekomme, beruht sicher auf dem spöttischen Charakter des Gesprächs (mit de Vries ebd., Anm. 2 eine „ursprüngliche Form“ *Þórr á karla kyn anzunehmen, ist damit unnötig).

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erl bedeutet ‚Mann, vornehmer Mann‘¹¹⁹, und in den altenglischen Gesetzen aus der Zeit vor den Wikingern bezeichnet eorl bereits einen separaten rechtlichen Status, der von den gewöhnlichen Vollfreien abgegrenzt wird¹²⁰. Ab dem 11.  Jahrhundert dagegen beginnt die Jarlswürde in Norwegen immer mehr den Charakter eines Amtes anzunehmen¹²¹. Der Begriff jarl bezeichnet nicht mehr einen Geburtsstand; der König allein kann einen Mann zum Jarl ernennen, und zwar kraft der ihm von Gott verliehenen Gewalt. In der Hirðskrá ist der Jarl schließlich zur „Zier und Unterstützung“ des Königs geworden, seine Macht ist von der Herrschaft des Königs abhängig und nur rechtmäßig anerkannt, weil der Jarl dem König mit voller Loyalität dient¹²². Letzteres Bild ist dem der Rígsþula unendlich fremd. In der Rígsþula treten die Jarle deutlich als Stand, nicht als Amt vor. Vom König scheinen sie weithin unabhängig. vig nam at vekia, | vǫll nam at rioða, | val nam at fella, heißt es von Jarl Rígr, Rígsþula 37,9  ff.; er erweiterte seine Bereiche (vꜳ til landa, 37,12) und hatte allein achzehn Höfe (38). Das Einheitsideal der Hirðskrá, mit den dem König unterstellten Jarlen¹²³, ist in der Rígsþula nicht vorzufinden. Die Darstellungen aller drei Stände weisen folglich eher auf eine archaische als auf eine hochmittelalterliche Gesellschaft hin. Da ich die Sozialschilderung der Rígsþula nicht als bloße historisierende Zierde auffassen kann (siehe oben), ist davon auszugehen, dass dies auf ein hohes Alter des Liedes hindeutet.

119 AEW, s. v. „jarl“; Bøe, Jarl, 560. 120 So Æðelbirhts Gesetze (566–616) 13: Wenn jemand einen anderen im tūn eines eorles erschlägt oder (14) mit seiner birete (Schenkin) schläft, soll er 12 scillingas bußen, während für dieselbe Verletzung von einem ceorl begangen, diese mit der Hälfte davon (6 scillingas) gebüßt werden soll (Kap.  15  f.). Ebd. 75: Das Mundium der vornehmsten Witwe vom Stand der eorle büße man mit 50 scillingas; dann wird die Buße immer kleiner (20 : 12 : 6 scillingas). Hlōðhærs und Eādrīcs Gesetze (673–86): Wenn ein esne (Minderfreier) einen eorlcund man erschlägt, soll der Besitzer 300 scillingas zahlen, während dieselbe Verletzung bei einem Vollfreien (frigne mannan, Kap. 3) nur mit ⅓ davon, 100 scillingas, gebüßt werden soll. Derselbe Ausdruck eorlcund zeigt übrigens, dass der Status erblich war. 121 Tendenzen dazu mag es auch früher gegeben haben; so soll nach Snorri (Heimskringla, Haralds saga hárfagra 6) Haraldr bei der Reichseinigung einen jarl über jeden fylki gesetzt haben, die für den König Abgaben einziehen sollten. Dies ist allerdings von einigen Forschern als eine spätere Systematisierung Snorris verstanden worden (so Bagge, Society and politics, 124). Auch Snorris Deutung Heimskringla, Óláfs saga Tryggvasonar 45 der Aussage der Vellekla, Hákon Ladejarl habe über hjarl sextían jarla‚ das Land von 16 Jarlen geherrscht, und nicht über das von 16 fylkir, hat man demselben Systematisierungstrieb zuschreiben wollen (Bøe, Jarl, 560). 122 Maurer, Vorlesungen I 1, 160. 123 Vgl. Bagge, Old Norse theories, 30.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

2.2.2 Die altenglischen Lehnwörter Für die Kontextualisierung der Rígsþula dürfte es nicht bedeutungslos sein, dass das Lied viele Lehnwörter enthält. Einige von diesen weisen auf die Britischen Inseln, vor allem England, hin. Von den betroffenen Wörtern sind fünf ursprünglich lateinische Wörter, die wahrscheinlich über das Altenglische ins Altnordische übernommen wurden¹²⁴, und wenigstens ein Wort (frakka ‚Speer‘; vielleicht auch kartr ‚Karre‘¹²⁵ und bolli ‚Schüssel‘¹²⁶) ist ein rein altenglisches Lehnwort¹²⁷. Unter diesen Gegebenheiten ist es nicht erstaunlich, dass der Wortschatz schon früh als ein weiterer Beweis für eine Entstehung der Rígsþula auf den Britischen Inseln herangezogen wurde und für ein hohes Alter des Liedes sprechen sollte¹²⁸. Im Jahr 1906 konnten jedoch Andreas Heusler¹²⁹ unter anderem dieselben Wörter als

124 skutill (Rígsþula 4,6 und 32,2), vín (32,7), kanna (ebd.), kálkr (32,8) und tafl (41,8). Zu kanna ‚Kanne‘ bemerkte aber Finnur Jónsson (Rígsþula, 165), das Wort sei wahrscheinlich „altheimisch“, da es heute in allen nord- und westgermanischen Sprachen verbreitet ist. Für denselben Schluss spricht, dass das Wort als Lehnwort ins Finnische (kannu) und Estnische (kann) aufgenommen wurde, was wohl auf frühen Einflüssen des Nordens im Osten beruht. Vgl. AEW und ÁMB., s. v. 125 Etymologisch gehört kartr zu einem in sämtlichen germanischen Sprachen belegten Stamm *kret- (*kert-) ‚flétta, snúa‘ (ÁBM, s.  v. „kart(u)r“), der auf eine Dentalerweiterung der indogermanischen Wurzel *ger ‚drehen, winden‘, in lettisch grùods ‚gedreht‘, zurückzuführen ist (AEW, s.  v. „kartr“). Im Germanischen scheinen die Bildungen zu diesem Stamm zunächst einen ‚Korb‘, dann einen ‚Wagenkorb‘ bezeichnet zu haben, vgl. althochdeutsch krezzo, kratto ‚Korb‘, altenglisch cradol (neuenglisch cradle) ‚Wiege‘ bzw. mittelniederdeutsch krett, mittelniederländisch cratte, crat ‚Wagenkorb‘, altirisch cret ‚Wagenkasten‘, was schließlich zu einer Bezeichnung des Wagens an sich geworden ist, so in neufranzösisch kret ‚mistkarre‘, altenglisch cræt, crat ‚Karre, Wagen‘ (AEW, ebd.; ÁBM, ebd.). Eine Entlehnung aus dem Altenglischen (Edda, ed. Dronke II, 225) oder Altirischen (A. Bugge, Vesterlandenes indflydelse, 258) ist folglich nicht unbedingt notwendig, um die altnordische Bedeutungsentwicklung zu erklären. Wenn umgekehrt eine Entlehnung aus dem Sprachgebiet der Britischen Inseln anzunehmen wäre, müsste man erklären, warum ein Wort carte (neuenglisch cart < altenglisch cræt, crat) ‚Wagen‘ erst im 12. Jahrhundert (Nicodemus Vespasianus (um 1150), 87: Helias wæs on fyrene chearte hider gefered) belegt ist. Mag die Metathesis in beiden Sprachen spontan geschehen sein? 126 Laut de Vries (AEW, s. v.) könne bolli überhaupt kein altenglisches Lehnwort sein, da es im ganzen Norden verbreitet und außerdem ins Finnische entlehnt worden sei. 127 Siehe die Zusammenstellung in Edda, ed. von See III, 503. – Dronke addiert das hapax legomenon smokkr ‚ärmeloses Leibstück, Brusttuch‘ zu den altenglischen Lehnwörtern (altenglisch smock ‚Hemd‘. Edda, ed. Dronke II, 223). Eine einheimische Entwicklung scheint aber ebenso gut annehmbar, vgl. die Bedeutungen neuschwedisch dialektal smock ‚bekleidung eines verwundeten fingers‘, althochdeutsch smocco ‚hemd‘, mittelniederdeutsch smuck ‚schmuck‘, neuisländisch smokka ‚abstreifen, kriechen, gleiten‘, vgl. das Verb altnordisch smjúga ‚sich schmiegen, schlüpfen‘. Siehe AEW, s. v. 128 So A. Bugge, Vesterlandenes indflydelse, 172 (kalkr < altenglisch calic, cæl(i)c < lateinisch calix). 176 (skutill < altenglisch scutel ‚a dish‘; kanna < altenglisch canne ‚Kanne‘). 212 (frakka < altenglisch franca ‚Speer‘). 258 (kartr < altirisch cret ‚Wagenkasten‘). 129 Heimat und Alter, 275  f.

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Beweis für ein geringeres Alter anführen, da sie in der älteren Dichtung nicht vorkämen, dagegen in der Prosa oder in Einzelfällen in Strophen des 12. bis 14.  Jahrhunderts häufig belegt seien. Dasselbe Argument wurde später von Klaus von See¹³⁰ wieder aufgenommen. Wie dieser selber bemerkt, sind aber Schlüsse aufgrund des Fehlens dieser Wörter in älteren Quellen bedenklich, da ja die Alltagsschilderung der Rígsþula der altwestnordischen Dichtung im Ganzen fremd ist¹³¹. Außerdem sind mehrere der altenglischen Lehnwörter schon früh belegt, und das auch in der Dichtung¹³². Ich führe die Belegstellen hier an: skutill: Haustlǫng 4 (Skj. B I, 15), um 900. – frakka: zum ersten Mal in der Zusammensetzung hræfrakka ‚Leichenspeer‘, Gísli Súrsson, lausavísa 1 (Skj. B I, 96), 10. Jahrhundert¹³³. – kyrtill: Haraldr harðráði, lausavísa 12 (Skj. B I, 331), 10. Jahrhundert. – vín: mehrere Belege in der Dichtung, auch in der Edda¹³⁴. – tafl: vgl. Vǫluspá 8,1 tefldu ‚spielten Brettspiel‘ und vor allem 61,3 gullnar tǫflur ‚goldene Spielfiguren‘. – kálkr: in der eddischen Dichtung mehrmals belegt, vgl. Hymiskviða 28,8. 30,8. 32,3; Atlakviða 33,3. Die altenglischen Lehnwörter sind also nicht so jung, wie Heusler angenommen hat. Indessen ist es an sich nichts Merkwürdiges, dass altenglische und andere Lehnwörter in einem altwestnordischen Lied vorkommen. Dass sie alt sind, besagt ja nicht, sie würden nicht auch in jüngerer Zeit gebraucht; viele der Lehnwörter waren auch später in der Alltagssprache gängig¹³⁵. Dass die Rígsþula eine solche Anhäufung von Wörtern gerade altenglischer Herkunft aufweist, deutet aber zunächst auf eine Entstehung des Lieds in der Zeit der dichtesten Kontakte zwischen dem Norden und den Britischen Inseln hin, und zwar auf die Periode, in der diese Wörter wahrscheinlich zum ersten Mal in der nordgermanischen Sprache verwendet wurden: im 9. bis 11. Jahrhundert. Aufmerksamkeit mag meines Erachtens der Umstand verdienen, dass gerade in der Beschreibung der Mahlzeit von Jarls Eltern drei altenglische Lehnwörter – skutill ‚Schüssel‘, kanna ‚Kanne‘ und kálkar ‚Kelche‘, alle in Rígsþula 32 – vorkommen. Schon 1905 versuchte Alexander Bugge zu zeigen, dass die Beschreibung – oder der beschriebene Gebrauch – besonders der Mahlzeit des edlen Geschlechts Einflüsse durch die altenglische Kultur verraten würde. Laut Bugge zeigen Illustrationen aus altenglischen Handschriften eine Tischbedeckung, die der in der Rígsþula beschriebenen ziemlich gleichkommen soll. Auch dort wurde der Tisch mit einem „bestickten

130 Das Alter der Rígsþula, 85. 131 Ebd.; ähnlich Meißner, Rígr, 128; Marold, Die mächtige Nachkomme, 756. 132 Vgl. auch Finnur Jónsson, Rígsþula, 165  ff. 133 Krause (Runeninschriften 54, 529) meinte, schon auf dem Runenstein von Eggjum aus ca. 700 ein Genitiv Plural frankna lesen zu können. Aus der völlig verschiedenen Lesart Grønviks (Runene på Eggjastenen, 76–86) wird aber ersichtlich, wie unsicher die Deutung der Inschrift ist. 134 Siehe Lex. poet., s. v. 135 Vgl. z.  B. ryðfrakka ‚rostige Waffe oder Gerät‘, siehe Frz., s. v.

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Tuch“ bedeckt (Rígsþula 31,2, merktan duk), die Getränke (Wein) aus Kannen serviert (Strophe 32,7, vin var i kǫnnu) und aus Kelchen, nicht aus Hörnern getrunken (32,8, varðer kaalkar ‚[mit Silber? Gold?] überzogene Kelche‘), und die Schüsseln waren mit Silber verziert (32,3  f., skutla fulla | silfri varða)¹³⁶. Bemerkenswert ist auch, dass der Dichter ausdrücklich betont, das dünne Brot im Hause Faðirs und Móðirs im Unterschied zum groben, „mit Getreidehülsen vollen“ Brotleib bei Ái und Edda in Rígsþula 4 sei weiß und aus Weizen (hvita af hveiti, 31,7). Weizen wurde nämlich selten verwendet und scheint in Norwegen mit dessen rauem Klima ursprünglich nicht angebaut worden zu sein, sondern wurde – besonders gerade aus England – importiert und als Luxusware betrachtet¹³⁷. So wird in der Egils saga berichtet, dass Kveld-Úlfr ein Schiff nach England sandte, um Weizen zu kaufen¹³⁸. Diese tiefere kulturgeschichtliche Betrachtung der Lehnwörter mag andeuten, dass diese Wörter zur Zeit des Dichters Konnotationen trugen, die die Gedanken in Richtung einer aristokratischen, teilweise exotischen angelsächsischen Kultur lenkten. Im Altnordischen können die Wörter gewissermaßen als Merkmale einer aristokratischen Kultur nach englischem Vorbild gedient haben.

2.2.3 Die Beziehung zur Sigurðr- und Helgidichtung In einem Aufsatz aus dem Jahr 1950 listet Hans Kuhn¹³⁹ einige Gemeinsamkeiten der Helgilieder (Helgakviða Hundingsbana I. II) mit dem Stück von Sigurðs Vaterrache, Reginsmál 13–18¹⁴⁰, bzw. den Weissagungen der Meisen, Fáfnismál 32  f., 35  f. und 40–44¹⁴¹, auf. Das Resultat zeigt, dass eine enge Verwandtschaft bezüglich der Motive¹⁴² und des Wortschatzes¹⁴³ zwischen den Helgiliedern und der Sigurðr-Dichtung besteht. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass mehrere der Punkte, die auf eine Verwandtschaft der beiden Liedergruppen hinweisen, nicht nur die Helgilieder mit der Sigurðr-Dichtung, sondern gleichzeitig auch beide Liedergruppen mit den Britischen Inseln verbinden, – mit einem Ort, der mehrmals auch als Heimat der Rígsþula in Frage gekommen ist.

136 A. Bugge, Vesterlandenes indflydelse, 175. 137 Nach Åke Campbell (Nordvästeuropeisk brödkultur, 9) begann man eigentlich erst im 20. Jahrhundert in Norwegen und im westlichen und nördlichen Schweden, Weizen zu anzubauen. Vgl. A. Bugge, Vesterlandenes indflydelse, 715; Edda, ed. von See III, 605. 138 Egils saga 17, 42. 139 Das Eddastück. 140 Kuhn, ebd., 94  ff. 141 Ebd., 98  ff. 142 Das Motiv einer Seefahrt im Sturm, bei der der Held gerettet wird, kommt in der Edda z.  B. nur zweimal vor, das erste Mal in Helgakviða Hundingsbana I 26–30, das zweite in Reginsmál 16  f. 143 Z. B. Helgakviða Hundingsbana I 48, Reginsmál 15 tiggi ‚Fürst‘.

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Schon Kuhn¹⁴⁴ wollte also die Rígsþula zu den beiden erwähnten Liedergruppen stellen, ohne jedoch die These weiterzuentwickeln: sein Thema war die Sigurðr-Dichtung. Später konnten Forscher allerdings erhärten, dass die Rígsþula wenigstens mit der Sigurðr-Dichtung eng verbunden ist. Während einige dieser Forscher¹⁴⁵ meinten, Übereinstimmungen wie die Runenbelehrung¹⁴⁶, die scharfen Augen des Jarl¹⁴⁷, der Wortschatz¹⁴⁸ und die Prophezeiung der Vögel¹⁴⁹ würden auf ein junges Alter schließen lassen, vertrat Edith Marold¹⁵⁰ die Ansicht, dieselben Übereinstimmungen seien schon früh verbreitet gewesen und auch sonst als Argumente für ein junges Alter ungeeignet. Wie Marold¹⁵¹ bemerkt, ist die Prophezeiung der Vögel, deren Sprache der Held versteht, nicht nur dem Motiv nach, sondern auch bezüglich ihrer Positionierung in der Handlung – an einem Wendepunkt im Leben des jungen Helden – in der Rígsþula und der Sigurðr-Tradition ähnlich gestaltet. von See aber meint, dass das Auftreten gerade der Krähe (kráka) als Schicksalslenkerin in Rígsþula 47  f. erst durch das Erhöhen des „gesellschaftlichen Niveaus“ der Krähe durch Áslaug Kráka in der späteren Entwicklung der Sigurðr-Dichtung ermöglicht worden sei¹⁵². Meines Erachtens kann das Argument aber wenig überzeugen, denn auch hier dürfte die Funktion der beiden Motive schwerer wiegen als die Konnotation der Vögel bezüglich einer sozialen Stellung. Wie die Raben – die in der Skaldendichtung den Platz der mit Sicherheit nicht hoch geschätzten Wölfe teilen – sind nämlich die Krähen Leichenfresser¹⁵³. Diese Eigenschaft ist es wohl, die dazu geführt hat, dass die Raben nicht nur in der Sigurðr-Dichtung¹⁵⁴, sondern z.  B. auch in Þórbjǫrn hornklofis Hrafnsmál¹⁵⁵ aus der Zeit Haraldr hárfagris (um 900) als Wahrsager des Krieges und als Vögel des Kriegs-

144 Das Eddastück, 95. 145 von See, Das Alter der Rígsþula, 90  ff.; ders., Texte und Thesen, 207  f. Vgl. Haimerl, Sigurd, 100. 146 Rígsþula 36. 43. 45; vgl. die Sigrdrífumál. 147 Rígsþula 34,7  f.; siehe unten zu den Vergleichspunkten. 148 grœnar brautir: Rígsþula 1,2; vgl. Fáfnismál 41,2; he(i)lug fjǫll: Rígsþula 37,3; vgl. Fáfnismál 26,3 – falls nicht Fáfnismál 26,3 ohne Emendierung als heilog fioll ‚heilige Berge‘ statt hélog fioll (Norrœn Fornkvæði, zur Stelle) ‚mit Reif bedeckte Berge‘ gelesen werden muss (Marold, Die mächtige Nachkomme, 766; dort wird auch bemerkt, dass grœnar brautir auch in Þórsdrápa 1 vorkommt). 149 Rígsþula 47  f.; vgl. Fáfnismál 32–39. 150 Die mächtige Nachkomme, 759–67. 151 Ebd., 759. 152 von See, Das Alter der Rígsþula, 92. 153 Vgl. den deutschen Ausdruck: „Eine Krähe setzt sich nicht auf jedes Aas“, für Holland: „Wenn die Krähe das Krächzen ließe, so fräße sie das Aas allein.“ 154 Die Prophezeihung durch Vögel wird durch Fáfnismál 32–39 und die Ramsund-Ritzung (Sö 101; um 1050) bestätigt. Leider lässt die Ritzung allein keinen Schluss zu, welche Art Vögel dort abgebildet ist; in der Prosa vor Strophe 32 der Fáfnismál wird aber gesagt, dass es sich um „Meisen“ (igður) handelt. In Brot af Sigurðarkviðu 5 dagegen tritt – in Übereinstimmung mit dem oben Gesagten – ein Rabe (hrafn, Z. 3) als Wahrsager auf. 155 Haraldskvæði, Skj. B I, 22  ff.

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gottes Óðinn auftauchen¹⁵⁶: Wo eine Schlacht stattfindet, wird man bald die Leichenfresser sehen können; die Raben am Himmel kündigen den Tod an. Eine ähnliche Rolle hat der Rabe in der Sigurðr-Tradition¹⁵⁷, und diese Rolle hat auch die Krähe in der Rígsþula¹⁵⁸. Ebenso problematisch ist die Entwicklung, die von See für die Augen, die scharf sind wie die einer jungen Schlange (34,7  f., ǫtul voru augu | sem yrmlingi), annimmt. Zwar teilen die Vertreter der „edleren“ Geschlechter der Rígsþula, Jarl und Konr, diese Eigenschaft mit dem Vǫlsunggeschlecht. Doch die Folgerung, erst das Eintreten des Sigurðr-Geschlechts in die Stammtafeln des norwegischen Königsgeschlechts habe dies bewirkt¹⁵⁹, ist voreilig. Das Motiv der scharfblickenden Augen war nicht auf das Sigurðr-Geschlecht begrenzt, sondern dürfte, den Belegen nach zu urteilen, seit Alters her im Germanischen als Merkmal edler Herkunft gegolten haben¹⁶⁰. In der altwestnordischen Dichtung kommt der Vergleich gerade mit den Augen der Schlangen schon früh in diesem Kontext vor¹⁶¹. Besonders interessant ist für unseren Zusammenhang Helgakviða Hundingsbana II 2. Der hochgeborene Held Helgi hat sich als Magd verkleidet, um Hundings Mannen zu entkommen. Er kann sich aber nicht verbergen; die Augen verraten ihn: Hvoss ero ꜹgo i Hagals þyio, era þat carls ętt, er a kvernom stendr. ‚Scharf [blickend] sind die Augen | von Hagals Magd, | das ist nicht Bauern-Geschlecht, | das an der Mühle steht‘¹⁶².

156 Die Hrafnsmál sind als ein Gespräch zwischen einem Raben und einer Walküre, es foglsrǫdd kunni (Strophe 1,4) gestaltet. Ist es ein Zufall, dass die Walküre – ein Wesen aus dem Kreis Óðins – wie Jarl und Sigurðr als „scharfäugig“ (fránleitr, 1,3) beschrieben wird? 157 Fáfnismál: Tötung vom Reginn; vgl. aber besonders Hrafnsmál 5,3  ff.: hrafn af meiþi | hát callaði: | „Ycr mvn Atli | eggiar rioþa, | mvno vígscá | of viþa eiþar ‚vom Baume rief | der Rabe laut: | „An euch wird Atli | Eisen röten; | der Meineid muß | die Mörder fällen“ ‘ (Übersetzung Edda, ed. Genzmer, 254, Strophe 7). 158 Zu weiterer Kritik, siehe Bagge, Old Norse theories, 25, besonders Anm. 54. 159 von See, Das Alter der Rígsþula, 92; ders., Texte und Thesen, 207. 160 Ähnlich Marold, Die mächtige Nachkomme, 767, und dies., Die Augen des Herrschers. Das Motiv wird jüngst auch von Lassen (Øjet og blindheden, 17–23) behandelt. 161 Schon in Sigvatr Þórðarsons erfidrápa auf den im Jahre 1040 gefallenen König Óláfr Haraldsson werden die Augen des Königs „schlangenscharf“ genannt, Strophe 13: augu ormfrǫˊn (Skj. B I, 242). Auch in Eiríks „schlangenglänzenden“ Augen ist das Motiv der Rígsþula vorgebildet, und das bereits im 10. Jahrhundert (Egils Arinbjarnarkviða aus 962; Skj. B I, 38). In der Eddadichtung, Vǫlundarkviða 17,5  f., heißt es von Vǫlundr: Amon ero ꜹgo | ormi þeim enom frána ‚Feindlich sind die Augen wie die glänzende Schlange‘. 162 Übersetzung Edda, ed. von See IV, 651. Die Hakenparenthese steht in der Übersetzung.

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Bemerkenswert ist hier der Zusammenfall der scharfen Augen¹⁶³ mit dem Gegensatz Magd versus Freier: durch die scharfen Augen wird ersichtlich, dass Helgi nicht zu carls ętt gehöre – ein standesbezogener Ausdruck, den wir ja auch in der Rígsþula wiedergefunden haben. Zwar bezeichnet karl in Helgakviða Hundingsbana II 2 einen Mann von niedriger Stellung, während die karla ættir in der Rígsþula einen ziemlich hohen Status haben; gemeinsam ist ihnen jedoch, dass es auch in der Rígsþula nicht Karl, sondern Jarl – der Vertreter des höheren Standes – ist, der durch die scharfblickenden Augen gekennzeichnet ist. Die soziale Ideologie, die in den beiden Gedichten zum Vorschein kommt, ist im Grunde dieselbe. Die Zusammengehörigkeit der Rígsþula mit der Sigurðr-Dichtung braucht folglich nicht für ein junges Alter des Gedichts zu sprechen. Von den Gemeinsamkeiten, die, außer der eben erwähnten Strophe Helgakviða Hundingsbana II 2, die Rígsþula mit der Helgidichtung verbinden, will ich hier nur einige aufnehmen, die mir besonders auffallend erscheinen. So finde ich es erwähnenswert, dass derselbe Name Tǫtrughypja ‚Lumpenkleid‘¹⁶⁴, der in Rígsþula 13,7 als der Name von einer von Þræls Töchtern auftaucht, in Helgakviða Hundingsbana I 43,7 als Appellativum tꜹttrvghypia wiederkehrt – und zwar in der Erniedrigung eines Mannes: Sinfiǫtli höhnt den Guðmundr dafür, er sei imþar dottir | tꜹttrvghypia gewesen. Guðmundr wird hier nicht nur als Frau, sondern auch als „Imðs Tochter“ und daher als Riesin¹⁶⁵ dargestellt. In derselben Strophe wird Guðmundr beschimpft, Ziegen gemolken zu haben. Ziegen melken wird in der Rígsþula als Aufgabe der þrælar angegeben¹⁶⁶. Die Ähnlichkeit von tꜹttrvghypia mit dem Magdnamen der Rígsþula legt die Annahme nahe, dass die doppelte, auf Geschlecht und „Riesenart“ bezogene

163 Auch Helgakviða Hundingsbana I 6 werden Helgis scharfe Augen erwähnt. 164 Zu tǫtrugr ‚zerlumpt‘ (vgl. tǫturr ‚Fetzen‘) und, vermutlich, hjúpa ‚Kappe‘; vgl. das Verb hjúpa ‚einwickeln‘ und hjúpr ‚Waffenrock aus Seide‘. IED führt s. v. (neuisländisch) „hypja“ „to huddle the clothes on; h. sig í fötin, to dress oneself in a hurry“ an. 165 Siehe Lex. poet., s. v. „Imð, Imðr“. 166 Das Versorgen der Tiere wird auch in einer Sagastelle in auffälliger Weise mit dem Sklavenstatus verknüpft. Vatnsdæla saga 44, 116  f. erzählt von einem Freigegebenen namens Þorkell. Der Saga nach gab es wenige Leute am Hof, aber viel zu tun, und bald sollte eine Hochzeit stattfinden. Þorkell bot sich deshalb an, mit den Arbeitern (verkmǫnnum) hinauf in die Berge zu gehen, um das Vieh zu versorgen. Die Tätigkeit war schwer, und Þorkell arbeitete hart. Gegen Abend waren sie hungrig, und Þorkell schlug vor, sie sollten eines der Schweine zum Essen schlachten. So taten sie. Kurz vor der Hochzeit kam nun Glœðir, ein Mann aus der Sippe des Freiers, zum Hofe, fragte nach und bekam Nachrichten. Aber – Glœðir kvaz hafa ok spurt ǫnnur tíðendi, en þat er fjallferð Þorkels krǫflu, at hann var valiðr til svínagæzlu; kvað hann þat ok makligast um ambáttarsoninn ok kvað hann drepit grísinn, þann er drukkit hafði spenann um nóttina áðr; ok legit hjá galta, þvíat hann kól sem aðra hundtík. Þorkell scheint sich kaum getroffen zu fühlen und arbeitet während der Hochzeit weiter, während die Gäste ihn mehrmals als den „Sohn einer Sklavin“ (ambáttarsonr) beschimpfen. Aber am Tag, an dem die Gäste nach Hause reiten sollen, holt Þorkell eine Axt und schlägt Glœðir tot. – Für Þorkell, der freigelassen war und den Anspruch seiner neugewonnenen Freiheit auch behaupten musste, dürfte die Beschuldigung, der Sohn einer Sklavin zu sein, besonders verletzend gewesen sein. Die Beschimpfung hat nicht

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Beschimpfung der Helgakviða Hundingsbana in Anlehnung an die Ideologie der Rígsþula noch einen dritten, sozialen Sinn – ‚Magd‘ – einschloss. Den Helgiliedern und der Rígsþula gemeinsam sind auch die Themen „göttliche Herkunft“¹⁶⁷ und „genealogisch begründeter Status“¹⁶⁸. Wie wir später sehen werden, mag dies auch auf die gemeinsame Beziehung zu England deuten. Die Beziehung der Helgi- und Sigurðr-Dichtung mit dem Westen ist seit Kuhns Untersuchung von Dietrich Hofmann¹⁶⁹ nochmals geprüft und besonders durch genaue Untersuchungen des Wortschatzes weitgehend erhärtet worden. Bezüglich der Resultate kann hier auf diese Forschungen verwiesen werden. Ein paar auffallende Punkte sind aber auch hier hervorzuheben. Das Motiv der Schicksalsfäden, mit dem Helgakviða Hundingsbana I majestätisch anhebt, ist in der Edda sonst nur in Reginsmál 14 belegt. Das Bild war aber in England unter den Angelsachsen sehr verbreitet und scheint dort auf keltische Einflüsse zurückzugehen¹⁷⁰. Diese Vorstellung hatte auf nordischem Boden auch außerhalb der Edda eine deutliche Beziehung zu den Britischen Inseln. Die sogenannte Darraðarlióð, die in der Njálssaga¹⁷¹ überliefert sind, sind unmittelbar mit Irland verbunden. Das Lied beschreibt die Schlacht von Clontarf in der Nähe von Dublin im Jahr 1014. An dieser Schlacht waren Nordgermanen stark beteiligt. Gegen das irische Heer unter dem Hochkönig Brian Boru standen die nordischen Wikinger, angeführt von dem Wikingerkönig von Dublin, Sigtryggr silkiskegg, und dem Jarl Sigurðr von den Orkaden. Im Kampf fiel der irische Heerführer, aber auch 6000 Mannen aus Sigtryggs Heer, das damit die Schlacht verloren hatte. Sigtryggr herrschte in Dublin bis zu seinem Tod 1042, die Niederlage hatte aber der Macht der Wikinger in Irland ein Ende gesetzt und wurde in den irischen Annalen diesbezüglich auch besonders hervorgehoben. Auch die Nordgermanen haben die Schlacht lange im Gedächtnis behalten¹⁷², und die Darraðarljóð haben sie in grausamer Leibhaftigkeit veranschaulicht. Dieses Lied dürfte weder zeitlich, noch räumlich vom Kampf weit entfernt, in Irland

nur sein soziales Ansehen, sondern indirekt auch seinen rechtlichen Status bedroht. Das, was sie ausgelöst hat, war aber seine fjallferð, wo er sich bereit erklärt hatte, die Schweine zu hüten. 167 So wird Guðmundr in Helgakviða Hundingsbana I 32,1 goðborinn genannt. 168 Hierauf deuten die zahlreichen Bezeichnungen für edle Geschlechter hin: ynglingar (von YngviFreyr stammend), ylfingar, dǫglingar, siklingar usw. (z.  B. Helgakviða Hundingsbana I 2,3.  26. 33,7. 34,5. 36,3. 49,8. 55,3; II 4,14. 8,2. 13,8. 42,8. 47,4. 51,3). 169 Nordisch-englische Lehnbeziehungen; siehe unter den Liedertiteln. 170 Vgl. Hofmann, Nordisch-englische Lehnbeziehungen, § 139. Kuhn (Das Eddastück, 95) führt z.  B. Bēowulf 696  f. an: Ac him dryhten forgeaf wīgspēda gewiofu ‚aber der Herr (Gott) verlieh ihm das Gewebe des Kampfglücks‘. 171 Njáls saga 157, 454  ff. 172 In Njáls saga hat sie hauptsächlich die Bedeutung des Siegs der Christen über den Heiden erhalten; vgl. Allen, Fire and iron, 158  ff.

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oder auf den Orkaden entstanden sein¹⁷³. Was uns hier vor allem interessiert, sind die Bilder, die im Lied verwendet werden. Im Zentrum stehen das „Schlachtgewebe“ (sigrvefr), das „Gewebe des Speers“ (vefr darraðar) und die zwölf Walküren mit ihrem grausamen, eisernen Webstuhl, auf dem sie während des rasenden Kampfes spinnen. Dasselbe Wort vefr darraðar ist auch in Egils Hǫfuðlausn¹⁷⁴ belegt, die vielleicht die erste Anregung zu diesem Bild in den Darraðarljóð gab¹⁷⁵. Bemerkenswert ist, dass auch Egils Gedicht auf den Britischen Inseln (England) entstand, und zwar am Ende des 10. Jahrhunderts. Auch das Wort konr, das ja in der Rígsþula von erheblicher Bedeutung ist, lässt möglicherweise interessante Schlüsse über den Entstehungskontext der Rígsþula zu. Das Wort kommt in der Lieder-Edda nur acht Mal vor, dabei ist die Verteilung auffallend. Vier der Belege sind nämlich auf die Sigurðr-Dichtung bzw. auf die Helgilieder beschränkt¹⁷⁶. Sämtliche der übrigen vier Belege stammen aus der Rígsþula. Das Wort verbindet somit nicht nur die Helgi- und die Sigurðr-Dichtung miteinander, sondern scheint auch die Rígsþula zu dieser Gruppe zu stellen. Nach Kuhn und Hofmann könnte das Wort andeuten, dass diese Liedergruppe Beziehungen zu den Britischen Inseln hatte. Kuhn – dessen Belege später von Marold¹⁷⁷ ergänzt wurden – argumentiert, dass konr in der Skaldendichtung ursprünglich „nur im Mythus oder in der Verbindung mit mythischen oder sagenhaften Ahnen“ verwendet worden ist, während um 1000 sich der Gebrauch auf lebende Männer erweitert hat. Diese Verwendung sei dann vorzüglich unter den Skalden zu finden, die in besonders naher Verbindung mit Irland und England standen¹⁷⁸. Gunnlaugr ormstunga hielt sich eine Zeit lang in Irland auf. Seine Sigtryggsdrápa¹⁷⁹, in der der Endreim (Strophe 3) die irische Beeinflussung verrät, hat er auf Sigtryggr, den nordischen König von Dublin, gedichtet¹⁸⁰. Óttarr svarti, von dem zwei der Belege von konr stammen, dichtete die Knútsdrápa¹⁸¹ nach dem Eroberungszug Knúts des Großen

173 Vgl. de Vries, Altnordische Literaturgeschichte, § 111, der auch weitere Verbindungen des Lieds mit den Britischen Inseln anführt, ebd., 237. 174 Skj. A I, 35 ff; B I, 30  ff. 175 Siehe de Vries, Altnordische Literaturgeschichte I, 236  f. 176 Diese tragen a) die Bedeutung ‚Sohn‘, Reginsmál 13,2 konr Sigmundar (von Helgi), Reginsmál 14,3 Yngva konr, b) die Bedeutung ‚Mann‘, Helgakviða Hundingsbana I 23,7  f. Hefir þv kannaþa | koni onęisa? ‚Hast du der kühnen Männer Zahl erkundet?‘, Helgakviða Hjǫrvarzsonar 14,3 hve þic calla konir? 177 Die mächtige Nachkomme, 760  f. 178 Kuhn, Das Eddastück, 95. 179 Um 1002; vgl. Sigtryggsdrápa 1 (Skj. A I 194; B I, 185): konungmanna konr (von König Sigtryggr silkiskegg). 180 Vorher war der Skalde auch in London gewesen, wo er sein Gedicht auf König Æðelred, die Aðalráðsdrápa, vorgetragen haben soll. Hofmann, Nordisch-englische Lehnbeziehungen, § 40. 181 Um 1026; vgl. Knútsdrápa 3 (Skj. B I, 273): stillir konr (von König Knútr).

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nach England auf diesen König. Auch seine Hǫfuðlausn¹⁸² steht mit England in Verbindung, nämlich durch die Kämpfe Ólafs dort, die der Skalde in diesem Gedicht behandelt. Während der letzten Regierungsjahre desselben Königs – und vielleicht auch öfters¹⁸³ – befand sich auch Sigvatr Þórðarson¹⁸⁴ als königlicher Hofskalde in England¹⁸⁵; und Arnórr Þórðarsson, von dem ebenfalls zwei Belege stammen¹⁸⁶, hat wenigstens eine der Strophen, in denen das Wort konr vorkommt, dem Rǫgnvaldr gewidmet, d. h. dem Jarl auf den Orkadeninseln. Þjóðólfr¹⁸⁷ scheint den Norden erst kurz vor seinem Tod, während des Zeitraums 1000–1055, verlassen zu haben. Im Jahre 1066 begleitete er seinen König Haraldr harðrádi auf dessen Zug nach England. Da die Quellen von seinem weiteren Schicksal schweigen, ist es denkbar, dass der Skalde dort mit seinem Herrn fiel. Bemerkenswert ist schließlich, dass während das Wort konr zwischen den Jahren 1000 und 1070 sehr gut belegt ist, es danach nur mehr sehr spärlich verwendet wird¹⁸⁸. Wenn die Verwendung des Wortes mit einer mit den Britischen Inseln verbundenen Skaldenkultur zusammenhängt, dürfte dies kein Zufall sein. In demselben Jahr wie Haralds Niederlage bei der Schlacht von Stamford Bridge 1066 kam es, wie allgemein bekannt, zur schicksalsschweren Schlacht bei Hastings, die als der Endpunkt für die Zeit der Wikingerzüge angesehen werden muss. Damit waren auch die engen Verbindungen zwischen dem Norden und den Britischen Inseln abgebrochen.

182 Um 1023; vgl. Hǫfuðlausn 10 (Skj. B I, 269  f.): bragna konr (von Óláfr Haraldsson). 183 Die Quellen sind aber nicht eindeutig; siehe Hofmann, ebd., § 74. 184 Vgl. seinen flokkr auf Erlingr Skjalgsson (um 1028/29), Strophe 6 (Skj. B I, 228–30): bragna konr (von Óláfr Haraldsson). 185 Hofmann, ebd. 186 Rǫgnvaldsdrápa (um 1046), Strophe 2 (Skj. A I, 332; B I, 306): Heita konr ‚efterkommer af Heite‘ (wahrscheinlich Rǫgnvaldr Brúsason); und ein Fragment eines nicht näher bestimmten Gedichts aus dem 11. Jahrhundert (Nr. 2; Skj. A I, 354; B I, 326): Siklinga konr ‚Fyrsteætlingen‘. 187 Vgl. seinen Magnúsflokkr (um 1045), Strophe 6 (Skj. B I, 333.): Ellu konr ‚Ellas ætling‘ (von Magnús góði); und seine Haraldsdrápa runhenda (um 1055), Strophe 4 (Skj. A I, 368; B I, 338): haukstal[d]a konr (von Magnús góði). 188 Marold (Die mächtige Nachkomme, 760  f.) verzeichnet zwischen den Jahren 900 und 1000 vier Belege, zwischen 1000 und 1070 dagegen zehn. Danach kommt konr erst in Markús Skeggjasons Eiríksdrápa (um 1104!), Strophe 12 (Skj. B I, 416) vor (áttkonr Yngva). Von den bei Marold nicht verzeichneten Belegen will ich hier nur Stjǫrnu-Odds draumr 11 (Geirviðardrápa 6; Skj. A II, 209; B I, 224) aus dem 13. Jahrhundert erwähnen. Von einem Beleg in einer þula der Snorra-Edda (Snorra-Edda, ed. Finnur Jónsson, 201), in der konr unter verschiedenen manna heiti angeführt wird, sehe ich eher ab: Das Beispiel lässt sich wohl als einen Hinweis auf den Gebrauch in der älteren Dichtkunst, aber nicht unmittelbar als einen Beleg des um 1225 gegenwärtigen Gebrauchs verwenden. Dazu kommt ein Beleg aus einer sehr bruchstückhaften Strophe (27) des historisch angelegten Háttalykill, Mitte des 12. Jahrhunderts. Vom Beleg siklinga konr aus Merlínusspá II 33 (Skj. B II, 30) sehe ich ganz ab, da diese eine einen älteren Stil nachahmende Übersetzung eines auf Latein abgefassten Dichtwerks darstellt und daher zahlreiche Entlehnungen aus der älteren Poesie, unter anderem gerade aus den Helgiliedern, beinhaltet (siehe de Vries, Altnordische Literaturgeschichte, § 208, besonders S. 228 und 229, Anm. 3).

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Das für die Rígsþula bedeutende Wort konr scheint also zusammen mit anderen Argumenten auf einen gemeinsamen Entstehungskontext der Rígsþula, der Helgiund der Sigurðr-Dichtung zu verweisen. Dieser Kontext dürfte von den Britischen Inseln der Wikingerzeit, zunächst der Jahren 1000–1066, beeinflusst worden sein.

2.2.4 Bedeutung und Ursprung des Namens Rígr Dass unter den Eddaliedern besonders die Rígsþula mit Irland verknüpft worden ist, beruht wie gesagt in erster Linie auf dem Namen der Hauptfigur. Rígr pflegt als Lehnwort aus dem altirischen rí, casus obliquus ríg ‚Herrscher, (Klein-) König‘ (etymologisch = lateinisch rex, Genitiv regis ‚König‘) erklärt zu werden¹⁸⁹. Diese Herleitung stellt zwar nicht die einzige Möglichkeit dar¹⁹⁰, angesichts der anderen Vorschläge scheint sie aber die für den Kontext, in dem das altnordische Wort belegt ist, angemessenste Erklärung zu sein. Wenig überzeugend scheint mir z.  B. der Vorschlag Helgi Guðmundssons¹⁹¹, wonach (in Linie mit der späten Datierung von Sees) der Name direkt aus der gelehrten dänischen Tradition stammen soll. Das zugrunde liegende Wort sei laut Helgi Guðmundsson mit dem im Nordischen heimischen ríkr ‚mächtig‘ zu identifizieren. Eine etymologische Herleitung der Wörter aus einem gemeinsamen Ursprung ist lautgesetzlich freilich ausgeschlossen. Um 1100 war aber auslautendes -r im Dänischen weggefallen, und da Beispiele, in denen -k im Auslaut zu -g wird, aus derselben Zeit belegt sind, wäre die lautgesetzlich korrekte Form von altnordisch ríkr zu dieser Zeit dänisch *rīg. Als dieser Name nun nach Island kam, habe er die Kasusendung zurückbekommen. Diese umständliche Erklärung ist aber problematisch. Geklärt müsste jedenfalls zuerst die Frage werden, warum ein angeblich erst in der gelehrten Tradition entstandener Gott für seine ihm dort zugeschriebene Rolle den wenig aussagenden Namen ‚der Mächtige‘ bekommen hätte.

189 So schon IED, s. v. „Rígr“; Olrik, Nordisk Aandsliv, 57; A. Bugge, Vestfold og Ynglingeætten, 450  f. Danach mehrere Hrsg. und Interpreten, siehe Dillmann, Rígsþula, 623. Meißner (Rígr, 127) bezeichnete die Herleitung als zu seiner Zeit „allgemein anerkannt“. 190 Seit Langem aufgegeben ist die Etymologie J. Grimms (Deutsche Mythologie I, 194) zum Personennamen Iring in Iringesstrāza, Iringes uuec usw. ‚via secta‘, was dann wieder mit dem schwedischen Eriksgata (und Riksgata), dem Weg, den die Könige im Mittelalter reiten mussten, um die Anerkennung des Volkes zu bekommen, zusammenhängen sollte (ebd., 297  ff.). Wer dann dieser „vergötterte König“ sei, wäre unverkennbar, denn „auf grünen Wegen“ schreitet ja auch Rígr, was der „irdische[–] name[–] des gottes Heimdallr“ sein soll (299). – Auch die Herleitung zu griechisch-byzantinisch ῥήξ, ῥηγός kann hier außer Acht gelassen werden. 191 Um haf innan, 316.

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Einleuchtender ist eine Erklärung von Richard Cleasby und Guðbrandur Vigfusson, die schon 1874 zu dem Substantiv rígr die Bedeutung ‚stiffness‘¹⁹² angeführt hatten. Freilich ist das altnordische Substantiv so erst spät belegt¹⁹³, vermutlich gehört es aber etymologisch mit dem Verb reigjask ‚gjøre et Kast med Nakken‘¹⁹⁴ zusammen, was eigentlich ‚den Nacken steif, steil machen‘, ferner bildlich ‚hart (im Gemüt) werden‘ bedeutet (vgl. den Wechsel zwischen Verben in Sturlunga sögur II, 182, svá reigðist ~ harðnaði talit sem þeir höfðu lengr talat). Beide Wörter gehen wohl auf ein verlorenes Verb zurück, das seinerseits zu lateinisch rigidus ‚starr, steif‘, altirisch riag ‚Tortur‘ (indogermanisch *reig- ‚strecken, festbinden‘ usw.) gehört¹⁹⁵. Rudolf Much nahm diese Herleitung von Rígr auf: Obwohl der Dichter des überlieferten Lieds den Namen sekundär mit dem Herrschertitel verbunden habe, sei das Wort im Sinn von ‚Steifheit‘ ursprünglich auf Rígs Rolle in der Rígsþula (und, laut Much, auf Heimdalls Rolle im Allgemeinen) als „Erzeuger“ bezogen¹⁹⁶. Der Vorteil dieser Etymologie ist, dass man den Ursprung des Worts nicht in einer Entlehnung aus einer fremden Sprache suchen muss: „þar er ekki leitað langt yfir skammt“, wie Helgi Guðmundsson¹⁹⁷ bemerkt. Auch mit dieser Deutung wird aber vielleicht „zu weit weg“ gesucht. Geht man nämlich zum Lied selbst zurück, so zeigt sich, dass die Rígsþula durchgehend das Muster aufweist, Bezeichnungen aus dem Bereich sozialer Strukturen, aus dem Familienkreis, wie Faðir und Móðir, bis zum politischen Leben, wie Jarl und *Konungr, als Eigennamen ihrer Hauptpersonen zu verwenden. Aus dieser Perpektive wäre es selbstverständlich und sogar zu erwarten, dass auch Rígr – ein Name, der, genau wie Jarl, im Lied gleichsam wie ein Titel vererbt wird – demselben Bereich angehören sollte. Als Titel scheint übrigens schon der Verfasser der Skjǫldunga saga den Namen angedeutet zu haben, seinerseits aber in gelehrter Weise von lateinisch rex, Genitiv regis ausgehend¹⁹⁸. Nach einer „ursprünglichen“, „mythologischen“ Bedeutung des Namens vor seinem Auftauchen in diesem Zusammenhang zu suchen, scheint methodisch wenig befriedigend, denn der Name ist ausschließlich in Texten belegt, wo Rígr in Verbindung mit der Einführung des Königtums verwendet wird.

192 Z. B. bak-, herða-, hálsrígr ‚stiffness in the back, shoulders, neck‘, vgl. die Komposita rígbinda ‚festbinden‘, ríghalda ‚festhalten‘ usw. = lateinisch rigor. 193 Maríu saga 484, reglunnar [des Klosters] rigr fýsir, at hann flýi. Vgl. dazu neuisländisch rígur ‚Steifheit‘. – de Vries (AEW, s. v. „rigr“ – mit kurzem Vokal!), hält neben der Etymologie zu altnordisch reigjask eine Herleitung zum afrz. rigour für möglich. 194 Frz., s. v. 195 Vgl. altnordisch riga ‚hreyfa með erfiðismunum‘, ursprünglich ‚vera stífur‘, was zu einer Bedeutung ‚að reika eða sveiflast stirðlega‘ geführt haben soll. ÁBM, s. v. „riga“. 196 Much, Der nordische Widdergott, 66. Eine ähnliche sekundäre Verknüpfung mit altirisch rí dachte sich Dronke (Eddic poetry, 671): in der Bedeutung von altnordisch *rígr ‚stiffness‘ würde der Name auf Heimdalls von Dronke erdachten Charakter als Weltenbaum anspielen, in der Bedeutung von altirisch rí(g) würde er die Erschaffung des Königtums in der Rígsþula andeuten. 197 Um haf innan, 316. 198 Skjǫldunga saga 6, 9: qvi deinde Regis titulo in sua illa provincia acqvisito.

Die Rígsþula als Quelle 

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Die Herleitung von Rígr aus altirisch rí ‚(Klein-) König‘ scheint deshalb aus dem Kontext heraus berechtigt zu sein. Eine andere, wenn auch verwandte Frage ist, wann ein altirisches rí ins Altnordische entlehnt wurde¹⁹⁹. Denn das altirische Wort an sich muss ja nicht automatisch eine frühe Entlehnung voraussetzen²⁰⁰. So behauptete Klaus von See in einem Artikel aus 1957²⁰¹, der Name Rígr sei irischer Herkunft, nahm aber gleichzeitig die Behauptung Andreas Heuslers²⁰² wieder auf, der Dichter der Rígsþula (laut von See nach 1247 entstanden) habe die Bedeutung des Namens (‚König‘) nicht mehr gekannt, denn „der Königsname sollte ja erst mit dem Auftreten des Jarl-Sohnes [Konr ungr =

199 Das altirische Wort rí ist auch an anderer Stelle in der altnordischen Überlieferung bewahrt. Jóns saga biskups, die das Leben von Jón Ǫgmundarson (1052–1121), Bischof von Hólar, behandelt, wurde um 1200, wahrscheinlich vom isländischen Gelehrten Gunnlaugr Leifsson, auf Latein geschrieben, ist aber nur auf Altnordisch bewahrt. In c. 14 (Handschrift B nach Gunnlaugr munk, Biskupa sǫgur I) wird von einer Reise des Königs Magnús berfǿtt, des letzten nordischen Königs, der ein Versuch machte, neue große Herrschaftsansprüche auf den westlichen Inseln (den Färöern, der Insel Man, den Inseln westlich von Schottland) zu erheben, berichtet. Mit auf dieser Reise war unter anderen der Isländer Gísli. Die Saga erzählt: En þar var einn norrænn maðr í förum með þeim, kvezt kunna val írsku, ok bauðst til at kveðja konúnginn, en Gísli lofaði honum. Síðan mælti hann til konúngs: „male diarik“ [= -ríg], en þat er á vora túngu: „bölvaðr sért þú, konúngr!“ – þá svaraði einn konúngs maðr: „herra“! segir hann, „þessi maðr man vera þræll allra Norðmanna“. Konúngr svarar: „olgeira ragall“, þat er á vora túngu: „ókunnig er myrk gata“. Konúngrinn var val við þá. Magnús konúngr herjaði síðan á Írland. Die Stelle zeigt, dass die Isländer um 1200 wenigstens die Vorstellung hatten, dass es einhundert Jahre früher „norrænir menn“ gegeben hatte, die Irisch beherrscht hatten, – obwohl, wie der Autor offensichtlich meint, nicht immer fehlerlos. Der Autor verriet dazu unabsichtlich, dass er auch selber die fremde Sprache nicht verstanden hat: Olgeira ragall fasst er als Irisch auf und übersetzt es in diesem Zusammenhang nicht unpassend mit ‚ókunnig er myrk gata‘. Das bedeutet aber auf Altirisch weder *olgeira ragall noch etwas Ähnliches. Wahrscheinlich hat der isländische Autor den Ausdruck aus einer älteren Tradition übernommen, in der er noch verständlich war; in diesem Fall ist natürlich mit Verstümmelungen zu rechnen. Walsh (Scandinavian relations, 45, Anm. 2) transkribiert den Ausdruck olc aer adh ra gall und übersetzt: ,It is a bad thing to be cursed by a Norseman‘. Die linguistischen Gründe seiner Interpretation erörtert Walsh nicht, das Vorkommen von olc ‚bad‘, vielleicht olc aer ‚schlimm [ist] der Spott‘, und Gall ‚a foreigner‘, insbesondere ‚a Scandinavian invader‘ (DIL, s. vv.) scheint aber zu bestätigen, dass der Satz im Zusammenhang ursprünglich sinnvoll war. Ich bin dankbar für die Mitteilung Patricia Ronans (Department of English, Celtic section, Uppsala Universität; 3. Jan. 2008), dass diese Übersetzung eine (spät-) mittelirische (um 1050–1200) Version voraussetzt. Dies würde mit der Regierungszeit des Magnús berfǿtt (1093 und 1103) ausgezeichnet zusammenpassen. 200 Anders aber Turville-Petre, Rezension. 201 von See, Das Alter der Rígsþula. 202 Heimat und Alter, 274.

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konungr] erscheinen“²⁰³. Wo der Name in der gelehrten Tradition des frühen 13. Jahrhunderts auftaucht, sei er dagegen noch klar und durchschaubar gewesen: hier tritt Rígr (Rigus) als der erste auf, der den Königstitel trägt. Die in Betracht kommenden „gelehrten“ Quellen sind die Skjǫldunga saga und Snorris Ynglingasaga. Die Skjǫldunga saga handelt vom dänischen Königsgeschlecht der Skjǫldungar und listet zwanzig Könige auf, von Óðins Sohn Skjǫld bis zu Gormr inn gamli. Die „Saga“ basiert auf einer Familienstammtafel aus dem 12. Jahrhundert, die dem Geschlecht des isländischen Hofes Oddi gehörte²⁰⁴, welches seiner eigenen Anschauung nach von den Skjǫldungar abstammt. Vielleicht wurde die Saga von dem von Oddi stammenden Bischof Páll Jónsson von Skálholt (gest. 1211) geschrieben. Ausgenommen einiger Fragmente, überliefert in mehreren anderen Quellen, ist die ursprüngliche Skjǫldunga saga verloren gegangen, doch ein Teil davon ist in Arngrímur Jónssons auf Latein verfassten Rerum Danicarum fragmenta, das dieser im Jahre 1590 im Auftrag des dänischen Geschichtschreibers Niels Krag zusammengestellt hat, bewahrt worden. In diesem Werk steht zu lesen, dass ein „nicht unbekannter“ Rigus einst den Königstitel, Regis titulus, in seiner Provinz gewann. Danach heiratete er die Tochter von Danprus, Dana, und gebar mit ihr den Sohn Dan, nach dem die Dänen benannt sind: Rigus nomen fuit viro cuidam inter magnates sui temporis non infimo. Is Danpri cujusdam, domini in Danpsted, filiam duxit uxorem, cui Dana nomen erat; qvi deinde Regis titulo in sua illa provincia acqvisito, filium ex uxore Dana, Dan sive Danum, hæredem reliqvit; cujus Dani paternam ditionem jam adepti subditi omnes Dani dicebantur²⁰⁵.

Snorris Ynglingasaga hat eine ähnliche Erzählung bewahrt: Móðir Dyggva var Drótt, dóttir Danps konungs, sonar Rígs, er fyrstr var konungr kallaðr á danska tungu. Hans áttmenn hǫfðu ávalt síðan konungsnafn fyrir it œzta tígnarnafn. Dyggvi var fyrstr konungr kallaðr sinna ættmanna, en áðr váru þeir drótnar kallaðir, en konur þeira drótningar, en drótt hirðsveitin. […] Drótt drótning var systir Dans konungs inn mikilláta, er Danmǫrk er við kend²⁰⁶.

Beide Erzählungen enthalten gemeinsame Züge. In beiden scheint es wichtig gewesen zu sein, dass Rígr den Königstitel (rex bzw. konungr) getragen haben soll, und in beiden wird er genealogisch mit dem ἥρως ἐπώνυμος von Dänemark verbunden. Vielleicht kann man auch annehmen, dass Saxo Grammaticus – ein dritter „gelehrter“

203 von See, Das Alter der Rígsþula, 86. Vgl. F. R. Schröder, Heimdall, 33: Es sei „befremdlich“, dass Rígr bereits Jarl seinen Namen verleiht: erst Konr ungr sollte Rígr heißen. „Der Sinnzusammenhang von Rígr und konungr ist dadurch jedenfalls zerstört.“ 204 Dies und das Folgende nach Bjarni Guðnason, Skjǫldunga saga. 205 Skjǫldunga saga 6, 9. 206 Ynglinga saga 17, 14.

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Autor – um 1200 zumindest Teile derselben Tradition kannte. Jedenfalls sagt er in seiner Gesta Danorum (I,I,1), Dan und Angul, die ersten Herrscher Dänemarks, seien ohne den Königsnamen (regii nominis) geblieben, „dessen Verwendung damals bei unseren Landsleuten noch nicht durch das Gewicht der Gewohnheit üblich geworden war“ (cuius usum nulla tunc temporis apud nostros consuetudinum frequentabat auctoritas). In dieser Tradition war also konungr (rex) der Titel, Rígr (Rigus) dessen erster Träger. In der Rígsþula sind ganz umgekehrt Jarl und Konungr Träger des Titels Rígr. Auch Edith Marold machte auf den „erstaunlichen Befund“ aufmerksam, dass das Wortspiel „Konr ungr = konungr“ in der Rígsþula nicht zum Tragen komme, da ja hier Rígr als Titel verwendet werde²⁰⁷. Dies deutet sie jedoch, im Unterschied zu von See, so, dass die gelehrte Tradition jünger, die Rígsþula älter sei, weil rí nämlich im Altirischen gerade ein Titel, und kein Name sei²⁰⁸. Damit wird aber nicht erklärt, warum schon Jarl den „Titel“ Rígr trägt, wenn dieser später den „Kon-ungr“ auszeichnen sollte. Man muss meines Erachtens Heusler und von See zustimmen. Der erste menschliche Träger des Namens Rígr in der Rígsþula ist Jarl. Für Konr, der freilich auch den Namen trägt, hat der Gott keine Bedeutung mehr. Konr wird nicht wie Jarl als das Ebenbild des göttlichen Gründers der sozialen Ordnung dargestellt, sondern geht als eine vierte „Schicht“ über die dreigliedrige Ordnung der Gesellschaft hinaus. Wie Rudolf Meißner schon 1933 bemerkte²⁰⁹, dürfte man somit sagen können, dass Rígr in der Rígsþula nicht die Funktion des Königstitels, vielmehr die der Königswürde hat, die Jarls ætt dazu fähig macht, einen „Kon-ungr“ hervorzubringen. ‚König‘ „bedeutet“ Rígr in der Rígsþula jedenfalls nicht, denn Jarl kann nicht als ein König gesehen werden. Eher ist er ein Häuptling, der schon dann als mächtig erscheint, wenn er allein über achzehn Höfe gebietet (Reð hann einn at þat | ꜳtiꜳn buum, Rígsþula 38,1  f.). Er ist, kurz gesagt, ein „Jarl“. Allein, auch in Irland wurde rí nicht schlechthin in der Bedeutung ‚König‘ oder ‚Großkönig‘ verwendet. Das ist ein altes Missverständnis in der Forschung, auf das schon Alexander Bugge²¹⁰ aufmerksam gemacht hat. In Wirklichkeit hat rí die ganze Reihe der Herrscher-Bezeichnungen, bis zu den verschiedenen Kleinkönigen und Häuptlingen (z.  B. rí tuath ‚König der Stämme, Fürst‘) abgedeckt. Diese rí unterstanden in Irland jeweils vier oder fünf Provinzkönigen (rí ruirech), die ihrerseits wiederum Ansprüche geltend machen konnten, der eigentliche König Irlands, der ard-rí ‚Hochkönig‘ zu sein²¹¹.

207 Marold, Die mächtige Nachkomme, 766. 208 Ebd., 770. 209 Meißner, Rígr, 128. 210 Vestfold og Ynglingeætten, 450  f. mit Anm. 4. 211 Tölle, Im Irland der Hochkönige, 96. Vgl. A. Bugge, Vestfold og Ynglingeætten, 450 und DIL, s. v. Altirische Glossen listen sowohl ‚rex‘ als ‚princeps‘ (ebd.).

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Es geschieht also in völliger Übereinstimmung mit der altirischen Bedeutung, wenn Jarl, nicht Konr, in der Rígsþula als das Ebenbild Rígs auftaucht und seinen Namen bekommt. Rígr ist im Einklang mit rí nicht der Königstitel schlechthin; diesen trägt ja übrigens schon Konr ungr in seinem Namen. Was mit dem Namen Rígr von Jarl (vgl. altirisch rí ruirech ‚Provinzkönig‘) an Konr (vgl. altirisch ard-rí ‚Hochkönig‘) vererbt wird, ist vielmehr die realisierte Anwartschaft der „edlen“ ætt auf die Königswürde²¹². Das ist der hochmittelalterlichen Erbmonarchie ziemlich fremd²¹³, stimmt aber mit der Bedeutung des sprechenden Namens Konr ungr – eigentlich ‚der junge Sprössling‘ – gut überein, wie auch mit der Tatsache, dass die Nachkommen Jarls in der Rígsþula alle Namen tragen, die ‚Sohn‘ oder ‚Nachkomme‘ bedeuten: Der König (Konr ungr) sei nur ein Zweig, ein „Spross“ (konr) des edlen Stammbaums. In der Nacherzählung des Mythos in der Heimskringla und der Skjǫldunga saga dagegen wird Rígr oder Rigus direkt als der Träger des Königstitels verstanden²¹⁴. Das entspricht nicht notwendigerweise altirisch rí, stimmt aber genau mit der gelehrten aber freilich sprachgeschichtlich unmöglichen Etymologie überein, die im Wechsel in der Skjǫldunga saga Rigus : Regis explizit gemacht wird, vgl. Skjǫldunga saga 6, 9: qvi [nl. Rigus] deinde Regis titulo in sua illa provincia acqvisito. Aus dem Herrschertitel (rí, Rígr) wurde der erste König (rex Rigus, konungr Rígr). Im Unterschied zu von See meine ich folglich, dass die Rígsþula die historisch richtigere und deshalb wahrscheinlich ältere Bedeutung des Namens Rígr beinhaltet. Wenn die Rígsþula die ältere Quelle war, scheint es aber bemerkenswert, dass die beiden historischen Quellen den „Mythos“ der Rígsþula – d. h. den einleitenden Teil über den Gott Rígr²¹⁵ und die Dreiteilung der Gesellschaft – ausgelassen haben. Das würden die Schreiber der historischen Quellen wohl – wie von See bemerkt hat – nicht gemacht haben, wenn sie den Mythos gekannt hätten²¹⁶. Doch diese Folgerung ist nicht so sicher. Die Skjǫldunga saga hat ja zum Ziel, die Geschichte des

212 Vgl. Meißner, Rígr, 128. 213 Man vergleiche eher mit Tacitus, Germania 7,1: Reges ex nobilitate […] sumunt (was dem gegenübergestellten duces ex virtute sumunt entspricht). Dass das Blut nach der Rígsþula jedoch nicht alles war, wie im Hochmittelalter, zeigen die Prüfungen, denen sich Konr ungr unterziehen muss. Zum Blut kommt die individuelle Leistung; vgl. Bagge (Old Norse theories, 36): „Rígsþula thus gives the same impression as the sagas, that ‚noble blood‘ is not important in itself but is a means to produce people who have the right qualities. Both in the sagas and in the Rígsþula there seems to be a compromise between heredity and personal achievement to the effect that commoners or lowborn people cannot rise to aristocratic status […] but that rank within the aristocratic class is mainly determined by personal qualities and achievement“ (ebd., 36  f. Hervorhebung vom Verf.). 214 Vgl. die folgende Fußnote. 215 Rígr (Rigus) tritt in der gelehrten Tradition nur in der entsprechenden Rolle des Rígr Konr ungr, als Träger des Königstitels, auf. Weder bei Snorri noch bei Arngrímur gibt es einen Hinweis auf den mit dem Gott Rígr verbundenen Mythos; der Gott ist einfach ausgeblendet. Die Wörter viro cuidam der Skjǫldunga saga (6, 9) machen klar, dass es sich bei Rigus um einen Menschen handelt. 216 von See, Das Alter der Rígsþula, 88  f.

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Skjǫldunggeschlechts und dessen Abstammung gemäß der Tradition bis auf Óðinn zurückzuführen. In diesem Zusammenhang würde aber das Auftauchen des sonst unbekannten Gottes Rígr als mythologischem Stammvater die Ordnung nur stören. Das Ende der Rígsþula dagegen ließ sich für den Zweck des Verfassers, dem Stammbaum der dänischen Skjǫldungar eine ehrenvolle Vergangenheit zu geben – hier durch die Verknüpfung mit dem ersten (dänischen) „König“, – gut gebrauchen. Dagegen scheint es mir möglich, dass Snorri die Rígsþula wirklich unbekannt war. Zwar lassen die Namen, die die Snorra-Edda besonders in den þulur und den sogenannten „úkend heiti“ in einer Version der Handschrift W²¹⁷ mit der Rígsþula teilt, weder auf eine Abhängigkeit Snorris von der Rígsþula noch umgekehrt mit Sicherheit schließen²¹⁸. Doch dass Snorri in seiner Gylfaginning Rígr nicht erwähnt, könnte bedeuten, dass er die Rígsþula nicht kannte. Die Skjǫldunga saga hingegen kannte er und er mag den Mythos auch daraus übernommen haben. Die Umstellungen des Stammbaums in der Heimskringla lassen sich einfach erklären. Hier spielten ja die Skjǫldungar eigentlich keine Rolle. Snorri will Rígr mit den Ynglingar, dem bedeutendsten Geschlecht seines Werkes, „verwandt machen“, und hat deshalb eine Drótt als Dans Schwester in den Stammbaum eingefügt; ihr Mann und ihr Sohn sind die Ynglingar Dómar bzw. Dyggvi. Snorri hatte aber keinen Grund, die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Danr, Danpr und Rígr (Rígr ist der Vater von Danpr, Dans Vater) aufzulösen, da die Namen Danr und Danpr wegen des Stabreims mit seinem Ynglinga-Geschlecht²¹⁹ sehr gut harmonierten. Wenn Snorri die Rígsþula nicht kannte, bedeutet dies jedoch nicht, dass die Rígsþula zu Snorris Zeit noch nicht existiert haben kann. Wie Thomas D. Hill bemerkt hat: „It is no wonder that this myth was not widely popular among Icelanders, who had no native aristocratic class and who believed that their native land had been settled by free men and women who fled Norway because they refused to submit to the political authority of Harald hárfagr, the first Norwegian king“²²⁰. Die Rígsþula mag mit anderen Worten in Island keine Funktion gehabt haben, sie mag sogar mit jedem politischen Projekt unvereinbar gewesen sein. Besonders die Abwesenheit der Königsmacht auf Island, ja, die Verstimmtheit der Isländer gegenüber dem Königtum, die eine Folge der Ansprüche der norwegischen Könige auf die politische Oberhoheit war, dürfte einen Mythos wie den der Rígsþula auf der freistaatlichen Thule

217 Die úkend heiti, die aus ihrem Zusammenhang mit den übrigen Handschriften herausgerissen, am Ende der Skáldskaparmál stehen und im Verhältnis zu diesen Handschriften stark umgearbeitet worden sind, wurden wahrscheinlich erst in W, also um 1350 eingefügt. In W beginnt der Abschnitt (Wb = W, 103–12) nach der Rígsþula auf S. 167 der Originalhandschrift und enthält eine direkte Referenz zur Rígsþula (W, 104: þræla heití standa [!] í Rígsþulu), was zeigt, dass der Autor die Rígsþula gekannt und von Anfang an geplant hat, diese in seiner Handschrift einzufügen. 218 Eine Zusammenstellung der „verwandten“ Stellen findet sich in Edda, ed. von See III, 511  f. 219 Der Vater des mit Drótt verheirateten Dómar war Dómaldi, Dyggvis Sohn hieß Dagr. 220 Hill, Rígsþula, 81.

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unmöglich gemacht haben. Nur für die vermeintlichen isländischen Nachkommen der Skjǫldungar konnte das Lied – oder ein Teil davon – eine Funktion haben. Dass die Rígsþula ihren elaborierten Mythos umgekehrt aus der prosaischen Anmerkung der (referierten) Skjǫldunga saga (qvi deinde Regis titulo in sua illa provincia acqvisito) übernommen hätte, ist wenig glaubhaft²²¹. Die Überlieferung deutet folglich an, dass ein Mythos, in dem Rígr den Königstitel einführt, wenigstens zur Zeit der Entstehung der Skjǫldunga saga am Ende des 12.  Jahrhunderts existiert haben muss, obwohl die gelehrte Tradition den Mythos für ihre eigene politische Zwecke umgearbeitet und umgedeutet hat. Gehört also der Mythos der Rígsþula entstehungsgeschichtlich in eine ältere Zeit als die gelehrte Spekulation des isländischen Hochmittelalters, wird man in den wikingerzeitlichen Kolonien auf den Britischen Inseln Hinweise dafür finden können, warum der Name Rígr als Bezeichnung für den göttlichen Protagonisten des Lieds gewählt wurde. Eine solche Suche sollte nicht vergebens sein. Zwar war auf Irland der Anspruch auf den oben erwähnten Titel ard-rí in Wirklichkeit mehr ideologisch-rhetorisch als eine machtpolitische Realität²²². Als ideologische Realität, die vom Anfang an, mit den christlichen Reichsbildungen auf dem Kontinent als Vorbild, im Dienste der Reichseinigung stand, bekam der Titel jedoch fast mythische Dimensionen. Nur einmal in der irischen Geschichte gelang es einem Mann – dem schon oben erwähnten legendären Brian Boru –, diesen Mythos zu verwirklichen. Für diesen Zusammenhang scheint es nicht unbedeutend, dass dies gerade zu einer Zeit geschah, in der die nordischen Wikinger seit Langem in die politische Geschichte Irlands tief verwickelt waren: in den Jahren um 1000. Erst nach mehreren blutigen Auseinandersetzungen mit den Wikingern, vor allem mit Sitriuc = Sigtryggr von Dublin – den Gunnlaugr ormstunga in einer drápa übrigens als konungmanna konr bezeichnet²²³  –, war es Brian Boru gelungen, sich zuerst als Oberkönig von Munster und später als ard-rí von Irland zu behaupten (1006). Seine Macht, die auch jetzt nicht uneingeschränkt war und durch Heiratsverbindungen mit den Dubliner Wikingern gesichert werden musste, fand jedoch nach etwa einem Jahrzehnt mit der Schlacht von Clontarf 1014, in der sich das irische Heer nochmals gegen die nordischen Wikinger stellte, ein schnelles Ende²²⁴. Ohne Zweifel müssen aber der durch die mit ihm verknüpfte Machtfülle stark beeindruckende Titel sowie die noch große politisch-militärische Bedeutung des irischen Hochkönigs einen beträchtlichen Eindruck auf Brians nordische Antago-

221 Ähnlich Turville-Petre, Rezension, 255. 222 Vgl. Tölle, Im Irland der Hochkönige, 96b. 223 Sigtryggsdrápa 1 (Skj. B I, 185). 224 Nachdem Brian die südlichen Ui Néill besiegt hatte, teilte er im Jahre 997 die Herrschaft über Irland zwischen sich und dem König der nördlichen Ui Néill, Máel Sechnaill, auf; kurz nach 1000 beherrschte er folglich große Teile der Insel. Neue Auseinandersetzungen entstanden aber um 1012 durch den Aufstand Máel Sechnaills, die in der obengenannten Schlacht von Clontarf 1014 kulminierten, in der Brian Boru fiel. Tölle, Im Irland der Hochkönige, Kap. 3.

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nisten gemacht haben. Niemals vor- oder nachher hatte ein ard-rí eine derartig große Macht gehabt. Dass diese Umstände in der nordischen Tradition Spuren hinterlassen haben, ist nicht weiter erstaunlich. Von den Kämpfen 910–1016 haben viele Nordgermanen Bilder der Grünen Insel mit nach Hause getragen und den Ihren vermittelt²²⁵. Wenn der Mythos der Rígsþula eine Beziehung zu den Britischen Inseln aufweist, dann scheinen folglich die Jahrzehnte nach 1000 eine Zeit gewesen zu sein, die besonders gut geeignet war, ein Vorbild für den altwestnordischen Rígr zu liefern: die Entwicklung des irischen Einkönigtums und die Ansprüche Brian Borus’, der Großkönig, der ard-rí von Irland zu sein.

2.2.5 Die Formulierung einer sozialen Ideologie Andreas Heusler warf einst die Frage auf, woher die Sozialstruktur der Rígsþula gekommen wäre. Denn in den altwestnordischen Gesetzen erschiene weder karl noch jarl als rein funktionelle Standesbezeichnung, und in der Realität seien bœndr und hǫldar bzw. hersar und jarlar immer unterschieden, und nie als „Gemeinfreie“ und „Adel“ zusammengefasst worden²²⁶. Neben dieser Frage nach dem Ursprung der Standesbezeichnungen bestand immer auch das Problem des Ursprungs der in der Rígsþula so anschaulich thematisierten Dreiteilung der Sozialordnung. Auf diese Problemstellungen soll hier, als ein letztes Argument zu Alter und Heimat der Rígsþula, kurz eingegangen werden. In der älteren Forschung wurde die Rígsþula immer wieder als Beleg für eine uralte Gesellschaftsstruktur herangezogen. So entschloss sich P. A. Munch, in seinem Werk zur „Geschichte des norwegischen Volkes“ („Det norske folks historie“, 1852) das Lied als Ganzes zu zitieren, da es nach seiner Meinung eine ursprünglich gemeingermanische soziale Ordnung bewahrt habe²²⁷ (es ist unnötig zu sagen, dass die

225 So ist die Eiríksdrápa des Þórðr Kolbeinsson, der auch selbst in England verstarb, auf britischem Boden entstanden; Hofmann, Nordisch-englische Lehnbeziehungen, § 62. Vgl. auch oben zur Schlacht von Clontarf, die den Höhepunkt des Endes der Njáls saga ausmacht. 226 Heusler, Heimat und Alter, 278. Heuslers eigene Antwort auf die Frage war, dass die soziale Ordnung der Rígsþula eine historisierende Rekonstruktion einer angeblich älteren Sozialordnung ist, geschaffen aus der Terminologie der Dichtung heraus. Die Auffassung der Rígsþula als gelehrte Rekonstruktion wurde aber von mir bereits oben abgewiesen. 227 Munch, Det norske Folks Historie, 104–12. Schon 1842 verwies J. Grimm (Ungleiche kinder Evas) auf eine im 16. Jahrhundert in Deutschland verbreitete Geschichte, in der in verschiedenen Versionen erzählt wird, dass Gott seinen Besuch bei Adam und Eva angekündigt hatte. Ihre hässlichen Kinder oder die, die sie nicht mehr waschen konnten, weil die Zeit zu knapp war, verbargen Adam und Eva im Heu oder im Ofenloch. Als Gott kam, segnete er die schönen Kinder und sagte, Abel solle Priester, Seth König werden. Als Eva sah, welch hohe Stände sie zugeteilt bekamen, holte sie auch ihre hässlichen Kinder heraus. Dann sprach Gott das Benedicte auch über sie und machte Kain und seine Brüder zu Knechten und Mitgliedern der niedrigen Volksschicht. Grimm wollte in dieser Geschichte ein

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Datierungsfrage damit an Bedeutung verliert). Auf welche Zeit seiner Meinung nach diese Ordnung zurückging, lässt sich aus Munchs Werk nicht ablesen, denn die kontinentalgermanische Geschichte hat ihn nicht beschäftigt; andere meinten aber, dass sie auf die erste Einwanderung der Germanen verweisen würde, da ja die Gegenüberstellung des hellen, blonden Jarl und Karl mit dem schwarzhäutigen, rauhen Þræll deutlich einer „nationalen Verschiedenheit“ Ausdruck gebe und die „Unterjochung eines schwächeren Volkes durch ein stärkeres“ darstelle²²⁸. In der neueren Forschung ist man natürlich vorsichtiger, in der Rígsþula das Fossil einer altgermanischen Sozialstruktur zu sehen, obwohl es an Tendenzen in diese Richtung nicht fehlt²²⁹. Es hat aber auch später Forscher gegeben, die hinter der Struktur der Rígsþula eine ältere Entstehungszeit vermutet haben. Zu diesen gehören der französische Religionsgeschichtler Georges Dumézil²³⁰ und seine Nachfolger²³¹. Nach Dumézil²³² enthält die Rígsþula nämlich eine im Grunde indogermanische soziale und mythologische Ordnung (Dumézil spricht auch von einer „Theologie“ oder „Ideologie“), die laut der von ihm in mehreren Werken²³³ vorgelegten Theorie in drei „Funktionen“ (fonctions) gegliedert gewesen sei: der Funktion 1. der Herrschaft (magisch-juridisch, Priester-König), 2. des Krieges und 3. der Fruchtbarkeit (Bauern). Diese seien ferner mit verschiedenen Farben (1. Weiß, 2. Rot, 3. Dunkelblau) assoziiert worden, worauf

uraltes, mit Heimdallr zusammengehörendes germanisches Erbe erkennen; wahrscheinlich handelt es sich aber um eine selbständige Erklärung des Ursprungs der Stände und eine lose Anknüpfung an Genesis 4, in der der Ursprung des Ackerbaus, der Viehhüter usw. als Nachkommen Adams und Evas zu erklären versucht wird. 228 So Fuchs, Rīgs-Mal, 153. 229 Vgl. z.  B. Gurevič, À propos des interprétations (2006), besonders S.  80  f.: „Autrement dit, la Rígsþula est un reflet d’un ordre social archïque et préféodal, indépendamment du degré de sa conservation en Scandinave au moment de la naissance ou de la rédaction du poème“ (die Hervorhebung stammt vom Verf.). Auch hier wird also die Frage der Datierung unwichtig; die Ursprünge des Inhalts verlieren sich in einer unbestimmten Urzeit. 230 Siehe vor allem Dumézil, La Rígsþula. Im Jahr 1982 kehrte Dumézil in seinen Forschungen zur Rígsþula zurück (Apollon sonore, 225) und meinte, in seinem Artikel von 1958 ein Problem übersehen zu haben, und zwar die Rolle von Rígr in der Gesellschaftsstruktur des Liedes. Jetzt vertrat er die These, der Träger des germanischen Königstitels Konr ungr stehe für das germanische Königtum (Dumézils erste „Funktion“, siehe unten), der Träger des ursprünglich altirischen Namens Rígr dagegen repräsentiere die (nach Dumézils Interpretation) Rolle des keltischen Königs, der außerhalb von Dumézils Funktionsschema stehe (vgl. Rígr als Vater aller Stände). 231 Eine der jüngsten kritischen Edda-Ausgaben widmete Dumézils These (besonders der Farbensymbolik, siehe unten) mehrere zustimmende Seiten (Edda, ed. Dronke II, 187  ff.). Eher zustimmend äußert sich auch Schmitt in seiner Übersicht aus dem Jahr 1985 (Dumézilsche Dreifunktionentheorie, 276  f.), und Näsströms Lehrbuch altnordischer Religionsgeschichte setzt die Dumézil’sche Mythendeutung fort (Fornskandinavisk religion, 2002). 232 Zum Untenstehenden, siehe Dumézil, La Rígsþula. 233 Eine mit Referenzen gut belegte, chronologisch aufgebaute Übersicht gibt Belier in seinem Werk mit dem vielsagenden Titel „Decayed gods“.

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übrigens die Bezeichnungen der Indo-Iranier für die Kasten oder Klassen, varṇa bzw. pišthra, beide mit Farbe verknüpft, deuten würden. Wie ersichtlich ist, ist diese Struktur nicht die der Rígsþula (Jarl – Karl – Þræll). Um die letztere mit seinem Schema in Einklang bringen zu können, musste Dumézil zuerst Þræll (wie die śūdras des indischen Kastensystems) außerhalb der Struktur platzieren und anschließend die sich dadurch ergebende Leerstelle der 1. Funktion mit Konr, unter Hinweis auf dessen magische Fähigkeiten²³⁴, besetzen. Dann aber „passen“ die Farben nicht, denn Weiß wird hier mit dem Krieger (Dumézils 2. Funktion), Jarl, assoziiert (vgl. z.  B. die „schneeweiße Haut“ von Móðir, Rígsþula 29), Rot mit dem freien Bauer (3. Funktion; das rötliche Haar, Rígsþula 21,5), Karl, und Schwarz fällt mit Þræll aus der Struktur hinaus. Diese zweite Diskrepanz erklärte Dumézil durch ein „glissement guerrier“²³⁵ der Funktionen in der germanischen Gesellschaft. Der germanische Bauer sei auch Krieger gewesen; die Farbe Rot sei also bei den Germanen auf die 3., die Bauer-Funktion, Weiß dabei auf die 2., die Krieger-Funktion, und Schwarz schließlich auf die Sklaven „herabgesunken“. Dumézils Versuche, die Rígsþula für seine Theorie der drei Funktionen zu retten, scheinen mir schon an sich wenig überzeugend. Konr repräsentiert z.  B. nicht einen Stand von Menschen (den der Priester in Dumézils 1. Funktion), er ist der König. Wenn folglich einer außerhalb der Struktur stehen soll, dann Konr, nicht Þræll. Trotzdem scheint Dumézils Theorie eine große Schlagkraft besessen zu haben. Das zeigt z.  B. die Beurteilung R. I. Pages²³⁶, der sich sonst sehr kritisch über die Dumézil’schen Interpretationen des altwestnordischen Materials äußert: „The division of early [Germanic] society into priests, warriors and farmers sounds plausible,“ meint Page, „and it seems confirmed by comparative material from other areas of the early Middle Ages, as Alfred the Great’s division of his subjects into gebedmen ond fyrdmen ond weorcmen. All this must be said in Dumézil’s favour“. Es ist sicher nicht die lapidare Erwähnung dieser Funktionen bei Ælfrēd, die überzeugend gewirkt hat, sondern die Übereinstimmung der darin wiedergefundenen Struktur mit dem bekannten ternären Denkschema des europäischen Mittelalters, der Ordnung in drei „Funktionen“ (in den Quellen später selber buchstäblich als „Ordnungen“, ordines, bezeichnet): oratores (jene, die beten), bellatores (jene, die kämpfen) und laboratores (jene, die arbeiten)²³⁷. Die weite Verbreitung dieses Denkschemas während des Hochmittelalters und bis in die Zeit des frühen Industrialismus

234 Dumézil, La Rígsþula, 4  f. Vgl dens., Apollon sonore, 218. 235 Siehe dazu auch Belier, Decayed gods, 44  ff.; kritischer Schlerath, Georges Dumézil II, 51 bzw. (zur Rígsþula) 52  f. 236 Dumézil, 51  f. 237 Die Funktionen sind im Laufe der Verbreitung des Denkschemas verschieden benannt worden. Während im 11. und 12. Jahrhundert den obengenannten entsprechende lateinische Begriffe verwendet wurden (z.  B. oratores, pugnatores, agricultores bei Gerhard von Cambrai, sapientes, milites, artifices bei Pseudo-Augustin), entstanden in der Mitte des 12. Jahrhunderts in Frankreich auch volks-

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hat wohl auf den ersten Blick die Vermutung nahegelegt, diese „idéologie tripartite“ könne nicht wie Flüsse aus einem einzelnen Bergsee, sondern müsse vielmehr wie aus einem alles durchdringenden Grundwasser hervorgesprudelt sein. Als vor allem die Dumézil’sche Schule glaubte, auch bei anderen indogermanischen Völkern eine ähnliche Struktur aufzeigen zu können, schien der Ursprung klar und man vermeinte, es wäre nicht notwendig, die Sache weiter zu untersuchen. Hätte man das getan, wäre es aber wohl aufgefallen, dass die Dreiteilung nach angeborenem Status, die uns in den Germanenrechten – und in der Rígsþula – begegnet, etwas völlig Anderes als das dreifunktionale Denkschema, das laut Dumézil für die Germanen maßgebend gewesen sein sollte, ist. Ein Vergleich mit dem Begriff „Bauer“ kann das veranschaulichen. „Bauer“ ist heute ein wirtschaftlicher Begriff: Der Bauer betreibt Ackerbau, er füllt die Funktion „Ackerbau“ aus. Es besteht kein Zweifel, dass auch das frühe Mittelalter diese Funktion kannte, doch – wie Hans-Werner Goetz bemerkt – sie entsprach weder rechtlich noch sozial einem klar umrissenen Begriff. „Freier und höriger Bauer hatten anscheinend wenig gemeinsam; es fehlte ein verbindendes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit“²³⁸. Bestimmend war nicht die Tätigkeit, sondern der angeborene Status. So ist z.  B. altenglisch æðeling keine funktionale Bezeichnung; „edelgeboren“ sein ist ebenso wie die Freiheit des ceorl eher ein persönliches Attribut. Die mittelalterlichen Funktionsstände waren mit einem Wort nicht nur inhaltlich, sondern auch der grundlegenden Klassifizierung nach den früher geläufigen sozialen Definitionen der Germanenstämme und der Rígsþula wesensfremd²³⁹. Überraschenderweise (für einen Dumézilianer) sind ihre Wurzeln in der patristischen Tradition dagegen leicht zu verfolgen. Vorbereitend wirkte die Übertragung der paulinischen Bilder von der Gesamtheit der Gläubigen als Körper²⁴⁰ bzw. als Haus Gottes²⁴¹ auf die Gesellschaft (9.  Jahrhundert), wonach jeder Teil eine Funktion in der Ganzheit zu erfüllen habe²⁴². Doch dies führte keineswegs schon an sich zu einem ternären Schema; die Metaphorik war vielmehr gerade durch ihre Offenheit für die Eingliederung neuer Gruppen gekennzeichnet. Das Dreierschema war aber auch seinerseits schon lange vorbereitet. Bereits 494 hatte Papst Gelasius in einem später zu großem Einfluss gelangenden Brief an den byzantischen Kaiser Anastasius I. die Lehre vertreten, dass die Welt durch zwei Dinge gelenkt würde, wovon beide göttlichen Ursprungs seien: die geheiligte Autorität (auctoritas) der Priester und die königliche Gewalt (potestas) – zwei Funktionen, jede auf die andere angewiesen: der König in Bezug auf das göttliche Heil, der Klerus in Bezug auf den irdischen Frieden. Diese Dualität

sprachige Begriffe (in Deutschland am Beginn des 13.  Jahrhunderts); siehe Oexle, Die funktionale Dreiteilung, 50  f. 238 Goetz, Leben im Mittelalter, 137. 239 Vgl. Duby, Die drei Ordnungen, 140. 240 Vgl. z.  B. den Brief des Paulus an die Epheser 1,22  f. 241 Vgl. z.  B. ebd. 2,19  ff. 242 Siehe dazu übersichtlich Oexle, Die funktionale Dreiteilung, 10  ff.

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von Klerus (clerus) und Laien (populus), später ergänzt durch die Unterscheidung zwischen Mönchen und Klerus in der 1. Funktion²⁴³, wurde im karolingischen Reich das monarchische Ideal, mit dem König im Zentrum als Abbild Christi, dem alleinigen Herrscher mit zwei Funktionen. Zu dieser Zeit wurden diese Funktionen aber schon, in Reaktion auf die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und damit des Klerus, als oratores und bellatores konzeptualisiert: Der geistlichen Macht oblag es, für den Frieden durch Beten, der irdischen durch Kämpfen zu wirken²⁴⁴. In dieser Zweiteilung war, wie Georges Duby erkannt hat, eine Dreiteilung latent vorhanden. Vergleicht man dies mit der Unterscheidung eines anderen Denkschemas derselben Zeit – der zwischen Führenden und Untergebenen – so wird ersichtlich, dass die gelasianischen Funktionen Unterabteilungen der ersteren Gruppe ausgemacht und eine dritte Funktion stillschweigend vorausgesetzt haben. Dass diese Funktion noch lange implizit vorhanden blieb, beruht wohl darauf, dass ihre Vertreter einen passiven Platz in der Sozialordnung einnahmen. Die Ordnung wurde nicht von ihnen formuliert und sie handelte – ursprünglich – nicht von ihnen²⁴⁵. Die Herkunft des dreifunktionalen Schemas aus der patristischen Tradition erklärt den hervorragenden Platz, den die Kleriker in ihm einnehmen. „Erklärt“ braucht dieser allerdings nur dann zu werden, wenn ein Ursprung des Denkmodells in der germanischen Vorgeschichte angenommen wird, denn – wie die allgemeine Meinung der heutigen Forschung ist²⁴⁶ – das Germanentum kannte keinen abgrenzbaren Stand von Priestern. Dasselbe gilt für die Krieger. Die Freigeborenen waren Krieger und Bauern; einen Funktionsstand der Krieger gab es nicht²⁴⁷. Das dreifunktionale Denkschema hat also weder rechtlich noch sozial einen Platz in der germanischen Gesellschaft gehabt; es stammt aus der patristischen Tradition

243 So schon bei Augustinus. Bei Gregor dem Großen wurde die tria genera hominum (prælati : continentes : conjugati) bereits als selbstverständlich vorausgesetzt. Oexle, Die funktionale Dreiteilung, 13. 244 Vgl. das Verbot des Bonifatius von 742, die „Diener Gottes“ dürften keine Waffen tragen, oder das Gebot von Papst Zacharias von 747, „den Fürsten, den Männern der Welt und den Kriegern (bellatores)“ stehe die Aufgabe zu, das Land kämpfend, den Diener Gottes, selbiges durch Gebet zu verteidigen (die verwendeten Verben sind orare und bellare). Siehe Duby, Die drei Ordnungen, 118. 245 Vgl. Duby, ebd., 121  f. 143  ff. 246 Siehe die Untersuchungen und Übersichten neueren Datums von Sundqvist, Kultledare och kultfunktionärer (1998), Priester und Priesterinnen (2003), Kultledare i fornskandinavisk religion (2007). 247 Ähnlich Philippson, Phänomenologie, 192b (zu Priestern bzw. Kriegern). – Erhellend mag z.  B. der Begriff des langobardischen Rechts für Freigelassene fulcfree sein, der etymologisch ‚heerfrei‘ bedeutet, also die Freiheit, Waffen zu tragen und am Heer teilzunehmen, im Auge hat. Später verschwand der Begriff und wurde bezeichnenderweise zu fulfree ‚vollfrei‘ umgedeutet. Siehe von Olberg, Bezeichnungen, 245. – Klaus von See (Europa und der Norden, 140) hat wohl ganz richtig bemerkt, dass der Versuch Dumézils, in den germanischen Männerbünden einen solchen Stand festmachen zu können, schon deshalb in die Irre gehen musste, weil diese Gruppierungen nach den freilich ziemlich dürftigen Zeugnissen, die wir von ihnen haben, sich aus der normalen Sozialordnung ausgeschlossen haben.

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und wurde – wie die ausführlichen historischen Untersuchungen Georges Dubys²⁴⁸ und Otto Gerhard Oexles²⁴⁹ gezeigt haben – zu einer Zeit formuliert, in der die gerade richtigen Voraussetzungen dafür zum ersten Mal zusammentrafen: in Nordfrankreich, im engen Zeitraum von 1024–31²⁵⁰, zu einer Zeit der Bedrohung des Königtums und des Klerus durch die Ketzerei, die Gottesfriedensbewegung und die Kluniazenserorden²⁵¹; in England, um ein Jahrhundert zuvor, in der Zeit der Bedrohung der ganzen Gesellschaft durch die Einfälle der Wikinger²⁵²; in beiden Fällen das zunehmende Eingehen von Freien und Sklaven in einen halbfreien Stand von „Arbeitern“, die alle des Schutzes bedürftig waren, bzw. der vergrößerte Abstand zwischen dieser niederen Schicht und dem Klerus einerseits, den Waffentragenden, den „Rittern“, andererseits – alles Veränderungen, die um 1000 hochaktuell waren²⁵³. Die latent vorhandene Ideologie der funktionalen Dreiteilung wurde mobilisiert, um jeder „Funktion“ ihren Platz im politisch gefährderten Ganzen zuzuweisen. Angesichts des – gerade dargestellten – Ursprungs des Denkschemas ist es nicht weiter überraschend, dass seine ersten bzw. ausführlichsten Ausformulierungen in philosophischen Schriften (König Ælfrēds Boëthius-Kommentar²⁵⁴) oder Arbeiten

248 Die drei Ordnungen. 249 Die funktionale Dreiteilung. 250 So Duby, Die drei Ordnungen, 37. Oexle (Die funktionale Dreiteilung, 20. 43  f.) erweitert die Zeitspanne um ein Jahr in beiden Richtungen, was natürlich von der Datierung der Werke, was hier nicht Gegenstand der Arbeit sein kann, abhängig ist. 251 Siehe Duby, Die drei Ordnungen, 183–218. Die Behauptung der Ketzerei, die Bischöfe hätten kein Monopol auf die sapientia, bedeutete eine Negation der Weihe, die nicht nur – wie der Grundsatz der Gleichheit aller – clerus und populus vermischt, sondern auf Dauer die Grundlagen der Monarchie untergraben hätte. Dieselbe Aufhebung der sozialen Unterschiede wollte die Gottesfriedensbewegung, die wegen der Schwächung des Königtums jetzt an die Stelle des Königsfriedens trat, einbringen. Obwohl auch sie mit drei Funktionen arbeitete, wollte sie nämlich den Schutz der 3. Funktion durch eine Eidesleistung sichern, die alle (nicht nur die bellatores) umfassen sollte. Abbo von Fleury und die Kluniazenser beabsichtigten ihrerseits, als neue Führer der Gesellschaft ihre vermeintlich vollkommensten Vertreter, die Mönche, aufzustellen. Die Bischöfe und Priester galten als ihnen unterstellt, und anstelle des Königs mit seinen bellatores versuchten sie, die Feudalen an sich zu binden, die sich vom König loslösen wollten und denen jetzt die Mönche die verlangten Charismen, die notwendige Autorität geben konnten. 252 Siehe z.  B. Oexle (Die funktionale Dreiteilung, 40) in Bezug auf König Æþelrēds Mobilisierung des Schemas. 253 Oexle, ebd., 46  ff.; Duby, Die drei Ordnungen, 228; vgl. Dictionary of the Middle Ages 3, 412; 11, 200  ff.; Epperlein, Bauer, 79; Le Goff, Medieval civilization, 93. 254 Die Stelle ist bezüglich des philosophisch begründeten Verständnisses eines englischen Königs des ausgehenden 9. Jahrhunderts. über seinen Platz in der Gesellschaft und der Gesellschaft selbst, für deren Wohl er verpflichtet war zu arbeiten, sehr interessant. In einer Ergänzung zum lateinischen Boëthius-Text wird dargelegt, welche „Werkzeuge“ ein König braucht, um sein „Handwerk“ (cræft; Bosworth/Toller, An Ango-Saxon dictionary, s.  v. übersetzen cræft unter anderem mit ‚I. power, strength, might; II. an art, skill, craft‘; Otten (König Alfreds Boethius, 28  ff.) meint, König Alfred habe mit dem Wort die Assoziation mit einem tieferen philosophischen Inhalt beabsichtigt, näm-

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von Geistlichen („Carmen ad Robertum Francorum regem“ von Bischof Adalbero von Laon und in der „Gesta episcoporum Cameracensium“ von Bischof Gerhard von Cambrai²⁵⁵) zu finden sind. Dass das Denkschema nach dem Tod Roberts des Frommen 1031 aus den Quellen fast²⁵⁶ verschwand, ist ebenfalls aufgrund der spezifischen politischen Umständen zu erklären, denn nach Roberts Tod verloren die Bischöfe in Frankreich an Macht; stattdessen wurden die Mönche, gegen die sich die dreifunktionale Ordnung z.  T. gerichtet hatte, stärker. Als das Schema etwa um 1175 in den Quellen wieder häufig zu finden war, geschah es unter neuen Vorzeichen, wie es Duby ausdrückt: „in der Sprache der Laien, am Hof, am Fuße des Throns, und genau zu dem Zeitpunkt, als der Staat in diesem Teil Europas wieder zu Kräften kam“²⁵⁷. Von dieser Zeit an verbreitete sich das Schema schrittweise über ganz Europa, jetzt wurde es aber in erster Linie als Waffe und Werkzeug gegen die soziale Mobilität angewandt²⁵⁸. Im 14. und 15. Jahrhundert war man an die drei Funktionen und mit ihnen verbundene Formeln wie Tu supplex ora, tu protege tuque labora derart gewöhnt, dass diese auch travestiert werden konnten²⁵⁹. In Frankreich blieb die Dreiständelehre bis

lich die mit der einem innewohnende ‚virtus‘) – das Regieren – ausüben zu können: Die Werkzeuge sind gebedmen, fyrdmen und weorcmen, Männer die beten, die kämpfen und die arbeiten. Ohne diese „Stütze der Gemeinschaft“ (giferscipum biwiste) könne er seine königlichen Pflichten nicht erfüllen (Boëthius, ed. Sedgefield, Kap. 17, 40; Übersetzung ed. Fox, 36). Wie Kurt Otten (König Alfreds Boethius, 266  f. und 272) bemerkt hat, erscheinen die wichtigsten Abweichungen der altenglischen Version von ihrer Vorlage unter anderem gerade dort, wo Boëthius’ Text dem Königtum selbstverständlich zugehörige Größen wie die Macht und die königlichen Aufgaben, die virtus des Herrschers, in Frage stellt. Hier müsse sich sein eigenes Denken von dem des Philosophen trennen, und es tue dies gemäß der augustinischen Lehre des usus: alles ist gut an seinem ihm zugehörigen Platz und nach seinem rechten Gebrauch. In die Diskussion der irdischen Macht wird die Ständelehre als Apologie des Königtums einbezogen. 255 Siehe zu diesen Werken ausführlich Duby und Oexle a. a. O. 256 Mitte des 11.  Jahrhunderts verfasste Humbert von Moyenmoutier, ein Vertreter der cluniazensischen Reformbewegung und deshalb eigentlich ein Gegner der der funktionalen Dreiteilung unterliegenden Ideen, ein Werk „Gegen die Simonisten“ („Adversus Simoniacos“), in dem nach dem wohlbekannten ternären Schema das gemeine Volk (vulgus) der klerikalen Ordnung (clericalis ordo) und der laizistischen Macht (laicalis potestas) untergeordnet wurde (vgl. Oexle, Die funktionale Dreiteilung, 50). Sicher nicht ohne Grund bemerkte diesbezüglich Duby (Die drei Ordnungen, 305), es sei Humbert im Grunde darum gegangen, die alte gelasianische Zweiteilung zwischen Laien und Klerikern zu vertiefen. – Auch gegen die „Vita Dagoberti“ als Beleg für das Fortleben des Schemas ist es möglich, Einwände zu erheben; dazu Duby, ebd., 172  f. In England lebte es jedoch während des 11. Jahrhunderts weiter (ebd., 416  f.), und man kann sich fragen, ob es je „vergessen“ wurde oder ob es nicht vielmehr auf Ebenen weiterlebte, die nie sprachlich fixiert wurden. Dafür würden jedenfalls die von Oexle (ebd., 50) angeführten volkssprachlichen Begriffe sprechen, die in Frankreich schon im 12. Jahrhundert, in Deutschland nach dem Jahrhundert auftauchten. 257 Duby, Die drei Ordnungen, 414. 258 Epperlein, Bauer, 80  f.; Duby, Die drei Ordnungen, 404. 259 Beispielsweise sei angeführt: Als Noah die eben zitierte Formel seinen Söhnen genannt habe, habe der Teufel einen bösen Wunsch hinzugefügt: Tu fornicator, tu praedo, tuque lecator ‚Du bist ein

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in die Zeit der Industrialisierung bestehen; erst das Zusammentreten der Generalstände (États-Généraux) im Jahre 1789 führte zu ihrer Auflösung und der Entstehung der Nationalversammlung. Obwohl auch Duby diesen Ursprung und diese Entwicklung annimmt, scheint er an gewissen Stellen noch geneigt zu sein, die dreifunktionale Ordnung mit Dumézil auf eine indogermanische Ideologie zurückführen zu wollen²⁶⁰, was sich unter Anderem daran erkennen lässt, dass Dumézils Name auf etwa einem Dutzend Seiten in Dubys Buch genannt ist. Es scheint mir aber weder notwendig noch aufschlussreich, die Suche in diese Richtung voranzutreiben. Dass die Dumézil’sche Theorie der indogermanischen sozialen „idéologie tripartite“ in der Germanistik so zählebig gewesen ist, beruht wohl nicht zuletzt darauf, dass die Forscher vorausgesetzt haben, das Material aus den Nachbar-Fachgebieten sei richtig interpretiert worden und das „rekonstruierte“ Schema daher hermeneutisch als Grundlage neuer Interpretationen eines an sich wenig informativen Materials verwendbar²⁶¹. Wendet man sich jedoch den Sonderfächern zu, wird es schnell deutlich, wie brüchig jede solche Grundlage ist²⁶². Zunächst fällt auf, dass es keine etymologisch entsprechenden Begriffe für

Hurenbock, du ein Räuber und du ein Wüstling‘. Bolte/Polívka, Anmerkungen, 312, Anm. 1. Am Anfang des 14. Jahrhunderts erklärte Hugo von Trimberg, Hochmut sei ganz verkehrt, denn Pfaffen, ritter und gebūre | sint alle gesippe von natūre | und süln gar brüederlīchen leben (Mohl, The three estates, 85). – Zur späteren Verbreitung des dreifunktionalen Denkschemas ab dem 12.  Jahrhundert, siehe Mohl, The three estates. 260 So Duby, Die drei Ordnungen, 165: „Wird man die genealogische Suche in diese Richtung [nl. in Richtung der Kelten] je weiter vorantreiben können?“. 261 von See, Europa und der Norden, 137; sehr treffend auch Schlerath, Georges Dumézil II, 57. 262 So hat Jan Gonda (Triads in the Veda, Kap. III) angesichts des vedischen Materials zeigen können, dass die ternäre Ständeordnung vielleicht in späterer vedischer Literatur, nicht aber in der Rig Veda, und jedenfalls nicht als Funktionsstände, vorhanden sei. Auch die brāhmanas (1. Funktion) haben Vieh gezüchtet und Ackerbau betrieben; in der Tat waren sie im Streben nach Wohlstand an einer Menge von „weltlischen“ Aktivitäten beteiligt (ebd., 151  f.; vgl. dens., Dumezil’s tripartite ideology, 147; ähnlich Schlerath, Georges Dumézil I, 8  f.). Die beiden anderen „Kasten“, wenn der in diesem Fall anachronistische Begriff verwendet werden soll, haben ihrerseits priesterliche Pflichten erfüllt (Gonda, Triads in the Veda, 152). Darüber hinaus scheint es nicht ungewöhnlich gewesen zu sein, dass die vaiśyas (3. Funktion) an Kriegen teilnahmen (ebd.). Letzteres kann als selbverständlich angesehen werden, wenn man in Betracht zieht, dass viś- (zu vaiśya) nichts mit Funktionen zu tun hat, sondern einfach die Großfamilie bezeichnet. Die víśaḥ ‚Großfamilien‘ waren die Einheiten, die das ‚Volk‘ (víśaḥ) ausmachten; vaiśya hat die zum Gesamtvolk Gehörigen bezeichnet; erst mit der Entwicklung zweier höherer Klassen, die sich von den Übrigen, dem „gewöhnlichen Volk“, abgegrenzten, entstand vaiśya in der Bedeutung eines eigenen Standes (dazu Schlerath, Georges Dumézil I, 9, mit Hinweisen; vgl. Gonda, Triads in the Veda, 137  ff. 168). Spuren einer solchen Entwicklung, in der sich drei Stände abzeichnen, werden evt. im späten 10. Buch der Rig Veda sichtbar, nicht vorher. – Ähnliche schwerwiegende Einwände sind auch gegen die Projektion der funktionalen Dreiteilung auf das Material anderer Sprachgebiete erhoben worden. Für das Germanische, siehe z.  B. Philippson, Phänomenologie, 189  ff.; von See, Europa und der Norden, 128–44, mit weiterführender Literatur (beide behandeln im Überblick auch andere Bereiche, vor allem die der Römer und Inder); Page, Dumézil. Besonders

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die vermutete dreifach gegliederte Sozialstruktur gibt²⁶³. Zwar hat Dumézil, als er schließlich gezwungen war, die weder phonetisch noch inhaltlich deckende Gleichsetzung brahmán- : flāmen aufzugeben²⁶⁴, auf etymologische Vergleiche ganz verzichtet, und statt von einer in der Mythologie gespiegelten Sozialstruktur zu sprechen, redete er nun lieber von einer (zeitlosen) „Mentalität“, die sich in der Gesellschaft entweder widerspiegeln könne oder nicht²⁶⁵. Unter diesen Prämissen konnte er auch etwa vom dreifunktionalen Dritten Reich (Partei, Wehrmacht, Arbeitsfront) als einer „reviviscence“ einer urindogermanischen Ideologie sprechen²⁶⁶. Wie Bernfried Schlerath richtig bemerkt hat, gelangt man damit aber zu einer Theorie, die an Material nur Bestätigendes finden könne, nie jedoch auf Widerstand stößt²⁶⁷. Mit dieser Angriffsweise verließe man aber den Boden jeder ernsthaften historischen Forschung²⁶⁸. Diese Kritik an der Dumézil’schen idéologie tripartite war notwendig, um einer verbreiteten und anscheinend überzeugenden Theorie Einhalt zu bieten. Der Einblick in das europäische Mittelalter diente aber auch als Vorbereitung zu der unten in dieser Arbeit vertretenen Auffassung vom Ursprung des Denkmodells der Rígsþula.

das Persische und Indische, aber auch das Römische, das Skythische usf. hat B. Schlerath in einer empfehlenswerten, sehr kritischen Studie behandelt (Dumézil I–II), zu deren Schlussfolgerungen es gehört, „daß es die idéologie tripartie nie gegeben hat“ (ebd. II, 60). In einem anderen Artikel hat Schlerath (Sozialstruktur) das Problem unter die Lupe genommen, ob es theoretisch überhaupt möglich sei, die urindogermanische Sozialstruktur zu rekonstruieren. Das Fazit lautet (S. 263), dass dieses Unternehmen unmöglich ist: Die „wenigen Trümmer“, die rekonstruiert werden können, „ergeben nur unspezifische Banalitäten“. Kritisch auch Zimmer, Indogermanische Sozialstruktur. 263 von See, Europa und der Norden, 136  f. Nicht einmal die einander sprachlich und geographisch nahestehenden persischen und indischen Kulturbereiche haben deckende Begriffe für die Stände bzw. Kasten, und die den indischen angeblich inhaltlich gleichkommenden Begriffe des altiranischen Sprachgebiets sind erst jungawestisch, in den älteren Schriften fehlen sie, was Zimmer (Indogermanische Sozialstruktur, 324) den folgerichtigen Schluss anstellen lässt, dass es sich um eine Neuentwicklung auf beiden Seiten handelt. 264 Dazu Gonda, Dumezil’s tripartite ideology, 148, Anm. 43; von See, Europa und der Norden, 137; Schlerath, Georges Dumézil I, 5. 265 Vgl. dens., Sozialstruktur, 250 und Georges Dumézil I, 2. 266 Ders., Georges Dumézil II, 61. 267 Sozialstruktur, 250. 268 Ders., Georges Dumézil II, 61. Auch Philippson (Phänomenologie, 193b) schloss in Bezug auf die strukturellen Theorien Dumézils, dass auch für die Strukturforschung die Erkenntnis grundlegend bleiben muss, dass, wenn „wir die Wahrheit finden wollen, [...] wir zuerst die Wirklichkeit erforschen“ müssen. – Vielsagend ist die „Entdeckung“ der dreifunktionalen Struktur in Japan durch den Dumézil-Schüler Atsuhiko Yoshida. Statt dies als ein Anzeichen etwa für die Universalität der Gliederung nach der „vollkommenen Zahl“ drei und also als Gegenargument zu Dumézils Theorie zu deuten, nahm Atsuhiko Yoshida an, skytho-sarmatische Stämme in Zentralasien müssten die Lehre von den Indogermanen vermittelt bekommen haben. Dumézil antwortete zustimmend (Schlerath, Georges Dumézil I, 21).

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In der gerade geschilderten Untersuchung zur Herkunft des europäischen dreifunktionalen Denkschemas wurde auf die Konzeptualisierung eines „Standes“ von milites oder bellatores um 1000 als eine seiner Voraussetzungen hingewiesen. König Ælfrēd erwähnte, wie gesagt, schon am Ende des 9.  Jahrhunderts den Stand der fyrdmen²⁶⁹. Neben Ælfrēds Modell von gebedmen ond fyrdmen ond weorcmen bestand aber zu derselben Zeit ein anderes: das von Kriegeradel, Freien und Unfreien. Das älteste bekannte Beispiel des letzteren Denkmodells wurde in einer Untersuchung von Thomas D. Hill²⁷⁰ angeführt und stammt wieder von den Britischen Inseln. Es ist ein Bericht über Noahs Söhne aus der Handschrift der Britischen Bibliothek Cotton Tiberius A III²⁷¹, datiert um die Mitte des 11. Jahrhunderts. Der Text interpretiert die Bibelstelle Genesis 9,25  ff. von der Verfluchung Noahs, durch die Cham zum servus seiner Brüder wird (servus servorum erit fratribus suis), und zwar in der Weise, dass in Zukunft nicht nur die Unfreien der künftigen Welt, sondern drei Stände von den Brüdern abstammen sollten:  wæs wælisc. 7 oncyrlisc cynn. on gesyðcynd cynd. Letzteren Stand übersetzt Hill mit ‚the noble race‘; genau genommen heißt gesyðcynd aber nicht einfach ‚edel‘, sondern ‚der, der zum comitatus (gesíð) gehört‘²⁷². Die Stände sind: die Unfreien, die Freien (ceorle!) und die Krieger²⁷³. Diese Struktur, oft mit den Söhnen Noahs verbunden, ist ab dem darauf folgenden Jahrhundert in vielen Quellen erkennbar. Die bekannteste Stelle ist Honorius Augustodunensis’ (gest. um 1151) Lehrbuch „Libri tres de imago mundi“, in dem dieselbe dreifache Gliederung auf Latein als milites, liberi und servi erscheint und ebenfalls von den Söhnen Noahs, Japhet, Sem und Cham, abgeleitet wird²⁷⁴. In diesem Zusammenhang ist es besonders interessant, dass Honorius sich eine Zeit lang wahrscheinlich in England aufgehalten

269 Siehe oben – fyrd ist ein Substantiv f. ‚Aufgebot, Armee‘. In der Theorie war es die Pflicht jeden Mannes, an der fyrd teilzunehmen; weil aber diese Pflicht, fyrd-bote, ein Teil der trinoda necessitas (außer fyrd-bote bridge-bote, das Reparieren von Brücken und Fahrwegen, und burgh-bote, das Erhalten von Befestigungen) war, waren in der Wirklichkeit nur die Landbesitzer dazu verpflichtet. Siehe zu fyrd Bosworth/Toller, An Ango-Saxon dictionary, s. v. 270 Rígsþula, 82  f. 271 In Napier, Altenglische Kleinigkeiten, 1–3. 272 Das Wort wird auch in den altenglischen Rechtstexten verwendet, siehe Bosworth/Toller, An Ango-Saxon dictionary, s. v. „ge-síþcund“ 273 oncyrlisc cynn bedeutet eigentlich ‚ein bäuerliches Geschlecht‘; der Bauer (ceorl) aber war der Urtypus des einfachen „Freien“ (vgl. cyrlisc mon ‚common man‘, Bosworth/Toller, An Ango-Saxon dictionary, s. v. „ceorlisc“; in den altenglischen Gesetzen bezeichnet ceorl gewöhnlich den Freien im Gegensatz zum Unfreien, vgl. etwa Ines Gesetze 30. 37  f. 40. 42 usf.), man kann aber oncyrlisc cynn, wie karl in der Rígsþula, mit ‚frei‘ übersetzen. – wealisc sollte den Stand der ‚Unfreien‘ bezeichnen (vgl. Bosworth/Toller, An Ango-Saxon dictionary, s. v. „wealh II“), insbesondere da es an einer anderen Stelle desselben altenglischen Textes (Napier, ebd., 2,49–51) von Chams Geschlecht (cyn) heißt, es sei oðrum cynnum twam on heaft nēad . 7 on þeow dom ‚in Gefangenschaft und Knechtschaft‘ gekommen. 274 Sem filius Noe ipse est idem qui et Melchisedec, vixit sexcentos et duos annos. Hujus tempore divisum est genus humanum in tria: in liberos, milites, servos. Liberi de Sem, milites de Japhet, servi de Cham (Patrologiæ cursus completus, ser. Lat. 172, 166).

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hat²⁷⁵; obwohl eine genealogische Beziehung zwischen seinem Text und dem Cotton Tiberius A III nicht notwendig ist, bleibt es denkbar, dass er die Idee seiner Gliederung aus England übernommen hat. Laut dem Verfasser selbst enthalte sein Lehrbuch nichts, was nicht in älteren Quellen gestanden habe. In Texten, die nach Honorius’ Werk entstanden sind, wird die tertiäre Struktur z.  B. im mittelhochdeutschen Lucidarius erwähnt²⁷⁶, der, im Auftrag Heinrichs des Löwen um 1190 in Braunschweig zusammengestellt, vermutlich aus Honorius’ Text schöpfte²⁷⁷. Andere Belege, wie jene, die Hugo von Trimberg (um 1230–1313) – freilich mit dem Einwand, die Dienenden könnten auch Gottes Leibeigene werden, und die Herrschaft der Freien erstrecke sich nur bis zum Tode! –²⁷⁸, Albert von Stades²⁷⁹ und Jansen Enikels Weltchroniken (um 1240 bzw. 1276), die „Flores temporum“ (1292/94)²⁸⁰ und der „Cursor mundi“ (14. Jahrhundert)²⁸¹, liefern, zeigen, dass das Schema gleichzeitig neben der dreifunktionalen Ideologie von Adalbero von Laon bestand und verbreitet wurde, sodass noch Hans Sachs (1494–1576) es aufgreifen und verwenden konnte²⁸². Wie auch Hill richtig erkannte, weist die Rígsþula dieselbe Struktur auf. Die Tonangebenden des höchsten Standes, die jarlar, sind nicht einfach „nobiles“; Jarls hauptsächliche Tätigkeit, wie auch die Tätigkeit seines Vaters (Rígsþula 28) und seiner Nachkommen, der *jarla ættir (Rígsþula 42), ist unleugbar und vor allem die des bewaffneten Kampfes, was der Skalde stark hervorhebt (Rígsþula 35 und 37). Er gehört aber selber keiner hirð an, eher hat er eine, und seine Kriegsbeute teilt er eigenhändig seinen Männern aus, wie schon zu Tacitus’ Zeiten der princeps seinen comites²⁸³. Er ist, kurz gesagt, der Häuptling, der Gefolgsherr mit seinem Gefolge, so wie diese seit der Völkerwanderungszeit existiert hatten, im Norden bewahrt wurden und immer wieder neu hervortraten²⁸⁴. Die Zeit, in der die jarlar in Norwegen noch als selbstherrische, eroberungslustige Vertreter eines Standes, und nicht als dem König unterstellte Amtsträger, auftreten konnten, war aber, wie oben gezeigt wurde, eher das 11. als das 12. oder 13. Jahrhundert, die Zeit also, in der in England die ersten Anzeichen der mit der Struktur der Rígsþula identischen Sozialordnung zum Vorschein kommen.

275 Vor 1103? So Flint, The chronology, 241. 276 Lucidarius, 8: Da sprach der junger: „wer was der erste kúnic nach der sintflůt?“ Der meister sprach: „daz was Sem, Noes sun, der wart sit geheiszen Melchisedech. in dez kúnigez ziten wurde de lúte indrú geteilet: von Sem kamen die frigen, von Jafet camen die ritere, von Kam camen die eigin lúte.“ 277 Siehe Borst, Der Turmbau von Babel, 673. 278 Siehe ebd., 839  f.; die Textstelle wird auch von Hill (Rígsþula, 85) angeführt. 279 Siehe Borst, ebd., 771. 280 Siehe ebd., 818 (De Sem liberi […] in Asia, de Cham servi […] in Africa, de Japhet milites […] in Europa). 281 Siehe Hill, Rígsþula, 84. 282 Bolte/Polívka, Anmerkungen, 312, mit mehreren anderen Belegen. 283 Germania 14. 284 Vgl. Landolt u. a., Gefolgschaft, 544a.

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Ein genealogischer Zusammenhang zwischen dem Gedanken des Cotton Tiberius A III und dem Mythos der Rígsþula ist also vorstellbar. So erwog Hill in seiner oben erwähnten Untersuchung²⁸⁵ eine Beeinflussung der englischen Bibelauslegung durch den – wie er glaubte – urgermanischen Mythos der Rígsþula. Meines Erachtens sind die beiden „Mythen“ aber nicht so ähnlich, dass ein derartiger Schluss notwendig ist. Die Rígsþula enthält keinen Fluch, – den grundlegenden Bestandteil der Bibelauslegung. Die Bibelauslegung ihrerseits hat eigentlich nur das Suchen nach dem Ursprung der Stände in der Urzeit mit der Rígsþula gemeinsam, eine Frage, für deren Beantwortung christliche Autoren immer wieder auf verschiedene Stellen des Alten Testaments zurückgegriffen haben²⁸⁶. Die überraschende Übereinstimmung zwischen der Rígsþula und dem Cotton Tiberius liegt vielmehr im Inhalt des sozialen Denkschemas, das in beiden Fällen an den Ursprungsmythos geknüpft wird. An sich muss auch diese inhaltliche Übereinstimmung nicht zu dem Schluss, eine Beeinflussung des einen durch den anderen Text wäre zwingend, führen. Man kann nämlich das britische Denkschema als eine Verschärfung und Akzentuierung eines schon weit älteren Denkmodells, nämlich der ternären Einteilung der „Leges barbarorum“ in nobiles, liberi und servi und dementsprechend²⁸⁷, auffassen, deren höchste Schicht

285 Rígsþula, 87  ff. 286 Mit Noahs Fluch wurde die Unfreiheit schon von Augustinus erklärt, eine Interpretation, die im 8. und 9. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen wurde (weiterführende Literatur bei Oexle, Die funktionale Dreiteilung, Anm.  170). Bereits der ältere, „Genesis A“ genannte Teil der Anglosächsischen Genesis bezeichnete im 9. Jahrhundert, in ihrer Version von Genesis 9,25–27, Sems Nachkommen als freora bearne ‚Freigeborene‘ oder ,edle Abkommen‘ (Z. 1642a) gegenüber Cham, dem Sklaven (þeow, 1595b; vgl. auch Borst, Der Turmbau von Babel, 509). Dies ist natürlich nicht auf einen „urgermanischen Mythos“ zurückzuführen; die unmittelbare Vorlage lieferte die Bibel, und der Anlass zu den spezifischen Auslegungen gaben wohl nicht zuletzt geschichtlich begründete Legitimationsbedürfnisse. 287 Die alte Ansicht, dass unter den Germanen des Frühmittelalters eine drei- oder vierstufige Ständegesellschaft existierte, ist in der aktuellen Forschung freilich in Frage gestellt worden. In der neueren Rechtsgeschichte wird eher mit einer durch verschiedene Funktionszusammenhänge geprägten Gesellschaft gerechnet, unter denen die Germanenrechte nur eine unter vielen Sichtweisen repräsentieren (von Olberg, Halbfreie, 402  f.). Auch muss betont werden, dass nicht nur die Bezeichnungen, sondern auch ihr Inhalt sich von Stamm zu Stamm und im Lauf der Geschichte veränderte (vgl. dazu von Olbergs „begriffsgeschichtliche“ Untersuchung zu „Freien, Nachbarn und Gefolgsleuten“). Dass ein ternäres Denkschema in den frühmittelalterlichen Gesetzen verbreitet war, scheint trotzdem klar. Schon Tacitus (Germania 25) unterschied bei den Germanen zwischen nobiles, ingenui und servi, wobei die römische Gliederung in Patrizier, Plebejen und Sklaven hier mitschöpfend gewesen sein mag. Dieselbe Gliederung taucht 700  Jahre später in der Lex Angliorum als adalingus, liber und servus auf, und bei den Sachsen gab Nithard (gest. 853) in Volkssprache edhilingi, frilingi und lazzi für die verschiedenen Stände schematisch an und übersetzte mit nobiles, ingenui, serviles (Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, 227; vgl. von Savigny, Beitrag zur Rechtsgeschichte, 14; von Olberg, Bezeichnungen, 172). Eine ähnliche Dreiteilung ist auch in erzählenden Quellen bewahrt, so in einer Lebensschilderung des friesischen Missionars Lebuin aus dem 10. Jahrhundert und von Rudolf von Fulda (9. Jahrhundert), in letzterer aber sind die Freigelassenen (liberti) eingeschoben und es findet sich der

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(nobiles) wohl immer auch aus „Kriegern“ (gefyrdmen) bestanden hatte. Die ideologische Grundlage der Rígsþula könnte ebenso gut die Dreiteilung der Germanenrechte sein. Doch die britische Parallele bleibt trotzdem gedanklich anregend, vor allem deshalb, weil hier der Begriff ceorl (cyrlisc) als Standesbezeichnung verwendet wird, also als das Gegenstück zu den karla ættir der Rígsþula, nach dem bereits Heusler gefragt hat. Im Licht der bisher in diesem Kapitel erörterten Argumente, die für Beziehungen der Rígsþula mit den Britischen Inseln sprechen, finde ich es nicht unwahrscheinlich, dass es der Kontakt mit angelsächsicher Terminologie und Denkschemen war, der in den Jahrzehnten nach dem Jahr 1000 die Anregungen zur dreigeteilten sozialen Ideologie der Rígsþula gab. In diesem Fall wäre nicht notwendigerweise an den Einfluss eines bestimmten Textes zu denken. Auch in einigen altenglischen Gesetzen findet sich die Gegenüberstellung von ceorle und eorle (= Rígsþula karl : jarl)²⁸⁸. Von diesen wird der þeōw oder Unfreie unterschieden. Die dort beschriebene soziale Ordnung ist also mit derjenigen der Rígsþula z.  T. wörtlich übereinstimmend. Der Dichter der Rígsþula kannte wohl diese Umstände im England des 11. Jahrhunderts und konnte hier die Grundlagen zur sozialen Ideologie seines Liedes ableiten. Der angemessenste Kontext eines Liedes, das den Ursprung des Königtums und der Stände erklärt, dürfte wohl der Hof eines Königs gewesen sein. Zu einer Popularität der Rígsþula in christlicher Zeit könnte der sonst unbekannte Göttername Rígr verholfen haben. Wie so oft entzieht sich aber die Wirkungsgeschichte des Gedichts unserem Wissen. Es ist jedoch verlockend, mit dem Gedanken zu spielen, dass diese

auffallende, isogame Verhältnisse andeutenden Zusatz, dass Heirat über die Standesgrenzen hinweg mit dem Tode bestraft wurde (von Savigny, ebd., 15  f.; von Olberg, ebd., 172). Eine Stütze dafür, dass hinter dieser Angabe eine soziale Wirklichkeit steckt, könnte die „fast kastenhafte Abgeschlossenheit der Stände“ untereinander bei Ruodolfus sein (Kuhn, Adel, §  12). Dieselbe Einteilung wie die Vita Lebuini haben die sächsischen Königsgesetze von 782/85 bzw. 797 und die Lex Saxonum, gesammelt im Jahre 802 (nobiles, ingenui, liti), Letztere mit dem außergewöhnlichen Wergeld 1440 solidi (= ungefähr 700 Rinder!) für die ‚Edlen‘ (von Olberg, ebd., 171  f.). Das Gesetz der Friesen (8. Jahrhundert) unterscheidet zwischen nobiles, liberi und liti (von Savigny, Beitrag zur Rechtsgeschichte, 19); ebenso das Gesetz der Thüringer (adalingi, liberi, servi, ebd., 21) und in den bayrischen Gesetzen (nobiles, liberi, servi, in denen die Verteilung des Wehrgelds 320 : 160 : 20 ist und dem Sklaven also wirklich der Status eines Unfreien zugeschrieben werden muss; vgl. ebd., 25). Das friesische Asega-Buch aus dem 13. Jahrhundert hat dieselben drei Stände in der Volkssprache bewahrt: ethelinge, frilinge, lethslachthe (ebd., 21). König Ælfrēds (gest. 899) Gesetze enthalten die Aufteilung æðeling, ceorl, þeōw (Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, 227), eine Gliederung, dessen Mittelglied mit dem der Rígsþula wortgleich ist. Sehr spät ist die Vorauer Genesis (1130/40), die zwischen edele, frige und dinestman und chnechte unterscheidet (Borst, Der Turmbau von Babel, 666  f.). 288 So bestimmen Ælfrēds „Leges Anglicæ“, dass, wenn jemand dem Leben des Königs nachstellt, dann habe er sein Leben verwirkt, und „ebenso bestimmen wir es auch bei allen anderen Ständen, dem ceorle wie dem eorle“ (swā we eāc settað be eallum hādum, ge ceorle ge eorle). Ælfrēds Gesetze 4. Vgl. auch Æðlstans Gesetze VI, die Einleitung vor § 1: eorlisc : ceorlisc; Ines Gesetze 54, die Einleitung vor § 1: gesiðcund : cyrlisc. Vgl. Schmid, Gesetze der Angelsachsen, 568b.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

Strophen irgendwann am Hof des Ladejarl Hákon Eiríksson (gest. 1029/30) erklungen sind. Mit den Ladejarlen war ja eine reiche Tradition vorchristlicher Skaldendichtung verbunden. Hákon selbst stieg von einem Jarl unter Sveinn tjúguskegg zum Vizekönig und kurz vor seinem Tod zum König von Norwegen auf, ähnlich wie Konr ungr von den Jarlen aufstieg. Er kämpfte auf der Seite Knuts des Großen in England und regierte dort über Northumbria. In seinem Namen (Há-kon) hätte man einfach den Namen des Königs Konr und in seinem Patronymikon (Ei-ríks-son) den Namen von Kons Vater Ríg-Jarl wiederfinden können.

2.3 Auslegung Die Belege, die für ein hohes Alter der Rígsþula sprechen, sind keineswegs eindeutig. In einigen Fällen kann ein und dasselbe Argument sowohl für ein hohes als auch für ein junges Alter des Liedes sprechen, so z.  B. der Charakter des Liedes als Kataloggedicht. Die wichtigsten, oben diskutierten Zeugnisse – der Status der Stände, die altenglischen Lehnwörter, die Beziehung der Rígsþula zur Sigurðr- und Helgidichtung und die Bedeutung und Funktion des Namens Rígr – weisen aber zunächst auf die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts hin, auf keinen Fall jedoch auf das 13. Jahrhundert. Daher sollte das Lied (noch) als eine gute Quelle zur vorchristlichen Mythologie herangezogen werden können. Eine andere Frage ist aber, ob es auch als Quelle zu Heimdallr dienen kann, denn es ist keineswegs gesichert, ob sich hinter dem Rígr genannten Gott Heimdallr oder doch ein anderer Gott verbirgt. Neben Heimdallr ist vor allem Óðinn – der Wandrer (Rígsþula 1,6 stígandi; 36,2 gangandi), runenkundig (vgl. Rígs „Runen“), Gott des kriegsliebenden Fürstenstands – vorgeschlagen worden²⁸⁹. Schließlich gibt es auch die Möglichkeit, dass Rígr die selbständige Schöpfung des Dichters ist.

2.3.1 Rígs Identität: Textinterne Argumente Beginnen wir mit den anderen Quellen, in denen die Vaterschaft Heimdalls erwähnt wird. In erster Linie kommt hier die Strophe Vǫluspá 1 in Frage. Wie ich meine, wird hier nicht nur nach dem Wortlaut der Strophe, sondern vor allem auch nach dem intertextuellen Zusammenhang ein Mythos gerade von der Urheberschaft der sozialen Ordnung vorausgesetzt.

289 So schon Anton Edzardi (Ueber die heimat, 367) im Jahr 1882. Vgl. auch Mogk, Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 603; Meißner, Rígr, 110; von See, Texte und Thesen, 215 und in Edda, ed. von See III, 491, wo das Material anschaulich vorgestellt wird.

Auslegung 

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Jene Forscher, die die Worte der Wala Vǫluspá 1,4 megir Heimdallar als die Anrede an die Götter bzw. an die Götter und Menschen in Walhall oder auf dem Thingplatz der Götter erklären, handeln sich damit ein zusätzliches Problem ein, denn Óðinn kommt einsam zu der Wala sowie auch sie (ausdrücklich) einsam draußen sitzt²⁹⁰. In Strophe 29 erhält sie von ihm Halsschmuck und Ringe als Honorar beziehungsweise Gegenleistung für ihre Weissagungen. Sie blickt (dieselbe Strophe) nun weit, weit zurück, sieht alle Welten. Man könnte versuchen, das Problem des Plurals ihrer Anrede in Vǫluspá 1 (und des Kehrreims, vituð ér enn…) durch die Annahme, sie und Óðinn würden vor ihrer Weissagung den Ort wechseln, zu lösen. Im Lied selbst wird ein solcher Ortswechsel aber weder explizit ausgesprochen, noch scheint er von der dichten Erzählstruktur erlaubt zu sein, denn die Wala sitzt ja schon in Seherinnenposition bereit²⁹¹, als Óðinn zu ihr kommt. Eine elegantere Lösung wäre, die Strophe als eine apostrophe ad lectorem im Stil des dróttkvætt zu verstehen. Dies wäre umso glaubwürdiger, als schon der Wortlaut der Anrede den einer gewöhnlichen Eröffnungszeile des dróttkvætt nachahmt²⁹². Eine derartige erhabene einleitende Anrede der Menschen dürfte ein stilvolles Mittel gewesen sein, das wirkliche Publikum mit dem Gesagten zu fesseln und in den Bann der Schilderung vom Ende der Welt, das ja alle Menschen, alle Stände, die „höheren und niederen“ (meiri ok minni), angeht, zu ziehen. Dass diese Auslegung der Gleichsetzung der Heimdallr-Söhne mit den Menschen die richtige ist, wird dadurch erhärtet, dass die Vaterschaft Heimdalls, von der die Vǫluspá erzählt, eigentlich erst durch den Rígsþula-Mythos verständlich wird. In Hinsicht auf Vǫluspá 1 als Beleg für Heimdalls Vaterschaft enthält die Vǫluspá nämlich einen merkwürdigen Widerspruch: Die Rolle des Urvaters von sowohl Menschen und Göttern ist in diesem Lied schon besetzt. In Vǫluspá 4 wird erzählt, wie „Burs Söhne“ (Z. 1, Burs²⁹³ synir) die Erde schufen. Diese Söhne haben gemäß derselben Strophe die Menschenwelt geschaffen (Z. 3  f., þeir er Miðgarð | mœran skópu). In anderen überlieferten Varianten des Schöpfungsmythos werden die an der Schöpfung von Welt und Midgard beteiligten Subjekte mit „den holden Mächten“ (blið regin, Grímnismál 41,2²⁹⁴) identifiziert, und diese – besonders die æsir – sind es auch, die in der Vǫluspá an der Ordnung der Welt aktiv beteiligt sind. Andere Quellen bestätigen, dass mit „Burs Söhne“ die Asen und vor allem der Vater der Götter, Óðinn, gemeint sind²⁹⁵. All

290 Vǫluspá 28,1  f., Ein sat hon úti, | þá er inn aldni kom. 291 Vgl. den Ausdruck sitja úti Strophe 28,1 und das Substantiv útiseta (siehe Frz., s. v.). 292 Siehe Nordal, Völuspá, 17. 293 R; Bors H. 294 Vgl. Snorra-Edda, Gylfaginning 5  f., 14–16. Auch Vafþrúðnismál 21 enthält einen Hinweis auf die Schöpfung, sagt aber nicht, wer die Schöpfer waren. 295 Hyndluljóð 30: Óðinn = Burs arfþegi. Vgl. Skáldskaparmál 2; Gylfaginning 5, 14. Þórvaldr blǫnduskáld (12. Jahrhundert) sprach von burar Bors, Búra arfa (Skj. B I, 464). In Lausavisa 21 nennt Egill Skallagrímsson Óðinn Bors niðr (Skj. B I, 47). – Zu Óðinn als Sohn der Bestla, vgl. Steinarr Sjóna-

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 Die Vaterschaft Heimdalls

dies deutet auf einen ziemlich festen Mythenkorpus hin, der – so scheint es – auch in der Vǫluspá vorausgesetzt werden muss, und in dem die Asen als Nachkommen Burs, des Sohnes des Urwesens Búri, angesehen wurden. Das kompliziert offenbar die Annahme, dass megir Heimdallar in Vǫluspá 1 auf die Götter anspielen könnte. Die andere Alternative, dass die Menschen gemeint sein könnten, ist aber ebenso schwierig, mit dem Inhalt des Lieds in Einklang zu bringen. Denn Vǫluspá 17  f. schildert, wie drei Asen – und keiner von ihnen ist Heimdallr – die ersten Menschen – keiner von ihnen Heimdallr – in die Welt brachten und ihnen Leben gaben. Eine nicht sehr plausible Erklärung dieses Widerspruchs wäre, dass der Dichter der Vǫluspá zwei nicht zusammenpassende Vorstellungen hier vereint hat, wobei nach der einen Heimdallr, nach der anderen Burr Ahn der Götter oder Askr Urvater der Menschen war. Unleugbar würde das gegen die offenbar wohl durchdachte Theologie der Vǫluspá sprechen. Und doch scheint es unmöglich, dass in Vǫluspá 1,4 mit megir Heimdallar andere gemeint wären, als gerade die Menschen oder die Götter. Die Lösung des Problems zeigt sich aber sofort, wenn man bedenkt, dass die Vaterschaft Heimdalls in Vǫluspá 1 überhaupt nicht – wie die Interpreten jedoch immer wieder annehmen – den ersten Menschen oder Göttern gilt. Ihr Ursprung findet ja in der Vǫluspá schon seine Erklärung. Es gibt aber eine andere Möglichkeit, wie Heimdallr „Vater“ sein kann. Die Erklärung ist ebenso einfach wie klar, und es ist die Rígsþula, die sie liefert. Rígr wird ja zum göttlichen Urvater aller drei Stände, und das, obwohl die Menschen offenbar schon da sind, als er quasi „die Bühne der Erzählung betritt“. Wenn dieser Mythos oder wenigstens seine Struktur für die Vǫluspá vorausgesetzt werden kann, sind die anscheinend vorhandenen Widersprüche zwischen den Schöpfungsmythen dieses Liedes gelöst. Heimdallr ist nicht der Schöpfer aller Menschen (oder Götter), sondern der Urheber der Stände. Eine wörtliche und textbasierte Interpretation von Vǫluspá 1 bestätigt, dass die Strophe eine Anspielung auf den Mythos der Ständegründung der Rígsþula enthält: 1. Vǫluspá 1,3 meiri ok minni deutet eine Rangordnung unter den „Söhnen“ an. Für eine solche soziale Hierarchie wird der Ausdruck auch sonst verwendet, man denke nur an Formeln wie meiri menn ok minni oder af svá minnum mǫnnum sem meirum²⁹⁶. Wenn dieser aber als Attribut den Söhnen eines Gottes zugeschrieben wird, lässt das

son (Skj. B I, 89), Óðinn = Bestlu niðr; Einarr skálaglamm, Vellekla 4 (Skj. B I, 117), Óðinn = Bestlu sonr; ferner „Ættartala Haralldz fra Odni“ (Flateyjarbók I, 26): Burri hefir konungr heitid er reed fyrir Tyrklandi. hans son var Burr er var fadir Odins Aasakonungs faudur Freyrs faudur Niardar. 296 Siehe Edda, ed. Sijmons/Gering I, 3 (zur Stelle). Eine kuriose Übereinstimmung bietet die Anfangsstophe des Redentiner Osterspiels (1464): Swiget al gelike, | beide arm unde rike. Ob diese Ähnlichkeit mit Samplonius (Imago Dei in Vǫluspá, 81) auf einen gemeinsamen „christlichen“ Ursprung zurückzuführen ist, ist zu bezweifeln; die Formel (vgl. die vielzahligen Eröffnungsphrasen auf hljóð ‚Gehör‘ in der altisländischen Dichtung) lässt sich wohl bei allen sozial gestaffelten Gesellschaften und Gesellschaftssystemen finden.

Auslegung 

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eine Anspielung auf die Struktur des Rígsþula-Mythos erahnen²⁹⁷. Dort werden ja Rígs Nachkommen gerade in mehr bzw. weniger Mächtige, in „Geringere und Höhere“ eingeteilt. 2. Vǫluspá 1,2 helgar kindir ist von den Interpreten verschieden gedeutet worden. Nach Meißner²⁹⁸ sei die Ansicht, der Ausdruck würde die Menschheit bezeichnen²⁹⁹, deshalb nicht vertretbar, weil heilagr zumeist für Gegenstände verwendet werde, und ansonst nur bezüglich der Götter. helgar kindir sollte folglich etwa die ‚heiligen Wesen‘, nämlich die Götter bezeichnen³⁰⁰. Es ist indessen nicht sicher, dass kindir die Menschen als ‚Wesen‘ bezeichnet. Neben dieser Bedeutung (‚Væsen af et eller endet Slags‘, z.  B. Sigrdrífumál 9, leysa kind frá konum) führt Fritzner in seinem Wörterbuch³⁰¹ noch einige andere an: 1. ‚Slægt‘ = ætt; 2. ‚Klasse af indbyrdes ensartede Væsener, som ere forskjellige fra andre‘, darunter auch sozial, z.  B.: því folki er svá háttat, at þat er miklu stœrra ok sterkara en nökkur kind önnur; – A. mælti við hana: hverrar kindar ertu? C. svaraði: ek em göfugra manna ok tiginna at kyni. Die megir meiri ok minni deuten ohne Zweifel auf verschiedene solche unter anderem aufgrund ihrer Herkunft unterschiedene ‚Klassen‘ oder ‚Geschlechter‘ (vgl. die ættir der Rígsþula) von Menschen hin. Meines Erachtens ist es wahrscheinlich, dass helgar kindir in diesem Sinne aufgefasst werden soll. Nicht die den jeweiligen Klassen zugehörigen „Einzelwesen“, die megir, sondern die Klassen an sich sind nach der Vǫluspá „heilig“³⁰². Hinter einem solchen Gedanken muss aber das Motiv der Rígsþula der göttlich legitimierten Stände stecken. allar helgar kindir, | meiri ok minni | mǫgu Heimdallar bezeichnet die sozialen Stände der menschlichen Gesellschaft; der letztere Ausdruck ist eine Variation und nähere Definition des ersteren. Die Vǫluspá als Quelle ist, wie gesagt, später eingehender zu behandeln. Sicher ist auf alle Fälle, dass dem Dichter profunde Kenntnisse der altwestnordischen Mythologie zugetraut, ja zugeschrieben werden müssen. Die Anspielung auf die Vaterschaft Heimdalls in Vǫluspá 1 spricht dafür, dass der Mythos der Rígsþula von Heimdallr handelt. Die zweite einheimische Quelle, die in Betracht kommt, sind die Hyndluljóð. Die 4. Langzeile der 43. Strophe: sif sifiadann | siotum giorfaullum, wurde oben vorläufig mit

297 So auch Nordal, Völuspá, 25  f.: „Ohne die ›Rígsþula‹ gäbe es keine Möglichkeit der Deutung dieser Kenning“. 298 Rígr, 111  f. 299 So schon Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde V, 86, jedoch mit der Erklärung, die Menschen seien durch die Worte der Wala „geheiligt“, d. h. „in einen höheren frieden“ versetzt. Vgl. Edda, ed. Boer II, 4, zur Stelle. 300 Vgl. Finnur Jónsson (Edda, ed. Finnur Jónsson, 1) zu Vǫluspá 1, helgar kindir: „Hermed kan kun guderne menes“. meiri ok minni bezog Finnur dagegen auf die Menschen („i overensstemmelse med Rígsþula“!). „Völven tilltaler således både guder og mennesker, som digteren lader være tilstede“. 301 Frz., s. v. „kind“. 302 Vgl. Höfler, Abstammungstraditionen, § 9.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

‚durch Verwandtschaftbeziehung verbunden mit sämtlichen Menschen/Geschlechtern‘ übertragen. Dies wäre eine passende Art und Weise, gerade die in der Rígsþula geschilderte Vaterschaft zu umschreiben. Rígr wird ja zum Vater der Stammväter der einzelnen Stände; „durch Verwandtschaftsbeziehungen“ ist er mit jedem Stand, mit allen Menschen verwandt. Da die Hyndluljóð von der Vǫluspá abhängig zu sein scheinen, sollte es kaum erstaunen, dass auch dort eine Anspielung auf Heimdalls Vaterschaft zu finden ist. Diese Feststellung muss an dieser Stelle der vorliegenden Arbeit hinreichend sein. Wir werden aber später auf diese Strophe zurückkommen. Es soll dann gezeigt werden, dass die Interpretation auch im Kontext der Hyndluljóð sinnvoll erscheint und dass diese Strophe nicht der einzige Nachklang der Rígsþula-Ideologie in den Hyndluljóð ist. Ist man bereit, mir so weit zu folgen, so gibt es kein Grund anzunehmen, dass die Rígsþula von einem anderen Mythos und einem anderen Gott als Vǫluspá 1 und Hyndluljóð 43 handeln würde. Sie berichten alle über die Vaterschaft Heimdalls, die als die Urheberschaft der sozialen Ständen angesehen werden kann.

2.3.2 Rígr und Heimdallr Die Identität von Heimdallr und Rígr kann jetzt durch die Eigenschaften, die der Dichter der Rígsþula seinem göttlichen Protagonisten zuschreibt, erhärtet werden. 1. Zunächst fällt auf, dass Rígr in Rígsþula 4 mit dem Adjektiv kunnigr ‚kundig, weise‘ bezeichnet wird. Diese Beschreibung ist textintern motiviert. Dass Heimdallr über eine besondere Art von Wissen verfügt, wird schon in dem wichtigen Motiv vorausgesetzt, wonach der Gott den Vertreter des aristokratischen Standes, Jarl, „Runen“ (runar, Rígsþula 36,4) lehrt. Hier scheint davon ausgegangen zu werden, dass die Kenntnis dieser „Runen“ für Jarl notwendig ist, um als berechtigter Erbe von Rígs Namen und des Odals anerkannt zu werden: Das Wissen legitimiert den Status des Erben. Nun kann altnordisch rúnar sowohl ‚geheimes Wissen‘ als ‚Runenzeichen‘ bedeuten, und es ist aus dem Kontext dieser Strophe nicht ersichtlich, in welchem Sinn das Wort hier gemeint wird³⁰³. Beide Bedeutungen wären für ein dem höchsten Stand zugestandenes Wissen, sprich für das „symbolische Kapital“ der Aristokratie denkbar. In Rígsþula 43 wird aber wieder von „Runen“ gesprochen. Bald darauf (Strophe 45) wird von einem Wettkampf im Wissen um „Runen“ zwischen Konr ungr und seinem Vater Jarl erzählt. Konr ungr gewinnt und wird damit als berechtigter Erbe und Träger des Namens (Titels) Rígr anerkannt. Die Annahme, dass das Wort rúnar in sämtlichen Fällen dieselbe Sache bezeichnen soll, ist naheliegend. Wenn diese Annahme korrekt ist, ist die nähere Charakterisierung der „Runen“ in Strophe 43 als æfinrunar | ok alldrrunar (Z. 3  f.: ‚Lebensrunen und Lebens(alters)runen‘, d. h.

303 Vgl. Edda, ed. von See III, zu Rígsþula 36,4.

Auslegung 

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‚Runen, die das Leben schützen oder verlängern‘) von Bedeutung. Diese werden hier mit einer Reihe magischer Fähigkeiten in Verbindung gebracht, die interessanterweise auch in anderen Stellen der altwestnordischen Literatur mit der Kenntnis von „Runen“ verknüpft werden³⁰⁴ und darin z.  T. auch mit bestimmten Namen versehen sind, die ähnlich wie die beiden eben erwähnten Runennamen in Rígsþula 43 gebildet wurden³⁰⁵. In jedem Fall scheinen folglich die „Runen“, die Rígr dem Jarl vermittelt, Teil eines Wissens zu sein, das als „numinos“ und als nicht jedermann zugänglich bezeichnet werden könnte. Ein ähnliches „numinoses“ Wissen wird auch im heute zum größten Teil verschollenen Heimdallargaldr angedeutet, dessen Titel vielleicht durchblicken lässt, dass Heimdallr vorgestellt wurde, galdrar ‚Zaubergesänge‘ singen zu können³⁰⁶. Auf magische Fähigkeiten deutet möglicherweise auch die unikale Angabe Snorris, Heimdallr habe mit Loki „in Robbengestalt“ (isela likivm) um Freyjas Brísingamen gekämpft³⁰⁷. Wie wir später sehen werden, wusste Snorri wahrscheinlich ziemlich genau, wovon das Lied, auf das er sich bezog, handelte; in den überlieferten Strophen wird aber Snorris Angabe nicht gestützt³⁰⁸. Die Bezeichnung von Heimdallr als kunnigr in Rígsþula 1 erscheint in der Aufgabe des Gottes, in diesem Lied jedem Stand „Rat“ (ráð) zu geben (Rígsþula 3. 5. 17. *18. 30. 33), ebenfalls textintern motiviert. Worin diese Belehrung bestand, wird nicht ausdrücklich gesagt, für den Kulturheros Rígr wäre es wohl aber zu erwarten, dass seine ráð die jedem Stand angemessenen Sitten zum Inhalt hatten, nach denen sich die Mitglieder zu verhalten hatten, nachdem der Gott wieder seiner Wege gegangen war. Die ráð hätten somit einen logischen Platz in Verbindung mit dem Thema der Gründung der ständischen Ordnung. Mit ihr wird auch Habitus und Verhaltensweise der verschiedenen Stände etabliert. Dass Heimdallr vorgestellt wurde, gewusst zu haben, was angemessen war, deutet vielleicht auch eine Strophe der eddischen Lokasenna an. In Strophe 47 ist es Heimdallr selbst, der Loki anredet: Avlr ertv, Loci! sva at þv ert orviti, hvi ne lezcaþv, Loci? þviat ofdryccia veldr alda hveim, er sina męlgi ne manaþ.

304 Hávamál 139–63; Sigrdrífumál 5–7. 9–13. 305 Vgl. Rígsþula 43,6 mǫnnum biarga mit Sigrdrífumál 9,1  ff. Biargrvnar scaltv kvnna. Hier dürfte allerdings die magische Fähigkeit (Erleichterung der Entbindung!) eine andere sein als jene, die im kriegerischen Kontext von Rígsþula 43 gemeint wird. 306 Siehe unten, 4.1.2. 307 Skáldskaparmál 16, 99. 308 Siehe unten, S. 109  f.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

‚Betrunken bist du, Loki, | so dass du von Sinnen bist, | warum hälst du dich nicht zurück, Loki? | Denn Trunkenheit | bewirkt bei jedem, | dass [er] seine Gesprächigkeit nicht bemerkt‘³⁰⁹.

Der Quellenwert der Lokasenna ist später in Kap. 7.2.2 näher zu besprechen. Hier soll nur bemerkt werden, dass obwohl das Lied wahrscheinlich zum jüngsten Teil der Heimdallr behandelnden Dichtung gehört, der Dichter offenkundig von einer breiten Kenntnis der mythologischen Traditionen Gebrauch machte – wenn auch z.  T. von Traditionen, die vielleicht erst zu seiner Zeit in Umlauf waren. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass diese Traditionen auf älteren aufbauten. In jedem Fall scheint es im Zusammenhang mit Lokasenna 47 bemerkenswert, dass in diesem Lied der hier sprechende Heimdallr der einzige der Götter ist, der in seiner Antwort an Loki eine allgemeingültige Aussage macht. Die anderen Antworten beziehen sich hingegen entweder auf die Situation der Erzählebene (z.  B. Strophe 53,4–6), bedrohen oder schmähen Loki mit Beschimpfungen (z.  B. 43,4–6) oder stellen eine Beschreibung der Götter dar, wie sie sich gegen Lokis Beschimpfungen verteidigen (z.  B. 35,4–6). Heimdalls Antwort aber ist nicht nur allgemeingültig, sondern nähert sich dem Stil nach dem Sprichwort, so wie es z.  B. im „Sittengedicht“ Hávamál vorkommt³¹⁰. Dies kann darauf hindeuten, dass dem Dichter der Lokasenna die Eigenschaft Heimdalls, besonders weise bzw. im Besitz von sittlichem Wissen zu sein, noch bekannt war. Im Eddalied Þrymskviða ist es nochmals Heimdallr, der weiß, was angemessen ist zu tun. Als Þórs Hammer verloren ist und alle andere Götter ratlos sind, tritt Heimdallr als deren Ratgeber auf. In Strophe 15 wird der Grund dafür ausführlich beschrieben, Z. 1  ff.: Þa qvaþ þat Heimdallr, hvitastr ása, – vissi hann vel fram sem vanir aþrir –: [. . . . . .]. ‚Da sagte Heimdallr, | der weißeste der Asen, – | er wusste die Zukunft gut, | wie sonst die Wanen –: [. . . . . .]‘³¹¹.

Schon Golther³¹² bemerkte ganz richtig, dass Z. 3  f. nicht unbedingt mit ‚wie andere Wanen‘ übersetzt werden muss. Eine völlig akzeptable Übersetzung wäre auch ‚wie sonst die Wanen‘, was also eher eine kontrastive als gleichsetzende Übersetzung darstellt. Da Heimdallr sonst nirgendwo als Wane bezeichnet wird, dürfte diese zweite Übersetzungsvariante die richtige sein.

309 Übersetzung Edda, ed. von See II, 477. Die Hakenparenthese stammt vom Übersetzer. 310 Z. B. Hávamál 12 gegen Betrunkenheit. 311 Übersetzung Edda, ed. von See II, 547 (dort aber „lichteste“ statt „weißeste“). 312 Handbuch der germanischen Mythologie, 360, Anm. 1.

Auslegung 

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Die Wanen werden auch im Eddalied Vǫluspá mit der Fähigkeit charakterisiert, die Zukunft zu kennen: Vǫluspá 24,7 vígspár ist wahrscheinlich mit ‚streitkundig, Kampf vorhersehend‘ zu übersetzen. Der Dichter der Þrymskviða mag die Vǫluspá sehr wohl gekannt haben. Darauf deuten die Worte Vǫluspá 48,1  f. Hvat er með ásum? | hvat er með álfum? hin, die mit jenen in Þrymskviða 7,1  f. identisch sind. In der Þrymskviða wird Heimdallr als fähiger Ratgeber dargestellt, da darin angegeben wird, dass er weiß, was anderen verborgen ist, also, was in der Zukunft liegt und daher „ratsam“ ist. Auf diese Aufgabe Heimdalls – und vielleicht sogar als Bestandteil desselben ursprünglichen Mythos³¹³ – wird auch in Úlfr Uggasons Húsdrápa (um 980) angespielt, in deren 2. Strophe Heimdallr nämlich mit dem Attribut ráðgegninn ‚ratklug‘ – ein hapax legomenon (Gelegenheitsbildung?), wohl eigentlich ‚weise, Rat zu geben‘³¹⁴ – beschrieben wird. Schließlich wird Heimdalls Wissen in den auch „Hrafnagaldr Óðins“ genannten Forspallsljóð belegt, wo Heimdallr in Strophe 11,1 mit dem ziemlich allgemeinen Begriff enn vitri ‚der Weise‘ bezeichnet wird. Der Quellenwert dieses Liedes, dessen älteste Handschrift erst von 1670 stammt³¹⁵, ist jedoch problematisch. Seit dem Erscheinen von Sophus Bugges autoritativer Ausgabe der Eddalieder pflegen die Forspallsljóð, auf Bugges eigene Empfehlung³¹⁶, nicht zusammen mit den anderen Eddaliedern herausgegeben oder behandelt zu werden; sie unterscheiden sich nämlich sowohl inhaltlich und stilmäßig als auch in Bezug auf den Titel von der anderen Eddadichtung³¹⁷ und werden seit Bugge³¹⁸ gewöhnlich als ein archaisierendes Werk aus dem 17. Jahrhundert betrachtet³¹⁹. Diese Datierung wurde neulich von Jónas Kristjánsson³²⁰ kritisiert, der meinte, das Lied könne sprachlich älter sein, aber nicht weiter als bis ins 14. Jahrhundert zurückgehen. Diese Auffassung wurde von Kristján Árnason in Frage gestellt, da das Lied nämlich aus metrischen Gründen nicht weiter als bis ins 15. oder 16. Jahrhundert zurückgehen kann, wahrscheinlich aber erst im 17. Jahrhundert entstand³²¹. Hingegen behauptete Annette Lassen³²², dass die Zeilen, auf die Krist-

313 Siehe unten, S. 117 und 127  f. 314 Lex. poet. führt s. v. „gegn 1“ ‚pålidelig, retsindig, dygtig‘ an. Die Grundbedeutung ist wohl ‚gerade‘, dann ‚dienlich; gerecht‘ usw.; vgl. die Bedeutungen bei Frz., s. v. „gegn“. Vgl. hierzu ráðgegn (von Haraldr) in Þjóðolfr Arnórssons Sexstefja (um 1065), Strophe 24,2 (Skj. B I, 344). 315 Holm. papp. 15, 8o. Wie Lassens Handschrift-Studien dargelegt haben (Hrafnagaldur Óðins, 554), sind alle spätere Handschriften von demselben Archetyp abhängig und unterscheiden sich nur sehr wenig voneinander. 316 Norrœn Fornkvæði, XLVI. 317 Siehe Lassen, Hrafnagaldur Óðins, 1; Norrœn Fornkvæði, XLVII. 318 Ebd., XLVI  ff. 319 Vgl. Lassen, Hrafnagaldur Óðins, 1. 320 Hrafnagaldur Óðins. 321 Siehe Lassen, Hrafnagaldur Óðins, 4. 322 Ebd., 554.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

ján Árnason hinwies, im Zuge der schriftlichen Tradierung entstanden sein könnten. Das Lied könnte somit wohl mittelalterlich sein, obgleich man dadurch noch nicht berechtigt ist, es anders als ein nachheidnisches Gedicht aus dem Spätmittelalter zu betrachten³²³. Der Dichter hat sicher älteres Material, vor allem die Vǫluspá, verwendet³²⁴, doch ist zu bezweifeln, ob er diesem verständnismäßig viel näher stand als wir. 2. In Rígsþula 1,3  f. wird Rígr ferner als der „alte Ase“ (aldinn ꜳs) bezeichnet. Wenig spezifisch ist die Bezeichnung áss, obwohl Heimdallr einer der Götter ist, die als Ase bezeichnet werden³²⁵. Wichtiger ist hier das Adjektiv aldinn, das für eine Eigenschaft steht, die auch für Heimdallr als Stammvater gilt: Ungeachtet, ob seine Söhne die Menschen oder die Götter sind, muss ihr Stammvater zu den ältesten Wesen der mythologischen Vorstellungswelt gehören. In Hyndluljóð 35,1  f. wird Heimdalls Geburt demgemäß als eine „urzeitliche“ dargestellt: Vard einn borin | i ꜳrdaga. 3. Noch eine Eigenschaft Rígs, die an Heimdallr erinnert, bezeichnet das in Rígsþula 1,5 verwendete Adjektiv rammr ‚stark‘, das im von Heimdallr gebrauchten Adjektiv rammaukin ‚kraftgestärkt‘ in Hyndluljóð 35,3 ebenfalls anklingt. In der Rígsþula scheint das Adjektiv völlig unmotiviert zu stehen: Rígr tut nichts, wofür er Stärke benötigen würde. Für den vǫrðr goða Heimdallr dürfte die Stärke dagegen ein konstitutiver Charakterzug sein. 4. Schließlich enthält das Eddalied Þrymskviða eine Kurzzeile, die Heimdallr als hvitastr ása ‚der weißeste der Asen‘ beschreibt (Þrymskviða 15). Diese Eigenschaft geht auch aus einigen Stellen bei Snorri hervor, die jedoch höchstwahrscheinlich von der Þrymskviða abhängig sind, Gylfaginning 15, 32: Heimdallr h(eitir) eiɴ; hann er kallaðr hviti as […].

Skáldskaparmál 16, 98: Hvernig skal Heimdall keɴa? Sva, at kalla hann […] Hvita ás […].

Übereinstimmend nennen die späten Forspallsljóð 14,4 Heimdallr áss hvíta³²⁶. Bezüglich des Problems, wie diese Eigenschaft erklärt werden soll, sind in der Forschung verschiedene Meinungen vertreten worden. Vorhersehbar ist die Deutung der naturmythologischen Schule, nach der die weiße Farbe eine Anspielung auf das Licht der Himmelserscheinung, die hinter dem Gott steht, sein soll – egal, ob nun

323 Vgl. z.  B. das Lehnwort máltíð, das auf Island nicht vor dem 16. Jahrhundert allgemein war (Lassen, ebd., 555). Auch inhaltlich scheint das Lied sehr von den anderen Eddaliedern abzuweichen, was nicht allein auf dem Überlieferungszustand beruhen kann. 324 Siehe Jónas Kristjánsson, Hrafnagaldur Óðins. 325 Þrymskviða 15,2; Forspallsljóð 14,4; Þulur 4 g (Skj. B I, 660  f. = Snorra-Edda, Skáldskaparmál 89, 197). 326 Hier steht nicht sverðáss hvíta, wie Simrock (Edda, ed. Simrock, Forspallsljóð 23,4) meinte.

Auslegung 

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diese als der Lichthimmel, die Sonne, der Mond oder irgendetwas Anderes identifiziert wurde³²⁷. Ein anderer Weg der Erklärung bot sich für jene Forscher an, die sich Heimdallr in der Gestalt eines Widders vorstellten. So meinte Helge Rosén³²⁸, der Begriff hvíti-áss spiegle die weiße Wolle wider³²⁹. In der vorliegenden Untersuchung soll aber gezeigt werden, dass die Argumente dafür, sich Heimdallr überhaupt als theriomorph vorstellen zu dürfen, quellenkritisch sehr schwach sind³³⁰. In Hinblick auf Heimdalls Stammvaterschaft scheint mir F. R. Schröders³³¹ Hinweis auf den „weißen Jüngling“ der Jakuter einleuchtender. Nach jakutischen Mythen sei dieser – der erste Mensch – in der Urzeit an einem Ort „am Erdnabel“ gewesen, „wo der Mond nicht abnimmt und die Sonne nicht untergeht“³³². Nach einiger Zeit verlangte der Jüngling nach einer Frau. Nach einer Reise gelangte er zu einem Platz, an dem ein Riesenbaum wuchs, einem Platz ohne Hunger. Als sich der junge Mann wunderte, weshalb er in bzw. auf die Welt gekommen sei, erschien ihm eine Frau und erzählte ihm, er solle der Stammvater der Menschen werden. Nach Schröder soll sowohl der jakutische Mythos als auch der Mythos von Heimdallr als „weißem“ Stammvater auf einen persischen Ursprung zurückgehen, den Schröder im iranischen Urwesen Yima, „dem Strahlenden“, gefunden zu haben glaubte³³³. Im Licht der in der vorliegenden Arbeit im Zentrum stehenden Kategorie Heimdalls als Stammvater ist die Parallele einleuchtend und könnte durch weiteres komparatives Material wie die persischen PahlaviTexte ergänzt werden. So wird in der Bundahiṣ Yaṣt 24 von der Geburt des ersten Sterblichen, des Urvaters der Menschen, Gāyōmarḍ, „glänzend und weiß“, erzählt³³⁴. Auch diese Gestalt scheint mit dem Vorstellungskomplex von Yima (indogermanisch *I̯emo) eng verbunden zu sein³³⁵. Diese komparativen Parallelen können allerdings nicht erklären, was diese Weiße in der altwestnordischen Tradition bedeutet hat. Um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, ist es angebracht, zuerst die altwestnordische Überlieferung genauer zu betrachten.

327 E. H. Meyer, Germanische Mythologie, 228; ders., Völuspa, 16. Müllenhoff, Frija und der halsbandmythus, 246. Much, Der germanische Himmelsgott, 69, vgl. ebd., 66. R. M. Meyer, Beiträge, 252. Ohlmarks, Heimdalls Horn, 303. Rydberg (Undersökningar i germanisk mythologi I, 443), wie später F. R. Schröder (Heimdall, 10), wies auf den hellen Feuergott der Inder, Agni (vgl. unten), hin. 328 Studier, 65. 329 Vgl. auch Dumézil, Remarques comparatives, 277. Noch Sayers (Irish perspectives on Heimdallr, 11. 13.) meinte, dass Heimdalls weiße Farbe die Wolle eines Widders andeute. 330 Siehe unten, Kap. 10. 331 Altgermanische Kulturprobleme, 109  f. Vgl. Ellis-Davidson, Gods and myths, 174. 332 Das Folgende nach Holmberg, Der Baum des Lebens, 57  ff. 333 F. R. Schröder, Altgermanische Kulturprobleme, 110. 334 Dieselbe Text-Sammlung erklärt übrigens in Kap. 31,4 die Herkunft der „beschwanzten“ Affen, des schwarzen Mannes und anderer „anormalen“ Wesen durch Heirat der Urahnen mit verschiedenen Dämonen und Hexen, was an die Entstehung der schwarzhäutigen þrælar in der Rígsþula erinnert. 335 Der zoroastrische Gāyōmarḍ entspricht im Rig Veda Mārtāṇḍa, der in späteren Texten mit Vivasvat (avestisch Vīvahvant), der Menschheit und Yamas (avestisch Yimas) Vater, identifiziert wird.

102 

 Die Vaterschaft Heimdalls

Unter den Göttern der altwestnordischen Quellen ist Heimdallr nicht der einzige, der weiß ist. Bei Snorri (Gylfaginning 11) wird auch Baldr als „hell“ (biartr) beschrieben und seine Weiße mit der Weiße des Balldrs Brar (‚Unechte Kamille‘) verglichen. Das aber wird an dieser Stelle nicht mit theriomorphen oder anderen übernatürlichen Eigenschaften verknüpft, sondern steht in direktem Zusammenhang mit der Schönheit (fegrð) seines Haares und Körpers: hann er sva fagr alitvm ok biartr, sva at lysir af honvm, ok eitt gras er sva hvitt, at iafnat er til Balldrs Brar; þat er allra grasa hvitaz, ok þar eptir matþv marka fegrð hans, bæþi a har ok aliki³³⁶.

Denkbar ist freilich, dass Snorris Beschreibung eine euhemerisierende Umdeutung eines Lichtgottes sein könnte. Doch auch in der älteren Dichtung wird das in Bezug auf Baldr verwendete, mit hvítr inhaltlich verwandte Adjektiv bjartr mit schönem Aussehen assoziiert. sólbjartr ‚hell wie die Sonne‘ beschreibt in Helgakviða Hundingsbana II 45,7 das Aussehen der schönen Sigrún, in Fjǫlsvinnsmál 42,5 jenes der heiß begehrten Menglǫð³³⁷. Die Skaldendichtung enthält dazu mehrere Belege³³⁸. Von besonderem Interesse sind Þórbjǫrn hornklofis Hrafnsmál³³⁹ (um 900), in denen bjartr in Strophe 1,6  f. im Rahmen der Beschreibung einer Frau neben hvítr gestellt wird: mey […] | hvíta, haddbjarta (‚mit hellem Haar‘). Dieselbe Frau, von der der Text hier handelt, wird in Strophe 2,3 fránleit ‚scharfäugig‘ und in 2,6 kverkhvít ‚halsweiß‘ genannt. Helle (Haar- und) Hautfarbe als Attribut der Schönheit kommt auch in den Skírinismál vor. In der 6. Strophe, in der der Gott Freyr eine Frau gesehen hat, die so schön ist, dass sie ihn völlig bezaubert hat, wird gesagt, ihre Arme würden so glänzen, dass von ihnen die ganze Luft strahlte. Auch in der Prosa wird das Adjektiv hvítr häufig gerade in Bezug auf die bleiche Hautfarbe und als Indiz für die Schönheit gebraucht³⁴⁰. Das Ideal scheint sich auch in Beinamen widergespiegelt zu haben, z.  B. Þorsteinn hvíti oder Ívarr hvíti³⁴¹. Diese Belege bedeuten natürlich nicht, dass hvítr nicht etwa die Wolle eines Widders hätte bezeichnen können. Aber wenn die Farbe in der Beschreibung oder als Attribut einer Person gebraucht wird – wenn z.  B. Ingi konungr als hvítr maðr ok vænn í andliti³⁴² beschrieben wird  –, dann muss die damit ausgedrückte Bedeutung als

336 Gylfaginning 11, 29. – Interessant ist, dass an der Stelle, an der in den übrigen Handschriften Hann er vitraztr asaɴa hinzugefügt ist, in U (13, Z. 19  f.) hvıtaƶtr zu finden ist. 337 Ähnlich wird in Háv 97,3 sólhvítr von einer Frau verwendet. 338 Siehe Lex. Poet., s. v. „bjartr“, in dem als Bedeutung angegeben wird: „om personer, især kvinder, og betegner da deres lyse ansigtsfarve og måske tillige det lyse hår (jfr haddb. og bjarthaddaðr)“. Hervorhebung vom Verf. 339 Skj. B I, 22  ff. 340 Siehe Frz., s. v. „hvítr“. 341 Hier wäre auch weißes Haar zu erwägen; vgl. aber Frz., ebd. 342 Ebd.

Auslegung 

 103

Hinweis auf die helle, bleiche Hautfarbe verstanden werden und eventuell als Signal von Schönheit und Adel. Es wäre daher eine im Vergleich mit den bisherigen Interpretationen wenig phantasiereiche, im Sprachgebrauch der Quellen aber wohl begründete Deutung, dass in Heimdalls Eigenschaft als hvíti-áss ein Hinweis auf seine weiße Hautfarbe – eventuell als Zeichen für Schönheit und Adel – liegt. Diese Eigenschaft ist nun mehrmals in der Rígsþula zu finden, an Stellen, an denen sie benutzt wird, den „edleren“ Stand mit dem niedrigsten, dem der Sklaven, zu kontrastieren. Während Þræll als svartr, möglicherweise als hǫrundsvartr ‚schwarz am Haut‘ beschrieben wird, wird demnach schon die Mutter des Jarl mit Augenbrauen heller, mit einer Brust lichter und einem Hals weißer als reiner, neugefallener Schnee dargestellt: 29,5. brun biartari, briost liosara, hls hvitari hreinni miǫllu

Und die Eigenschaften werden auf den Sohn vererbt: 34,5. bleikt var hr, ǫtul voru augu

biartir vangar, sem yrmlingi

‚bleich war das Haar, | die Wangen hell, | schreckenerregend³⁴³ waren die Augen | wie bei einer jungen Schlange‘³⁴⁴.

Es ist hier schon mehrmals betont worden, dass Jarl in einem besonders nahen Verhältnis zum Gott Rígr stand. Er trägt den Namen des Gottes, was nach nordgermanischer Vorstellung auf Wesensgleichheit deuten konnte³⁴⁵, und erst er erbt das Odal über das Erbrecht, auf welches der Gott einen besonderen Einfluss ausgeübt zu haben scheint. Erst zu ihm kehrt der Gott zurück, um ihn zu belehren, erst in ihm – darf gefolgert werden – sieht der Gott sein gleichwertiges Ebenbild. Dass Rígr aber nicht nur sein Ebenbild, sondern vielmehr auch sein Abbild in Jarl erblicken konnte, dass er auch das unverhohlen als Ideal dargestellte Aussehen von Jarls ætt geteilt haben sollte, ist keine weit hergeholte Annahme. Durch diesen Vergleich mit Rígr könnte Heimdalls Eigenschaft als der „weißeste der Asen“ ebenso verständlich werden. Die Bezeichnung hvítastr ása spricht für Heimdallr klar aus, was für Rígr nie expressis verbis gesagt wird. Was früher als romantische Naturmythologie

343 atall ‚streitsüchtig, grimmig‘ usw. (Lex. poet., s.  v.). Etymologisch verwandt mit ‚Hass, Zorn‘; siehe AEW, s. v. 344 Übersetzung Edda, ed. von See III, 611. 345 Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, 181  f.; Eckhardt, Irdische Unsterblichkeit.

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 Die Vaterschaft Heimdalls

gedeutet wurde, entblößt sich nun als unverstellte, derbe Ideologie. Mit HeimdallrRígr wird die ideale Physis des höchsten Standes zum Mythos gemacht. Die obenstehende Analyse legt es nahe, Rígr mit Heimdallr zu identifizieren. Dass auch Óðinn mit Rígr vergleichbare Züge hat, soll nicht geleugnet werden; sie gehören einer Kultur an, der sowohl die Mythologie Óðins als auch die Ideologie der Rígsþula nahe stand: der Kultur der Kriegeraristokratie. Vor allem die textinternen Argumente scheinen aber dafür zu sprechen, dass in der Rígsþula, der Vǫluspá und den Hyndluljóð ein und derselbe soziogone Mythos vorausgesetzt wird, während ähnliche Mythen für Óðinn nicht belegt sind. In der Rígsþula wird ferner ein Ordnungsmodell konzipiert, dem wir in Beziehung zu Heimdallr mehrmals begegnen werden. Heimdallr scheint – um die Resultate hier vorwegzunehmen – gleichzeitig die ganze Ordnung zu umschließen und die dominante Ordnung innerhalb dieser zu vertreten, ganz wie Rígr in der Rígsþula gleichzeitig die ganze soziale Ordnung etabliert und den Vertreter der dominanten Ordnung, „Rígr Jarl“, als seinen Günstling anerkennt. Ähnlich wie in dem einleitend dargelegten Ordnungsmodell der Mythologie ist die Ideologie der Rígsþula genealogisch konzipiert. Soziale Ordnung wird durch die Bildung agnatischer Linien geschaffen und gefestigt. Die Übertragbarkeit der diese Ordnung untermauernden Strukturen zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen scheinen auch die altnordischen Dichter erkannt zu haben. Die krumme Nase hinter dem Namen Arinnefja (Rígsþula 13,4) scheint Konnotationen sowohl mit den Unfreien als auch mit den Riesen – den peripheren Gruppen in beiden dieser Welten – gehabt zu haben, und der Sklavinnen-Namen Tǫtrughypja (Rígsþula 13,7) wurde ebenfalls mit Riesinnen assoziert (siehe oben): Das „Andere“, „Periphere“ ist bei Göttern und Menschen als analog konzipiert. In derselben Weise ist auch das „Zentrum“ in beiden Welten analog. Und so ergibt sich eine mögliche Beziehung zwischen Heimdallr als Vertreter der dominanten Ordnung in Midgard und als Verteidiger oder Wächter (vǫrðr) von Asgard, der dominanten Ordnung in der Welt der Götter und Riesen: Was der Gott beschützt, ist gleichzeitig eine bestimmte, genealogisch definierte Gruppe – die Asen bzw. die Kriegeraristokratie – und die zentrale Position, die diese Gruppe innerhalb der kosmischen Ordnung innehat. Dass die Rígsþula eine ureigne, von den Beziehungen zu den Britischen Inseln abhängige Formulierung vom Mythos der Vaterschaft Heimdalls ist, scheint nach den obenstehenden Ergebnissen wahrscheinlich. Vor allem der im Gedicht zentrale Name Rígr weist auf einen Kontext hin, in dem das irische Königtum und vielleicht im Speziellen auch Brian Borus’ Aufstieg zur Macht noch frisch im Gedächtnis verankert waren. Wie weit zurück in die Zeit vor der Entstehung der Rígsþula der Mythos von Heimdallr als Urheber der Stände reicht, kann wegen der Spärlichkeit des Quellenmaterials nicht bewiesen werden. Dass aber die Rígsþula auch die älteste Formulierung des Mythos wäre, ist dagegen zu bezweifeln. Die Vǫluspá ist ein Gedicht, dessen Entstehungszeit ähnlich der der Rígsþula sein sollte. Schon in Vǫluspá 1 (und vgl. Hyndluljóð 43)

Auslegung 

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scheint aber als allgemein bekannt vorausgesetzt zu werden, wer bzw. was mit den hier angesprochenen „Söhnen Heimdalls“ gemeint war. Es sollte folglich damit gerechnet werden können, dass die Vaterschaft Heimdalls, die Soziogonie der Rígsþula – wenn auch nicht in der präzisen Ausformung dieses Liedes, – spätestens im 10. Jahrhundert ein Bestandteil der altwestnordischen Mythologie war. Ursprünglich wohl auch auf Island bekannt (darauf deutet die Vǫluspá), dürfte der Mythos aber auf dem skandinavischem Festland immer eine höhere Relevanz gehabt haben. Auch die Rígsþula dürfte vor allem hier tradiert worden sein. Die Weitertradierung dieses Liedes in christlicher Zeit könnte zusammen mit einer euhemeristischen Umdeutung nicht zuletzt der sonst unbekannte Göttername Rígr erleichtert haben. Auf Island dagegen muss das Lied, wie oben diskutiert, vor der Skjǫldunga saga und den dort dargestellten Beziehungen zum dänischen Königshaus nicht unbedingt von großer Bedeutung gewesen sein. Vielleicht ist es somit vielsagend, dass Snorri weder Vǫluspá 1 zitiert, noch den Inhalt dieser Strophe wiedergibt. Auch wenn er die Rígsþula kannte (und das ist nicht sicher, siehe oben), so ist es nicht offenkundig, dass ein Isländer im 13. Jahrhundert noch wissen konnte, wer mit Rígr gemeint war oder wer (bzw. was) „Heimdalls Söhne“ waren.

3 Der Kampf um das Brísingamen It may be that it never had any mythical meaning at all, especially if it is an adaptation of a foreign tale.¹

3.1 Die Belege Die Anzahl der Mythen, in denen Heimdallr handelnd in Erscheinung tritt, ist nicht gerade groß. Eine solche Stelle ist aber die nach traditioneller Zählung 2. Strophe in Úlfr Uggasons Húsdrápa – einem Gedicht, das um so bedeutungsvoller ist, als es vor dem Jahr 1000, also vor der offiziellen Christianisierung Islands entstanden sein soll. Die Entstehungszeit des Gedichtes glauben wir aufgrund eines Berichts der Laxdæla saga zu kennen. Hier wird nämlich berichtet, dass der isländische Häuptling Óláfr pái in den Jahren um 980 (983?) das großartige Herdhaus auf seinem Hof Hjarðarholt, auf dem die Hochzeit seiner Tochter Þúriðr abgehalten werden sollte, anfertigen hatte lassen, und, um die Feierlichkeiten zu krönen, wurde der Skalde Úlfr Uggason eingeladen. Die Saga erzählt, dass er über die sǫgur, die an den Wänden des Herdhauses eingekerbt waren, ein gutes Lied gedichtet hat: Þetta kvæði er kallat Húsdrápa². Die genannte Strophe der Húsdrápa ist in drei Handschriften der Snorra-Edda³ erhalten. Offenbar verwendet Snorri die in ihr enthaltene Information für seine Beschreibung von Heimdallr (Skáldskaparmál 16) und später (Skáldskaparmál 24) für die von Loki. An der letzteren Stelle wird die Strophe auch zitiert. Aus den ziemlich großen Unterschieden, die die Handschriften bieten, muss gefolgert werden, dass die Schreiber selbst die Strophe nicht ganz verstanden haben. Eine Emendierung des Textes ist deshalb berechtigt. Ich zitiere die Strophe unten nach Finnur Jónssons⁴ normiertem Text und führe in der Anmerkung die wichtigsten Emendierungen an. Sva sem her segir Vlfr Vggason⁵: Ráðgegninn bregðr ragna rein at Singasteini frægr við firna slœgjan Fárbauta mǫg vári. Móðǫflugr ræðr mœðra mǫgr hafnýra fǫgru kynnik áðr ok einnar átta mærðar þáttum⁶.

1 de Vries, The problem of Loki, 141. 2 Siehe Laxdæla saga 29, 80. 3 rTW; fehlt in U. 4 Siehe Skj. B I, 128 (die Kommazeichen wurden vom Verf. weggelassen); vgl. Skj. A I, 136  f. 5 T; sem her fehlt in rW. Diese Zeile nach Snorra-Edda, Skáldskaparmál 24, 100. 6 Z. 6: Nur W hat mǫg gegenüber r mavgr, T maugr. mǫgr kann aber nicht das Subjekt sein, denn dann würde Z. 4 vari (rT; uáarí, W), was wohl ein Nominativ eines an-Stamms sein muss, übrig bleiben. Die Akkusativform dürfte deshalb richtig sein. – Z. 3: Da das Adjektiv slœgr ‚schlau, listig‘ in Z. 3 wohl ein animates Hauptwort fordert, haben WT es wahrscheinlich richtig als Mask. Akkusativ Singu-

Die Belege 

 107

Wahrscheinlich hat Snorri Sturluson die beiden Protagonisten der Strophe ganz richtig als Loki und Heimdallr identifiziert⁷. Der „sehr schlaue Sohn des Fárbauti“ (firna slœgjan Fárbauta mǫg) ist aus anderen Stellen als der listige Riese Loki bekannt⁸, und die rätselhafte Eigenschaft, der Sohn von „acht und einer Mutter“ (mǫgr mœðra átta ok einnar) zu sein, wird im Heimdallargaldr (Níu mœðra mǫgr⁹) und in Hyndluljóð 35 offenbar auf Heimdallr bezogen. Auch die Rolle, ein kluger Ratgeber zu sein (Z. 1, ráðgegninn ‚hilfreich mit Rat‘) wird in Þrymskviða 15  f. Heimdallr zugeschrieben. Heimdallr soll es dann auch sein, der in der ersten Halbstrophe mit vári bezeichnet wird, ein Wort, das wahrscheinlich mit der Bezeichnung von Heimdallr als vǫrðr in anderen Quellen etymologisch zusammenhängt. Das Substantiv vári pflegt als hapax legomenon angesehen zu werden¹⁰. Wegen des erwähnten Parallelismus mit vǫrðr wird es aber wie dieses Wort gewöhnlich zum altnordischen Verb verja ‚schützen, verteidigen‘ – entweder zu indogermanisch *u̯er1. ‚umschließen, decken, schützen‘¹¹ oder 2. ‚gewahren, achtgeben‘¹² – gestellt¹³. Problematisch bei dieser Etymologie erscheint, dass dann ein kurzer Stammvokal zu erwarten wäre, während das lange á in Húsdrápa 2 durch W, 62 urí bezeugt und durch die Assonanz (mit Fárbauta) gesichert ist¹⁴. Wie ich meine, darf aber vielleicht die Inschrift des Röksteins (9. Jahrhundert) als Beleg dafür angeführt werden, dass das Wort (mit langem oder kurzem Stammvokal) auch andernorts, und zwar in der erwarteten Bedeutung, vorkommt. In dieser Inschrift kommt nämlich, in Geheimrunen geschrieben, ein Substantiv uiauari vor. Das Wort pflegt zu altnordisch véa-væri normalisiert zu werden und dürfte in etwa ‚Hüter; Beschützer der Heiligtümer‘ bedeuten. Möglicherweise ist sie auf den kurz vorher erwähnten Gott Þórr (þur)¹⁵ – in Vǫluspá

lar slægían bzw. sløgian aufgefasst, was zu W Fꜳrbauta mǫg ‚Fárbautis Sohn‘ in Z. 4 gestellt werden kann. Für den Dativ r slægivm gibt es kein entsprechendes Hauptwort. Außerdem passt das Attribut inhaltlich sehr gut zu Fárbauta mǫg (siehe unten). – Z. 7: Statt T ok steht in r en, in W at, was falsch sein muss, denn die Präposition verbindet sicher die Wörter mǫgr átta mœðra ok einnar ‚der Sohn von acht Müttern und einer (Mutter)‘, eine Phrase, die auch im Heimdallargaldr vorkommt. 7 Snorri führt in Skáldskaparmál 24, 100 die Strophe nach der Kennzeichnung Lokis als þrætv dolgr Heimdalar an, und in Skáldskaparmál 16, 99 (über Heimdallr), fügt er hinzu, dass Heimdallr tilsækir Vagaskers ok Singasteins sein sollte. 8 Loki = Fárbauta mǫgr, Haustlǫng 5 (Skj. B  I, 15); son Fárbꜹta, Skáldskaparmál 24, 100. – Snorri könnte sich auf Húsdrápa 2 stützen, als er Loki in Skáldskaparmál 24, 100 hiɴ slægi ás nennt. 9 rW; meygıa, U. 10 So z.  B. Heizmann, Der Raub des Brísingamen, Anm. 15. 11 IEW, s. v. „u̯er 5“. 12 Ebd., s. v. „u̯er 8“, vgl. altnordisch varr ‚vorsichtig‘. 13 Heizmann, Der Raub des Brísingamen, Anm. 15, mit Literatur. de Vries (AEW) vergleicht s. v. „verja 4“ (vgl. s. v. „vǫrðr“) unter anderem mit altindisch vārayati ‚bedecken, abhalten‘, griechisch ἔρυσθαι ‚bewahren, retten‘. 14 Lindquist, Guden Heimdall, 84. 15 So Nielsen, Runerne, 57. Nielsen stellt uiauari zu althochdeutsch wari ‚Bewohner‘, eigentlich ‚Beschützer des Hauses‘ (vgl. AEW, s. v. „veri“, in skipverjar ‚Schiffsleute‘). sibi, an das uiauari als Ap-

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 Der Kampf um das Brísingamen

56 Miðgarðs véorr, wohl ‚Heiligtum-Beschützer¹⁶ Midgards‘ genannt – bezogen. Die Runen würden ebenso gut die Lesart véa-vari bzw. -vári erlauben. Es ist allerdings problematisch, hier ad hoc eine Form -vári anzunehmen. Wie ich meine, kann die Form in Húsdrápa 2 aber eventuell dadurch erklärt werden, dass Úlfr die ganze dritte Kurzzeile Fárbauta mǫg vári der 5. Strophe der Haustlǫng Z. 2: Fárbauta mǫg Várar¹⁷, entliehen hat. Auch hier tritt eine Assonanz der langen Vokale miteinander auf. Das hier belegte Várar ist allerdings nicht eine Form von vári, sondern muss Genitiv Singular von Vár (‚eine Göttin‘) sein und ist Teil von der kenning hvalr þrymseilar Várar ‚der Wal der Vár der Bogensehne‘ = ‚Ochse‘¹⁸. Der Name mag aber die bei Úlfr belegte Form vári beeinflusst haben. Nachdem dies gesagt worden ist, will man natürlich wissen, wovon die Strophe handelt. Hier sind die Meinungen in der Forschung aber recht unterschiedlich, denn es ist sehr unklar, wie die Strophe überhaupt zu deuten ist. Die Unklarheiten gelten sowohl der Bedeutung des Verbs bregða (við) als auch dem Bedeutungsinhalt der Substantive. Es mag deshalb hilfreich erscheinen, dass schon Snorri in seiner Prosa der Strophe eine inhaltliche Erklärung beifügte. Gleichzeitig muss aber beachtet werden, dass Snorris Bild nicht immer mit der vorchristlichen Wirklichkeit übereinstimmen muss. Snorri war nicht nur einer der ersten Mythographen; er war gewissermaßen auch ein Mythologe. Trotzdem stand Snorri – wie in der Einführung dieser Arbeit bemerkt wurde – manchmal bezüglich des ihm zugänglichen Wissens über die nordische Mythologie auf einem sichereren Fundament als wir. Seine Etymologien haben zwar wenig mit den Etymologien der heutigen Sprachwissenschaft zu tun; gelegentlich aber hatte er offenbar Zugang zu Strophen und zu ganzen Liedern, die uns für immer verloren sind. Wenn dies auch hier der Fall ist, müssten gute Gründe vorgelegt werden, um Snorris Erläuterungen ganz zu verwerfen¹⁹. Snorri scheint sich zweimal auf den in Húsdrápa 2 behandelten Mythos bezogen zu haben. Die erste Stelle findet sich in Skáldskaparmál 16, wo er ihn für die kenningar von Heimdallr verwendet:

position angeschlossen ist, soll dann ebenfalls zu Þórr, nicht zu einem unbekannten *Sibbi gehören. Nielsen deutet das Wort als sefi ‚Verwandte‘, was, wie der Name Sif die Bezeichnete als Þórs Frau, Þórr als Óðins Sohn bezeichnen würde (ebd.). Sehr ähnlich Grønvik, Runeinnskriften på Røk-steinen, 127  f.; ders., Der Rökstein, 77  f. Für frühere Deutungen, siehe Runeinnskriften på Røk-steinen, 145, Anm. 71. 16 -orr < *vǫrr < verja ‚verteidigen usf.‘? Siehe AEW, s. v. „Véurr“. 17 Skj. B I, 15. 18 Diese Auflösung der kenning wird aus dem Zusammenhang verständlich, die dahinterliegende Vorstellung ist allerdings unklar. 19 Vgl. Verf., Der Ursprung des Feuers, 60  f.; Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 506; dens., Freyja, 286.

Die Belege 

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Hvernig skal Heimdall keɴa? Sva, at kalla hann son niv mæþra eða vǫrð gvþa, sva sem fyʀ er ritat, e(ða) Hvita ás, Loka dolg, mensækir Freyiv. […] hann er ok tilsækir Vagaskers ok Singasteins; þa deildi hann við Loka vm Brisingamen; hann heitir ok Vindler. Vlfr Vgas(on) qvad iHvsdrapv langa stvnd eptir þeiri frasꜹgv, ok er þes þar²⁰ getit, er þeir vorv isela likivm²¹.

Mit der „Erzählung“ (frásǫgn), die Úlfr Uggason „eine lange Weile“ (langa stund) in seiner Húsdrápa sprach, sind sicher die letzten Sätze gemeint: „Er [d. h. Heimdallr] ist auch der Besucher (vgl. neuisländisch tilsækir) von Vágasker und Singasteinn [vgl. Húsdrápa 2,2!]; damals stritt er mit Loki um das Brísingamen“. Doch mit diesen Sätzen sind weitere kenningar verbunden: Loka dolgr ‚Lokis Feind‘ soll sich wohl auf denselben Streit beziehen; so auch mensækir Freyiu ‚der Sucher nach Freyjas Halsband‘: Freyjas Halsband war, wie bekannt ist, das Brísingamen. Schon hier wird ziemlich klar, worum es in der Strophe Snorris Meinung nach ging. In Skáldskaparmál 24 kehrt Snorri dann zur Húsdrápa zurück und zitiert die oben angeführte 2. Strophe, die hier die kenningar für Loki beleuchten soll. Ich gebe unten die kenningar wieder, die Parallelen in Skáldskaparmál 16 bzw. in Úlfs Strophe haben. Snorri sagt²²: Hvernig skal keɴa Loka? Sva, at kalla hann […] þiofr […] Brisingamens […], hiɴ slægi ás, […] þrætv dolgr heimdala²³ ok Skaþa […].

Folgt man Skáldskaparmál 16, kann gefolgert werden, welche von den in seiner Prosa angeführten kenningar Snorri mit dem Zitat von Úlfs Strophe in Skáldskaparmál 24 hat illustrieren wollen. Wenigstens þiofr Brisingamens sollte sich darauf beziehen, und die Charakterisierung hiɴ slægi ás findet man, wie oben gezeigt wurde, ausdrücklich in der Strophe erwähnt und auf Loki bezogen. Möglicherweise könnte auch þrætv dolgr heimdala dazu gehören; f. þræta (unter anderem ‚Zwistigkeit‘) deutet aber nicht zwangsweise einen Kampf an, vielleicht wird hier auch auf ein anderes Motiv angespielt²⁴. Nach Snorris Meinung soll also Úlfr geschildert haben, wie Heimdallr mit Loki um das Halsband Brísingamen, das Loki der Freyja gestohlen hatte, kämpfte. Snorris Zuverlässigkeit als Interpret dünkt mir in diesem Fall umso größer, als es wirklich scheint, dass er Zugang zu Strophen der Húsdrápa gehabt hat, die er aber nicht zitiert und die deshalb nicht mehr erhalten sind. Dies geht unter anderem daraus hervor, dass Snorri in allen Handschriften außer T ausdrücklich sagt, „dort“ (þar), d.  h.: in Úlfr Uggasons Húsdrápa, werde berichtet, dass Heimdallr und Loki

20 þar fehlt in T. 21 Snorra-Edda (r), 98  f. Mit kleineren Abweichungen in TWU. 22 Unten nach Snorra-Edda, ed. Finnur Jónsson, 100. 23 heimdala (r, Blatt 22v): Finnur Jónsson führt diese Schreibart nur im kritischen Apparat an und emendiert im Text zu Heimdalar. TWU: -dal(l)ar. 24 Siehe unten, S. 303.

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 Der Kampf um das Brísingamen

„in Robbengestalt“ (isela likivm) einander begegnet wären. Die überlieferten Strophen aber schweigen davon. Zwar meinte Ivar Lindquist²⁵, das Motiv dadurch in der hier besprochenen Strophe nachweisen zu können, dass er rein zu einem (sonst nicht belegten) Wort *reinn ‚Robbe‘ emendierte. Weil ein Substantiv der handschriftlichen Lesart rein schon belegbar ist, und zwar in einer ganz anderen Bedeutung²⁶, scheint aber die Rekonstruktion eines angeblich verlorengegangenen Substantivs *reinn ‚Robbe‘²⁷ bedenklich. Wenn übrigens das Wort noch für Snorri im Sinn von ‚Robbe‘ zu verstehen gewesen wäre, wäre es nur umso merkwürdiger, dass es in dieser Bedeutung nirgendwo in den germanischen Sprachen belegt ist²⁸. Umgekehrt kann ich aber auch nicht nachvollziehen, dass Snorri Gründe dazu gehabt hätte, das Motiv zu erdichten. Dagegen würde das Motiv ohne Zweifel sehr gut mit dem Namen Vágasker, der mit ‚der Wellen Felseneiland‘ übertragen werden kann, und mit dem Namen hafnýra ‚Meerniere‘ zusammenpassen, ungeachtet dessen, wofür dieser Name steht. Snorri dürfte folglich das Motiv an einer anderen Stelle gefunden und von dort übernommen haben. Eine andere Möglichkeit erwägt freilich Kurt Schier, der vorschlägt, Snorris Angabe könnte auf die Ritzungen auf Hjarðarholt zurückgehen²⁹. Dann hätten wir es mit einer Deutung Snorris dieser Bilderreihe zu tun. Außerdem muss natürlich auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass Snorri eine andere Strophe falsch verstanden haben könnte. Auch in diesen beiden Fällen muss aber vorausgesetzt werden, dass Snorri mehr Information hatte als wir. Vielleicht kann auch der Ortsname Vágasker, den Snorri im selben Atemzug wie den Kampfplatz Singasteinn erwähnt, aus einer anderen Strophe entlehnt sein. Hier ist es jedoch auch möglich, dass es um verschiedene Mythentraditionen geht, die Snorri neben einander stellt³⁰. Schließlich sagt Snorri, Úlfr habe in der Húsdrápa „eine lange Weile“ (langa stund)³¹ über dieses Motiv gedichtet. Unsere acht Zeilen können damit nicht gemeint sein³². Snorri hat also allem Anschein nach mehr gewusst als wir, was seiner Deutung des Inhalts der Textstelle Gewicht verleiht.

25 Guden Heimdall, 84  f. 26 Lex. poet., s. v. „rein“. Siehe weiter unten. 27 Lindquist bezieht sich dabei auf eine im Litauischen belegte Wurzel mit der Bedeutung ‚gesprenkelt, graubunt‘ (indogermanisch *roi-); dazu wäre dann unter anderem litauisch rùinis ‚Robbe‘ zu stellen. 28 Andere kritische Einwendungen gegen Lindquists Deutung wurde von F. Ström (Loki, 133) angeführt. 29 Schier, Húsdrápa 2, 585. 30 Vgl. Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 509  f. Ebd., 512, wird auch erwogen, ob nicht Vágasker Snorris Deutung von Singasteinn, dessen Eigenschaften und Gegebenheiten für uns weitgehend im Dunkeln liegen, sein könnte, was ebenfalls denkbar scheint. 31 (!) also ‚ein langes Stück‘. 32 Vgl. Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 508 mit Literatur Anm. 25.

Die Belege 

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Snorris Deutung wurde aber mit einer Interpretation, die zuerst von Kurt Schier vorgelegt wurde und auf die in der Forschung seit den 1960er Jahren immer wieder Bezug genommen worden ist³³, in Bausch und Bogen verworfen. Nach dieser Interpretation soll die Strophe gar nicht von einem Raub des Brísingamen, sondern von einem Streit um die Erde und von deren Schöpfung aus dem Urmeer handeln. Bei dieser Deutung muss aber nicht nur entweder mit Emendationen oder mit nicht belegten Bedeutungen des Worts rein, sondern auch mit Mythen gearbeitet werden, die zwar auf dem Balkan und in Sibirien, nicht aber im germanischen Sprachraum belegt sind³⁴. Die Andeutung in Vǫluspá 4, „Burs Söhne“ hätten die Erde im Schöpfungsakt „emporgehoben“, berichtet nämlich nichts von einem Streit zwischen Heimdallr und Loki, und, da Heimdallr keiner von Burs Söhnen ist, könnte sie sogar als Gegenargument für die Existenz eines solchen Mythos verwendet werden. Der Mythos vom Raub des Brísingamen dagegen ist aus mehreren Stellen außerhalb der Snorra-Edda bekannt. 1. Wenigstens die kenningar, die auf das Motiv von Loki als Dieb des Brísingamen zurückgehen, haben eine Entsprechung in einem Skaldengedicht, das älter als die Húsdrápa ist: Þjóðólfs ór Hvíni Haustlǫng (9. Jahrhundert). In der 9. Strophe wird nämlich Loki hier mit dem Namen Brísings girði þjófr ‚Dieb des Brísingsgürtel‘ bezeichnet³⁵. 2. Alt ist auch das altenglische Bēowulf-Lied, obwohl die Vorschläge seiner Datierung bekanntlich zwischen den Jahren 700 und 1000 schwanken. In Bēowulf 1197  ff. erzählt der scop: Nǣninge ic under swegle sēlran hȳrde hordmāðụm hæleþa, syþðan Hāma ætwæg tō þǣre³⁶ byrhtan byrig Brōsinga mene,

33 Schier, Erdschöpfung (1963); Dronke, Beowulf and Ragnarǫk, 324 (1969); Schier, Húsdrápa 2 (1976); Dronke, Eddic poetry, 669  f. (1992); Tolley, Heimdallr (1996), 88  f.; Schier, Loki og Heimdallur (1999); Marold, Die Húsdrápa (2000); Thorvaldsen, Mǫgr átta mðra (2002), Kap. 8,4; Tolley, Shamanism (2009), 397  f. 34 Kritische Einwände dagegen erhoben früher der Verf., Der Ursprung des Feuers, 64  ff. und Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 510  ff. (vgl. dens., Freyja, 288). Mein früherer Einwand (ebd., 65), das von den Anhängern dieser Interpretation als eine Bezeichnung für die Erde bzw. ein Stückchen Erde verstandene Substantiv rein würde als  f. ō-Stamm in Dativ Singular eine u-Endung voraussetzen, „zieht“ dagegen vielleicht nicht, wie Heizmann (ebd., Anm. 41) bemerkt, denn die Deklinierung schwankt. 35 Skj. B  I, 16. – Zum Zusammenhang des Brísingsgürtels mit dem Halsband kommen wir später zurück. 36 þǣre: Handschrift here. Malone (Wīdsīþ, 161  f.) behält here und interpretiert es als eine spätere Form von altenglisch heora oder hyra ‚ihrer‘, also ‚seit Hāma zu ihrer hehren Burg das Brōsinga mene brachte‘, wobei in diesem Fall mit „ihrer“ ‚die Brōsingar‘ (als Stammesname) gemeint wären. Vgl. unten.

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 Der Kampf um das Brísingamen

sigle ond sincfæt, – searonīðas flēah³⁷ Eormenrīces, gecēas ēcne rǣd. – ‚Noch hörte ich von einem bessern Hort-Schatz³⁸ der Menschen nie, seitdem zur hehren Burg den Halsschmuck der Brosingen Heime brachte, Schmuck und Kästchen³⁹; – des Ermenric Verfolgung entfliehend, kor er sich das ew’ge Heil‘⁴⁰.

Der Divergenz ō : í zum Trotz wird man geneigt sein, anzunehmen, dass es sich bei dem Brōsinga mene und dem Brísingamen um ein und dieselbe Vorstellung handelt⁴¹. Weil nun überdies Hāma dem Erstglied in Heim-dallr entspricht⁴², wird in der Forschung gewöhnlich angenommen, dass eine Beziehung zwischen dem altwestnordischen Mythos und der Bēowulf-Passage bestehen muss. Diese Annahme scheint auch deshalb berechtigt zu sein, weil das antithetische Verhältnis von Heimdallr und Loki sowie der Raub eines Schatzes⁴³ im Bēowulf wiedergefunden werden können. Die Bēowulf-Passage erinnert jedoch nicht nur an das Motiv des Raubes des Brísingamen. Sowohl die Grundzüge der Handlung als auch die Protagonisten teilt sie nämlich mit germanischen Traditionen von ursprünglich historischen Personen aus der gotischen Heldensage⁴⁴. In der norwegischen „Þiðriks saga af Bern“, die um 1250 aus niederdeutschen Quellen übertragen wurde, wird in Kap. 288 erzählt, dass Heimir (Hāma) sich zum Hof des Königs Erminríkr (Eormenrīc, des ostgotischen Königs Ermanaric, gest. um 375) begibt, sich aber wegen seiner Treue dem König Þiðrikr (Theoderic der Große, gest. 526) gegenüber mit Erminríkr und dessen Ratgeber Sifka verfeindet. Zusammen mit seinem Freund Viðga (dem gotischen Helden Vidigoia, 4. Jahrhundert) flieht er also. Dieser Viðga taucht als Wudga schon im Wīdsīþ (9. Jahrhundert) auf, als die beiden Gotenkrieger Z. 118–29 im Weichsel-Wald gegen das Heer des Hunnenkönigs Attila

37 flēah: Handschrift fealh. Eine Deutung der handschriftlichen Lesart versuchte Hintz (The Hama reference), der searonīðas Eormenrīces fēalh (fēolan ‚penetrate, reach‘) mit Hāma ‚reached (or incurred, or penetrated to) the treacherois envy […] of Eormanaric‘ übersetzte (S. 99; vgl. S. 100). Die Emendierung scheint mir jedoch berechtigt; vgl. die Kritik an Hintz’ forcierter Deutung bei S. Bugge, Studien über das Beowulfepos, 69. 38 „bessern Hort-Schatz“ (hordmāðụm…sēlran): Heyne übersetzt mit „größern Kleinod“. Möglicherweise werden nämlich nicht alle in Z. 1193–96 aufgezählte Schätze gemeint, sondern nur das „größte Halsband derer, derer ich auf Erden gehört habe“ (healsbēaga mǣst | þāra þe ic on foldan | gefrægen hæbbe, 1195b  ff.). 39 „Schmuck und Kästchen“ (sigle ond sincfæt): Heyne übersetzt mit „den lichten Schatz“. 40 Die Übersetzung orientiert sich an Bēowulf, ed. Heyne, Z. 1208  ff. 41 Zur altenglischen Form, siehe unten, Anm. 51. 42 Altenglisch hām ‚Heim‘ (oder ‚Heimchen, Acheta domesticus‘) = altnordisch heim-. 43 Siehe näher unten. 44 Im Folgenden nach S. Bugge, Studien über das Beowulfepos, 69  ff. dargestellt.

Die Belege 

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kämpfen. Interessanterweise werden sie hier mit dem Substantiv wrecca (wræcca) bezeichnet, dessen Grundbedeutung ‚einer, der in Verfolgung, im Exil lebt‘ ist⁴⁵. Dies erinnert offenbar an die Flucht vor Ermenrich in der Þiðriks saga, im Zuge dieser sich auch Heimir eine Zeit lang im Walde aufhält, bevor er schließlich ins Kloster geht (Þiðriks saga af Bern 429). Den Klosterbrüdern schenkt Heimir alles, was er hat, darunter 10 Pfund in Gold und Silber, die er mitgebracht hat⁴⁶. Man wird folgern, dass er diese Schätze dem Erminríkr gestohlen habe. Dass der König der Ostgoten große Reichtümer besessen hat, scheint ein weit verbreiteter Topos gewesen zu sein. Zum Beispiel berichtet Saxo um 1200, dass Iarmenricus den „Privatschatz“ (privatum ærarium) des Königs Ismarus gestohlen und später eine ganze Burg gebaut hätte, um seine Schätze verwahren zu können⁴⁷. Dem entspricht natürlich Hāmas Flucht vor Eormenrīc im Bēowulf und die Erwähnung des Halsbands. Möglicherweise enthält schon dieses Gedicht auch eine Andeutung auf Hāmas Klosterleben, nämlich wenn mit Sophus Bugge die „hehre Burg“ oder „Stadt“ (byrig) als das Kloster gedeutet werden darf, in das Hāma das Gold brachte und dadurch „das ewige Heil“ erwählte (gecēas ēcne rǣd), also ‚das Klosterleben wählte‘, „so dass er, als er starb, zur seligkeit eingieng“⁴⁸. Allerdings ist es auch möglich, die Halbzeile als eine Umschreibung der Folgen von Eormenrīcs Verfolgung zu deuten und sie mit Karl Müllenhoff einfach als „er starb“ aufzufassen⁴⁹. Die Bēowulf-Stelle scheint also auf eine kontinentale Heldensage zurückzugehen. Schon diese sollte aber nach einigen Forschern Spuren des Brísingamen enthalten. In der Forschung wurde auf die mittelhochdeutsche Heldendichtung von „Dietrichs Flucht“ (um 1300) hingewiesen, nach welcher Ermenrichs Schatz ursprünglich den gotischen Harlungen⁵⁰ gehört hätte. Da diese nun nach Eckehard von Aurach (um 1100) ihre Hochburg bei Brīsaha (Breisach) gehabt hätten, wurde die Folgerung angestellt, dass die Harlungen die Brísingar, also ‚Breisacher‘, im Namen men Brísinga (Plural) seien⁵¹.

45 Vgl. n. wræc ‚Elend, Verfolgung, Exil‘, Komposita wræcfæc ‚Zeit des Exils‘, wræclástian ‚j-n ins Exil verbannen‘ usf. 46 æigi minna enn .x. punnd, später hinzugefügt: i gulle og filfre. Þiðriks saga af Bern, 376. 47 Gesta Danorum VIII,X,2 bzw. VIII,X,7. Zum Raub des Schatzes vgl. unten. Das Motiv der Reichtümer des Ermenrich wird auch durch kontinentale Quellen, z.  B. Reinecke de Voss, bestätigt; siehe Bugge, Studien über das Beowulfepos, 71. 48 Bugge, ebd., 70, mit verwandten Belegen. 49 Siehe Malone in Wīdsīþ, 160  f., mit Hinweis auf Bēowulf 2469b: Godes leoht geceas ‚erwählte Gottes Licht‘ = ‚starb‘ (von Bēowulfs Tod). 50 Der Name ist schon in Wīdsīþ 112b (Herelingas) bekannt und wird als Bezeichnung einiger Ostgoten erwähnt. Unter anderen Ostgoten wird auch Heime angeführt (124b. 130b). 51 Wenn Brōsinga eine ursprüngliche Form (< Brōsung-?) darstellt, könnte die Etymologie zwar einerseits in Frage gestellt werden (Malone in Wīdsīþ, 161). Die Form mit ō statt ī kann andererseits als reiner Schreibfehler im Lauf der Überlieferung entstanden sein (Klingenberg, Brísingamen, 464a).

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 Der Kampf um das Brísingamen

Um nach diesem Ausblick zur Bēowulf-Passage zurückzukehren, mögen die drei wichtigsten Erklärungswege, die für das Vorkommen des Namens Brōsinga mene in Bēowulf 1199b und für die Ähnlichkeiten der Traditionen vorgeschlagen worden sind, angeführt werden: a) Die Heldensage vom Raub des Harlungengoldes stelle eine euhemerisierte Form eines gemeingermanischen Grundmythos vom Diebstahl des Halsbands der Göttin Freyja dar. b) Der altwestnordische Mythos sei von der germanischen Heldensage beeinflusst. c) Es handle von zwei selbständigen Traditionen. Die erste Alternative (a) ist von einer Reihe von Forschern vertreten⁵², scheint mir aber wenig überzeugend. Wenn Bēowulf 1197  ff. einen euhemerisierten Mythos darstellen sollte, dann müsste dasselbe auch für die eng verwandte kontinentalgermanische Tradition, die mit denselben Motiven und Personen arbeitet, angenommen werden. In keiner der Traditionen außerhalb der altwestnordischen mythologischen Literatur und des Bēowulf-Epos kommt aber Freyjas Halsband Brísingamen, das ja den Kern des Mythos ausmachen soll, vor. Wenn man bedenkt, dass Bēowulf aber sehr wohl von derselben altwestnordischen Tradition beeinflusst sein konnte, dann wird es schwierig, die Existenz eines urgermanischen Mythos glaubwürdig zu machen. Ja, in der Tat: außerhalb der nordischen Tradition ist nichts mythologisch außer möglicherweise der Name Brōsinga mene im Bēowulf. Wir bewegen uns unter Protagonisten, die auf historische Helden des germanischen Altertums zurückgehen und deren Verhältnis zueinander (Heimir geht in der Þiðriks saga mit dem positiv konnotierten Ostgotenkönig Þiðrikr eine Allianz gegen Ermenríkr ein usw.) aus der traditionellen Bewertung ihrer Gestalten durchaus verständlich ist. Hier einen Mythos als Grundlage einzuschieben, scheint einfach überflüssig. Die Vorschläge von Dronke⁵³ und Tolley⁵⁴, die „hehre Burg“ (byrhtan byrig) in Bēowulf 1199a würde Heimdalls Eigenschaft als „der weiße Gott“ (inn hvíti áss) und der Satz, Hāma „erwählte das ewige Heil“ (gecēas ēcne rǣd) in Bēowulf 1201b, Heimdalls Eigenschaft als „ratklug“ (ráðgegninn) reflektieren, lasse ich unkommentiert⁵⁵. Viel logischer erscheint mir, dass der altwestnordische Mythos von der Heldensage beeinflusst ist (b)⁵⁶. Wīdsīþ sowie das Bēowulf-Lied selber zeigen, dass die Heldensage schon sehr früh in Gebieten verbreitet war, mit denen die Nordgermanen in Kontakt standen. Lokis bewährte Rolle als Dieb der Götterkleinodien und die Namensgleichheit Heimdallr : Hāma könnte dazu geführt haben, dass die Sage vom

52 Müllenhoff, Frija und der halsbandmythus; Branston, The lost gods, 142; Dronke, Beowulf and Ragnarǫk, 324  f.; North, Heathen gods, 196  f.; Tolley, Heimdallr, 85; Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 519. 53 Beowulf and Ragnarǫk, 322  ff. 54 Heimdallr, 85; Shamanism, 390. 55 Vgl. auch Branston, The lost gods, 142: der byrig sei Asgard. 56 So S. Bugge, Studien über das Beowulfepos; Wīdsīþ, 162 (Malone).

Die Belege 

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Hort der Breisacher den Anstoß zu einem neuen Mythos vom Raub eines Brísingamen (< Breisach?) gab⁵⁷. Unklar bliebe dabei allerdings, warum das Harlungengold im Bēowulf zu einem Halsband (mene) geworden ist. Eine Erklärung dazu gäbe Alternative c: Es handelt von zwei selbständigen Traditionen, einer kontinentalgermanischen Heldensage und einem nordgermanischen Mythos. Folgt man dieser Alternative (c)⁵⁸, muss die oben erwähnte Etymologie von Brísing- zu Breisach fallen gelassen werden. Gegen den Vorschlag, diese Etymologie aufzugeben, führt die Frankfurter Edda-Ausgabe⁵⁹ an, dass Brísinga als ursprünglicher Stammesname im Genitiv Plural zusammen mit men Entsprechungen in Formeln wie hodd Niflunga (Atlakviða 26) hat. Verwandt damit wäre dann der schon im 5. Jahrhundert belegte Stammesname der Breisgauer, Brisigavi. Der Einwand ist freilich nicht zwingend. Auch könnte erwidert werden, dass der älteste altwestnordische Beleg des Namens, im Gedicht Haustlǫng (siehe oben), kein Völkername ist, sondern ein Singular Brísings-. Wird demnach die Etymologie Brísinga < Breisach fallen gelassen und wird also mit zwei selbständigen Traditionen – einer nordischen, mythologischen und einer kontinentalen, heroischen – gerechnet, bleibt noch zu erklären, warum der altenglische Dichter in seiner Behandlung der Heldentradition sich dafür entschieden hat, dem Harlungengold den Namen Brōsinga mene zu geben. Es wäre doch ein merkwürdiger Zufall, dass in zwei derart ähnlichen Erzählungen zwei so ähnliche Namen (Brísinga men, Brōsinga mene) vorkommen, wenn sie selbständigen Ursprungs wären. Für das synkretistische Milieu des wikingerzeitlichen England wäre es aber nicht schwer vorstellbar, dass der Dichter seinen z.  T. skandinavischen Stoff auch für ein skandinavisches Publikum verständlich und zugänglich machen wollte. Die Ähnlichkeit der Episode Bēowulf 1197  ff. mit dem altwestnordischen Mythos, sowohl inhaltlich als auch durch die zufällige Namensgleichheit Hāma : Heimdallr, mag für den Dichter die Motivation gewesen sein, die Erzählungen einander dadurch anzunähern, dass er den gestohlenen Schatz nach dem bekannten Halsband der Göttin Freyja benannt hatte. Dies würde auch erklären, warum der Harlungenhort im Bēowulf (und gerade nur im Bēowulf!) zu einem einzelnen Schmuckstück, Brōsinga mene, | sigle ond sincfæt ‚Halsschmuck der Brōsingar, | Schmuckstück und Kästchen‘, geworden ist. Aus dem oben Gesagten sollte hervorgehen, dass ich nicht glaube, dass die Bēowulf-Passage sehr viel über Heimdallr aussagen kann. Es ist kein „degenerierter Mythos“, den wir vor uns haben. Meiner Meinung nach stellt die Passage wahrschein-

57 Wenn häufig der umgekehrte Weg der Beeinflussung bevorzugt wurde, dann dürfte das z.  T. auf der auf Jacob Grimm zurückgehenden Vorstellung beruhen, dass es zum natürlichen Lebenslauf der volkstümlichen Erzähltradition gehören würde, dass Mythen zu Heldensagen „degenerieren“, nicht Sagen zu Mythen werden. Kategorisch wird man eine Beeinflussung in der umgekehrten Richtung aber nicht ausschließen können. 58 So Ohlmarks, Heimdalls Horn, 264  f. 59 Edda, ed. von See II, 544.

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 Der Kampf um das Brísingamen

lich eine Heldensage mit mythologischer Zutat dar. Die durch das Wort Brōsinga mene bekundete Wahrnehmung einer Ähnlichkeit der beiden Traditionen lässt allerdings schließen, dass die Form des nordischen Mythos, wie er zur Zeit der Entstehung des Bēowulf aussah, mit der Heldentradition vergleichbar gewesen sein muss: Der böse Protagonist (Loki) stiehlt einen Schmuck; der gute Held (Heimdallr) holt ihn zurück. Dies scheint das hohe Alter eines Mythos, der Snorris späterer Nacherzählung von Húsdrápa 2 nahekommt, zu bestätigen. Es ist auch ein Argument dafür, dass nicht erst Snorri den Mythos vom Raub des Brísingamen aus selbständigen Fragmenten komponierte⁶⁰. 3. Auch in dem Eddagedicht Þrymskviða⁶¹ kommt Freyjas Halsband Brísingamen vor. Zwar geht es hier nicht um einen Raub dieses Schmucks; die Themen sind aber miteinander verwandt. Die Handlung ist, dass Þórs Hammer von den Riesen gestohlen ist. Die Riesen verlangen im Austausch für den Hammer die Göttin Freyja, die sich aber weigert, nach Jǫtunheimar zu fahren. Dann aber spricht Heimdallr: 15.

Þa qvaþ þat Heimdallr, hvitastr ása, – vissi hann vel fram sem vanir aþrir –: „Bindo ver Þor þa brvþar lini, hafi hann iþ micla men Brisinga!“

‚Da sagte Heimdallr, | der weißeste der Asen, – | er wusste die Zukunft gut, | wie sonst die Wanen –: „Binden wir dann Þórr | den Brautschleier um, | er soll tragen den großen | Brísingamen!“ ‘⁶². 16.

„Latom vnd hanom hrynia lvcla oc kvennvaþir vm kne falla, en a briosti breiþa steína oc hagliga vm hꜹfvþ typpom!“

‚„Lassen wir an seiner Seite | Schlüssel klirren | und Frauenkleider | über die Knie fallen, | und auf der Brust | breite Steine [sein], | und setzen wir [ihm] kunstvoll den Kopfputz auf!“‘⁶³.

Die Þrymskviða ist mit aller Wahrscheinlichkeit ein spätes Lied. Dafür sprechen unter anderem Parallelismen wie 25,3  ff. Hvar sattv brvþir | bíta hvassara? | saca ec brvþir | bíta breiðara und Wiederholungen, die eine Nähe zu den Balladen des 12. und 13. Jahrhunderts andeuten⁶⁴. Jünger als die Snorra-Edda dürfte sie nicht sein, da Snorri,

60 Vgl. Heizmanns Zusammenfassung von Schiers Hypothese, Der Raub des Brísingamen, 510; dens., Freyja, 288. 61 Darauf stützen sich Þrymlur II, Strophe 8  f. 62 Die Übersetzung orientiert sich an Edda, ed. von See II, 547. 63 Übersetzung ebd., 549. Die Hakenparenthesen rühren vom Übersetzer her. 64 de Vries, Altnordische Literaturgeschichte II, § 173. Edda, ed. von See II, 522  f. – de Vries (ebd., 135) zählt das Lied „zu den jüngsten Eddaliedern“.

Die Belege 

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sich auf die Þrymskviða zu stützen scheint⁶⁵. Auch ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis wäre möglich, wenn es auch nicht sehr überzeugend ist. Vor allem muss der besondere Ton, der die Þrymskviða prägt, beachtet werden. Die Forscher haben mehrmals das Balladeske an diesem Lied, seinen Charakter der Travestie usw. hervorgehoben⁶⁶ – Merkmale, die deutlich zeigen, dass hier die alten Götter für komische Effekte herangezogen worden sind. Das heißt aber nicht, dass die so verwendeten Züge frei erfunden wären. Im Vergleich mit Húsdrápa 2 scheint es mir bemerkenswert, dass an beiden Stellen (Þrymskviða 15,3  f.; Húsdrápa 2,1) Heimdallr als „ratklug“ dargestellt bzw. bezeichnet wird. Dies zeigt vielleicht auf eine Verwandtschaft der Traditionen. Vor allem aber ist die Konstellation vergleichbar: Freyja soll – zusammen mit dem Brísingamen – den Riesen ausgeliefert werden, und Loki soll ihr Begleiter sein. Auch in der Húsdrápa scheint Loki das Halsband nach Jǫtunheimar zu führen. Dass in der Þrymskviða Heimdallr als Ratgeber auftritt, dürfte deshalb kein Zufall sein: Der Dichter hat die Verwandtschaft mit dem Mythos des Raubs des Brísingamen erkannt. 4. Viel später als alle die oben aufgezählten Quellen ist der Sǫrlaþáttr entstanden, den wir erst aus einer Handschrift des ausgehenden 14. Jahrhunderts kennen⁶⁷. Hier kommt der Diebstahl Lokis von Freyjas Halsband, das als ein gullmen⁶⁸ verstanden wird, in einer burlesken Sage vor, die als quasi-mythologische Einleitung zur Erzählung vom Hjaðningavíg dient. Freyja verlangt hier ein Schmuckstück, das einige Zwerge geschmiedet haben; um den Schmuck zu bekommen, muss sie mit jedem der Zwerge schlafen. Ihr Liebhaber Óðinn (gewöhnlich der Gatte Friggs) erfährt von ihrer Untreue und befiehlt seinem Getreuen (!), Loki, das Halsband zu stehlen. Um es zurückzubekommen, muss Freyja einen ewigen Streit zwischen Königen (das Hjaðningavíg) stiften. – Ich zögere, den Quellenwert der Erzählung allzu hoch einzuschätzen. Die Sǫrlaþáttr wird mit einer euhemeristischen Geschichte eingeleitet, die sehr an Snorris Heimskringla erinnert⁶⁹. Es scheint mir sehr wohl möglich, dass der Verfasser die Heimskringla und wahrscheinlich auch die Snorra-Edda verwendet hat und dass seine Erzählung als Quelle zum Mythos vom Brísingamen also völlig sekundär ist. Gelegentlich wird in der Forschung auch der Name Menglǫð ‚die Halsbandsfrohe‘ – eine mythologische Frau aus den Fjǫlsvinnsmál (8.  37. 41  ff.) – mit Freyja

65 Die Übereinstimmungen sind in Edda, ed. von See II, 525  f. aufgelistet. 66 So de Vries, Altnordische Literaturgeschichte II, 134  f. 67 Flateyjarbók I, 275–83. 68 Ebd., 275. 69 Die Erzählung beginnt: Firir austan Uanakuisl j Asia var kallat Asialand der Asiaheimr, vgl. Ynglinga saga 2: Fyrir austan Tanakvísl í Ásíá var kallat Ásaland eða Ásaheimr. Die Namensform Uanakuisl hat nie einen historischen Fluss bezeichnet; in der Ynglinga saga ist sie ein Wortspiel auf Tanakvísl (= Tanais) und der Göttergruppe der vanir, die nach Snorri westlich dieses Flusses lebten; der Sǫrlaþáttr hat die Form behalten, den hinter dem Wortspiel stehenden Gedanken aber nicht übernommen, eine Andeutung darauf, dass der Text von der Heimskringla abhängig sein könnte.

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 Der Kampf um das Brísingamen

verbunden⁷⁰; dies beruht jedoch auf einem Rückschluss auf Freyja als Besitzerin des Brísingamen. Eine im Zusammenhang manchmal herangezogene Erzählung aus Saxo, Gesta Danorum I,VII,1, wonach Frigg (nicht Freyja) einer Statue des Óðinn ihre Schmuckstücke raubt, hat, trotz einigen Gemeinsamkeiten (Schmuck, Schmiede), mit unserem Mythos nichts zu tun⁷¹. Die obenstehende Übersicht sollte gezeigt haben, dass der von Snorri erzählte und mit Húsdrápa 2 in Verbindung gebrachte Mythos des Raubs des Brísingamen auf altwestnordischem Boden ziemlich fest verankert ist. Wenn eine Deutung von Húsdrápa 2, als der ältesten ausführlichen Quelle zum Mythos, versucht werden soll, gibt es also kein Grund, Parallelen, die außerhalb des altwestnordischen Kulturraums gefunden werden könnten, vor Snorris Deutung zu bevorzugen.

3.2 Auslegung Geht man davon aus, dass Snorri den Inhalt der Strophe richtig interpretiert hat, wird man versuchen, den Inhalt in Einklang mit Snorris Nacherzählung zu bringen. Der bis heute gelungenste Versuch dazu ist meines Erachtens die Untersuchung Wilhelm Heizmanns⁷². Die von Heizmann vorgeschlagene Prosawortfolge soll hier ohne Veränderungen akzeptiert werden. Seine Übersetzung⁷³ wird unten neben der entsprechenden Prosawortfolge des altwestnordischen Textes angeführt; danach sollen einige Stellen, die mir noch problematisch erscheinen, kommentiert werden⁷⁴. Ráðgegninn frægr ragna rein|vári bregðr við firna slœgjan Fárbauta mǫg at Singasteini. ‚Der ratkluge, berühmte Grenzwächter der Götter [Heimdallr] kämpft mit Fárbautis überaus gerissenem Sohn [Loki] beim Singasteinn [eine Schäre].‘

70 Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, § 554. 71 Wie Sijmons und Gering in ihrer Edda-Ausgabe (III 1, zu Þrymskviða 12,3) behaupten könnten, die Frigg-Erzählung sei die ursprünglichere, ist schwer nachvollziehbar. 72 Heizmann, Der Raub des Brísingamen. 73 Ebd., 521. Die Klammern stammen von Heizmann; die Einteilung in Halbstrophen und die altwestnordischen Textstücke wurden vom Verf. eingefügt. 74 Mit der ganzen Strophe habe ich mich schon im Jahr 2005 (Verf., Der Ursprung des Feuers, erschienen in Arkiv för nordisk filologi 2007) befasst. Die damals vorgelegte Deutung der Strophe ging von meinem damals ziemlich unvollständigen Bild von Heimdallr aus und zielte in die Richtung der älteren Forschung, die Heimdallr als einen strahlenden Himmelsgott auffasste, der die nordgermanische Entwicklungsform des indogermanischen Dyáuṣ pit darstellen und so unter anderem auch mit dem griechischen Zeus patḗr verwandt sein sollte. Die Deutung ist inhaltlich mit den Resultaten der vorliegenden Arbeit unvereinbar und weist auch sprachwissenschaftlich einige Probleme, auf die schon Heizmann (ebd., Anm. 99) hingewiesen hat, auf (es geht hier vor allem um das Wort áðr; Heizmanns alternative Erklärung ist plausibler und soll hier übernommen werden).

Auslegung 

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Áðr ræðr móðflugr mǫgr átta mœðra ok einnar fǫgru hafnýra. Kynni ek [þat, nl. das Hervorgehende] mærðar þǫˊttum. ‚Dann aber besitzt der mutig-kraftvolle Sohn von acht Müttern und einer [Heimdallr] die schöne Meerniere [das Brísingamen]. Das tue ich in Abschnitten des Gedichts kund.‘

Ein Kommentar ist vor allem bezüglich der Lesarten und Übersetzungen von (ragna) rein|vári ‚Grenzwächter (der Götter)‘ und bregðr við ‚kämpft mit‘ angebracht. Die Verbindung von rein am Anfang der Strophe mit vári, das letzte Wort der ersten Halbstrophe, nannte schon E. A. Kock⁷⁵ – damals in Kritik an Finnur Jónsson⁷⁶ – eine geradezu „halsbrechende Tmesis“. Weil ein 〈r〉 einfach als ein 〈ꞇ〉 aufgefasst werden könne, nahm Kock an der Stelle eine hypothetische Entwicklung in der Handschriftentradition von rein at Singasteini < *reinat at… < *reinar at… an und las ragna reinar vári ‚väktaren av gudars brygga‘. Trotz späterer Zustimmung⁷⁷ und Kocks eigenem Versuch, Beispiele von sieben- statt von sechssilbigen Zeilen in dróttkvætt anzuführen⁷⁸, kann aber seine Emendierung aus metrischen Gründen angezweifelt werden⁷⁹. Wenn rein andererseits allein stehen würde, müsste es ein Objekt zum Verb bregðr ausmachen. Die Vorschläge, die in diese Richtung gemacht wurden, können aber nicht überzeugen, vor allem deshalb nicht, weil die Bedeutungen, die für f. rein bzw. bregða belegt sind, nicht damit vereinbar zu sein scheinen. Die Grundbedeutung von bregða dürfte eine Veränderung der Lage implizieren – daher ‚bewegen⁸⁰; (ein Schwert aus der Scheide) ziehen⁸¹; ein Ende auf etwas machen⁸²‘ usf. Das Wort rein seinerseits bedeutet in der Prosaliteratur und in den Gesetzen ‚Ackerrain; der unbebaute Landstreifen zwischen zwei Grundbesitzen‘⁸³, in der Skaldensprache aber

75 Notationes Norrœnæ, § 420. 76 Skj. B I, 128, Úlfr 1,2. 77 Ohlmarks, Heimdalls Horn, 128  f.; Schier, Húsdrápa 2, 580  f.; Thorvaldsen, Kampen, 174; Verf., Der Ursprung des Feuers, 66  f. 78 Notationes Norrœnæ § 1912,3 (Komm. zum § 437) und § 3214; vgl. Verf., Der Ursprung des Feuers, 67, Anm. 24. 79 de Vries, The problem of Loki, 127; Marold, Die Húsdrápa, 295; Heizmann, Der Raub des Brísingamen, Anm. 20. – de Vries’ alternativem Vorschlag einer Emendierung rein at < *reinar kann ich nicht folgen. Das Verschwinden der Präposition hat zur Folge, dass de Vries Singasteinn nicht mehr als Hauptwort einer Ortsbestimmung auffassen konnte. An der Stelle stellte er das Substantiv als Objekt zum Verb bregða und verstand ihn als ein Gegenstand („a precious jewel“), den Heimdallr dem Loki „wegnehmen“ würde (zur Bedeutung des Verbs siehe unten. Zustimmung bei Pering, Heimdall, 12; F. Ström, Loki, 135). Dem kann entgegnet werden, dass noch Snorri wahrscheinlich at las oder hörte, da er ja Singasteinn als den Ort verstand (vgl. Verf., Der Ursprung des Feuers, 67). 80 ONP, s. v. „bregða 2“; Lex. poet., s. v. „bregða 1“. 81 ONP, s. v. „bregða 3“; Lex. poet., ebd. 82 ONP, s. v. „bregða 17“; Lex. poet., s. v. „bregða 3“. 83 Fritzner übersetzt es s. v.: ‚græsgroet Jordstrimmel, som ikke maa brydes op med Plov eller Spade, men derimod skal tjene til Grænse for Ager eller Grænseskjel mellem to Jord-eiendomme […]‘. Vgl.

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zumeist ‚Land‘, z.  B. in den kenningar Haka vagna rein ‚der Wagen des Haki (= der Schiffe) Land‘ („das Land der Schiffe“ = ‚das Meer‘)⁸⁴ oder rein bauga ‚Land der Armringe‘ (= ‚die Frau‘)⁸⁵. Ein Land kann man aber weder „schnell wegnehmen“ noch „beenden“⁸⁶. rein dürfte also nicht als Objekt zu bregðr gehören. Da aus sowohl metrischen wie auch methodischen Gründen eine Emendierung von rein zu *reinar zu vermeiden ist, dürfte die Zusammensetzung rein|vári vorzuziehen sein. Die Zusammensetzung (ragna) reinvári wurde in der Forschung häufig mit ‚der Wegwächter der Götter‘ übersetzt⁸⁷. Dies kommt aber nicht darauf an, dass irgendeine Bedeutung rein = ‚Weg‘ belegt ist⁸⁸, sondern lediglich darauf, dass die Forschung noch in Snorris Bann stand und Heimdallr in erster Linie als einen Wächter der Götterbrücke (des „Götterwegs“) auffasste. Ob Snorris Bild gerechtfertigt ist, ist ein Problem, das später für sich diskutiert werden muss; da die Angabe von Heimdallr als Brückenwächter jedoch nur bei Snorri belegt ist und ‚Brücke, Weg‘ keine belegte Bedeutung von rein darstellt, kann die Übersetzung ‚Wegwächter der Götter‘ wohl als ein Konstrukt der Forschung betrachtet werden. Heizmanns Übersetzung ‚Grenzwächter der Götter‘⁸⁹ ist vermutlich zutreffender. Sie geht von einer bei Snorri sicher belegten Eigenschaft Heimdalls als Wächter bzw. von einer in der Prosa gut belegten Bedeutung aus. In der Dichtung aber bedeutet rein wie gesagt zumeist ‚Land‘, nicht ‚Grenze‘. Schon von diesem Gesichtspunkt her gesehen wäre eine Bedeutung ‚Landeswächter der Götter‘⁹⁰ zu bevorzugen. Aller-

markrein, -reina (Frz., s.  v.); vgl. auch die altschwedische und althochdeutsche Verbindung ren ok sten, rein und stein; siehe J. Grimm, Abhandlungen zur mythologie, 34  ff. 84 Haustlǫng 16 (9. Jahrhundert), Skj. B I, 17. Analoge Fälle verzeichnet Meißner, Die Kenningar der Skalden, 92, 5c. 85 Diese und andere Belege mit rein in Lex. poet., s. v.; analoge Fälle der Umschreibung bei Meißner, Die Kenningar der Skalden, 413  f. 86 Eine Interpretation in diese Richtung vertrat E. A. Kock (Notationes Norrœnæ, §  420), der eine Übersetzung der Lesart bregðr ragna rein mit ‚gudarnas bro uppjives‘ vorschlug. Es scheint mir jedoch fraglich, ob der damit verglichene Ausdruck bregða búi wirklich eine (meines Wissens sonst unbelegte) Bedeutung ‚verlassen, aufgeben‘ tragen kann. Eher dürfte der Ausdruck zur ziemlich häufigen Bedeutung ‚aufhören mit; eine Sache beenden‘ usw. (siehe Lex. poet., s.  v. „bregða 3“; ONP, s. v. „bregða 17“) zu stellen sein; mit einer Bewegung von einem Ort zu einem anderen (ragna rein) hat er wohl wenig zu tun. – Marold (Die Húsdrápa, 295  ff.) konnte freilich eine Emendierung dadurch vermeiden, dass sie rein als Objekt zu bregða auffasste, dabei musste sie aber rein als ein kleines Stückchen Erde deuten, was sehr bedenklich erscheint. Näher dazu Verf., Der Ursprung des Feuers, 65  f.; Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 511. 87 Literatur bei Heizmann, Der Raub des Brísingamen, Anm. 16. 88 Eine (lediglich) mit Steinen markierte oder mit Gras bewachsene Grenzlinie zwischen zwei Äckern ist kein ‚Weg‘. 89 Vgl. de Vries, The problem of Loki, 126: ‚the defender of the borderland of the gods‘. 90 Vgl. North, Heathen gods, 281: „land-guardian of the powers“; Tolley, Heimdallr, 83 und dens., Shamanism, 394: ‚guardian of the territory of the gods‘.

Auslegung 

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dings ist bereits die Übersetzung vári mit ‚Wächter‘ fraglich. Da vári ein seltenes Wort ist, ist seine Bedeutung unsicher; wie oben erwähnt wurde, scheint etymologisch eine Bedeutung ‚Beschützer‘ ebenso denkbar wie die traditionelle Übersetzung mit ‚Wächter‘. Welche Bedeutung, die kontextuell sinnvoller ist, lässt sich aber erst feststellen, wenn wir uns ein besseres Bild vom Inhalt der Strophe machen können. Auch Heizmanns Übersetzung von bregðr við mit ‚kämpft mit‘ muss kommentiert werden. Die Übersetzung wurde schon öfters vorgeschlagen⁹¹. In dieser Bedeutung ist bregða við aber nicht belegt. Auch bei anderen Deutungen von bregðr musste freilich mit Emendierungen (von rein, siehe oben) bzw. mit unbelegten Bedeutungen des Verbs gearbeitet werden⁹². Sehr nahe an der Grundbedeutung des Verbs scheint mir aber die Bedeutung ‚(sich feindlich) gegen j-n wenden, einem (feindlich) entgegenziehen‘ zu sein⁹³. Die Übersetzung ‚kämpfen mit‘ mag letztendlich zu sehr von Snorris Angabe von Heimdalls Besuch bei Singasteinn abhängig sein: þá deildi hann við Loka. Auch die Bedeutung ‚j-m entgegenziehen‘ würde aber Snorris Auslegung nicht widersprechen, sondern nähme nur auf ein etwas früheres Stadium der Episode, bevor Heimdallr in der zweiten Halbstrophe „die schöne Meerniere besitzt“ (ræðr…hafnýra fǫgru), Bezug. Diese Bedeutung soll hier bevorzugt werden. Ist die oben dargelegte Auslegung berechtigt, dann scheinen die inhaltlichen Grundzüge des in Húsdrápa 2 geschilderten Mythos mit Snorris Auffassung übereinzustimmen: Loki und Heimdallr begegnen sich bei Singasteinn (isela likivm?)⁹⁴ im Kampf um einen Gegenstand, den Loki wahrscheinlich den Göttern gestohlen hat. Diesen Gegenstand identifiziert Snorri mit Freyjas Halsband Brísingamen. In der Strophe

91 Siehe Heizmann, Der Raub des Brísingamen, Anm. 38. 92 Finnur Jónsson meinte (Skj. B I, 128), bregða sei zu at Singasteini zu führen und mit ‚bevæge sig‘ zu übersetzen. Die Interpretation fand jedoch wenig Zustimmung, und Finnur musste später selber hinzufügen: „dette synes at være den naturligste tolkning, skönt b[regða] ellers ikke forekommer således“ (Lex. poet., s.  v. „bregða 1“). – de Vries’ Konstruktion (The problem of Loki, 127) *bregða e-u við e-t ‚j-m etwas (schnell) wegnehmen‘ (‚to take suddenly away‘) setzte ein Objekt in der ersten Halbstrophe voraus, das de Vries in den durch Weglassung der Präposition at „freigemachten“ Singasteinn fand (siehe oben, Anm. 79). Dabei würde aber dieser Gegenstand außer hafnýra in der zweiten Halbstrophe noch eine Bezeichnung in der ersten bekommen. – Nicht überzeugend finde ich Lindquists Übersetzung von bregðr mit ‚breaks a bargain‘ (Guden Heimdall, 83; entspricht wohl ONP, s. v. „bregða 18: ‚ophaeve (overkomst, etc.)‘ “), was ganz aus der Luft geholt zu sein scheint. 93 So Kock, Notationes Norrœnæ, § 1952; Schier, Húsdrápa 2, 580  f.; auch referiert bei Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 510. Vgl. Lex. poet., s. v. „við B 4“; Frz., s. v. „við 12“ bzw. ONP, s. v. „bregða við 1. 3“. 94 Heimdallr wird sonst nirgendwo als Gestaltenwandler geschildert. Sein Wissen scheint aber unter anderem Numinoses als Gegenstand zu haben (galdrar, die Zukunft, Runen: siehe oben, Kap. 2.3.2, Nr. 1). Dass Loki und Heimdallr gerade die Gestalt von Robben angenommen haben sollen, ist, wie schon angedeutet, sicher kontextuell bedingt: Vágasker und hafnýra deuten auf ein maritimes Milieu hin.

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aber wird er fǫgra hafnýra ‚die schöne Meerniere‘ genannt⁹⁵. Auch dieser Ausdruck lässt sich mit Snorris Interpretation in Einklang bringen. Das Wort hafnýra gleicht nämlich bezüglich seiner Bildung in der Skaldensprache gewöhnlichen kenningar für ‚Stein‘ usw., in denen das Hauptwort etwas Steinähnliches bezeichnet, z.  B. flóðkorn, rastakarn (zu rǫst ‚Mahlstrom‘), aurs epli und anderes mehr⁹⁶. Kurt Schier meinte deshalb, hafnýra solle eine Insel bezeichnen⁹⁷; doch nach Snorris Auslegung liegt die Bedeutung ‚Schmuckstein‘ viel näher. Birger Pering führte 1941 in seiner Heimdallr-Untersuchung eine Stelle aus dem „Exoticorum libri decem“ (1605) des niederländischen Arztes und Botanikers Carolus Clusius an, die zeigt, dass die Norweger spätestens im 16.  Jahrhundert eine Bohne kannten, für die sie, „dem Aussehen nach, den Namen ‚Meernieren‘ “ gebrauchten⁹⁸. Die Bohne trug also denselben Namen wie der Gegenstand in Húsdrápa 2: hafnýra, die ‚Meerniere‘. In späteren Quellen wird berichtet, dass die Bohnen auf den Färöer Inseln (und in Norwegen?) den Namen vættenyrer⁹⁹ ‚Wichtnieren‘ trugen¹⁰⁰. Wie wir sehen werden, wurden diese Bohnen auch und gerade als Steine aufgefasst, was die in Húsdrápa 2 verwendete Bezeichnung noch einleuchtender macht. Solche „Meernieren“ waren im Norden keine ungewöhnliche Erscheinung. Carolus Clusius kannte die Bohne unter dem Namen Cor Divi Thomæ, Cor, weil sie einem Herzen gleiche, und Divi Thomæ, weil sie auf der Insel St. Thomas wachse, und es kann wenig Zweifel darüber bestehen, dass diese Bohnen mit den noch heute Sea Hearts genannten Samen (Seebohnen) von 25–50 mm Durchmesser verwandt sind, die mit dem Golfstrom aus Westindien an die Atlantik und Nordseeküste fließen¹⁰¹.

95 Zu de Vries’ Vorschlag (The problem of Loki, 127, mit Zustimmung bei Pering, Heimdall, 12), Singasteinn bezeichne das Objekt des Streits, nicht seinen Ort, siehe oben, Anm. 79. 96 Siehe Meißner, Die Kenningar der Skalden, 90. 97 Schier, Húsdrápa 2, 586; ders., Loki og Heimdallur, 35. 37  ff.; vgl. Marold, Die Húsdrápa, 298. 98 Die ganze Stelle lautet nach dem Originaltext, S. 336: Ceterùm silentio minimè premendam existimavi opinionem quam Nortwagos de hoc phaseolo habere intelligebam, quum ista Aromatum Historia quintùm typis exprimeretur: illos enim prorsus sibi persuadere scribebat doctißimus vir mihi amicus, marinum esse phaseolum, atque adeò in Farris insulis nasci inter algam, & en profundo crui, quin & folliculos ostendere quibus contineri nugantur, quum tamen nihil aliud sint (nam unum quem mittebat conspexi) quàm ovorum Raiæ piscis putamina. Ipsi à forma Renes marinos appellant, nonnulli etiam Bonæ sortis calculos, sive quòd calamitatem à domo possessoris, sive etiam quòd incantamenta & nescio quam noxam ad heri pecore arcere vel propellere credantur (Hervorhebung vom Verf.). 99 vætte-: weil die Bohnen klein sind und mit Zauberkräften verbunden wurden? 100 Siehe Alm, Exotic drift seeds, 231. 235. 237. 101 Welche Art der Seebohne genau für die „Meernieren“ in Frage kommen könnte, ist nicht sicher. Pering (Heimdall, 218) meinte, dass die Entada gigas (gigalobium) oder Pusætha scandens – ein brauner oder rötlicher Same, der zu den größten der Seebohnen gehört – gemeint sein könnten. Auch nach Alm (Exotic drift seeds, 231) seien diese Bohnen unter den im Volksglauben vorkommenden die wichtigsten. Im Grunde mag aber der Versuch zwecklos sein, die hafnýra mit einer bestimmten Art zu identifizieren. Noch 1703 konnte der schottische Verfasser Martin Martin behaupten, dass die weißen „Molukkabohnen“ für magische Zwecke als besonders wirksam gehalten würden und zusätz-

Auslegung 

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Das merkwürdige Aussehen dieser harten und glatten – also steinartigen – Samen hat zusammen mit derem rätselhaften Ursprung¹⁰² dazu geführt, dass ihnen eine magische Wirkung als Amulett im Volksglauben zugeschrieben wurde, und es wäre nicht weiter erstaunlich, wenn sie schon früher einen Platz in einem Mythos bekommen hätten. Im späteren Volksglauben waren sie mit Bräuchen und Erzählungen umwoben. Schon Clusius, der seine Information wahrscheinlich direkt von einem Norweger erhielt¹⁰³, wusste zu erzählen, dass die Nordgermanen glaubten, die Bohne könnte häusliche Ruhe bringen und das Vieh beschützen¹⁰⁴. Eine besondere Art der Bohne, die „Qvitanjuren“, sollte man auf dem Boden des Eimers legen, wenn die Kuh zum ersten Mal gemolken wurde¹⁰⁵. Besonders auffällig ist aber die mit der Entbindung verknüpfte Funktion. Die starke Beziehung zur Entbindung könnte vielleicht durch die Samen der Bohnen erklärt werden, die in gewissen Arten der Bohne lose waren und im Inneren rasselten, was, auf andere Spezies übertragen, dazu führte, dass man von „schwangeren Steinen“ sprach¹⁰⁶. Auf Island und Norwegen wurde die Bohne an die Hüfte gebärender Mütter gebunden, um die Geburt zu erleichtern. Für denselben Zweck konnte sie während der Geburt in der Hand gehalten werden oder es konnte eine Abkochung von ihr gemacht werden¹⁰⁷. In Nordnorwegen erhielt die Bohne sogar den Namen

lich die volkstümlichen Vorstellungen vom Farbwechsel der Bohnen (helles Weiß in dunkles Braun) wiedergeben (Meaney, Drift seeds, 36). Wie Meaney bemerkt, scheint ein solcher Farbwechsel aber wenig glaubwürdig, und es ist viel wahrscheinlicher, dass verschiedene Arten von Bohnen (z.  B. die weiße Cæsalpina bonduc und die braun-rötlichen Merremia-Arten) für Varianten derselben Art gehalten wurden (vgl. Meaney, ebd.). Auch Alm (Exotic drift seeds, besonders S. 229  ff.) nennt mehrere in Frage kommende Arten. 102 Meaney (Drift seeds, 38) weiß zu berichten, dass sich Pontoppidan noch am Ende des 17. Jahrhunderts nicht vorstellen konnte, dass die Samen aus Westindien kamen, sondern meinte, sie stammten von Bäumen, die auf dem Meeresgrunde wachsen. 103 Grundtvig (Løsningsstenen, 162, Anm. 3) schlägt einen Dr. Høyer in Bergen als Informant vor. 104 calamitatem à domo possessoris, sive etiam quòd incantamenta & nescio quam noxam ad heri pecore arcere vel propellere credantur. Clusius, Exoticorum libri decem, 336. 105 Grundtvig, Løsningsstenen, 163  f. 106 Die Färöer glaubten, dass der „Stein“ einen anderen Stein gebären könnte, wenn er lange verborgen wurde (Grundtvig, Løsningsstenen, 163). Dasselbe erzählte bereits Plinius von dem inhaltlich verwandten sogenannten Aëtit (ebd., 50). Antike Autoren beschrieben schon im 3. Jahrhundert v. Chr. diesen „Geburtsstein“ als einen mit Volksbräuchen bei der Entbindung verbundenen Gegenstand; über das Alter, das erste Auftreten und die darauf folgende Verbreitung dieser Vorstellungen können wir nichts sagen. Dass der ganze in Nordeuropa weitverbreitete volkstümliche Vorstellungskomplex auf gelehrtem Weg aus den Vorstellungen über den Aëtit entlehnt worden ist, ist wohl nicht annehmbar; ob überhaupt ein entstehungsgeschichtlicher Zusammenhang besteht oder ob die Vorstellungen spontan um den mit anderen Steinen „schwangeren“ Geburtsstein entstanden sind, ist unsicher. 107 Reichborn-Kjennerud, Vår gamle trolldomsmedisin II, 67; Alm, Exotic drift seeds, 242  f. (mit anderen Bräuchen). Nach einem Bericht aus dem 18. Jahrhundert sollte die Bohne in heißen Weißwein ge-

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lausnarsteinn – ‚Geburtsstein‘¹⁰⁸. Auf dieselbe Funktion verweisen auch außernordische Belege. Schon Albertus Magnus schrieb in seinem Werk „De mineralibus“ (um 1250), dass der „aus dem Schaum des Meeres erzeugte Stein“ an die Hüften einer schwangeren Frau gebunden werden konnte, um die Geburt zu beschleunigen¹⁰⁹. Ähnliches wurde 1661 von den „Nüssen“, die man am Strande finden könne und die Schafsnieren glichen, berichtet¹¹⁰. Auf den Britischen Inseln wurden die Seebohnen besonders eng mit der Jungfrau Maria verknüpft¹¹¹, wahrscheinlich weil sie die mit der Fruchtbarkeit verbundenen Funktionen aus der vorchristlichen Religion übernommen hatte, als die Formen des neuen Glaubens die des alten ersetzten. In Hinsicht auf die „Meerniere“ der Húsdrápa ist die schottische Benennung der Bohne besonders interessant: Airne Moire – ‚(Jungfrau) Marias Niere‘¹¹²! Es versteht sich von selbst, dass der „Geburtsstein“ ein passendes Attribut für die Fruchtbarkeitsgöttin Freyja sein muss. In Oddrúnar grátr 9 wird sie bei der Entbindung eines Kindes angerufen¹¹³, was mit der Funktion der „Meernieren“ im Volksbrauch übereinstimmt. Freilich hat Pering zu Recht bemerkt, dass es sich in den beiden älteren Quellen zu Lokis Diebstahl – der Húsdrápa und der Haustlǫng – um zwei singuläre Gegenstände handelt: den brísings- (Singular) girði (‚Gürtel‘) und das hafnýra, während Freyjas berühmtes Halsband nur Brísinga- (Plural) men genannt wird. Nach Pering sei die letztere Form sekundär durch den Einfluss des im Bēowulf vorkommenden Namens Brōsinga mene¹¹⁴ entstanden, den er als eine Bezeichnung für das sagenumwobene Harlungengold verstand¹¹⁵. Eine solche Entwicklung anzunehmen, scheint mir möglich, aber nicht zwingend. Der Plural im Erstglied des Namens Brísingamen als Bezeichnung für Freyjas Halsband könnte durch ein Singular *brísingr (< brjá ‚scheinen, funkeln‘, vgl. norwegisch brising ‚Feuer‘, brisa ‚glimmern‘ usw.¹¹⁶) für

legt werden, den die Gebärende dann trinken sollte (Grundtvig, Løsningsstenen, 164). J. Gunnerus teilt 1765 mit, dass die Gebärende Bier oder Brantwein aus der Schale trinken sollte (Grundtvig, ebd., 166). 108 Reichborn-Kjennerud, Vår gamle trolldomsmedisin II, 67. Ders., Bustein, 9. 109 Albertus Magnus, Book of minerals, 151, über den Stein spuma maris. Vgl. ebd., Anm. 25: Nach Plinius sei spuma maris Wellenschaum gehärtet mit Ton, und deshalb enthalte sie kleine Muscheln. 110 Grundtvig, Løsningsstenen, 167. 111 Meaney, Drift seeds, 34  ff. 112 Ebd., 34. 113 Nach Sigrdrífumál 9 soll man bjargrúnar können, wenn man Kinder entbinden will, und die Disen anrufen. Freyja ist auch unter dem Namen Vanadís bekannt. Es ist wahrscheinlich, dass die Disen – wie vermutlich auch die Alfen – ihre Wurzeln im Ahnenkult haben. Auch hier kommt die Verknüpfung mit der Geburt vor; in Schwaben hat man z.  B. dem mit den Ahnen verbundenen Herd Speisereste, Milchhaut und Kultgebäck geopfert, um die Entbindung zu erleichtern (von Geramb, Herd, 1762). 114 Bēowulf 1197–1201. 115 Pering, Heimdall, 227. 116 Vgl. Þulur IV pp 4, brísingr = ‚Feuer‘. Skj. B I, 675 („Elds heiti“). Sǫrlaþáttr tymologien, siehe AEW, s. v. „Brísingamen“. Eine andere Erklärung für den Grund der Beziehung zwischen brísingr ‚Feuer‘

Auslegung 

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die glänzende, rötliche Bohne (etwa ‚Feuerling‘) erklärt werden; Brísingamen (bzw. Brōsinga mene) wäre dann ein aus vielen, z.  B. aufgefädelten *brísingar bestehendes Halsband. Empirisch kann diese Deutung dadurch erhärtet werden, dass man noch im 20. Jahrhundert auf Island die Seebohnen in ledernen Beuteln, manchmal in der Fruchtblase eines Kalbes verwahrte¹¹⁷, und als Halsband aufgefädelt findet man sie heute weltweit. Möglicherweise kann nachgewiesen werden, dass dieser Inhalt des Begriffes „Brísingamen“ noch für den Dichter der Þrymskviða lebendig war. In Þrymskviða 15 (zu der wir unten zurückkommen) lässt er nämlich Heimdallr vorschlagen, die Götter sollten das Brísingamen Þórr um den Hals hängen. In der nächsten Strophe sagt der Gott aber, breiþa steína (16,6) sollten auf Þórs Brust gelegt werden. Möglicherweise sind die Worte eine Variation und nähere Beschreibung des Halsbands und dessen flacher „Steine“ in Strophe 15. Wenn nicht Brísings girði einfach reimtechnisch bedingt ist¹¹⁸, kann es meines Erachtens sehr wohl zwei parallele Traditionen von ein und demselben Grundmythos vom Raub des Gürtels der Freyja¹¹⁹ mit dem Geburtsstein bzw. von ihrem Halsband mit mehreren Steinen¹²⁰ gegeben haben. Die Auslegungsversuche des in Húsdrápa 2 geschilderten Mythos haben in der früheren Forschung von sehr phantasiereichen bis hin zum Standpunkt, das Motiv habe überhaupt keinen religionsgeschichtlichen Wert gehabt, gereicht. Pering z.  B. konnte mit seinem interessanten Hinweis auf den „Geburtsstein“ nichts anfangen. Er meinte, Loki habe wie so viele andere Dinge der Götter auch Freyjas Halsband gestohlen. Weil der „Wicht“ im Volksglauben über das bewegliche Hab und Gut des Hofes verantwortlich war, habe man den Hofwicht (Heimdallr) nach Loki gesandt¹²¹. Die Interpretation ist nicht nur wenig überzeugend (warum sandte man nicht den starken Þórr?), sondern kann auch nicht erklären, warum dieser Mythos im Herdhaus des Häuptlings Óláfr páis, zusammen mit Motiven wie Þórs Fischfahrt und der Huldigung des toten Baldrs, geschildert wurde. Auch de Vries hielt nicht viel von der mythologischen Bedeutung der Erzählung, als er feststellte: „It may be that it [nl. der Mythos] never had any mythical meaning at all, especially if it is an adaptation of a foreign

und dem Halsband gab Tolley (Heimdallr, 91) ab, nämlich, dass die Brísingar die Zwerge seien, die (freilich nur nach der späten Sǫrlaþáttr!) das Halsband angefertigt hätten. Die Frage, ob die Zwerge vielleicht „Brîsîngar“ geheißen hätten, stellte übrigens schon J. Grimm, Deutsche Mythologie, 143. 117 Reichborn-Kjennerud, Bustein, 10. 118 Edda, ed. von See II, 544 und oben. 119 Zur Bedeutung des Gürtels in Bräuchen verknüpft mit Fruchtbarkeit, siehe Jungbauer, Gürtel, Nr. 4; vgl. Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 515. 120 Vgl. Skáldskaparmál 40, 120: en firir þvi er kona kend til gimsteina e(ða) glersteina, at þat var iforneskiv qveɴa bvnaðr, er kallar var steinasǫrvi [‚Halsband von Steinen (Plural!)‘], er þær hofðv ahalsi ser. 121 Pering, Heimdall, 225  f.

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 Der Kampf um das Brísingamen

tale“¹²². – Phantasiereicher war die (sowohl ältere als auch neuere) vergleichende Forschung, in der die „Meerniere“ als die untergegangene Sonne, die der Sonnenoder Himmelsgott Heimdallr nun als den Mond, das Feuer usw. wieder heraufholen musste, gedeutet wurde¹²³. Die in neuerer Zeit oft wiederkehrende Auffassung, der Gegenstand des Kampfes sollte eine Insel (die junge Erde) sein, wurde schon oben behandelt¹²⁴. Diese Interpretationen leidet an denselben Schwächen, die in der methodologischen Einführung der vorliegenden Arbeit kritisiert wurden. Vor allem bewirken die Breite und die (graduell unterschiedliche kulturelle, zeitliche oder räumliche) Ferne des Vergleichsmaterials sowie die Unterlassung, die Vorstellungen in der Welt der überlieferten Heimdallr-Traditionen festzumachen, dass die Bedeutung, die in die Bestandteile des Mythos hineininterpretiert wird, einer gewissen Willkür und Unüberprüfbarkeit unterliegt. Der obenstehende Hinweis auf den „Geburtsstein“ gewährt eine Möglichkeit, zur Welt der Quellen zurückzukehren. Perings Interpretation der „Meerniere“ hat teilweise Zustimmung gefunden¹²⁵. Wie Klingenberg bemerkte, blieb es aber auch nach Perings Auslegung rätselhaft, warum Loki den Gegenstand raubte und warum gerade er und Heimdallr darum kämpften¹²⁶. Eine mögliche Lösung fand er in Lokis und Heimdalls gemeinsamer Eigenschaft als Stammväter und fragte sich, ob die Meerniere (als Symbol der Regeneration und Entbindung) dem einen oder anderen der beiden die Nachkommen ver-

122 Nämlich der Heldensage über das Harlungengold. de Vries, The problem of Loki, 141. 123 Zu den Naturmythologen siehe z.  B. Müllenhoff, Frija und der halsbandmythus; Herrmann, Nordische Mythologie, 247; Golther, Handbuch der germanischen Mythologie, 364 (Sonne); E. H. Meyer, Germanische Mythologie, 229 (Regenbogen). Noch Ohlmarks (Heimdalls Horn, 131  f.) wollte 1937 in der „Meerniere“ die Sonne erkennen, wofür die paarigen (Sonne und Mond), roten (doch der Mond ist kaum rot!) Nieren ein passendes Bild sein sollten, – obwohl sie ja nicht eben rund sind. Auch F. Ström (Loki, 142) sah 1956 in diesem Gegenstand ein Sonnensymbol, das seiner Meinung nach jedoch der Bestandteil des Streits in einem „mythisch-kultischen“ Jahreszeitendrama sei. Much (Der germanische Himmelsgott, 54  f.) und Verf. (Der Ursprung des Feuers) dagegen deuteten den Raub des Brísingamen als den promethischen Raub des Feuers (vgl. auch Tolley, Heimdallr, 92; dens., Shamanism, 399  ff.). – Als Kuriosum unvergesslich ist Simrocks Deutung (Handbuch der deutschen Mythologie, 305  f.), Heimdallr sei – unter vielem anderen! – der Regen, weshalb er in der Húsdrápa den grünen Schmuck, die hafnýra, zurückführen kann. Dieser Schmuck sei nämlich der grüne Rasen, den Loki, der Hitzedämon, der Welt „gestohlen“ habe. Und hier ergäbe sich auch die Erklärung der Bezeichnung Heimdalls als heimskastr allra ása – „denn was ist langweiliger als ein Regenwetter?“. 124 Wenig überzeugend scheint schließlich Tolleys Versuch, frühere Interpretationen des Gegenstandes dadurch zu vereinen, dass er viele „Sinnebenen“ („levels“, „levels of meaning“) annimmt, so dass der Mythos gleichzeitig von Geburtssteinen, Feuerraub und Urinsel handeln würde (Tolley, Heimdallr, z.  B. S. 90. 92; ders., Shamanism, 389–403). 125 Z. B. Klingenberg, Brísingamen, 464; Heizmann, Freyja, 288; ders., Der Raub des Brísingamen, 512; Brodersen, Freyjas klenodie, 106  f. 126 Klingenberg, ebd., 465; ähnlich F. Ström, Loki, 135: „Aus welchem Grunde Loki einem Stein dieser Art nachgetrachtet hat […], ist schwieriger zu verstehen.“

Auslegung 

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mehren oder vermindern können sollte¹²⁷. Auch Heizmann verband den Mythos mit den Eigenschaften von Heimdallr als Ahnherr (und als „Grenzwächter der Götter“) bzw. von Loki als „dedizierter Feind der Regeneration“¹²⁸. Mit dem Raub von Freyjas Halsband – dem in die Mythologie transponierten Geburtsstein – wolle Loki die Götter ihrer Zeugungskraft berauben. Die Interpretation gibt dem Mythos sein im Zusammenhang gebührliches kosmologisches Gewicht. Die Begehrtheit der „Meerniere“ liegt in ihrer Bedeutung als Symbol der Zeugungskraft. Ihr Verlust stört das kosmische Gleichgewicht, die Dominanz der Götter. Die reproduktiven Kräfte gehen auf die Riesen, die Antagonisten der Götter, über, die stets nach der Vermehrung ihrer eigenen ætt streben (vgl. Kap. 1.4.2). Es ist dies dasselbe grundlegende Thema, dass im Mythos vom Raub von Iðuns Äpfeln vorkommt. Wie Heizmann erkennt¹²⁹, dürfte es kein Zufall sein, dass es gerade Þjóðólfs Haustlǫng – die diesen Mythos erzählen¹³⁰ – ist, in denen Loki Brísings girðiþjófr genannt wird: der Dichter hat die Parallelität selber eingesehen. Zwar haben die Äpfel eine andere Funktion als der Geburtsstein: sie helfen, die Götter jung zu erhalten¹³¹. Wie Margaret Clunies Ross meint, dürfte das Altern der Götter aber nur die sekundäre Bedeutung des Verlustes von Iðuns Äpfeln sein. Im Grunde bedeute er, dass die Götter sich nicht reproduzieren, keine neue Nachkommen erzeugen können: Die Äpfel seien das Sinnbild der weiblichen Fähigkeit zur Fortpflanzung¹³². Dies wird freilich nicht durch die erhaltenen Texte bestätigt, doch kann angenommen werden, dass das Altern notwendigerweise den Verlust der Fortpflanzungskraft bedeutet. Da es den Riesen also nicht gelingt, Iðuns Äpfel zu erringen, versuchen sie folglich – in der Fortsetzung der Erzählung – stattdessen, Þjazis Tochter Skaði mit Baldr zu verheiraten: nach Clunies Ross ein Kompromiss zwischen „divine endogamy and the exogamous exchange of women that the giants desire“¹³³. Auch in der oben zitierten Þrymskviða ist offenbar eine Version desselben Grundmythos überliefert, obwohl hier – gemäß dem Charakter dieses Lieds – die Geschichte ins Komische transponiert wird. Es wurde oben ausgeführt, dass die Konstellation hier dieselbe wie in Húsdrápa 2 ist. Loki soll Freyja und ihr Halsband nach Jǫtunheimar

127 Klingenberg, ebd. 128 Heizmann, Freyja, 290 ≈ ders., Der Raub des Brísingamen, 521  ff. 129 Der Raub des Brísingamen, 522. 130 Haustlǫng 1–13, Skj. B I, 14–17. 131 Anders von See u. a., Skírnismál, 69. Dass mit ellilyf in Haustlǫng 9 die Äpfel gemeint wären, sei nur Snorris Auffassung, Skáldskaparmál 31. Für die Funktion der Äpfel in Skírnismál wird ebd., 69  f. ein Einfluss der Bibel angenommen. 132 Heinz Klingenberg hat in seiner Untersuchung zu den späten Skírnismál (Fǫr Skírnis, 26) die Funktion des Motivs „Iðuns Äpfel“ in diesem Gedicht analysiert und meint, sie seien hier gleichzeitig Verlobungsgeschenk und Hoffnung auf zukünftige Fruchtbarkeit des gedachten Brautpaars. – Zum Apfel als Symbol der Fruchtbarkeit, siehe ebd., 26  f. 133 Clunies Ross, Prolonged echoes I, 233.

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 Der Kampf um das Brísingamen

bringen. Heimdallr greift aber ein, nimmt – wie es Heizmann ausdrückt – Freyja aus der Schusslinie und schickt den Kämpfer Þórr ins Feld¹³⁴; Heimdallr behält also seine Rolle als Beschützer der Götter, obwohl das Objekt seines Schutzes vom Symbol der Fruchtbarkeitsgöttin (ihrem Halsband) auf die Göttin selbst übertragen wird. Interessanterweise spielt die Þrymskviða mit demselben Thema eines auf territorialer und genealogischer Ebene konzipierbaren Konflikts, das in der obenstehenden Interpretation der Húsdrápa und der Haustlǫng durchschimmert. In der Þrymskviða wird Þórs Hammer gestohlen. Er hat also das Attribut seiner Männlichkeit, seiner Streitkraft verloren; er ist gewissermaßen kastriert worden¹³⁵, – ein Motiv, das die weitere Handlung antizipiert. Um Þórs Waffe zurückzubekommen, müssen die Götter nun Freyja an die Riesen ausliefern, oder, anders ausgedrückt: um ihr (männliches) Verteidigungsvermögen wiederbekommen zu können, müssen sie ihr (weibliches) Reproduktionsvermögen aufgeben. Beide Alternativen hätten dasselbe Resultat. Sie würden den Riesen erlauben, sich selber zu vermehren und sich in Asgard hineinzudrängen, während die ætt der Götter vom Aussterben bedroht wäre. Die Interpretation geht in einer Linie mit dem in 1.4.2 dargelegten Ordnungsmodell. Die Welt des Zentrums wird sowohl genealogisch als auch territorial von der peripheren Welt der Riesen bedroht. Wenn die Ordnung als solche aufrechterhalten werden soll, muss darin die Ordnung der Götter dominant bleiben. Heimdallr spielt hier – in einem der wenigen Mythen über seine Figur, in denen er selbst handelnd dargestellt wird – eine Rolle von kosmologischer Bedeutung im Konflikt zwischen Asgard und Utgard. Die Frage ist aber, warum sich Heimdallr, der ja der Stammvater der Stände der Menschen, nicht der der Götter war, um die Regeneration der Götter kümmern sollte? Die Heranziehung der traditionellen Deutung von ragna reinvári im Sinn von ‚Grenzwächter der Götter‘ ergibt eine ziemlich platte Interpretation: Loki hat die Grenze nach Asgard überquert, um Freyjas Schmuck zu stehlen (was freilich in den Text hineingelesen werden müsste); der Grenzwächter eilt ihm nach. Entgegen diese Deutung könnte auch erwidert werden, dass es zur Aufgabe des Grenzwächters gehört, Signal zu geben, wenn Gefahr droht, vielleicht auch, unerwünschte Eindringlinge zurückzuweisen, aber nicht offenkundig, die Grenze zu verlassen und sich in fremdes Land zu begeben, um dort mit dem Feind den Kampf auszutragen. Oben wurde aber festgestellt, dass die in der Dichtung für gewöhnlich Verwendung findende Bedeutung von rein nicht ‚Grenze‘, sondern ‚Land‘ ist, und dass reinvári auch ‚Beschützer, Verteidiger des Landes (Asgard)‘ bedeuten könnte. Die Bezeichnung wäre analog mit Umschreibungen für Könige und Fürsten in der Skaldensprache als ‚Beschützer des

134 Ich paraphrasiere hier Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 523. 135 Das um seinen Hals gebundene Symbol der Fruchtbarkeit vollendet die Effemination des mannhaften Gottes und unterstellt möglicherweise, er solle an Freyjas Stelle den Riesen Kinder gebären. Vgl. Näsström, Freyja, 185.

Auslegung 

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Landes‘ (lands gætir, landvǫrðr, folda vǫrðr usw.)¹³⁶. Eine derartige Übersetzung wäre im Zusammenhang treffend. Freilich kann Heimdalls Rolle als Befruchter/Samenspender im Stammvatermythos zu Heimdalls Rolle in der Húsdrápa als Verteidiger der Regeneration beigetragen haben. Die Bezeichnung ragna reinvári kann aber nicht intentionslos dastehen. Hier wie im Mythos von seiner Stammvaterschaft steht der Gott im engsten Zusammenhang mit der dominanten Ordnung der mythologischen Vorstellungswelt. Als „Landesbeschützer der Götter“ sorgt Heimdallr in Húsdrápa 2 für Asgards Regeneration und künftiges Heil.

136 Siehe Meißner, Die Kenningar der Skalden, § 90a.

4 Heimdalls Geburt Dass aber n e u n Frauen gleichzeitig e i n e n Sohn gebären konnten, scheint für ein gesundes Denken unmöglich.¹

4.1 Die Belege Der Mythos von Heimdalls Geburt gehört zu jenen Informationen über diesen Gott, die die Bezeichnung von ihm als „der rätselhafte Gott“ berechtigt erscheinen lassen. Das Motiv ist ziemlich gut belegt. 1. Schon in der zweiten Strophe von Úlfr Uggasons Húsdrápa wird Heimdallr als der Sohn von neun Müttern, allesamt Schwestern, beschrieben. 2. Dies wird im von Snorri zitierten anonymen Heimdallargaldr, in der einzigen Strophe dieses Gedichts, die erhalten ist, bestätigt. 3. Schließlich erscheint das Motiv im Eddalied Hyndluljóð, in dem es ausführlicher gestaltet ist.

4.1.1 Húsdrápa 2 Úlfr Uggasons Húsdrápa 2 wurde schon oben zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. In den darin vorkommenden Bezeichnungen von Heimdallr findet sich auch mǫgr átta mœðra ok einnar ‚der Sohn von acht und einer Mutter‘. Dieses Motiv muss somit – wie die Húsdrápa (um 980) – zur Zeit vor der Bekehrung Islands gehören. Dass Heimdallr hier anonym bleibt, kann darauf hinweisen, dass das Motiv außerdem bereits hier zum bekannten Wissen über diesen Gott zählte.

4.1.2 Heimdallargaldr Vom Heimdallargaldr ist nur eine Strophe bewahrt; diese findet man ausschließlich in den Handschriften der Snorra-Edda. Der Text des Heimdallargaldr lautet nach Codex regius: Ok eɴ segir hann sialfr iHeimdalargalldri: Niv em ec mæþra mavgr, ix. em ec systra sonr².

1 Ohlmarks, Heimdalls Horn, 188. 2 r, 33. In W heißt es zur gleichen Stelle, 23: ok en seger hann sialfr i Heimdallar galldri. Niu em ek mæðra mǫˊg[r] niu em [em: zweimal geschrieben] ek systra sonr. Die Lesart en segir hann sialfr wird auch durch T bestätigt.

Die Belege 

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Hier die Stelle wie sie in der Uppsala-Edda steht: ok eƞ ſegır ı ſıalꝼvm heimallar galldꝛı. Nıo em ek meygıa mavgr ix. em ek ſẏſstra ſonr³.

Die Lesart der Prosa in r wird in TW bestätigt. Übrigens ändert die Lesart von U inhaltlich wenig, denn Húsdrápa 2 bestätigt, dass mit dem Sohn von neun Müttern (ek im Gedicht) Heimdallr gemeint ist. Auch nach Handschrift U soll wohl Heimdallr also als derjenige vorgestellt werden, der die beiden Zeilen ausspricht. Abweichend von Z. 1 mœðra ‚Mütter‘ in den anderen Handschriften ist auch die Lesart von U meygıa, was in der Skaldensprache zumeist ‚Jungfrau, unverheiratete Frau‘ bedeutet⁴. Dem Parallelismus nach scheint aber meygıa kunstvoller: Mütter, die Jungfrauen (eher als Mütter) waren; Mütter, die Geschwister waren. Ivar Lindquist und Friedrich Läffler waren daher der Meinung, dass die Lesart meygıa die ursprüngliche war⁵. Vom Inhalt des bis auf diese Strophe verlorengegangenen Liedes wissen wir leider nichts. Es darf aber angenommen werden, dass der von Snorri erwähnte Titel Heimdallargaldr nicht aus der Luft gegriffen ist. Dies bestätigt auch Läffler, der schon 1914 darauf aufmerksam machte, dass die bewahrten Zeilen des Heimdallargaldr dem Versmaß ljóðaháttr, und zwar der Unterart galdralag, zuzuordnen sind⁶. Wenn man Heimdallargaldr mit ähnlichen Titeln von Liedern, die bewahrt sind und deren Inhalt bekannt ist, vergleicht, muss Heimdallargaldr eher als ‚das Gedicht, in dem Heimdallr in galdralag spricht‘ denn als ‚der galdr von Heimdallr‘ verstanden werden – so ist z.  B. der Grógaldr ein Gedicht, in dem Gróa galdrar spricht⁷. Wenn diese Bedeutung stimmt, so scheint Heimdallr hier die Fähigkeit galdrar singen zu können, zugeschrieben zu werden.

4.1.3 Die Hyndluljóð Die Hyndluljóð sind das einzige Gedicht, in dem das Motiv von Heimdalls Geburt ausführlicher elaboriert wird. Das Motiv nimmt in den Hyndluljóð eine zentrale Stellung ein und hat deshalb in diesem Lied wohl eine wichtige Funktion. Um die Frage nach der Funktion beantworten zu können, wäre ein textnahes Lesen des ganzen Liedes

3 U, 15. 4 Lex. poet., s. v. „mær 1“. 5 Lindquist, Guden Heimdall, 57. 6 Läffler, Om några underarter, 49  f. Später bestätigt durch Lindquist, Guden Heimdall, 57  ff. 7 Grógaldr 6,1, Þann gel ek þér fyrstan; 7,1, Þann gel ek þér annan usw. Grógaldr 5, Galdra þú mér gal, | þá er góðir ’ru. In ähnlicher Weise bedeutet Lokasenna ‚die Zankrede des Loki‘ usw.

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 Heimdalls Geburt

notwendig. In diesem Zusammenhang wäre es auch sinnvoll, die Datierung des Liedes eingehender zu behandeln. Dies soll aber in einem anderen Kapitel geschehen. Hier gilt es eher, die Strophen von Heimdalls Geburt thematisch, d. h. zusammen mit den anderen Belegstellen dieses Motivs, zu untersuchen, während also die Funktion des Motivs im Kontext der Hyndluljóð an anderer Stelle diskutiert werden soll. Allerdings kann aus dieser Untersuchung vorweggenommen werden, dass das Gedicht wahrscheinlich spät, d.  h. in christlicher Zeit entstand. Wie andere Gedichte kann aber auch dieses auf guten Kenntnissen der vorchristlichen Traditionen aufbauen, obwohl es diese in einem neuen Zusammenhang verwendet. Das Gedicht wird in der Forschung üblicherweise in zwei Hauptteile – einen Binnenteil und eine Rahmenerzählung – aufgeteilt. Der Binnenteil (Strophe 29–44) hat einen z.  T. eschatologischen Inhalt, der an die Vǫluspá erinnert. Es ist dieser Teil, in dem Heimdallr und das Motiv seiner Geburt vorkommen. Zweimal kehrt der Dichter zum Motiv zurück: das erste Mal (Strophe 35–38) mitten im eschatologischen Teil, das zweite Mal (43) gleich nach der apokalyptischen Verkündigung vom Ende der Welt, in der Heimdallr mit einem anderen, unbenannten Gott (44) verglichen bzw. kontrastiert wird. 35.

Vard einn borin i rdaga rammaukin miok raugna kindar; niu bru þann naddbaufgann mann iotna meyiar vid iardar þraum.

Problematisch bei der Übersetzung dieser Strophe erscheint vor allem die Bestimmung Z. 6 naddbaufgann. Das Wort kann wohl nur als Adjektivattribut zum Akkusativ Singular mann aufgefasst werden⁸; in der überlieferten Form ist es aber inhaltlich nicht verständlich. Ein entsprechender Stamm *bauf-, *bǫf- ist nicht belegt. Schon die Kopenhagener Eddaausgabe aus 1787–1828 emendierte deshalb das zweite Wortglied zu -gǫfgan, also Akkusativ Singular von gǫfugr ‚stattlich, vornehm‘⁹. Wie Hugo Pipping¹⁰ in seiner Heimdallr-Studie bemerkte, wäre aber eine Emendation b zu h paläographisch vorzuziehen. Pipping leitete dieses Wortglied -hǫfgan aus einem *-hǫfðugr ‚-köpfig‘, mit Wegfall des ð entsprechend der Dreikonsonantenregel, her. Seine Deutung dieser Bezeichnung war, dass Heimdallr einen Nagel im Kopf gehabt hätte. Pippings Meinung nach sei Heimdallr nämlich mit dem Weltenbaum identisch, dessen diesen vorstellendes Kultobjekt bei den Samen mit einem den Nordstern repräsentierenden Nagel versehen war. Diese Vorstellung sei auch bei den Nordgermanen vorhanden und in der Mythologie auf Heimdallr übertragen worden. Eine

8 Die Doppelschreibung für einen kurzen Konsonant (-an) kommt auch an anderen Stellen im Lied vor, z.  B. 43,6 storaudgazstann (Adjektivattribut zu 43,5, Akkusativ Singular stilli). 9 Bd. I, 337 (zu Hdl. XXXIII): -gaufgan. So auch Norrœn Fornkvæði, zur Stelle. 10 Eddastudier I, 16  f.

Die Belege 

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derart auf Spekulationen fußende Hypothese hat für die vorliegende Untersuchung keine Bedeutung. Pippings Deutung ist allerdings schon deshalb abzulehnen, weil erstens andere adjektivische Ableitungen von hǫfuð (z.  B. -hǫfðaðr) belegt sind, jene von Pipping vorgeschlagene jedoch nicht und zweitens die Form -hǫfgan mit dem Akkussativ Singular vom maskulinen Adjektiv hǫfugr ‚schwer‘¹¹ homonym wäre. Dieses Wortglied andererseits würde eine formal und semantisch passende Alternative darstellen. Zum ersten Glied nadd- ergeben sich mehrere denkbare Deutungen. In einigen älteren Auslegungen wird náð ‚Gnade, Frieden, Ruhe‘ bevorzugt und dann als náðgǫfugr ‚friedensberühmt, friedensreich, gnadenreich‘ gedeutet¹². Aufgrund der Emendation von b > h wäre aber eher eine Zusammensetzung náðhǫfugr anzunehmen, was andererseits jedoch wegen des sonst nur negativ konnotierten Adjektivs hǫfugr im Zusammenhang mit náð fraglich scheint¹³. Nicht brauchbar ist wohl die Lesart nað- < naðr ‚Schlange‘ (Genitiv -rs!), da sie keinen Sinn ergibt. Diesen beiden Möglichkeiten wäre meines Erachtens naddr ‚Speer‘¹⁴ vorzuziehen, was sowohl mit -hǫfugr (‚speerschwer‘, d.  h. ‚beschwert von einem (großen) Speer‘) als mit -gǫfugr (‚speerprächtig‘, d. h. ‚waffenprangend‘, vgl. Grímnismál 19,5 vápngǫfugr) sinnvolle Komposita ergibt. Die erste Form käme der handschriftlichen Lesart am nächsten. Andererseits ist das Wort naddgǫfugr in Grógaldr 14 (von einem Riesen) belegt. Beide Alternativen scheinen ins Bedeutungsfeld des Krieges (der Bewaffnung) zu führen. Dies wäre im Kontext mit Heimdallr nichts Verwunderliches. Schon die Húsdrápa bezeichnet den Gott Strophe 2,5 als móðǫflugr, was mit ‚mutig-stark‘ übersetzt werden kann. Die Rígsþula, die in dieser Arbeit bereits mit Heimdallr in Verbindung gesetzt wurde, bestätigt diese Bezeichnung, denn der Gott wird darin (Strophe 1,3) ebenfalls als ǫflugr ‚stark, kraftig (hinsichtlich der Körperkräfte); mächtig‘¹⁵ beschrieben. In Z. 5 derselben Strophe wird er als rammr ‚stark‘ charakterisiert, ein Attribut, das – wie wir sehen werden – auch in den Hyndluljóð genannt wird. All dies kann als eine Beschreibung des idealen Kriegers verstanden werden. Das Bild ist mit den oben vorgeschlagenen Übersetzungen von vápnhǫfugr, -gǫfugr kongruent. Ich übersetze also die Strophe wie folgt: ‚Einer wurde geboren | in der Urzeit, | sehr kraftgestärkt, | vom Geschlecht der Mächte; | neun gebaren ihn, | den speerschweren [-prächtigen?] Mann, | Riesenmädchen, | am Rande der Erde.‘

11 Vgl. Atlakviða 34,2, vínhǫfugr ‚schwer mit Wein‘. Zu hǫfugr ‚schwer‘, siehe Lex. poet., s. v. 12 Siehe Edda, ed. von See III, 793  f. 13 Zu den Einwendungen gegen die Zusammensetzung náðhǫfugr, siehe Edda, ed. von See III, 794 (Pt. 2). 14 Diese (nicht ‚Nagel‘) ist die in der Dichtung gewöhnlichste Bedeutung des Wortes; siehe Lex. poet., s. v. und unter den Zusammensetzungen. 15 Lex. poet., s. v.

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 Heimdalls Geburt

Die Strophe bestätigt das Motiv der Geburt durch neun Mütter, ergänzt aber auch, dass diese „Riesenmädchen“ (iotna meyiar) seien. Das Wort meyjar wiederholt die Angabe in Heimdallargaldr U. Wir erfahren außerdem, dass der Gott „sehr kraftgestärkt“ ist und seine Geburt am Rand der Erde stattgefunden hat. In Strophe 37 werden dann die Namen der neun Riesenmütter aufgezählt: 37.

Hann Gialp vm bar, hann Greip vm bar, bar hann Eistla ok Eyrgiafa, hann bar Vlfrun ok Angeyia, Imdr ok Atla ok Iarnsaxa.

‚Ihn gebar Gjálp, | ihn gebar Greip‘ usw.

Z. 37,5 wird durch Forspallsljóð 26,6 Úlfrúnar niðr = ‚Heimdallr‘ gestützt; der Quellenwert dieses Liedes ist jedoch, wie oben S. 99  f. dargelegt wurde, gering. In Strophe 38 wird die schon erwähnte Kraftstärkung des Gottes wieder aufgegriffen und das Motiv elaboriert: 38.

Sa var aukinn iardar megni, sualkaulldum sæ ok sonardreyra.

Die Bedeutung des hapax legomenon sonardreyri ist nicht eindeutig. Während das zweite Wortglied dreyri sicher im Sinn von ‚Blut‘ belegt ist¹⁶, muss die Bedeutung des ersten Wortgliedes etymologisch eruiert werden. Dabei wies Eduard Sievers¹⁷ unter anderem aus metrischen Gründen auf das kurzsilbige langobardische sonorpair ‚der grösste und stärkste eber einer heerde‘ (sonor ‚Herde‘, vgl. althochdeutsch swanur ‚Herde‘, altenglisch sunor ‚Schweinherde‘¹⁸) hin, das in einer klaren Analogie zu altnordisch sonargǫltr ‚Opferschwein‘, eigentlich der ‚Zuchteber‘ steht, d.  h. der größte und stärkste Eber der Herde. Diese Ableitung würde die früher bevorzugte Herleitung vom langsilbigen althochdeutschen Wort suona ‚versöhnen‘ oder dem altnordischen Begriff sóa ‚opfern, töten‘¹⁹ ersetzen. Das Problem an Sievers Deutung ist, dass sonardreyri durch das mittlere Glied gǫltr ergänzt werden müsste, was zur Zusammensetzung *sonar-gǫltr-dreyri führt. Die Berechtigung einer derartigen Ergänzung wird jedoch durch das Substantiv sonarblót untermauert. Weil dieses Wort unter anderem gerade im Zusammenhang mit einem Schwein-

16 Siehe Lex. poet., s. v. 17 Sonargǫltr. 18 In sämtlichen Fällen handelt es um no-Ableitungen von der Wurzel *suu-ós ‚Hausschwein, Sau‘ (lateinisch sūs, altnordisch sýr). Siehe Düwel, Germanische Opfer, 227. 19 Entweder zu altenglisch āswōgan ‚ersticken‘, norwegisch dialektal svaana, sōna, ablautend svana ‚abnehmen‘ – also ‚die beschwichtigung des opfertiers‘ (de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, § 288) –, oder zu són ‚blut, gefäß‘.

Die Belege 

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opfer²⁰ belegt ist, ist anzunehmen, dass es auf ein *sonar-gǫltr-blót zurückgeht²¹. Hingegen ist es, wie Klaus Düwel²² bemerkt, eher unwahrscheinlich, dass sich die Bedeutung des Begriffs sonar- von ‚Herde‘ zu ‚Eber‘ verändert hat. In diesem Fall wäre ja sonargǫltr tautologisch. Sievers Etymologie scheint deshalb erwägenswert zu sein. Ich übersetze die Strophe wie folgt: ‚Dieser war gestärkt | mit der Kraft der Erde, | mit eiskaltem Meer | und mit Opferschweinblut.‘

Schließlich kommt Strophe 43 auf den Gott zurück und wiederholt Anspielungen auf seine Geburt bzw. auf seine Kraftstärkung und macht dabei neue Angaben über den erhabenen Charakter seiner Gestalt. Die Übersetzung vor allem von sif sifiadann wurde schon in Zusammenhang mit Heimdalls Vaterschaft erörtert: Heimdallr wird hier indirekt als Stammvater und Urheber der Stände charakterisiert. 43.

Vard einn borinn aullum meiri, sa var aukinn iardar megni; þann kueda stilli storaudgazstann, sif sifiadann siotum giorfaullum.

‚Einer wurde geboren, | größer als alle; | dieser war gestärkt | mit der Kraft der Erde; | diesen Häuptling nennt man | den allerreichsten, | durch Verwandtschaftbeziehung verbunden | mit sämtlichen Menschen/Geschlechtern‘²³.

4.1.4 Weitere Belege der Formel in Hyndluljóð 38 Die Formel, die in Hyndluljóð 38 die Mittel zu Heimdalls Stärkung beschreibt, kehrt in anderen Quellen wieder²⁴. Der Ausdruck jarðar megin²⁵ ‚der Erde Kraft‘ kommt auch

20 Hervarar saga (hier zitiert nach der Hauksbók) 10, 363  f.: H(eiðrekr) konungr blotaði Frey. þann gollt er merstan feck skylldi hann gefa Frey. kollvðv þeir hann sva helgan at yfir hans bvrst skylldi sveria vm oll stor mal ok skylldi þeim gellti blota at sonar bloti. In den anderen Handschriften wird das sónarblót nicht erwähnt, der Eber wird aber sonargollt genannt (Hervarar saga 14, 129). 21 Sievers, Sonargǫltr, 544. 22 Germanische Opfer, 227  f. 23 Zur Übersetzung, siehe oben, Kap. 2.1, zu Hyndluljóð 43. 24 Für die Möglichkeit eines älteren, indogermanischen Ursprungs der dreigeteilten Formel, vgl. die Argonautika des Apollonios Rhodios I 405  ff., in der Wasser und Getreide, das ja sozusagen die „Kraft der Erde“ in sich hat, auf den Opferaltar gesprinkelt werden; die Gottheit wird wohl also auch hier durch dieselbe Dreiheit der Substanzen „gestärkt“. Siehe Eitrems Angabe (Opferritus und Voropfer, 422): Den Trank, den Orfeus die Argonauten trinken ließ (κυκεών < κυκάω ‚mischen‘, also ein ‚Mischtrank‘) und der aus Mehl, Blut und Meereswasser bestanden haben soll, konnte ich leider nicht verifizieren. Auch diese Angabe wäre geeignet, interessante Gedanken über das Alter der Formel anzustellen. 25 Die jüngere Nominativform heißt magn.

136 

 Heimdalls Geburt

in Hávamál 137 vor, als Loddfáfnir den Rat erhält, „die Kraft der Erde“ zu wählen, wenn er Bier trinkt (Z. 5  f., hvars þv ꜹl dreckir, | kios þv þer iarðar megin). Die Erde wird hier in eine Reihe von Heilmitteln und Elementen eingeordnet, die gegen verschiedene Krankheiten verwendet werden sollten: Feuer gegen Erkrankungen, Ähre gegen Zauber, Eiche gegen Stuhlzwang. Demnach deutet der Satz Z. 7: iorð tecr við ꜹlþri (analog zu Z. 8, enn eldr vid sóttom usw.) wahrscheinlich auf die Vorstellung hin, dass (das Anrühren der) Erde gegen Kater hilft (vgl. hierzu den norwegischen Ausdruck legge hånd på jord). Die Erde nimmt dem Volksglauben nach das Böse auf²⁶. Eine Variante der ganzen 38. Strophe der Hyndluljóð findet man in Guðrúnarkviða II 21, in welcher Strophe Guðrún vom Zaubertrank, der bewirken soll, dass sie die vorhergehenden Streitigkeiten vergisst, trinkt und sagt: Z. 5. þat var vm ꜹkit urþar²⁷ magni, svalcꜹldom sę oc sonar [Handschrift sonom] dreyra.

Die entsprechende Episode wird auch in der Vǫlsunga saga (36, 87) erzählt. Der Verfasser der Prosa hat seine Quelle aber offenbar missverstanden, denn er gibt den Inhalt – kontextuell gesehen – völlig abwegig mit den Worten Sa drykkr var blandinn med iardar maghne ok sę ok dreyra sonar hennar (!) wieder²⁸. Wenn dieselbe Formel in derart verschiedenen Kontexten – bei der Geburt eines Gottes, als Bestandteil eines Vergessenheitstranks und (jarðar megin) als Heilmittel gegen Kater – vorkommt, muss man vorsichtig sein, ihr eine feste Bedeutung zuzuordnen. Auch die allgemeinen Mutmaßungen der Forschung können hier außer Acht gelassen werden²⁹. Eher muss der jeweilige Kontext – hier also jener der Hyndluljóð – miteinbezogen werden, um die jeweilige Funktion der Formel zu bestimmen³⁰. Im Zusammenhang mit den Hyndluljóð handelt es sich ganz offenbar um eine Stärkung

26 Vgl. Reichborn-Kjennerud, Eddatidens medisin, 105. Auch eine „Vergiftung der Glieder“ hat man z.  B. mit Milch- und Erdbestreichung geheilt. Fehrle, Erde, 900  f., mit mehreren anderen Belegen. – Oder ist die Formel spezifischer gedacht: Die Erde nimmt die Kraft zurück, die aus der Erde in den Met gegangen war? Vgl. Höckert, Vǫluspá och vanakulten, 59  ff. mit Parallelen aus späterem Volksglauben. 27 Von Bugge (Norrœn Fornkvæði, zur Stelle) zu iarþar emendiert. 28 Auffallenderweise wird daraufhin nicht Guðrúnarkviða II 21 zitiert, sondern eine ganz andere Strophe mit magischen Wirkungsmitteln – darunter jedoch nicht die in der Prosa erwähnten. 29 Z.  B. Steinsland (Det hellige bryllup, 283), die meinte, „en generell kosmisk symbolikk“ in der Formel sehen zu können. 30 Vgl. Guðrúnarkviða II 21,6 urðar megin ‚die Kraft des Schicksals‘, was gemäß der Linie der „höheren Textkritik“ nicht unbedingt eine „Korruption“ von jarðar megin sein muss; ist es doch in der Guðrúnarkviða letztlich Guðrúns Schicksal, das der magische Trank bewirken soll. Die Variation wird dadurch alles andere als zu einer undurchdachten Entstellung des „ursprünglichen“ Wortlauts; sie stellt ein Mittel dar, mit dem der Skalde seinem Publikum die schicksalhafte Bedeutung des Trankes zu verstehen geben kann.

Auslegung 

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von Heimdalls Kraft; vgl. aukinn ‚gestärkt‘, zu auka ‚vermehren, verstärken‘, bzw. rammaukinn, zu ramr ‚kräftig, stark‘³¹. Wie dies genau verstanden werden kann, soll unten eingehender diskutiert werden.

4.2 Auslegung 4.2.1 Heimdalls neun Mütter Die verschiedenen Deutungsvorschläge hinsichtlich Heimdalls Geburt sind in der früheren Forschung sowohl von Phantasie als auch von Scharfsinn geprägt. Einige könnten wegen ihrer überholten theoretischen Ausgangspunkte oder weitgehenden Spekulationen hier nicht anders denn als Kuriosa aufgenommen werden³². Andere könnten nur dann akzeptiert werden, wenn vom Wortlaut des ausführlichsten Textes über Heimdalls Geburt – der Hyndluljóð – abgesehen wird³³. An dieser Stelle sei Hugo

31 Siehe Lex. poet., s. v. „auka 1“, „ramr 1“ und „rammaukinn“. 32 Für Kaarle Krohn (Skandinavisk mytologi, 134  f.), der Heimdallr (mit Baldr) als eine jener Gestalten auffasste, die eine interpretatio Norroenae des Christus verkörpern sollten, entsprachen die neun Mütter Heimdalls der Jungfrau Maria. Das Bindeglied würde die Tradition der „Drei Marien“ bilden, „die ja der Legende nach Halbschwester waren“ („vilka enligt legenden voro halvsystrar“. Ebd., 135). Ähnlich gewagt war Wilhelm Grönbechs Versuch (Kultur und Religion II, 327), dem Heimdallr einen Platz im „kultischen Drama“ zu geben, der auf der Annahme basiert, dass die Mütter als „neun Kulthandlungen“ aufzufassen sind (– Heimdallr sei ja „der Funktionsgott des Festfriedens“, ebd., 324). Das Argument für diese Annahme scheint allein Grönbechs lebendiges Sichhineinversetzen in den vorchristlichen Kultakt zu sein. Perings Auslegung (Heimdall, 182–88) gehörte zu jenen Hypothesen seiner Heimdallr-Monographie, die seine Rezensentin Helga Reuschel (Literaturnotiz, 100) nicht akzeptieren konnte, und Walter Baetke hielt in seiner Besprechung von Perings Werk (Rezension, 194) dieselbe Auslegung für „phantastisch“. Nach Pering spiegelt der Mythos wider, wie die weiblichen Schutzwesen der postulierten mutterrechtlichen Megalithkultur (Wanen, Disen) durch die Schutzwesen einer vaterrechtlichen Hirtenkultur (die „halbnomadischen“ Indogermanen) und ihre männlichen Gottheiten (Asen, Wichte – d. h., Perings Auffassung nach: Heimdallr) verdrängt worden sind – dies ist eine Betrachtungsweise der Mythologie als Geschichtsurkunde, der nicht mehr gefolgt werden kann. 33 Schon J. Grimm (Deutsche Mythologie II, 81) schlug die rationalisierende Deutung vor, gemäß der Heimdallr neun Mütter nach einander in verschiedenen Ehen gehabt hat. Der Vorschlag entspricht aber nicht dem Wortlaut in Hyndluljóð 35,5: niu bꜳru þann ‚neun gebaren ihn‘. Rudolf Much (Der nordische Widdergott, 66  f.) schwebte ein ähnlicher Gedanke vor. Nach Much sind die Generationen der Rígsþula – „Urgroßmutter“ und „Urgroßvater“ usw. –, mit deren weiblicher Hälfte der Gott Rígr die drei Stände zeugt, als ein Geschlecht zu verstehen. Amma soll also tatsächlich die „Großmutter“ (Amma) von Móðirs Sohn Jarl und Móðirs Mutter sein. Das würde bedeuten, dass der Gott mit seiner eigenen Tochter in jeder Generation drei Mal die nächste Generation erzeugt hat. In der letzten – und „edelsten“ – Generation würde der Sohn, Jarl, der Urahn der Aristokratie, folglich zu ⅞ die Erbanlagen des göttlichen Vaters tragen. Wenn dieses System der Hochzucht auf Heimdalls Geburt übertragen werden darf, kann dieses Motiv laut Much nur bedeuten, dass Heimdallr „zur reinen Aus-

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 Heimdalls Geburt

Pipping erwähnt, der, entsprechend seiner These von Heimdallr als Weltenbaum, die neun Mütter mit den neun Welten (níu heimar) in Vǫluspá 2 gleichgesetzt hat, durch die der Weltenbaum rage³⁴. Ursula Dronke, die Pippings Auffassung von Heimdalls Wesen übernahm³⁵, identifizierte die Mütter hingegen mit den neun „Wurzeln“ – Dronkes Übersetzung der iuidiur (H; r, iviþi) in Z. 6 derselben Vǫluspá-Strophe – der Weltesche³⁶. Wie unten gezeigt werden soll, ist aber die in beiden Fällen vorausgesetzte Deutung von Hyndluljóð 35,8 við jarðar þrǫm im Sinn von ‚an der Erdoberfläche, unter der Erde‘ fraglich; und – wenn man sich nun auf die Hyndluljóð stützen will – warum würden die Welten oder Wurzeln hier Namen von Riesinnen tragen? Wenn der Dichter der Hyndluljóð gewusst hätte, dass Vǫluspá 2,5  ff. auf Wurzeln oder Welten als Heimdalls „Mütter“ anspielen würde, dann hätte er wohl auch wissen müssen, dass Vǫluspá 2,6 íviðjur nicht mit ‚Riesinnen‘ zu übersetzen wäre. Dass die neun Mütter metaphorisch aufzufassen sind, dürfte allerdings richtig sein. Wie Åke Ohlmarks in seiner Heimdallr-Studie treffend formuliert, ist der Gedanke, neun Frauen hätten gleichzeitig einen Sohn geboren, „für ein gesundes

prägung der göttlichen Art seines Vaters“ gezüchtet worden ist. „Wer dieser Vater war? Die Rígsþula, wo der Sohn der drei Mütter selbst Rígr heisst, legt den Gedanken nahe genug, dass Heimdall sich selbst immer wieder erneut“ (ebd., 67). Näher geht Much auf die Einzelheiten der Deutung nicht ein, wahrscheinlich, weil sich außer der Parallele zur Rígsþula keine direkten Belege für sie anführen lassen. Und schon allein die Analogie hinkt. Im Falle der Rígsþula handelt es sich ja um drei, nicht neun Mütter. Einen ähnlichen Gedanken wie Much verfolgte aber Ivar Lindquist, der nach einer positiven Beurteilung von Muchs Auslegung nebenbei bemerkte: „Så uppfattad blir niomödrarsbörden förmodligen ett uttryck för periodicitet. Man har en nioårscykel betygad för nordisk hedendom, Adam av Bremens uppgift om svearnas vart nionde år återkommande stora tempelfest“ (Guden Heimdall, 76). Dieser Zusammenhang zwischen Heimdalls Geburt und dem Kultfest zu Uppsala war schon viele Jahre zuvor von Bertha Phillpotts in ihrer Untersuchung zu „The Elder Edda and ancient Scandinavian drama“ (1920) dargelegt worden. Nach Phillpotts sollen die von Lindquist erwähnten, alle neun Jahre abgehaltenen Feste in erster Linie mit der magisch-religiösen Vorstellung, der König müsse seinen Sohn opfern, um sein eigenes „göttliches Leben“ zu erhalten, in Zusammenhang stehen (130  f.). Dieses wohl von der Schule von Sir James Frazer inspirierte Motiv des „Todes des Königs“ soll auch mit Heimdallr verbunden sein, dessen periodische neunmalige Geburt mit der Wiedergeburt des Königs zusammenfällt (130): „It is difficult to see what these two lines [nl. von Heimdalls Geburt] signify unless they allude to nine re-incarnations, the mothers who bear him [nl. Heimdallr] successively being nine sisters“. Gleicher Art ist auch der Einfall Helge Roséns (Studier, 78): „Man skulle ju möjligen kunna gissa på att myten [nl. von Heimdalls Geburt] ville omtala, att Heimdall genomgått själavandringen och fötts nio gånger“. All den letztgenannten Interpreten ist gemeinsam, dass sie nicht erklären können oder zu erklären versuchen, warum die neun Jahre in den Hyndluljóð als Riesinnen dargestellt werden. 34 Pipping, Eddastudier I, 45–49. 35 Eddic poetry, 667. Edda, ed. Dronke II, 31  f. 36 Auch Pipping (Eddastudier I, 48  f.) brachte die íviðjur mit Heimdallr in Verbindung, deutete sie jedoch als Reste eines Rituals, bei dem die Wala neun Bäume benutzte, um durch die Welten zu fahren.

Auslegung 

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Denken unmöglich“³⁷. Gegen diesen Gedanken spricht auch die Bezeichnung der Mütter als Riesinnen (iotna meyiar, Hyndluljóð 35,7) – eine Angabe, mit der auch die meisten der in Hyndluljóð 37 angeführten Namen der Mütter etymologisch oder im Vergleich mit anderen Quellen, in denen sie Riesinnen bezeichnen, in Übereinstimmung gebracht werden können³⁸. Heimdallr wird nämlich in den Quellen eindeutig als Ase, nie als Riese aufgefasst³⁹, und auch der Dichter der Hyndluljóð scheint nicht der Meinung gewesen zu sein, dass Heimdallr ein „Riesensohn“ im üblichen Sinn des Wortes⁴⁰ ist. In Hyndluljóð 35, als die Riesenmütter zum ersten Mal im Gedicht erwähnt werden, wird Heimdallr in Z. 2 als raugna kindar ‚vom Geschlecht der Mächte‘ bezeichnet. rǫgn wird sonst nur für Götter, nie für Riesen verwendet⁴¹. Wenn Heimdallr trotzdem buchstäblich von neun Riesinnen geboren worden wäre, müsste zumindest der Vater dem Asengeschlecht angehören, um Heimdallr als Ase zu qualifizieren. Heimdalls Vater ist jedoch unbekannt⁴², und im Motiv von Heimdalls Ge-

37 Ohlmarks, Heimdalls Horn, 188. 38 Mit Greip und Gjálp ringt Þórr in Skáldskaparmál 27; sie sind die Töchter des Riesen Geirrøðr. Die gleiche Angabe fehlt in der von Snorri zur Erläuterung zitierten Þórsdrápa Dagegen kommt Greip schon in Þjóðólfs Haustlǫng, Strophe 13, als Riesenkenning vor (Greipar biðill, Skj. A I, 18). – Für Imðr, siehe mehrere Belege in Lex. poet., s. v. – Atla ist nur in einer þula der Riesinnen-heiti, und zwar in derselben Kurzzeile wie Imð (sic, Snorra-Edda, ed. Finnur Jónsson, 197), belegt. Die Aufnahme könnte folglich eine Entlehnung aus den Hyndluljóð andeuten. Auf der anderen Seite könnte die Etymologie (zu atall ‚schrecklich, böse‘) für eine ursprüngliche Beziehung zum Riesengeschlecht sprechen. – Zu Járnsaxa, siehe reichliche Belege in Lex. poet., s. v. Laut Snorri, Skáldskaparmál 25, soll sie die Mutter Magnis mit Þórr sein. – Die häufig vorkommende Beziehung zwischen Riesinnen und Wölfen, die auch für die Namen Imðr und Járnsaxa belegt ist (Imðar faxi = ‚Wolf‘: Gísli Illugason 1,1, Skj. B I, 409; Járnsǫxu grǫn faxi = ‚Wolf‘, Snorra-Edda, Skáldskaparmál 76, 173), könnte auch für Úlfrún (zu úlfr ‚Wolf‘) gelten. – Dagegen sind die Namen Eistla, Eyrgjafa und Angeyja nur durch z.  T. weit hergeholte Etymologien möglich, als primäre Riesennamen zu deuten. Wir kommen unten auf diese zurück. 39 Vgl. Þrymskviða 15,1  f. (…Heimdallr, | hvítastr ása), Þulur 4  g (Skj. B  I, 660  f. = Snorra-Edda, Skáldskaparmál 89, 197: Enn skal telja | ása heiti | […] | Váli ok Heimdallr), Rígsþula 1,4 (ꜳs kunnigan) usw. 40 Z. B. Hávamál 164, jǫtna synir = ‚Riesen‘. 41 Eine Ausnahme würde Haustlǫng 12 darstellen, die Marold (Skaldendichtung, 714) in die Riesenbezeichnungen aufnimmt. Die in Frage kommende kenning bezieht sich auf den Riesen Þjazi. Finnur Jónsson hat hier (Skj. B I, 16) fjaðrar blaðs leikreginn gelesen; eine andere Lesart wäre fjaðrar leikblaðs reginn, die Lex. poet. hat und die auch Marold anführt. Lex. poet. definiert jedoch reginn (mit langem Konsonant; so auch die Handschriften: reginn, Skj. A I, 19) als ‚bevæger‘, z.  B. skjaldveðrs r., sverðleiks r. ‚Krieger‘, obzwar mit der Bemerkung: „det er muligt, at r. her betyder ‚gud‘ (Odin)“. In diesen Fällen wäre reginn ‚Gott‘ aber trotzdem nichts als eine gewöhnliche Bezeichnung für ‚Mann, Krieger‘. Außerdem passt reginn in der Bedeutung von ‚bevæger‘ gerade in die von Marold aufgenommene Lesart fjaðrar leikblaðs r. ‚han som sætter ‚fjœrbladets‘, vingens, leg i flugten, i bevægelse‘ (Lex. poet., s. v. „leikblað“) ausgezeichnet. 42 Freilich wird in Þulur II e, Skj. B I, 660 = Snorra-Edda, Skáldskaparmál 89, 196 gesagt: Burir eru Óðins | […] | Heimdallr, Sæmingr. Wegen der wenig zuverlässigen Genealogie, die zwischen Óðinn und Heimdallr aufgezählt wird (dazu gehöre z.  B. auch Yngvi-Freyr!), kann dieser þula jedoch wenig Quel-

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 Heimdalls Geburt

burt scheint – um nach den überlieferten Belegstellen zu urteilen – die Frage von einer Vaterschaft überhaupt nicht als wichtig angesehen worden zu sein: Nur die neun Mütter werden erwähnt. Es kann sogar einen Schritt weiter gegangen und behauptet werden, dass die Belegstellen von Heimdalls Geburt die Existenz einer Vaterschaft in diesem Motiv ausschließen. Denn das Wort meyjar, das in Heimdallargaldr 1 U und in Hyndluljóð 35,4 Heimdalls Mütter bezeichnet, bedeutet wie gesagt zunächst ‚Jungfrauen, unverheiratete Frauen‘. Die einfachste Lösung dieser Widersprüche ist, dass Heimdalls Geburt von neun Müttern eine metaphorische Umschreibung von etwas anderem darstellt. Um eine metaphorische Verwendung des Motivs der neun miteinander verschwisterten Riesinnen zu finden, braucht man nicht außerhalb der altwestnordischen Dichtung zu suchen. Schon 1844 wies Wolfgang Müller auf die neun Töchter des Riesen Ægir⁴³ hin. Da dieser als Personifizierung des Meeres erscheint⁴⁴, treten seine neun Töchter in der Skaldendichtung als Umschreibung der Wellen auf. Für Müller, der Heimdallr als einen Mondgott deuten wollte, ergab die Gleichsetzung „neun Geschwister = Wellen“ ein passendes Bild von Heimdalls Geburt: Der Mond steige ja aus dem Meer, aus den Wellen „am Rande der Welt“, við jarðar þrǫm. Abgesehen von Müllers naturmythologisch zwangsmäßiger Assoziation mit einem Himmelskörper ist die Deutung annehmbar. Sie findet in Parallelen mit der altisländischen poetischen Überlieferung reichlich Untermauerung. In der 1. Strophe von Snæbjǫrns lausavísa aus dem 11. Jahrhundert heißt es: Hvatt kveða hrœra Grótta hergrimmastan skerja út fyr jarðar skauti eylúðrs níu brúðir, þær es, lungs, fyr lǫngu líðmeldr, skipa hlíðar baugskerðir rístr barði ból, Amlóða mólu⁴⁵.

lenwert zugerechnet werden; sie muss einer antiquarischen Sammlertradition angehören, von der nur noch bekannt war, dass Óðinn der „Vater aller Götter“, der „Alfǫðr“ (so Snorri, z.  B. Gylfaginning 9, 24) war. – In Hyndluljóð 35,2 raugna kindar ‚vom Geschlecht der Mächte, Götter‘ könnte rǫgna theoretisch als Genitiv Singular von rǫgni ‚Herrscher‘ (‚Óðinn‘) verstanden werden. Gewöhnlich heißt aber Óðinn Rǫgnir (Genitiv Rǫgnis), nicht Rǫgni. In Lex. poet. ist Rǫgni nicht als Name Óðins verzeichnet. Falks „Odensheite“ verzeichnet neben Rǫgnir ein Rǫgni (Nr. 112  f.), führt aber als einzige Belege gerade Hyndluljóð 35 und Vellekla an, in der Hákon jarl als rǫgna konr bezeichnet wird. Dies kann aber ebenso gut als ‚Abkomme der Mächte, der Götter‘ verstanden werden; vgl. ganz parallel Háleygjatal 3,3 ása niðr = Hákon (Skj. B I, 60) . 43 Müller, Geschichte und system, 227  ff. 44 Belegt vor allem in Skaldenlieder des 11. Jahrhunderts, z.  B. Ívarr Ingimundarsons Sigurðarbǫlkr 11 (Skj. A I, 495  f.), um 1040, Einarr Skúlasons Sigurðardrápa 1 (Skj. A I, 455) aus demselben Jahrhundert und Gísli Illugasons erfikvæði von Magnús berfœtt (Skj. A I, 443), um 1104. 45 Skj. B I, 201.

Auslegung 

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Finnur Jónsson führt skerja zu níu brúðir und übersetzt⁴⁶: ‚Man siger, at skærenes 9 brude (bølgerne) voldsomt bevæger det oprørte hav [Grótti der „Mühle der Inseln“, eylúðr]⁴⁷, udenfor jordens kant, grusomt mod mænd, de (bølger) som for længe siden malede på Amlodes kværn; manden plöjer med skibets stavn det bølgende hav‘. Möglich ist aber, dass skerja eher zu Grótti zu stellen ist – skerja Grótti ‚Grótti (Mühle, vgl. den Gróttasǫngr) der Schären‘ = das (gewaltsame, die Schären zermalmende) Meer – und dass man dann gemäß der vorliegenden Wortfolge eylúðrs níu brúðir ‚die neun Frauen der Mühle der Inseln (= des Meeres)‘ lesen soll. In beiden Fällen wird deutlich, dass mit den neun Frauen die Wellen gemeint sind. Wie im Heimdallargaldr bleiben die Riesentöchter hier jedoch anonym. Sowohl Snæbjǫrns Strophe als auch der Heimdallargaldr nähern sich den dunklen Formulierungen nach eher dem Rätsel und begnügen sich damit, mit Andeutungen zu spielen⁴⁸. Hier wie dort erscheint dabei die Neunzahl der Frauen als wesentlich und muss in beiden Fällen den Rezipienten ermöglicht haben, die Identität der Frauen zu enträtseln. Aber auch Snæbjǫrns Formulierung út fyr jarðar skauti ‚außerhalb am Rande der Erde‘ erinnert an die Beschreibungen der Mütter Heimdalls. Bei Snæbjǫrn macht der Ausdruck deutlich, dass wir uns mit dem Skalden im Bereich des Meeres bewegen. So fungiert auch die Bestimmung von Heimdalls Geburt við jarðar þrǫm in Hyndluljóð 35,8. In der Dichtung wird dieser Ausdruck nur im Sinn von dem Rand, an dem die Erde dem Meer begegnet, verwendet⁴⁹ – jedoch nicht in der Bedeutung von ‚Horizont‘, wie Wolfgang Müller meinte, und bestimmt nicht im Sinn von Erdoberfläche, wie Pipping und andere den Ausdruck auffassten. Merkwürdigerweise wurde das Wort eylúðr (sonst ein hapax legomenon) in eine þula der Handschriften AM 748 und 757 der Snorra-Edda als Name Óðins⁵⁰ aufgenommen. Der Angabe als solche ist kein Quellenwert zuzuschreiben; mit größter Wahrscheinlichkeit hat der Zusammensteller der þula die Bezeichnung aus Snæbjǫrns (in der Snorra-Edda zitierten) Strophe geholt. Die Frage, wie er dazu kam, eylúðr als Óðinsheiti zu verstehen, kann aber dadurch erklärt werden, dass ihm die Gleichsetzung „Heimdalls Mütter = die Wellen (eylúðrs níu brúðir)“ bekannt war und er deshalb eylúðr mit Óðinn – in christlicher Zeit als der Vater aller Götter angesehen – identifizierte.

46 Ebd. 47 Zu lúðr, vgl. Lex. poet., s. v. 48 Zu diesen Beispielen gehört auch das Rätsel Hárbarzljóð 16–18. Nach Hárbarzljóð 18 hätten die hier erwähnten, anonymen Frauen ein Seil aus Sand (ór sandi síma) gewunden und den (flachen?) Boden aus einem tiefen Tal (or dali divpom grvnd) gegraben; beide Handlungen sind für den WellenAspekt passend. Die angegebene Anzahl beträgt zwar sieben und nicht neun, was dennoch für eine „eben nicht kleine Anzahl“ stehen kann (siehe Edda, ed. von See II, 198 zu Hárbarzljóð 18,11) und hier zudem durch den – allerdings merkwürdigen – Stabreim bedingt ist. 49 So Steinn Herdísarson, Óláfsdrápa 9, um 1070 (Skj. B I, 381); Háttatal 16 (Skj. B II, 65). Vgl. auch þrǫmr grundar ‚die Küste des Landes‘, Einarr Skúlason, Geisli 31, um 1153 (Skj. B I, 434). 50 æylvðr. Þulur IV jj 7 (Skj. A I, 687).

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 Heimdalls Geburt

Im 20. Heiðreksrätsel sind die Frauen wieder anonym und ihre Identität wird nur durch Andeutungen enthüllt: Hverjar ro meyjar er ganga margar saman at forvitni fǫður, hadda bleika hafa enar hvítfǫldnu ok eigut þær varðir vera. Heiðrekr konungr hygg þú at gátu. ‚Hvilke er de møer, der færdes mange sammen ifølge deres faders ønske, blegt hår har de hvidbedækkede, og de kvinder har ingen mand. Kong Heidrek, overvej gåden‘⁵¹.

Das weiße Haar (hadda bleika) ist natürlich der Schaum der Wellen. Zu den anderen Angaben bezüglich der Identität der Frauen gehört die Information, dass sie alle denselben Vater haben, dass sie also – wie nach dem Heimdallargaldr auch Heimdalls Mütter – Geschwister sind. Eben auffallender im Vergleich mit Heimdalls Mütter erscheint die im Rätsel mitgeteilte Information, sie hätten keinen Mann: ok eigut þær varðir vera. Die Angabe stimmt mit dem in Z. 1 verwendeten Wort meyjar ‚Jungfrauen, unverheiratete Frauen‘ überein, das – wie wir oben gesehen haben – in zwei verschiedenen Quellen auch für Heimdalls neun Mütter verwendet wird. Im Heiðrekrätsel müssen diese Informationen ausreichen, um zu verstehen, wer mit den anonymen Frauen gemeint wird. Gegen diese Deutung von Heimdalls Müttern – vor  allem in der Fassung des Motivs in den Hyndluljóð – könnte der Einwand erhoben werden, dass die in Hyndluljóð 37 aufgelisteten Namen in keiner anderen Quelle als Namen von Ægis Töchtern belegt sind. In einer anonymen Strophe in Codex Arnamagnæanus 748 I der SnorraEdda werden diese unter „nǫfn ęgis dœtra“ mit anderen Namen bezeichnet⁵²: Drǫfn skylr stál, þars stafni straumfylgin þvær Bylgja, Hefring brestr, en hristir Himinglæva mar Vimrar, Hrǫnn dregr grœn ór grunni gadd, svelr Blóðughadda, elg venr Uðr ok Kolga egghúfs við glym Dúfu. ‚Drǫfn beskyller stavnen, hvor den strömfølgende Bylgja vasker den; Hefring brister, men Himinglæva ryster skibet [„den Pferd des Seekönigs“], den grönne Hrǫnn river (ankar)spidsen op af havbunden, Blodughadda afkøler; Uðr og Kolga vænner skibet til Dufas larm.‘

51 Zitat und Übersetzung Skj. B II, 244. 52 Snorra-Edda II, 493. Hier nach Skj. B I, 657  f. mit der Übersetzung Finnur Jónssons (ebd.) wiedergegeben. In Skáldskaparmál 34, 116 führt Snorri noch ein Mal die hier belegten Namen an: Hvernig skal sæ keɴa? Sva at kalla hann […] faþir Ægis dætra, þeira er sva heita, Himinglefa, Dvfa, Bloðvghadda, Hefring, Vðr, Hrꜹn, Bylgia, Bara, Colga […]. Auch in Skáldskaparmál 77, 175 werden die Namen aufgezählt und die Anzahl der Töchter Ægis als neun angegeben.

Auslegung 

 143

Nach Skáldskaparmál 77, 175  f. soll Einarr Skúlason (12. Jahrhundert) in einer Strophe sechs dieser Namen aufgezählt haben. In R und im (früher 1eβ genannten) Fragment AM 748 II der Snorra-Edda wird danach nur die erste Langzeile angeführt; in den Fragmenten 748 I und 757 wird aber die ganze Strophe, mit einem der Eingangszeile in R und 748 II entsprechenden Anfang und sechs Wellennamen, zitiert⁵³. Der Name Kolga steht auch in Helgakviða Hundingsbana I 28,3 für die Welle (Kolgo systir = ‚die Welle‘). In Strophe 29 desselben Gedichts wird die Welle mit Ægis dóttir bezeichnet. Sämtliche der hier erwähnten Namen sind entweder sprechende Namen für ‚Wellen‘⁵⁴ oder bezeichnen die Bewegung der Wellen, beziehen sich auf ihre Kälte, ihre Farbe usw.⁵⁵. Bei anderen Belegen ist es unmöglich zu beurteilen, ob Namen wie Bylgja (‚Welle‘), Lá (‚Seebrandung‘), Sægr (‚Haff‘) und andere lediglich als heiti ‚Welle‘ bedeuten oder eine Vorstellung von den Riesentöchtern miteinschließen⁵⁶. Wie insbesondere aus den letzteren Beispielen hervorgeht, überzeugt die Vorstellung, dass in der Dichtung die Namen der Wellen ein für allemal festgesetzt sind oder sie in verschiedenen Zusammenhängen nicht unterschiedlich benannt werden können, nicht. Gewisse Namen mögen bei verschiedenen Dichtern wiederkehren (vgl. oben zu Kolga); die oben angeführte Strophe dürfte aber die einzige sein, in der die eben darin angeführten Namen gleichzeitig auf Ægis neun Töchter bezogen wurden. Bei den Hyndluljóð hat der Dichter sich wahrscheinlich das Motiv der Töchter als Riesinnen gemerkt und dieses bei der Namensgebung akzentuiert. Die beiden ersten Namen, Gjálp und Greip (Hyndluljóð 37,1  f.), werden in einem anderen Zusammenhang auf Riesinnen bezogen. In Skáldskaparmál 27 erzählt Snorri,

53 Die Stelle der ganzen Strophe in: Snorra-Edda I, 500; II, 451. 54 Bylgja bedeutet z.  B. einfach ‚Welle‘ (mittelniederdeutsch bulge ‚anschwellende Welle; Schlauch‘, neuschwedisch bölja ‚Welle‘). Auch Bára ist in anderen Sprachen in der Bedeutung von ‚Welle‘ belegt, vgl. neuisländisch färöisch bára, norwegisch baara ‚Welle‘, mittelniederdeutsch bāre ‚Woge‘; die ursprüngliche Bedeutung ist wohl ‚die Tragende‘ (zu bera). Ähnlich Uðr = unnr ‚Welle‘. Siehe AEW, s. vv. 55 So Hefring über das Verbum hefja, also ‚die Sicherhebende‘. – Dúfa, zum Verbum dúfa ‚tauchen‘, vgl. altenglisch dūfan ‚untertauchen, sinken‘, mittelniederdeutsch bedūven ‚übergossen werden‘ und anderes mehr. – Himinglæva ‚klar wie der Himmel‘, zu himinn und dem Adjektiv glær ‚klar‘, vgl. m. glær ‚See, Meer‘. – Blóðughadda ‚sie mit blutigem Haare‘; dass das Meer als blutrot gedacht und danach bezeichnet wurde, finden wir auch in anderen kenningar für das Meer, vgl. flóðs ásynju blóði = ‚das Blut der Seegöttin Rán‘ = ‚das Meer‘. Dazu Meißner, Die Kenningar der Skalden, 99: Gedacht werde wohl an die „rötlich-dunkle Beleuchtung des Brandungsschaumes“. Die Vorstellung erinnert an Homer, Odyssee 1,183: πλέων ἐπὶ οἴνοπα πόντον ἐπ᾽ ἀλλοθρόους ἀνθρώπους (‚ich fahre über weinrotes Meer zu anderssprachigen Menschen‘: οἰνωπός ‚weinfarben‘, < οινος ‚Wein‘; ich gedanke Herrn Prof. Dr. W. Heizmann für den Hinweis). – Kolga ‚die Kalte‘, ursprünglich ‚Kälte‘, vgl. kala ‚frieren, kalt machen‘. – Hrǫnn, gemeingermanisch (*hraznō) für ‚Woge, Flut, Meer‘, neuisländisch hrönn, altenglisch hærn, hræn. Etymologisch geht es vielleicht auf hrœra zurück, also ‚die Bewegliche‘. 56 Siehe die heiti (jeweils in Skaldenstrophen), die in Skáldskaparmál 77, 176  f. angeführt werden. Einige sind mit den oben erwähnten Namen identisch, andere nicht.

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 Heimdalls Geburt

wie Þórr auf seinem Weg zum Riesen Geirrøðr und seinen zwei Töchtern, Gjálp und Greip, gezwungen wurde, durch einen gewaltigen Fluss zu waten. Þa ser Þorr vppi iglivfvm nokqvorn, at Gialp, dottir Geirroþar, stoð þar tveim megin ariɴar ok gerþi hon arvoxtinn. Þa toc Þoʀ vpp or aɴi stein mikiɴ ok kastaþi at henni ok mælti sva: „at ósi skal á stema“⁵⁷. ‚Da sah Þórr stromaufwärts in einer Schlucht Geirrøðs Tochter Gjálp auf beiden Flußufern stehen und das Anschwellen des Flusses verursachen. Er nahm aus dem Flußbett einen großen Stein auf, warf ihn nach ihr und sprach dazu: „An der Quelle staut man, was quillt!“ ‘⁵⁸.

Die freche Episode wird nicht in allen Einzelheiten durch Eilífr Goðrúnarsons Þórsdrápa (ca. 1000), die Snorri hierzu ausführlich zitiert, bestätigt; auch in Eilífs Version scheint aber die Riesin über die Gewaltigkeit des Flusses zu gebieten⁵⁹, und wahrscheinlich wird sogar der Fluss „der Riesinnen Wasser“ genannt⁶⁰, was Snorris Darstellung stützen könnte. Da die Namen Greip und Gjálp hier wie in Hyndluljóð 37,1  f. zusammen erscheinen, ist denkbar, dass diese Erzählung den Dichter der Hyndluljóð bei der Wahl der Wellennamen beeinflusst hat. Der Name von Gjálp, die im Zitat von Snorri die Hauptrolle spielt, wäre aber auch an sich ein passender Wellenname. Gjálp scheint etymologisch die Bedeutung ‚Lärm, Getöse‘ zu haben. Neuisländisch gjálp ‚Brausen; Welle, See‘⁶¹ muss wohl trotz des langen Vokals mit germanisch *gelb‚tönen‘, indogermanisch *ghelb- ‚rufen, schreien‘ – eine Erweiterung der germanischen Verbalwurzel *gel-/*gal- in neuschwedisch gala ‚krähen‘ usw. – verwandt sein. Der Name kann sich demnach sehr wohl auf das lärmende, brausende Meer beziehen. Diese Annahme wird durch andere, etymologisch verwandte Wörter, die in mehreren Sprachen die lärmenden Wellen und auch das Meer bezeichnen, untermauert; vgl. altnordisch gjalfr ‚Lärm, heftiger Wogengang, Meer‘⁶²; ferner mittelniederdeutsch gelve, neuniederländisch golf ‚Welle, Woge‘⁶³ und anderes mehr. Eine andere Bedeutungsgruppe dieser Wörter bezeichnet riesenartige Wesen (f. gylfra ‚Hexe‘, n. gylfin ‚Unhold‘). Ob Gjálp ein primärer Wellen- oder Riesinnenname war, sei hier dahin-

57 Skáldskaparmál 27, 106. 58 Übersetzung Snorra-Edda, ed. Thule, 152. Die Namen sind vom Verf. normalisiert und ohne die Sperrung im Original wiedergegeben. 59 Vgl. Þórsdrápa 9,5  f.: hǫˊðu stáli stríðan | straum hrekkmímis ekkjur ‚Hrekkmímis Witwen [die Riesinnen] machten den Strom reißend für die Wanderstäbe [von Þórr und Þjalfi]‘ (Skj. B I, 141). 60 Þórsdrápa 4,2–4: {  Fríðar vers [‚Fríðs Mann‘ = Hrungni] fljóða [Hrungnis ‚Frauen‘ = Gjálp und Greip] } { himintǫrgu [‚Himmelsschild‘ = Wolke] dreyra [der Wolke ‚Blut‘ = Wasser] } „Gjalps und Greips Wasser“ = ‚der Fluss (ihr Urin?)‘. Eine andere Lesart bevorzugt Finnur Jónsson, Skj. B  I, 140, zur Stelle. 61 ÁBM, s. v. „gjálpa“. 62 Siehe Lex. poet., s. v. 63 AEW, s. v. „Gylfi“.

Auslegung 

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gestellt; der letztere Hinweis deutet darauf hin, dass beide Alternativen möglich sind. Auch Greip ist sowohl als Riesinnenname wie auch als Wellenname plausibel⁶⁴, obwohl es für mich denkbar wäre, dass die Assoziation dieses Namens mit Gjálp (siehe oben) im Vordergrund steht. – Eistla (Hyndluljóð 37,3) ‚die Vorwärtsstürmende, Schäumende‘⁶⁵ wäre als primärer Wellenname nicht weniger passend als z.  B. der oben angeführte Name Dúfa ‚die Tauchende‘. Das Verb eisa ‚vorwärtsstürzen‘ (neuisländisch ‚lodern, schäumen‘⁶⁶) wird in der Dichtung vor allem für Wellen verwendet⁶⁷. – Imðr (Hyndluljóð 37,7) könnte sowohl für Riesen als auch für Wellen in Frage kommen. Ohlmarks⁶⁸ übersetzte den Namen mit ‚die Rauschende‘, zu altnordisch ymja ‚rauschen‘. Ich würde eine Herleitung von altnordisch im, ím ‚Staub‘, vgl. neunorwegisch im ‚Duft‘, neuschwedisch imma (< ime) ‚Dampf‘, verwandt mit aisländisch ímr ‚Dunkel‘, bevorzugen⁶⁹. Das Wort kann in Seenamen wie Immen und Immeln wiedergefunden werden, während die im Altnordischen mit der Bedeutung ‚Rauch, Dampf‘ belegte Ablautform eimi im Flussnamen Emån wiederkehrt⁷⁰. Hier ist es wohl die Bedeutung ‚Dampf‘, die als ansprechend empfunden wurde, während Namen wie Ímr und Ímarr (‚Riese; Wolf‘)⁷¹ auf die Bedeutung ‚Dunkel‘ anspielen dürften. Die oben behandelten Namen scheinen sowohl mit Wellen als auch mit Riesen in Beziehung zu stehen. Die Namen von Heimdalls Müttern bzw. Namen, die mit ihnen verwandt sind, können tatsächlich auch für Riesen verwendet werden. Dies braucht nicht zu verwundern, denn der Gedanke, die Wellen seien Riesinnen und das Meer ein Riese (Ægir), impliziert die Vorstellung, dass das potentiell gewaltsame und gefährliche Meer seinen Charakter mit den Riesen teilt. Drei andere der in Hyndluljóð 37 angeführten Namen sind Úlfrún ‚des Wolfes Freundin‘ (Z. 5), Atla ‚die Schreckliche‘ (Z. 7) und Járnsaxa ‚Eisenschwert‘ (Z. 8), denen derselbe Gedanke zu Grunde zu liegen scheint.

64 Siehe ebd., s. v.: vgl. altnordisch greip ‚Hand, Griff‘ zu greipa ‚greifen, mit der Hand umfassen‘; vgl. neunorwegisch dialektal greipsa ‚hastig verschlucken‘. Greip könnte die Welle in den Augen des Seemanns bezeichnen, die das Schiff in ihren Griff nimmt und droht, es gegen die Klippen zu schleudern. 65 Zum Verb eisa ‚vorwärtsstürzen‘. 66 AEW, s. v. „eisa 2“. 67 Vellekla (um 986), Strophe 5: vágr Rǫgnis [‚Óðins Welle‘ = das Dichtermet] eisir fyr mér (Skj. B I, 117). IED führt s. v. „eisa“ den (poetischen) Ausdruck ganga eisandi an und übersetzt: ‚to go dashing through the waves, of a ship‘, an; vgl. ebd. vargr hafs eisar ‚the sea-wolf (the ship) goes dashing‘; eisandi uðr ‚foaming waves‘. Vgl. die Belege in Lex. poet., s. v. „eisa 2“. 68 Heimdalls Horn, 274. 69 ÁBM vergleicht s. v. „Imd, Imd(u)r“ mit dem Verb íma ‚mit Reif oder Ruß bedeckt werden; dampfen usf.‘. 70 Hellquist, Svensk etymologisk ordbok, s. v. „Emån“. 71 Ímr: Þulur IV f 1 (Skj. B I, 660) bzw. ee 1 (ebd., 670). Ímarr: Þulur IV c 3 (Skj. B I, 659) bzw. ee 2 (ebd., 671).

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 Heimdalls Geburt

Die Namen Eyrgjafa (Hyndluljóð 37,4) und Angeyja (37,6) dagegen sind Namen, die weder für andere Riesenfrauen verwendet werden, noch überzeugend als primäre Riesennamen erklärt worden sind⁷². Angeyja könnte mit dem Präfix and- wie andskoti ‚Widersacher‘ und geyja ‚e-n anbellen; auf e-n schelten, schimpfen; e-n ausschelten‘, also ‚die Schimpferin‘, gebildet worden sein⁷³; für eine Riesin wäre das aber keine vielsagende Bezeichnung. Das Erstglied in Eyrgjafa führte Sophus Bugge zum privativen Präfix ør⁷⁴, aus dem ‚die Gabenlose‘ resultiert⁷⁵, was wenig ansprechend scheint, zumal die handschriftliche Lesart nicht *Ørgjafa, sondern Eyrgjafa ist. Wird der handschriftliche Lesart gefolgt, kann aber Eyrgjafa als primärer Wellenname erklärt werden. Eyr- lässt sich wohl aus dem altnordischen Substantiv eyrr ‚Sandbank, Landzunge von Sand und Stein‘⁷⁶ herleiten. Das letzte Wortglied -gjafa ist eine in der Bedeutung ‚Geberin‘ belegte Nomina agentis-Bildung des Verbs gefa ‚schenken, geben‘. Der Name ‚die Sandspenderin‘ lässt sich aber schwer als primärer Riesinnenname verstehen und stellt in meinen Augen einen klaren Hinweis dafür dar, dass dem Dichter der Hyndluljóð die Identität von Heimdalls Müttern als Wellen nicht unbekannt war⁷⁷. – Den Namen Angeyja gliederte Ohlmarks nicht in An-geyja, sondern in Ang-eyja. Diesen Begriff wollte er mit ‚enge Insel, diejenige, die die Insel enger und enger macht, d. h. die Welle, die das Land verzehrt‘ übersetzen. Warum das erste Glied nicht mit w-Umlaut als ǫng- (< germanisch *angwaz ‚eng‘) auftaucht, erklärt Ohlmarks nicht. Auch erörtert er nicht, nach welchem Schema die für Wellenheiti ja nicht sehr passende Bedeutung ‚enge Insel‘ in ‚diejenige, die die Insel enger und enger macht‘ verändert werden könnte. Man würde daher eher eine deverbative Ableitung, und nicht eine Bildung zum Zweitglied -ey-, erwarten. Dagegen würde mir die Bedeutung ‚die der engen Insel‘ (als Wellenname) plausibel, wenn auch nicht völlig überzeugend, erscheinen⁷⁸. Warum der Dichter der Hyndluljóð sich dazu entschlossen hat, die gefährliche und riesenartige Seite des Meeres hervorzuheben, muss vor dem Hintergrund der für den Aufbau und die Gestaltung dieses Gedichts ausschlaggebenden Intentionen untersucht werden, was an anderer Stelle geschehen wird. Vorerst reicht es, festzustellen, dass einem in der altwestnordischen Dichtung bewanderten Rezipienten sowohl aufgrund der ausführlicheren Ausgestaltung von Heimdalls Geburt in den Hyndluljóð als auch aufgrund der knapperen Andeutungen in Húsdrápa 2 und dem Heimdallargaldr klar sein sollte, dass mit den neun miteinander verschwisterten

72 Vgl. ÁBM s. v. „Angeyja“: „Uppruni og merk[ing] óljós.“ 73 Vgl. Lindquist, Guden Heimdall, 77: ‚hon som skäller emot‘. 74 Alternativ könnte wohl dieses Glied zum Neutrum ørr ‚Narbe‘, also ‚jene, die Wunde gibt, die Wundgeberin‘ gestellt werden? 75 Norrœn Fornkvæði, 404 („Tillæg og Rettelser“): „hun som ikke har Gave at give“. 76 Vgl. Lex. poet., s. v. 77 Vgl. Ohlmarks, Heimdalls Horn, 272  ff. und Golther, Handbuch der germanischen Mythologie, 362. 78 So auch AEW, bzw. ÁBM, beide s. v. „Angeyja“.

Auslegung 

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Müttern Heimdalls die neun Töchter des Ægir, die Wellen, gemeint waren. Heimdalls Geburt „am Rand der Erde“ war also eine Geburt aus dem Meer. Mehrere Forscher sind dieser Auslegung von Heimdalls Geburt gefolgt, fast immer im Zusammenhang mit naturmythologischen Auslegungen von Heimdalls Charakter: Vor dem Hintergrund von Wolfgang Müllers Theorie wurde die Geburt des Gottes als die am Horizont aufsteigende Sonne, der „Lichthimmel“ und noch als vieles mehr interpretiert⁷⁹. Dabei wurde viel Energie darauf verwendet, Heimdallr mit den jeweiligen Göttern zu vergleichen, durch die sie die vermeintliche Ursprungsgestalt Heimdalls erklären wollten; seltener wurde versucht, vom Kontext der überlieferten Textstellen auszugehen. Wie später dargelegt werden soll, kann aber gezeigt werden, dass das Motiv von Heimdalls Geburt im Kontext der Hyndluljóð verwendet wurde, um den Riesencharakter seiner Mütter besonders hervorzuheben (Kap. 6.4.3): In diesem poetischen Bild hat der Dichter offenbar eine latente Spannung zur engen Beziehung Heimdalls mit der dominanten Ordnung in der Welt der Götter bzw. der Menschen gesehen, eine Beziehung, die sowohl mit Heimdalls Funktion als vǫrðr goda als auch mit seiner in den Hyndluljóð akzentuierten Rolle als Stammvater zusammenhängt. In den Hyndluljóð werden beide Funktionen unter dem tragenden genealogischen Thema des Liedes geordnet, und die Spannung zwischen geogra-

79 Heimdallr als der aus den Wellen (R. M. Meyer, Beiträge, 251  f.: Wolken?) geborene Lichthimmel: Müllenhoff, Frija und der halsbandmythus, 247; Golther, Handbuch der germanischen Mythologie, 362  f.; Much, Der germanische Himmelsgott, 69; Herrmann, Nordische Mythologie, 246 (dazu Óðinn, „eigentlich Tius“, als Vater). – Heimdallr als die aus dem Meer aufsteigende Sonne findet sich bei Ohlmarks, Heimdalls Horn, 272–80. – Heimdallr steigt als Regenbogen am Horizont auf: E. H. Meyer, Völuspa, 16; vgl. dens., Germanische Mythologie, 228, obwohl auch Meyer als Alternative an die neun heimar der Vǫluspá dachte („die ja alle der Gott des Welt- oder Heimglanzes durcheilt“). Implizit Hellquist, Bidrag, 171. – Pering (Heimdall, 182  ff.) dachte, dass die Disen (nicht Riesinnen!) mit dem Meer verbunden gewesen und deshalb später als Personifizierung der Wellen aufgetaucht seien. Heimdalls Mütter seien Vertreter eines früheren Matriarchats. Auch Much (Der nordische Widdergott, 67) stellte sich das Wellenmotiv als eine Umdeutung eines älteren Mythos vor. Unabhängig von den Naturmythologen versuchte F. R. Schröder (Heimdall, 2  f.), Heimdallr als Feuergott zu interpretieren und mit dem indischen Agni gleichzustellen, der als apm nápāt ‚Sprössling der Wasser‘ bezeichnet wird. Dieselbe Deutung verfolgte Rydberg (Undersökningar i germanisk mythologi I, §  82) schon achtzig Jahre zuvor, indem er teilweise dieselben Vergleiche anstellte. Zu den neueren Interpreten gehört Dumézil, der sich aber wie die älteste Forschung zunächst an den aus dem Meer aufsteigenden Himmel gehalten zu haben scheint (Remarques comparatives, 282, mit einem Hinweis auf die Geburt des Uranos aus dem Okeanos in der griechischen Mythologie). Hier sei auch Clunies-Ross erwähnt, deren in Prolonged echoes I, 174  ff. vorgelegte Spekulationen zur Interpretation jedoch wenig überzeugend sind, vgl. ebd., 175: „the inseminator of the waves must be a being of male gender associated with the sea or with phenomena like rocks that have phallic connotations. […] As both waves and ocean are formed from the same substance, however, it might be expected that the male-female relationship would have been thought of as incestuous“. Da Wanen für inzestuöse Beziehungen bekannt seien, sei Njǫrðr Heimdalls Vater.

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 Heimdalls Geburt

phisch-sozial peripherer Geburt und zentraler Stellung in der kosmischen Ordnung wird problematisiert. Will man dagegen Heimdalls Geburt aus dem Meer in näherer Beziehung zu seinem Charakter setzen, braucht man nicht etwa unter fremden Sonnengöttern nach passenden Parallelen zu suchen. Schon in Hyndluljóð 35 wird Heimdalls Geburt als eine urzeitliche bestimmt (Z. 2: i ꜳrdaga). Wenn Heimdallr mit Rígr zu identifizieren ist, passt das mit der Beschreibung von diesem Gott in Rígsþula 1,2  f. als aldinn ꜳs. Heimdallr ist, wie andere Stammväter der mythologischen Traditionen der Germanen, ein urzeitlicher Gott, und wie andere urzeitliche Götter stammt er nicht von anderen Göttern, sondern aus den Elementen. So ist Búri, der Ahnvater der Götter, wie Heimdallr vaterlos. In der Snorra-Edda ist jedoch ein Mythos erhalten, dem wahrscheinlich hohes Alter beizumessen ist⁸⁰: Am Anfang aller Dinge, noch bevor die Welt geschaffen war, entstand eine Kuh aus den Gewässern, die aus dem Eis des Nordens kamen, als dieses dem Feuer des Südens begegnete. Diese Kuh, Auðumbla, ernährte sich, indem sie den Reif der salzigen Steine (hrimsteinanna) leckte, ok hiɴ fyrsta dag, er hon slekti steinana, kom ór steininvm at qveldi maɴz har, aɴan dag maɴz havfvð; þriþia dag var þar allr maðr; sa er nefndr Bvri; hann var fagr alitvm, mikill ok mattvgr; hann gat son þaɴ, er Boʀ het⁸¹.

Búri hat folglich keinen Vater und keine Mutter – nur den Mutterschoß der Erde – und kann diese wohl als erster „Erzeuger“, was auch sein Name bedeutet⁸², nicht gehabt haben. Eine ähnliche Geburt wird von einem anderen Urahn, dem Vorfahren der Riesen, Ymir, der aus den Élivágar geboren worden sei⁸³, berichtet. Die Parallelen reichen, wie bekannt, ins Altgermanische. Tacitus zufolge besangen die Germanen „in alten Liedern“ (carminibus antiquis) wie Tuisto, der erste Mensch und das etymologisch und inhaltlich verwandte Gegenstück zu Ymir, aus der Erde geboren wurde (Germania

80 Das Mythologem der Ur-Elemente des Feuers und Eises könnte zwar, wie de Vries (Altgermanische Religionsgeschichte II, 362) bemerkt, dem iranischen Dualismus entstammen und muss nicht vor dem Christentum in den Norden gekommen sein. Gleichzeitig müsste das Bild aber auf Island, mit seinen Gletschern und der vulkanischen Aktivität der Insel, nicht weit hergeholt werden. 81 Gylfaginning 5, 13  f. 82 F. R. Schröder, Germanische Schöpfungsmythen II, 90. 83 Der Riese Vafþrúðnir erzählt in dem Lied, das seinen Namen trägt, dass ein Lebewesen am Anfang der Zeit (í árdaga, Vafþrúðnismál 28,6) aus den Tropfen entstand, die aus den urzeitlichen Gewässern, den Élivágar, entsprangen. So wurde Ymir geboren, Vafþrúðnismál 31: Or Elivagom | stvcco eítrdropar, | sva óx, vnnz or varð iotvnn. Die Vafþrúðnismál nennen den Riesen Aurgelmir; die Identität ist aber wohl nicht zu bezweifeln. – Der Mythos ist auch bei Snorri bewahrt: Aus denselben Gewässern, aus denen Auðumbla entstand, berichtet er in Gylfaginning 5, 12, varþ maɴz likaɴdi, ok er sa nefndr Ymir. Snorris Erzählung basiert wahrscheinlich auf der Vafþrúðnismál-Strophe, die er ebd. zitiert.

Auslegung 

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2,2: Tuistonem, deum terra editum). Sein Sohn Mannus wurde der Urvater germanischer Stämme. Bekannt ist auch der Mythos des über das Meer herangesegelten Jünglings, der später zum Urahn mächtiger Geschlechter wird⁸⁴. Schon das Bēowulf-Lied beginnt mit der Ankunft des Jünglings Scyld Scēfing, der als Kind hilflos in einem kleinen Kahn gefunden wird. Keiner weiß, woher er kommt. Im Laufe der Zeit wird er aber ein mächtiger Häuptling; sein Volk wird entsprechend seinem Namen die scyldingas genannt⁸⁵. Noch Snorri hat einen Skjǫldr als Urahn der dänischen Skjǫldungar gekannt⁸⁶. Für den mythologischen Stammvater, per definitionem den Ersten, scheint die wunderbare, vaterlose Geburt folglich ein logisches und wohl belegtes Mythologem zu sein.

4.2.2 Heimdalls Kraftstärkung In den Strophen der Hyndluljóð über Heimdallr werden drei Themen hervorgehoben: erstens Heimdalls frühzeitliche „Geburt“ von neun Müttern, zweitens seine Kraftstärkung und drittens sein Charakter als Fürst und Stammvater. Diese Themen sind kunstvoll arrangiert, variiert und miteinander verbunden: Strophe 35 hat die Geburt zum Thema (Z. 1: Vard einn borin…). Hier wird aber in Z. 3 die Kraftstärkung zum ersten Mal erwähnt: Heimdallr sei rammaukin miok ‚sehr kraftgestärkt‘; es wird hier allerding nicht eingehender erklärt, was damit gemeint ist. In Z. 6 wird er auch naddgǫfugr oder -hǫfugr genannt, zwei alternative Lesarten, die beide auf seine Bewaffnung hindeuten. Strophe 36 ist eine stef-Strophe. Darauf folgt in Strophe 37 die Aufzählung der Namen von Heimdalls „Müttern“ (Geburt-Thema).

84 Als Parallele phänomenologisch naheliegend ist z.  B. auch Moses. Auch der Gedanke an Wäinämöinens Geburt im finnischen Epos „Kalevala“ (Kalevala I 107–344) liegt hier nahe. Es wurde aber früh dargelegt, dass dieses Motiv, das in Lönnrots (zweiter) Ausgabe des Kalevala steht, eine auf nur zwei Aufzeichnungen und auch geographisch (zu Österbotten) beschränkte Variante des weit verbreiteteren Motivs der Geburt der „neun Übel“ war; siehe Krohn, Die geburt Väinämöinens. Den Forschungsstand hat mir Pekka Hakamies, Direktor des Kalevala-Instituts in Turku, am 28. Sept. 2007 brieflich bestätigt. Einige Einzelheiten, die die Ähnlichkeit mit Heimdallr verstärken würden, hat Lönnrot anderen Liedern frei entnommen, z.  B. I 107  ff.: „Einsam wurde Wäinämöinen, | einsam entstand der Urzeitsänger“ usw., vgl. Hyndluljóð 35,1 (von Heimdallr): Varð einn borinn; zum Ursprung von Lönnrots Zeilen, siehe Krohn, ebd., 18. Liest man andererseits die Originalaufzeichnungen, so haben diese nicht viel mit dem Heimdallr-Motiv gemein; der Vater z.  B. ist nicht mehr unbekannt – und ist übrigens der Tradition der Geburt der „neun Übel“ entlehnt worden. Ebd., 12  ff. 15. 85 Bēowulf 4  ff. 43  ff. – Schon Rydberg (Undersökningar i germanisk mythologi I, §  21) verglich Heimdallr mit Scēf (Scyld), doch mit dem Schluss, der Kulturheld und der Gott seien identisch. Hier sprechen wir nur von einem identischen Denkmuster. 86 Snorra-Edda, Prolog, 6. Skáldskaparmál 53, 135; 81, 183  f.

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 Heimdalls Geburt

Strophe 38 widmet sich wieder der Kraftstärkung (Z. 1: Sa var aukinn…) und beschreibt diese als eine Stärkung durch die Kraft der Erde, das kalte Meer und Opferschweinblut. Darauf folgt eine Episode, die nicht direkt mit Heimdallr zu tun hat und deren Funktion später zu behandeln ist. Erst in Strophe 43 wird Heimdallr wieder erwähnt, und hier werden die Themen der früheren Strophen durch Wiederholungen noch einmal, alle zusammen, aufgegriffen (Z. 1: Vard einn borinn; Z. 3  f.: sa var aukinn | iardar megni) und mit dem Charakter des Gottes als des „allerreichsten Fürsten“ (Z. 5  f.: stilli | storaudgazstann) bzw. als Stammvater (Z. 7: sif sifiadann…) assoziiert. Die enge Verknüpfung der Motive „Geburt“ und „Kraftstärkung“ lässt die Frage nach deren Zusammenhang miteinander aufkommen. Sie scheinen chronologische Stationen im Werden des Gottes – der am Ende als Stammvater erscheint und so eine neue Geburt veranlasst – auszumachen. Vielleicht könnte man sogar das letztere Motiv thematisch unter dem ersteren einordnen und näher als eine „zweite Geburt“ – eine gewöhnliche Umschreibung für Übergangsriten – des Gottes kennzeichnen. Wie im Zusammenhang mit der näheren Auslegung der Hyndluljóð dargelegt werden soll, trifft diese Charakterisierung der Motivreihe die wesentliche Funktion von dieser im Kontext des Liedes, nämlich als Gegenbild zum Werden des menschlichen Protagonisten, Óttarr ungi. Auch dieser steht vor einer Art Übergangsritus (einer Wette), nach dem er berechtigt werden soll, als hervorragender Vertreter der von Heimdallr-Rígr legitimierten dominanten Ordnung den Thron einzunehmen. Der Status der Kraftstärkung als einer Art Übergangsritus kann anhand verwandter Schilderungen in anderen literarischen Quellen beleuchtet werden. So wird im fremden, dem germanischen jedoch naheliegenden keltischen Kulturkreis vom irischen Helden Cú Chulainn berichtet⁸⁷, dass er als Jüngling verlangte, in den kriegerischen Jünglingsbund von Emain Macha aufgenommen zu werden. In Emain Macha tötet der Held den wilden Wachhund des Schmieds Culann und muss den Platz des Hundes einnehmen; daher erhält er den Namen Cú Chulainn ‚der Hund des Culann‘. In der Forschung wurde behauptet, dass der Schmied bei den Germanen und Kelten in Übergangssritualen eine wichtige Rolle spielte⁸⁸. An dieser Stelle sei auch an den liminalen Charakter erinnert, den der Hund im Keltischen und Germanischen, insbesondere hinsichtlich seiner engen Beziehung zum Jenseitigen, gehabt zu haben scheint – einen Charakter, der mit Übergangsritualen gut harmoniert⁸⁹. Diese Tat-

87 In Táin Bó Cuailnge, bewahrt in Handschriften häuptsächlich aus dem 12. und 14. Jahrhundert aber sprachlich teilweise auf das 8. Jahrhundert datierbar. Teile davon können noch einige Jahrhunderte älter sein. Das Folgende nach Tain, 76–92. 88 Im Keltischen: Enright, Ritual and technology, 111 mit Anm. 14. Im Germanischen, vgl. Szokody, Reginsmál, 323a. 89 Siehe besonders Verf., Djuret på tröskeln. Zum Hund und Jenseitigem im Indogermanischen (einschließlich des Keltischen), insbesondere im Germanischen, vgl. Lurker, Hund und Wolf; Schlerath, Der Hund; McCone, Hund, Wolf und Krieger; Kershaw, Odin.

Auslegung 

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sache stimmt auch mit dem übergreifenden Zusammenhang (Aufnahme in den Jünglingsbund) überein. Die Verwendung dieser Motive könnte andeuten, dass der damit signalisierte Deutungsrahmen auf das Initiationsritual zu beziehen ist – was sich dann auch zu bestätigen scheint. Ein Jahr nachdem Cú Chulainn ebendiesen Namen bekommen hatte, erhält er nämlich Speer und Schild: Symbole des erwachsenen Kriegers. In unserem Fall ist aber die wichtigste Episode der Erzählung, dass der junge Held danach eine Reihe stürmischer Abenteuer erlebt und dabei schließlich in eine solche Kampfwut gerät, dass sein Volk ihn „abkühlen“ muss. Das geschieht, indem er nacheinander in drei mit Wasser gefüllte Fässer eingetaucht wird. Wie Kim R. McCone⁹⁰ erkannt hat, sind in der Erzählung die wesentlichen Stadien und Stationen eines männerbündischen Übergangsrituals vorhanden. In diesem Zusammenhang mag die Abkühlung des Helden als ein unangebrachtes und komisches Motiv erscheinen; doch kann eine tiefere Symbolik dahinter liegen. Vergleichbar ist ein Bericht des griechischen Heilkünstlers Soranos, der zur Zeit des Kaisers Trajan (um 100) von einem interessanten Brauch unter den Germanen zu erzählen wusste, nämlich von jenem, das neugeborene Kind in kaltes Wasser einzutauchen, um es angeblich abzuhärten⁹¹. Inhaltlich näher kommt aber Statius’ Achilleis⁹² (1. Jahrhundert n. Chr.), in dem der junge Held Achill in den Styx getaucht wird, um unverwundbar zu werden. Es ist möglich, dass diese Version eine sehr späte ist. In Apollonios’ Argonautika⁹³ ölt Achills Mutter den Helden mit Ambrosia ein und legt ihn in das Feuer, um die sterblichen Teile seines Körpers zu verbrennen. Der Historiker Michael J. Enright hat aber bemerkt, dass sich beide Versionen mit dem Schmieden vergleichen lassen. Enright erinnert im ersteren Fall an das Abkühlen des Eisens durch Versenkung desselben in eine kalte Flüssigkeit, wodurch die Waffe härter wird, im letzteren Fall an das Erhitzen des Materials, was bewirkt, dass das Metall gereinigt wird⁹⁴. Vermutlich steht also hinter beiden Motiven eine identische Symbolik⁹⁵. Das Abkühlen von Cú Chulainn wäre zweifellos ein treffendes Bild für genau denselben Inhalt. Gehärtet, gereinigt wie das Eisen: die rituelle Geburt eines Kriegers!

90 Hund, Wolf und Krieger, 113  f. 91 Soranos, Gynaikeia II 6, 170  f. 92 I, 480  f. (quemve alium Stygios tulerit secreta per amnes Nereis et pulchros ferro praestruxerit artus? ‚Wen sonst [außer Achill] nahm eine Nereïde [Thetis] heimlich durch die Gewässer des Styx und machte seine schönen Glieder dem Stahl undurchdringlich?‘); vgl. 134. 93 Argonautika IV, 869–79. 94 Enright, Ritual and technology, 112  f. 95 Nach Enright (ebd., 112) mag dies nicht nur eine literarische Metapher gewesen sein. Plutarchs Bericht (Lykurgos 16), dass die spartanischen Frauen ihre Kinder in Wein anstatt mit Wasser wuschen, um die Schwachen zu prüfen und die Starken kühner zu machen, könnte darauf hindeuten, dass dieselbe Vorstellung auch im Ritual einen Platz hatte.

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 Heimdalls Geburt

Die Erzählung findet ein auffallendes Gegenstück auf Platte VI des Gundestruper Kessels (um 100 v. Chr.). Der Kessel wurde in Gundestrup, Jütland, gefunden, jedoch woanders hergestellt; Thrakien oder Gallien sind viel diskutierte Herstellungsorte⁹⁶. Platte VI des überdimensionierten (Durchmesser: 69  cm) Silberkessels zeigt eine Reihe von mit Speer und Schild bewaffneten Fußkriegern, die auf ein Fass zugehen. Dort begegnet ihnen eine mehr als doppelt so große Gestalt, offenbar eine Gottheit, und ein Hund (vgl. Culanns Hund). Die Gottheit taucht die Krieger in das Fass, woraufhin diese – nunmehr auf Pferden – wegziehen und von einer Schlange geführt werden. Wahrscheinlich deutete schon Jan de Vries⁹⁷ die Szene ganz richtig als eine Initiation, die ja häufig als symbolischer Tod und Wiedergeburt (vgl. die Schlange, ein verbreitetes Sinnbild der Wiedergeburt) angesehen wird⁹⁸. Wenn die Annahme einer gallischen Provenienz des Kessels richtig ist, lässt sich ferner ein Bezug zu Caesars De bello Gallico herstellen, laut dem die Gallier ihre Gesellschaft in druides, equites und plebs – Priester, berittene Krieger und gewöhnliche Leute – einteilten⁹⁹. Die berittenen Krieger auf dem Kessel könnten demnach die höhere soziale „Klasse“ darstellen, wobei es die gewöhnlichen Krieger sind, die in diese Klassen „wiedergeboren“ werden¹⁰⁰. Auch bei den Germanen gab es ähnliche Traditionen. Der dänische Religionsgeschichtler Jens-Peter Schjødt hat die Entwicklung des jungen Sigurðr mit den Stadien eines Übergangsrituals verglichen¹⁰¹. Sigurðr wird in jungen Jahren von seiner Familie getrennt und, ähnlich wie Cú Chulainn, unter der Obhut eines Schmiedes¹⁰² erzogen. Er verlässt den Schmied und tötet einen Drachen. Danach werden ihm

96 Vgl. Enright, Ritual and technology, 105  f. mit Literatur. 97 Keltische Religion, 47  f. 98 Siehe hierzu Eliade, Rites and symbols, Index s. v. „Death“. 99 Caesar, Bellum Gallicum VI 13, 184. 100 Vgl. McCone, Hund, Wolf und Krieger, 112  f. Nach Caesar (Bellum Gallicum VI 13) wird die „dritte Klasse“ freilich fast wie Sklaven (nicht wie freie Fußsoldaten) behandelt; gleichzeitig weiß er aber in c. 15 zu erzählen, dass die equites im Feld so viele Gefolgsleute oder Hörige wie nur möglich bei sich haben – als bewaffnete Fußsoldaten? 101 Schjødt, Heltedigtning og initiationsritualer. – Wichtig bei dieser Interpretation ist, dass sie den literarischen Traditionen nicht unterstellen muss, dass diese direkte Erinnerungen an geschichtliche Rituale waren. Ein auf solche Rituale zurückgehendes Grundmuster kann als literarisches Motiv, auch lange nachdem die Rituale nicht mehr ausgeübt wurden, wirksam gewesen sein. Vgl. dazu Schjødt, Heltedigtning og initiationsritualer; dens., Krigeren, 202  ff.; dens., Forskelle i anvendelsen; dens., Myter som kilder. 102 Nämlich Reginn (Reginsmál; Fáfnismál). Der Name bedeutet wohl eigentlich ‚der Beratende‘ (gotisch ragin ‚Rat, Beschluss, zu gotisch rahnjan ‚ordnen‘), was zu einem Initiator sehr gut passt. Der Schmied wird in der Prosa der Reginsmál als vitr und fjǫlkunnigr beschrieben. – Interessant ist, was in dem von Thurneysen (Helden- und Königsage, 268  ff.) herausgegebenen „Compert Con Culainn, Fassung I“ steht und dieser für die älteste Version der Cú Chulainn-Sage hält: Der Junge kommt nicht zufällig zum Schmied: Dieser ist, genau wie Reginn im Verhältnis zu Sigurðr, sein Ziehvater (ebd., 268. 270).

Auslegung 

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verschiedenste Weisheiten gelehrt. Das alles sind Motive, die an den Verlauf eines typischen Übergangsrituals erinnern (Separation, Belehrung, Mannbarkeitsprobe). In diesem Zusammenhang ist das Interessanteste aber der abschließende „Ritus“ nach der Tötung des Drachen: Nach der nordischen Überlieferung schmeckt Sigurðr das Drachenblut und kann plötzlich die Sprache der Vögel verstehen; sein kontinentales Gegenbild Siegfried aber badet im Blute des Drachen – und wird dadurch unverletzbar¹⁰³. In diesem Motivkomplex vereinen sich nicht nur die Kraftstärkungen durch Eintauchen in Wasser (svalkaldr sær) und Blut (sonardreyri) miteinander, sondern mit diesen beiden Motiven vereint sich ferner auch der kriegerische Aspekt, der in den Hyndluljóð schon in Strophe 35 durch die Bezeichnung von Heimdallr in Z. 3 als naddgǫfugr oder -hǫfugr eingeführt wird. Der Motivkomplex ergibt folglich einen für die aktuellen Strophen der Hyndluljóð angemessenen Deutungshorizont. Dagegen kann nicht beurteilt werden, ob die dreigliederige Formel (Wasser, Blut, Erde) in diesem oder in einem anderen Zusammenhang ursprünglich war. Wie oben gezeigt wurde, war aber das Blut – kontextuell gesehen – nicht ungeeignet, und auch die Erde (jarðar megin) scheint mit Stärke und Geburt in Verbindung gebracht worden zu sein: man denkt zunächst an die Vorstellungen von der „Kraft der Erde“, die im nordeuropäischen Volksglauben zäh erhalten sind¹⁰⁴. Überall ist es im Volksbrauch die konkrete Erde, die ins Zentrum der Vorstellung tritt. Der Brauch z.  B., das neugeborene Kind auf die Erde niederzulegen, ist weit verbreitet¹⁰⁵, obwohl die Erklärung für diese Sitte wechselt; zumeist soll es durch das Niederlegen stark und kräftig werden¹⁰⁶. In den Hyndluljóð sind aber die möglichen Konnotationen vor allem durch das Partizip rammaukin auf die Bedeutung ‚Kraft, Stärke‘ hin gesteuert. Durch die „zweite Geburt“ des Gottes wird dieser zu dem kräftigen Verteidiger Asgards, als welcher er z.  B. in der Húsdrápa und unter den Bezeichnungen vǫrðr goða und ragna reinvári erscheint.

103 Das Nibelungenlied 15, Strophe 899  ff. – Ähnlicherweise heißt es in Bēowulf 2687 über Bēowulfs Schwert Nægling, dass es „durch Wunden hart gemacht“ (wund[r]um heard) ist. Möglicherweise bedeutet das aber nur, dass die Waffe durch lange Erprobung Siegesheil bekommen hat; vgl. Grönbech, Kultur und Religion, 28–42. 104 Siehe Fehrle, Erde, 895; zu außereuropäischen Parallelen, siehe Eliade, Das Heilige, 83  f. 105 Im Norden nannte man die Frau, die das neugeborene Kind vom Boden aufhob (d. h. die „Hebamme“), die „Erdmutter“ (altschwedisch iorþgomma, dänisch norwegisch jord(e)mor). Der Ausdruck, den die Isländer für die Sitte verwendeten, war hefja af jǫrðu. 106 So Fehrle, Erde, 898, und (zum deutschen Volksglauben) Reichborn-Kjennerud, Vår gamle trolldomsmedisin II, 61.

5 Heimdalls Horn Es gibt eine bunte Sammlung von Auslegungen dieser Halbstrophe. Etwas Gemeinsames in ihnen zu entdecken, ist nicht leicht […].¹

In der Kosmologie der Vǫluspá – der ‚Weissagung der Wala‘ – nimmt Heimdallr einen nicht gerade unbedeutenden Platz ein. Eine der Strophen, in der der Gott vorkommt, ist schon oben in Kapitel  2 behandelt worden: in der monumentalen Eröffnungsstrophe – Hljóðs bið ek allar… – tritt Heimdalls Eigenschaft als Urheber der Stände zutage. Aber noch zweimal wird der Gott erwähnt. In Strophe 27 steht Heimdalls hljóð im Zentrum, ein nicht eindeutig gedeutetes Objekt, das jedoch Snorri Sturluson als Heimdalls Horn, das Gjallarhorn, aufgefasst zu haben scheint. Als Heimdallr das dritte Mal im Gedicht vorkommt, befinden wir uns mitten in der Endzeit, kurz vor dem Ansturm der feindlichen Mächte Utgards (50  ff.): Heimdallr lässt sein Horn ertönen (Strophe 46). Hier sollen vor allem die beiden noch unbehandelten Strophen der Vǫluspá analysiert werden. Außer in ihnen werden die hier gestalteten Motive, wie angedeutet, auch von Snorri Sturluson aufgegriffen. Seine Version ist aber von den beiden Vǫluspá-Strophen direkt abhängig. Es scheint deshalb angemessen, die folgende Untersuchung nach den Belegen der Vǫluspá zu ordnen. Ein Abschnitt zur Vǫluspá als Quelle (1) soll die Grundlage für die Interpretation von Heimdalls Rolle in diesem Lied bilden. Danach sollen die Belegstellen – Vǫluspá 46 bzw. 27 und damit verbundene Textstellen – zitiert und die Deutungsmöglichkeiten erörtert werden (2), bevor schließlich die Strophen über Heimdallr in der Vǫluspá, einschließlich Strophe 1, aus dem textuellen Kontext heraus analysiert werden sollen (3).

5.1 Die Vǫluspá als Quelle Die Vǫluspá ist als „das berühmteste Gedicht des Nordens“² bezeichnet worden. Vielleicht ist sie auch das schönste der eddischen Götterlieder. Hier wird der Stoff nicht nur im Rahmen eines trockenen Wissensgesprächs im Stile eines Elucidarius einfach aneinander gereiht (Grímnismál, Alvíssmál), das Gedicht trägt auch nicht den derben Charakter eines Unterhaltungslieds wie die Þrymskviða. Die Vǫluspá gestaltet die Kosmologie und Mythologie der Nordgermanen als ein zusammenhängendes Ganzes. Was der Dichter entwirft, ist eine Weltanschauung, die den Verfall und Untergang der alten Welt mitsamt ihren Göttern gleichzeitig schildert und erklärt.

1 Pering, Heimdall, 241, zu Vǫluspá 27. 2 Nordal, Völuspá, 5.

Die Vǫluspá als Quelle 

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Umso wichtiger wird es aber, sich über den Kontext, aus dem heraus diese Weltanschauung geschaffen wurde, im Klaren zu sein. Hier soll nicht näher auf den schwer bestimmbaren räumlichen Kontext des Liedes eingegangen werden. Die Argumente, die Sigurður Nordal³ diesbezüglich angeführt hat, dass die Vǫluspá auf Island entstanden oder wenigstens von einem Isländer gedichtet worden sein soll, sind aber z.  T. überzeugend: Der Dichter ist mit heißen Quellen, Vulkanausbrüchen und Erdbeben – alles isländische Phänomene – vertraut, dagegen nicht mit dem Mistelzweig, den er meiðr ‚Baum‘ nennt. War der Dichter ein Isländer, würde er mit ähnlichen pflanzenkundlichen Mutmaßungen unter seinen Landsleuten nicht allein dastehen. Wie die Isländer sagen: eplið fellur sjáldan langt frá eikinni. Was den zeitlichen Kontext angeht, ist in der Forschung immer wieder auf die Nähe der Vǫluspá zur christlichen Lehre und den im christlichen Europa verbreiteten Textgattungen hingewiesen worden. Schon Edvard Jessen⁴ verglich im Jahre 1871  Markus 13,12 „Es wird aber überantworten ein Bruder den andern zum Tode und der Vater den Sohn, und die Kinder werden sich empören gegen die Eltern und werden sie helfen töten“⁵, mit Vǫluspá 45 Brœðr munu berjask ‚Brüder werden miteinander kämpfen‘ usw., und die eschatologischen Vorstellungen der Vǫluspá mit der Offenbarung des Johannes 19–21. Seitdem haben nur einige Forscher hartnäckig die These vertreten, dass die Vǫluspá rein heidnisch sein soll⁶. Eine Reihe von Motiven, die an christliche Motive erinnern, könnte einfach aufgelistet werden⁷. Unter diesen befinden sich zwar mehrere, die ebenso gut auf spontan entstandene einheimische Vorstellungen wie auf indogermanisches Gemeingut zurückgehen könnten und die sich nicht alle restlos als „christlich“ bestimmen lassen. Die bloße Menge von ihnen macht aber – wie Kees Samplonius⁸ bemerkt hat – ein unbestreitbares Argument dafür aus, dass der Dichter vom christlichen Gedankengut nicht unabhängig gewesen sein kann⁹.

3 Völuspá, 136  f. 4 Über die Eddalieder, 24 mit Anm. 1  f. 5 Vulgata: tradet autem frater fratrem in mortem et pater filium et consurgent filii in parentes et morte adficient eos (Übersetzung ebd.). 6 So meinte Finnur Jónsson (Literaturhistorie I, 130  ff.), dass der vermeintliche Charakter des Gedichts als vorchristliche Apologie für ein hohes Alter spreche (136  f.). Finnur versuchte eine absolute Chronologie daran festzumachen, dass er das Motiv brœðr munu berjask in die Zeit der Söhne von Háraldr hárfagri legen wollte (136). Das Gedicht wäre folglich in die Zeit um 935–50 zu datieren. Vgl. dens., Völu-spá, 35. Auch Müllenhoff (Deutsche Altertumskunde V, 3–73) hielt die Vǫluspá für alt und heidnisch (z.  T. sogar „deutsch“, d. h. urgermanisch). 7 Vgl. die Liste bei McKinnell, Both one and many, 123–126 (Punkt a–l) und bei dems., Vǫluspá, 9  ff. 8 Sibylla borealis, 185. 9 Vgl. die folgende Auswahl von Motiven aus der Vǫluspá mit christlichen Parallelen: Die Götter scheiden die Nacht vom Tag und bestimmen danach die Zeit (vgl. Genesis 1,14  f.); Goldsucht korrumpiert (vgl. den I. Brief des Paulus an Timotheus 6,10); ein moralischer Fall beendet die goldene Zeit

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 Heimdalls Horn

Darauf deuten auch die vergleichbaren Gattungen hin. Unter den Eddaliedern ist die Vǫluspá mit ihrer geschlossenen Struktur unbestreitbar ziemlich einzigartig¹⁰. Ein weiterer Betrachtungspunkt liefert aber andere Parallelen. Schon früh wurden Vergleiche mit der sogenannten sibyllinischen Dichtung angestellt, die viele Züge mit der Vǫluspá gemeinsam hat: nicht nur die übergreifende Struktur – ein Teil, der die Vergangenheit und einer, der die Zukunft behandelt  –, sondern auch maßgebende Einzelheiten wie die gegen die Endzeit fortlaufende Zukunftsvision, die Vereinigung von christlichen und heidnischen Elementen und die Natur der Rednerin: eine heidnische Weissagerin als Werkzeug einer (christlichen) Offenbarung¹¹. Ursula Dronke¹² postuliert deshalb einen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen der sibyllinischen Dichtung und der Vǫluspá. Vermittelt worden sei der Stoff über die Britischen Inseln, besonders durch die Wikingersiedlungen in York, in denen die sibyllinische Tradition wahrscheinlich schon früh (vermutlich bereits im 9. Jahrhundert) bekannt war¹³. Die Vǫluspá ist ferner eine epische Dichtung im selben Stil wie die Dichtung, die auf der Bibel basiert, z.  B. die Altsächsische Genesis. Im Speziellen wurde aber auf die Visionsdichtung verwiesen. In dieser Dichtung werden ganz wie in der Vǫluspá Visionen von den jenseitigen Straforten gezeichnet, die die Sündenqual der Rezipienten stärken sollten. Zu den Standardmotiven dieser Gattung gehört der gefährliche „Straffluss“, den wir aus Vǫluspá 36 kennen; in der Godschalkvision z.  B. wird ein

(Sündenfall, Genesis 3); die Bösen werden nach dem Tode bestraft (vgl. besonders Offenbarung 21,8, wo die Totschläger, die Kuppler und die Lüger erwähnt werden); Loki ist wie Satan gebunden und wird dann wieder frei (Offenbarung 20,7); die neue Erde (gleicht Offenbarung 21,1: Et vidi caelum novum, et terram novam. Primum enim caelum, et prima terra abiit, et mare jam non est), usf. 10 Das hat S. Nordal an einigen sehr lesenswerten Seiten seiner „Völuspá“ (129  ff.) demonstriert. 11 Der erste, der auf die Ähnlichkeiten den sogenannten sibyllinischen Weissagungen mit der Vǫluspá aufmerksam machte, war der dänische Theologe A. Chr. Bang (auf 23 Seiten genannt „Vøluspaa og de Sibyllinske Orakler“ von 1879). Bangs Untersuchung wurde aber vom schwedischen Gelehrten und Dichter Viktor Rydberg (Undersökningar i germanisk mythologi II, 482–588) wie auch vom deutschen Germanisten Karl Müllenhoff (Deutsche Altertumskunde V, 3.  f. 12–41) eingehend kritisiert. Beide waren der Meinung, der Stoff sei ausschließlich aus nordischen, germanischen oder sogar indogermanischen Vorstellungen heraus zu erklären. Nach Bangs Zeit hat es sich aber gezeigt, dass die sibyllinische Tradition stärker war, als er es sich hätte vorstellen können; vom 9. bis 11. Jahrhundert wurde z.  B. ein Cantus Sibyllae in die Messe integriert. Der Gedanke einer Beeinflussung der sibyllinischen Dichtung ist deshalb neuerdings erneut aufgekommen. So hat Dronke (Vǫluspá and sibylline traditions; Edda, ed. Dronke II, 93  ff. und „Excursus“, ebd., 99  ff.) die Vǫluspá unter anderem mit einer 1959 entdeckten sibyllinischen Weissagung aus dem 9. Jahrhundert verglichen, die einheitlicher ist als die schon länger bekannten Texte und die der Vǫluspá näher liegt als Bangs Parallelen. Auch Samplonius (Sibylla borealis, 207) hat behauptet, dass die einheimischen Vorstellungen über die vǫlva durch die sibyllinische Dichtung wieder aufgelebt sind. 12 Vǫluspá and sibylline traditions, 20  f. 13 Vgl. ebd., 6.

Die Vǫluspá als Quelle 

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Fluss mit messerscharfen Eisenspitzen (ferreis aciebus) geschildert¹⁴. Diese norddeutsche Vision muss freilich viel später als die Vǫluspá sein, gleichwohl gehört sie derselben literarischen Tradition an¹⁵. Die 1999 von Sveinbjörn Rafnsson aufgestellte These, die Vǫluspá sei erst am Anfang des 13. Jahrhunderts durch den Einfluss der Merlínusspá entstanden, ist aber – um mit Gísli Sigurðsson¹⁶ zu sprechen – „milde gesagt – völlig haltlos“. Die umgekehrte Richtung einer Beeinflussung wäre wahrscheinlicher. So hat John McKinnell¹⁷ hervorgehoben, dass unter den von Sveinbjörn Rafnsson angeführten Parallelen es eigentlich nur wenige sind, die irgendetwas mit den Prophetiae Merlini zu tun haben; die Ähnlichkeiten würden eher zwischen der Vǫluspá und der isländischen Merlínusspá bestehen. In diesem Fall ist es aber offensichtlich, dass die Vǫluspá der „gebende Teil“ gewesen sein muss. Wenn Gísli Sigurðsson trotzdem der Ansicht ist, dass die Vǫluspá eine pagane Weltsicht, „wie sie von christl[ichen] Isländern des 13. und 14.  Jahrhunderts gesehen“ wurde, vertritt, so beruht das wohl auf seiner hier und auch an anderen Stellen zum Vorschein kommenden Auffassung, dass mündliche Dichtung in ständiger Veränderung steht und dass der letzte Text deshalb immer „jung“ sein muss. Die sogenannte „Oral formulaic theory“ kann allerdings nicht auf die eddische Dichtung anwendbar sein¹⁸. Die Grundstruktur der Vǫluspá ist wahrscheinlich weit vor dem 13. Jahrhundert entstanden. Unter den Datierungen in eine frühere Zeit¹⁹ ist diejenige von Sigurður Nordal klassisch geworden. Die christlichen Einflüsse würden nach Nordal darauf hinweisen, dass die Vǫluspá nicht allzu früh zu datieren ist, gleichzeitig zeige das heidnische Grundgepräge, dass sie nicht nach dem Sieg des Christentums um 1000 entstanden sein kann. Dies würde eine Datierung um 1000 nahelegen, was mit dem die Vǫluspá beherrschenden Thema des Weltuntergangs zusammenpassen würde²⁰. Das millenarische Thema des Weltuntergangs um das Jahr 1000 geht letztlich auf die Offenbarung des Johannes 20 über Satans tausendjährige Fesselung zurück.

14 Strömbäck, Visionsdiktning, 179  f. Vgl. Vǫluspá 36: Á fellr austan | um eitrdala | sǫxum ok sverðum. 15 In ihrem Vergleich der Vǫluspá mit dem norwegischen Visionsgedicht „Draumkvedet“ (ca. 1300–1500) meint Steinsland, „to grundförskjellige mentale univers“ (Draumkvedet og Voluspå, 470) nachweisen zu können. Während das Draumkvede nämlich soteriologisch sei, sei die Vǫluspá kosmologisch (ebd., 467). Doch auch die Vǫluspá enthält ja deutliche Warnungen für Verbrecher (Strophe 39) und setzt als Gegenbild zu diesen die „treuen Leute“ (dyggvar dróttir), die nach Ragnarök in einem goldenen Saal fortleben sollen (Strophe 64). 16 Vǫluspá, 582b. 17 Vǫluspá, 8. 18 Vgl. die in der Einführung (1.2) geführte methodologische Diskussion zur Eddadichtung. 19 Zu diesen gehören auch die meines Erachtens wenig überzeugenden Versuche Nermans (Hur gammal är Vǫluspá?; Vǫluspá 61: 3; Fimbultýs fornar rúnar), die Vǫluspá, archäologisch begründet, auf etwa die Zeit zwischen 550 und 800 zu datieren. 20 Nordal, Völuspá, 137  ff. Vgl. unter anderem North, Völuspá; Simek/Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, 397a.

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 Heimdalls Horn

Wegen einiger Unstimmigkeiten wurde das Datum für die Wiederkunft Satans und das Jüngste Gericht im Christentum aber unterschiedlich angesetzt. Unter anderem war die Kirche uneinig über das Geburtsjahr Jesu, so dass Abbos, Abt von Fleury, das Datum auf das Jahr 979 festsetzte. Andere orientierten sich statt an der Geburt Jesu an seinem Tod im Jahr 33²¹. Wie schon Nordal²² bemerkt hat, haben die Kirchengeschichtler aber die Bedeutung des Phänomens der Furcht vor dem Weltende angezweifelt. Reinhard Hennig hat die Resultate sowohl der Gegner als auch der Vertreter einer „Angstthese“ zusammengestellt und konnte feststellen, dass die Angst vor dem Weltuntergang um 1000 wahrscheinlich ein Phänomen war, das nur Teile von Europa – z.  B. Nordspanien, Frankreich und York in England – betraf²³. Belege für den Norden existieren nach Hennigs Überblick eigentlich nicht. Zum Teil könnte das freilich dadurch erklärt werden, dass die offizielle Einstellung der Kirche sich aufgrund eines Verbotes von Augustinus gegen eine wörtliche Interpretation der Offenbarung 20 ausgesprochen hat²⁴, zugegebenermaßen wäre das aber ein argumentum e silencio. In diesem Zusammenhang verdient aber eine Untersuchung von Wolfgang Butt aus dem Jahr 1969²⁵ Aufmerksamkeit. Butt hat auf mehrere Parallelen zwischen der Vǫluspá und den Predigten des Wulfstan von York hingewiesen²⁶. Der dabei wichtigste Text, Secundum Marcum, entstand kurz nach dem Jahr 1000. Interessant ist, dass Wulfstan sich in diesem Text selbst für die baldige Wiederkehr Christi einsetzte²⁷. Butts These über eine Verbindung zwischen der Vǫluspá und den Predigten von Wulfstan ist später von John Lindow²⁸ kritisiert worden. Lindows Kritik ging auch auf die Einzelheiten von Butts Artikel ein, doch der generelle Einwand war methodologisch: Wo Butt glaubte, ein spezifisches Textkorpus als Ursprung der Vǫluspá gefunden zu haben, meinte Lindow darlegen zu können, dass die Ähnlichkeiten eher auf den generellen Wortschatz (685), die Motive (686  f. 691  f.) und Formulierungen (689) in christlichen Texten gleichartigen, also endzeitlichen Inhalts zurückgeführt werden könnten. Um Lindows Kritik zusammenzufassen, mag es besser sein, von einer z.  T.

21 Hennig, Die Völuspá, 11. 22 Völuspá, 138. 23 Hennig, Die Völuspá, 14 (eigentlich die Folgerung Johannes Frieds). Auch Samplonius (Zu Nordals Datierung) meinte, dass eine Endzeiterwartung eigentlich ein auf Frankreich begrenztes Phänomen ist. 24 Hennig, Die Völuspá, 11. 25 Butt, Zur Herkunft der Vǫluspá. 26 Unter anderem behandelt Butt die Kontrastierung der Höllenqualen mit der ewigen Glückseligkeit der Rechtschaffenen in den an einander erinnernden Stellen Vǫluspá 38 und 64, was in Wulfstans Predigten ein häufiges Thema sei: „hier klingt christliches Gedankengut nicht nur entfernt an, es bildet die tragende Grundschicht der Weltsicht, von der das Gedicht zeugt“ (Butt, ebd., 87). 27 Wulfstan, Homilien, 136  f. 28 Norse mythology’s English connection.

Die Vǫluspá als Quelle 

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gemeinsamen kulturellen Welt zu sprechen, als zu versuchen, Beziehungen zwischen (den eigentlich wenigen überlieferten) Texten zu rekonstruieren. Lindows Einwand braucht also nicht auszuschließen, dass auch millenarische Gedanken zu dieser Welt gehörten und ihren Weg in den Norden finden konnten. Ein indirekter Hinweis darauf, dass ähnliche Gedanken auch im altwestnordischen Sprachgebiet existierten, mag der Strom von Pilgerzügen sein, der, unter anderem aus Norwegen, um die Jahrtausendwende nach Jerusalem aufbrach²⁹. Dass diese sowohl vor wie auch nach der Jahrtausendwende vorkamen, kann durch die oben erwähnten Unstimmigkeiten, wann genau das Millennium eigentlich stattfinden würde, erklärt werden. Auch mag es bedeutend sein, dass das Wenige, das wir von der Mission des sächsischen Priesters Þangbrandr wissen, ist, dass er unter anderem vor dem Letzten Tag und dem Abwägen der guten und bösen Taten gewarnt hat. Dadurch soll es ihm sogar gelungen sein, einige Isländer zu bekehren³⁰. Dies kann offenbar für die Aktualität der Endzeitstimmung auf Island zu dieser Zeit, also um 997, als Þangbrandr von Óláfr Tryggvason nach Island gesandt worden war, sprechen. Óláfr Tryggvason – der große Bekehrerkönig – war übrigens selber in England gewesen, wo er das Christentum angenommen hatte. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass er sich dort dasselbe Gedankengut angeeignet hat, das Wulfstan um 1000 in seiner Diözese predigte. Dabei spielt es weniger eine Rolle, ob dieses vonseiten der Kirche offiziell anerkannt wurde oder nicht. Bei der Bekehrung Norwegens – und Islands – würde es zweifellos ein nützliches ideologisches Instrument sein. Nordals Meinung, dass die Vǫluspá um 1000 eine besondere Aktualität gehabt hat, scheint also berechtigt. Ausschlaggebend für die Datierung dieses Liedes kann sie aber nicht sein, da eschatologische Dichtung sowohl vor als auch nach dem Jahr 1000 existierte. Wörtliche Übereinstimmungen mit anderen, datierbaren Gedichten bieten weder einen sicheren Terminus post³¹ noch ante quem für die Entstehung des Gedichts. Zwar pflegt eine Strophe aus Arnórr jarlaskálds Erblied auf den Orkadenjarl Þorfinnr Sigurðarson, Þórfinnsdrápa 24 (um 1065), als ein Terminus ante quem gelten³². Die helle Sonne würde schwarz werden, heißt es dort, die Erde in das dunkle Meer versinken, der Himmel („Austris Mühe“³³) bersten und das Meer gegen die Felsen rauschen, ehe ein zweites Mal ein so guter Fürst wie Þorfinnr käme:

29 Vgl. Nordal, Völuspá, 138. 30 North, Völuspá, 410, mit Hinweisen. 31 Laut McKinnell (Both one and many, 107) sei Geirskǫgul in Hákonarmál 12 (um 965) in Vǫluspá 30 in ein selbständiges Wesen neben Skǫgul uminterpretiert worden. 32 Vgl. de Vries, Altnordische Literaturgeschichte I, 261; Simek/Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, 397a; McKinnell, Vǫluspá, 7. 33 Austri ist einer der „Zwerge“ (ursprünglich Stützpfeiler? – vgl. Homiliubók, 100: Þuertré es scorþa staflǽgior oc upphalda dvergom es ása styþia), die den Himmel obenhalten.

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 Heimdalls Horn

Bjǫrt verðr sól at svartri, søkkr fold í mar døkkvan, brestr erfiði i Austra, allr glymr sær á fjǫllum³⁴.

Die Strophe pflegt mit Vǫluspá 57,1  f.: Sól tér sortna, | sígr fold í mar, und 47,5: svǫrt verða sólskin, verglichen zu werden. Da die Zeilen der Þórfinnsdrápa nicht wie die Zeilen der Vǫluspá in einem größeren eschatologischen Zusammenhang stehen, ist es wahrscheinlicher, dass Þorfinnr die Vǫluspá zitiert hat, um das eschatologische Bild effektiv heraufzubeschwören, als dass die Vǫluspá der bezugnehmende Teil wäre. Doch können ja beide (nicht identische!) Stellen auch auf eine dritte, nicht überlieferte eschatologische Tradition zurückgehen. Der nächste Schritt muss deshalb sein, vom Gedicht selbst auszugehen, um in ihm Anhaltspunkte für den ideologischen Standpunkt des Dichters und die Verortung seines Gedichts als christlich oder vorchristlich gewinnen zu können. Es kommt dabei nicht so sehr darauf an, ob einzelne ursprünglich christliche Motive in das Gedicht Eingang gefunden haben, denn diese können auch auf synkretistischen Vermischungen beruhen. Eher gilt es, die konzeptuelle Dimension zu erfassen. Schon Eugen Mogk³⁵ erkannte den Leitgedanken der Weltsicht des VǫluspáDichters in der moralischen Schuld, die nach diesem Lied der alten Welt anhaftet. Jan de Vries hat dieses Thema ausführlicher erörtert³⁶: Die großen Sünden der Welt, die in der zweiten Hälfte des Gedichts vor allem die Menschen betreffen (Meineid, Mord und Untreue, Strophe 39; Brudermord, Krieg und Hurerei, Strophe 45), hätten schon bei den Göttern in der ersten Hälfte des Gedichts ihren Ursprung: Óðinn leitet den ersten Krieg ein (Strophe 24), Þórr bricht alle Eide (Strophe 26) und Hǫðr – verleitet durch Loki³⁷ – ermordet seinen eigenen Bruder, den guten Baldr³⁸. Die alte „Odinwelt“ (de Vries) ist brüchig³⁹; Gewalt und Rache helfen nicht mehr. Sie muss – zusammen mit ihren Göttern – untergehen. Nur die Ankunft einer neuen Ordnung, einer „Baldrwelt“, kann die Lösung sein. Vielsagend ist, dass in der Baldrwelt nach den Ragnarök nicht nur Baldr – das schuldlose Opfer⁴⁰ –, sondern auch Hǫðr – der

34 Skj. B I, 321. 35 Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 582. 36 de Vries, Die Völuspá; vgl. dens., Altnordische Literaturgeschichte, § 89; dens., Altgermanische Religionsgeschichte, § 592. 37 Zu Lokis Anteil am Mord, siehe unten, S. 205  f. 38 Dass der Wanenkrieg „Brudermord“ sein und die Gullveig-Episode auf „sexuelle Ausschweifungen“ hindeuten soll (de Vries, Die Völuspá, 11), glaube ich nicht. 39 Weil diese Lehre dem Gedicht innewohnt, war es kein großer Schritt für den Schreiber von Vǫluspá H, Strophe 1,5  f.: vilðo at ec ualfꜹþr | uel fyr telia ‚willst du, Valfǫdr [d. h. Óðinn], dass ich wohl erzähle‘ (R), in: villtu at ek vafǫdrs | vel fram telia ‚willst du, dass ich Valfǫðrs vél (f. ‚Betrug, List, Rank, Ränke‘) erzähle‘ (H), zu verändern! 40 Die Wortwahl des Dichters in Vǫluspá 31,2 ist: tívur.

Die Vǫluspá als Quelle 

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schuldlose Mörder – wiederkehrt. Versöhnung ist die Botschaft des neuen Friedensreichs. Wenn diese Auslegung berechtigt ist, wie ich meine, dann sollte der Dichter jedenfalls kein Óðinn-Verehrer sein. Als Alternative ist in der Forschung die Auffassung vertreten worden, dass der Dichter mit seinem Lied eine „heidnische Reaktion“ habe auslösen wollen, in der die Hoffnung, die die Vorfahren in die alten Götter gesetzt haben, zwar verloren gegangen ist, aber jetzt auf den Christ-ähnlichen Baldr übertragen wird⁴¹. Auch wenn dies die ursprüngliche Intention wäre, dürfte die tatsächliche Wirkung des Gedichts aber nicht gewesen sein, beim letzten Atemzug des Heidentums einen Baldr-Kult ins Leben zu rufen, sondern eher, den Weg für das Christentum zu ebnen. Denn von der Vorstellung von einem von den großen alten Göttern befreiten Reich Baldrs zu der vom Reich Christi wäre ja der Schritt nicht weit. In einem christlichen Deutungsrahmen, d. h. während des Großteils der Zeit der mündlichen Überlieferung der Vǫluspá, sollte jedenfalls diese Analogie die Basis der naheliegenden Interpretation über das Ende des Gedichts als Präfiguration der Lehre von der Ankunft Christi sein. Als die Vǫluspá am Anfang des 14. Jahrhunderts in die Hauksbók niederschrieben wurde, war die Analogie zwischen Baldr und Christus offenbar nicht mehr deutlich genug, weshalb der Schreiber und Umarbeiter neben Baldr den unbenannten Mächtigen (hinn ríki) von Strophe H 58 treten ließ. Die hinter der Interpolation liegende Interpretation ist aber noch dieselbe. Mir scheint die Annahme, dass die beabsichtigte Interpretation der Vǫluspá in ihrer überlieferten Form jemals eine andere als diese war, ein ziemlich erzwungener Versuch zu sein, das Gedicht für das Heidentum zu retten. Die Menge der „christlichen“ Vorstellungen im Gedicht, seine Nähe z.  B. zur christlichen Visionsdichtung, seine plausible Datierung auf die Zeit um 1000 und die Aktualität, die millenarische Vorstellungen damals, vor allem für ein christliches Publikum, besessen haben dürften, legen nahe, im Dichter einen Christen zu sehen, der in einer traditionellen Form des Dichtens und in bekannten vorchristlichen Motiven seinen christlichen Gedanken Ausdruck verlieh⁴².

41 Vgl. de Vries, Altnordische Literaturgeschichte I, 175. 42 Der eventuelle Einwand, es wäre undenkbar, kurz nach der Christianisierung über heidnische Götter zu dichten, müsste auch gegen die Annahme einer Entstehung des Gedichts vor der Christianisierung erhoben werden, denn bis zur schriftlichen Fixierung musste ja das Gedicht zweihundert Jahre lang in einem christlichen Kontext mündlich tradiert worden sein. Möglicherweise wurde Götter-Dichtung im früh- und vorchristlichen Norden überhaupt nicht als etwas „Religiöses“ empfunden, wie das Gebet oder die Opferhandlung (vgl. die allgemeine Diskussion zur Eddadichtung, oben Kap. 1.2). Das könnte die Sache erleichtert haben, die Götter in der Dichtung wie Puppen auf einer Bühne zu verwenden. Auch ist ja die Vǫluspá kein Bekenntnis und nach der obenstehenden Auslegung natürlich auch keine Propaganda für das Heidentum.

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 Heimdalls Horn

5.2 Die Belege 5.2.1 Vǫluspá 46 Angesichts der deutlichen Beeinflussung der Vision der Vǫluspá durch das Christentum ist es vielleicht nicht weiter erstaunlich, dass auch die Strophe über Heimdalls Hornstoß in Vǫluspá 46 in der Forschung als christlich gedeutet und mit den Posaunenstößen der Engel beim Jüngsten Gericht verglichen worden ist⁴³. Die Strophe, von der hier auszugehen ist, steht nach den ersten Anzeichen des bevorstehenden Endes in der zweiten Hälfte der Vǫluspá und lautet: 46.

Leika Míms synir en mjǫtuðr kyndisk at inu galla Gjallarhorni; hátt blæss Heimdallr, horn er á lopti; mælir Óðinn við Míms hǫfuð.

Die Abweichungen der Handschriften sind nicht sehr bedeutend. Vǫluspá R Z. 3 galla heißt in H gamla ‚alt‘. Ein solches Adjektiv glaubte man früher in Haustlǫng 1 lesen zu können, was aber aufgrund der jetzigen Forschungslage nicht berechtigt zu sein scheint⁴⁴. Wahrscheinlich liegt aber ein gallr, etwa ‚(hoch) lautend, lärmend‘ vor in Wörtern wie gella = gjalla ‚schreien‘ (z.  B. hjǫrr gjallandi, vgl. die Schwertnamen gellir, galmr) und Þrymgjǫll, eine Tür (Fjǫlsvinnsmál 10), in Málaskrúðsfræði der „Dritten grammatischen Abhandlung“ eine Kirchenglocke⁴⁵, wohl eigentlich ‚die hoch Lärmende‘. Zu Recht ist aber bemerkt worden, dass at g(j)alla Gjallarhorni tautologisch wäre⁴⁶. Björn Magnús Ólsen⁴⁷ schlug sogar vor, dass es in R überhaupt nicht galla, sondern gālla stehe, also ein abgekürztes ga[m]lla. Theoretisch wären aber beide Adjektive, gammall und gallr, in diesem Zusammenhang problemlos möglich. Auf die genaue Übersetzung der Strophe kommen wir später zurück. Der generelle Inhalt scheint aber zu sein, dass Heimdallr in sein Horn, das Gjallarhorn, bläst; danach geht Óðinn, um sich mit Míms weissagendem Haupt zu beraten. Die Angabe über Heimdallr als Besitzer eines Horns kommt auch zweimal in den Forspallsljóð vor, deren Quellenwert jedoch unsicher ist⁴⁸. In Strophe 16 wird hier gesagt, dass hirðir at Herjans | horni Gjallar ‚Hüter von⁴⁹ Herjans Horn des Gjǫll

43 E. H. Meyer, Völuspa, 190; Krohn, Skandinavisk mytologi, 139; Pering, Heimdall, 236  ff. 44 Siehe Lex. poet., s. v. „gallr“. 45 Snorra-Edda II, 172. Skj. B I, 635. 46 Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde V, 143. Edda, ed. Sijmons/Gering III 1, 60 (zu Vǫluspá 46,2). 47 Til Eddakvædene, 136, Anm. 1. 48 Siehe Register (13.2) zur Behandlung der Forspallsljóð als Quelle. 49 So muss wohl at + horni verstanden werden, obwohl ich diese Bedeutung nicht habe belegen können.

Die Belege 

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(des Lauttönenden)‘ wegfuhr (Forspallsljóð 16,3  f.). In horni Gjallar erkennen wir den Namen Gjallarhorn wieder; dagegen ist die Angabe, dieses solle Herjans, d. h. Óðins sein, von der Vǫluspá abweichend. – Auch in Forspallsljóð 26,5  ff. taucht Heimdalls Horn wieder auf: upp nam ár Giöll Úlfrúnar niðr hornþytvalldr Himinbjarga. ‚auf hob ár Gjǫll | Úlfrúns Verwandter, | der „Handhaber des Horntons“ | aus Himinbjǫrg.‘

Himinbjǫrg als Heimdalls Wohnort und seine Eigenschaft als Sohn der Úlfrún können durch andere Quellen bestätigt werden⁵⁰. Seltsam mag die Bezeichnung hornþytvalldr erscheinen; das ist aber auf einer Linie mit dem auch sonst merkwürdigen Gebrauch von kenningar und ähnlichem in diesem Gedicht. Das Lied scheint Heimdallr hier in einen ähnlichen Kontext zu setzen wie die Vǫluspá, nämlich bei den Ragnarök (vgl. Forspallsljóð 26,1  ff.). Da die Forspallsljóð wohl aus der Vǫluspá schöpfen⁵¹, ist das aber wenig erstaunlich. Das Motiv, Heimdallr nam upp ár Gjǫll, kann in ähnlicher Weise in Anlehnung an die oben zitierte Vǫluspá 46,5  f. entstanden sein; (ár) Gjǫll muss dann Heimdalls Horn bezeichnen. Gjǫll ist sonst die Brücke über den Fluss bei Hel⁵²; der ‚laut Tönende‘ wäre aber für das Horn ein passender Name. Da die Handlung offenbar nicht als urzeitlich, sondern eher als zukünftig betrachtet wird, ist es wenig glaubhaft, dass das vorhergehende ár adverbial (‚urzeitlich‘) aufzufassen ist. Eher wird man Árgjǫll als einen Namen lesen. Ich glaube, ‚die alte Gjǫll‘ wäre dann eine mögliche Übersetzung (vgl. árborinn, árdagar usw.⁵³), die dann die Lesart Vǫluspá H 46,3  f. gamla | Gjallarhorni bestätigen würde. Árgjǫll könnte sogar direkt aus diesen Zeilen geschaffen sein. Vǫluspá 46,5–8 ist auch in der Snorra-Edda, Gylfaginning 38, 72 ohne wesentliche Abweichungen überliefert. Dagegen unterscheidet sich Snorris Nacherzählung der Ragnarök-Episode vom Verlauf in der Vǫluspá, obwohl er mehrere Strophen aus der Vǫluspá hier als Illustration zitiert. Merkwürdigerweise kamen die beiden Heimdallr-Monographien bei der Erklärung dieses Unterschieds zu fast gegensätzlichen Resultaten. Pering vertrat die Ansicht, dass schon die Vǫluspá stark vom Christentum beeinflusst sein muss. In später vorchristlicher Zeit sei der „Wicht“ Heimdallr mit dem Albenkönig Oberon verschmolzen und habe so das Horn des letzteren übernommen. Weil die Wichte im Volksglauben nun mit den Engeln zusammengefallen

50 Siehe Kap. 8 bzw. 4. 51 Siehe Jónas Kristjánsson, Hrafnagaldur Óðins. 52 Belege in Lex. poet., s. v. Deswegen deutete Simrock den Namen als eine Bezeichnung der Himmelsbrücke, die Heimdallr bewachen würde (Edda, ed. Simrock, 398, zur Stelle). 53 Vgl. auch Norr (Old gold), der für den rätselhaften árhjálmr in Hákonarmál 3 die einschlägige Übersetzung ‚ancient helmet‘ vorgeschlagen hat.

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 Heimdalls Horn

wären, sei Heimdallr zum Gegenbild des Erzengels mit seiner Posaune geworden. Snorri dagegen sei in seiner Schilderung von einer falschen Auffassung Heimdalls als Wächter der Götter geleitet gewesen⁵⁴. Ohlmarks seinerseits meinte, dass die Abweichungen bei Snorri auf biblische Einflüsse zurückgehen würden⁵⁵. Wir lassen zunächst Snorri reden: Der Fimbulwinter hat die Erde mit Frost und Schnee verheert und Männer erschlagen ihre eigenen Brüder. Hier bläst Heimdallr in der Vǫluspá, aber Snorri setzt fort: Der Wolf verschlingt die Sonne, das Schiff Naglfar fährt aus; die Midgardschlange, der Fenriswolf, alle „Muspells Söhne“ nähern sich den Wohnungen der Götter. Die Mächte des Chaos schreiten zum Schlachtfeld Vígríðr: En er þesi tiþindi verþa, þa stendr vpp Heimdallr ok blæs akaflega iGiallarhorn ok vekr vpp ꜹll gvþin, ok eiga þav þing saman⁵⁶.

Und so geht Óðinn, um Míms Haupt zu befragen; Æsir hervæþa sic ok allir Einheriar ok sækia fram a vǫllvna, ganz vorn reitet Óðinn. Nun ziehen die Götter in den Kampf. – Ich kann Pering nur zustimmen: In Snorris Version ist Heimdalls Hornstoß das, was wir vom „Wächter der Götter“ eigentlich erwarten würden: das Warnsignal beim Anstürmen der Chaosmächte. Snorris größte Veränderung seiner Vorlage gegenüber liegt darin, dass er Heimdalls Hornstoß an einer späteren Stelle gesetzt hat. Darauf, dass nicht unbedingt andere (z.  B. biblische) Quellen ihn verleitet haben, diese Veränderung zu machen, deutet die andere wichtige Hinzufügung zu den Informationen der Ragnarök-Schilderung der Vǫluspá hin, die Snorri in Hinsicht auf Heimdallr vorgenommen hat. Heimdallr, sagt Snorri, vekr vpp ꜹll gvþin. Ohlmarks wollte diese Information auf christliche Quellen über die Auferstehung der Toten zurückführen. Doch die Toten sind ja nicht die Götter. Man braucht nicht außerhalb der Vǫluspá zu suchen, um plausiblere Ursachen für Snorris Hinzufügung zu finden. Nur einige Strophen vor Strophe 46 steht in der Vǫluspá zu lesen: 43.

Gól um ásum Gullinkambi, sá vekr hǫlda at Herjafǫðrs⁵⁷; en annarr gelr fyr jǫrð neðan, sótrauðr hani, at sǫlum Heljar.

54 Pering, Heimdall, Kap. XIII und S. 258  f.; vgl. ebd., Anm. 8, in der Ohlmarks Deutung Erwähnung findet. Vgl. auch Olrik, Ragnarök, 116. 118. 55 Ohlmarks, Heimdalls Horn, 177  ff. 56 Gylfaginning 38, 72. 57 R hat Z. 4: at hiarar at heriafꜹdrs, was möglicherweise als ‚bei (dem Sagenkönig) Hjǫrr bei Herjafǫðr‘, d.  h. bei einem der Kämpfer in Walhall verstanden werden muss. Ich verdanke Prof. Dr. Henrik Williams den Vorschlag.

Die Belege 

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‚Über die Asen krähte | Gullinkambi: | er weckt die Männer | bei Herjafǫðr; | doch ein Anderer kräht | unter der Erde, | ein dunkelroter⁵⁸ Hahn, | in den Hallen Hels.‘

Wie der Hahn jeden Morgen die lebenden Menschen weckt, sollen Hähne auch die Toten – in Walhall (at Herjafǫðrs) und in Hel – zur letzten Schlacht, zum Letzten Tag erwecken⁵⁹. Obwohl die Verbindung mit dem Letzten Tag auf christlichen Einflüssen beruhen kann, mag das Motiv der Erweckung der Toten zu neuem Leben (im Todesreich) sehr alte nordgermanische Wurzeln haben⁶⁰. Snorri kann sehr wohl aus dieser Strophe den nicht besonders „christlichen“ Schluss gezogen haben, dass auch Heimdallr mit seinem Hornstoß die Götter erweckt (vekr)⁶¹. Von einer „Theologisierung“ seines Materials⁶² kann hier nicht die Rede sein. Eher scheint Snorri nur versucht zu haben, Heimdalls Rolle in den Ragnarök so gut wie er konnte aus der vorchristlichen Vorstellungswelt heraus auszulegen. Und das tat er allem Anschein nach von seiner Auffassung über Heimdallr als „Wächter der Götter“ ausgehend. Eine ganz andere Sache ist also die Frage, welche Bedeutung Heimdalls Hornstoß in Snorris Quelle, der Vǫluspá, hat. Die Deutungsvorschläge, die Z. 1 Leika Míms synir inhaltlich in Zusammenhang mit Z. 3  f. at…Gjallarhorni führen, Z. 2 en mjǫtuðr kyndisk also als parenthetisch eingeschoben sehen wollen, scheinen mir wenig überzeugend zu sein. So meinten sowohl Neckel⁶³ als auch B. M. Ólsen⁶⁴, dass leika…at Gjallarhorni ausdrückt, dass „Míms Söhne“ – nach Neckel vielleicht Wassergeister – in Mímis Brunnen saßen und mit dem Gjallarhorn ‚spielten‘⁶⁵. Abgesehen davon, dass die hiermit verbundenen Auslegungen an das rein Komische grenzen⁶⁶, zerstört die Lesart den Zusammenhang der Strophe. Sie bewirkt nämlich, dass zwei verschiedene Bilder auf ein und dasselbe Objekt – denn dass das horn Z. 6 mit dem Gjallarhorn Z. 4 identisch ist, bezweifeln

58 Eigentlich ‚russrot‘. rauðr hat aber mehr bedeutet als ‚braun‘, und das hapax legomenon ist wohl zunächst als ‚dunkelrot; braunrot‘ zu verstehen. 59 Der Hahn erweckt die Kämpfer zum Kampfe: vgl. Bjarkamál 1 (Skj. B I, 170). 60 Siehe Nordberg, Krigarna i Odins sal, 259–68. 61 Dass Snorri den Inhalt der Strophe in seiner Prosa nicht wiedergibt, muss nicht bedeuten, dass er sie nicht kannte, nur, dass er sie für eine der weniger wichtigen Strophen hielt. 62 Vgl. die methodologische Diskussion zur Snorra-Edda in der Einführung, Kap. 1.2, besonders den Hinweis auf Klaus von See. 63 Beiträge zur Eddaforschung, 335. 64 Til Eddakvadene, 139  ff.; vgl. auch Meißner, Vǫluspá 2,5–8. 65 Die Bedeutungen von leika werden unten behandelt. 66 Da der „brøndvogter“ (!) Mímir tot sei, was B. M. Ólsen der Stelle mælir Óðinn við Míms hǫfuð ableitet, hätten Míms synir die Funktion ihres Vaters übernehmen müssen. Sie würden nun wahrnehmen, dass das Feuer den Weltenbaum verschlingt, und versuchen, ins (unter dem Baum liegende) Horn zu blasen. Doch dessen seien sie nicht gewachsen; sie vermögen keinen Laut hervorzubringen. Auf diese tragikomische Szene deute das Wort leika hin: Míms synir sollten nur mit dem Horn ‚spielen‘ können. Dann aber eile Heimdallr dazu...

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 Heimdalls Horn

auch die beiden obengenannten Forscher nicht – bezogen werden: die Söhne des Mímr „spielen mit dem Horn“ (Z. 1–4) und „hoch bläst Heimdallr, | das Horn ist in der Luft“ (Z. 5  f.). Wenn nicht Heimdallr einer von „Míms Söhnen“ ist, kann die Aneinanderreihung der so gedeuteten helmingar nur höchst sonderbar erscheinen. at…Gjallarhorni sollte also eher zu mjǫtuðr kyndisk gehören. Das Bild, das die Zusammenstellung von mjǫtuðr ‚Schicksal‘ und Gjallarhorn ‚das lautklingende Horn‘ zeichnet, hat die Forscher, wie gesagt, früh an die christliche Apokalypse erinnert und zu der Deutung veranlasst, ‚das Schicksal‘ (das vorrückende Weltende) werde ‚mit dem alten Gjallarhorn angekündigt‘⁶⁷. Dies würde aber das Verb kynna (nt) < *kunþjan ‚bekannt werden‘ usw. fordern⁶⁸, während das in sämtlichen Handschriften vorliegende Verb kynda ‚anzünden‘ ist. Wenn nicht mit ad hoc angenommenen Formen gearbeitet werden soll⁶⁹, ist deshalb von der letzteren Bedeutung auszugehen. Doch „das Schicksal“ kann nicht in Flammen gesetzt werden⁷⁰. B. M. Ólsen⁷¹ meinte deshalb, dass mjǫtuðr für einen in Vǫluspá 2 belegten Begriff mjǫtviðr ‚Maß-, d. h. Schicksalsbaum (Yggdrasill)‘ stehen müsste: Es sei der Yggdrasill, der angezündet würde⁷². Dagegen ist aber der nicht unwichtige Einwand erhoben worden, Yggdrasill stehe ja in den folgenden Strophen gar nicht in Flammen⁷³. Ferner heißt es in den Fjǫlsvinnsmál, dass weder Flammen noch Eisen den Baum fällen können⁷⁴. Mir scheint es berechtigt, zu Müllenhoffs Deutung zurückzukehren: ‚das Ende [das Schicksal] bricht an beim tone des alten Giallarhornes‘⁷⁵, eine Bedeutung (eig. = kveikja ‚stimulare; in Bewegung setzen‘), die in geistlicher Sprache belegt ist⁷⁶, was nach der obenstehenden Untersuchung zur Vǫluspá als Quelle für dieses Gedicht nicht erstaunt⁷⁷. Zwar kann gegen Müllenhoffs Deutung eingewendet werden, dass

67 So Edda, ed. Sijmons/Gering III 1, 60. 68 Vgl. kunna e-s mjǫt, Hávamál 60. 69 So S. Bugge, Studier I, 494. Vgl. Edda, ed. Sijmons/Gering III 1, 60: „schreibfehler statt kynnesk“. Kritik bei Meißner, Vǫluspá 2,5–8, 218; Nordal, Völuspá, 89; Edda, ed. Detter/Heinzel II, 61; Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde V, 144. 70 So jedoch Edda, ed. Dronke II, 19: ‚fate’s measure is lit‘, ein Motiv, das Dronke (ebd., 144  f.) aus dem Bild der brennenden Kerze des Norna-Gests þáttr herleitet. 71 Til Eddakvædene, 139  ff. 72 So auch Edda, ed. Detter/Heinzel II, 61. 73 Meißner, Vǫluspá 2,5–8, 218. 74 Fjǫlsvinnsmál 20,6: fellirat hann eldr né járn. Meißner, ebd. Diese intertextuelle Unstimmigkeit könnte freilich auch durch kontextuell bedingte Variationen der mythologischen Vorstellungen erklärt werden. 75 Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde V, 81 (Hervorhebung vom Verf.); vgl. ebd., 144  f. 76 Z. B. kynda aga ‚tænde, opvække ofred‘ (Lex. poet, s. v. „kynda“). Siehe ferner Frz., s. v. „kynda 2“. 77 Meißner konnte in einem von Brecht (Bericht, 4519) referierten Vortrag zum „Wortschatz der Vǫluspá“ zeigen, dass dieser starke Bezüge zur geistlichen Sprache aufweist. Hier tauche z.  B. -samligr in undrsamliga als einheitliches Suffix in Dichtungen wie Geisli, Merlínusspá, Sólarljóð und Hugsvinnsmál, dagegen nicht in der Dichtung des 10. und 11. Jahrhunderts auf, das Suffix -ari in tungls

Die Belege 

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at…Gjallarhorni keinen Zeitpunkt etwa wie die Zeitangaben at nóni, at sumri, at nefndum degi darstellt⁷⁸. Doch in der Vorstellung vom einmaligen Blasen des Gjallarhorns liegt meines Erachtens ein ebenso sehr abgrenzbarer Augenblick wie in Ausdrücken wie at upprennandi sólu. at…Gjallarhorni bedeutet elliptisch ‚beim Blasen, mit dem Klang des Gjallarhorns‘. Da die erste, einleitende Kurzzeile: Leika Míms synir, das folgende Motiv von Heimdalls verkündendem Hornstoß einleitet, kann wohl damit gerechnet werden, dass sie zu demselben Bild gehört. Auch hier ist die Deutung aber nicht ganz klar. Ziemlich allein steht Jere Fleck⁷⁹, der, statt synir, sýnir, Plural von sýn ‚Gesicht‘ gelesen⁸⁰ und den Satz so verstanden hat, dass ‚Míms Gesichte‘, seine Visionen bei Ragnarök begonnen haben, sich zu ‚bewegen‘⁸¹. Die Deutung ist im Zusammenhang nicht unmöglich, denn in derselben Strophe in Z. 7  f. spricht Óðinn mit Míms Haupt, mælir Óðinn | við Míms hǫfuð. Drei lange Stammsilben ergäben aber eine ziemlich schwere Kurzzeile. Öfters wurde die Lesart Míms synir ‚Míms Söhne‘ bevorzugt, was eine kenning für ‚Riesen‘ sein soll. Dass Mímir (bzw. Mímr) dem Geschlecht der Riesen gehörte⁸², stellen einige kenningar und heiti nämlich außer Zweifel⁸³. Für das Verb leika wurden viele Übersetzungen vorgeschlagen. Müllenhoffs Vorschlag, die Flüsse, d. h. Míms synir, geräten in unruhige Bewegung⁸⁴ (zu leika ‚sich (hin und her) bewegen‘⁸⁵), ergibt ein zur Schilderung der letzten Zeiten wenig ange-

tjúgari sei in der geistlichen Prosa häufig belegt und -dómr in der verstärkenden Funktion in megindómr ‚res magnae‘ sei für die Predigtsprache typisch. 78 Vgl. die Kritik Meißners, Vǫluspá 2,5–8, 218. 79 Óðinn’s self-sacrifice, 397. 80 Die Länge des Vokals wird sowohl in R als auch in H markiert; in R geschieht die Markierung jedoch inkonsequent und in H sind die y immer mit Akzent versehen. Die Handschriften erlauben deshalb beide Lesarten. Lassen, Øjet og blindheden, Anm. 299. 81 Frz., s. v. „leika 7 und 8“. Vgl. Lex. poet, s. v. „leika 1“: ‚lege, bevæge sig (vistnok altid til siderne eller frem og tilbakge, op eller ned, men ikke i lige retning fremad, deraf betydn. ‚danse‘ i andre germanske sprog)‘. 82 So z.  B. Edda, ed. Detter/Heinzel II, 61 (zu Vǫluspá 45,1), mit Hinweis auf Ausdrücke wie Ymis niðjar und jǫtna synir; Edda, ed. Boer II, 22 (zu Vǫluspá 10 [24]). 83 Mímir, „jǫtna heiti“, Þulur IV b 1 (Skj. A I, 654). In Þórsdrápa 9 (Skj. B I, 141) bezeichnet hrekkmímir ‚Ränke-Mímir‘ den Riesen Geirrøðr; eine Bedeutung Mímir ‚Riese‘ ist aber hier nicht notwendig (vgl. auch Helgakviða Hundingsbana I 14, geirmímir ‚Krieger‘ = Hundingr). In Þulur IV l 5 (Skj. A I, 663) wird holdmímir unter „sverða heiti“ aufgelistet. Der Konstruktion nach (‚jener, der dem Fleisch (hold) schadet‘) ist wohl im Zweitglied eine feindliche Bedeutung zu erwarten, etwa ‚Riese‘. – Schwieriger zu deuten sind die kenningar für ‚Himmel‘ hreggmímir ‚Sturm-Mímir‘ („himins heiti“, Þulur IV ff, Skj. A I, 678; Þulur IV nn, Skj. A I, 683) und vetrmímir ‚Winter-Mímir‘ = ‚der Himmel‘ (ebd.). 84 Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde V, 141  f. Ähnlich Edda, ed. Simrock, 379, zu Vǫluspá 47. 85 Frz., s. v. „leika 7. 8“. Vgl. Lex. poet, s. v. „leika 1“: ‚lege, bevæge sig (vistnok altid til siderne eller frem og tilbakge, op eller ned, men ikke i lige retning fremad, deraf betydn. ‚danse‘ i andre germanske sprog)‘.

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 Heimdalls Horn

messenes Bild: Da wäre ein dramatischerer Ausdruck zu erwarten⁸⁶. Überdies ist die Deutung von Müllenhoffs nicht unanfechtbarer Auffassung von Mímir als einer Quellengottheit abhängig. Finnur Jónsson⁸⁷ schlug seinerseits in seiner Eddaausgabe vor, dass die Bedeutung ‚spielen‘ erwogen werden sollte⁸⁸: „Míms Söhne“, d. h. die Riesen, „spielen“, d. h. sie sind froh, da der Untergang der Götter und Menschen näher rückt. Die Aktivität des „Spielens“ als Umschreibung für Heiterkeit scheint auf den ersten Blick nicht ganz überzeugend. Wenn aber die verwandten Bedeutungen ‚tanzen, sich bewegen‘ usw. mitgedacht werden, ergibt sich, dass die Bedeutung breiter aufgefasst werden darf. Detters und Heinzels Deutung ist wohl gegenüber der Finnur Jónssons zu bevorzugen: ‚die Riesen gerathen in Bewegung, werden rebellisch‘⁸⁹. Das Verb deutet zweifellos eine unruhige Bewegung oder Aktivität an; in der Skaldensprache wird es z.  B. für die Bewegung der Schwerter, des Windes und häufig der Flammen verwendet⁹⁰. Im vorliegenden Zusammenhang wäre es geeignet, die unruhige Aktivität, die Mobilmachung der Riesen vor dem Angriff in Strophe 50  ff. zu beschreiben. Jetzt wird das Schicksal angekündigt; hátt blæss Heimdallr… Das Bild erinnert an die christliche Vorstellung von den Posaunen der Engel⁹¹, die auch in den volkssprachlichen christlichen Überlieferungen der Germanen bewahrt sind⁹². Wie wir in der obenstehenden Diskussion über die Vǫluspá als Quelle gesehen haben, brauchen weder die Aufnahme solcher Vorstellungen in dieses Gedicht noch

86 Wie Müllenhoff selbst (ebd., 142) bemerkt hat, stellen ja die Flüsse „ohnehin das bewegliche element“ dar. – Zweifelnd auch Gering, Edda, ed. Sijmons/Gering III 1, 60 (zu Vǫluspá 46,1). 87 Edda, ed. Finnur Jónsson, 15 (zu Vǫluspá 46). Ders., Völu-spá, 49, zur Stelle. Vgl. Edda, ed. Sijmons/ Gering III 1, 55 (zu Strophe 42,2). – Dronke versteht Mímr als Heimdallr, Míms Söhne deshalb als die Menschheit. „Leika, ‚play‘, is then ironically used of the unbridled behaviour of men, exposed in the preceding stanza [Brœðr munu beriask usw.]‘ “ (Edda, ed. Dronke II, 144, zu Vǫluspá 45,1–2). Sowohl das Vorhandensein von doppelten Identitäten wie von Ironie ist aber schwer zu beweisen. 88 Vgl. Neckel, Beiträge zur Eddaforschung, 335; B. M. Ólsen, Til Eddakvadene, 139  ff. Die dazu gehörenden, wenig einleuchtenden Auslegungen wurden schon oben behandelt. 89 „Sobald die Riesen übermüthig werden, stösst Heimdal [...] in sein Horn“. Edda, ed. Detter/ Heinzel II, 61 (zu Vǫluspá 45,1). 90 Siehe Lex. poet., s. v. „leika 1“. 91 Vulgata, der I. Brief des Paulus an die Korinther 15,52: in momento in ictu oculi in novissima tuba canet enim et mortui resurgent incorrupti et nos inmu; der Brief an die Thessalonicher 4,16: quoniam ipse Dominus in iussu et in voce archangeli et in tuba Dei descendet de caelo et mortui qui in Christo sunt resurgent primi. 92 So im altenglischen Christ and Satan, Z. 600  ff.: Hateð hehenglas hluddre stefne | beman blawan ofer burga geseotu | geond foldan sceatas. | þonne of þisse moldan men onwecnað; | deade of duste arisað þurh drihtnes miht ‚Er wird den Erzengeln befehlen, die Posaunen mit hohem Laut über den Einwohnern der Städte, durch die Ausdehnungen der Welt zu blasen. Dann werden die Menschen in dieser Welt erwachen; die Toten werden vom Staub auferstehen durch die Macht des Herrn‘. Christ, Z. 947: [...] Weorþeð geond sidne grund | hlud gehyred heofonbyman stefn, | ond on seofon healfa swogað windas ‚Über die weite Erde soll die hohe Stimme der himmlischen Posaune gehört werden, und von sieben Seiten werden die Winde toben‘.

Die Belege 

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die Annäherung Heimdalls an eine christliche Gestalt etwas Befremdliches zu sein. Die Frage, wie die Strophe im Zusammenhang der Vǫluspá zu verstehen ist und ob hinter ihr vorchristliche Vorstellungen stecken, soll in Abschnitt 5.3 erörtert werden.

5.2.2 Vǫluspá 27 In Vǫluspá 27 kommt Heimdallr noch einmal vor. Die Strophe steht fast in der Mitte des Liedes, nach der großen Unruhe in Strophe 21–26, aber noch vor Baldrs Tod in Strophe 31: Sie leitet ein Zwischenspiel ein, in dem der Rezipient zurück auf die narrativ vorausgesetzte extradiegetische Ebene⁹³, auf der die Wala Óðinn über die Geschichte und die Zukunft der Welt (= intradiegetische Ebene) erzählt, geführt wird (Strophe 27–29). 27.

Veit hon Heimdallar⁹⁴ hljóð um fólgit undir heiðvǫnum helgum baðmi; á sér hon ausask aurgum forsi af veði Valfǫðrs. Vituð ér enn eða hvat?

‚Sie weiß Heimdalls | hljóð verborgen | unter dem himmelhohen⁹⁵ | heiligen Baume; | einen Strom sieht sie, der sich ergießt | in schlammigem Wasserfall | aus⁹⁶ Valfǫðrs Pfand. | Wisst ihr noch mehr, und was?‘

Was das Neutrum hljóð bedeutet, darüber ist viel diskutiert worden. Gewöhnlich meint das Wort entweder ‚Laut, Klang, Ton‘ oder genau das Gegenteil (so unter anderem in Vǫluspá 1,1): ‚Geheisch, Stille‘⁹⁷. Offenbar kann aber weder ein Laut noch eine Stille unter einem Baum „verborgen“ (fólgit, Z. 2) sein. Das Wort muss deshalb konkret verstanden werden. Einige Forscher sind hier von der Bedeutung ‚Geheisch‘ ausgegangen und haben vorgeschlagen, dass, wie das mit hljóð verwandte hlust sowohl abstrakt ‚Hören‘ als auch konkret ‚Ohr‘ bezeichnen konnte, hljóð in Vǫluspá 27 ‚Ohr‘ bedeuten muss⁹⁸.

93 Diese kommt am deutlichsten in Strophe 1. 28  f. (66,8?) zum Vorschein. 94 heimdalar, R. 95 heiðvanr (hapax legomenon) soll mit Edda, ed. Detter/Heinzel II, 37 (zu Vǫluspá 28,3) eigentlich ‚serenitati adsuetus‘ bedeuten, also in diesem Zusammenhang ‚an klares Wetter, den wolkenlosen Himmel gewöhnt‘ (also ‚himmelhoch‘). 96 Siehe unten, S. 171. 97 Siehe Lex. poet., s. v. „hljóð 1“ bzw. „3“. 98 Vgl. eine in der Málskrúðsfræði der Dritten grammatischen Abhandlung (Snorra-Edda II, 172) überlieferte Strophe, wo Þrymgǫll eine Glocke bezeichnet. Der Kommentar des Autors lautet: Hèr er framfæríng af hljóði til málsins, ok úeiginlíg líkíng milli klukku ok hljóðs.

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 Heimdalls Horn

Heimdallr habe also sein Ohr in den Brunnen niedergelegt⁹⁹. Die natürlichste Auslegung wäre wohl dann, dass, wie Óðinn eines seiner Augen in den Brunnen geopfert hat, um ein „drittes“ – das des Hellsehens – zu gewinnen¹⁰⁰, so hat auch Heimdallr sein Ohr geopfert, vermutlich um eine Eigenschaft zu gewinnen, die er (als „Wächter der Götter“) brauchte: das gute Hören. Die Annahme, dass Heimdallr ein gutes Hörvermögen haben muss, kann möglicherweise durch eine Stelle in der Snorra-Edda gestützt werden, als Snorri sagt: hann þarf miɴa svefn en fvgl; hann ser iafnt nott sem dag hvɴdrat rasta¹⁰¹ fra ser; hann heyrir ok þat, er gras vex aiorþv e(ða) vll a savþvm ok allt þat, er hæra lætr¹⁰².

Zu Recht ist hervorgehoben worden, dass die Aussage bei Snorri etwas Märchenhaftes an sich hat und sich in ein Muster von Ausschmückungen einreihen lässt, die im Zusammenhang mit dem guten Hören des Helden und anderer Charaktere des Märchens häufig vorkommen¹⁰³. Das heißt aber keineswegs, dass diese Ausschmückung erst von Snorri mit Heimdallr in Verbindung gesetzt wurde. Andererseits muss sie nicht viel älter als Snorris eigene Zeit sein. Anziehend ist die oben angeführte Interpretation von hljóð vor allem wegen des durch sie sich ergebenden guten Parallelismus von Horn und Auge. Es gibt aber eine andere Deutungsmöglichkeit des Wortes, nämlich, wenn von der Bedeutung ‚Laut, Ton, Klang‘ ausgegangen wird. Diese Deutung scheint schon der erste bekannte Interpret der Stelle bevorzugt zu haben: Snorri Sturluson. In seiner Edda, Gylfaginning 8,  22, erwähnt Snorri zum ersten Mal Heimdalls Gjallarhorn:

99 Edda, ed. Detter/Heinzel II, 36. Die darauf folgende Auslegung, die Götter hätten beim Ende der Welt begonnen, ihr Seh- und Hörvermögen an den Riesen (Mímir) zu verlieren (ebd., 36; vgl. 51  f.), wird dagegen keinen überzeugen. 100 Dieses Motiv dürfte nicht erst mit der Vǫluspá entstanden sein, denn auch in mehreren Sagas und in den Beinamen des Gottes wird die Einäugigkeit erwähnt; siehe de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, § 397; II, 81, Anm. 3 mit weiteren Hinweisen. Mit Dumézil vergleicht de Vries (ebd. II, 82 und Anm. 3) das Motiv sicher zutreffend mit anderen Sagen von Sehern wie Teiresias, die erst dann geistige Hellseher wurden, als sie physisch blind geworden waren. 101 Die Grundbedeutung von rǫst ist ‚Rast, Pause‘; eine rǫst (gotisch rasta, mittelhochdeutsch raste) war also eine so lange Strecke, wie man ohne Rast gehen konnte. Die Strecke ist mit dem alten schwedischen skogsmil gleichgestellt worden, der etwa 5 km umfasst hat; siehe N. M. Petersen, Haandbog, 132  f. 102 Gylfaginning 15, 33. 103 Pering, Heimdall, 260  f. Vgl. auch von der Leyen, Das Märchen, 7: so würde unter anderem ein Diener in einem von Grimms „Kinder und Hausmärchen“ „das gras auf der erde und die wolle auf den schafen wachsen“ hören. Die Eigenschaft Heimdalls wurde auch zum Gegenstand der späten rímur gemacht, siehe Ohlmarks, Heimdalls Horn, 188 (heyrdi hann allt þat hęra let | en harit spratt ꜳ saudum).

Die Belege 

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En vndir þeiri rót, er til hrimþvrsa horfir, þar er Mimisbrvɴr, er spekð ok manvit er ifolgit, ok heitir sa Mimir, er abrvɴinn; hann er fvllr af visindvm, firir þvi at hann drekr or brvɴinvm af horninv Giallarhorni. Þar kom Allfavðr ok beiddiz eiɴs dryckiar af brvɴinvm, en hann feck eigi, fyʀ en hann lagþi avga sitt at veþi; sva segir iVavlvspa: Alt veit ec Oþin [. . . . . .].

Die von Snorri zitierte Strophe entspricht Vǫluspá 28, in der es in Z. 7  ff. heißt: Allt veit ek, Óðinn, hvar þú auga falt: í inom mæra Mímis brunni! Drekkr miǫð Mímir morgin hverian of veði Valfǫðrs. Vituð ér enn eða hvat? ‚Durchaus weiß ich, Óðinn, | wo du dein Auge verbargst: | im berühmten | Brunnen Mímis! | Mímir trinkt Met | jeden Morgen | aus Valfǫðrs Pfand. | Wisst ihr noch mehr, und was?‘

Wie Sigurður Nordal¹⁰⁴ bemerkt, hat Z. 7 (drekka) af veði Valfǫðrs offenbar nicht die Bedeutung ‚úr‘ (aus dem Auge?), sondern ‚ofan af‘, also eigentlich ‚aus der Quelle, in der Walvaters Pfand (sein Auge) lag‘. In dieser Strophe ist der Großteil des Inhaltes von Snorris Prosa vorhanden. Doch wo kommt das Gjallarhorn, das hier nicht erwähnt wird, ins Bild? Die Frage führt uns zur vorhergehenden Strophe der Vǫluspá, Strophe 27, zurück. Diese Strophe ist, wie klar hervorgeht, mit Strophe 28 strukturell und inhaltlich analog: Strophe 28 allt veit ek, Óðinn entspricht 27 Veit hon Heimdallar, 28 í brunni entspricht 27 undir baðmi, der Met, den Mímir in 28 af veði Valfǫðrs trinkt, entspricht dem á, der sich in 27 über veð Valfǫðrs ergießt. Da auch über den Baum in Vǫluspá 19 gesagt wird, dass er von aurr überschüttet wird (vgl. 27,6 aurgugr fors)¹⁰⁵, ist der Kontext offenbar derselbe: der Brunnen unter dem Baum. Snorri kann also kaum anders, als die Folgerung zu ziehen, dass neben Óðins Auge auch Heimdalls hljóð gelegen hat. Dieses hat er offenbar mit Heimdalls Horn identifiziert. Snorri war die Sprache der Skalden wohlbekannt. In den kenningar der Skalden ist es nicht ungewöhnlich, dass ein abstraktes Substantiv als Hauptwort für ein konkretes stehen kann¹⁰⁶, weshalb Snorri folgerichtig Heimdallar hljóð als eine kenning „Heimdalls Laut, Ton“ = ‚Gjallarhorn‘ verstehen konnte. Dass das Horn Mímis Trinkhorn sei, kann natürlich Snorris eigene Erfindung sein. Seine Deutung von Heimdallar hljóð als eine kenning für Heimdalls Gjallarhorn ist aber erwägenswert und ist auch von vielen Forschern aufgegriffen worden. Auch hier trägt aber zusätzlich ein früher nicht beobachteter Parallelismus dazu

104 Völuspá, 66. 105 Die Bedeutung von aurr und den Ableitungen ist nicht klar; siehe AEW, s. v. 106 Meißner, Die Kenningar der Skalden, 20  f.

172 

 Heimdalls Horn

bei, die Deutung attraktiv und noch anziehender als jene von Heimdallar hljóð als sein ‚Ohr‘ zu machen. Es scheint nämlich bemerkenswert, dass in beiden der oben diskutierten Stellen der Vǫluspá, in denen Heimdallr vorkommt (Strophe 27  f. bzw. 46  f.), auch Mímir, Óðinn sowie die Esche Yggdrasill erwähnt werden. Aber nicht nur die Konstellation ist identisch, auch die Funktion der Protagonisten scheint in den beiden Strophen dieselbe zu sein. Mímir wird nur erwähnt, um die Sehergabe Óðins hervorzuheben; Óðinn blickt in die Zukunft (46) bzw. bittet die Wala, in die Zukunft zu blicken (28  f.)¹⁰⁷. Zwar folgt aus diesen offenkundigen Parallelismen nicht notwendigerweise, dass auch der dritte Protagonist, Heimdallr, an beiden Stellen eine identische Rolle spielt, nämlich als Besitzer eines Hornes. Da aber die Deutungsmöglichkeit von Heimdallar hljóð als ‚Heimdalls Horn‘ offen bleibt, soll diese Deutung bevorzugt werden. Die Parallelismen scheinen zu bestätigen, dass nicht nur Snorri, sondern schon der Dichter der betreffenden Strophen in hljóð das Gjallarhorn gesehen hat. In diesem Licht verdient vielleicht auch Gustav Neckels alter Vorschlag Aufmerksamkeit, dass Z. 46,6: horn er á lopti, nicht nur andeuten soll, dass das Horn hoch in die Luft erhoben ist, sondern eher, dass es nicht mehr unter dem Baume liegt¹⁰⁸. Was damit gemeint wird, dass Heimdalls Horn in Mímis Brunnen verborgen liegt, gehört zu den Fragen, die aus dem Kontext der Vǫluspá in ihrer Gesamtheit und aus Heimdalls Rolle in diesem Lied heraus untersucht werden müssen. Diesen Fragen wenden wir uns nun zu.

5.3 Auslegung In der früheren Forschung wurde Heimdalls Hornstoß häufig mit dem naheliegenden Bild der posaunenblasenden Engeln verglichen (siehe oben). Eigentlich ist es aber nur die zeitliche Position des Hornstoßes, am Anfang des Unterganges, die in der christlichen und der „vorchristlichen“ eschatologischen Vision gleich ist. Heimdalls Hornstoß ist ein Zeichen, dass hier die Ragnarök anbrechen. Er hat jedoch keine unmittelbaren Folgen, wie die Posaunenstöße in der Offenbarung des Johannes (Hagel und Feuer, Herabstürzen der Sterne, Verdunkelung der Sonne); in der Vǫluspá erscheinen die Naturkatastrophen, als selbständige Phänomene, erst in Strophe 57. Dass trotzdem diese Analogie bei einer frühchristlichen Gesellschaft nahe liegt, kann möglicherweise ein Runenstein aus der letzten Hälfte des 10. Jahrhunderts bestätigen. Auf der Isle of Man sind rund dreißig Runensteine gefunden. Diese sind häufig bebildert. Viele von den Bildern haben einen deutlich christlichen Inhalt; kennzeichnend für

107 Die narrative Ursache dafür, dass auch hier Óðins Weissagekunst erwähnt wird, ist wohl nur, dass dadurch die Weissagekunst der Erzählerin, der Wala, vergrößert wird: Selbst Óðinn konnte nicht wissen, was sie erzählen wird. 108 Neckel, Beiträge zur Eddaforschung, 335.

Auslegung 

 173

sie ist aber auch, dass häufig christliche Motive mit heidnischen vermischt werden. So auch auf dem Runenstein von Jurby (Manx Museum 127; siehe das Frontispiz der vorliegenden Arbeit¹⁰⁹). Das Zentrum des Fragments wird von einem großen Kreuz bestimmt. Hoch oben, auf einem Arm des Kreuzes, steht ein Mann mit einem Schwert. Zu seinem Mund führt er ein überdimensioniertes Horn. Möglicherweise begegnet uns hier Heimdallr, jedoch eindeutig in einem christlichen Kontext. Interessant ist in dieser Hinsicht die Deutung Sigmund Oehrls, der im Bezug auf den Vogel, der auf der Ritzung oberhalb der Figur abgebildet ist, darauf hinweist, dass in der Vǫluspá kurz nach Heimdalls Hornstoß ein Adler schreit. Dies erinnert ferner an den Adler, der in der Offenbarung des Johannes 8,13 nach den ersten Posaunenstößen der Engel auftritt¹¹⁰. Die Deutung legt die Annahme nahe, dass auf dem Runenstein von Jurby ein Motiv aus einer mit der Vǫluspá verwandten Tradition, in der Heimdallr in Analogie mit den posaunenblasenden Engeln gedacht wird, abgebildet ist. Dass andere Runensteine auf der Isle of Man Ähnlichkeiten mit der Vorstellungs- und Motivwelt der Vǫluspá aufweisen¹¹¹, kann diese Annahme unterstützen. Ein zweites Steinstück, auf dem Heimdallr möglicherweise dargestellt ist, war ebenfalls Teil eines (heute in seiner Ganzheit nicht mehr erhaltenen) Kreuzes. Der Stein von Ovingham, Northumberland, zeigt eine Szene mit zwei Figuren¹¹². Die eine von ihnen hält ein großes Objekt, vielleicht ein Horn, in seiner Hand. Die andere hält in seinen Händen (oder in einer Schlinge?) ein Tier, dessen Füße in der Luft hängen. Über dem Kopf des Tieres schwebt ein Kreis, wahrscheinlich ein Himmelskörper. Das Motiv ist verschieden interpretiert worden¹¹³. Richard N. Bailey schlug aber überzeugend vor, dass die Abbildung mehrere integrierte Szenen aus den Ragnarök darstellt: den Fenriswolf, der die Sonne verschlingen wird, und Heimdallr mit seinem Horn¹¹⁴. Die dritte Figur kann dann vielleicht Víðarr sein, der mit dem Fenriswolf kämpft¹¹⁵,

109 Die Ritzung ist im Vergleich mit den ersten Abbildungen heute stark beschädigt, weshalb diese Fotografien vorzuziehen sind. Page, The Manx rune-stones, 226. 110 Oehrl, Vierbeinerdarstellungen, 170. 111 Vgl. das Thorwald-Kreuz von Kirk Andreas, Ilse of Man (Manx Museum 128), der Óðinn abzubilden scheint, als dieser mit dem Fenriswolf kämpf und von diesem verschlungen wird. 112 Wie schon die früher publizierten Lichtbilder zeigen, ist die Ritzung heute sehr undeutlich; vgl. Cramp (Corpus, 215  f., Pl. 210) und Oehrl (Vierbeinerdarstellungen, 166), der neben den Lichtbildern auch eine leichte Korrigierung der Zeichnung von Bailey (Viking Age sculpture, Fig. 24) abdruckt (Abb. 290–93). 113 Schon 1946 (der Stein wurde 1945 gefunden) wurde vorgeschlagen, die Abbildung stelle eine Jagdszene dar (siehe Cramp, ebd., 216a). Das große Objekt sei eine Keule, das Tier ein Jagdhund. Aber so wie auf der Abbildung hält keiner einen Jagdhund. Ferner kann die Interpretation den Himmelskörper nicht erklären. Cramp (ebd., 216b) meint, die Figuren könnten David, ein Löwe und Goliath (mit Keule) sein; allerdings trägt Goliath gewöhnlich keine Keule, sondern einen Wurfspieß als Waffe (1. Samuel 17,7). 114 Bailey, Viking Age sculpture, 133. 253. 115 McKinnell, Norse mythology and Northumbria, 331.

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 Heimdalls Horn

oder Týr, der ihn fesselt¹¹⁶. Wenn die Ritzung tatsächlich die Fesselung Fenris darstellt, liegt es nahe, für beide Götter eine analoge, ihre Verbindung in einem Bild ausreichend erklärende¹¹⁷ Symbolik anzunehmen: Einerseits können sie für die Etablierung der Ordnung bzw. für die Bezwingung des Chaos in der Urzeit stehen, andererseits deutet sowohl Heimdalls Horn als das nach der Sonne gähnende Ungeheuer auf die Endzeit hin, wo Fenrir wieder loskommt und die Ordnung zerbröckelt¹¹⁸. Wie auf dem Runenstein von Jurby, so scheint folglich der Inhalt auf dem Stein von Ovingham teilweise auf vorchristlichen Endzeitsvorstellungen zu bauen, der Kontext aber ist auch hier christlich. Auch vom Gosforthkreuz (Cumberland) ist oft angenommen worden, dass es auf der Westseite Heimdallr darstellt¹¹⁹. Entscheidend ist dabei einzig das Horn, denn die anderen Elemente der Ritzung – die mit einem kleinen Bart abgebildete Figur sperrt mit einem Stab das Maul eines verdoppelten Untiers (ein Wolf mit Schlangenkörper?) auf – werden sonst nicht in Verbindung mit Heimdallr gesetzt; dagegen gibt es, wie Richard Reitzenstein¹²⁰ gezeigt hat, reichliche Beziehungen zu christlichen Traditionen. Wird tatsächlich Heimdallr abgebildet, so erscheint er hier in einer stark synkretistischen Darstellung, die von dem uns bekannten Gott lediglich den Hornträger und Vorkämpfer der Ordnung erkennen lässt, diese Charakterzüge jedoch in eine ganz neue Geschichte einordnet. Wenn wir immerhin das Recht haben, auf den beiden ersteren Kreuzen den Gott Heimdallr zu erkennen, zeigen die Abbildungen nicht nur die frühe, weite Verbreitung des Motivs aus Vǫluspá 46, sondern auch, dass die Verwendung desselben in einem christlichen Kontext nichts Befremdliches sein muss. Wurde das Motiv christlich gedeutet, könnte wohl nur der Erzengel mit seiner Posaune die Analogie geliefert haben, auf den Kreuzen wie im Gedicht. Eine andere Frage ist natürlich, ob man sich Heimdallr auch in einem vorchristlichen Deutungsrahmen als endzeitlichen Hornbläser vorgestellt hat. Ich glaube, die Frage muss bejaht werden, und das aus dem einfachen Grund, da es ohne eine frühere, vergleichbare Funktion des Gottes keine Ursache für die Verwendung Heimdalls in

116 Oehrl, Vierbeinerdarstellungen, 169, der auch weitere Belege für die Fesselung Fenris mit einer Halsfessel anführt. 117 Denn Heimdallr hat mit dem Fenriswolf ursprünglich nichts zu tun; vgl. Heizmann, Der Fenriswolf, 239. 118 Eine ähnliche „Synopse der Zeiten“ vermutet Heizmann (ebd., 246) für das Motiv auf dem Skrydstrup-B Brakteaten (Óðinn und Fenrir; Kampf eines Hirsches mit verschlungenen – daher als besiegt dargestellten – Schlangen). 119 McKinnell, Norse mythology and Northumbria, 330; Oehrl, Vierbeinerdarstellungen, 169 und Abb. 247. 120 Weltuntergangsvorstellungen, 45  f. Auch Heizmann (Fenriswolf, 239  f.) stellt sich zu einem vorchristlichen Inhalt der Ritzung skeptisch.

Auslegung 

 175

diesem Zusammenhang in der Vǫluspá und denkbar auf den erwähnten Abbildungen gegeben hätte. Ob aber die Funktion des Hornstoßes hier – wie in der Vǫluspá – die Ankündigung der Ragnarök repräsentierte oder eher das Warnsignal des Wächters war, muss bis zur Diskussion von Heimdalls Wächterfunktion (Kap. 7) hingestellt werden. An dieser Stelle kann nur festgestellt werden, dass der Hornstoß sowohl mit dem Wächter als auch mit dem kraftgestärkten Verteidiger Asgards, der mit seinem „Heerhorn“ (altnordisch herlúðr, herhorn)¹²¹ die Truppen zur Endschlacht versammeln konnte, passen würde. Wenn Heimdallr vorchristlich auch eine aktive Rolle auf dem Schlachtfeld hatte – Snorri berichtet, ohne es freilich durch andere Quellen zu stützen, Heimdallr werde in der Endschlacht mit Loki kämpfen und beide den anderen erschlagen¹²² –, wird dies in der Vǫluspá jedenfalls nicht weiter ausgeführt. Unter jenen Göttern, die in der Endschlacht kämpfen und untergehen, den Göttern der „Odinwelt“ (de Vries), wird Heimdallr nicht erwähnt. Wie auf den oben besprochenen Bildsteinen, so wird auch hier sein Hornstoß als das in diesem Zusammenhang Zentrale dargestellt. Vielleicht hat die erwähnte Analogie mit der Offenbarung des Johannes die Akzentuierung dieses Motivs, hier wie auf den Bildsteinen, beeinflußt. Interessant ist, dass mit diesem Motiv Heimdallr in der Vǫluspá eine entscheidende symbolische Bedeutung im Kontext des Weltuntergangs und am Ende der Vǫluspá bekommt, die ein kunstvolles Pendant zu seinem Platz und seiner Rolle am Anfang der Welt und des Gedichtes bildet. Obwohl Heimdallr in der Vǫluspá nicht konkret als Verteidiger der alten Weltordnung auftritt, umschließt er sozusagen diese Ordnung. Und so wird er auch unter jenen Göttern, die nach den Ragnarök zur neuen Welt und zur neuen Ordnung (der „Baldrwelt“) wiederkehren, nicht erwähnt. Denn als urzeitlicher Urheber der Stände und als endzeitlicher Hornbläser markiert er gewissermaßen Anfang und Ende¹²³ der alten Ordnung und verschwindet zusammen mit ihr aus dem Gedicht. In der Vǫluspá wird mit anderen Worten der Zusammenhang Heimdalls mit dem Ordnungsmodell, das wir schon mehrmals in den Quellen durchschimmern gesehen

121 Vgl. Frz., s. v. „herhorn“, d. h. ‚Horn hvorpaa man blæser i Hæren, for derved at give Krigsfolket de fornødne Signaler eller Befalinger‘. In der altisländischen Übersetzung des Buches der Richter 6,34 hat der herlvðr die Funktion, die Krieger zu versammeln (Stjórn, 392). 122 Gylfaginning 38, 73: Loki a orrosto við Heimdall, ok verþr hvaʀ aɴars bani. 123 Als Gott des Anfangs und des Endes betrachtete schon Uhland (Schriften VI, 14: Heimdallr als deus matutinus) Heimdallr. 1947/48 widmete Dumézil mehrere Vorlesungen an L’Ecole des Hautes Etudes dem Gott Heimdallr. Die Hauptzüge wurden schriftlich fixiert in „Les dieux des Indo-Européens“ (1952, S. 104  f.), in dem Heimdallr als „dieu premier“, vergleichbar mit Janus und Vāyu, interpretiert wird. 1959 kehrte er aber zu Heimdallr zurück und meinte jetzt, in der Kategorie „dieu cadre“ (‚Rahmengott‘: Gott des Anfangs und Endes) die richtige, für den Gott charakteristische Eigenschaft gefunden zu haben (Remarques comparatives, 265).

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 Heimdalls Horn

haben, deutlich ausgeführt. Wie die soziale Ordnung in der Rígsþula, so umschließt Heimdallr in der Vǫluspá sowohl die kosmische Ordnung als solche als auch und insbesondere die dominante Position innerhalb dieser Ordnung, repräsentiert durch die Aristokratie bzw. durch die Götter. Als das Zentrum der kosmischen Ordnung (Asgard) unter dem Druck der Peripherie (Utgard) zusammenbricht, zerbricht auch die Ordnung als solche, die gemeinsame Welt der Menschen und Götter. Heimdalls symbolische Rolle als Anfang und Ende dieser Kosmologie baut wohl auf seiner nahen Verbindung mit der in der Vǫluspá zuerst auf-, dann schließich untergehenden Ordnung, sowohl in seiner Eigenschaft als Stammvater der Stände als auch als Verteidiger oder Wächter der Götter. In der Vǫluspá, an der Grenze zwischen Heidentum und Christentum, ist er zu einem prägnanten Sinnbild für das untergehende Heidentum geworden. Eine ähnliche Rolle als Symbole des Heidentums scheint noch in der Skíðaríma aus der Zeit um 1400 Heimdallr und seinem Horn zuzukommen. Als der Christ Skíði unter den Asen wiederholt das Wort guð äußert und schließich auch das Kreuzzeichen macht, schlägt ihn Heimdallr mit seinem Horn auf den Mund124. Im Licht dieser Auslegung von Heimdalls Funktion und Bedeutung in der Vǫluspá, kann nun auch erklärt werden, warum Heimdalls Horn nach Vǫluspá 27 unter dem Weltenbaum verborgen liegt – ein Motiv, das etwa für den „Wächter“, der dann bei Ragnarök seinen Platz verlassen müsste, um das Horn zu holen, nicht nur auf eine Weise widersinnig erscheint¹²⁵. In der Vǫluspá aber ist Heimdallr ein Analogon zum Erzengel; die Bedeutung seines Hornstoßes ist symbolisch, und so bekommt auch das Verborgensein des Hornes einen symbolischen Sinn. Vǫluspá 27 findet sich im Gedicht (Handschriften r und H) nach der Beschreibung vom ersten Krieg der Welt (Strophe 21–26). Die Strophe steht, wie bereits ausgeführt, auch in einem Zusammenhang (Strophe 27–29), in dem der Rezipient zur Rahmenerzählung zurückgeführt wird: Hier erfährt man, dass Óðinn – wohl durch die eben referierten Unruhen dazu veranlasst – die Wala aufsucht, um sie über die Zukunft zu befragen. Schließlich steht die Strophe auch an einem Punkt, an dem das Lied inhaltlich kippt. Nach Strophe 29 blickt die Wala vorwärts und hat nichts mehr Ermunterndes zu erzählen. Nun beginnt das lange Vorspiel, das schließlich zu den Ragnarök führt¹²⁶. In diesem Kontext zwischen Anfang und Ende soll das Verborgensein des Hornes das Umgekehrte davon signalisieren, was der Hornstoß in Strophe 46, als Symbol für

124 Skíðaríma, Strophe 126–29. 125 So auch Hermann, Nordische Mythologie, 245. 126 Strophe 30, in der die Walküren sich vorbereiten, die Toten nach Valhǫll zu holen, kündet dies an. In r wird die folgende Episode mit der größtmöglichen Tragik – dem Tod Baldrs – eingeleitet (Strophe 31–36). Dann werden die Unterwelt, Fenris Kinder usw. beschrieben. In Strophe 43 (in r) werden die eigentlichen Ragnarök durch das neue Stef (Geyr Garmr mjǫk…) angedeutet.

Auslegung 

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die letzte Schlacht, bedeutet: Noch wird das Horn nicht gebraucht werden müssen; noch ist Friedenszeit; noch sind die Ragnarök nicht da¹²⁷. Gleichzeitig deutet die Erwähnung des Hornes an, dass die Ragnarök aber herannahen. Und so wird in dieser Weise schon hier, obwohl stillschweigend, nicht mit einem Hornstoß, „das Schicksal“ vom Dichter „angekündigt“ – mjǫtuðr kyndisk…

127 Vgl. de Vries, Heimdallr, dieu énigmatique, 263.

6 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð The relation between ætt and óðal, people and properties is the axis around which the social order unfolds.¹

Das Eddalied Hyndluljóð (-hljóð)² ist eine der umfangreichsten poetischen Quellen zu Heimdallr, sofern man den göttlichen Protagonisten der Rígsþula nicht mit Heimdallr gleichsetzt. Das Lied kann in zwei Teile eingeteilt werden. Der erste Teil, der hier als „Rahmenerzählung“ bezeichnet werden soll, besteht ferner aus zwei Unterteilungen: a) einer Rahmenerzählung strictu sensu (Strophe 1–11 bzw. 45–50), die die Erzählebene des Lieds vorstellt, und b) einem genealogischen Teil (12–28), in dem die Riesin Hyndla die Ahnen des jungen Óttarr für einen Erbstreit mit Angantýr aufzählt. Der zweite Hauptteil ist ein eschatologischer Teil, die sogenannte Vǫluspá in skamma (29–44), eine Schilderung des Untergangs der alten Götter und der Ankunft eines neuen, „noch mächtigeren“ Gottes. Es ist die „skamma“, in der Heimdallr auftaucht, und zwar im Zentrum dieses Teils, wodurch er eine auch für das ganze Lied zentrale Stellung einnimmt. Die Strophen über Heimdallr (Hyndluljóð 35. 37  f. 43) wurden früher in dieser Arbeit einzeln interpretiert. Die übergreifende Frage war, was sie über Heimdalls Charakter aussagen könnten. Mit den Hyndluljóð eröffnet sich nun – in weit höherem Grade als z.  B. hinsichtlich der „Wissensdichtung“, die mythologische Motive nur als „alte Kunde“ aufzählt – eine weitere Möglichkeit, die Funktion des Gottes in einem gewissen Kontext, zunächst dem der Strophen, zu untersuchen und die Frage zu beantworten, zu welchem Zweck und in welcher Weise ein Dichter die Vorstellungen über Heimdallr nutzen konnte. In der Forschung etwa vor den 1970er Jahren fehlt dieser Ansatz, Heimdallr aus der Gesamtheit des Liedes heraus zu verstehen, fast völlig. Grund dafür dürfte nicht zuletzt die exzeptionelle Überlieferungssituation der Hyndluljóð sein. Das Lied in seiner Ganzheit ist nur in der Flateyjarbók Gks 1005, fol. (F)³, einer isländischen

1 Vestergaard, The system of kinship, 181. 2 Ich ziehe die seit der Kopenhagener Eddaausgabe (1787–1828) gewöhnlich als -ljóð emendierte Form vor F -hliod vor, was ja auch in anderen Liedertiteln Stütze findet (z.  B. R, Hárbarz ljóð). Die Belege des von Pipping (Eddastudier III, 38  f.) bevorzugten Substantivs hljóð deuten zunächst auf die Bedeutung ‚Zaubergesang‘ hin (so die Handschrift AM 748 II, 4o = Snorra-Edda II, 578, vom Gesang der Riesinnen des Gróttasǫngr, der wohl eindeutig als ein „Zauberlied“ zu betrachten ist; mehrere Beispiele in Edda, ed. von See III, 668. 864  f., zur Prosa des Gróttasǫngr, Z. 17  f.), was ja Hyndlas Rede nicht ist. Außerdem ist der Wert einer Schreibweise aus einer Handschrift des 15. Jahrhunderts nicht offenkundig. 3 Alle Papierhandschriften sind von F abhängig. Überliefert ist auch eine Strophe (Hyndluljóð 33) in der Snorra-Edda, dazu weiter unten.

Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð 

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Handschrift vom Ende des 14.  Jahrhunderts (1387–94), bewahrt und ist in der Forschung zumeist als eine späte, häufig sinnlose und oberflächliche Kompilation zweier ursprünglich selbständiger Lieder verstanden worden. Schon Sophus Bugge war der Meinung, dass die Strophen 29–44 (die „skamma“) ursprünglich keinen Zusammenhang mit den anderen Teilen des Liedes gehabt hätten: Her, hvor det gjælder at opregna Ottars Slægtinger og Forfædre, vm iofra attir […], for at Ottar kann faa den ham tillkommende Arv, kunde vel genealogiske Opregninger af Gudenavne […] og av Jotunnavne […] passe, men, saavidt jeg skjønner, ikke slægtrække for alskens Troldpak [..] og ligesaalidt Spaadomme om Ragnarok [..] og en endnu fjærnere Fremtid [..]. Det synes mig meningsløst, at Ottar skal gentage alt dette i Veddekampen med Anganty⁴.

Für die ältere Forschungslage ebenso treffend ist R. C. Boers Charakterisierung des Bearbeiters des Großgedichts als eines verständnislosen „Pfuscher[s]“⁵ oder Gustav Neckels Einschätzung der Rahmenerzählung als „eine[r] nichtige[n] fabel, die nur das lehrhafte gespräch motivieren soll“⁶, – eine Einschätzung, die heute in der Beschreibung der Frankfurter Edda-Ausgabe von Óttars Erbstreit als ein „Kunstgriff“, der nur dazu diene, „die verschiedenen Stoffe zu bündeln“⁷, wiederklingt. Dieser Auffassung ist, seitdem sie vorgelegt wurde, eine Mehrheit der Forscher gefolgt⁸ und sie wird noch in der neuesten mir bekannten Untersuchung zu den Hyndluljóð⁹ vertreten. Beigetragen dazu hat sicher eine Stelle der Gylfaginning. Während nämlich in F die Überschrift zu lesen ist: Her hefr vpp Hyndlu hliod qvedit vm Ottar heimska, schreibt Snorri in Gylfaginning 5, in der er Strophe 33 der Hyndluljóð zitiert: ok erv þaðan [nl. frá Ymi] komnar ættir hrimþvssa, sva sem segir iVꜹlvspa hiɴi skꜹmmv (U, ſem her ſegir)¹⁰. Vǫluspá in skamma sollte folglich noch zu Snorris Zeiten ein selbständiges Lied bezeichnet haben, denn – so das Argument – unter diesem Titel könne Snorri nicht die Hyndluljóð, die ja keineswegs eine „kurze Weissagung der Wala“ seien, verstanden haben. Ist das Argument richtig, hatte Heimdallr etwa vor 1225 keine Beziehung zur Rahmenerzählung, die erst nach Snorri – vielleicht erst im

4 Norrœn Fornkvæði, 158  f. (zu Hyndluljóð 29). – Vgl. Mogk, Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 603: Die Hyndluljóð bestünde aus zwei Liedern, „die inhaltlich nicht das geringste miteinander zu thun haben“. 5 Boer, Beiträge zur Eddakritik, 253. 6 Neckel, Beiträge zur Eddaforschung, 270. 7 Edda, ed. von See III, 680; vgl. Simek, Religion und Mythologie, 272. 8 Z. B. Edda, ed. Sijmons I, 177  f.: „Allgemein anerkannt“ sei, dass Strophe 30–45 zu einem selbständigen Gedicht gehörten. Ähnlich Edda, ed. Detter/Heinzel II, 633; Mogk, Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 603; Finnur Jónsson, Literaturhistorie I, 193–206; ders., Flateyjarbók, 145; Neckel, Beiträge zur Eddaforschung, 267; Edda, ed. Boer II, 347; Einar Ól. Sveinsson, Íslenzkar bókmenntir, 349. 351. Auf die Ausnahmen soll unten zurückgekommen werden. Siehe ferner zur Forschungsgeschichte Edda, ed. von See III, 669  ff. 9 Midttun, Hyndluljóð. 10 Gylfaginning 5, 13.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

Kontext der Flateyjarbók¹¹ – zur skamma hinzugedichtet worden wäre. Die Konsequenz wäre, dass die Rahmenerzählung – außer aus einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive¹² – für das Verständnis von Heimdallr ziemlich irrelevant wäre. Gleichzeitig könnten wir nicht wissen, wie die skamma vor ihrer vermeintlichen Aufnahme ins „Großgedicht“ aussah; z.  B. kann sie nicht so wie heute, unmittelbar mit dem Tod Baldrs, angefangen haben. Es gibt aber gute Gründe zu glauben, dass die Hyndluljóð nicht erst nach der Snorra-Edda, etwa im Kontext der Flateyjarbók aus zwei ursprünglich selbständigen Liedern kompiliert, sondern dass sie als eine sinnvolle Einheit gedichtet wurden. Das soll unten im 1.  Abschnitt argumentiert werden. In Abschnitt  2 soll das Thema der Rahmenerzählung expliziert werden, in Abschnitt  3 das mythologische Thema der skamma und Heimdalls Rolle in diesem Teil des Liedes. Schließlich soll in Abschnitt 4 das Lied als ein Ganzes, inklusive dem Zusammenhang zwischen Rahmen und skamma, interpretiert werden. Die Hypothese ist, dass die übergreifende Problematik der Hyndluljóð – in Übereinstimmung mit ihrem Inhalt – genealogisch ist. Heimdalls große Bedeutung im Lied beruht in erster Linie auf der entsprechenden Bedeutung des Gottes in einer genealogisch begründeten sozialen Ideologie.

6.1 Die Hyndluljóð als Quelle Im Gegensatz zur Auffassung der Hyndluljóð als eine „geistlose Kompilation“¹³, zu der die verschiedenen Aussagen der früheren Forschung verleiten könnten, stellen die überlieferten Hyndluljóð meiner Ansicht nach ein wohl integriertes Ganzes dar. So scheint die Rahmenerzählung den genealogischen Teil vorauszusetzen. Schon in Strophe 11 fordert Freyja, die göttliche Protagonistin des Liedes, die Riesin Hyndla auf, die Verwandten des Helden Óttarr aufzuzählen: huat er Skiolldunga, | huat er Skilfinga, | huat er Audlinga,¹⁴ | huat er Ylfinga, | huat er haulldborit, | huat er hersborit … Diese ehrwürdige Abstammung ist es dann, die im genealogischen Teil vermittelt wird¹⁵. Auch den eschatologischen Teil scheint die Rahmenerzählung zu berücksichtigen. Nicht nur das genealogische Thema beherrscht das ganze Lied einschließlich der skamma, auch die häufigste Stefzeile: Allt er þat ætt þín, | Óttarr heimski!

11 Ashman Rowe, The development of Flateyjarbók, 302. 12 Die Funktion der Hyndluljóð in Flateyjarbók – unabhängig von der Überlieferungsgeschichte des Lieds – ist zum Thema mehrerer neuerer Untersuchungen gemacht worden, z.  B. Zernack, Hyndlulioð (1999); Ashman Rowe, The development of Flateyjarbók (2005), besonders Kap. VII,4; Midttun, Hyndluljóð [Magisterarbeit] (2007). 13 „åndløs koompilasjon“ – so Midttuns Zusammenfassung der Ansichten der früheren Forschung (Hyndluljóð, 25). 14 Diese Kurzzeile fehlt in F. Sie wurde von Bugge nach dem Vorbild von Strophe 16 ergänzt. 15 Vgl. Klingenberg, Edda – Sammlung und Dichtung, 21.

Die Hyndluljóð als Quelle 

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hallt außer im Rahmen (Strophe 16  f. 20  f. 23  f. 26–28) auch in der ersten Strophe der skamma wider (Hyndluljóð 29,11  f.). In der Tat kann argumentiert werden, dass schon der Satz der 1. Strophe des Lieds: nu er rauckr rauckra ‚der Finsternisse Finsternis‘ (Z. 5), die „Götterdämmerung“¹⁶ des eschatologischen Teils ankündet. Und, als Freyja schon in den allerersten Zeilen die Riesin überraschend als ihre „Schwester“ (systir) begrüßt, besteht ein Zusammenhang mit der skamma, der nicht zufällig sein kann. Hier wird nämlich – wie später näher zu behandeln ist – gerade die Verwandtschaft der Götter mit den Riesen ausführlich thematisiert. Bestechend ist auch die 8. Strophe der Rahmenerzählung, in der Freyja zu Hyndla sagt, sie sollten vm iofra | ættir dæma, | gumna þeirra | er fra godum kuomu ‚von der Fürsten | Geschlechtern sprechen, | jenen Männern, | die von den Göttern stammen‘. Mit Strophe 29 der Hyndluljóð wird die Genealogie der Fürsten dementsprechend mit der Genealogie der Götter fortgesetzt¹⁷. Dies stellt außer Zweifel, dass wenigstens die letzte Hand der Hyndluljóð-Überlieferung das Lied als eine wohl integrierte Einheit aufgefasst hat. Wenn jedoch etwa die Religionshistorikerin Gro Steinsland¹⁸ mit ähnlichen Argumenten die ursprüngliche Einheitlichkeit des Großgedichts zu begründen versucht, beruht das, soweit ich ersehen kann, auf einem methodischen Fehlschluss, denn auch wenn das Lied in seiner überlieferten Form als integrierte Einheit erscheint, bedeutet das ja nicht, dass es als solche ursprünglich gedichtet wurde. Es ist durchaus möglich, dass die Andeutungen auf die skamma im übrigen Lied auf ein schon vorhandenes Gedicht, eine Nachbildung der Vǫluspá – die skamma – Bezug nahmen¹⁹. Für eine ursprüngliche Einheitlichkeit spricht dagegen, dass nicht nur der Dichter der skamma, sondern auch der Dichter der Rahmenerzählung mit einem der Vǫluspá ähnlichen Gedicht bekannt gewesen zu sein scheint. Die Abhängigkeit der skamma von der Vǫluspá ist augenfällig und gilt seit Snorri Sturlusons Betitelung in Gylfaginning 5 als gegeben²⁰. Aus der skamma, die ausschließlich aus einem Monolog besteht, geht aber nicht hervor, dass die sprechende Seherin eine Riesin ist. Das wird erst in der Rahmenerzählung deutlich, wie durch

16 Diese durch Richard Wagner verbreitete Bedeutung von „Ragnarök“ scheint in diesem Zusammenhang nicht ungeeignet. 17 Vgl. Steinsland, Det hellige bryllup, 249  f. 18 Ebd., 248  ff. 19 Ähnlich Midttun, Hyndluljóð, 29  f. 20 Vgl. etwa das in der skamma mehrmals wiederholte stef: vǫrumz at viti sua, | villtu enn leingra?, das dem stef der Vǫluspá: vituð ér enn, eða hvat?, ähnlich ist (vgl. Quinn, Dialogue with a vǫlva, 264), die teils inhaltliche, teils wörtliche Ähnlichkeit von Hyndluljóð 42 mit Vǫluspá 57, die zentrale Rolle von Baldrs Tod in beiden Gedichten (fehlt in Vǫluspá H) usw. Eine Beeinflussung in die andere Richtung ist, wegen des katalogartigen Charakters der Hyndluljóð, meines Wissens nie für eine erwägenswerte Alternative gehalten worden.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

die Bezeichnung von Hyndla in Strophe 4,6. 50,3 als brúðr jǫtuns²¹. Erst hier wird in Strophe 48,2 Hyndla ferner als íviðja bezeichnet²², ein seltenes Wort, das die Interpreten zwar auf verschiedene Weise gedeutet haben²³, das aber nur in der Bedeutung ‚Riesin‘ sicher belegt ist²⁴, einer Bedeutung, die sich etymologisch entweder durch altsächsisch inwid ‚Bosheit, Tücke‘, altenglisch inwidd, aisländisch íviðgjarn (Vǫlundarkviða 28,8) ‚bösartig, heimtückisch‘ usw.²⁵ oder durch Wörter wie aisländisch ílendr ‚inländisch‘, also í-viðr ‚der im Walde wohnt‘ (vgl. járnviðja ‚Riesin‘²⁶: von einer, die in Járnviðr haust²⁷) stützen lässt. Dieser in der Rahmenerzählung angedeutete Riesinnencharakter von Hyndla lässt sich interessanterweise mit der Wala der Vǫluspá vergleichen, die in ähnlicher Weise mit Riesen konnotiert ist. In Vǫluspá 2 bekundet die Wala: Ek man jǫtna ár um borna, þá er forðum mik fœdda hǫfðu [. . . . . .]. ‚Ich erinnere mich an Riesen, | geboren in der Urzeit, | die mich vormals | erzogen hatten | [...].‘

21 Vgl. ferner Hyndluljóð 1,4: Hyndla wohnt in einer Höhle; in Strophe 5: sie reitet auf einen Wolf, usw. 22 Hyndluljóð 48,1  f., Ek slæ elldi | of ividiu. Das Wort kann grammatisch nicht für den Gegenstand stehen, mit dem (of) Feuer geschlagen wurde (z.  B. einem ‚Wurzelzweig‘); siehe Edda, ed. von See III, 828  ff. 23 Unter anderem wird íviðja (im Kontext von Vǫluspá 2,6, íviði/íviðjur; zu den Formen, siehe unten) zum Präposition í ‚in‘ und viðr ‚Wald; Baum‘ geführt und als ‚Wurzelzweige (des Weltenbaumes)‘ gedeutet (í-, nl. ‚in‘ der Erde, was aber sehr gesucht scheint), so unter anderen B. M. Ólsen, Til Eddakvadene, 130  ff.; Schjødt, Nío man ec heima; Dronke, Eddic poetry, 667; Edda, ed. Dronke II, 31  f. 110. Verwandt damit ist die Deutung der íviðjur als Miniaturen des Weltenbaums; so Pipping (Eddastudier I, 47  ff.), der in den íviðjur neun ‚idegranar (idegransstänglar)‘ sah, die in schamanischen Riten die neun bzw. sieben Welten repräsentiert haben sollen. Die Wala deute also an, sie habe um des alten Wissens willen den Ritus durchgeführt und die neun Welten wie Óðinn am Weltenbaum entlang durchquert. – Meißner (Vǫluspá 2,5–8) wollte, in Anlehnung an Finnur Jónsson, die íviði ‚große Weiten‘ (mit verstärkendem í-) als Variation zu heima derselben Strophe deuten. – Kock (Ordforskning, 121–26), der aus altschwedisch inviþir, inviþur eine Bezeichnung für ‚all både livlös och levande egendom‘, das folglich die Wala kenne, herleitete, alternativ mit Hinweis auf altnordisch innviðir ‚Schiffsspanten‘ íviðjur als die ‚Grund- (Stütz-) Pfeiler der Welt‘ („världsgrundpelare“) deutete. Beide Alternativen sind fraglich (vgl. Nordal, Völuspá, 28). – Wenig ansprechend Ranke (Der Altersspruch der Seherin), der í viðr, also ‚neun Welten […], (alle) neun (wieder) im Walde, d. h. vom Wald verschlungen?‘, las, und Jakobsen (Til strofe 2,5–6), der mit Emendationen wie *nýviði ‚nye skoger‘, die nämlich die neun heima überwachsen hätten, arbeitete. 24 Trollkvenna heiti 3 (Skj. B I, 659); Forspallsljóð 1,5, elr íviþia ‚gebiert íviðja‘, was wohl auf die sonstigen mit Geburt verknüpften Aktivitäten der Riesinnen anspielt, vgl. Vǫluspá 40: Austr sat in aldna | í Járnviði [!] | ok fœddi þar | Fenris kindir. In der Aufrechnung mythologischer Wesen Forspallsljóð 1,5 fehlen nur die Riesen, weshalb íviðja = ‚Riesin‘ hier sehr wahrscheinlich ist. 25 Vgl. gotisch inwinds ‚verkehrt‘, inwindia ‚Ungerechtigkeit‘; althochdeutsch inwit(ti) ‚Betrug‘; wahrscheinlich mit altnordisch viðr ‚Weide‘ verwandt (IEW, 1120  ff.); vgl. AEW, s. v. „íviðja“. 26 Háleygjatal 3 (Skj. B I, 60); „trǫllkvenna heiti“ (Skj. B I, 659). 27 Vǫluspá 40, Austr sat in aldna | í Járnviði usw.

Die Hyndluljóð als Quelle 

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Diese Rieseneltern der Wala sind wohl dieselben, die in Z. 6 derselben Strophe auffallenderweise als neun íviðjur²⁸ bezeichnet werden. Möglicherweise hat die Abstammung der Seherin von den Riesen ihre Vorbilder in der sibyllinischen Dichtung²⁹; nach einigen Traditionen war die Sibylle, die antike Seherin, die Schwiegertochter Noahs, der seinerseits ein Nachfahre der Titanen sein soll³⁰. Alternativ hat das Motiv nur die Rolle, die Weisheit der Wala zu fundieren; die Riesen wurden ja wie bekannt als besonders weise gedacht. Die Erklärungsweisen schließen einander nicht aus. Zusammen mit dem Riesinnencharakter der beiden Walas macht es die in beiden Gedichten vorkommende seltsame Wortwahl íviðja wahrscheinlich, dass der Dichter der Rahmenerzählung der Hyndluljóð, wenn nicht mit der Vǫluspá, wie sie im Codex Regius der Älteren Edda überliefert ist, dann in jedem Fall mit einer Vǫluspá-Tradition bekannt war. In dieselbe Richtung deutet die Tatsache, dass das Großgedicht der Hyndluljóð – nicht aber ihre beiden Hauptteile an sich – der übergeordneten Erzählstruktur der Vǫluspá folgt. In beiden Gedichten wird ein weibliches Wesen von einer Gottheit (Freyja bzw. Óðinn) aufgesucht und über Vergangenes und Zukünftiges befragt; unwillig lässt sie sich darauf ein und lässt ihre Wahrsagung mit den letzten Dingen enden, bevor der Leser am Ende zum Rahmen zurückgeführt wird³¹. Der Dichter des Großgedichts muss also ein der Vǫluspá ähnliches Lied gekannt haben. Dies hat Konsequenzen für die communis opinio, die skamma würde mit der Rahmenerzählung des überlieferten Großgedichts ursprünglich nicht zusammengehört haben. Dass die skamma auch ursprünglich einen Rahmen gehabt hat, kann wohl als sicher gelten; wie bekannt fordert ja die Gattung der eddischen „Wissensdichtung“ – wozu wohl auch die katalogartigen Strophen der Vǫluspá in skamma gerechnet werden können – einen Rahmen, der die Sprechenden in einer Handlung situiert, bevor sie den Wissensstoff vorführen³². Nach der Kompilationstheorie sei dieser Rahmen in den überlieferten Hyndluljóð durch einen neuen ersetzt worden. Im Licht der Anklänge an die Vǫluspá, die im Inhalt und Struktur der ganzen Hyndluljóð einschließlich der Rahmenerzählung vorzufinden sind, wird diese Auffassung problematisch. Die Annahme, der Bearbeiter des Großgedichts habe ein schon auf die Vǫluspá zurückgehendes Lied (die skamma) verwendet, dann selber wiederum die „richtige“ Vǫluspá als Vorlage seines neuen Rahmens dieses Liedes genommen,

28 Die bei S. Bugge (Norrœn Fornkvæði, zur Stelle) angeführte Form R iviþi hat sich später durch Untersuchungen mit ultraviolettem Licht, wobei ein Abkürzungszeichen für die Pluralendung -ur sichtbar wurde, als identisch mit der Lesart von H herausgestellt; siehe Stéfan Karlsson/Sverrir Tómasson, Íviðjur. B. M. Ólsen (Til Eddakvadene, 132  f.) meinte schon 1914 ein solches Abkürzungszeichen sehen zu können. 29 Siehe oben zur Vǫluspá als Quelle, Kap. 5.1. 30 E. H. Meyer, Völuspa, 13  f. mit Hinweisen; Bang, Vøluspaa, 8  f. (Vǫluspá 2 heranziehend). 31 Vgl. Quinn, Dialogue with a vǫlva, 264. 32 Vgl. z.  B. von See, Die Gestalt der Hávamál, 4.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

scheint jedenfalls gekünstelt. Ebenso wenig plausibel wäre, dass der Dichter der Rahmenerzählung der Hyndluljóð zuerst einen der Vǫluspá ähnlichen Rahmen weggelassen haben soll, auf diesem dann aber wieder seinen neuen Rahmen teilweise begründet hat. Wenn die grundlegende Struktur der Rahmenerzählung schon in den „Ur-Hyndluljóð“ existierte und mit der überlieferten skamma zusammenhieng, scheint die Annahme einer Weglassung des ursprünglichen Inhalts des Rahmens sich nur auf die vorgefaßte Meinung einer inhaltlichen Diskrepanz zwischen Rahmen und skamma zu gründen. Eher muss die natürlichste Erklärung sein, dass der Dichter der Rahmenerzählung als Erster auch die genealogisch geprägte skamma als Teil seines genealogischen Großgedichts von Óttarr heimski nach dem Vorbild der Vǫluspá dichtete. Wenn nicht von Haus aus davon ausgegangen wird, dass der Zusammenhang zwischen skamma und Rahmen schwach oder gezwungen ist, dass der rote Faden fehlt usw., gibt es folglich nichts, das dagegen spricht, die Vorformen der ganzen überlieferten Hyndluljóð in die Zeit vor der Snorra-Edda zu datieren. Dass Snorri wenigstens mit einem großen Teil des Inhalts der überlieferten skamma bekannt war, geht aus Angaben in der Gylfaginning hervor, die er aus den Hyndluljóð geholt haben muss. Sie sind sonst nirgendwo belegt. Zu diesen gehört die Angabe, dass Loki mit einer Riesin den Wolf zeugte, Gylfaginning 19 (≈ Hyndluljóð 40), oder dass Aurbóða die Mutter der Gerðr ist, Gylfaginning 23 (≈ Hyndluljóð 30)³³. Möglicherweise gibt es auch Informationen, die andeuten, dass Snorri auch die Rahmenerzählung als Quelle verwendet hat³⁴. Dass er die Hyndluljóð mit dem Titel Vǫluspá in skamma bezeichnet hat, ist kein Widerspruch zu der Annahme, dass schon zu seiner Zeit der Rahmen zur skamma gehört hat. Teile von Gedichten, die inhaltlich oder stilistisch abweichend sind, konnten in der Handschriftentradition mit einem eigenen Namen bezeichnet werden: so die Teile der Hávamál, die die Papierhandschriften in 111–37 Loddfáfnismál und 138  ff. Rúnatalsþáttr Óðins oder Rúnaþáttr Óðins³⁵ unterteilen. Es ist folglich durchaus möglich, dass Vǫluspá in skamma für Snorri nur einen Teil einer früheren

33 Siehe dazu Edda von See III, 687. 34 Vgl. die mythische Erzählung in Snorris Skáldskaparmál (Kap. 81, fehlt in W; vgl. auch Ættartala frá Hǫð, Flateyjarbók I, 24  ff.; da aber die Flateyjarbók die Hyndluljóð enthält, dürfte die vielleicht vom Schreiber Magnús Þórhallsson kompilierte Ættartala eine Nachbildung der Hyndluljóð sein) vom Hyndluljóð 14  f., also dem im Rahmen erwähnten Hálfdan, der achtzehn Söhne gehabt habe, die die heroi eponymoi der Niflungar, Ǫðlingar, Ynglingar und anderen Fürstengeschlechter wurden. Auch laut Hyndluljóð 15  f. seien Hálfdans achtzehn Söhne die Stammväter unter anderem der Ǫðlingar und Ynglingar. Beide Texte erwähnen im Kontext auch einen Sigtryggr, der von Hálfdan getötet worden sei. Die Übereinstimmungen können zwar gemeinsame Tradition sein; da der Grund für die Annahme einer Kompilation zweier ursprünglich selbständiger Lieder wegfällt, kann er die Information aber ebenso gut aus der Rahmenerzählung der Hyndluljóð geholt haben. 35 Der letztere Teil wird in R auch durch großes Initial des beginnenden Uęıt als neuer Anfang bezeichnet. Siehe R, S. 12, mit Lichtdruckabbildung.

Die Hyndluljóð als Quelle 

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Version des Großgedichts der Hyndluljóð bezeichnet hat. Eine andere Möglichkeit ist, dass Vǫluspá in skamma ein alternativer Titel dieses Großgedichts war³⁶. Bekanntlich konnte ein Lied in schriftlicher Zeit unter vielen Namen auftauchen³⁷. Dass Vǫluspá in skamma dabei ein besonders kurzes Lied bezeichnen muss, ist keineswegs sicher: Sigurðarkviða „in skamma“ ist 71 Strophen lang, was vielleicht aber kürzer war als die nicht mehr in ihrer Ganzheit bewahrte Sigurðarkviða, – in ähnlicher Weise wie noch das ganze Seherinnengedicht der Hyndluljóð (50 Strophen) kürzer ist als das „lange“ Seherinnengedicht der Vǫluspá (65/66 Strophen)³⁸. Dafür, der seit Bugge eingebürgerten Kompilationstheorie auch weiter zu folgen, gibt es daher keinen Grund. In der folgenden Untersuchung soll die skamma deshalb als ursprünglicher Teil des Großgedichts der Hyndluljóð betrachtet werden. Der Terminus post quem dieses Gedichtes ergibt sich durch die Abhängigkeit der Hyndluljóð von der Vǫluspá³⁹, die wahrscheinlich in einem christlichen, aber über die heidnische Mythologie noch gut informierten Milieu um die Jahrtausendwende entstand⁴⁰. Dies stimmt unter anderem mit der Zwölfzahl der Götter in Hyndluljóð 29 überein, die wohl eher auf das systematisierende Denken der christlichen Zeit als auf die Religion der Wikingerzeit verweist⁴¹. Die – noch lange nicht endgültigen – Ergebnisse jener Forscher, die versucht haben, die Hyndluljóð (bzw. ihre Teile) zwischen diesen Termini zeitlich enger zu bestimmen, sind unsicher⁴². Ich kann sie nicht weiter begründen. Für die Interpreta-

36 Ähnlich Schneider, Eine Uredda, 30. Auf Metaebene werde ich aber auch weiterhin die Bezeichnung „skamma“ traditionell für die Strophen 29–44 verwenden. 37 Vgl. Edda, ed. Neckel/Kuhn, 96: R, Locasenna; Papierhandschriften, Ægisdrecca, Locaglepsa. 38 Quinn, Dialogue with a vǫlva, 264. 39 Dagegen brauchen die Hyndluljóð nicht von der besonderen Version der Vǫluspá, die in der Hauksbók überliefert ist, abhängig zu sein (siehe das Argument in Edda, ed. von See III, 684. 689. 818. 820). Diese Auffassung basiert auf der Ähnlichkeit von Hyndluljóð 44 mit Vǫluspá H 58. Auf diese beiden Strophen ist später zurückzukommen. 40 Siehe oben, Kap. 5.1. 41 Vgl. Finnur Jónsson, Literaturhistorie I, 205; Klingenberg, Edda – Sammlung und Dichtung, 36. 42 Die Argumente gehen unter anderem die literaturgeschichtliche Standortbestimmung an, bei der es häufig aber unmöglich ist, festzulegen, welcher Text der gebende Teil ist (so die Annahme Adolf Noreens (Studier i fornvästnordisk diktning I 1, 57  ff.), Hyndluljóð 1  f. wären die Quelle für Eyvindr skáldaspillis Hákonarmál (um 961), die wie die Hyndluljóð eine Walhallsfahrt beschreiben würden; dasselbe gilt möglichen Nachklängen in anderen Eddaliedern, z.  B. Hyndluljóð 1 : Grógaldr 1 und den thematisch verwandten Baldrs draumar). – Wenig überzeugend sind auch die vielen Versuche, die Stammtafel etwa des historischen Óttarr zu rekonstruieren; vgl. z.  B. Gering, Óttarr heimski (Gering dachte zunächst an den Emporkömmling und Namensvetter Óttars, Óttarr birtingr); ferner die Stammbäume in Edda, ed. Boer I, 353 und dens., Beiträge zur Eddakritik, 227–36; Finnur Jónsson, Literaturhistorie I, 203; Simek/Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, 186a. – Inhaltliche Argumente führte z.  B. Finnur Jónsson (Literaturhistorie I, 203) an, der die Rahmenerzählung, wegen ihres „tief heidnischen“ Inhalts, auf das spätere 10. Jahrhundert datierte; den letzteren, mythologischen Teil betrachtete er hingegen als das Produkt des historisch-bewahrenden Interesses des

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

tion des Liedes als Gesamtheit gilt grundsätzlich, dass wir nur von der in der Flateyjarbók überlieferten Form ausgehen können. Wie genau die Vorformen, etwa jene vor der Snorra-Edda, aussahen, liegt außerhalb unseres Wissens. Nach der obenstehenden Diskussion kann nur als verhältnismäßig sicher gelten, dass die Grundstruktur der einheitlich komponierten Hyndluljóð auf lebendige mythologische Vorstellungen des 11. Jahrhunderts zurückgehen kann, dass diese aber im überlieferten Lied möglicherweise aus einem christlichen Deutungsrahmen heraus verwendet worden sind. Dagegen glaube ich nicht, dass die Handschrift der Flateyjarbók der einzige sinnvolle Verständnisrahmen des überlieferten Liedes ist. Dass die Hyndluljóð inhaltlich umgestaltet werden mussten, um den Zwecken der Handschrift zu genügen, scheint mir jedenfalls zweifelhaft, und das schon wegen der größeren Treue, die der namentlich bekannte Schreiber der beiden Blätter, auf denen die Hyndluljóð in der Flateyjarbók überliefert sind – Magnús Þórhallsson⁴³ –, im Vergleich zum anderen Schreiber, Jón Þórðarson, gegenüber seinen Vorlagen zeigte⁴⁴. Vergleicht man den Text mit Strophen aus anderen Zusammenhängen der Handschrift, so scheinen Unterschiede gegenüber den Vorlagen zunächst auf Missverständnisse der Schreiber zurückzuführen zu sein⁴⁵. Freilich muss eine andere Deutung des Liedes vonseiten der Rezipienten des ausgehenden 14. Jahrhunderts als in der Überlieferungsperiode vor der SnorraEdda um 1225 eine Selbstverständlichkeit sein, es gibt aber keinen Grund zu glauben, dass Magnús für den neuen Kontext das Lied von neuem dichten musste. Dass die reichhaltigen Namenlisten der Hyndluljóð der auch in Prosatexten der Flateyjarbók vorzufindenden Vorfahren des Auftraggebers des Werkes, Jón Hákonarsons, hier in einem auf altüberlieferten Traditionen aufgebauten Gedicht enthalten waren, dürfte

12. Jahrhunderts. Jan de Vries (Altnordische Literaturgeschichte II, 127  f.) sah seinerseits das mythologische Gewand des Lieds als „fadenscheinig“ an, hielt es auf der anderen Seite aber für möglich, dass der Dichter „Reste älterer Lieder“ gekannt habe, weil er (in der Rahmenerzählung) unter anderem so lebendig von Opfern zu erzählen wisse. 43 Würth, Flateyjarbók, 171. 44 Vgl. das Urteil Finnur Jónssons in seiner Untersuchung zur „Flateyjarbók“, 145. Aufgrund der Übereinstimmungen von Magnúss Texten mit früheren Varianten sei es unmöglich, sich ein Bild über den Schreiber als Autor zu machen; „der er kun tale om et samlerarbejde […]. Det allermeste er kun afskrifter“ (ebd., 149; ihm folgend Zernack, Hyndluljóð, 94). – Finnurs Urteil über Hákonar saga gamla (Finnur, ebd., 182) ist später beanstandet worden (siehe Ashman Rowe, The development of Flateyjarbók, 236  ff.; es gilt lediglich für von Finnur nicht beobachtete Weglassungen, zumeist von redundanten Phrasen, aber manchmal auch von Sätzen, deren Fehlen den Inhalt verändert); auch gibt es einige Abweichungen in Sverris saga, die von Magnús stammen könnten (ebd., besonders S. 211–30; Finnur kannte diese Abweichungen, meinte aber, dass sie von Styrmir herrühren, von dem Magnús im Prolog zu Sverris saga (Flateyjarbók, 533) sagt, er habe das Buch nach der Vorlage Karl Jónssons geschrieben, enn þessa Suerris sogu ritadi þar eftir þeirri bok Magnus prestr þorhallzsun; vgl. Finnur, ebd., 181). 45 Vgl. das Vorwort Guðbrandur Vigfússons und C. R. Ungers, Flateyjarbók III, XVIII  f.

Die Rahmenerzählung 

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für Magnús – wie auch Elizabeth Ashman Rowe in ihrer Flateyjarbók-Untersuchung⁴⁶ behauptet – den ausschlaggebenden Anstoß dafür gegeben haben, das Lied in die Flateyjarbók aufzunehmen. Das heißt freilich nicht, dass nicht auch das übergreifende Thema des Liedes für Magnúss Werk geeignet war; dieses Thema dürfte aber schon zu den Vorformen des Liedes gehört haben und sollte nicht auf redaktionellen Eingriffen im Text der Flateyjarbók beruhen.

6.2 Die Rahmenerzählung 6.2.1 Nacherzählung und Forschungsübersicht Die Frage, worüber die in den Flateyjarbók überlieferten Hyndluljóð eigentlich „handeln“, ist wegen der oben behandelten Kompilationstheorie und der ihr folgenden Abwertung der Großform des Liedes in der Forschung vor dem Ende des 20. Jahrhunderts selten behandelt worden. Seitdem sind aber mehrere Theorien vorgelegt worden, die das Lied als Gesamtheit⁴⁷ – sei es auch ein aus verschiedenen Bestandteilen kompiliertes Ganzes⁴⁸, das sich daraus ergibt – interpretiert haben. Um ihren Erklärungswert besser beurteilen zu können, scheint es angemessen, zuerst eine kurze Angabe des Inhalts des Gedichts, das sie behandeln, vorzulegen. Die Handlung der Rahmenerzählung (Strophe 1–11. 45–50) beginnt dramatisch. Die Göttin Freyja reitet zur Riesin Hyndla, um sie in ihrer Höhle zu wecken und – wie sie vorgibt – „auf dem Walpfade“ (i valsinne) nach Walhall zu führen: „Nacht ist’s der Nächte: | nun laß uns reiten | zum heiligen Weihtum | nach Walhall hin!“⁴⁹. Die Riesin will aber ihr „edles Ross“, den Wolf, auf dieser Fahrt nicht belasten: Freyja ist aus Hinterlist gekommen, und Hyndla durchschaut es: das Reittier der Göttin soll in Wirklichkeit ihr Schützling, der junge Óttarr, sein; „das ist dein Mann, den du mit dir hast“, behauptet Hyndla. Diesen „doppelten Vorwurf“ – so Boer⁵⁰ – weist Freyja ab: Zum Ersten sei ihr Reittier nicht Óttarr (Strophe 7), zum Zweiten sei sie nicht in ein unziemliches Verhältnis mit ihm verwickelt. Zwar sei sie verpflichtet, ihm in einer Auseinandersetzung mit Angantýr beizustehen (9), aber nur deshalb, weil er „Asinnen stets verehrte“ (æ trvdi Ottar | a asyniur, 10,7  f.). Anstatt der Walhallreise

46 Ashman Rowe, The development of Flateyjarbók, 304. Ähnlich schon Finnur Jónsson, Flateyjarbók (1927), 145. Vgl. auch die Kritik Ashman Rowes (ebd., 303  ff.) gegen Zernacks kontextuelle Interpretation der „apokalyptischen“ Strophe 44 (in Zernack, Hyndluljóð). 47 Z. B. Steinsland, Det hellige bryllup (1991). 48 So Klingenberg, Edda – Sammlung und Dichtung (1974). 49 So die wohlklingende Übersetzung in Edda, ed. Genzmer, 142, von Hyndluljóð 1,5  ff.: nu er rauckr rauckra, | rida vit skulum | til Valhallar | ok til vess heilags. 50 Beiträge zur Eddakritik, 219.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

schlägt sie nun einen Wortstreit (senna)⁵¹ mit der Riesin vor. „Wohlan denn“⁵², meint Freyja in Strophe 8: Sennum vit or sodlum, sitia vit skulum ok vm iofra ættir dæma, gumna þeirra er fra godum kuomu. ‚Streiten wir uns von den Sätteln aus! | Sitzen sollen wir beide| und über der Fürsten | Geschlechter reden, | der Männer, | die von den Göttern abstammen‘⁵³.

Und weiter, in Strophe 11: Nu lttu forna nidia talda ok vpp bornar ættir manna: huat er Skiolldunga, huat er Skilfinga, huat er Audlinga,⁵⁴ huat er Ylfinga, huat er haulldborit, huat er hersborit, mest manna val vnd Midgardi? ‚Lass du jetzt die alten | Verwandten aufgezählt [sein] | und vorgetragen | die Geschlechter der Menschen; | wer ist den Skjǫldungar, | wer ist den Skilfingar, | wer ist den Ǫðlingar, | wer ist den Ylfingar [entstammt], | wer ist den Odalsbauern geboren, | wer ist den Hersen geboren, | die beste Auswahl der Männer | in Midgard‘⁵⁵.

Nach dieser Strophe beginnt dann die lange Rede der Hyndla – der Hauptteil des Gedichtes –, in der sie die edlen Geschlechter von Óttars Sippe bis zu den sagenhaften Helden und Königen aufzählt. Auf den rein genealogischen Teil dieser Rede (Strophe 12–28) folgt dann der eschatologische (29–44), der sich von einer noch weiter zurückliegenden Urzeit, in die der Ursprung der Riesen, die Geburt eines unbenannten Gottes und der Tod Baldrs verlegt werden, den Jüngsten Zeiten zuwendet: dem Untergang der Götter und selbst zu der teils in Nebel gehüllten Zeit, nachdem Óðinn „dem Wolf begegnet“ ist, Strophe 44. Erst in Strophe 45 kehren wir zur Rahmenerzählung zurück:

51 Das Verb, auch ‚mit j-m streiten‘ usw., deutet die Aufforderung zu einem Wissensstreit an, vgl. Hymiskviða 28, Oc enn iotvnn | vm afrendi | þragirni vanr | viþ Þór senti (‚Und noch stritt der Riese, gewohnt zu trotzen, mit Þórr um der Arme Kraft‘). Freyjas Teil daran bleibt aber aus, als Hyndla hochmütig ihr Wissen in einen langen Monolog münden lässt. 52 So Mogks etwas freiere Übersetzung (Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 604). Kein Wort im altisländischen Text entspricht freilich dem deutschen Ausdruck. 53 Übersetzung Edda, ed. von See III, 717. 54 Diese Halbstrophe hat Bugge in Norrœn Fornkvæði ergänzt. 55 Übersetzung ebd., 723. Die Hakenparenthese rührt vom Übersetzer her. Z. 12 vnd Midgardi wird in der Übersetzung inhaltlich ganz korrekt mit „im Schutze von Midgard“ (einem mythologischen Zaun) übersetzt, was aber ‚in Midgard‘ bedeutet.

Die Rahmenerzählung 

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Ber þu minnis aul minum gelti⁵⁶, sua hann aull mune ord at tina þersar rædu  þridia morni, þa er þeir Angantyr ættir rekia⁵⁷, ‚Trag du gedächtnisstärkendes Bier | meinem Eber [auf], | damit er alle Worte berichte, | diese Rede, | am dritten Morgen, | wenn er und Angantýr | die Geschlechter aufrechnen‘⁵⁸,

hebt Freyja an. Hyndla antwortet mit riesischer Wut, beschimpft die Göttin und bittet sie, schleunigst wegzufahren (Strophe 46  ff.). Denn Freyjas in Strophe 45 enthüllter Zweck, Óttarr das genealogische Wissen beizubringen, das er brauchen wird, wenn er in drei Tagen mit Angantýr „die Ahnen aufzählen“ soll, ist mit der Vollendung der Genealogie erfüllt, und zwar, ohne dass sie mit einem einzigen Wort ausdrücklich die Bitte an Hyndla gerichtet hat, gerade Óttars Abstammung aufzuzählen⁵⁹. Aber wusste Hyndla nicht, was sie tat? Sie hat ja, trotz Freyjas Beteuerung, ihre Absichten gelten nicht dem Óttarr, gerade mit Óttars Ahnen ihre genealogische Aufreihung begonnen und sich zudem direkt an den getarnten Óttarr gewendet⁶⁰! Der plötzliche Zorn der Hyndla lässt sich nur dadurch erklären, dass die Riesin die Aufzählung der Ahnen, zu der sie durch Freyja verlockt wird, nicht vor Strophe 45 mit der jedoch schon früher, in Strophe 9 erwähnten Auseinandersetzung zwischen Óttarr und Angantýr in Verbindung setzt. Sie meint im Gegenteil, Freyja aus doppelten Gründen zu übertrumpfen, 1. wegen ihres (wie sie glaubt) unerwartet großen genealogischen Wissens und 2. dadurch, dass sie durch ihre Rede klar macht, dass sie Freyjas Lüge, sie hätte nicht den Óttarr mit sich, entblößt hat. In Wirklichkeit aber ist es die Göttin, die die Riesin übertrumpft. Bereits Strophe 9 gibt demnach den Zweck der Genealogie an, aber nur teilweise: Freyjas Besuch bei der Riesin gilt einer fǫðurleifð, einem ‚väterlichen Erbe‘, das Óttarr gegen Angantýr zu verteidigen hat:

56 Bugge (Norrœn Fornkvæði, zur Stelle) emendiert zu gesti; in dem Zusammenhang ist aber gelti passend. 57 rekia: Handschrift reikna. Auch dieses Wort ist in Beziehung auf Genealogien belegt, siehe Edda, ed. von See III, 822, und kann – wenn auch sonst nur spät bezeugt – nicht unbedingt als „falsch“ betrachtet werden. Obwohl die für diesen Fall in Frage kommende Bedeutung ‚rechnen, berechnen‘ ungefähr dem Ausdruck 11,1  f.: forna nidia talda, ziemlich gleichkommen würde, scheint das im Unterschied zu diesem Ausdruck wohl ausschließlich in alltäglicheren Kontexten belegte Verbum (siehe IED, s.  v.) dem feierlichen ‚Darlegen‘ der Genealogie, was eben die Bedeutung etwa von rekja ist, wenig angemessen. 58 Übersetzung Edda, ed. von See III, 720. Die Hakenparenthese rührt vom Übersetzer her. 59 Ich folge hier der meines Erachtens sinnvollen Auslegung von Boer, Beiträge zur Eddakritik, 217– 27; ähnlich aber schon Edda II, ed. Detter/Heinzel, zu Hyndluljóð 8,1. 2: „Dabei rechnet Freyja – wie Thor in Alvíssmál – auf die Eitelkeit der Gegnerin“. 60 Þu ert, Ottar! | borinn Innsteini, Strophe 12,1  f.; vgl. auch das stef: allt er þat ætt þin, | Ottar heimski!

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

Þeir hafa vediat Vala mlmi Ottar ungi ok Angantyr; skyllt er at veita, sua at skati enn vngi faudurleifd hafui eftir frændr sina. ‚Sie haben gewettet | um welsches Metall⁶¹, | der junge Óttarr | und Angantýr; | dringend ist zu helfen, | damit der junge Mann⁶² | [den] väterlichen Erbteil erhält | nach dem Tod seiner Verwandten‘⁶³.

Erst Strophe 45 macht auch der Riesin klar, dass er dazu ein tiefreichendes Wissen über seine Ahnen nötig hat. Soweit scheint alles klar. Hier beginnen aber die Auseinandersetzungen der Forscher: mit der Frage also, wie dieses Thema des Erbstreits genauer zu verstehen, und besonders: wie die Rahmenerzählung in Beziehung zum eschatologischen Teil zu setzen ist. Wenn der eschatologische Teil in einem sinnvollen Verhältnis zur Rahmenerzählung steht, haben sich den Forschern in erster Linie zwei Alternativen zum Verständnis des Zusammenhanges zwischen ihnen angeboten: Entweder hat sowohl das mythologische als auch das rein genealogische Wissen eine Bedeutung für Óttars Erfolg im Erbstreit (1) oder aber es wird der Erbstreit ins Licht der genealogisch eingekleideten Mythologie gestellt (2). 1. Jene Untersuchungen, die auch den eschatologischen Teil als für Óttars Erbschaftsstreit erforderliches Wissen interpretieren, geraten deshalb notwendigerweise aufs Glatteis, weil sie mit unbelegbaren Vermutungen über vorchristliche Institutionen arbeiten, die sie dann wiederum in den Hyndluljóð wiederfinden wollen. Auf solchen unsicheren Voraussetzungen baut teilweise die im Jahr 1995 von Britt-Mari Näsström⁶⁴ erneut aufgegriffene Hypothese Heinz Klingenbergs⁶⁵ auf, die Eschatologie der skamma sei im Großgedicht der Hyndluljóð zusammen mit den Genealogien Teil eines „Geheimwissens“⁶⁶, durch dessen Mitteilung in Walhall Óttarr zum Krieger

61 D. h. ‚Gold‘. Der Ausdruck kommt mit derselben Bedeutung auch in einer Strophe der Gautreks saga (Víkarsbálkr 16 = Skj. B II, 347) vor. Viel früher datiert ist aber die Runeninschrift des Goldbrakteaten von Tjurkö, Schweden, 6. Jahrhundert (Danmarks Runeindskrifter, Brakteat 75): wurte runor an walhakurne heldar kunimudiu, ‚Es machte die Runen auf dem fremden (wörtlich ‚welschen‘) Korn Heldaʀ für Kunimunduʀ‘, wo das Material, worauf die Inschrift geritzt ist, die exakte Bedeutung des Ausdrucks mit aller Deutlichkeit bestätigt. 62 Die Frankfurter Edda-Ausgabe übersetzt zur Stelle mit ‚Krieger‘. skati kann auch ‚Mann; Häuptling‘ bedeuten (siehe Frz. und Lex. poet., s. v.). Weil die Identifizierung Óttars als Krieger oder Häuptling für die Interpretation des Gedichts Folgen haben kann, wähle ich hier das neutrale ‚Mann‘. 63 Übersetzung Edda, ed. von See III, 718. Die Hakenparenthese rührt vom Übersetzer her. 64 Freyja, 151–77. 65 Klingenberg, Edda – Sammlung und Dichtung, § 1  f (1974). 66 „secret knowledge“. Näsström, Freyja, 161. 165.

Die Rahmenerzählung 

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initiiert werden sollte. Die Anhaltspunkte dieser Deutung sind aber schon textimmanent schwach. Eine Einweihung im profanen Sinn einer ‚Einsetzung‘ des Óttarr in genealogisches Wissen sind die Hyndluljóð gewiss, dagegen enthält der Rahmen kein Initiationsritual. Dass z.  B. Óðinn dem Óttarr eine Brünne als Insignium gibt⁶⁷, ist nicht richtig; die Gaben, die Óðinn in Strophe 2  f. aufgetragen werden, Dichtern und anderen zu geben – darunter auch Gold, Beredsamkeit, Verstand, Fahrtwinde und Dichtkunst –, stehen im Text in direktem Zusammenhang mit Óðins (und Þórs) Wohlwollen⁶⁸, das Freyja der Riesin versichert, um sie mit auf die Fahrt nach Asgard locken zu können. Óttarr hat in diesem Kontext noch nichts zu tun und die Brünne wird nicht besonders hervorgehoben. Dass eine Reise zu den Toten (Walhall) etwa zum Typus des Initiationsrituals gehört⁶⁹, kann sein; in den Hyndluljóð ist das Vorbild von Óttars Besuch bei der Riesin (vielleicht í valsinni ‚auf dem Pfad der Toten‘, 6,6. 7,4⁷⁰) jedoch nicht ein uraltes Initiationsritual, sondern das in der Eddadichtung häufige Motiv eines Besuchs einer Gottheit bei einem Riesenwesen oder einem Toten, um Wissen einzuholen oder darüber zu sprechen. Aus der Fahrt nach Walhall (Strophe 1) wird ja übrigens nichts⁷¹. Letzteres geht am deutlichsten aus dem Ende des Gedichts hervor, als die Riesin ihren Wunsch zu schlafen ausdrückt und Freyja ermahnt: Snudu braut hedan usw. (Strophe 46). Dann droht Freyja, einen Ring aus Feuer um die Riesin zu schlagen, sua at þu eigi kemz | ꜳ braut hedan, 48,3  f., – alles natürlich völlig sinnlos, wenn die Protagonisten sich nicht noch in oder vor der Höhle der Riesin befänden⁷². Auch Klingenberg⁷³ sah das ein; mit seiner Alternative, den Vortrag Hyndlas als eine „Seelenreise“ des Óttarr zu interpretieren⁷⁴, kommt man aber nicht weit. Die Behauptung, der Rahmen würde von einem Initiationsritual handeln, scheint mir demnach wenig überzeugend⁷⁵. Vor allem aber lässt sich die obenstehende Deutung schwerlich

67 Ebd., 161. 68 Vgl. Strophe 2,1  f.: Bidium Heriafaudur | i hugum sitia; | hann gelldr ok gefr ‚Bitten wir Hejafǫðr (d. h. Óðinn) wohlwollend zu sein; er gibt Gold‘ usw. 69 Vgl. Näsström, Freyja, 162  f. 70 Alternativ bezieht sich der Ausdruck auf die geplante Fahrt nach Walhall und ist mit goðveg 5,5 synonym. 71 Siehe oben und Boer, Beiträge zur Eddakritik, 221; vgl. auch Mogk, Geschichte der norwegischisländischen Literatur, 604, und neuerdings Midttun, Hyndluljóð, 7  f. 72 Boer, ebd., Anm. 1. 73 Edda – Sammlung und Dichtung, 25. 142, Anm. 30. 74 Ebd., § 2. 75 Auch Klingenbergs Annahme (ebd., 27. 29), Strophe 50 solle einen (Kult-?) Trank in Walhall andeuten, ist abzulehnen. Die dyrar veigar, von denen Freyja in Strophe 50 wünscht, dass Óttarr sie trinken soll, sind derselbe Trank, den die Riesin in Strophe 49 vergiftet sehen will und den Freyja in Strophe 45 als minnisǫl identifiziert, also einen magischen Trank, der nur den Zweck hat, Óttars „Gedächtnis“ (minni) zu helfen, und der nichts mit Walhall und Initiationsriten zu tun hat.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

mit dem Thema des Erbschaftsstreits Óttars vereinen⁷⁶, – einem Streit, der jedoch das ausdrückliche Hauptthema des Liedes darstellen soll⁷⁷. Besser gestützt war Jere Flecks Auffassung, dass die genealogischen und mythologischen Informationen der Hyndluljóð das Anrecht des jüngsten Sohnes (Óttarr) gegenüber einem älteren (Angantýr) auf den Thron begründen würden⁷⁸. Auf genealogisches Wissen und das Königtum als Deutungsrahmen werden wir Gelegenheit haben, unten zurückzukommen. Zur angeblichen Bedeutung des mythologischen Wissens auf der Erzählebene des Gedichtes kann aber eingewendet werden, dass Freyja ja nie ausdrücklich verlangt, von Hyndla die eschatologischen Teile der skamma zu hören zu bekommen. 2. Der zweiten Erklärungsweise folgte der sowjetische⁷⁹ Forscher Aron Ya. Gurevič⁸⁰. Seine Interpretation hatte den unleugbaren Vorteil, dass sie auf Institutionen zurückgegriffen hat, für die die Bedeutung von genealogischem Wissen in der nordgermanischen Gesellschaft belegbar ist. Gurevič meinte, Óttars „Vatererbe“ sei sein Stammgut (patrimonium). Die ersten fünf männlichen Generationen Óttars seien nämlich, im Unterschied zu den meisten Verwandtschaftsbeziehungen der Hyndluljóð, klar gezeichnet, eine Beobachtung, die dadurch bedeutungsvoll wird, dass nach den norwegischen Gulaþingslǫg gerade fünf Generationen von Grundstückbesitzern gefordert wurden, um bei Odalseinlösung die Stammgutseigenschaft des Grundstücks behaupten zu können⁸¹. Mit Hyndlas Kundgebung dieser Generationen sei Óttars Ziel also eigentlich erreicht: Mit ihrer Hilfe würde er nun das Eigentumsrecht an seinem angestammten Odalhof – seinem „Vatererbe“ – gegen Angantýs (illegitime) Ansprüche verteidigen können. Die entfernteren Verwandten dagegen seien nach Gurevič nur als eine Art „heroic sublimation of reality“ angeführt: Mit seinem

76 Näsström überspringt die Frage, was das „väterliche Erbe“ sein soll oder warum Óttarr Geld gewettet hat (Hyndluljóð 9), deutet aber ohne jeden Grund Angantýr in einen „eingeweihten Krieger“ („initiated warrior“, Freyja, 175) um, den Óttarr für sein Eintreten in das Kriegertum bekämpfen müsse. Klingenberg (Edda – Sammlung und Dichtung, 29) lässt beide Themen – Erbstreit und „Heldenweihe“ – nebeneinander stehen, ohne sie vereinen zu können. 77 So schon Edda, ed. Sijmons/Gering III 1, zu Hyndluljóð 9,4: „es handelt sich also, wie es scheint, um einen erbschaftsstreit“. 78 Fleck, Konr–Óttarr–Geirrøðr, 39  f. Wie aus dem Titel hervorgeht, begründete er seine Theorie auf der Rígsþula, den Hyndluljóð und den Grímnismál. 79 Zu den Schwierigkeiten, denen Gurevič als Historiker in der ehemaligen Sowjetunion ausgesetzt war, siehe dens., Free Norwegian peasantry. 80 Gurevič, Edda and law. 81 Gulaþingslǫg 265–69, besonders 266: þeir skolo telia til langfeðra sinna fim, er att hafa, en sa hinn setti er bæði atte at eign ok at oðrle. Siehe auch Maurer, Vorlesungen I 2, 117  f. Nach Frostuþingslǫg XII 4 und dem Landrecht des Königs Magnus Hakonarson VI 2 wurden nur drei Ahnen gefordert. Dazu kam im Landrecht des Königs Magnus Hakonarson die alternative Bestimmung, dass, ef iorð liggr undir sama ættlegg 60 vetra eða lengr, þa verðr þeim er hefir su iorð at oðle, sva at þa iorð ma eigi undan honom brigða.

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Odal habe Óttarr nicht nur sein eigenes Erbe, sondern gleichzeitig auch das Erbe aller seiner Vorväter einschließlich der alten Helden und Götter verteidigt⁸². Gurevičs Interpretation scheint umso ansprechender, als die Hyndluljóð gewisse Beziehungen zu Hǫrðaland und so zum Thingverband des Gulaþing aufzeigen (siehe unten). Besonders interessant erscheint, dass Úlfljóts Gesetz – das erste Gesetz Islands – wahrscheinlich auf den von Gurevič herangezogenen Gulaþingslǫg basiert und dass Úlfljótr selber der Enkel des in den Hyndluljóð erwähnten Hǫrða-Kári war⁸³. Die von Gurevič geteilte Vorstellung vom Odalrecht der norwegischen Provinzrechte als ein archaisches Relikt kann aber aus der Sicht der neueren Forschung in Frage gestellt werden. Heute können die spezifischen Bestimmungen von fünf aufzuzählenden Vorfahren eher als eine Neuerung angesehen werden⁸⁴ – eine Anschauungsweise, die der deutliche kanonische Einfluss auf die Bestimmungen nur stärken kann. Auf diesen Einfluss mag schon die Rechnung der Generationen nach kanonischer statt germanischer Komputation verweisen⁸⁵. Am auffälligsten ist aber der Zusammenhang der Anzahl geforderter Ahnenglieder mit den kirchlichen Ehehindernissen. Schon Konrad Maurer⁸⁶ setzte die fünf Ahnenglieder (Gulaþingslǫg 266) in Beziehung mit der Bestimmung, nach der die Stammgutsfolge erlischt, „wenn einer des anderen Tochter heiraten darf“⁸⁷, also (nach Gulaþingslǫg 24) nach dem 6. Grad kanonischer Komputation. Die Stammgutfolge und die nach den Gulaþingslǫg geforderten fünf Ahnen fielen folglich mit den Eheverboten zusammen, so wie diese spätestens 1152/53 anerkannt waren⁸⁸. Interessant ist, dass die Festsetzung der für

82 Gurevič, Edda and law, 84. 83 Siehe ebd., 78. 84 Vgl. Gelting, Odelsrett. 85 Die germanische wie die kanonische Komputation ermittelte den Abstand der Verwandten von einem gemeinsamen Stammvater (bzw. -mutter). Die germanische Komputation nach kné ‚Knien‘ rechnete aber nicht mit dem 1. Grad kanonischer Komputation, also mit Vater, Sohn und Bruder; der 1. Grad begann mit dem 2. Grad kanonischer Komputation, also mit Enkel, Geschwisterkinder usw.; siehe Saar/Strauch, Sippe, 479. 86 Vorlesungen III, 249. 87 Gulaþingslǫg 282: „Um brœðra skipti“: Nu skipta brœðr tveir oðrlom sin a milli. þa scal þingat herva i þa kvisl oðol. sem loten ero bæðe at boðom oc at abuð. bioða þvi at eins i aðra kvisl ef þa sœker þrot. æða aldauða arfr verðe. En eigi skiliasc oðol með þeim at helldr fyrr en hvártveggia ma eiga dottor annars ‚Nun teilen zwei Brüder Odel unter sich, da soll dorthin in den Zweig das Odel gehen, wie durch Losung bestimmt ist, sowohl in Bezug auf Einlösungsrechte wie auf Betrieb der Wirtschaft. Man darf das Odel nur anbieten in den anderen Zweig bei Verarmung und wenn das Erbe ganz und gar abstirbt. Und nicht wird das Odel zwischen den beiden eher getrennt, als bis jeder des andern Tochter haben kann‘, d. h.: die Odalrechte des einen „Zweigs“ (Linie) erloschen, wenn so viele Besitzer des Odals zwischen den Deszendenten und dem gemeinsamen Vorfahren und ursprünglichen Eigentümer waren, dass die Erben in der anderen Linie jene der ersten heiraten durften. 88 Im Jahr 1152/53, als Nikolaus Breakspear von Albano (später Papst Hadrian IV.) als päpstlicher Legat Skandinavien besucht und das Erzbistum Nidaros errichtet hatte, scheint dieser den Norwegern Dispens von den kirchlichen Gesetzen gegeben zu haben, sich im 6. Grad zu verheiraten (vgl.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

die Odalseigenschaft geforderten Ahnenglieder auf drei Ahnen in den späteren Frostuþingslǫg wieder mit der Verminderung der Ehehindernisse nach dem IV. Laterankonzil 1215 bis auf den 4. Grad übereinstimmt und vermutlich mit dieser zusammenhängt⁸⁹. Es scheint demnach wahrscheinlich, dass die Festsetzung der für die Odalseigenschaft geforderten Anzahl von Ahnen, die das Odal besessen hatten, auf kirchlichen Einfluss zurückzuführen ist. Nach den schwedischen Provinzrechten wird in der Regel kein Unterschied zwischen alter und neuer Odalerde gemacht; es reicht demzufolge, dass der Boden eine Generation in der Familie gewesen ist, um das Odalrecht geltend machen zu können⁹⁰. „Odalland“ war also „Erbland“ (im Unterschied zu „Kaufland“). Dies ist auch der Fall in anderen europäischen Ländern, wo Vorkaufs- und Retraktrechte wie das englische right of first refusal (11. Jahrhundert) oder die französiche retrait lignager (13.  Jahrhundert) vorhanden waren⁹¹. In der Tat gibt es selbst in den norwegischen Rechtsquellen Andeutungen dafür, dass ähnliche Bestimmungen ursprünglich auch hier galten. Nach Gulaþingslǫg 270 wird nämlich alles Land, das „von Mann zu Mann“ vererbt worden ist, als Odal bezeichnet⁹². Die Festsetzung einer Mindestanzahl geforderter Aszendenten eines Odalhofs dürfte folglich eine Neuerung sein, vermutlich mit der Absicht, dem König,

Norseng, Odelsrett, 204). Die Beweise sind, so weit ich ersehen konnte, indirekt. In einem Brief aus dem Jahr 1192, den Papst Coelestin III. dem Nikolas Arnesson, electus zu Oslo, geschrieben hatte, beantwortete der Papst die Frage des Nikolas, ob sich Verwandte im 6. Grad miteinander verheiraten dürften, wobei Nikolas sich auf Hadrian berufen hatte, der dies seinerzeit erlaubt hätte (Regesta Norvegica I, Nr. 222; Seegrün, Das Papsttum und Skandinavien, 157). Nach Maurer (Vorlesungen III, 249) beruhte die vermeintliche Dispens aber einfach darauf, dass Hadrian die germanische Komputation nach „Knien“ gebraucht, also mit einem Grad weniger als die kanonische Komputation gerechnet habe; die zugrunde liegende Bestimmung sei also dieselbe (Ehehindernis bis zum 6. Grad) gewesen. Die Vermischung von germanischer und kanonischer Rechnung ist den Gesetzen auch sonst keineswegs fremd; siehe z.  B. Gulaþingslǫg 24 (siaunda kne, sollte sétta sein) und vgl. Gundersen, Incest, 372  f. – Vgl. Vogt, Slægtens funktion, 258; Helle, Norge blir en stat, 155. Robberstad meinte (Odelsrett, 495a) aus ähnlichen Gründen, das Odalrecht könne nicht älter als das älteste Christenrecht Norwegens sein. Ob Norwegen mit dem Mostraþing 1024 wirklich ein solches Recht bekam, ist jedoch unsicher (Vogt, ebd., 256). 89 Robberstad, ebd., 495; vgl. Vogt, ebd., 258. 90 Winberg, Grenverket, 29. In Schweden und Dänemark war alles Land ursprünglich „Odalland“. Norseng, Odelsrett, 206. 91 Norseng (ebd., 207) zählt die Bestimmung der norwegischen Provinzrechte zu einem der unikalen Züge des norwegischen Odalrechts. Vgl. ebd., 205  ff., mit vielen komparativen Beispielen. 92 Solches Land wird zusammen mit einigen anderen spezifischen Fällen – Land, das als Mannbuße hingegeben, im Feuer-Erbgang überkommen (siehe Gulaþingslǫg 108) oder als Ehrengabe verliehen worden ist usw. – aufgerechnet; daran schließt die Passage an: „Diese sollen als Odal gelten und alle die, die durch Odalsteilung entstanden sind unter Brüdern und Verwandten. Alle anderen sind Kaufgut“ (þær scolo oðrlom fylgia oc allar þær er i oðals skipti hava komet. með brœðrom oc með frendom þeim. allar aðrar aurum). Vgl. Robberstad, Odelsrett, 495; dens., Frå gamal og ny rett, 19.

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der Kirche und der Aristokratie Odalland für Einziehung, Schenkung und Kauf frei zu machen⁹³. Das heißt freilich nicht notwendig, dass die Behauptung der Odalseigenschaft als solche eine völlige Innovation war. Ich bin eher geneigt, hinter der Aufzählung der Ahnen den gewöhnlichen und einfach begreiflichen Gebrauch der Bewährung (altnordisch heimild) zu sehen, nach der Rechte – im Fall der norwegischen Provinzrechte also auch Einstands- und Einlösungsrechte – durch bewährte Benützung, z.  B. das Bewohnen und Bestellen des Bodens, zu beweisen sind⁹⁴. In Zweifelsfällen galt es, eine längere Ahnenreihe als der Kläger aufzählen (rekja, telja) zu können, idealerweise bis zum Ahnenhügel: til haugs ok til heiðni, wie es in späteren Gesetzen⁹⁵ und in der belegten Rechtspraxis⁹⁶ ausgedrückt wird⁹⁷. Der in Schweden und Norwegen belegte Begriff alda óðal dürfte auf ähnliche Gebräuche verweisen⁹⁸. Dies würde die

93 So auch Robberstad, Frå gamal og ny rett, 21. 94 Vgl. Vogt, Slægtens funktion, 253  f. Im römischen Recht waren 2, später 10–30 Jahre an Eigenbesitz erforderlich, um das Recht auf Grund und Boden behaupten zu können. Ebd., 254. 95 Norges gamle Love III, 121 (aus 1316). Vgl. auch die Ausdrücke der altschwedischen Gesetze til høgha byr ok heþnu byr; høghæ byr. ok af heþnu bygdær, in denen das Bebauen oder Bewohnen „vom Hügel an“ hervorgehoben wird. Zachrisson, The odal, 226a; Blomkvist, Från ritualiserad tradition, 132  f. 96 Ein erläuterndes Beispiel dafür, wie es in Odalssachen wirklich zugehen konnte, bietet ein „Odelssögsmaal“ aus Hundeid i Nordfjord (Norwegen) vom 28. April 1321 (Diplomatarium Norvegicum III 122, 117  f.). Hier wird geschildert, wie Ommundr a Lote im Namen seiner Frau Ingrid den Æilifr firir þæirri iordu er þu ok þer fædgger eigur j œfra tuni j inra Hundaæidi vor Gericht bringt. Die Odalzeugen werden aufgerufen. Þar nest talde Ærikr Sigurdr son æt Jngridar kono Ommundr ok langfædr fra haugi til inra Hundæides ok œfra tuns; sua at fyrstr aate œfra tunu j inra Hundæidi Hæriolfer, annar Abramer, þridi Ofæiger […]. [Hervorhebung vom Verf.] Das langfeðgatal oder ættartal wird in sieben Gliedern ausschließlich der Ingrid fortgesetzt. Die formelhafte Aneinanderreihung endet mit Þordr hyrdmadr (als achtes Glied) und dessen Sohn Ellinger, von dem es schließlich heißt: var han fadr kono Ommundr Jngridar. Þar nest, setzt das Protokoll fort, læddi Ommundr fram þria arofa Kolbæin gest Olaf Kædils son Saulmund Pals son; er þa voru tuitugir er fæder þæirra andodustz, ok þær ero innan fylkis odals borner. Diese arofar (die wörtliche Bedeutung scheint nicht klar, vgl. Maurer, Vorlesungen I 2, 118) bestätigen durch ihre Zeugenaussage, dass das, was Ærikr gesagt hatte, auch ihre Väter ihnen erzählt hätten. Es wurde somit bekräftigt, dass vii langfædr das Land at æign ok odle gehabt hatten. Dies wurde dann auch von Bestätigungszeugen, die aller odalborner innan fylkis waren und mindestens fünfzehn Jahre alt, als ihre Väter starben, unter Eid beglaubigt. Darauf wurde die Einlösungssumme festgestellt. Ommundr bezahlte mit barem Geld. 97 Vgl. Robberstad, Odelsrett, 495. 98 Der Begriff zeigt, dass, obwohl alles Erbland „Odal“ war, das Alter des Odals wichtig (vermutlich für die Bewährung) war; vgl. die Inschrift des Runensteins von Eneby (Södermanland 145), in der gesagt wird, dass Tóki und Grímúlfr je die Hälfte eines Hofes (bu) als alda óðal, besaßen, was Brate und Wessén (Sveriges runinskrifter 3 I, 169  f.) aus ata uþuli in Analogie mit dem alschwedischen rechtlichen Ausdruck alda oþal herauslesen. Das erste Wort des Ausdrucks alda óðal stellt einen Genitiv

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

langen agnatischen Stammlinien erklären, die – manchmal zusammen mit der Darlegung von Bodenbesitz – auf einigen schwedischen Runensteinen erscheinen⁹⁹. Diese waren wohl nicht nur Totendenkmäler, sondern auch eine Art Erwerbsurkunde¹⁰⁰, die mit dem Tod des Besitzers natürlich aktuell wurde. Die Anzahl der deutlich angeführten Ahnenglieder der Hyndluljóð fallen wohl also nur durch Zufall mit den fünf erforderten Gliedern im Odalrecht der Gulaþingslǫg zusammen. Es gibt folglich keinen Grund anzunehmen, dass nicht auch der restliche Stammbaum in Óttars Erbschaftsstreit von Bedeutung sein sollte. In den Hyndluljóð wird aber die Ahnenlinie nicht bis zu einem ersten Grundstückbesitzer aufgezählt. Schon im Rahmen (Hyndluljóð 8, oben) weiß Freyja, dass Óttars Stammbaum vielmehr bis zu den Königen und Göttern des Altertums reicht, was den Zusammenhang mit dem Odal allerdings zerreißt. Vielmehr scheint besonders die

Plural von altnordisch ǫld ‚Lebenszeit, Zeitalter, Menschen‘ dar und soll wohl das ‚uralte‘, das ‚seit Menschen- oder Zeitaltern‘ vererbte Odal definieren. Dass man diese Bezeichung gewählt hat, deutet an, dass man altangestammtem Erbland schon früh eine rechtliche Sonderstellung zugeschrieben hat. Der Ausdruck alda óðal ist auch aus anderen Quellen bekannt; vgl. Upplandslagen 178, þa dømis hanum þæt swa fast ok fullt sum fastæ fæþerni ok aldæ oþal; 260, þa hawi þet fore fastæ fæþerni sitt. ok aldæ oþal. Der Ausdruck kam auch im Altwestnordischen vor, vgl. Diplomatarium Norvegicum I, 129, ok ef eigi er leyst innan þriggja vetra, þá verðr sú jörð honum at alda úðali; III, 88, til æfinlegrar eignar ok alda óðals. 99 Die Inschrift des Malsta-Steins (Hälsingland 14, um 1050; die Namen sind neu gedeutet von Lena Peterson; siehe Brink, En vikingatida storbonde, 152) berichtet, dass ein Hé-Gylfir (kiulfiʀ = wohl der Hé-Gylfi(r) der Inschrift, Vater des Erben und Runenritzers Hrómundr; der Name kommt auch auf Hälsingland 15 als hrumuntr hikiulfisun, z.  T. mit demselben Stammbaum, vor) Besitzer „dieses Bodens“ und dazu von Boden in drei Dörfern (Höfen? býjum) weiter nördlich und außerdem in Lönnånger und Färdsjö (siehe Brink, En vikingatida storbonde, 155  ff.) war. Ihm zu Ehren hat der Sohn den Stein errichtet, der sorgfältig einen langen Stammbaum darlegt: Þórir – Ófeigr – Unn – Lini – Bræsi – Hé-Gylfir – Hrómundr. Der Inhalt der Inschrift legt die Annahme nahe, dass der Zweck dieses Stammbaumes mit Erbschaft und Bodenbesitz zusammenhängt. Um sein erbliches Recht an Grund und Boden des verstorbenen Hé-Gylfir behaupten zu können, musste der Erbe Hrómundr die Ahnenreihe bis auf den im Ahnenhügel bestatteten Siedler (haugbúi) aufzählen können. – Mit dieser Inschrift ist der Sandsjö-Stein (Småland 71; Sveriges runinskrifter 4 I, 186  f.), der nicht weniger als fünf Ahnenglieder aufzählt, vergleichbar. Auch Begriffe wie langfæðgar und langmœðgar, die auch auf der letztgenannten Inschrift vorkommen, weisen auf längere Ahnenreihen hin (Erinvǫrðr lét reisa stein þenna eptir *Hegga, fǫður sinn, ok Hæru, fǫður hans, ok Karl, hans fǫður, [ok] Hæru, hans fǫður, ok Þegn, hans fǫður, ok eptir þá langfeðga fim). Vgl. Södermanland 176 (Sveriges runinskrifter 3 I, 144  ff.), wo langmøðrga þriaʀ, d. h. Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, erwähnt werden. 100 Sveinbjörn Rafnsson (Studier i Landnámabók, 110) hat diesen Gedanken von Runensteinen als rechtliche Dokumente meines Erachtens mit Recht problematisiert. Dass die Steine an sich keine juridischen Instrumente sein können, erweise sich nach Sveinbjörn unter anderem nämlich dadurch, dass sie unbeglaubigt und so ohne Beweiskraft sind. Im Großen und Ganzen dürften sie folglich eine ähnliche Rolle wie die isländischen máldagar gehabt haben, die keine rechtliche Dokumente waren (Zeugnisse werden z.  B. nie angeführt), sondern memoriæ causa entstanden. Juridisch relevant war nur ihre mündliche Aufzählung vor Zeugen (ebd., 154; der Vergleich mit den máldagar stammt vom Verf.).

Die Rahmenerzählung 

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Vorstellung einer Abstammung von den Göttern (vgl. Hyndluljóð 8,5  f.: gumna þeirra | er fra godum kuomu) wiederum auf die Institution des Königtums zu verweisen. Zwar ist behauptet worden, dass die Abstammung germanischer Könige von den Göttern die in der Kirche verbreitete Lehre des Euhemerismus als Voraussetzung haben würde¹⁰¹. Die Vorstellung von einer göttlichen Abstammung könnte dann den Norden des früh christianisierten Englands erreicht haben, wo Wōden häufig an die Spitze der Königsgenealogien gesetzt wurde. Wenn ein Gedicht wie das Háleygjatal am heidnischen Hof Hákon Sigurðssons vorgetragen wurde, sollten aber die Rezipienten die Götter, von denen der Jarl nach dem Skalden genealogisch herstammen würde, nicht euhemeristisch gedeutet haben. Wenigstens in der späten vorchristlichen Zeit muss die Fiktion von einer göttlichen Abstammung der Königsgeschlechter möglich gewesen sein. Da also das Königtum ein geeigneter Deutungsrahmen der Hyndluljóð zu sein scheint, lag schon im Jahr 1876 für F. W. Bergmann¹⁰² die Annahme nahe, dass Óttars „Vatererbe“ das Königsreich sei¹⁰³. Diese These nahm Gro Steinsland in ihrer Dissertation über die „heilige Hochzeit“ im vorchristlichen Norden¹⁰⁴ erneut auf. Im Kern der Hyndluljóð liege nach Steinsland der „königsideologische Grundmythos“¹⁰⁵ über den Ursprung der Königsgeschlechter in einem ἱερός γάμος, einer „heiligen Hochzeit“ zwischen einem Gott und einer Riesin¹⁰⁶. Diese „Königsideologie“ habe laut Steinsland ein (nicht gerade propagandistisches) Element enthalten: das Motiv vom schicksalsbestimmten „Tod des Königs“¹⁰⁷, dessen mythologisches Modell in den Hyndluljóð der Tod Baldrs sein sollte. Da Baldr und die Könige Riesenblut in ihren Adern hätten, sei ihr Tod nämlich „genealogisch bedingt“¹⁰⁸ (– dass Riesenblut diese Wirkung haben kann, muss der Leser Steinsland aufs Wort glauben). Da nun auch der künftige König Óttarr mit dem Gott verwandt sei (Strophe 29), werde sein eigenes Schicksal durch die skamma mythologisch expliziert und gleichzeitig mit dem Schicksal der Götter verknüpft: Wie Baldr und alle Götter trage Óttarr den Keim des Untergangs in sich¹⁰⁹. – Die Theorie dieser „Königsideologie“¹¹⁰ ist von vielen Forschern aus ver-

101 Siehe Baetke, Christliches Lehngut, 321; dens., Die Götterlehre, 219  f.; von See, Mythos, und Theologie, 76  f.; Faulkes, Descent from the gods, 93  f. 102 Rig’s Sprüche, Teil B (S. 106–77); besonders S. 107–14. 103 Zu fǫðurleifð = ‚Königtum‘, siehe Frz., s. v. 104 Steinsland, Det hellige bryllup, Teil C; vgl. dies., Den hellige kongen, 57–69. 155  ff. 173  ff. Vgl. auch Midttun, Hyndluljóð. Midttuns Studie berührt aber ausschließlich die Rolle und mögliche Interpretation der Hyndluljóð im Kontext der Flateyjarbók. 105 „kongeideologisk basismyte“. Ebd., 259. 106 Ebd. Eine gute Zusammenfassung gibt Steinsland, Die mythologische Grundlage. 107 Steinsland, Det hellige bryllup, 261  f.; vgl. 227–31; dies., Die mythologische Grundlage, 745; dies., Den hellige kongen, 63  ff. 67. Als Beleg für das Motiv lässt Steinsland das Ynglingatal gelten. 108 Steinsland, Det hellige bryllup, 267  ff. 109 Ebd., 260  f. 267  ff. 110 Zum Ideologiebegriff, vgl. die Kritik Krags, Trosskiftet, 222.

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schiedenen Gründen und Perspektiven heraus kritisiert worden¹¹¹. Mir scheint es schon an sich zweifelhaft, dass etwa Eyvindr skáldaspillir in seinem Gedicht an Hákon jarl¹¹² mit der Hochzeit zwischen Óðinn und Skaði – göttliche Ahnen Hákons – auf einen solchen Inhalt wie jenen von Steinslands „Königsideologie“ hätte anspielen wollen. Das wäre, um mit Snorri Sturluson¹¹³ zu sprechen, nicht Lob, sondern vielmehr Spott gewesen¹¹⁴. Wenn die Hyndluljóð überhaupt eine „Königsideologie“ enthalten, dürfte sie anders aussehen.

111 La Farge (Rezension, 56) hat gegen den Kern der Steinsland’schen Theorie vom „Sakralkönigtum“: die Herkunft des Königs aus einer heiligen Hochzeit zwischen Gott und Riesin, schwerwiegende Einwände gerichtet. La Farge verhält sich in ihrer Rezension von Steinslands Arbeit überhaupt kritisch, unter anderem aufgrund der Beweisführung (Zirkelschlüsse, S. 56), aber auch wegen der z.  T. gesuchten Interpretationen (die Äpfel der Skírnismál als Königsregalien, S. 57). Vgl. dazu auch Hultgård, Anmeldelse, 78  f. Motz (Kingship and the giants, 74  ff.) hat die für Steinsland grundlegende Idee einer Heirat zwischen Gott und Riesin, der der König entstammen würde, quellenkritisch in Frage gestellt. Das Hierogamie-Motiv als Teil der Ideologie eines „Sakralkönigtums“ ist auch von Hedeager (Religion og herskermakt) angezweifelt worden, hier aber besonders in Hinsicht auf die vorliterarische Zeit und die Beweiskraft der sogenannten „Goldmännchen“ (schwedisch „guldgubbar“). Steinslands Auslegung der Skírnismál als mythologisches Vorbild für die Heirat zwischen König und Riesin ist, wie mir scheint sehr treffend, unter anderen von Krag (Trosskiftet, 219  ff.) kritisiert worden; Krag (ebd., 223  ff.) findet sich auch durch das Zeugnis der Skaldendichtung genötigt, die Existenz der Steinsland’schen Königsideologie zu beanstanden. Sundqvist (Freyr’s offspring, 166  ff.) hat sich auf einer breiteren (religionsphänomenologischen) Perspektive gegen Steinslands Auffassung des „sakralen Königtums“ gewendet (vgl. ebd., 35  ff.; siehe auch sein Referat der früheren Kritik, S. 168). – Wenn die Quellen für sich betrachtet werden, sind die Spuren der von Steinsland angenommenen „Ideologie“ knapp. In den Skírnismál, in denen die Heirat zwischen Gott und Riesin (Freyr und Gerðr) belegt ist, fehlt z.  B. der Nachkomme. Im Ynglingatal, in dem die Ynglingar als die Nachkommen des Freyr (Freys ǫˊttungr, 21,7) erwähnt werden, fehlt andererseits die Riesenstammmutter. Nur im Háleygjatal scheint die Herkunft des Herrschers von einem Gott und einer Riesin gesichert werden zu können. Das Háleygjatal hat aber nicht die Königsideologie Steinslands zum Thema. In Strophe 15 figuriert Jarl Hákon als der Eroberer, der die „Gattin des Valtýr“ – brúðr Valtýs, d. h. ‚das Land‘ – bis zu den Wohnorten der Agder in einem erotisch anklingenden Gewaltakt „unter den Arm“ (und armi) gelegt hat. Dadurch, dass Hákon Jarl genealogisch auf Óðinn als ersten „Besitzer“ der Riesin (d. h. des Landes) zurückgeführt wird, wird seine Eroberung als gerecht, er selbst als rechtmäßiger Herrscher von Norwegen dargestellt, was im Einklang mit der Funktion des Preislieds steht. Das im Háleygjatal thematisierte Motiv ist somit in erster Linie im Lichte der in der Skaldendichtung ausgearbeiteten Tradition der Heirat des Gottes (bzw. des Königs) mit dem Lande zu sehen. Dass das Land metaphorisch als Riesin dargestellt wird, dem wird keine weitere Bedeutung zugemessen. 112 Háleygjatal 4 (Skj. B I, 60). 113 Prologus der Konunga sǫgur (Heimskringla, 2): þat væri þá háð, en eigi lof, hier: wenn der Skalde Unwahres erdichtet. 114 Vgl. übereinstimmend damit die neuerdings vorgeschlagene Hypothese Bergsveinn Birgissons (Inn i skaldens sinn), das Ynglingatal – für Steinsland ein Beleg nicht nur für die „heilige Hochzeit“, sondern auch für die vermeintlich schicksalhaften Folgen dieser Hochzeit für die Nachkommen – sei nicht, wie zumeist angenommen, ein (freilich merkwürdiges) Preislied, sondern gerade ein gegen die Schweden und Dänen gerichtetes Spottgedicht. Vgl. auch North (Kurzweilige Wahrheiten), der

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6.2.2 Óttarr ungi und das Odalrecht auf das Königtum Obwohl keine der oben referierten Studien als Grundlage der vorliegenden Untersuchung genommen werden kann, scheint zweifellos Bergmann schon im 19. Jahrhundert damit richtig gelegen zu haben, dass das Königtum den geeignetsten Deutungsrahmen der Hyndluljóð ausmacht. Außer des erwähnten offenkundigen Kriteriums im Text selbst – Óttars Abstammung von Königen und Göttern  –, spricht auch die bekannte Rezeptionsgeschichte des Liedes dafür. Anzunehmen ist jedenfalls, dass schon Jón Hákonarson oder sein Schreiber Magnús Þórhallsson das Gedicht in dieser Weise auffassten, als sie sich dafür entschieden, es in die Flateyjarbók aufzunehmen. Denn neben Jóns Interesse für seine norwegischen Ahnen, deren Namen er teilweise in den Genealogien der Hyndluljóð wiederfinden konnte¹¹⁵, ist es ja überwiegend gerade das Thema des Königtums, das sein Buch und die Auswahl der Texte beherrscht. Das rezeptionsgeschichtliche Argument kann vielleicht auch in die Zeit vor der schriftlichen Geschichte des Liedes ausgedehnt werden. Seit langem ist nämlich darauf hingewiesen worden, dass Óttarr und Angantýr – wohl ursprünglich entfernte Verwandten in den Hyndluljóð¹¹⁶ – mit Ōhþere und Ongenþēow, Sohn und Vater, im Bēowulf namensgleich sind¹¹⁷. Dieser Ōhþere vom Königsgeschlecht der Scylfingas – mit denen auch der Óttarr der Hyndluljóð verwandt ist (skilfingar, Hyndluljóð 11,6. 16,2) – war auch in der isländischen Tradition wohlbekannt und identisch mit dem schwedischen Märchenkönig und Skilfing (skilfinga nið, Ynglingatal 18,6¹¹⁸) Óttarr vendilkráka. Dass auch in den Hyndluljóð diese Identität nicht auf die Namen begrenzt ist, sondern dass man sich auch Óttarr ungi wahrscheinlich als Skilfing vorgestellt hat, zeigen weitere Übereinstimmungen in den Traditionen. In der isländischen Tradition¹¹⁹ ist Óttarr Aðils Bruder und Egils Sohn. Dieser Egill wird nach dem Ynglingatal von einem Stier (farri, vgl. neuhochdeutsch Farre) getötet¹²⁰. Im Bēowulf

Bergsveinns Hypothese untermauert und besonders die Rezeption und Verwendung des Gedichts bei den isländischen Geschichtsschreibern Ari Þorgilsson und Snorri Sturluson analysiert. Zu früheren Forschungspositionen vgl. ebd., 178  f., mit Anm. 23  f. 115 Ashman Rowe, The development of Flateyjarbók, 303  f. 116 In Hyndluljóð 23 werden die Brüder des bekannten Berserkers Angantýr unter den Ahnen Óttars aufgezählt, doch ohne den erwarteten Namen Angantýr zu erwähnen (Bugge ergänzt ihn, Norrœn Fornkvæði, zur Stelle; falls er weggelassen wurde, dürfte die Ursache im Antagonismus zwischen Óttarr und Angantýr in den Hyndluljóð liegen). 117 So schon Edda, ed. Sijmons/Gering III 1, zu Hyndluljóð 9,2. 118 Skj. B I, 10. 119 Siehe Näsström, Freyja, 153  f. 120 Ynglingatal 17,5  ff.: en flæming | farra trjónu | jǫtuns eykr | á Agli rauð ‚aber das Reittier des Riesen [hier: ‚der Stier‘] färbte das Schwert der Schnauze des Stiers [d. h. sein ‚Horn‘] rot auf Egill‘ bzw. 18,5  ff.: en skíðlauss | Skilfinga nið | hœfis hjǫrr | til hjarta stóð ‚aber des Stoßers Schwert [d. h. ‚das Horn des Stiers‘] stand dem Nachfahr der Skilfingar zum Herzen‘. – Für farri in der Prosa hat Frz. s. v. nur

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

ist Ōhþere der Vater Eadgils, sein eigener Vater aber heißt wie erwähnt Ongenþēow. Dieser fällt in einem Streit gegen die Brüder Wulf (‚Wolf‘) und Eofor (‚Eber‘)¹²¹. Bis hierher hat die Tradition mit den Hyndluljóð freilich nur gemeinsam, dass Óttarr und Angantýr ursprünglich verwandt sind¹²², dass Angantýr (Hyndluljóð: und Óttarr) in einen Streit involviert sind und dass Angantýr – in diese Richtung deuten wohl auch die Sympathien des Hyndluljóð-Dichters – der Verlierer sein wird. Doch auch der „Eber“ als Angantýs Gegner ist in den Hyndluljóð vorhanden, verkörpert in Óttarr, der nach Freyja in der Gestalt eines Ebers mit Namen Hildisvíni ‚Streiteber‘ auftaucht (Hyndluljóð 7). Der Name findet sich übrigens auch bei Snorri, wo Hildisvínn ein Helm des König Aðil, Óttars Bruder, ist¹²³. – Wir dürfen also von einer Motivtradition mit ziemlich festen Elementen sprechen. Ich bin nun der Meinung, dass auch die in dieser Tradition latente zentrale Stellung im Königshaus der schwedischen Skilfingar (Ynglingar) für den Óttarr der Hyndluljóð durchschimmert. Der berühmtere Namensvetter Óttars mit dem Beinamen vendilkráka war ja einer der Ynglingenkönige, die wenigstens nach der mittelalterlichen isländischen Tradition¹²⁴ vom Gott (Yngvi-) Freyr abstammen. Das bekannteste Attribut dieses Gottes war der Eber¹²⁵. Nach der Húsdrápa hatte Freyr sogar einen Eber als Reittier, das golli byrstr ‚mit Borsten von Gold‘ bedeckt und nach Snorri¹²⁶ vom Zwerg Brokki gefertigt war¹²⁷. In Hyndluljóð 7 heißt es nun nicht nur, dass Óttarr in der Gestalt des Ebers Hildisvíni auftritt, sondern der Eber wird auch als gullinbu[r]sti ‚goldborstig‘ beschrieben und soll von den Zwergen Dáinn und Nabbi gefertigt worden sein. Óttarr scheint also demselben Gott nachgebildet

die Bedeutungen ‚Landstryger, Skjelm, Skalk‘ belegt: Kann das das kuriose Detail Snorris erklären, der in Ynglinga saga 26 den Inhalt der Strophe mit der Angabe weiter ausführt, dass Egill vom in der Strophe erwähnten Sklaven Tunni vertrieben wurde? 121 Bēowulf 2484–89. 2961–81. – Wie Näsström (Freyja, 154) bemerkt, ist in Ynglingatal 17,7 jǫtuns eykr eine merkwürdige kenning für ‚Stier‘: man würde auch hier ‚Wolf‘ erwarten. Auch wenn die Wortwahl folglich von einer Kenntnis der im Bēowulf bewahrten Tradition beeinflusst worden sein kann, kann die Strophe rein grammatisch unmöglich so gelesen werden, dass Egill von einem Stier und einem Wolf getötet wurde (vgl. auch Skj. A I, 11). 122 In den Hyndluljóð sind sie es nicht mehr. Die Verwandtschaft mit Óttarr wird nicht näher spezifiziert; in jedem Fall wird man schließen, dass man sich die beiden nicht als Brüder vorstellen darf. Deshalb müssen beide beweisen, dass sie edler Abstammung sind. Dass das Motiv ihrer Verwandtschaft in den überlieferten Hyndluljóð keine Rolle spielt, wird dadurch deutlich, dass in der Version der Flateyjarbók der erwartete Name Angantýr unter den Berserker-Brüdern Strophe 23 fehlt. Eine ursprüngliche Verwandtschaft muss wohl aber die Ursache dafür gewesen sein, Strophe 23 über die traditionellen Brüder des Berserker Agnatýr überhaupt aufzunehmen. 123 Vgl. Snorra-Edda, Skáldskaparmál 55, 140. 124 Vgl. aber Sundqvist (Freyr’s offspring), der die Tradition für authentisch schwedisch hält. 125 Siehe de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, an den S. 455 s. v. „Freyr – und Eber“ angeführten Stellen. 126 Skáldskaparmál 44, 122  f. 127 Húsdrápa 7 (Skj. B I, 129); vgl. Snorra-Edda, Gylfaginning 34, 66, wohl auf die Húsdrápa zurückgehend. Erst Snorri hat aus dem Adjektiv einen Namen (Gullinbursti, ebd.) gemacht.

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zu sein, dessen Schwester seine eigene Schutzgöttin¹²⁸ ist. Dies geschieht wohl nicht aus Zufall. Eher dürfte hier die Verknüpfung zwischen Freyr, den Ynglingenkönigen und der, wie oben gezeigt, in der Motivtradition von Óttarr verankerten Ebersymbolik durchscheinen. Von einer direkten Abstammung Óttars von Yngvi-Freyr ist jedoch nicht ausdrücklich die Rede. Auch ist der Óttarr der Hyndluljóð nicht (mehr) mit dem schwedischen vendilkráka identisch. In den Hyndluljóð wird Óttars nächster Verwandtschaftskreis eher als das „große und mächtige“¹²⁹ Hǫrðaland-Geschlecht des Hǫrða-Kári dargestellt¹³⁰. Auch unter den ferneren, sagenhaften Verwandten Óttars finden sich Beziehungen zu Hǫrðaland. Dass der Dichter in Strophe 28 Ívarr víðfaðmi zu einem Verwandten des Óttarr gemacht hat¹³¹, mag auf einer Verbindung jenes Königs mit Hǫrðaland beruhen; in Sǫgubrot 3, 10 trägt jedenfalls ein sonst unbekannter Ziehvater des Ívarr den Namen Hǫrðr. Auf Norwegen überhaupt verweist z.  B. die Dichotomie in Strophe 11,9  f. „hǫldborit–hersborit“, die der isländischen Gesellschaft fremd war. Mehrere der Namen des Gedichtes sollen ferner nur in Norwegen gebräuchlich gewesen sein¹³². Diese „Lokalfarbe“ des Liedes muss natürlich nicht bedeuten, dass es in Norwegen gedichtet wurde; man kann sich auch mit Rudolf Simek und Hermann Pálsson¹³³ ein isländisches „Bestellungswerk“ denken oder einfach ein isländisches Gedicht über das Königtum¹³⁴. Hǫrða-Káris Geschlecht war auch auf Island be-

128 Hyndluljóð 10. 129 [menn] margir ok gǫfgir. Óláfs saga Tryggvasonar 54, 145. 130 Dass Óttars Geschlecht seinen Ursprung in Hǫrðaland hat, erkannte schon S. Bugge, Bemærkninger til norrøne Digte, 250  f. Unter den Nachkommen Hǫrða-Káris wird in Óláfs saga Tryggvasonar 54,  145 eine Reihe von Namen aufgezählt, die in den Hyndluljóð zu den Verwandten (mütterlicherseits) von Óttarr gehören. Hǫrða-Kári selber entspricht offenbar Kári, Hyndluljóð 19,6, dessen engerem Verwandtschaftskreis ein Ketill (19,1) und ein Klypr (19,2) angehören. Klypr hersir heißt nach Óláfs saga Tryggvasonar (ebd.) der Enkel von Kári, Ketill ist nach Flóamanna saga 2, 233, sein Sohn. An derselben Stelle in Óláfs saga Tryggvasonar wird ferner ein Ǫlmóðr erwähnt, der auch nach den Hyndluljóð (21,2) zu Óttars Geschlecht gehören soll. Der Name Innsteinn ist wohl sonst nur aus Hálfs saga ok Hálfsrekka 5, 177, bekannt (Gering, Ottar heimski, 327), in denen er aber als Sohn des Hǫrðaland-Jarles Álfr inn gamli auftritt: Nach Hyndluljóð 12 ist Innsteinn, Óttars Vater, der Sohn von Álfr inn gamli. 131 Dass Ívarr víðfaðmi gemeint ist, geht aus parallelen Genealogien hervor. Nach den Hyndluljóð sei Ívarr Auðs Vater, Auðr sei mit Hrœrekr verheiratet; ihr Sohn sei Haraldr hilditǫnn (Strophe 28). Nach Sǫgubrot af fornkonungum sei Ívarr víðfaðmi der Sohn eines Hálfdan; auch hier heißt seine Tochter Auðr und Haraldr ihr Sohn mit einem Helgi. Ynglinga saga 39 erwähnt ebenfalls Hálfdan als Ívarr víðfaðmis Vater. 132 de Vries, Altnordische Literaturgeschichte II, 127. 133 Simek/Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, 186a. 134 Zwar wurde das Königtum nicht vor 1262 eine staatspolitische Realität auf Island, den isländischen Geschichtsschreibern und Sagaverfassern hat sein Thema aber schon vorher beschäftigt. Schon im 11. Jahrhundert erkannten isländische góðar den norwegischen König als ihren persönlichen Herrn an. P./B. Sawyer, Medieval Scandinavia, 88.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

kannt¹³⁵, und die meisten der ersten isländischen Siedler der Landnahmezeit kamen gerade aus dem Gulaþingslǫg¹³⁶. Damit, dass die Ebersymbolik trotz der Versetzung von Óttarr nach Norwegen als ein auffallendes Motiv behalten worden ist, mag möglicherweise der Effekt angestrebt worden sein, Óttarr zu einem Abbild des idealisierten Ynglingenkönigs zu machen¹³⁷, Könige, die nach der geschichtlichen Fiktion z.  B. des Ynglingatal und der Íslendingabók Ursprung und Quell der berühmten norwegischen „Hårfagreætta“ waren. Dies alles weist also auf eine Motivtradition hin, mit der der Dichter und die Rezipienten seines Liedes aller Wahrscheinlichkeit nach vertraut waren, die durch die Namen und Attribute des Gedichts den geeigneten Deutungsrahmen im Bewusstsein der Rezipienten aktivierte und in dem Óttarr den König repräsentierte, der einen Angantýr in einem (hier: Erbschafts-) Streit besiegen würde. Die Annahme einer Identität Óttars als künftigen Königs scheint mir demnach auf guten Gründen gebaut zu sein. Mit dieser Interpretation ist auch Óttars Beinamen ungi vereinbar. Das sogenannte Hunnenschlachtlied (Hlǫðskviða) gibt hier eine beachtenswerte Parallele. Auch hier kommt ein Angantýr vor, der mit seinem Bruder über ein Erbe (arfr) streitet. Ein Teil des Erbes ist das gothische Königsreich. Vielleicht sind die Übereinstimmungen ein (merkwürdiger) Zufall; interessanterweise aber wird hier in Strophe 4,5, wie auch in den Hyndluljóð, Angantýs Gegner als maðr ungr bezeichnet – unter allen Umständen ein passender Name für einen jungen Thronanwärter. Óttars Erbschaftsstreit könnte also mit Gurevič zwar einer Art von Odalrecht gelten, aber nicht dem Odalrecht auf den Bauernhof, sondern dem Odalrecht auf das Königsreich. In der Skaldensprache wurde das Reich häufig als das „Erbland“ (óðal, ættjǫrð usw.) eines bestimmten Königs¹³⁸ dargestellt, denn das Königtum ging häufig vom Vater auf den Sohn über. Schon in dieser Begriffsübertragung wird aber die Analogie zum Odalrecht erkennbar. Da der vererbte Status und das Blut (sangius regius) des künftigen Königs außerdem nicht nur auf der Abstammung von seinem Vater, sondern vielmehr auf einem königlichen oder edlen Geschlecht beruhte, dürfte auch der Vergleich mit der Bedeutung des väterlichen Stammbaums im Odalrecht immer nahegelegen haben: In beiden Fällen untermauerte die Abstammung das Recht auf das Land. In dieser Hinsicht ist z.  B. die Funktion des Grabhügels des Bauernhofs bzw. des Königshofs erhellend. So nennt wohl das Ynglingatal nicht zufällig die Grabhügel

135 Vgl. Landnámabók H 268, 313. 136 Gurevič, Edda and law, 78. 137 Vgl. auch Eyvinds Hákonarmál (961), in deren 1. Strophe (Skj. B I, 57) von den Königen gesagt wird, dass sie Yngva ættar sind. 138 Z. B. Haralds ættleifð = ‚Norwegen‘ in Sigvats Gedicht über Königin Astrid (Skj. B I, 232; ca. 1036); ähnlich Steinn Herdísarsons Óláfsdrápa 10 (Skj. B I, 381; ca. 1070) und Valgarðr á Velli (11. Jahrhundert) in einem Gedicht über Haraldr harðráði, Strophe 6 (Skj. B I, 361) (óðal = ‚das Reich‘). Siehe auch Bagge, The political thoughts, 31, Anm. 31–33; Meißner, Die Kenningar der Skalden, 88.

Die Rahmenerzählung 

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der hier aufgezählten Ynglingenkönige. Sie waren für das Königsgeschlecht, was der Grabhügel und die Runensteine im Rechtsgebrauch für den Odalbauer waren: konkrete Anhaltspunkte der das „Odalrecht“ begründenden Abstammungslinie. Im Mittelalter wurde die Konzeption weiter ausgebaut¹³⁹ und spätestens im 12. Jahrhundert zur politischen Ideologie von Norwegen als dem angeborenen Odal des Geschlechts des Königs Haraldr hárfagri ausgearbeitet¹⁴⁰; wahrscheinlich erfüllte sie aber weit früher eine wirkungsvolle rhetorische Funktion. Dagegen erscheint mir die Kritik, die Gurevič¹⁴¹ gegen Bergmanns Untersuchung in diesem Punkt gerichtet hat und die konsequenterweise auch für Fleck und Steinsland gültig ist, berechtigt: Eine „wahlbesprechung“, der man sich als Thronprätendent unterwerfen müsste, um durch das Aufzeigen des „besseren blutes“ sein Recht auf den Thron zu beweisen¹⁴², hat es vor dem Thronfolgerecht 1163¹⁴³ nicht gegeben. Ob ein König bei der konungstekja als König anerkannt wurde, beruhte vielmehr auf seinen politischen Verbindungen, auf seiner Macht, nicht zuletzt im konkreten Sinn auf der Waffengewalt. Doch, um diese Macht untermauern zu können, waren Ahnen und Abstammung ein nachdrückliches Argument, – nicht für ein objektives Recht auf den Thron, sondern als rhetorisches Element einer ideologischen Fundierung der Herrschaft. Macht hat auch der unrechte Herrscher, der Usurpator, wie Otto Höfler einst bemerkt hat; das aber ist etwas ganz anderes als die Würde des rechtmäßigen Herrschers¹⁴⁴. Mir scheint in diesem Zusammenhang Reinhard Schneiders Aufteilung der „Königswahl“ in den Willensbildungsprozess, in dem die Nachfolgeaspiranten Wahlversprechen diskutieren, Macht kumulieren usw., und in die darauf folgende eigentliche Königserhebung anwendbar¹⁴⁵. Zur ersteren Phase würde auch die Verwendung rhetorischer Mittel, um sich als

139 Sprechende Beispiele gibt Snorri in seiner Heimskringla, z.  B. Óláfs saga ins helga 36, wo berichtet wird, wie die Trönder Hákon Jarl tot schlugen und Óláfr Tryggvason zum Herrscher nahmen, er óðalborinn var til konungdóms (Heimskringla, 203). Ähnlich Óláfs saga ins helga 59 (Heimskringla, 217) und Magnúss saga góða 36 (Heimskringla, 446). Die Rhetorik taucht aber auch im Gesetz der Hirðskrá (14, Norges gamle Love II, 403) auf: þui er þat rettazt at konongr hafe i sina vallde at sœma þan mæst af sinni faðurlæifð oc fræmia þan sem han finnr se(r) holluztan […]. þuiat hans æign oc oðall er alt landit. 140 In der neueren Forschung ist gemutmaßt worden, ob diese früher als urtümlich angesehene Fiktion nicht vielmehr als eine Konstruktion der Geschichtsschreiber des 12. und 13.  Jahrhunderts war, die durch Anknüpfung der Könige an den ersten Reichseiniger Einheit und System in ihren Geschichtskonzeptionen schaffen wollten. Krag, Norge som odel. Vgl. aber die diesbezügliche Kritik von Dørum, Det norske riket. Eine Antwort gab Krag in „Myten om Hårfagreættens odel“. 141 Edda and law, 74  f. Vgl. Schneider, Königswahl, § 8; Höfler, Abstammungstraditionen, § 10. 142 Die Formulierungen bei Bergmann, Rig’s Sprüche, 109  f. 143 Das Thronfolgerecht des Magnús Erlingsson bekam bekanntlich keine allgemeine Geltung; Sverrir behauptete zwar von sich, der Sohn des Königs Sigurðr munnr zu sein, ergriff aber schließlich die Macht mit Waffengewalt. Erst mit dem Thronfolgegesetz Hákon Hákonarsons 1260 wurde Norwegen wirklich ein Erbkönigtum. 144 Höfler, Der Runenstein von Rök, IX. 145 Schneider, Königswahl, 142  f.

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geeigneter Herrscher zu präsentieren, gehören. Ein wichtiges derartiges Mittel war die Vorstellung eines „Odalrechts“ auf den Thron, ein Recht, das durch Abstammung zu behaupten war. In gewissen Fällen, wenn hinreichende Beweise dafür, dass königliches Blut in den Adern eines Nachfolgeaspiranten floss, fehlten, war auch eine überlegene virtus kein genügendes Argument, um die potentiellen Anhänger überzeugen zu können¹⁴⁶. Es ging dann buchstäblich, wenn auch nicht in einem strikt juridischen Sinn, um das „Recht“ auf den Thron. In diesem Licht muss wahrscheinlich Óttars Erbstreit und „Wette“ (Strophe 9,1, veðja ‚wetten‘) gesehen werden: Óttarr ist eine Wette mit Angantýr darüber eingegangen, wer den vornehmsten Stammbaum habe; der Wetteinsatz ist „wälsches Metall“ (9,2, Vala málmr), Gold¹⁴⁷. Gleichzeitig geht aus der dramatischen Situation¹⁴⁸ deutlich hervor, dass Óttars Vatererbe – das wirkliche Thema des bevorstehenden Streites – mehr sein muss als Gold. Auf die Dauer wird der Sieg das Recht des jungen Königssprösslings auf den Thron legitimieren.

6.3 Das mythologische Thema der skamma In der skamma wird Óttars Erbschaftsstreit zunächst verlassen. Das Thema bleibt genealogisch. Wir bewegen uns aber hier nicht mehr unter den Verwandtschaftszweigen edelgeborener Menschen, sondern unter den Verwandtschaftsverhältnissen von Göttern und Riesen, deren Aufzählung in ein Ragnarök-Motiv mündet. Besonders das Ragnarök-Motiv mag hier merkwürdig und unmotiviert erscheinen. Zwar wird in der Eingangsstrophe der skamma – wie am Anfang des Untergangs in der Vǫluspá – Baldrs Tod erwähnt; was jedoch die darauf folgenden Genealogien mit diesem oder mit dem Untergang zu tun hätten, ist nicht gerade offenkundig. Wenn andererseits angenommen wird, dass der Dichter nur den prosaischen Zweck verfolgt hat, Genealogien aufzuzählen, dann erscheint umgekehrt das Ragnarök-Motiv unbegründet. In der Gesellschaft der Nordgermanen konnte aber wirklich der Untergang oder das Überleben zwar nicht der Welt, aber wohl der Sippe gerade auf Genealogien beruhen. Ich schlage vor, dass die Ragnarök in den Hyndluljóð genealogisch thematisiert werden. Der Untergang der Götter wird ins Licht des genealogischen Interesses des Liedes gestellt und als Folge der zusammenbrechenden genealogischen Ordnung (vgl. Kap. 1.4.2) gedeutet.

146 Bagge, Society and politics, 130. Vgl. Lexikon des Mittelalters 5, 1319. 147 Unnötig scheint mir die Verwirrung der früheren Forscher darüber, wofür vala málmr „stehe“; vgl. Näsström, Freyja, 152; Neckel, Beiträge zur Eddaforschung, 266 (veðja = ‚auf dem Spiel stehen‘; was auf dem Spiel stehe, sei aber Óttars Stammgut); Finnur Jónsson, Literaturhistorie I, 198, Anm. 1 (vala málmr = fǫðurleifð); Midttun, Hyndluljóð, 82 (vala málmr = die Königsregalien). 148 Vgl. z.  B. die erste bzw. letzte Strophe des Liedes.

Das mythologische Thema der skamma 

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Vergleicht man die „kurze Vǫluspá“ mit der „langen“, so wird ersichtlich, dass, trotz der sowohl thematischen wie strukturellen Ähnlichkeiten, die Ragnarök-Schilderung der Hyndluljóð keine sklavische Nachahmung der Vǫluspá ist. Der Untergang der Welt wird hier, z.  T. im Unterschied zu der dramatisch-anschaulichen Vǫluspá, erst durch die Folge der Aneinanderreihung an sich statischer Motive als Verlauf verstanden. Hier begegnet man mit anderen Worten etwa dem, was J. M. Evans als typisch für die germanische Erzähltradition bezeichnet hat. Laut Evans sei das aristotelische Kriterium für ‚Handlung‘ als „men in action“ hier nicht anwendbar. In der germanischen Sage handle es eher von „men in tension“. Im Hildebrandslied sei es z.  B. nicht der Kampf an sich, sondern die Zwangslage der Personen, die sie schicksalhaft und unabwendbar in den Kampf führt, die im Zentrum stehe. „This constant stress on situation,“ sagt Evans, „gave Germanic Saga a very distinctive kind of plot structure. The story unfolds not in a continuous movement but in a series of vivid ‚stills‘ “¹⁴⁹. Dass die „Standbilder“ der skamma genealogischen Charakters sind, tilgt den häufig angenommenen Bruch zwischen skamma und Rahmen. Die skamma wird der Rahmenerzählung angenähert, die Ragnarök werden genealogisch inszeniert. Die „kurze Vǫluspá“ fängt dort an, wo das Ende der „langen“ beginnt: mit Baldrs Tod. In diesem Motiv haben beide Dichter offenbar den Angelpunkt gesehen, um den sich die Weltgeschichte dreht, oder vielmehr: an dem sie endgültig kippt¹⁵⁰. Doch die Bedeutung des Motivs scheint unterschiedlich gedeutet worden zu sein. Nach dem Motiv von Baldrs Tod widmet die Regius-Version der Vǫluspá der Fesselung Lokis eine ganze Strophe (R 35). Die Vǫluspá baut hier wahrscheinlich auf demselben Mythos auf, den auch Snorri zu erzählen weiß. Nach ihm war es ja Loki, der den tötenden Schuss des blinden Hǫðr auf Baldr lenkte¹⁵¹. Gegen die Echtheit des in dieser Form nur bei Snorri überlieferten Mythos als Quelle heidnischer Vorstellungen hat der große Snorri-Kritiker Eugen Mogk¹⁵² eine gute Kritik gerichtet. Mogk hebt vor allem zwei Tatsachen hervor, die meines Erachtens Aufmerksamkeit verdienen: Die Skaldenkenningar der heidnischen Zeit kennen diese Tat Lokis nicht, und nur Snorri weiß über Hǫðr, dass er blind ist¹⁵³. Es kann noch eines hinzugefügt werden: Die Loki-Gestalt fehlt in der entsprechenden Erzählung bei Saxo. Diese Lage deutet an, dass die Vorstellung von Lokis Anteil am Mythos (im Unterschied zu seinem von

149 Evans, Paradise lost, 157. 150 Die zentrale Stellung des Baldr wurde schon – nach Jan de Vries (Die Völuspá, 8) – von Carl Clemen in seiner „Religionsgeschichte Europas“ 1926 erkannt. Dass der Dichter der skamma diesem Motiv endgültige Bedeutung zugemessen hat, geht laut Klingenberg (Edda – Sammlung und Dichtung, 9  f.) auch aus der hier in Strophe 29 erwähnten Elfzahl der Asen, „die Verminderung einer Rundzahl“, vor: eine Andeutung auf den Anfang des Endes. 151 Gylfaginning 33, 64. 152 Zuerst dargelegt in Novellistische Darstellungen (11  ff.), dann (teilweise als Antwort auf F. R. Schröders Kritik) im Artikel „Lokis Anteil“. 153 Mogk, Lokis Anteil, 2; vgl. dens., Novellistische Darstellungen, 12.

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Dumézil¹⁵⁴ behaupteten indogermanischen Ursprung) erst spätheidnisch und westnordisch war. Dass sie erst mit Snorri und seiner Schule zu Reyjkaholt entstanden sein sollte¹⁵⁵, kann dagegen nicht richtig sein. Ich kann z.  B. nicht mit Mogk sehen, dass die Vǫluspá-Strophe über Lokis Fesselung, die unmittelbar auf die Episode über den Mythos seines Todes folgt, „ein ganz neues Bild“ sein soll¹⁵⁶. Ganz im Gegenteil: Die Fesselung ist unerklärbar, wenn man diese Strophe (35) nicht mit den vorhergehenden Strophen 31–34 von Baldrs Tod verknüpft. Wenn die eddischen Dichter, die offenbar einen Zusammenhang von Loki und Baldrs Tod voraussetzten¹⁵⁷, sich bezüglich dieser Ansicht auf Vǫluspá R 35 stützten, deutet das dessenungeachtet darauf hin, dass schon sie die Strophe in dieser Weise gedeutet haben. Lokis Anteil am Mord an Baldr steht demnach fest, obwohl wir der Entwicklung des Motivs nicht Schritt für Schritt folgen können¹⁵⁸. In den Hyndluljóð dagegen, in den acht knappen Zeilen von Strophe 29, wird Loki nicht einmal erwähnt – obwohl die Bezeichnung handbani (des Baldr) ‚Töter durch die Hand‘ (also Hǫðr) vielleicht das Vorhandensein eines ráðbani ‚Töter durch den Rat‘ (also Loki) andeutet¹⁵⁹. Diese Verlagerung des Schwerpunkts des Mythos ist wichtig. Zwar schloss schon Lokis Anteil an Baldrs Mord eine genealogische Riesenproblematik in sich ein, da die Blutsbrüderschaft mit Óðinn dem Riesen einen Platz mitten unter

154 Loki (1959, Erstveröffentlichung 1948). 155 So Mogk, Lokis Anteil, 1. 156 Mogk, Lokis Anteil, 3; vgl. dens., Novellistische Darstellungen, 13; de Vries, The problem of Loki, 167  f. 157 So in Lokasenna 28, in der der hechelnde Loki der Frigg stolz zurief, Z. 3: ec þvi ręd, | er þv riþa serat | siþan Baldr at sꜹlom ‚mein Werk war’s, | daß du nach Walhall reiten | den Sohn [Baldr] nicht mehr siehst‘ (Übersetzung Edda, ed. Genzmer, 97). Um diesen Zeilen den Quellenwert für Loki als BaldrTöter abzusprechen, muss Mogk annehmen, dass Lokis Worte auf seine Rolle als Þǫkk bezogen wären. Soll aber Snorri als Quelle angezweifelt werden, dann muss erkannt werden, dass Lokis nur bei Snorri bezeugte Identität mit Þǫkk einen ebenso geringen oder großen Quellenwert besitzt als seine Lenkung von Hǫðs tötendem Schuss. Vgl. de Vries’ zweifelnde Ansicht, The problem of Loki, 170. 177  f. – In der Schlussstrophe der Baldrs draumar werden die Ragnarök erwähnt und mit der Zeit gleichgesetzt, in der lꜹss Loki | liðr or bǫndvm ‚Loki loskommt aus den Fesseln‘ (14,5  f.). Wenn dieses Motiv als das Ende eines Liedes über Baldrs Tod vorkommt, kann das wohl nicht anders denn als Hinweis auf Lokis Rolle in diesem Ereignis und der darauf folgenden Fesselung gedeutet werden. – Schließlich erzählt Hyndluljóð 29 kurz von Baldrs Tod, zwar ohne Loki zu erwähnen, aber ihn vielleicht andeutend (Hǫðr als handbani, siehe dazu unten). 158 Könnte z.  B. die Blindheit des Hǫðr bei Snorri ein christliches Motiv sein? Longinus hatte man sich, wie Dronke (Edda, ed. Dronke II, 97) bemerkt, nach einigen Traditionen seit dem 8. Jahrhundert als blind vorgestellt und Baldrs Ähnlichkeit mit Christus liegt auf der Hand. 159 Siehe dazu de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte II, 218, mit Anm. 1. Besonders wertvoll erscheint der Hinweis, der ráðbani sei im norwegischen Recht nur als halb so schuldig angesehen worden als der handbani; „es ist also vollkommen richtig, dass Hǫðr die volle Buße [d. h. den Tod, während Loki gefesselt wird] erleidet“ (ebd., Anm. 1). Auf Lokis Rolle im Weltverfall kommen auch die Hyndluljóð später zurück.

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den Göttern gestattete; der Hyndluljóð-Dichter hat aber beschlossen, an der Stelle Váli und Hǫðr im Zentrum des mythologischen Motivs zu platzieren. Und er findet es wert zu erwähnen, dass Baldr und Váli (wie auch Váli und Hǫðr) Brüder sind (sins brodur, 29,7; vgl. Vǫluspá 32,5). Der Brudermord war ja für die Germanen etwas besonders Verächtliches – so auch in der Vorlage der Hyndluljóð, der Vǫluspá (Strophe 45). Kannten die Rezipienten den Mythos, so wie er aus anderen Quellen rekonstruierbar ist und als bekannt vorausgesetzt wird¹⁶⁰, wussten sie aber, dass Váli kein gewöhnlicher Bruder war: Óðinn hatte ihn mit Hilfe von Zauber, d. h. wohl unter Zwang, für den einzigen Zweck der Rache für seinen Sohn Hǫðr mit einer Riesin¹⁶¹ gezeugt. Wie mir scheint mit Recht hat Margaret Clunies Ross bemerkt, dass die altwestnordischen Quellen besonders diese merkwürdigen Umstände der Zeugung des Rächers betonen und damit erklärt, dass dies der einzige Weg sei, um die Fehde aus der Familie herauszunehmen¹⁶²: Óðinn konnte nicht an seinem vollblütigen Sohn Rache nehmen, denn dann würde sich die Kette von Rachetaten endlos innerhalb der Familie fortsetzen, bis diese zugrunde gegangen wäre. Die „Lösung“ aber schafft eventuell ein neues Problem: die Verbindung eines Asen mit einer Riesenfrau. Die unheilvolle Art solcher Verbindungen für Asgard wurde im Abschnitt über das „mythologische Ordnungsmodell“ analysiert: Affinale Beziehungen mit den Riesen müssen vermieden werden. Der spezifische Fall von Váli und Rindr bestätigt die Analyse, indem mehrere Quellen angeben, Óðinn müsse Rindr mit List oder Zauber, also ohne Verlobung, Versprechungen oder überhaupt seine wahre Identität zu verraten, vergewaltigen¹⁶³. Zieht man in Betracht, dass das ganze Thema der Hyndluljóð genealogisch ist, verwundert es nicht, dass der Dichter den Akzent auf diese ausgeprägt genealogische Problematik – den Brudermord und, implizit, die Zeugung Vális – legt. Schon die nächste Strophe verdichtet diese Andeutungen auf die schicksalshafte Verbindung mit der Riesenwelt, Hyndluljóð 30: „War Baldrs Vater | Burs Erbe“ (Var Balldrs fadir | Burs arfþegi). Den Rezipienten dürfte es aber bekannt gewesen sein, dass die Mutter von Burs Abkömmlingen als eine Riesin gedacht wurde¹⁶⁴. Wie ersichtlich wird, ist Baldrs Tod durch den Riesen Loki hier nur eine Masche in einem Netz von Beziehungen der Götter mit den Riesen, ein Teil des allmählichen Eindringens von Utgard in Asgard.

160 Vǫluspá 33; Baldrs draumar 8–11; Grógaldr 6; Kormáks Sigurðardrápa 3 (um 960; Skj. B I, 69); und eine längere Erzählung bei Saxo, Gesta Danorum III,I–IV und Snorri, Gylfaginning 33–35. 161 Die Identität von Rindr (Rinda) ist freilich nicht ganz klar; die meisten Forscher nehmen aber an, dass sie – wie Gunnlǫð im parallelen Mythos – eine Riesin ist; siehe oben, S. 31, Anm. 135. 162 Clunies Ross, Prolonged echoes I, 271  ff., mit Hinweis auf die vergleichbare Erzählung über die Brüder Hæðcyn und Herebeald im Bēowulf. Vgl. auch Lindow, Murder and vengeance, 178; Lassen, Øjet og blindheden, 73  f. 163 Letzteres bei Saxo, Gesta Danorum III,IV,1–8; vgl. Grógaldr 6,3: þann gól Rindi Rani; Kormákr, Sigurðardrápa 3,4 (Skj. B I, 69): seið Yggr til Rindar. 164 Die Belege zu dieser Vorstellung sind von Steinsland (Det hellige bryllup, 268  f.) gesammelt worden.

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Auch in den folgenden Strophen bleibt das genealogische Thema bestimmend. Bereits Strophe 30 setzt fort (Z. 3  ff.): „Freyr hatte Gerðr [zur Frau], | sie war Gymis Tochter, | vom Riesengeschlecht“ (Freyr átti Gerði, | hon var Gymis dóttir, | jǫtna ættar). Die Zeilen scheinen wiederum nur dazu zu dienen, die Verwandtschaft zwischen Riesen und Göttern deutlich zu machen. Das geschieht nicht einfach so. Die genealogische Mitteilung in Hyndluljóð 30 hängt zweifellos mit dem sukzessiven Untergang zusammen, der den Leser oder Zuhörer allmählich zu Ragnarök führt. Die Verschwägerung der Götter mit den Riesen bedeutet vor allem eine potentielle Verpflichtung jener gegenüber diesen. Dass der Dichter sich dieses Verhältnisses bewusst war, deuten schon die ersten Zeilen des Liedes an, in denen Freyja die Riesin als ihre „Schwester“ (systir, 1,3) anspricht, um ihre Hilfe zu erbitten. Die Hilfeleistung konnte in beide Richtungen erfolgen, doch den größten Vorteil davon hatte die sozial untergeordnete ætt der Riesen. Die Autonomie der Götter ist nur durch die Verneinung der Matrilinien aufrechtzuerhalten. Und so bekommen die Verwandtschaftsbeziehungen im eschatologischen Kontext des Gedichts ihre volle und schicksalshafte Bedeutung als Ausdruck der Hinfälligkeit der alten Ordnung. Als das Lied, was den Stoff betrifft – die Handlung schreitet ja beständig vorwärts – weiter zurück in der Vergangenheit fortsetzt, hängt auch das mit der genealogischen Thematisierung des Weltuntergangs zusammen; wenn das Lied schließlich zu Ymir, dem Ursprung „aller Riesen“ ([eru] iotnar allir | fra Ymi komnir, 33,7  f.), kommt, ist es nämlich auch, genealogisch gesehen, an die Wurzel allen Übels gekommen. Die Genealogien der Hyndluljóð erfüllen folglich einen mit der Nacherzählung der Vergangenheit in der ersten Hälfte der Vǫluspá völlig analogen Zweck. Beide Dichter fragen nach den mythologischen Ursachen des Weltverfalls, der zu Ragnarök führen wird, nur ihre Antworten sind verschieden. Für den Dichter der Hyndluljóð wären zunächst die Worte des Riesen Vafþrúðnir aus einem anderen Eddalied naheliegend gewesen: „von dort“, sagt er, nämlich vom Urriesen Ymir, „stammen alle unsre Sippen her: darum ist das alles ewig abscheulich“ (þar ero órar ęttir | komnar allar saman, | því er þat ę allt til atalt, Vafþrúðnismál 31,4  ff.). Länger zurück kann uns die überlieferte Mythologie nicht führen. In Ymir und Búri sind die beiden Urahnen der ætt der Riesen bzw. der Götter verkörpert, der beiden Linien, die in der Mythologie bis zu den Ragnarök in feindseliger Spannung zueinander stehen werden, und schon Búris Enkelsöhne – so die Hyndluljóð – waren doch mit den Riesen verwandt. Die Vision der Vǫluspá in skamma erscheint demnach ebenso pessimistisch wie der mittlere Teil der Vǫluspá: Die alte Ordnung sei mit Fehlern behaftet; obwohl noch ehrwürdig, seien ihre Götter dem Untergang geweiht – eine Vision, deren Übergang in die Untergangsschilderung folglich nicht mehr so merkwürdig scheint, wie etwa Sophus Bugge einst annahm.

Die Hyndluljóð als Ganzes 

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6.4 Die Hyndluljóð als Ganzes 6.4.1 Die Mythologisierung des Erbstreits Erbstreit und Endschlacht. Das genealogische Thema durchzieht beide Teile der Hyndluljóð, die menschliche Ebene und die göttliche; es ist der rote Faden des Gedichtes. Óttarr muss sich seines Stammbaums erinnern, um sein Odal und Erbe, das Königtum, gegen Angantýr verteidigen zu können. Die Herrschaft der Götter ist durch die Affinität mit den Riesen bedroht; wo diese nicht die territorialen Grenzen Asgards überschreiten können, versuchen sie, die genealogischen zu kreuzen. Utgard drängt in das Zentrum. Eher als die Nebeneinanderstellung dieser Themen der Rahmenerzählung und der skamma für das Werk eines „verständnislosen Pfuschers“ (R. C. Boer) zu halten, möchte ich annehmen, dass der Dichter damit besondere Intentionen verfolgt hat. Óttars Status und Rechte sind in seiner Herkunft begründet. Er kann König werden, weil er edler Abstammung, mit den Göttern und Königen verwandt ist. Das tragende Thema der Rahmenerzählung ist aber, dass er seinen Stammbaum nicht kennt. Die künftige Herrschaft des, von den Göttern bevorzugten¹⁶⁵, als SkilfingenNachkommen stilisierten Schützlings Freyjas ist deshalb bedroht und der Weg zum Thron für andere, eigentlich weniger berechtigte, sozial weniger hoch gestellte Sippen geöffnet. Es ist keine große Übertreibung, wenn Freyja in der 1. Strophe des Gedichts die aktuelle Situation expressis verbis mit den Ragnarök vergleicht: nu er rauckr rauckra (Z. 5). Denn auf die Dauer wird natürlich nicht nur Óttars Königswürde, sondern die Macht und Zukunft aller ættir seiner Verwandtschaft, die Position aller Edelgeborenen durch den Verlust des notwendigen genealogischen Wissens gefährdet. Hier, bereits in der 5. Zeile der 1. Strophe, zeigt sich also die erste Andeutung darauf, dass Óttars Erbschaftsstreit ein mythologisches Gegenstück hat. Dadurch, dass der Dichter Freyja Óttars verfahrene Situation mit dem Untergang der Götter vergleichen lässt, gewinnt Óttars Erbschaftsstreit eine mythologische Tiefe, wird gewissermaßen „mythologisiert“. Wenn das hier angedeutete eschatologische Motiv in der skamma weiter ausgearbeitet und zudem genealogisch thematisiert wird, kann dies als eine Fortsetzung desselben Vergleiches angesehen werden. Das unmittelbare tertium comparationis liegt natürlich im Untergang der dominanten Ordnung¹⁶⁶ in Midgard und Asgard. Aber bei den Göttern wie bei Óttarr scheint in den Hyndluljóð der Untergang auch mit

165 Freyja ist ja Óttars Schutzgöttin (Rahmen). Óttarr selbst ist der Göttin treu (Hyndluljóð 10). Und alle Götter sollen Óttarr – so die letzten Worte Freyjas (Strophe 50) – in seinem Streit für sein Erbe beistehen. 166 Vgl. oben, Kap. 1.4.2.

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der potentiellen Auflockerung der agnatischen Verwandtschaft verbunden zu sein. Auch das Odal der Asen wird von den Ansprüchen einer fremden Sippe (der Riesen) bedroht. Und so verbindet sich die skamma mit dem Rahmen, eine Verbindung, durch die Óttars Erbschaftsstreit also mit dem Untergang der Götter verglichen und gewissermaßen ins Mythologische gesteigert wird. Die Ragnarök der dominanten Ordnung seien die äußerste Konsequenz der sozialen Mobilität durch Affinität: das treffend ausgesuchte literarische Bild für den Preis dafür, dass die agnatischen Ahnenlinien in Vergessenheit geraten und der Weg zum Zentrum der Macht für unedleres Blut geöffnet wird.

6.4.2 Heimdallr und die soziale Ideologie der Hyndluljóð Die mythologische Endschlacht wird genealogisch thematisiert, der Erbschaftsstreit um das Königtum ins Mythologische gesteigert: die skamma verbindet sich in den Hyndluljóð mit dem Rahmen. Aber auch Heimdallr nimmt – entsprechend seiner betonten Stellung in der skamma – als Bindeglied zwischen den beiden Teilen des Gedichtes einen zentralen Platz ein. Heimdallr taucht in den Hyndluljóð zum ersten Mal in Strophe 35, gerade vor dem nahenden Untergang, auf. Dies ist vergleichbar mit seiner Rolle als Ankünder der Endzeit in der Vǫluspá. Wie im Kapitel von Heimdalls Horn dargelegt wurde, wird der Gott in diesem Lied weder als Wächter noch als Beschützer Asgards ausgemalt, und trotzdem nimmt er hier eine Rolle als Vertreter der untergehenden Ordnung ein. Auch dies ist den Hyndluljóð ähnlich. Hier nimmt Heimdallr ebenso wenig wie in der Vǫluspá eine aktive Rolle in einem endzeitlichen Kampf ein, wird aber gleichwohl als geeigneter Verteidiger Asgards dargestellt. Dies wurde schon oben im Kapitel zu Heimdalls Geburt, zu der die Hyndluljóð die ausführlichste Quelle darstellen, dargelegt. Der Dichter führt uns mit Heimdallr in den Bereich des Kriegerischen. In Strophe 35,6 wird der Gott als waffenprangend oder waffenschwer bezeichnet. Seine magische Stärkung (Hyndluljóð 35,2. 38. 43,3  f.) deutet eventuell einen Übergangsritus und Kraftstärkung und auf alle Fälle einen kampfbereiten Gott an. In Strophe 43 steht dann der kraftgestärkte Gott als mächtiger Häuptling (stillir stórauðgastr, Z. 5  f.) da. Schließlich nehmen die Hyndluljóð auch das die Vǫluspá einleitende Motiv von Heimdallr auf: seine Stammvaterschaft (Hyndluljóð 43). Offenbar sind diese Motive aber keinesfalls eine bloße Nachahmung der Vǫluspá. Die Akzentuierung des Kriegerischen und der Kraftstärkung Heimdalls bringt den Gott näher mit dem Inhalt der Hyndluljóð zusammen; der Protagonist der skamma, Heimdallr, erscheint hier als Pendant zum Protagonisten der Rahmenerzählung, Óttarr, dem als fürstlicher und kriegerischer Gestalt idealisierten heidnischen Skilfingenkönig, mit dem Streiteber als Attribut.

Die Hyndluljóð als Ganzes 

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Die „zweite Geburt“ Heimdalls, die ihn erst zum starken Krieger zu machen scheint, entspricht gewissermaßen dem Werden Óttars zu einem würdigen Herrscher. Vom Beginn an erscheint Óttarr durch den Beinamen ungi als ein junger Mann. Er ist „dumm“ – der Beiname heimski¹⁶⁷ hat einen vielleicht nicht zufälligen Anklang an Heimdallr¹⁶⁸ –, weil er seine Ahnen nicht kennt, aber belehrbar. Das Wissen soll er in einer Art Probe – der Darlegung seines Stammbaumes – verwenden, vergleichbar mit dem Übergangsritus Heimdalls, denn erst danach kann er König werden. In der 4. Langzeile der 43. Strophe wird Heimdallr schließich als sif sifiadann | siotum giorfaullum ‚durch Verwandtschaft verwandt mit allen Geschlechtern‘ bezeichnet. Im Kapitel über Heimdalls Vaterschaft wurde dies als eine wahrscheinliche, aber allein durch diese Strophe nicht weiter begründbare Anspielung auf Heimdalls in Vǫluspá 1 erwähnte und in der Rígsþula weiter ausgestaltete Vaterschaft – die Urheberschaft der sozialen Stände – gedeutet. Diese Deutung erscheint aber auch kontextuell, zunächst in den unmittelbar umgebenden Strophen der Hyndluljóð, sinnvoll. Durch die Gegenüberstellung mit Loki wird Heimdalls Vaterschaft auch hier als eine Etablierung von Ordnung dargestellt. Der 43. Strophe geht die Ragnarök-Strophe (42) voran. Direkt vor ihr stehen zwei Strophen über Loki (40  f.), die von den Strophen über Heimdalls Geburt und Kraftstärkung (37  f. samt Stefstrophe) eingeleitet werden. Die Strophen über Loki bilden somit den Abschluss und Höhepunkt der Eschatologie. Sie lauten: 40.

Ol vlf Loki vid Angrbodu, enn Sleipni gat vid Suadilfara; eitt þotti skars allra feiknazst, þat var brodur fra Byleistz komit.

‚Den Wolf zeugte Loki | mit Angrboða | und empfing Sleipnir | von Svaðilfari; | eine Hexe erschien | von allen die unheilvollste, | die stammte von dem Bruder Býleists ab‘¹⁶⁹. 41.

Loki [át] af hiarta¹⁷⁰ lindi brendu, fann hann hlfsuidinn hugstein konu¹⁷¹; vard Loptr kuidugr af konu illri; þadan er  folldu flagd huert komit.

167 Hyndluljóð 16,10. 17,6. 20,10. 21,8. 23,8 und anderswo. 168 Vgl. Höfler, Sakralkönigtum, 236, Anm. 523. Vgl. auch Klingenberg, Edda – Sammlung und Dichtung, 19. 34. 169 Übersetzung Edda, ed. von See III, 799. 170 Die Emendation af > át af stammt aus Edda, ed. Detter/Heinzel, zur Stelle. Siehe zur Problematik Edda, ed. von See III, 803  ff. 171 F komu.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

‚Loki [aß] vom Herzen, | dem mit Lindenholz gebrannten, | er hatte einen halbverbrannten Sinnes-Stein¹⁷² 〈einer Frau〉 gefunden; | Loptr wurde schwanger | von einer bösen Frau; | davon ist auf Erden | jedes Trollwesen gekommen‘¹⁷³.

Die Mythen, auf die hier angespielt wird, sind z.  T. von anderswoher bekannt. In Gylfaginning 25 setzt Snorri das Motiv von Sleipnis Geburt in den Kontext des wohl in Vǫluspá 25  f. angedeuteten Burgbaus. Einem Riesen wird dort versprochen, Freyja, die Sonne und den Mond zu bekommen, wenn er innerhalb des mit Ende des nächsten Winters festgelegten Termins mit Hilfe des Pferdes Svaðilfari die Burg der Asen fertigstellen kann. Um das zu verhindern, verwandelt sich Loki in eine Stute und lockt Svaðilfari in den Wald, wo der Halbgott von Óðins Pferd, Sleipnir, schwanger wird. Auch Lokis Vaterschaft in Bezug auf den Fenriswolf scheint in der mündlichen Tradition verbreitet gewesen zu sein¹⁷⁴. Eine große Bedeutung ist der Vorstellung zugemessen worden, dass diese Vaterschaft Lokis eigentlich aber eine Mutterschaft ist, dass Loki mit einem Wort die weibliche Rolle der Gebärenden annimmt. So setzt die Lokasenna Lokis „Vaterschaft“ in direkte Verbindung mit der Eigenschaft der „Perversität“ (ergi): Wie wage es der perverse (ragr) Ase, der doch Kinder geboren habe, in Ægis Halle zu kommen, fragt sich z.  B. Njǫrðr Strophe 33,4  ff.¹⁷⁵. Dieselbe unreine Natur der Geburt wird nun in der zweiten der beiden oben zitierten Strophen der skamma weiter ausgemalt: Loki isst ein Herz und wird davon schwanger. Die Konzeption hat nichts Natürliches an sich, ein Verhältnis, das sich in der Art der Nachkommen widerspiegelt: flagd huert ‚jeder Unhold‘ stamme von Loki (Hyndluljóð 41,8). Wie Loki ein Platz am Höhepunkt der Eschatologie gegeben worden sein kann, ergibt sich einwandfrei durch die obenstehenden Erwägungen. Er kann wie kein anderer den genealogischen Konflikt der skamma verkörpern. Loki, der Halbriese, der Überschreiter territorialer und genealogischer Grenzen, gebiert durch seine (geschlechtsüberschreitende) Niederkunft die Streitkräfte Utgards, die durch Lokis Blutsbruderschaft mit Óðinn potentiell „verwandt“ sind. Schon Hermann Schneider¹⁷⁶ erkannte, dass mit diesen Strophen (40  f.) Loki Heimdallr (35–38, gefolgt von einer Stefstrophe) gegenübergestellt wird. Die Kontrastierung gerade dieser beiden Wesen scheint treffend. Bereits das Motiv der Geburt eines göttlichen Wesens durch neun Riesinnen bzw. aller Unholde Utgards durch Loki

172 hugsteinn ‚Sinnes-Stein‘ = ‚Herz‘, vgl. geðsteinn, hugarkorn und anderes mehr. 173 Übersetzung Edda, ed. von See III, 803. 174 Vgl. Haustlǫng 8 (Skj. B I, 15). 175 hitt er vndr, sagt Njǫrðr, er áss ragr | er her inn of kominn, | oc hefir sa born of borit. Vgl. Lokasenna 23,7  f. 176 Eine Uredda, 34.

Die Hyndluljóð als Ganzes 

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wirkt wie ein Chiasmus¹⁷⁷. Aber vielleicht wird auch eine direktere Analogie beabsichtigt. Schon Úlfr Uggason stellte ja in seiner Húsdrápa Heimdallr und Loki einander gegenüber, und zwar als Vorkämpfer der Regeneration der Sippe der Götter bzw. der Riesen. Wenn Hyndluljóð 43 auf Heimdalls Vaterschaft anspielt, dann könnte mit dem Vergleich von Heimdallr und Loki in den Hyndluljóð auch hier die Gegenüberstellung gerade dieser Eigenschaften beabsichtigt sein: Loki als Stammvater gebiert Unordnung, Heimdallr die soziale, durch genealogische Differenzierung bestehende Ordnung. Mit dem Motiv von Heimdalls Vaterschaft zeigt sich, dass Heimdallr nicht nur auf synchroner Ebene eine Analogie in der mythologischen Welt zum Vertreter der dominanten Ordnung in der menschlichen ausmacht, sondern dass er gleichzeitig auch diachron, als Ursprung der ganzen genealogischen Ordnung, um die es in den Hyndluljóð geht, die beiden Welten verbindet. Hierin scheint sich die Vorstellung noch einmal zu bestätigen, dass Heimdallr vorgestellt wurde, sowohl mit der ganzen Ordnung als insbesondere auch mit der dominanten Ordnung in der Welt der Götter und der Menschen verbunden zu sein. Die Hyndluljóð erweisen sich damit als sehr eng mit der der Rígsþula unterliegenden Ideologie verwandt. In der Rígsþula ist Heimdallr-Rígr der Vater aller sozialen Stände – vgl. auch Hyndluljóð 43,8: gǫrv-allir, mit verstärkendem gǫrv-, Adverb althochdeutsch garwe, neuhochdeutsch gar, bedeutet ‚alle‘ und wirklich ‚alle‘. Aber nur einer der Söhne – der Edelgeborene Jarl – wird vom Gott anerkannt, quasi durch einen Übergangsritus (Initiation) adoptiert, und ihm wird der Name des Gottes, also die Würde, Rígr zu heißen, geschenkt (Rígsþula 36). In derselben Strophe bittet der Gott interessanterweise Jarl, die „Odalfluren“ (óðalvǫllu, Z. 8/9) zu übernehmen. Das Motiv scheint mit der Würde des Jarl zusammenzuhängen. Hier sind die Vorstellungen vom Odal höchst lebendig. Ahnen und Abstammung, Grund und Boden gehören zusammen und begründen Status, Rechte und Herrschaft. Als der Erste, der Ursprung der Stammlinie kann Heimdallr-Rígr die Odalfluren an Jarl übergeben. Zwar wird hier nicht vom ganzen Reich als Odal des Königs gesprochen, wenn Kon-ungr aber in Rígsþula 45 in ähnlicher Weise die Würde von Jarl erwirbt, dann scheint der Gedanke des „Odalrechts auf den Thron“, den die Rahmenerzählung der Hyndluljóð zum Thema hat, nur einen Schritt entfernt zu sein. Die Beziehung zwischen Heimdallr-Rígr und den Edelgeborenen erstreckt sich aber möglicherweise sogar weiter. Wie im Kapitel über Heimdalls Vaterschaft angedeutet wurde, scheint Rígr teilweise auch als mythologisches Urbild von Jarl konzi-

177 Vgl. Dronke, Sem jarlar fordum, 70: „Loki’s monstruos progeny appears, according to its placing in Hyndlolióð, to be the counterpart of the divine progeny of nine giantesses“. Vgl. auch Klingenberg, Edda – Sammlung und Dichtung, 11.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

piert zu sein. In der Weiße der *jarla ættir wird die Weiße ihres göttlichen Stammvaters (inn hvíti áss) widergespiegelt. In der Rígsþula wird Heimdallr-Rígr also ganz ähnlich wie in den Hyndluljóð sowohl als mythologisches Gegenstück zum vom Dichter ausgewählten Vertreter der „dominanten Ordnung“ der Gesellschaftsordnung als auch als Urheber dieser Ordnung an sich dargestellt. In beiden Gedichten ist ferner nicht notwendig von einer spezifischen edlen Abstammungslinie die Rede. Betrachtet man die Genealogie, die Hyndla aufzählt, muss eines auffallen: die Verwandten erscheinen als eine große Familie von „Edelgeborenen“, von den Geschlechtern der Skilfingar, Ǫðlingar und Sagenkönige bis zu den Helden der Sigurðr-Tradition¹⁷⁸. Damit gerät sie, wie mir scheint, in die unmittelbare Nähe zum sozialen Modell der Rígsþula. Óttars Stammbaum entspricht der Vorstellung von der *jarla ættir der Rígsþula, den „höheren Heimdallssöhnen“ von Vǫluspá 1. Ich würde zögern, diesen Gedanken als eine „Königsideologie“ zu bezeichnen. Eher sind wir hier auch bezüglich der Rolle des Königs auf demselben Boden wie die Rígsþula – um mit Tacitus¹⁷⁹ zu sprechen: reges ex nobilitates […] sumunt. Aus den ættir der Edelgeborenen werde der künftige König – Óttarr ungi bzw. Konr ungr – hervorgehen. Die edle Geburt berechtigt zur Anwartschaft auf den Thron. Demgemäß wird die Sozialordnung in der Rígsþula – und in den Hyndluljóð – nicht als Auswirkung der königlichen Herrschaft dargestellt. Eher wird die soziale Ordnung, und vor allem die edle ætt, aus der nach beiden Gedichten der künftige König hervorgehen soll, als die Grundlage des Königtums gedacht. Als Konr ungr aus Jarls ætt hervorgeht, erbt er zwar den Namen Rígr, der Gott hat jedoch nicht mehr eine direkte Beziehung zu ihm. In ähnlicher Weise ist Óttar ungis Schutzgottheit in den Hyndluljóð Freyja, nicht Heimdallr. Heimdallr-Rígr scheint hier immer nur mit dem Stand der Edlen im Allgemeinen, nicht aber mit den einzelnen Königshäusern verbunden zu sein. Doch gerade als Urheber der Stände und Vertreter der Edlen nimmt Heimdallr im Großgedicht der Hyndluljóð eine Sonderstellung ein. Er ist das göttliche Fundament derselben Ordnung, aus der das Königtum hervorgeht.

178 Im Licht dieser Vorstellungen wäre es verlockend, mit von See (Sippe, 112) sjǫt in Hyndluljóð 43,8 mit ‚Herrschaftssitzen‘ zu übersetzen und als Bezeichnung nur für die iofra ættir der Hyndluljóð zu verstehen. Doch dies würde wohl heißen, zu viel in das Wort hineinzulesen, denn sonst scheint es nur ‚Wohnsitze‘ im allgemeinen Sinn zu bedeuten. 179 Germania 7.

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6.4.3 Heimdalls Wiederkehr? Der Untergang der alten Welt wurde schon in der Vorlage der Hyndluljóð, der Vǫluspá, vorgebildet. Der Hyndluljóð-Dichter brauchte nur Altes in einer neuen Weise, gemäß seiner Intention, die genealogischen Grundlagen des Königtums zu thematisieren, zu verwenden. Im Grunde scheint er sich ganz an die pessimistische Vision der Vǫluspá zu halten: Die alte Welt der Mythologie ist mit Fehlern behaftet und muss untergehen. Damit gewinnt auch die Hervorhebung des Dichters vom Riesencharakter der Wellenmütter Heimdalls (Hyndluljóð 35. 37) ihre sinnvolle Funktion: Auch Heimdallr, auch die Antithese zum Riesen Loki, der kampfbereite Urheber der genealogisch begründeten Sozialordnung, ist mit den Riesen verwandt und so mit allen Göttern in die genealogische Problematik einbezogen. In der Vǫluspá kommt neben der Vorstellung vom Weltuntergang aber auch die Hoffnung auf eine neue Welt nach den Ragnarök zum Ausdruck. Auch dieses Thema hat der Dichter der Hyndluljóð aufgenommen. Nach der Strophe von der revoltierenden Natur (42) kehrt der Dichter zu Heimdallr zurück. Eschatologisch schildert diese Strophe (43) kein Geschehen. Sie dient nur als Introduktion der nächsten Strophe: 44.

Þa kemr annar enn mtkari, þo þori ek eigi þann at nefna; fir sia nu fram vm leingra, enn Odinn man vlfui mæta.

‚Dann kommt ein anderer, | noch mächtigerer, | doch wage ich nicht, | diesen zu nennen; | wenige sehen jetzt | weiter nach vorne [in die Zukunft], | als [bis zu dem Augenblick, in dem] Óðinn den Wolf treffen wird‘¹⁸⁰.

Die Strophe hat starke Anklänge an die nur in der Vǫluspá-Version der Hauksbók (H) überlieferten Strophe Vǫluspá 65 (Vǫluspá H 58). Eine Beeinflussung der Hyndluljóð von dieser Version der Vǫluspá ist jedoch kein zwingender Schluss¹⁸¹. Neue Studien haben die Wahrscheinlichkeit gestärkt, dass die in der Hauksbók vorliegende Form der Vǫluspá auf dem Eingriff des Schreibers beruht¹⁸². Die schon früher häufig als

180 Übersetzung Edda, ed. von See III, 817. Die Hakenparenthese rührt vom Übersetzer her. 181 Die angeblichen Anklänge an andere Stellen dieser besonderen Version (siehe Edda, ed. von See III, zu den Stellen) können beanstandet werden. Vǫluspá H 48,5  f. mun Óðíns sonr | ormi mœta müssen ja nicht das Vorbild zu Hyndluljóð 44,7  f. sein. mœta ist kein ungewöhnliches Verb. Die Information er Óðinn ferr | við úlf vega findet sich außer in Vǫluspá H 46 auch in R 51. 182 Ich denke vor allem an Judy Quinns Untersuchung der Unterschiede zwischen Vǫluspá R und H und ihre Bedeutung für die vorliegende Form der letzteren Version (Vǫluspá; vgl. dies., Editing the Edda) samt an K. G. Johanssons Studien zum Schreiber von Vǫluspá H, der sich nach Johansson nicht gescheut habe, sein Material zu redigieren und für seine Zwecke zurechtzulegen (Vǫluspá; ders., Studier i Codex Wormianus).

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

Interpolation betrachtete Vǫluspá H 58 könnte dann ebenso gut auf eine Kenntnis der Hyndluljóð zurückgeführt werden. Wer dieser neue unbenannte Gott ist, ist in der Forschung viel diskutiert worden¹⁸³. Gemäß der herkömmlichen späten Datierung der Hyndluljóð wird der neue Gott gewöhnlich als Christus gedeutet¹⁸⁴. Für den Kontext der Flateyjarbók ist vorgeschlagen worden, dass die Gestalt im Rahmen dieser Handschrift als ein künftiger König gedeutet werden könnte¹⁸⁵, was weder mit Christus als Vorbild des rex perpetuus noch mit der hier verfolgten Annahme, dass das Königtum das Thema der Hyndluljóð darstellt, unvereinbar wäre. Andere wiesen auf andere heidnische Götter¹⁸⁶ oder auf indogermanische Parallelen hin¹⁸⁷. Einige haben sogar gemeint, der Gott sei Heimdallr selbst, der nach dem Untergang wiederkehre, um eine neue, bessere Ordnung zu begründen¹⁸⁸. Paradox scheint mir dabei Gro Steinslands Annahme, Heimdallr wäre gerade deshalb der geeignete Begründer einer besseren Ordnung, weil er von neun Riesenmüttern geboren ist¹⁸⁹. Auch nach Steinsland bestehe nämlich kein Zweifel darüber, dass die Riesen in den Hyndluljóð als Ursprung des Übels betrachtet werden¹⁹⁰, und

183 Julia Zernack (Hyndlulioð, 91) neigt aber dazu, die Verrätselung als „gewollt unlösbar“ zu akzeptieren. 184 So meinten Detter und Heinzel, die Strophe stelle „wahrscheinlich Christus dem Heimdal gegenüber“ (Edda, ed. Detter/Heinzel II, 632). Vgl. Klingenberg, Edda – Sammlung und Dichtung, 13. 185 Würth, Ragnarök, besonders S. 587  f.; Midttun, Hyndluljóð, 88  f. Vgl. Steinsland, Konge, 174. 186 Sijmons und Gering meinten, die bereits zu ihrer Zeit geläufige Auslegung der Strophe als christlich sei unberechtigt: „Der neue götterstaat erfordert ein neues oberhaupt, nachdem die alten hauptgötter (Óþenn, Þórr, Freyr) untergegangen sind“ (Edda, ed. Sijmons/Gering III 1, 76, zu Vǫluspá 65; vgl. zu Hyndluljóð 44, 397). Die Identität dieses Gottes lasse das Lied aber nicht erraten, denn sein Name sei auch dem Dichter bis zur Erfüllung der Weissagung unbekannt. 187 So verwies Peuckert (Germanische Eschatologien, besonders S. 2–8) für die vergleichbare Strophe Vǫluspá H 58 auf iranische Parallelen, nach denen der Sohn des Zartušt (Zarathustra), Ušētar, bzw. der Sohn des Vištāšp, Pešōtan, nach der „Zeit des Wolfes“ (vgl. Vǫluspá 45,9 vargǫld) wiederkehren, das Gesetz erneuern und das Böse vernichten wird. Bezüglich der Übernahme der Gedanken ging Peuckert von einem Einfluss durch den missionierenden Manichäismus aus, ebd., 35  f. Für eine ausgewogene Kritik an dieser These, siehe de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, § 596. 188 Steinsland, Konge 175: Der Gott sei ein „Heimdall redivivus, en Heimdall i fremtidig skikkelse, en idé som kan være utmeislet i hedendommen i møte med kristen forkynnelse om Gudsriket“. Dieselbe These verwendet Steinsland bezüglich Vǫluspá H 58 (dies., Religionsskiftet i Norden). Die Deutung fordert allerdings, dass annarr eher im Sinn von ‚ein zweiter‘ als von ‚ein anderer‘ interpretiert wird, was mir sehr gesucht erscheint; vgl. Edda, ed. von See III, 818. Ähnlich aber Clunies Ross, Prolonged echoes I, 175 („Possibly Heimdallr is meant“), Thorvaldsen, Kampen, 180, und schon Höckert, Vǫluspá och vanakulten, 57. 189 Steinsland, Det hellige bryllup, 282. 190 Wenig überzeugend scheint mir der Versuch Thorvaldsens (Mǫgr átta mðra, 56  f.), den Widerspruch mit der Annahme zu lösen, die Mütterlinien seien sozial weniger verpflichtend, was Heimdallr einen Platz außerhalb des Konflikts zwischen Riesen und Göttern gebe. Dass Heimdallr nicht den Göttern verpflichtet wäre, scheint schon die Húsdrápa zu widerlegen.

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der Hyndluljóð-Dichter lässt selbst keinen Zweifel darüber bestehen, dass die Wellen, aus denen Heimdallr geboren wurde, wenigstens metaphorisch gerade als Riesinnen gedacht werden konnten. Mir scheint es klar, dass die „andere“ (44,1, annar) Gestalt nicht Heimdallr sein kann, dass er aber mit Heimdallr verglichen wird. Die Kontrastierung ist im Text deutlich. einn 43,1 wird dem annar 44,1 gegenübergestellt, der urzeitlich Geborene dem Zukünftigen nach den Ragnarök, der Gott, der „stärker als alle“ (aullum meiri, 43,2) war, dem Gott, der „noch mächtiger“ (enn mꜳtkari, 44,2) sein wird. Überhaupt dürften die Versuche, diese Gestalt unter den Göttern der alten Ordnung zu finden, verfehlt sein. Hyndla kann ohne Schwierigkeit den mächtigen Óðinn erwähnen (44,7), den neuen Gott wagt sie dagegen nicht zu nennen (þo þori ek eigi…, 44,3  f.) – schon dies ist ein Anzeichen dafür, dass er nicht unter den alten Göttern zu finden ist. Dass wenige wissen, wer nach Óðinn kommen wird (fꜳir sia nu…, 44,5  f.), deutet ebenfalls darauf hin, dass der Dichter die Ankunft des neuen Gottes nicht als „Alltagswissen“ der heidnischen Menschen hat darstellen wollen. Die Identität des Gottes bleibt wohl Freyja und Óttarr ebenso unbekannt wie sein Name. Dies legt nahe, den neuen Gott außerhalb des vorchristlichen Pantheons zu suchen und ihn als Christus zu verstehen, was mit der Datierung des Gedichtes gut zusammenpassen würde. Diese Vision der Ankunft Christi in einem Gedicht vorchristlichen Inhalts braucht uns nicht zu befremden¹⁹¹. Das Vorbild der Hyndluljóð war die Vǫluspá. In der Quellendiskussion zur Vǫluspá (Kap.  5.1) wurde argumentiert, dass dieses Gedicht eine christliche Weltsicht in heidnischen Bildern ist. Die alte, verdorbene „Odinwelt“ wird nach dem Weltuntergang durch eine neue Welt ersetzt, in der ein christliches Ethos gesiegt hat und Baldr als Christusgestalt fungiert. Die unmittelbare Vorlage dazu mag, wie wir gesehen haben, die sibyllinische Dichtung, die eine heidnische Seherin die Ankunft des christlichen Gottes erblicken lässt, gewesen sein. Die Hyndluljóð folgen demselben Muster. Der alte Äon ist zu Ende, der neue kommt, und mit ihm der neue, dem Baldr entsprechende Erlösergott. In den Hyndluljóð aber ist der neue Gott, wie gesagt, unbenannt. Dies ist nicht nur ein textimmanentes Indiz dafür, dass der Gott nicht einer des alten Pantheons ist; auch im Vergleich mit anderen Texten spricht die Namenlosigkeit dafür, dass Christus gemeint war. Im altisländischen Schrifttum war es nämlich eine verbreitete Fiktion, dass schon einige Heiden den christlichen Gott, nicht aber seinen Namen gekannt hätten. Diese Fiktion ist wahrscheinlich mit der kirchlichen Lehre der sogenannten „natürlichen Religion“ (naturalis religio) in Verbindung zu setzen. Dieser Begriff ist zwar jung, die Gedankentradition lässt sich aber bis ins Frühmittelalter zurückver-

191 Vgl. auch die übergreifende Quellendiskussion, Kap. 1.2.

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 Das Odalrecht auf den Thron: Heimdallr in den Hyndluljóð

folgen¹⁹² und hat einen vorbildhaften Ausdruck im Formáli (Prolog) der Snorra-Edda genommen. Nach der hier ausgedrückten Idee hätten die Menschen durch den Sündenfall ihre Kenntnis Gottes und des Namens Gottes verloren¹⁹³. Die Ahnen seien also Heiden gewesen, das sei nicht zu verneinen, jedoch „gute Heiden“, die mittels der Vernunft und der Betrachtung der von Gott geschaffenen Natur doch versucht hätten, den „wahren Gott“ zu erfassen, und das zum Teil auch erfolgreich¹⁹⁴. Dass die mittelalterlichen Autoren Islands mit dieser Lehre gut bekannt waren, haben mehrere Forscher anhand von unterschiedlichem Material wahrscheinlich machen können¹⁹⁵. Aus der Perspektive dieser Lehre wird es z.  B. sinnvoll, wenn Haraldr hárfagri – eine so herausragende Gestalt der nationalen Geschichte – als einer der ersten als Vertreter eines „natürlichen Gotteserkenntnisses“ in der Literatur auftritt: beispielsweise als er in Haralds saga hárfagra 4, 44 „bei dem Gott, der mich schuf und über alles herrscht“ (til guðs, er mik skóp ok ǫllu ræðr) schwört¹⁹⁶. Der Name seines Schöpfergottes muss freilich unerwähnt bleiben; der Gott, der alles schuf und der über alles herrscht (er ǫllu ræðr), ist aber zweifellos der Gott der „natürlichen Religion“¹⁹⁷.

192 Siehe Baetke, Die Götterlehre, 237  ff. Der Ausgangspunkt bildet der Brief des Paulus an die Römer 1,20: invisibilia enim ipsius a creatura mundi per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur. 193 Dieser Gedanke liegt schon in Heliand 44 vor: Die Menschen wurden wie Blinde und konnten Gott nicht erkennen, vergaßen Gottes Reich (fargâtun godes rîkies), bis er ihnen seinen Sohn sandte. 194 Siehe Baetke, Die Götterlehre, 237  f.; Wißmann, Natürliche Religion, 79; Lönnroth, The noble heathen, 4. 6  ff. 11; G. W. Weber, Siðaskipti, 311. 195 Z. B. Baetke, Die Götterlehre; Lönnroth, The noble heathen; G. W. Weber, Siðaskipti; Klingenberg, Tres vidit; von See, Mythos und Theologie (der jedoch gegen die Verwendung der Lehre in Gylfaginning argumentiert); ders., Europa und der Norden, 330; Beck, Die Uppsala-Edda; van Nahl, Snorri Sturlusons Mythologie. 196 Dazu vgl. von See, Mythos und Theologie, 124  f. Entsprechend wird in Haralds saga hárfagra gesagt, „daß Harald zwar noch nach heidnischer Sitte im Hügel begraben wurde (heygðr), daß dieser Hügel sich aber an einer Stelle befindet, in deren Nähe später eine Kirche und ein Kirchhof angelegt wurden, und daß die Steine, die früher im Hügel waren, sich jetzt im Kirchhof befinden“ (von See, ebd., 125; siehe Haralds saga hárfagra 43, 68). – Haralds unbenannter Schöpfergott ist ein Motiv, das auch in den Íslendinga sǫgur wiederkehrt. In Vatnsdæla saga spielt Þorsteinn die Rolle des beherrschten Heiden, der nicht wie sein Bruder zur Rache für den Vater Ingimundr eilen will. „En við þat megum vér huggaz,“ sagt Þorsteinn, „at mikill manna munr er orðinn með þeim Hrolleifi [nl. dem Mörder des Vaters], ok njóta mun faðir minn þess frá þeim, er sólina hefir skapt ok allan heimin, hverr sem sá er. En þat má vita, at þat mun nǫkkurr gǫrt hafa“ (Vatnsdæla saga 23, 64). Später kommt ein deutscher Bischof Friðrekr, um Þorsteins Sohn Þorkell zum Christentum zu bekehren. Þorsteinn zeigt sich aber unwillig. Er will lieber den Glauben seiner Väter behalten: „þeir trúðu á þann, er sólina hefir skapat ok ǫllum hlutum ræðr“. Der Bischof antwortet: „Þá sǫmu trú boða ek með þeiri grein at trúa á einn guð, Fǫður, son ok heilagan anda, ok láta skíraz í vatni í hans nafni“ (ebd. 46, 126; vgl. Lönnroth, The noble heathen, 1  ff). 197 Vgl. derselbe Ausdruck explizit auf Gott bezogen in Sigvats Vestrfararvísur 5 (Skj. B I, 227), ræðr gǫrva ǫllu | goð sjálfr. In Landnámabók 10 heißt es von Þorkell máni, er sei der sittsamste der Heiden gewesen (best siðaðr); er habe sich in die Hände des Gottes gelegt, der die Sonne geschaffen hatte; er

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Wenn nun am Ende der Vǫluspá in skamma ein unbenannter Gott kommt, der mächtiger als alle anderen sein werde und in einer Zeit nach dem Untergang der alten Götter¹⁹⁸ herrschen werde, dann ist es sehr verlockend, auch hier den Gott der „natürlichen Religion“ anzunehmen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Dichter sich damit als Exponent einer tiefgehenden theologischen Spekulation enthüllen würde. Sein Vorbild, die Vǫluspá, bot schon ein Bild der zukünftigen Ordnung, in der nur die „guten“, d. h. mit der christlichen Lehre vereinbaren Götter überleben würden¹⁹⁹. Es ist dies eine Art Präfiguration, die Ankunft der neuen Religion in den Bildern der alten geschildert. Der Dichter der Hyndluljóð hat diese Vision nur um einen Schritt weiterführen müssen: Der Gott, der allein nach dem Weltuntergang erwähnt wird, ist hier nicht mehr einer der alten Götter. Er ist der Gott, dessen Namen die Heiden der Erzählebene nicht kennen konnten. Für die Rezipienten des Liedes brauchte aber kein Name ausgesprochen zu werden, um zu wissen, wer mit dieser Gestalt gemeint war. Dass auch Heimdallr unbenannt bleibt, verstärkt den Vergleich vom hauptsächlichen Vertreter der alten Ordnung im Gedicht (Heimdallr) mit dem Vertreter der neuen Ordnung, der noch stärker sein werde. Diese Rolle Heimdalls als Repräsentant der untergehenden Ordnung in den Hyndluljóð ist dieselbe, die er in der Vǫluspá hat, in der er der Anfang und Ursprung der ständischen Ordnung ist und das Ende der dem Untergang geweihten Ordnung (der „Odinwelt“) ankündet. In den Hyndluljóð bleibt es aber eben unklarer als in der Vǫluspá, ob etwas von der alten Ordnung auch nach deren Untergang überleben würde. Wenn die Hoffnung auf eine neue Ordnung mit der Ankunft des neuen Gottes oder etwa die Überwindung einer elitären Ordnung durch eine egalitäre (Galater 3,28) oder einer vorchristlichen „Königsideologie“ durch eine christliche (der König als vicarius Christi im domus Dei) – beide denkbare Kontraste zum Denkschema der Hyndluljóð – aber das Hauptanliegen des Dichters gewesen wäre, würde er wohl dieses Thema tiefer elaboriert haben. Nun scheint sein Anliegen eher das gewesen zu sein, die genealogischen Grundlagen des Königtums und die darin eingebetteten Spannungen mit Hilfe der vorchristlichen Mythologie zu veranschaulichen. Das Gedicht ist ein Plädoyer gegen soziale Mobilität und für die dominante Ordnung der Gesellschaft. Durch die genealogische Thematisierung der Ragnarök wird die Mischung der Götter mit den Riesen als die grundlegende Ursache zum Untergang des alten Götterstaates dargestellt; mit der Mythologisierung von Óttars Erbschaftsstreit wird dieselbe Problematik auf den

hafði ok lifat svá reinliga sem þeir kristnir menn, er best eru siðaðir. Dass hier ein Zusammenhang mit dem christlichen Gott angedeutet werden soll, steht außer Zweifel. 198 Wenigstens der Untergang des größten Gottes, Óðins, wird erwähnt. Dies darf sicher als ein pars pro toto betrachtet werden. 199 Siehe oben, Kap. 5.1.

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edlen Stand der menschlichen Gesellschaft übertragen. Die Ankunft eines neuen Gottes muss keine Negierung weder dieser Problematik noch der sozialen Ordnung, von der sie ein Teil ist, sein. Was Strophe 44 klar macht, ist lediglich, dass die Götter, mit denen der Dichter sein Thema verbildlicht hat, einer vergangenen Zeit angehören. Nur der genealogische Unterbau des Königtums vereinigt nach der Fiktion der Hyndluljóð noch die Zeit des christlichen Dichters mit der vorchristlichen Zeit seines Gedichtes.

7 vǫrdr goða [E]r ist der Wächter der Götter und haust dort am Himmelsende, um an der Brücke Wache zu halten gegen die Bergriesen.¹

In den Quellen wird Heimdallr mehrmals als vǫrðr goða bezeichnet. In der Sekundärliteratur zu Heimdallr wurde die Bezeichnung fast² ohne Ausnahme mit ‚Wächter der Götter‘ übersetzt. Obwohl das damit angedeutete Wächteramt in der Forschung verschieden bewertet und verstanden wurde – als eine der ältesten³ oder ganz umgekehrt als eine der jüngsten⁴ Eigenschaften Heimdalls – galt es lange und gilt es häufig noch⁵ als eine der gesicherten Funktionen des Gottes. Das Wort Wächter kann im Deutschen umschrieben werden mit: ‚jemand, der Wachdienst verrichtet oder etwas bewacht‘. Wie schon in der Einführung der vorliegenden Arbeit erwähnt wurde, stellt diese Bedeutung keineswegs die einzig mögliche Übersetzung von vǫrðr dar. Die Bedeutung ‚Wächter‘ scheint aber mit Snorris

1 Snorra-Edda, Gylfaginning 15. Übersetzung Edda, ed. Thule, 74  f. 2 Pering (Heimdall) verstand es im Sinn von ‚Wicht der Götter‘. 3 So konnte Much (Der germanische Himmelsgott, 69) beinahe alle die von Snorri angeführten Züge im griechischen Sonnengott Helios wiederfinden. F. R. Schröder (Heimdall, 6  f.) verglich den angeblichen Feuergott Heimdallr mit Agni, „des Himmels Wächter“, aber auch mit Mitra, der manche Züge mit Agni gemeinsam habe. Ohlmarks (Heimdalls Horn, 308  f.) erweiterte in seiner Studie vom „Sonnengott“ Heimdallr das Vergleichsmaterial zu „dem umsichtigen“ Savitar und anderen Vertretern des „idealen Wächters“, der Sonne. Nach R. M. Meyer (Beiträge, 252) sei der Gott des hellen, aufleuchtenden Tages der „Wächter der Götter, weil er an der Grenze ihrer Welt wohnt“; ähnlich E. H. Meyer (Germanische Mythologie, 228): weil der Regenbogen (= Heimdallr) eine Brücke von den Göttern zu den Riesen schlage. 4 Vgl. Krohn (Skandinavisk mytologi, 137): „En inhemsk hednisk gud är ej heller den, vilken sover mindre än fågeln […]. En alltid vaken, allseende och allhörande gud röjer en högre religions inverkan“. Um ein Vielfaches komplizierter ist Roséns Erklärung der Wächtereigenschaft. Zuerst stellt Rosén fest, dass Heimdalls Pferd nach Húsdrápa 10 Gulltoppr ‚den med gult huvud‘ heißt, was als Bezeichnung für den Hahn passen würde. Dann fährt er fort: „Tuppen har nästan överallt betraktats som en vaksamhetens symbol […]. Har nu Heimdallr satts i förbindelse med tuppen, så blir därmed hans karaktär av väktargud förklarlig. Då hustuppen först i jämförelsevis sen tid införts till Skandinavien, skulle utvecklingsgången bli följande. Av gammalt dyrkades hackspetten i Norden som en i träden boende livets ande. När sedan hustuppen infördes, överflyttades på denne flera av de egenskaper, som tillkommo hackspetten, och den blev på så sätt ett heligt djur. […] Emellertid var denna kult för ringa och obetydlig för att kunna förbliva självständig. Den sammansmälte med en annan […], nämligen baggdyrkan [Heimdallr sei ursprünglich ein Widdergott!]. När sedan föreställningen om en välordnad gudastat med en väktare började utbildas, så anknöts denna till den gudomlighet, som var försedd med vaksamhetens symbol, tuppen. Bakom dyrkan av väktarguden Heimdall döljer sig, frånsett senare spekulationer, en gammal dyrkan av hustuppen“. 5 Vgl. den vielsagenden Titel des Heimdallr-Kapitels in Näsström, Fornskandinavisk religion (2002): „Gudarnas väktare Heimdall“.

222 

 vǫrdr goða

Bild dieses Gottes übereinzustimmen. In Gylfaginning 15 findet sich Snorris ausführlichste Charakterisierung Heimdalls. Dort heißt es unter anderem: Hann [nl. Heimdallr] býr þar er heitir Himinbiorg vid Bifrꜹst; hann er vꜹrðr goþa ok sitr þar við himins enda at gæta brvariɴar firir bergrisvm; hann þarf miɴa svefn en fvgl; hann ser iafnt nott sem dag hvɴdrat rasta fra ser; hann heyrir ok þat, er gras vex aiorþv e(ða) vll a savþvm ok allt þat, er hæra lætr; hann hefir lvðr þaɴ er Giallarhorn h(eitir), ok heyrir blastr hans ialla heima⁶.

Es ist das Bild vom Brückenwächter, der alles sieht und hört und ständig wacht. Dass Snorri in diesem Zusammenhang die Nennung von Heimdalls Horn anschließt, ist vielleicht kein Zufall. Er hat – so scheint es mir – alle hier erwähnten Angaben unter dem Aspekt des Wächters gesammelt. Trotzdem fand sich in der Forschung seit jeher die Auffassung, dass das von Snorri geschilderte Wächteramt einen befremdlichen Zug in Heimdalls Charakter darstellt. Besonders die erhabene Eigenschaft Heimdalls als Stammvater schien mit dem niedrigen sozialen Status eines Wächters unvereinbar. So bemerkte bereits Elard Hugo Meyer in seiner Untersuchung zur „Völuspa“ (1889), es sei noch nicht geklärt, „wie denn Heimdallr, ein offenbar jüngeres und sonst nicht besonders angesehenes mythisches Wesen, zu der hohen Ehre eines Ständegründers [nl. als Urvater der Stände] gelangt sei“⁷, während Rudolf Meißner sich umgekehrt zur Annahme berechtigt sah, dass Heimdallr „einmal eine bedeutendere rolle in der mythischen dichtung gespielt hat, als die des wächters an der götterburg“⁸. Auch Birger Pering sprach von einem „Dualismus der Heimdallgestalt“⁹, und noch in den jüngsten Heimdallr-Untersuchungen wird auf den sozial niedrigen Status des Wächters in der altwestnordischen Gesellschaft aufmerksam gemacht und z.  B. mit dem Status des am vitavǫrðr Beteiligten in den norwegischen Provinzrechten verglichen¹⁰. Der angebliche Dualismus Heimdalls – wie auch die Interpretation von vǫrðr goða als Bezeichnung eines Wächteramts – ist im Wesentlichen von der oben zitierten Darstellung Snorris abhängig. Die Frage ist, ob er auch in den älteren Quellen vorhanden ist. Unten soll zunächst untersucht werden, ob von den Quellen her ein solcher statusmäßiger Niedergang oder umgekehrt ein solcher statusmäßiger Aufstieg Heimdalls, der in der Forschung häufig angenommen wurde, erkennbar ist. Es gilt hier, Anhaltspunkte für Heimdalls sozialen Status zu finden, die nicht auf Snorris Interpretation von Heimdallr als Wächter der Götter beruhen (1). Danach sollen die Belegstellen zur

6 Gylfaginning 15, 32  f. 7 E. H. Meyer, Völuspa, 15  f. 8 Meißner, Rígr, 112. 9 Pering, Heimdall, 129. 10 So Thorvaldsen, Mǫgr átta mðra, 70 und 76  f. vitavǫrðr bezeichnet in den Gesetzen das Wachthalten bei einem Holzstoß für Feuerzeichen; siehe Hertzberg, Glossarium, s. v. „vitavörðr“.

Zu Heimdalls angeblich dualistischem Charakter 

 223

Bezeichnung vǫrðr goða textimmanent und im Licht der gewonnenen Resultate der vorliegenden Untersuchung überprüft werden (2). Schließlich sollen die Ergebnisse zusammengestellt und diskutiert werden (3).

7.1 Zu Heimdalls angeblich dualistischem Charakter In der Dichtung können wenige Anhaltspunkte dafür gefunden werden, dass Heimdallr mit einer sozial niedrigen Stellung oder mit negativen Konnotationen assoziiert wurde. In der Eddadichtung gibt es eigentlich nur zwei denkbare Fälle: Lokasenna 48 und Skírnismál 28. Diese beide Strophen sind – auffälligerweise – eben jene Stellen, durch die die Bezeichnung vǫrðr goða bzw. vǫrðr með goðum am sichersten (wenn auch nicht mit Gewissheit) im Sinn von ‚Wächter der Götter‘ bzw. ‚Wächter bei den Göttern‘ belegt ist; sie sollen später in diesem Kapitel eingehender diskutiert werden. Damit sind die „älteren“ Quellen (es ist nicht sicher, dass die beiden oben erwähnten Gedichte sehr alt sind) erschöpft. Aber auch in jüngeren Prosatexten gibt es nur eine Stelle¹¹, die Heimdallr in ein schlechtes Licht zu stellen scheint. Es handelt von den sogenannten Sǫgubrot af fornkonungum, einem vielleicht auf die Skjǫldunga saga zurückgehenden Prosatext aus der letzten Hälfte des 13.  Jahrhunderts. Die älteste Handschrift (AM 1eβ I fol.) stammt aus der Zeit um 1300. Hier wird unter anderem die letzte Heerfahrt des Sagenkönigs Ívarr víðfaðmi beschrieben. Während dieser Fahrt hat der König schlechte Träume und bittet seinen Ziehvater Hǫrðr, sie zu deuten, worauf Hǫrðr den Tod des Königs voraussagt. Dieser beginnt nun den trotzigen Hǫrðr zu fragen, mit welchen der Asen seine Verwandten verglichen werden könnten. Hǫrðr antwortet mit zunehmend deutlichem Hohn, Ívars Vater Hálfdan entspreche dem guten Baldr (und sei dem König sehr ungleich), seine toten Schwiegersöhne und Feinde entsprächen dem Gott Hœnir, „dem feigsten der Asen“ (hrøddaz(tr) Aſa – und doch sei er dem König feindlich gesinnt gewesen, ok þo þer illr) bzw. Hermóðr, dem mutigsten Gott (und sei für Ívarr schädlich, oþarfr, gewesen), und Ívars Onkel Guðrøðr veiðikonungr entspreche Heimdallr, heimſkaztr […] allra Aſa ‚dem dümmsten aller Asen‘: Konungr mællti: Hueʀ uar Guðoðr með Aſum? Horðr ſvarar: Heimdallr var hann, er heimſkaztr var allra Aſa ok þo þer illr¹².

11 In Clemens saga wird auf S. 146 über Heimdallr zwar gesagt, dass er zusammen mit den anderen Göttern von Clemens beschimpft worden ist, das aber betrifft nicht so sehr Heimdallr als vielmehr das Verhältnis der Christen gegenüber nicht-christlichen Religionserscheinungen. 12 Sǫgubrot 3, 11.

224 

 vǫrdr goða

Als der König schließlich wissen will, wer er selber með Aſum sei, lautet die spöttische Antwort: die Midgardschlange! – Ich kann Ohlmarks¹³ nur zustimmen, dass die ganze Episode des Asen-Vergleichs dem Anschein nach ein sekundärer Einschub sein dürfte, denn sie unterbricht völlig den Zusammenhang zwischen der Traumdeutung und den darauf (deutlich nicht auf unsere Episode) bezogenen Worten des Königs: Ef þu ſegir mer fe(i)gð mina […], die erst nach dem Asen-Vergleich folgen und mit diesem nichts zu tun haben. Diese Episode dürfte folglich von einem Autor, der sie seiner Vorlage (die Skjǫldunga saga?) hinzugefügt hat, und daher aus dem späten 13. Jahrhundert stammen. Schon dies verringert den Quellenwert. Dass man sich Heimdallr ferner als dumm vorgestellt hat, ist ein Bild, nach dem man in älteren Quellen vergebens sucht. Wie bei der Erörterung von Heimdalls Wissen (Kap. 2.3.2) mit aller Deutlichkeit hervorgeht, sprechen die Belege eher für das Gegenteil. Aber vielleicht lohnt sich der Versuch überhaupt nicht, diese Unstimmigkeit durch ältere Vorstellungen zu erklären. Betrachtet man die anderen Vergleiche der Sǫgubrot-Episode, wird ziemlich klar, dass sie nicht auf alte Traditionen gestützt sein müssen. Dass Hœnir hræddr gewesen sein sollte, erzählt uns keine der älteren Quellen¹⁴. Ein Gott (?) Hermóðr, der mit Helgi inn hvassi verglichen wird, ist nur in der Snorra-Edda belegt¹⁵, und hier wird er nicht wie in Sǫgubrot „mutig“ (hugaðr) genannt, sondern „der Schnelle“ (eɴ hvati, Gylfaginning 33, 65). Wie der Autor dazu kam, an Mut zu denken, ist jedoch nicht schwer verständlich, denn Her-móðr bedeutet ‚der Heer-Mutige‘¹⁶. Mitbestimmend dürfte dabei die Alliteration, von der der Autor in der vorliegenden Episode Gebrauch macht (Hermóðr : hugaðr usw.¹⁷), gewesen sein. Ähnliche Gedankenspiele können sehr wohl zu Hœnis Eigenschaft als hræddr beigetragen haben¹⁸, und dann natürlich auch zu Heim-dalls Eigenschaft als heim-skr¹⁹. Die Angabe kann hier ruhig außer Acht gelassen werden.

13 Heimdalls Horn, 182. 14 Siehe de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, § 510. 15 Lex. poet. erwähnt neben der Snorra-Edda auch Hákonarmál 14 (10. Jahrhundert), in denen ein Hermóðr mit Bragi als eine Gestalt in Óðins Walhall erwähnt wird; doch dieser Bragi ist der tote Dichter Bragi Boddason (9. Jahrhundert), nicht der Gott Bragi, von dem uns die Snorra-Edda später erzählt (Siehe Mogk, Bragi als Gott; vgl. Bei der Wieden, Bragi; Lindow, Narrative worlds). Wahrscheinlich ist auch der Hermóðr dieser Strophe ein Held in Walhall, nicht ein Gott. – In Hyndluljóð 2 wird ein Hermóðr zusammen mit dem Helden Sigmundr erwähnt; beide bekommen von Óðinn Waffen. Auch hier ist wohl ein großer Held gemeint. 16 Außerdem kommt der Name in kenningar für ‚Krieger‘ vor, siehe Snorra-Edda, Skáldskaparmál, Strophe 195; solches Wissen brauchte der Autor aber für die Assoziation nicht. 17 Siehe Ohlmarks, Heimdalls Horn, 182. 18 Ohlmarks’ Annahme einer Volksetymologie zu hœna ‚Henne‘ – „das lächerlichst angstvolle von allen Tieren des täglichen Lebens“ (ebd.) – ist anziehend. 19 Außer des Stabreims und des Spiels mit der Lautähnlichkeit heim- : heimskr darf vielleicht daran erinnert werden, dass heimdali eine Bezeichnung für den Widder war (Þulur IV aa (Skj. A I, 676) = Snorra-Edda, 210). Der Widder oder das Schaf (Ovis) scheint immer als ein dummes Tier betrach-

Zu Heimdalls angeblich dualistischem Charakter 

 225

Wenn von diesen Stellen abgesehen wird, tritt ein dem dadurch gewonnenen Eindruck völlig entgegengesetztes Bild aus den Quellen hervor, in denen weder ein sozial niedriger Status Heimdalls noch überhaupt irgendeine Diskrepanz sichtbar wird. Schon in Úlfr Uggasons Húsdrápa begegnet uns eindeutig keine niedere Gottheit. Die Húsdrápa ist die älteste datierbare Quelle zu Heimdallr. Der Gott kommt hier in zwei der überlieferten Strophen vor: Strophe 2 und 10. Die 2. Strophe wurde oben im Kapitel über das Brísingamen (Kap.  3) behandelt. Heimdallr, der hier in einem Kampf mit dem Götterfeind Loki auftritt, wird in Z. 3 als frægr ‚berühmt‘ bezeichnet. Es scheint mir sehr zweifelhaft, ob Úlfr dies über eine niedere Gottheit sagen würde. Auch der Kontext ist bezeichnend: Die anderen Strophen, die nach Snorri zu Úlfs drápa gehörten und bis heute bewahrt sind, handeln von Baldrs Tod und Þórs Kampf mit der Midgardschlange: schicksalhafte Ereignisse, bei denen nach den mythologischen Vorstellungen erhabene Götter kämpften oder fielen. In der 10. Strophe wird Heimdallr näher charakterisiert. Den Zusammenhang bildet der Mythos über Baldrs Tod. Die Strophe schildert, wie sich Heimdallr – wie die anderen Götter – zum Scheiterhaufen des getöteten Gottes begibt. Die Handschriften der Snorra-Edda (Gylfaginning 34), in denen die Strophe bewahrt ist und nacherzählt wird, bieten im Vergleich mit dem Codex regius keine bedeutenden Variationen. Kostigr riðr at kesti kynfroðs þeim er goð hloþv Hrafnfreistaþar hesti Heimdallr at mꜹg fallinn²⁰. ‚Der kostigr Heimdallr reitet auf seinem Pferd zu dem Scheiterhaufen, den die Götter angefertigt hatten, nachdem der Sohn des sehr klugen Óðinn [nl. Baldr] gefallen war.‘

Hier wird Heimdallr mit dem Attribut kostigr gekennzeichnet, d.  h. ‚der mit guten Eigenschaften Ausgerüstete; der Ausgezeichnete‘²¹. Das Wort wird in der Literatur sowohl für herausragende Personen als auch für ein gutes Stück Land gebraucht²² und lässt für sich genommen keine genaueren Schlüsse darüber zu, in welcher Weise Heimdallr kostigr war. Im Kontext der Strophe und des Themas im Gedicht scheint das Wort aber nicht grundlos zu stehen. Wie schon Ivar Lindquist²³ konstatierte, haben wir hier ein Zeugnis des 10. Jahrhunderts in der Hand, in dem Heimdallr in einer Linie mit Freyr und Freyja unter den vornehmsten Göttern, die nach der Húsdrápa und

tet worden zu sein; vgl. Konrad von Megenberg (1309–74) in seinem „Buch der Natur“ (S. 154, unter „Ovis“ = schâf): daz schâf hât minner vernunft danne andreu tier – daher „dumm wie ein Schaf“, „schafsdumm“. Auf ähnliche Beobachtungen, die hinter diesen Sprichwörtern liegen, geht wohl das neuisländische Að vera eins og villuráfandi sauður zurück. 20 r, 90; vgl. Skj. A I, 136. -froðs: U, -goþr, also (von Heimdallr, nicht Óðinn!) ‚der sehr gute‘. 21 Lex. poet., s. v.; Frz., s. v. (= kostgóðr); vgl. IED, s. v. „kostr IV,1–5“ (‚gute Eigenschaft‘). 22 Siehe IED, s. v. 23 Guden Heimdall, 89. – Man muss nicht mit Lindquist die „ursprüngliche“ Folge der Strophen zu rekonstruieren versuchen, um dies feststellen zu können.

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 vǫrdr goða

Snorris Erzählung Baldrs Scheiterhaufen besuchen, erwähnt wird. Dass er in diesem Zusammenhang als kostigr beschrieben wird, scheint eine hohe Würde anzudeuten. Auch Heimdalls Beförderungsmittel stimmt mit einer erhabenen Position überein. Sowohl über Freyr wie Freyja wird gesagt, dass sie auf Reittieren gezogen kommen, die ihren Charakteren angepasst sind: Freyr auf seinem Eber (Húsdrápa 7) und Freyja (nach Snorra-Edda, Gylfaginning 34, 66) auf ihren Katzen – Freyja war ja nach Snorri²⁴ eine Zauberin, und Katzen waren offenbar mit dem sejðr genannten Zauber verknüpft²⁵. Heimdallr aber reitet auf seinem Pferd (ríðr…hesti). Auch Snorri, der ja die Strophe gekannt hat, erwähnt das Pferd und fügt hinzu, es habe Gulltoppr geheißen²⁶, ein Name, der als Pferdename leicht verständlich ist und den Snorri als Pferd Heimdalls auch an anderen Stellen anführt²⁷. Auf einem Pferd geritten kam auch der Häuptling der Götter, Óðinn, Hroptatýr (Húsdrápa 8). Dass Heimdallr zu Pferd kam, geziemt wohl dem „ausgezeichneten“, sozial hoch konnotierten Mann eher als dem sozial niedrigen. In der Vǫluspá wird Heimdallr dreimal erwähnt. In der Eingangsstrophe wird er als Stammvater der Stände beschrieben, in den beiden anderen wird er mit seinem Horn in Verbindung gebracht, das er am Ende der Welt ertönen lassen wird. Dieser Hornstoß ist nicht das warnende Signal des Wächters, sondern ist vielmehr ein den Posaunenestößen der Engel nachgebildetes Symbol des anbrechenden Jüngsten Tages. Jünger als die Vǫluspá dürfte das Eddalied Hyndluljóð sein. Dieses Gedicht wurde oben in Kapitel 6 ausführlich behandelt, wobei dargestellt wurde, dass der Dichter gute Kenntnisse der vorchristlichen Vorstellungswelt hatte. Obwohl er dieses Wissen in einer durchaus originellen Weise verwendete, um seine soziale Vision zu gestalten, dürften deshalb die Bezeichnungen, die hier Heimdallr zugeschrieben werden, nicht aus der Luft gegriffen sein. Sie ergeben ein Bild, das mit jenem der Húsdrápa kongruent ist. In Hyndluljóð 43 wird Heimdallr als stillir stórauðgaztr bezeichnet. Zwar wird der Gott hier nicht beim Namen genannt; wie früher gezeigt wurde, ist es aber offensichtlich, dass es sich um Heimdallr handelt. stillir ist die Bezeichnung eines Herrschers. Das Lexicon poeticum führt sub verbo die Bedeutungen ‚ordner, styrer‘ (z.  B. stillir lýða) und, damit eng verknüpft, ‚konge, fyrste‘ an. In diesem Sinn wird das Wort

24 Ynglinga saga 4, 6. 25 Brodersen, Frejas katte, 110  f. 26 Gylfaginning 34, 66: en Heimdallr reið hesti þeim, er Gvlltoppr h(eitir); vgl. Skáldskaparmál 16, 99: Heimdalr er eigandi Gvlltops. Der Name wird auch unter den Pferden der Asen in Gylfaginning 8, 22 aufgezählt. In Skáldskaparmál 74, 169 zitiert Snorri eine „Þórgrímsþula“, in der Gulltoppr unter anderem zusammen mit Óðins Pferd Sleipnir erwähnt wird. 27 Gylfaginning 15, 32; Skáldskaparmál 16, 99. Der Name wird auch in Gylfaginning 8, 22 und Skáldskaparmál 74, 169 erwähnt. Er scheint ein ganz normaler Pferdename zu sein; Gulltoppr bedeutet einfach ‚der mit der goldenen Mähne‘. toppr wird in der Literatur bezüglich der Mähnen der Pferde gebraucht, siehe Frz., s. v. „toppr 2 b“, ‚Haardusk, Haartop paa Hest‘.

Zu Heimdalls angeblich dualistischem Charakter 

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sowohl für Könige als auch für Jarle verwendet²⁸. Das Adjektiv stórauðigr kann mit ‚der allerreichste‘ übersetzt werden. Reich kann man ja auf viele Arten sein; auðigr wird aber, auch in der Eddadichtung, zumeist für weltliche Reichtümer gebraucht²⁹. Diese Bedeutung entspricht vollends dem erwarteten Ideal eines großen Kriegsherrn oder Fürsten (stillir) in der altwestnordischen Gesellschaft; z.  B. können die vielen Umschreibungen der Dichtersprache für den Fürsten als „Ringverteiler“ und  dergleichen erwähnt werden³⁰. Ohne den beiden Wörtern die Bedeutung abpressen zu müssen, kann festgestellt werden, dass sie das Idealbild eines Herrschers zu zeichnen scheinen. In derselben Strophe Z. 2 wird Heimdallr auch ǫllum meiri ‚mächtiger, größer als alle [anderen]‘ genannt. Wie das Adjektiv stórauðgaztr ist wohl die Bezeichnung eher elativ als superlativ zu verstehen. Im Gedicht als Ganzheit scheint der Gott sowohl als Urheber der sozialen Ordnung als auch als mythologisches Gegenstück zum menschlichen Protagonisten des Liedes, dem Thronanwärter und Königssprössling Óttarr ungi, zu fungieren. In Grímnismál 13 wird beschrieben, dass Heimdallr über die Heiligtümer (der Götter) „herrsche“ (valda) – nicht wache (siehe unten, Kapitel 7.2.1). Auf ähnliche Traditionen scheint sich noch Snorri zu stützen, als er in Gylfaginning 15, 32 Heimdallr als mikill ok heilagr ‚groß und heilig‘ charakterisiert. Er kann diese Zuordnungen nicht aus seiner Auffassung eines Wächters heraus konstruiert haben. Nicht zuletzt in der Rígsþula begegnet uns der Gott schließlich wieder als der ehrwürdige Urheber der sozialen Ordnung, diesmal aber unter dem Namen Rígr – ein Name, der ursprünglich mit dem Titel des irischen Hochkönigs verbunden gewesen sein soll und der im Lied mit der Königswürde verknüpft wird. Aus der obenstehenden Darstellung ergeben sich keine Anzeichen für einen sozialen Aufstieg Heimdalls. Schon in der ältesten bewahrten Quelle, der Húsdrápa, scheint eher ein würdevoller Gott vor uns zu stehen. Dagegen scheint es mir bedeutend, dass eine negative Auffassung von Heimdallr nicht nur erst in nachheidnischen Quellen (Sǫgubrot), sondern z.  T. auch in direktem Zusammenhang mit vǫrðr, gedeutet im Sinn von ‚Wächter‘ (Lokasenna 48; Skírnismál 28), vorliegt. Diese Sachlage erweckt die radikale Frage, ob das Primärmaterial vor Snorri Sturlusons Sammlung und Zusammenstellung der fortlebenden Traditionen zu Heimdallr überhaupt eine „Diskrepanz“ in Heimdalls Charakter aufgezeigt hat oder ob es nicht vielmehr auf der einen Seite eine vorchristliche, erhabene Gottheit „Heimdallr“ gab und auf der anderen eine nachheidnische Konstruktion eines niederen Wächters der Götter.

28 Siehe Lex. poet., s. v. „stillir“, mit zahlreichen Belegen. 29 Hávamál 47. 70. 75; Vafþrúðnismál 10 (vgl. dagegen Lokasenna 5, auðigr í andsvǫrum). 30 Einige davon sind in Snorra-Edda, Skáldskaparmál 58, 145 gesammelt. Vgl. Meißner, Die Kenningar der Skalden, 330  f.

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 vǫrdr goða

7.2 Die Belege des Begriffes vǫrðr goða in der Eddadichtung 7.2.1 Grímnismál 13 Strophe 13 des Eddalieds Grímnismál handelt von Heimdalls Wohnort, Himinbjǫrg. In dieser Strophe wird in der 4. Zeile Heimdallr als vǫrðr goða bezeichnet. Die Grímnismál werden für gewöhnlich zusammen mit den Vafþrúðnismál zur ältesten Schicht der eddischen Götterdichtung in ljóðaháttr gezählt. Das Lied besteht aus einer Rahmenerzählung, die von zwei sicher zur Zeit der schriftlichen Fixierung entstandenen³¹ Prosastücken gebildet wird, aus der hervorgeht, dass Óðinn verkleidet und unter dem Namen Grímnir (‚der mit Maske‘, gríma) zum Gotenkönig Geirrøðr gekommen und von diesem gefangen genommen worden ist (Strophe 1  f. 49. 51–53). Nur Agnarr, Geirrøðs Sohn, gibt dem dürstenden Óðinn einen Trank (Strophe 2  f.). Zum Dank (Strophe 3) erzählt Óðinn Agnarr mythologisches Wissen, was der eigentliche Inhalt des Liedes ist. Unter anderem beschreibt Grímnir in einer Strophe den Wohnort Heimdalls, Himinbjǫrg. Das Alter der überlieferten Grímnismál ist schwer zu bestimmen. Ähnlichkeiten mit Eyvindr skáldaspillis Hákonarmál wurden häufig beobachtet. Die Annahme der älteren Forschung, die Grímnismál wären der ursprüngliche und damit gebende Teil³², ist aber sicher verfehlt. Die in Grímnismál 54,4  f. in einer Reihe aufgezählten Namen Óðins Váfuðr, Hroptatýr, Gautr, die in den Hákonarmál den Óðinsheiti Váfuðr (Strophe 5), Hroptatýr (Strophe 14), Gautatýr (Strophe 1) entsprechen, deuten vielmehr an, dass der Grímnismál-Dichter diese Namen aus den Hákonarmál zusammengestellt hat³³. Interessant ist, dass die Ähnlichkeiten zwischen den Hákonarmál und den Grímnismál vor allem in den abschließenden Strophen des letzteren Gedichtes vorzufinden sind. In der früheren Forschung wurden diese häufig als eine spätere Zutat aufgefasst³⁴. Außerdem wurde immer angenommen, dass die überlieferten Grímnismál aus mehreren ursprünglich selbständigen Quellen zusammenge-

31 Auf einen gelehrten Kontext deuten unter anderem spät belegte Ausdrücke geistlicher Herkunft: kotbóndi, hégómi, pína til sagna (so die Prosa vor Grímnismál 1). Das abschließende Prosastück ist sogar nicht stimmig mit dem Inhalt des Gedichtes. In Strophe 51  ff. spricht Óðinn Geirrøðr direkt an, in der Prosa bekommt aber Geirrøðr von anderen zu hören, dass Óðinn zu ihm gekommen sei (er wird wohl nicht als vor dem Feuer sitzend vorgestellt, wo Agnarr dem Gott den Trank gibt). Aus der einleitenden Passage über die Königssöhne Folgerungen bezüglich der heidnischen Vorstellungswelt zu ziehen (vgl. Fleck, Konr–Óttarr–Geirrøðr), ist sicher verfehlt. 32 Noreen, Studier i fornvästnordisk diktning I,1, 56; Holm-Olsen, Øyvind Skaldaspiller, 164. 33 Vgl. Nordberg, Krigarna i Odins sal, 56 (gegen Holm-Olsen). In derselben Ordnung wie in den Grímnismál kommen die Namen in den Hákonarmál jedoch nicht vor. 34 Vgl. Nordberg, ebd., 55.

Die Belege des Begriffes vǫrðr goða in der Eddadichtung 

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setzt sind³⁵. Verschiedenen Ursprungs würden unter anderem die þula-artigen Strophen (z.  B. Strophe 44) und Strophen eines anderen Versmaßes (z.  B. Strophe 2 in ljóðaháttr³⁶) sein. Dies führte allerdings dazu, dass das Gedicht in der sogenannten höheren Textkritik, die bestrebt war, seine ursprüngliche Gestalt zu rekonstruieren, eine – um Jan de Vries³⁷ zu paraphrasieren – geradezu schonungslose Behandlung erfuhr; an sich dürfte die Annahme aber richtig sein. Finnur Jónssons Bemerkung, dass die als Interpolationen angenommenen Strophen häufig Strophen sind, die von Óðinn oder von seiner Umgebung handeln³⁸, könnte zusammen mit der Verwandtschaft der abschließenden Strophen über Óðinn mit den Hákonarmál die Vermutung nahelegen, dass die Mehrheit der Strophen, die mythologisches Wissen vermitteln, sekundär in ein Gerüst eingefügt wurden, das den Zweck hat, Óðinn zu verherrlichen. Die Datierung dieser eingefügten Teile – darunter auch die Strophe über Heimdalls Wohnort – ist noch schwieriger als die Bestimmung des Alters des ganzen heute als Grímnismál bezeichneten überlieferten Textes (ich bezeichne diesen im Folgenden als „Großgedicht“). Dagegen kann mit ziemlicher Sicherheit konstatiert werden, dass der Zweck der Zusammenstellung gewesen sein dürfte, den Inhalt zu bewahren und weiter zu tradieren. Wir haben also hier nicht ein altes Kultlied vor uns, in dem sich ein heidnischer Priester extatisch mit Óðinn identifiziert und eine Vision des mythologischen Weltbildes vorführt³⁹, sondern eher ein Produkt der isländischen Gelehrsamkeit, die es für wesentlich hielt, den heidnischen Stoff als Kulturgut, als Teil der Geschichte und des Selbstbewusstseins Islands zu bewahren. Dies stimmt auch mit dem systematisierenden Charakter des Gedichtes überein, aufgrund dessen es wohl zeitlich einem Snorri Sturluson näher steht als einem Eyvindr skáldaspillir. Diese Feststellung hat Konsequenzen für den Wert der Grímnismál als Quelle, denn zur Aufgabe eines Geschichtsschreibers und Bewahrers mag die Systematisierung des Stoffes gehören, dagegen aber nicht, ihn zu verändern. Die Einzelstrophen, die der Dichter des überlieferten Großgedichts zusammengestellt hat, können also weit älter als dieses sein und authentische Information zum Heidentum beinhalten. Zu den in den Grímnismál aufgezählten Informationen gehören die Wohnsitze der Götter. In diesem Zusammenhang wird auch Heimdalls Wohnort erwähnt:

35 So Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde V, 159  f.; Finnur Jónsson, Literaturhistorie I, 144  f.; Mogk, Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 586; siehe Sprenger, Grímnismál, 46. 36 Neckel ordnet die Zeilen, als ob sie in fornyrðislag verfasst wären (Edda, ed. Neckel, 55, mit der Bemerkung: „von einigen als str. von vier langzeilen behandelt“. Vgl. aber Edda, ed. Neckel/Kuhn, 57, mit der Bemerkung: „von den meisten als vollzeile gedruckt“. 37 Altnordische Literaturgeschichte I, 154. 38 Finnur Jónsson, Literaturhistorie I, 144. 39 Siehe zur in diese Richtung gehenden Forschung (und mit berechtigter Kritik daran) Sprenger, Grímnismál.

230 

13.

 vǫrdr goða

Himinbiorg ero en atto, enn þar Heimdall qveþa valda veom; þar vorþr goða dreccr i vęro ranni glaþr inn góða mioþ.

‚Himinbjǫrg sind der achte [Wohnort], | und Heimdallr wird gesagt, | dort über die Heiligtümer zu gebieten; | dort der vǫrðr goða | trinkt in der ruhigen Halle | froh den guten Met.‘

Die Grímnismál sind nicht nur in R und A der Lieder-Edda bewahrt. Darüber hinaus sind eine Vielzahl von Strophen in der Snorra-Edda überliefert, unter anderem auch die oben zitierte⁴⁰. Im Unterschied zu den Versionen der Lieder-Edda, haben die Handschriften der Snorra-Edda Z. 1 Himinbjǫrg heita⁴¹. Das ist wohl entweder so zu erklären, dass Snorri die Ordnungszahl weggelassen hat, da die Strophe in seinem Text aus ihrem Zusammenhang (der Aufzählung der Wohnsitze der Götter) gelöst wurde, oder so, dass er sich auf eine andere Version der Grímnismál stützte⁴². Die Nummerierung, die Heimdalls Wohnort wie die anderen Wohnorte der Götter bekommen hat, ist wohl in jedem Fall mit Mogk⁴³ als ein „Schreiberungeschick“ zu verstehen. Auf der Zahl selbst weitläufige Theorien⁴⁴ aufzubauen oder solchen zu entgegnen, erspare ich mir also. Die Handschriften der Snorra-Edda weisen auch einige Abweichungen im Verhältnis zu einander auf sowie weitere Unterschiede zu den Handschriften der LiederEdda, aber keine, die den Inhalt wesentlich ändern würden⁴⁵. In den wenigen Versen, die Heimdalls Wohnort gewidmet sind, wird Heimdallr als vǫrðr goða bezeichnet. Schon der Gedanke, dass der Begriff hier intentionslos dastehen soll, ist unwahrscheinlich. Wird aber die auf Snorris Bild von Heimdallr gestützte traditionelle Übersetzung von vǫrðr goða im Sinn von ‚Wächter der Götter‘ auch in Grímnismál 13 vorausgesetzt, muss zugegeben werden, dass die Strophe ein unerwartetes Bild vom angeblichen Wächtergott zeichnet.

40 Gylfaginning 15, 33. 41 U, heıtır (!). Im übrigen weist U aber keine gute Lesart auf (…en þar heımallr bẏr kveþa valla vevm, usw.; siehe unten, Anm. 45). 42 Da Snorri wie gesagt eine Vielzahl der in den Grímnismál bewahrten Strophen zitiert, ist es dagegen nicht wahrscheinlich, dass Grímnismál 13 in der Snorra-Edda eine freistehende und in die Grímnismál, wie sie heute vorliegen, noch nicht eingeordnete Strophe repräsentiert. 43 Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, 585. 44 Vgl. Ohlmarks, Heimdalls Horn, 72–77. 285  f. 304  ff., der sich an Agrells „Uthark-Theorie“ lehnt, um auf Heimdalls Wohnort (ein aus dem Morgenland strahlendes) Licht zu werfen; vgl. Agrell, Runornas talmystik. 45 U (S. 15, 20  ff.) zeigt, wie auch sonst häufig, die originellsten Varianten. In Z. 2 steht da: en þar heimallr bẏr. In Z. 4 steht voꝛþvm gvþa (warum Dativ?), auch endet sie mit einem Punkt. Es fehlt also sowohl ein Akkusativobjekt zu kveþa Z. 3  f. als auch ein Subjekt zu Z. 5  f. Die Strophe scheint unverstanden aus dem Gedächtnis geschrieben zu sein. – Für Z. 6 glaðr hinn steht in T glaðir menn. Das muss ein Lapsus, ein Gedankensprung des Schreibers sein, denn grammatisch ist es weder mit dem Verb drekr (Singular) noch mit der schwachen Adjektivform goða in Einklang zu bringen.

Die Belege des Begriffes vǫrðr goða in der Eddadichtung 

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In der Strophe wird über vǫrðr goða gesagt, er trinke „in der ruhigen Halle“ (i vęro ranni, Z. 5) froh den guten Met. Diese Tätigkeit gehört nicht zum typischen Bild vom Wächter, im Gegenteil: Dass er in seiner ruhigen (!) Halle Met trinken würde, könnte sich in Verbindung mit der Bezeichnung „Wächter der Götter“ nur wie Spott anhören. Im Unterschied zur Lokasenna, auf die wir bald zurückkommen werden, verwenden aber die Grímnismál, wie oben erörtert, ihre Informationen nicht als Hohn, sondern zählen sie nur auf, als Bestandteile kosmologischen Wissens. Umso merkwürdiger würde es deshalb erscheinen, wenn der Dichter den Begriff vǫrðr im Sinn von ‚Wächter‘ neben die übrigen hier mitgeteilten Informationen gestellt und dadurch ein Kontrast geschaffen hätte, wo eher etwas für den vǫrðr Bezeichnendes zu erwarten wäre. Ein Gott, dem der Platz als Wächter am Brückenkopf zugewiesen worden ist, ist wohl auch nicht der, der in Grímnismál 13,3 die Tätigkeit valda veom zugeschrieben wird. Freilich scheint valda in einer im Zusammenhang mit vé möglichen Bedeutung nicht viele Parallelen zu haben; die Bedeutung muss jedoch ‚herrschen, gebieten‘ sein⁴⁶. Die Angabe von Heimdallr als Herrscher über die Heiligtümer (vé)⁴⁷ könnte als eine Spur von mit dem Gott verknüpften kultischen Aktivitäten verstanden werden. In diesem Sinn wird wohl Týr mit einer wahrscheinlich alten Bezeichnung hofa hilmir ‚Herrscher, Fürst der Heiligtümer‘⁴⁸ genannt. Im Unterschied zu Týr⁴⁹ ist aber Heimdallr im Ortsnamenmaterial unbekannt⁵⁰ und auch in den Sagas ist von einem Heimdallr-Kult, der ihm eine Bezeichnung als Hüter der Heiligtümer der Menschen verschafft haben könnte, nirgendwo die Rede. Ein wichtigerer Einwand gegen den Vergleich ist aber, dass von Heimdallr in Grímnismál 13 ausdrücklich gesagt wird, þar – in Himinbjǫrg – über die Heiligtümer zu gebieten. Wo immer Heimdalls mythologischer Wohnort vorgestellt wurde, gelegen zu sein, kann man sich wohl kaum gedacht haben, dass dort menschliche Kultplätze vorhanden waren. Die Alternative ist, die Heiligtümer, von denen die Rede ist, nicht als die Heiligtümer der Menschen, sondern als jene der Götter aufzufassen. In der eddischen Dichtung besitzen nämlich nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter Heiligtümer (vé)⁵¹. In diesem Sinn könnte Heimdallr als eine Art göttlicher góði über die Heiligtümer der Götter oder vielleicht nur über seine Heiligtümer, die Heiligtümer auf Himinbjǫrg, gebieten. Dass eine solche Vorstellung mit dem Brückenwächter der

46 Vgl. n. vald ‚Macht, Herrschaft‘; siehe Lex. poet., s. v. „valda“ und „vald“. Vgl. den Satz dróttinn er alls valdandi (Frz., s. v. „valda 2“) und das Substantiv valdr ‚Herrscher‘. Etymologisch scheint in den germanischen Sprachen eine Bedeutungsentwicklung von ‚stark werden‘ > ‚herrschen‘ (> ‚besitzen‘) vorzuliegen; siehe AEW, s. v. „valda“. 47 veom ist wohl nicht Dativ Plural von m. véar ‚Götter‘ oder von n. vé ‚Heerfahnen‘. 48 de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte II, 19. 49 Siehe ebd., 19  f. 50 Siehe aber unten, Abschnitt 7.2.3. 51 Z. B. Vǫluspá 7. 62; Vafþrúðnismál 51; Lokasenna 51.

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Götter verbunden wurde, scheint schwer denkbar. Dagegen wäre sie für den Urheber der Stände, den fürstlichen Heimdallr-Rígr, plausibel. Mit diesem erhabenen Charakter stimmt ferner auch das Substantiv rann als Bezeichnung für Heimdalls Halle. Fritzner übersetzt das Wort mit ‚größeres Haus‘ und verzeichnet unter anderem Beispiele, wo das „Haus“ (hús) des Bauers (karl) sprichwörtlich der „Halle“ (rann) des Königs (konungr) gegenübergestellt wird⁵². In KrókaRefs saga (14. Jahrhundert) wird rann als ein ‚langes Haus‘ definiert⁵³.

7.2.2 Lokasenna 48 Von den Stellen, in denen der Quellenbegriff vǫrðr goða überliefert ist, enthält die 48. Strophe des Eddalieds Lokasenna das beste Argument für die Deutung der Benennung als Bezeichnung eines Wächteramts. Für denjenigen, der nach eindeutigen Informationen zur vorchristlichen Mythologie sucht, befindet sich die Strophe jedoch im schlimmsten denkbaren Kontext. Die Lokasenna ist, wie der Titel bekundet, eine Zankrede Lokis. Die Götter sind zum Trinkgelage beim Riesen Ægir eingeladen. Als der Riese Loki hereintritt – um mit Unheil (mein) den Met zu mischen, wie er selbst sagt (Lokasenna 3,6) – wird es still in der Halle. Denn Loki hat in der Urzeit mit Óðinn sein Blut gemischt⁵⁴. Sie sind Blutsbrüder; die Götter können Loki deshalb nicht vertreiben, und bald ist keine Gottheit mehr da, die seinen Spott nicht erfahren hat – auch Heimdallr nicht. Die durch Lokis Mund mitgeteilten Informationen sind folglich nicht objektiv dargestellt. Er macht sozusagen nur auf die Kehrseite der Mythen und Eigenschaften der Götter aufmerksam, ja, er wendet sie manchmal in ihr Gegenteil: so etwa Freyjas Charakter als Fruchtbarkeitsgöttin, die in Lokis Mund in schandvolle Frivolität verwandelt wird. Der Charakter des Lieds verkompliziert also wesentlich die Frage über ihren Wert als Quelle zu Vorstellungen der vorchristlichen Zeit. Auch die Datierungen des Lieds gereichen nicht zu ihrem Vorteil als Quelle zu Heimdallr⁵⁵. Die Ansicht, dass ein heidnischer Skalde seine Götter nicht einem so groben Spott⁵⁶ ausgesetzt haben würde, scheint mir allerdings unberechtigt. Dasselbe Phänomen ist auch in anderen Kulturen vorzufinden, ja selbst hinter den Klostermau-

52 Frz., s. v.: margt er þat í húsi karls, er ei [Var. eigi] er í konungs ranni (zwei Belege). 53 Króka-Refs saga, 36: Rann heiter langt hús. 54 Lokasenna 9. 55 Eine gute Forschungsübersicht gibt von See (Edda, ed. von See II, 365  ff.). 56 Für den Charakter des Gedichtes ist erhellend, dass Grundtvig in seiner „Nordens mytologi“ (1808) nur einige Strophen der Lokasenna übersetzt hat, die anderen waren ihm zu anstößig gewesen (Edda, ed. von See II, 372).

Die Belege des Begriffes vǫrðr goða in der Eddadichtung 

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ern des katholischen Europa entstanden Parodien der Heiligen⁵⁷. Vor allem reiht sich Lokis Rolle in der Lokasenna in die weitverbreitete Funktion des religionsphänomenologischen Charakters des „Tricksters“ ein, eine Figur des Streichs und Betrugs, mit der Loki mehrmals und zu Recht verglichen worden ist⁵⁸. Der Trickster, der zwar als Kulturbringer auftreten kann, verspottet die Götter, die Institutionen; auch sich selbst schont er nicht⁵⁹. Durch Ungeschick, oder umgekehrt durch seine große List, bringt er die waltenden Mächte wiederholt in Bedrängnis, alles aber mit großem Humor, was auch auf Loki zutrifft. In einer lebendigen und gefestigten Religion haben die Götter, deren innere Spannungen alle schon bewusst waren, diese Art „Götterkomik“⁶⁰ ertragen können: Erst Zeiten der Glaubensunsicherheit werden, um mit Franz Rolf Schröder zu sprechen, intolerant⁶¹. In Zusammenhang mit der Struktur und der Handlung des überlieferten Gedichtes ist es aber sehr zweifelhaft, ob die Lokasenna ein solches echtheidnisches Stück Götterkomik sein kann. In der Forschung wurde nämlich darauf aufmerksam gemacht, dass die Lokasenna nicht nur das Göttergelage als Szenerie, sondern auch den „ungebetenen“ und den „späten Gast“ mit der antiken Gattung des „Symposions“, in der sich dieser als stehende Figur findet, teilt⁶². Mit Werken dieser Gattung, z.  B. mit Lukian, könnten die Isländer durch angelsächsische Vermittlung im 12. oder 13. Jahrhundert bekannt geworden sein. Interessant erscheint mir dabei die demnach naheliegende Annahme, dass auch die Satire und ihre in der Gestalt der alten Götter vorgeführte Kritik am Heidentum bekannt waren – ein Thema,

57 F. R. Schröder, Das Symposion der Lokasenna, 10, mit anderen Beispielen. Vgl. auch Höfler, Götterkomik, 376  ff. Schon in der ältesten schriftlich bewahrten Erzählung der Menschheit, dem Gilgamesch-Epos, verhöhnt der Halbgott Gilgamesch die Göttin Ischtar (wie Loki die Freyja) dadurch, dass er „Rechenschaft über ihre Liebhaber“ ablegt (Gilgamesch-Epos 6,44–79). 58 Vergleiche von Loki mit Trickster-Figuren finden sich schon bei von der Leyen und Olrik, siehe de Vries (The problem of Loki, 254. 271), der den Vergleich vertieft hat (ebd., 254–65) und zu dem Schluss gekommen ist, dass Loki ein „typical trickster“ (274): eine Mischung aus Spaßmacher und Kulturheld, ist. Vgl. in Verbindung mit der Lokasenna H. M. Heinrichs, Lokis Streitreden, 43. 59 Der Trickster der Huichol (Mexico) heißt bezeichnenderweise Káuyúumanri ‚jener, der andere wahnsinnig macht‘ (Sullivan, Tricksters, 9357b). Die meso- und südamerikanischen Trickster-Figuren stellen sich den vorherrschenden religiösen Mächten entgegen und erniedrigen die göttlichen Schirmherren der verschiedenen religiösen Spezialisten (ebd., 9358a). In nordamerikanischen Mythen halten die Trickster nichts für heilig. Die religiösen Institutionen werden verhöhnt und besonders der Schamanismus (vgl. die Lokasenna) wird parodiert (Ricketts, Tricksters, 9354b). 60 Vgl. Höfler (Götterkomik), der die Komik als Methode ansieht, das notwendig „Allzumenschliche“ der mythologischen Darstellungen der Götter zu relativieren: Der Spott treffe nicht das „ „eigentlich“ Gemeinte, nicht das Heilige, sondern die menschliche Schwäche“ (ebd., 387). 61 F. R. Schröder, Das Symposion der Lokasenna, 11. Vgl. H. M. Heinrichs, Lokis Streitreden, 65. Neuerdings hat auch Krümpel (Die ‚allzumenschlichen‘ Götter), im Anschluss an Höfler, die Möglichkeit diskutiert, dass Komik in der vorchristlichen Dichtung als eine Art Selbstrelativierung der Mythologie gebraucht werden konnte. 62 F. R. Schröder, ebd., vor allem S. 14–22; zur Periode der möglichen Beeinflussung, siehe ebd., 26  ff. Vgl. La Farge, Lokasenna, 581; Edda, ed. von See II, 367  f.

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das auf Island des 12. oder 13. Jahrhunderts nicht nur theoretisch attraktiv gewesen sein dürfte, sondern dem in der Lokasenna konkreter Ausdruck gegeben worden ist. Eine andere Sache als die Datierung des Liedes ist freilich, ob auch die in ihm vermittelten Informationen alt oder jung sind. Natürlich ist es schwierig, Aussagen darüber zu machen, die für das ganze Lied Gültigkeit haben. Eher müsste in jedem einzelnen Fall argumentiert werden, ob ein Motiv alt oder jung ist, wobei freilich zugegeben werden müsste, dass auch alte Informationen auf rein historisch-bewahrendes Wissen, also auf noch in christlicher Zeit (schriftlich) überlieferte Traditionen zurückgehen könnten. Das einfach herangezogene Argument, dass die Angaben des Gedichtes deshalb „authentisch“ – also alt – sein müssten, weil Lokis Beschimpfungen ohne die Kenntnis der Rezipienten darüber, ob sie wirklich zutrafen, sinnlos gewesen wären, trifft nicht ganz zu, denn auch im nachheidnischen Volksglauben, in der scherzhaften Volkssage könnte ein sinnvoller Deutungsrahmen vorgefunden werden. Wie ich meine, weist vieles darauf hin, dass mehrere der Informationen der Lokasenna in der Tat zu einer spät- oder nachheidnischen Tradition gehören, die wahrscheinlich im Umlauf war, als das Lied in einem gelehrten, christlichen Kontext des 12. Jahrhunderts gedichtet wurde. Hier fallen zunächst die Charaktere des Liedes auf. Die fünf einleitenden Strophen bestehen aus dem Dialog zwischen Loki und Eldir, dem Diener des Ægir. Eldir ist als mythologische Gestalt nur hier bezeugt⁶³. Der Name ist ein Funktionsname, der nicht über seine Aufgabe im Lied hinausgeht: Er ist von elda ‚kochen, Essen zubereiten‘ (eig. ‚Feuer anzünden‘) hergeleitet. Dass er eine Erfindung des Dichters ist, scheint naheliegend. Auf noch sichererem Grund stehen wir bei Bragi (Strophe 8. 11–16). In der Lokasenna wird er offenbar als einer der Götter verstanden (11,4  ff.: sá einn áss […], Bragi). An den Stellen, an denen Bragi in der älteren Dichtung in einem mythologischen Kontext vorkommt, ist es aber offenbar der verstorbene, in Walhall aufgenommene Dichter Bragi Boddason, der zu den frühesten bekannten Dichtern des Nordens gehört und der offenbar sehr früh heroisiert wurde. Erst eine den alten Traditionen entfremdete Zeit deutete den Dichter wegen seines Auftauchens in diesen Zusammenhängen als Gott⁶⁴. Die Lokasenna scheint dieser Zeit anzugehören⁶⁵.

63 Der Name ist sonst zweimal in der Dichtung belegt: 1. in einer anonymen Strophe in einer kenning für ‚Riese‘ (áar steðja Eldir ‚des Fluss-Ambosses Eldir‘ = ‚Eldir der Steine‘ = ‚Riese‘; in AM 748 II steht statt Eldir: alldir. Snorra-Edda, Skáldskaparmál 71, 168); 2. in einer Strophe von Einarr Gilsson (14. Jahrhundert) in einer kenning für ‚Mann‘ (vers elda Eldir ‚Eldir des Meeres-Feuer‘ = ‚Eldir des Goldes‘ = ‚Mann‘). Die Grundbedeutung des Hauptwortes ist in keinem der Fälle ‚Gott‘, sondern ‚Mann‘. 64 Siehe Mogk, Bragi als Gott; vgl. Bei der Wieden, Bragi; Lindow, Narrative worlds. Bezüglich Bragi und Lokasenna, vgl. Mogk, Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur, § 46. 65 Ob die – als mythologische Gestalten ebenfalls nur hier belegten – Diener Freys, Byggvir und Beyla (Strophe 43–46. 55  f.), alte Gottheiten sind, ist auch unsicher aber nicht undenkbar. Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, § 472.

Die Belege des Begriffes vǫrðr goða in der Eddadichtung 

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Auch einige der Mythen fallen auf. Die Ereignisse, die Loki mit Þórr verknüpft, sind hauptsächlich mit „Þórs Fahrt nach Útgarðaloki“ verbunden, einer lustigen Göttersage über die Begegnung des kleinen Þórr mit einem großen Riesen, in dessen Handschuh sich der Gott verbarg usw. Die Episode wird in keinem Dichterwerk erwähnt, von Snorri⁶⁶ aber extensiv wiedergegeben. Sie könnte sehr wohl zu den nachheidnischen Traditionen um Þórr gehören, die folglich noch zur Zeit, als Snorri seine Edda verfasste (um 1225), lebendig und zugänglich waren. Wenn die Lokasenna eine späte Schöpfung ist, muss das nicht bedeuten, dass Snorri – der sich wahrscheinlich bei diesem Gedicht bediente⁶⁷ – sie fälschlicherweise für alt hielt, sondern nur, dass er einige ihrer Informationen (Freys Schwertverlust, Friggs Seheringabe und anderes) als noch auf authentisch heidnische Vorstellungen zurückgehend auffasste. Ob er in jedem einzelnen Fall richtig lag, soll uns hier nicht beschäftigen – obwohl die Ursache dafür, dass die Lokasenna so viele sonst unbekannte Mythen zu kennen scheint, nicht, wie Finnur Jónsson⁶⁸ meinte, darauf beruhen muss, dass diese zu Snorris Zeit seit langem vergessen waren: Vielleicht wusste dieser Kenner der alten Dichtung einfach, dass sie nicht älter als die Lokasenna selbst waren. Kern der Sache ist aber, dass wahrscheinlich schon der Dichter der Lokasenna sowohl sich irren als auch Heidengötter erdichten konnte. Wenden wir uns jetzt aber der hier zu behandelnden Strophe über Heimdallr zu. In Strophe 48 spricht Loki Heimdallr an: Þegi þv, Heimdallr! þer var i árdaga iþ lióta lif vm lagit; rgo baci þv mvnt ę vera oc vaca vorþr goða. ‚Schweig du, Heimdallr, | dir war in Urzeiten | ein hässliches Leben auferlegt: | mit ꜹrgo baci | wirst du immer sein | und [als] vorþr goða wachen‘⁶⁹.

Vor allem die Bedeutung des Ausdrucks ꜹrgo baci ist unklar. Pering meinte, der Ausdruck, den er am liebsten mit ‚mit schmutzigem Hintern‘ (!) übersetzen wollte⁷⁰, sollte sich darauf beziehen, dass die Alben (≈ Heimdallr) eine besondere Abscheu vor menschlichen Exkrementen gehabt hätten⁷¹. Die Übersetzung zerreißt aber völlig den

66 Gylfaginning 26–31. 67 Siehe Edda, ed. von See II, 369  ff. 68 Literaturhistorie I, 185. 69 Übersetzung Edda, ed. von See II, 479. Die altisländischen Ausdrücke sind von mir, dem Verf., ergänzt worden. 70 Pering, Heimdall, 126. 71 Ebd., 154. Die Deutung bezieht sich auf den Ausdruck álfrek ‚das, was die álfar vertreibt‘ in álfrek ganga ‚seine Bedürfnisse verrichten‘; siehe Eyrbyggja saga 4. Denselben Gedanken nahm Tolley (Shamanism, 375) auf, obwohl er in erster Linie meinte, dass aurr die Flüssigkeit sei, die nach Vǫluspá

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Zusammenhang mit den übrigen Teilen der Strophe. Der zweite helmingr ist offenbar eine Variation und Verdeutlichung des ersten: Er soll „das hässliche Leben“ des Heimdallr beschreiben, das ihm in der Urzeit auferlegt worden ist (Z. 1–3). Der Satz Z. 1,1  ff. ist mit Skírnismál 13,4  ff. vergleichbar: eino dǫgri | mer var aldr vm scapaþr | oc alt lif vm lagið ‚mir wurde auf einen Tag die Lebenszeit bestimmt und das ganze Leben festgelegt‘. Es soll sich also nicht etwa um eine Verwünschung, sondern um das „Schicksal“, um die Lebenssituation des Gottes handeln. Das stimmt mit dem Charakter von Lokis Angriffen in der Lokasenna völlig überein: Sie beschreiben Tatsachen, eben deshalb sind sie treffend. ꜹrgo baci soll also mit diesem in der Urzeit festgelegten Schicksal zusammenhängen. Dazu gehörte aber bestimmt nicht, mit Exkrementen bedeckt zu sein! – Wir stehen aber der Frage von Heimdalls Schicksal keineswegs ratlos gegenüber. Der letzte Satz von Lokasenna 48 macht nämlich mit aller Deutlichkeit klar, wie Heimdalls Lebenssituation nach der Lokasenna zu verstehen ist: Z. 6 oc vaca vorþr goða wird durch die Konjunktion mit dem Satz ꜹrgo baci | þv mvnt ę vera verbunden und soll damit mit dem Leben zusammengehören, das Loki verspottet. Die Zeile bedeutet: ‚und wachen als vǫrðr goða‘. Dass es das Los des vǫrðr goða sei, zu wachen, deutet auf die Funktion eines Wächters hin – ein sozial niedrig konnotiertes Amt72, das zu Lokis spöttischer Zankrede sehr gut passt. Mit dieser Deutung sind mehrere Übersetzungen des Ausdrucks ꜹrgo baci kongruent⁷³: 1. Sophus Bugge⁷⁴ meinte, dass *ꜹrgo (ǫrgu) durch die Dreikonsonantenregel aus einem ǫrðgu, Nominativ ǫrðugr ‚gerade, aufrecht‘ gebildet sein muss, was sprachgeschichtlich einwandfrei ist⁷⁵. Dass Heimdallr ‚mit geradem Rücken‘, d.  h. immer auf der Hut sein müsse, wäre ein treffender Angriff auf den „Wächter der Götter“. 2. Das Adjektiv ꜹrgo kann aber auch mit aurr, also aurugr, maskulin Dativ Singular aurgu zusammenhören. Die exakte Bedeutung dieses Wortes ist nicht ganz

27 den Weltenbaum (dessen Abbild Heimdallr sei) überspült (siehe unten). – Merkwürdigerweise stimmte auch Dronke (Eddic poetry, 668) Pering zu, obwohl sie sich im Übrigen an Pipping anschloss; Heimdallr, der „eigentlich“ ein Weltenbaum sei, habe also durch Lokis Beschimpfung seinen Status reduziert „to that of a Kobold“ sehen müssen. 72 Vgl. Edda, ed. von See, 479, zu Lokasenna 48,2  f. Thorvaldsen, Mǫgr átta mðra, 76  f. 73 Nicht beachtet wird hier der Vorschlag ǫrgu zu argr ‚pervers‘, also ‚mit perversem Rücken‘, wie Meulengracht-Sørensen (Loki’s senna, 253 mit Anm. 19: „you will always have a shameful back“) vorgeschlagen hat. Mit Perversität oder „Unmännlichkeit“ hat wohl die Wächterrolle nichts zu tun. Dass die Passivform (þér var...um lagit) andeuten würde, dass Heimdalls Rolle deshalb „unmännlich“ wäre, weil er sie zugeteilt bekam (Thorvaldsen, Mǫgr átta mðra, 76), ist eine Überinterpretation der grammatischen Konstruktion. 74 Norrœn Fornkvæði, 401, zur Stelle. 75 Dem Vorschlag ist später von anderen Herausgebern gefolgt worden, z.  B. in Edda, ed. Finnur Jónsson, 109, zur Stelle.

Die Belege des Begriffes vǫrðr goða in der Eddadichtung 

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klar⁷⁶. Eine Bedeutung ‚Flüssigkeit‘ scheint unter anderem in der kenning aurs epli = ‚Stein‘⁷⁷ belegt zu sein, die wie andere kenningar für ‚Stein‘ konstruiert ist und deren Grundwort (‚Stein‘ oder Vergleichbares) durch ein Wort für ‚Meer, Wasser‘ usw. bestimmt ist⁷⁸. Gebräuchlicher ist die Bedeutung ‚Kies, mit Steinen untermischter Sand‘, die vor allem in Ortsnamen bewahrt ist⁷⁹, die aber auch in anderen Eddaliedern, vorzüglich in einer Bedeutung ‚Schmutz, Dreck‘, bewahrt zu sein scheint⁸⁰. Ein zu aurr gehörendes Adjektiv ist nur noch in Vǫluspá 27 belegt, in der es den Fluss (á) beschreibt, der aus der Quelle kommt, in der „Óðins Pfand“ (sein Auge) verborgen liegt: á sér hon ausask | aurgum forsi…⁸¹. Weil in derselben Strophe von Yggdrasill gesprochen wird, ist es wahrscheinlich, dass aurgum forsi mit dem hvíta auri gleichzusetzen ist, mit dem Yggdrasill gemäß Vǫluspá 19 begossen (ausinn) wird⁸². Da ‚nasse Flüsse‘ tautologisch wäre, scheint in diesen beiden Fällen in erster Linie eine Bedeutung ‚schlammig‘ bzw. ‚(weißer) Schlamm‘, nicht etwa ‚Nässe‘ angemessen. Beide Bedeutungen – ‚feucht, nass‘ bzw. ‚schmutzig‘ – wären aber passende Schimpfwörter für den Wächter, der in Regen und Sturm Wache stehen muss⁸³. Bei der Bewertung der Strophe muss der Charakter des Gedichts beachtet werden. Dass Heimdallr æ (Handschrift ę) ‚ständig, immer‘ wachen und mit geradem oder feuchtem Rücken stehen müsste, hat der Dichter wahrscheinlich nicht gemeint. Seine Darstellung eines immer Wache stehenden Wächters war aber eine passende Beschimpfung für einen Gott, der die Bezeichnung vǫrðr goða trug. Der Charakter der Lokasenna als Schimpfrede legt die Annahme nahe, dass er Loki mit der Doppelbedeutung des Substantivs vǫrðr im Sinn von ‚Beschützer‘ bzw. ‚Wächter‘ spielen und den Götterfeind die pejorative Bedeutung einseitig wählen ließ.

76 Auszuschließen ist wohl die Herleitung aus lateinisch aurum, die vor allem Höckert in seiner „Vǫluspá och vanakulten“ (Bd. I) vertrat; die Etymologie wäre eigentlich nur für die Verwendung des Wortes in der Vǫluspá geeignet, in der es nach Höckert die Flüssigkeit der Rydberg’schen „Metquelle“ bezeichnen würde. 77 Bergbúaþáttr, Skj. B II, 227. 78 Z. B. fjarðar epli. Siehe Meißner, Die Kenningar der Skalden, 90. 79 Siehe Frz., s. v. „aurr“. 80 So Guðrúnarhvǫt 16,8  ff., hadd Svanhildar, | ꜹri troddo | vnd ióa fótom ‚Svanhilds Haar, unter den Hufen der Pferde gestampft in den Schmutz‘; Gróttasǫngr 16,5, aurr etr iliar ‚der Kies nagt an den Fußsohlen‘; wahrscheinlich auch in Rígsþula 10,3 (vom Magd Þír), aurr (Handschrift ǫʀ) var á ilium ‚Dreck war an den Fußsohlen‘. – In Alvíssmál 10 bedeutet aurr ‚die Erde‘. 81 Vgl. Nordal, Völuspá, 66. 82 Die Textvarianten unterscheiden sich in Vǫluspá 19 kräftig voneinander. Die beste Lesart, die außerdem in den beiden Handschriften der Lieder-Edda identisch ist, lautet aber hár baðmr ausinn | hvíta auri ‚ein hoher Baum, bespült mit weißem aurr‘. 83 So schon Edda, ed. Boer II, 107, zu Lokasenna 48,4. – Anders McKinnell (Motivation in Lokasenna, 252  f.), der, von der Bedeutung ‚dreckig‘ (vgl. Pering oben) ausgehend, Lokis Beschimpfung so verstand, Heimdallr habe „während Arbeit geschlafen“ („sleeping on the job“).

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7.2.3 Skírnismál 28 Die letzte Stelle, in der die Bezeichnung vǫrðr goða in der Eddadichtung offenbar auf Heimdallr bezogen wird, findet sich in Skírnismál 28. Wie die Lokasenna sind die Skírnismál aller Wahrscheinlichkeit nach ein in christlicher Zeit entstandenes Gedicht⁸⁴; vielleicht wurden sie erst um 1200 gedichtet⁸⁵. Sie wären also gemäß den obenstehenden Erwägungen zur Datierung der Lokasenna ungefähr gleichzeitig mit diesem Gedicht entstanden, und es wurde in der Forschung sogar vorgeschlagen, dass diese beiden Gedichte von demselben Autor stammen könnten⁸⁶. Zu den Argumenten für ein junges Alter der Skírnismál gehört eines der tragenden Themen des Gedichts: die sehnende und ferne Liebe des Freyr, die vielleicht Einflüsse der höfischen Kultur des europäischen Festlandes erahnen lässt⁸⁷. Anne Heinrichs hat eine tiefgehende Interpretation des Liedes im Licht mittelalterlicher, kontinentaler Gedankenströmungen von Liebeskrankheit vorgelegt und hat überzeugend zeigen können, dass das Ideengerüst der Skírnismál in diesen Ideen vom amor hereos – nicht, wie die frühere Forschung meinte, im ἱερός γάμος eines Fruchtbarkeitskultes⁸⁸ – zu verorten ist⁸⁹. Seit Heinrichs Analyse hat die breiter angelegte Untersuchung von Charlotte Kaiser zeigen können, dass das Motiv der Liebeskrankheit auch in vielen Isländersagas ein wichtiges, ja handlungsbestimmendes Element ist⁹⁰. Am Beispiel unter anderem der als einer der ältesten Isländersagas geltenden Kormáks saga kommt Kaiser zum Schluss, dass kein Zweifel bestehen könne, dass die Sagaverfasser „über genaue Fachkenntnisse der Liebeskrankheit verfügten“⁹¹. Obwohl die Blüte der höfischen Literatur im westlichen Norden eigentlich erst mit König Hákon Hákonarson im 13. Jahrhundert begann, war folglich das kontinentale Motiv der Liebeskrankheit in gewissen sozialen Kreisen des Nordens wahrscheinlich schon früh bekannt und konnte sogar als Handlungsgerüst literarischer Werke Verwendung finden.

84 Siehe Edda, ed. von See II, 64, mit weiteren Hinweisen. 85 „Entstehung in nachheidnischer Zeit, vielleicht erst im 12./13. Jahrhundert“. von See u. a., Skírnismál, 49. Ähnlich Randlev, Skírnismál, 157: 12.–13. Jahrhundert; Bibere, Freyr and Gerðr, 21: „no older than the 13th century“. 86 So schon Bugge, Iduns Æbler, 4 (mit Hinweis auf Vigfusson); A. Heinrichs, Der liebeskranke Freyr, 29. Zu den vielen Ähnlichkeiten zwischen den Skírnismál und der Lokasenna, siehe Edda, ed. von See II, 59  f. 380  ff. 87 Siehe von See u. a., Skírnismál, § 6b; 9b; 10. 88 Als Beispiele für diese Forschungsrichtung können aus den frühen Tagen Olsen (Fra gammelnorsk Myte), aus den jüngeren Steinsland (Det hellige bryllup) erwähnt werden. 89 A. Heinrichs, Der liebeskranke Freyr, besonders S. 4–22. 90 Kaiser, Krankheit und Krankheitsbewältigung, Kap. 5.7.2 (S. 243–69). 91 Ebd., S. 268.

Die Belege des Begriffes vǫrðr goða in der Eddadichtung 

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Zur Gattung der kontinentalen „Balladen“ im eigentlichen Sinn können die Skírnismál freilich nicht gerechnet werden. Wie Anatoly Lieberman bemerkt, versagt das Gedicht als Mythos, es versagt als Heldendichtung – und es versagt als Ballade⁹². Diese Schwierigkeit, die Skírnismál einer bestimmten Gattung zuzuordnen, ist andererseits schon per se als Argument für ein spätes Alter des Gedichtes verwendet worden⁹³. Vielleicht könnte sie darauf hindeuten, dass die Skírnismál ein früher Versuch sind, neues Material in z.  T. althergebrachten Formen zu verwenden. Allem Anschein nach ist das Gedicht eine eigenständige Schöpfung, in der das im Mittelalter verbreitete Thema der Liebeskrankheit in einen lose und frei zusammengesetzten (Draupnir ist in Freys Besitz usw.)⁹⁴ mythologischen Rahmen eingeordnet ist. Der Dichter der Skírnismál verwendet eigentlich keinen sehr umfangreichen heidnischen Stoff⁹⁵. Der Protagonist Skírnir z.  B. ist nicht gerade eine bekannte Gestalt der Eddadichtung und wahrscheinlich auch kein Gott⁹⁶. Was der Dichter jedoch verwendet, verwendet er wie angedeutet ziemlich frei. Auch dies scheinen die Skírnismál mit der Lokasenna gemeinsam zu haben. Eine sehr tiefe Kenntnis der vorchristlichen Vorstellungswelt braucht dem Dichter nicht zugetraut werden. Dies gilt natürlich auch für die Strophe, in der der vǫrðr goða (hier auffälligerweise vorþr meþ goðom ‚der vǫrðr bei den Göttern‘) erwähnt wird. In Skírnismál 28 verflucht Skírnir die Riesin Gerðr, die er durch Verlockungen und Bedrohungen als Frau für den Gott Freyr werben soll, mit den Worten: At vndrsionom þv verþir, er þv vt kǫmr, a þic Hrimnir hari, a þic hotvętna stari; víðkvnnari þv verþir, enn vorþr meþ goðom; gapi þv grindom fra. ‚Werde du zum wunderlichen Anblick, | wenn du hinauskommst, | dich soll Hrímnir angaffen, | auf dich soll jeder starren! | Weitbekannter werde du | als der vǫrðr bei den Göttern, | gaffe du von den Gittern!‘⁹⁷.

92 Lieberman, Rezension, 117a. 93 Ebd. 94 Vgl. Klingenberg, Fǫr Skírnis, 39, besonders unter (d). 95 Anders Randlev, Skírnismál, 137. Finnur Jónsson (Literaturhistorie I, 177) meinte, das Gedicht wäre – unter anderem wegen „sit levende billede af hedenskabet“ (!) – in der Zeit um 900 entstanden. Ähnliches glaubte er aber auch für die Lokasenna geltend machen zu können (ebd., 185). 96 Skírnir wird in der Prosa der Skírnismál mit skósveinn bezeichnet, in Strophe 37,1 mit sveinn und in 15,1 einfach mit maðr! Es wäre aber genug, auf Strophe 18 hinzuweisen, in der er selber sagt: Emkat ec alfa | ne ása sona | ne víssa vana. – Ob auch Freyr, außer in seinem „Doppelgänger“ Skírnir, euhemerisiert ist (vgl. Heinrichs, Der liebeskranke Freyr), kann hier dahingestellt werden. 97 Übersetzung Edda, ed. von See II, 112.

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 vǫrdr goða

In der Strophe wird, wie man sieht, sehr wenig über Heimdallr gesagt; doch ist zu erwarten, dass der Vergleich zwischen diesem Gott und Gerðr auf irgendein tertium comparationis anspielt. Dieses Dritte kann wohl nicht einfach die Berühmtheit sein. Zwar wird Heimdallr in Húsdrápa 2,3 frægr ‚weit bekannt, berühmt‘ genannt, vergleichbar mit Skírnismál 28,5 víðkvnnari. Hier ist es aber etwas Negatives, dort eine Ehrenbezeichnung. Auch gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Heimdallr als besonders berühmt galt: frægr war wohl eine passende Bezeichnung für diesen fürstlichen Gott. víðkvnnari…enn vorþr meþ goðom soll wohl deshalb nicht ‚bekannter als der Berühmte‘ bedeuten, sondern dürfte etwas anderes in den Vergleich miteinbeziehen. Birger Perings Vorschlag war, dass sowohl Heimdallr als auch Gerðr ein Wesen gewesen wäre, das den Hof nie verlassen konnte und es deshalb etwas Aufsehenerregendes gewesen wäre, wenn es herauskäme⁹⁸. Die Interpretation ist nicht nur auf Vorannahmen gestützt, denen hier nicht gefolgt werden kann (Heimdallr sei ein Hofwicht, Gerðr eine Verkörperung des Hofes⁹⁹), sie beachtet auch wenig den textuellen Zusammenhang: Die Strophe wird behandelt, als ob sie eine kontextlose Tatsachenaussage zu Gerðr und Heimdallr wäre. In Wirklichkeit steht aber die Stelle inmitten einer Reihe von Strophen (26–35), in denen Skírnir als Strafe für Gerðs Unfügsamkeit der Riesin droht, sie mit Flüchen und Verbannungen aus der zentralen Welt und vom Umgang mit Männern auszugrenzen und in die periphere Welt der hrímþursar zu verweisen. Das Thema steht in enger Verbindung mit dem übergreifenden Thema der Liebeskrankheit: Im Land der hrímþursar wird Gerðr ihre zuvor in Strophe 6 betonte Schönheit nichts nutzen; unter dem Tor der Leichen (nagrindr) wird sie mit dem Thursen Hrímgrímnir schlafen müssen (35), und das Lied spielt ausführlich mit dem Thema ihres Verlangens oder sogar der sexuellen Gier (31), die in Strophe 34 den Höhepunkt erreicht¹⁰⁰. Der Inhalt von Skírnismál 28 gehört also zu Gerðs zukünftigem, qualvollem Leben. In diesen Kontext passt keine Anspielung darauf, dass Heimdallr und Gerðr den Hof nie hätten verlassen können, noch würde dies mit anderen bekannten Informationen über diesen Gott übereinstimmen, aus denen hervorgeht, dass Heimdallr durchaus vorgestellt wurde, seinen Wohnort verlassen zu können. So verlässt er schon nach Húsdrápa 2 nicht nur seinen Wohnort, sondern Asgard, und begibt sich zum Meer, um mit Loki zu kämpfen. In der 10. Strophe desselben Gedichtes reitet er zum Scheiterhaufen des toten Baldr. Lokasenna 48 scheint mit dem Gedanken zu spielen, Heimdallr würde immer draußen stehen, in Þrymskviða 15  f. befindet er sich mit

98 Pering, Heimdall, 126  f. 99 Für das Letztere berief sich Pering (ebd., 31  f.) auf M. Olsens bekannte Untersuchung, Fra gammelnorsk Myte, 22  f. 100 Heyri iotnar, | heyri hrimþvrsar, | synir Svttvnga, | sialfir asliþar, | hve ec fyr byð, | hve ec fyrir banna | manna glavm mani, | manna nyt mani.

Auslegung 

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den anderen Göttern am Thing (a þingi, 14,2) und in Rígs Gestalt wandert er (grænar brautir, Rígsþula 1,2) durch die Welt der Menschen. Passend wäre dagegen die Charakterisierung Heimdalls als einen Gott, von dem man sich vorstellte, er lebe in der Peripherie, am Rande von Asgard¹⁰¹. Dies könnte sich z.  T. auf Heimdalls Wohnort Himinbjǫrg beziehen. Dass die Vorstellung, Himinbjǫrg liege in einem Randgebiet, um 1200 denkbar war, zeigt Snorri, der in Gylfaginning 9 über Himinbjǫrg schreibt, sa stendr á himins enda. Gleichzeitig scheint es mir nur schwer vorstellbar, dass die Bezeichnung vǫrðr goða in Skírnismál 28 nur des Reimes halber¹⁰² gewählt wurde. Wenn das tertium comparationis das Randgebiet war, muss die Bedeutung von vǫrðr dem entsprechen, was der Dichter der zeitlich wohl nahen Lokasenna unter dem Begriff verstand: ‚(Grenz-) Wächter‘.

7.3 Auslegung 7.3.1 Der Wächter der Götter in der Eddadichtung Im Vergleich mit den anderen Quellen, in denen dieser Begriff außerhalb der SnorraEdda belegt ist – Lokasenna 48 und Skírnismál 28  –, muss Grímnismál 13 als die wertvollste Stelle angesehen werden. Wie bei der Untersuchung der Belegstellen für den Begriff vǫrðr goða dargelegt wurde, sind sowohl die Lokasenna als auch die Skírnismál wahrscheinlich späte Gedichte der nachheidnischen Zeit (12. Jahrhundert). In den Skírnismál wird der Begriff nur erwähnt. In Lokasenna 48 lässt der Dichter Loki den Begriff mit einer Beschreibung Heimdalls verbinden, doch ist die ganze Schilderung vom Charakter des Liedes als Zankrede Lokis geprägt, was die Frage über den Quellenwert wesentlich verkompliziert. Die Grímnismál dagegen können als ein „Wissensgedicht“ charakterisiert werden, in deren Fall es – im Gegensatz zur Lokasenna – wenig Grund zur Annahme gibt, dass die wohl aus älteren Gedichten stammenden, als altes Wissen angeführten Informationen entstellt sein könnten. Außer der Tendenz zur Systematisierung des kosmologischen Gesamtbildes des Gedichts, die nicht älter als die Entstehung des Liedes sein muss, gibt es wenige Anhaltspunkte dafür, dass der Dichter andere Intentionen als rein historisch-bewahrende verfolgt hat. Im Unterschied zum Kontext von Lokasenna 48 und Skírnismál 28 scheint aber die traditionelle Übersetzung von vǫrðr goða mit ‚Wächter der Götter‘ in Grímnismál 13 nicht nur unsicher, sondern sogar unpassend. Wenn eine von Snorris Interpretation von Heimdallr unabhängige Deutung von vǫrðr gewagt werden soll, läge in diesem Zusammenhang eher die Bedeutung ‚Beschützer, Verteidiger‘ nahe.

101 So übrigens auch Reichardt, Die Liebesbeschwörung, 489; Klingenberg, Fǫr Skírnis, 37. 102 Z. 6  f.: víðkvnnari þv verþir, | enn vorþr meþ goðom.

242 

 vǫrdr goða

Während ‚Wächter‘ in der Prosa die gewöhnliche Bedeutung von vǫrðr war¹⁰³, überwogen in der Dichtung andere Bedeutungen. Häufig wird das Wort in kenningar für Fürsten verwendet. Diesen Gebrauch kommentierte schon Snorri Sturluson in seinen Skáldskaparmál, Kap. 66: Konvnga alla er rett at keɴa sva, at kalla þa landraþendr eþa landz vorþv e(ða) […] vorð landfolks.

Der Herrscher ist der „Beschützer“ (vǫrðr) des Landes oder der Leute. Gewöhnliche kenningar dieser Art, außer des von Snorri erwähnten, mehrmals belegten landvǫrðr, waren Bildungen wie vǫrðr grundar, foldar usw., aber auch Verbindungen mit einem bestimmten Land, wie Nóregs vǫrðr¹⁰⁴. Wie aus der Kenning vǫrðr folda ok fyrða¹⁰⁵ ‚vǫrðr des Landes und der Männer‘ hervorgeht, ist eine Bedeutung ‚Wächter‘ hier ausgeschlossen. Als Typus gehören diese kenningar zu anderen Umschreibungen für den König als „Herr über Land und Leute“ wie foldar valdr ‚Gebieter des Landes‘. Wie Rudolf Meißner¹⁰⁶ es formuliert: „[Z]um Ausdruck kommt die Macht des Königs, sein Recht auf das Land, Anteil an ihm, die Leitung und Führung durch den Herrscher und der von ihm gewährte Schutz, die Sorge für die Sicherheit des Landes und der Bewohner“. Das soziale Konnotat der oben erwähnten kenningar entspricht ohne Zweifel dem erhabenen Charakter Heimdalls und seiner Eigenschaft als Ständegründer besser als jenem eines Brückenwächters. Eine ähnliche Bedeutung wurde in dieser Arbeit auch für die sehr ähnlich gebildete und bedeutungsmäßig verwandte Bezeichnung Heimdalls als ragna reinvári vorgelegt, die in dem ältesten datierbaren Gedicht, in dem Heimdallr vorkommt – Úlfr Uggasons Húsdrápa – belegt ist. Rein sprachlich wäre eine Übersetzung der Bezeichnung mit ‚Grenzwächter der Götter‘ und dergleichen möglich. In der aktuellen Strophe (Húsdrápa 2) hat Heimdallr aber nicht die Rolle eines Grenzwächters, der die Götter vor dem Feind warnt; eher scheint er auf einer Insel im Meer für das Heil Asgards und die regenerativen Kräfte der Götter zu kämpfen. In der Auslegung der Strophe wurde deshalb eine Übersetzung von ragna reinvári mit ‚Landesbeschützer der Götter‘ vorgezogen, was wiederum den Umschreibungen für den König als landvǫrðr nahekommt. Das Bild in Skírnismál 28 und Lokasenna 48 von Heimdallr als Wächter scheidet in dieser Hinsicht aus. Bedeutend erscheint, dass in beiden Strophen der Begriff vǫrðr mit einer negativen (herablassenden) Bedeutung konnotiert wird. Dies legt zusam-

103 Siehe Frz., s. v. „vörðr 2“. 104 Siehe Lex. poet., s. v. „vǫrðr 1“; Meißner, Die Kenningar der Skalden, § 90a.; vgl. Snorra-Edda, 160. 105 Skj. B I, 541, Strophe 9,3. 106 Die Kenningar der Skalden, 352.

Auslegung 

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men mit der späten Datierung dieser Texte den Schluss nahe, dass Skírnismál 28 und Lokasenna 48 Umdeutungen Heimdalls in christlicher Zeit repräsentieren. Dies wäre zu einer Zeit, die der Entstehung der Snorra-Edda nicht allzu fern war und in der man schon nicht viel mehr über Heimdallr wusste als das, was in der mündlichen Tradition noch erzählt wurde, durchaus denkbar. Zur Lokasenna kommt auch der Charakter des Liedes als Spottgedichts hinzu. Der Dichter kann sehr wohl beabsichtigt haben, gerade mit der doppelten Bedeutung von vǫrðr zu spielen, was textintern sinnvoll wäre. In den Skírnismál dagegen scheint schon vom Bild des Wächters ausgegangen zu werden. Wenn es – wie anzunehmen – berechtigt ist, in den Skírnismál und der Lokasenna isländische Schöpfungen zu sehen, mag das schnelle Verschwinden eines tieferen Wissens über Heimdallr auch dadurch erklärt werden, dass ein Gott der Ständeordnung und der Kriegeraristokratie auf Island immer wenig Bedeutung gehabt haben mag. Er lebte hier nur noch in der mythologischen Tradition weiter. Seine wirkliche Heimat dürfte aber Norwegen gewesen sein. Wenn die Autoren der christlichen Zeit Heimdallr verstehen wollten, schien wohl – unter all den rätselhaften und unklaren Informationen über den Gott in der Überlieferung – der Begriff vǫrðr goða einen festen Anhaltspunkt zu geben: vǫrðr hieß in der Alltagssprache zunächst ‚Wächter‘¹⁰⁷. Anziehend konnte eine derartige Deutung nicht zuletzt auch deshalb erscheinen, weil sie mit dem in einem Gedicht, das in christlicher Zeit zu den beliebtesten eddischen Göttergedichten gehört haben dürfte, überlieferten Motiv Heimdalls als Hornbläser (Vǫluspá 46 und – weniger offenkundig – 27) zu einem fassbaren Bild des Gottes zusammengeführt werden konnte.

7.3.2 Der Wächter der Götter bei Snorri Sturluson Nach dieser Stellungnahme können wir uns jetzt Snorris Bild von Heimdallr als Wächter der Götter zuwenden. Zwei Angaben bei Snorri verweisen auf Heimdalls angebliches Wächteramt: 1. Snorris Charakterisierung des Gottes als Brückenwächter und 2. seine Beschreibung von Heimdalls gutem Seh- und Hörvermögen. 1. In der Snorra-Edda, Gylfaginning 15, 32  f., heißt es über Heimdallr: Hann býr þar er heitir Himinbjorg við Bifrꜹst; hann er vꜹrðr goþa ok sitr þar við himins enda at gæta brvariɴar firir bergrisvm [...].

Und Gylfaginning 9, 25 fügt über den hier erwähnten Wohnort Heimdalls, dem Himinbjǫrg, hinzu:

107 Siehe Frz., s. v. „vörðr 2“.

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 vǫrdr goða

þar er enn sa staðr, er himinbiorg h(eita); sa stendr á himins enda við brvar sporð, þar er bifrꜹst kemr til himins.

Nach Snorri sei also Heimdallr der Wächter der Götterbrücke, und sein Wohnort liege gerade an der Brückenschwelle, wo Bifrǫst den Himmel erreiche. Diese Brücke sei ferner, wie Snorri an einer anderen Stelle¹⁰⁸ zu erzählen weiß, mit dem Regenbogen identisch. Diese Funktion klingt in der Bezeichnung Heimdalls als vaurþ Bifrastar in Forspallsljóð, Strophe 9,2, an. Wie oben S. 99  f. gezeigt wurde, dürfte der Quellenwert dieses Gedichtes jedoch nicht sehr hoch sein. Die Bezeichnung vaurþ Bifrastar kann der Dichter der Snorra-Edda entnommen haben. Auffallend ist, dass die Verbindung zwischen Heimdallr und der Brücke mit Ausnahme der Forspallsljóð nur bei Snorri vorkommt. Von einer Regenbogenbrücke ist in der älteren altwestnordischen Überlieferung nie ausdrücklich die Rede¹⁰⁹. Es kann aber sein, dass mit den „Himmelsbrücken“ (vindhjálms brúar), über die der tote Held nach Helgakviða Hundingsbana II 49 reiten muss, bevor der Hahn Salgofnir die toten Krieger (sigrþioþ, 49,8) erweckt, der Regenbogen gemeint wird¹¹⁰. Die Vorstellung vom Regenbogen als einer Brücke zwischen Himmel und Erde ist sowohl religionsphänomenologisch belegbar¹¹¹ als auch psychologisch verständlich. Dies heißt aber nicht, dass auch die Vorstellung von Heimdallr als Wächter dieser Brücke alt ist. In der christlich beeinflussten Vǫluspá und vielleicht auch auf dem Runenstein von Jurby und dem Steinstück von Ovingham wird Heimdallr aller Wahrscheinlichkeit nach als Analogon zu den posaunenblasenden Engeln in der Offenbarung des Johannes verwendet, eine Analogie, die jedem Rezipienten offenkundig gewesen sein sollte¹¹². Auch damit konnte im volkstümlichen Christentum die Vorstellung von der Regenbogenbrücke verbunden werden. Die Auffassung des deutschen Volksglaubens, wonach die Toten beim Jüngsten Gericht über den Regenbogen in den Himmel schreiten müssen, ist einladend. Für die Bösen hält diese Brücke nicht – eine Vor-

108 Gylfaginning 6, 19. 109 Nicht naturmythologisch ist wohl Grímnismál 29 zu fassen: Þórr müsse täglich auf seinem Weg zum Thing vier Flüsse durchwaten, þviat asbrv | brenn ꜹll loga. Detter und Heinzel (Edda I, zu Grímnismál 29,1–10) bemerken: „brenn vertritt den Conditionalis ‚sie würde brennen‘, – wenn Thor sie beschritte.“ Denn Þórr fährt ja mit Blitz und Donner, und die Berge brechen unter ihm (siehe die Hinweise ebd.). 110 Das eschatologische Motiv mit dem krähenden Hahn gleicht sehr den Vorstellungen der Vǫluspá, besonders Strophe 42  f., vgl. oben, S. 164  f. Obwohl die Symbolik – wie ebd. erwähnt wurde – alt sein kann, kann eine christliche Beeinflussung nicht ausgeschlossen werden; es würde wohl aber trotzdem von (späten) „vorchristlichen“ Vorstellungen, also von Synkretismus handeln. 111 So in Japan, bei den Griechen, Römern und in anderen Kulturen; siehe Stegemann, Regenbogen, 588. 112 Siehe oben, Kap. 5.3.

Auslegung 

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stellung, die Snorri mit der Brücke Bifrǫst der altwestnordischen Mythologie verbindet¹¹³. Als Wächter der Brücke fungiert ein Engel, der mit seiner Posaune die Toten zum Gericht ruft¹¹⁴, wenigstens formal ist das vergleichbar mit Heimdalls Hornstoß. Die Vǫluspá-Tradition kann in später Zeit, aber schon vor Snorri zu synkretistischen Vorstellungen von Heimdallr und der Regenbogenbrücke geführt haben. Es muss also nicht notwendigerweise angenommen werden, dass Snorri ganz auf eigene Faust vorging, als er Heimdallr als an der Götterbrücke sitzend darstellte, aber sicher gehörten diese Vorstellungen dann ursprünglich zur nachheidnischen, mit Snorri zeitgleichen Umdeutung der alten Überlieferung aus einem christlichen Deutungsrahmen. Was Snorri selbst gemacht hat, ist seinem Drang nach Systematisierung zuzuschreiben. Er hat die Brücke mit Heimdalls Eigenschaft als Wächter verbunden. Dadurch hat er ein einheitliches Bild geschaffen. Heimdallr er vꜹrðr goþa ok sitr þar við himins enda at gæta brvariɴar firir bergrisvm. 2. An dieser Stelle in Gylfaginning 15¹¹⁵, wo Snorri von Heimdallr als Wächter der Götterbrücke spricht, erwähnt er auch eine andere unikale Angabe. Die mitgeteilte Information klingt volkstümlich-märchenhaft¹¹⁶. Ob Snorri sie als Erster in Zusammenhang mit Heimdallr gebracht hat, kann nicht bewiesen werden; nachweislich wurden Vorstellungen über heidnische Götter auch in christlicher Zeit neu gebildet und könnten vielleicht auch von einem Gedicht wie der Lokasenna, die wahrscheinlich vor der Snorra-Edda entstanden ist, beeinflusst werden. Für Snorri stimmte das Motiv jedenfalls sehr gut mit seiner Auffassung von Heimdallr überein. Und so gab es keinen Grund, es in den Angaben zu diesem Gott nicht anzuführen: hann þarf miɴa svefn en fvgl; hann ser iafnt nott sem dag hvɴdrat rasta fra ser; hann heyrir ok þat, er gras vex aiorþv e(ða) vll a savþvm ok allt þat, er hæra lætr […].

Auf Snorri stützen sich dann später Þrymlur I, deren 1. Strophe ähnliche Informationen wiedergibt: heyrdi hann allt þat hęʀa let | en harit spratt audum. Was Snorri dagegen mit dem Gott nicht in Übereinstimmung bringen konnte, war Heimdalls Vaterschaft. Es ist ein ebenso merkwürdiger wie bedeutungsvoller Umstand, dass Snorri diese in Vǫluspá 1, die er sicher gut gekannt hat, so bemerkenswerte Eigenschaft Heimdalls nicht einmal erwähnt. Wahrscheinlich wusste er nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Óðinn war ja – nach Snorris Auffassung – der Vater

113 Nach Snorri (Gylfaginning 6, 19) soll die Brücke Bifrǫst, die von der Erde in den Himmel führe, bei Ragnarök unter den synir Muspellz zusammenstürzen – nach Fáfnismál 15 sind es die Götter, die für die Brücke zu schwer sind! 114 Stegemann, Regenbogen, 589. Vgl. Pering, Heimdall, 257. – Nach einem deutschen Kinderreim heißt es, dass, wenn der Jüngste Tag kommt, „kommt der liebe Gott gezogen | auf einem schönen Regenbogen“. Stegemann, ebd., 594. 115 Unten nach Snorra-Edda, ed. Finnur Jónsson, 33. 116 Vgl. von der Leyen, Das Märchen, 7.

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 vǫrdr goða

aller Götter. Auch die Menschen waren von Óðinn und seinen Brüdern erschaffen worden. Die Rígsþula und den darin erzählten Mythos scheint Snorri nicht gekannt zu haben. Vermutlich waren sie auf Island nie von einer besonders großen Bedeutung. Wenn Snorri sich entschlossen hat, die Angabe aus Vǫluspá 1 zu verschweigen, so deutet dies nicht nur darauf hin, dass er nicht immer mit den vorchristlichen Traditionen derart gut bekannt war, wie häufig vorausgesetzt wird, sondern beleuchtet auch die Weise, in der er ein Bild von der heidnischen Mythologie konstruierte, das häufig noch heute akzeptiert wird.

8 Heimdalls Wohnort Der Name bedeutet ‚Himmelsberg‘, und zweifellos ist mit ihm der Weltberg gemeint.¹

8.1 Die Belege 8.1.1 Die schriftlichen Quellen In der 13. Strophe der eddischen Grímnismál wird Heimdalls Wohnort erwähnt. Es wird berichtet, dass der Gott dort über die (seine?) Heiligtümer (vé) gebietet. „Dort trinkt der Beschützer der Götter in seiner ruhigen Halle froh den guten Met“ (þar vorþr goða | dreccr i vęro ranni | glaþr inn góða mioþ). Die Quelle wurde oben behandelt. Zu den Angaben der Grímnismál kommen aber einige Informationen hinzu, die uns Snorri liefert. Snorri hat sich bei seiner Schilderung von Heimdallr Grímnismál 13 bedient und zitiert die ganze Strophe. Im Anschluß dazu sagt er, Gylfaginning 15: Hann [nl. Heimdallr] býr þar er heitir Himinbiorg vid Bifrꜹst; hann er vꜹrðr goþa ok sitr þar við himins enda at gæta brvariɴar firir bergrisvm.

Und in Gylfaginning 9: Þar er enn sa staðr, er Himinbiorg h(eita); sa stendr á himins enda við brvar sporð, þar er Bifrꜹst kemr til himins.

Was Snorri an beiden Stellen der Information von Grímnismál 13 hinzufügt, ist, dass Himinbjǫrg „am Rande des Himmels“ (á himins enda) liegt und dass von dort die Regenbogenbrücke² Bifrǫst vom Himmel zur Erde läuft. Schließlich ist Himinbjǫrg auch in Forspallsljóð 26,8 als Wohnort Heimdalls belegt, ohne dass die Stelle etwas zur Vergrößerung unseres Wissensstandes beitragen könnte.

8.1.2 Heimdalshaugen Wie in der Einführung der vorliegenden Arbeit bemerkt wurde, ist Heimdallr im Unterschied zu den anderen in der Eddadichtung öfters vorkommenden Götter im Ortsnamenmaterial außergewöhnlich schwach belegt. Ob die viele „Himmelsberge“ auch

1 F. R. Schröder, Altgermanische Kulturprobleme, 108. 2 Gylfaginning 6, 19.

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 Heimdalls Wohnort

„Heimdallsberge“ sind, kann schwerlich bewiesen werden. Dass z.  B. einige bronzezeitliche Steinhaufen auf dem Gipfel von Himmelsberget in Rolfstorp „Heimdalls grav“ genannt werden³, geht sicher auf Vorstellungen zurück, die in moderner Zeit, unter Beeinflussung des aus den Universitäten „herausgesickerten“ Wissens, entstanden sind⁴. Auch die meisten Ortsnamen, die den Namen Heimdal- enthalten, sind entweder sehr spät entstanden⁵ oder gehen auf eine Bedeutung ‚das Tal, das dem Dorf am nächsten liegt‘ und dergleichen zurück⁶. Es gibt aber einen denkbaren Fall, in dem mythologische Vorstellungen in der Namenswelt der physischen Landschaft widergespiegelt sein könnten. In unserem Zusammenhang ist es deshalb besonders interessant, weil es hier, wie bezüglich des Wohnorts Heimdalls, um einen Berg geht. In den Waldgegenden des Namdalen, Nord-Trondelag, liegt der Berg Heimdal(s) haugen⁷ (1160  m). Der Name ist im Samischen als Aimetal-Saiwo⁸ und 1730 als Aajmehtalie⁹ belegt. Laut K. B. Wiklund¹⁰ soll dieser Name der Form nach (ai statt ei) schon aus dem Urnordischen entlehnt sein. Von den Seefahrenden im 18. Jahrhundert wurde der Berg auch Trondhjems Bok oder den norske Buk genannt¹¹. Da die samische Bevölkerung, wie es scheint, in der Gegend eine ältere nordgermanische ersetzt und deren Ortsnamen entlehnt haben dürfte¹², ist es denkbar, dass sie auch mit den Orten verbundene Vorstellungen übernommen hat. Interessant ist in dieser Hinsicht, dass der Begriff saiwo religiös konnotiert ist. Dieser viel diskutierte Begriff kann eine Entlehnung aus dem Urnordischen sein¹³. Ursprünglich scheint er mit einer Vorstellung von „heiligen Seen“ (samisch saiwo, vgl. gotisch saiws) zusammen. Im westlichen Finnmark sowie in Torne und Lule in Lappmark, besonders in den Berggegenden, bezeichnet saiwo aber „heilige Berge“, von denen man

3 Anderson, Sydsvenska kultplatser, 182. 4 Der Ortsname hat wohl den Anstoß zum Namen des Steinhaufens gegeben. Mit religiösen Vorstellungen wurde der Berg allerdings verbunden. Noch um 1800 sind alle Hochzeitsfeiernden auf diesen Berg gezogen (Olrik/Ellekilde, Nordens gudeverden I, 481, mit Abb. 231). 5 So z.  B. der Name Heimdal in Trondheim, ein Name des dortigen Bahnhofs (obwohl es möglich ist, dass er ursprünglich auf einen älteren, heute nicht bewahrten Ortsnamen zurückgeht). Sandnes/ Stemshaug, Norsk stadnamnleksikon, s. v. 6 So z.  B. den Heimdal, nach dem Hejmdalsvatnet in Våja/Øystre Slidre, Opplandene, benannt wurde. Ebd., s. v. „Heimdalsvatnet“. Manchmal liegt ein Flussname (etwa Heima ‚der Fluss in der Nähe des Dorfes‘) dem Glied heim- zugrunde, vgl. Rygh, Norske Gaardnavne 8, 74. Heimdal ist dann das Tal dieses Flusses. 7 Alternativ im Plural -haugane; vgl. aber den samischen Namen -Saiwo, siehe unten. 8 Wiklund, Urnordiska ortnamn, 114. 9 Sandnes/Stemshaug, Norsk stadnamnleksikon, s. v. „Heimdalhaugen“. 10 Urnordiska ortnamn, 114. 11 Sandnes/Stemshaug, Norsk stadnamnleksikon, s.  v. „Heimdalhaugen“; Ohlmarks, Heimdalls Horn, 193; Wiklund, ebd., 115. 12 Wiklund, ebd., 116. So auch Sandnes/Stemshaug, ebd. 13 Weisweiler, Seele und See, besonders S. 42. – Für eine Übersicht über andere Etymologien, siehe Bäckman, Sájva, 13  ff.

Auslegung 

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sich vorstellte, dass dort das z.  T. mit den verstorbenen Ahnen verknüpfte saiwo-Volk wohnte¹⁴. Ähnliche Vorstellungen sind in der Gegend von Heimdalshaugen auch im neuzeitlichen Volksglauben belegt¹⁵. Ob ihre Wurzeln eher in die samische oder in die nordgermanische Kulturwelt zurückgehen, kann nicht sichergestellt werden. Die Annahme, dass dieser Berg mit dem Gott Heimdallr verbunden wurde, ist verlockend. Åke Ohlmarks vermutete aber in seiner Heimdallr-Untersuchung¹⁶, der Ortsname sei eher nach dem Hofnamen Heimdalen – einem Namen, der die Bedeutung ‚das Tal daheim‘ gehabt haben soll¹⁷ – benannt worden. Der Name solle dann ‚der Berg, den man vom Heimdal besonders deutlich sieht‘ bedeuten. Ohlmarks konnte jedoch nicht bestätigen, wo Heimdalen lag. Nach Oluf Rygh¹⁸ lag es im Bezirk Vemundvik. Das war aber damals¹⁹ nicht eben derselbe Bezirk, in dem Heimdalshaugen liegt. Auch Jørn Sandnes und Ola Stemshaug bestätigen, dass kein Heimdal in der Nähe vom Berg liegt, obwohl es natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass es einen so benannter Hof früher gegeben haben kann, der aber heute nicht mehr existiert²⁰. Auch in Birger Perings Untersuchung zu Heimdallr wurde eine Beziehung zu diesem Gott abgelehnt²¹. Nach Pering sei der Name Heimdalshaugen eher auf ein *heimdalr ‚Widder‘ zurückzuführen. Die Erklärung ist anziehend. Dass Berge den Namen eines Tieres tragen, ist nichts Ungewöhnliches. In Deutschland kennen wir z.  B. im westlichen Teil des Erzgebirges (Sachsen) den Kuhberg, im Werra-MeißnerKreis, Kaufunger Wald (Göttingen) den Haferberg und im Hochtaunuskreis (Taunus) den Roßkopf. Vergleichbar damit ist der andere hohe (869 m) Berg in der Gegend von Heimdalshaugen, der den Namen Gjejtfjeldet ‚Ziegenberg‘ trägt; besonders schwerwiegend dürften aber die Benennungen von Heimdalshaugen als Trondhjems Bok (vgl. norwegisch dialektal bukk ‚Widder‘) und ähnlichem sein. Als Beleg für den Gott Heimdallr ist der Ortsname folglich zweifelhaft, und eine Beziehung zwischen dem Gott und dem Berg ist nur unter größter Vorsicht anzunehmen.

8.2 Auslegung Der Name Himinbjǫrg pflegt mit ‚der Himmelsberg‘ übersetzt zu werden. Die Form -bjǫrg ist aber eigentlich Plural, was indessen auch kollektiv ein Gebirge bezeichnen

14 Wiklund, Saivo, 59  ff. 68. 15 Waltman, Lidmål, Nr. 272, 69. 16 Heimdalls Horn, 194. 197  f. 17 Ebd., 197. 18 Norske Gaardnavne 15, 322. 19 Seit 1964 macht Vemundsvik einen Teil von Namsos aus. 20 Sandnes/Stemshaug, Norsk stadnamnleksikon, s. v. „Heimdalhaugen“. 21 Pering, Heimdall, 275  f.

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 Heimdalls Wohnort

kann²². Genau welche Vorstellungen diese Zusammensetzung ausdrücken soll, liegt im Dunkeln. Die Rede von „himmlischen Bergen“ kann an einer anderen Stelle in der altnordischen Literatur belegt werden. In Konungs skuggsjá (ca. 1275) ist nämlich ein Begriff skýfjǫll, eigentlich ‚Wolkenberge‘, im Sinn von ‚Wolken‘ belegt: En þa er norðanꝩidr sacnar þeiʀaʀ bliðu er hann fecc af sunnan ꝩinnde oc milldlegra ꝩingiafa þa leitar hann at sinum fiarhirzlum oc rosar þa þeim auð er hann hæfir gnogaztan til oc leiðer fram decqvan skima mæð glæannda froste / sætr ahafuð ser ískalldan hialm yfir íoclaðu skeggi. blæss striðlega at²³ hagls fullum skyfiallum²⁴.

Wie die Wolken mit Bergen verglichen werden konnten, ist einfach nachvollziehbar. Nur als kurzes Beispiel sei angeführt, dass mir mein eigener Vater viele Male von einer Schulreise erzählt hat, die er in seiner Jugend in den Harz gemacht hat. Die Kinder hatten im nördlichen Flachland Berge nie gesehen, und jedes Mal, wenn eine grauweiße Wolkenwand über dem Horizont aufgestiegen war, hatten sie in kindlicher Hoffnung gerufen, ob das nun nicht die Berge seien. Die Sprache ist ja für derartige Ähnlichkeiten sehr empfänglich, und die oben zitierte Stelle ist ohnehin von poetischmetaphorischen Ausdrücken durchsetzt. Wenn parallel dazu Heimdalls Himinbjǫrg als eine poetische Umschreibung für die Wolken (eig. ‚die Berge im Himmel‘) zu verstehen ist, würde das ohne Zweifel mit Snorris Angaben vom Wohnort des Gottes als dort gelegen, wo der Himmel der Erde begegnet – also wo die Wolken sich am Horizont (við himins enda, Gylfaginning 9 und 15) wie Berge auftürmen –, gut übereinstimmen. Wie aber im vorherigen Kapitel erörtert wurde, ist es nicht unmöglich, dass das in Snorris Beschreibung von Heimdalls Wohnort wegleitende Bild von diesem Gott als Brückenwächter am Rande des Himmels auf nachheidnischen Vorstellungen baut. In diesem Fall wird es problematisch, anhand von Snorris Darstellung den Charakter von Himinbjǫrg in vorchristlicher Zeit zu bestimmen. Eine von der früheren Forschung eher bevorzugte Deutung des Namens Himinbjǫrg war ‚der Berg im Himmel (Asgard)‘ im Sinne der religionsphänomenologischen Kategorie des „Weltenberges“²⁵. Indessen ist in Frage gestellt worden, ob bei den vorchristlichen Nordgermanen der Himmel wirklich mit der Welt der Götter gleichzusetzen war²⁶. Es gibt auch Parallelen, teils in den altwestnordischen Texten,

22 IED, s. v. „bjǫrg“. 23 at: Handschrift af. 24 Konungs skuggsjá, 52. 25 Z. B. F. R. Schröder, Altgermanische Kulturprobleme, 108: „zweifellos ist mit ihm [Himinbjǫrg] der Weltberg gemeint“; de Vries, Studiën, 62: „Himinbjǫrg [is] een naam […] voor den kosmischen berg“; Tolley, Shamanism, 378. 26 Vgl. Schjødt, Horizontale und vertikale Achsen.

Auslegung 

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teils auch im Ortsnamenmaterial, die andeuten, dass der Name vielleicht nichts mit der Verortung des Berges zu tun hat. 1. Dem Namen Himinbjǫrg nahe kommt die Zusammensetzung himinfjǫll. Der Begriff ist in Helgakviða Hundingsbana I 1 belegt. Das Gedicht hebt monumental an: Ár var alda þat er arar gvllo, hnigo heilog votn af himinfiollom […]. ‚Es war der Anfang der Zeiten, | als Adler kreischten, | heilige Wasser fielen | von den HimmelsBergen […]‘²⁷.

Die Bedeutung des Wortes ist aus dem Zusammenhang heraus nicht ganz klar ersichtlich, und die Ausleger haben es verschieden, als einen Ortsnamen²⁸ oder als eine poetische Umschreibung für Wolken²⁹, gedeutet. Aber schon die Bezeichnung heilog vǫtn für den aus den Wolken fallenden Regen erweckt im letzteren Fall Bedenken. Plural vǫtn ‚Gewässer‘ wird nirgendwo sonst für ‚Regen‘ verwendet, vielmehr bezeichnet es durch das Land fließende ‚Flüsse‘ oder ‚Bäche‘, z.  B. Grímnismál 26, þaðan eigo votn ꜹll vega; Egils saga 28, 74, vǫtn þau er ór jǫklum hǫfðu fallit; Gísla saga, 12, 5, en nú falla vǫtn ǫll til Dýrafjarðar; Orkneyinga saga 4, (Flateyjarbók I, 219) fóru þar til er vǫtn hnigu til vestr-ættar af fjǫllum. In den genannten Beispielen scheint es sich in erster Linie um von den Gletschern oder den Bergen stammendes Schmelzwasser zu handeln, was wahrscheinlich der isländischen Landschaft zuzuschreiben ist. Bemerkenswerter ist, dass im letzten Beispiel das gleiche Verb wie in Helgakviða Hundingsbana I 1, hniga, benutzt wird, um den Lauf der von den Bergen kommenden Gewässer zu beschreiben. Dieses Verb scheint im Zusammenhang mit Wasser nur in diesen beiden Fällen vorzukommen und bedeutet sonst (hinsichtlich der Bewegung) ‚sich drehen, biegen; sich bewegen gegen etwas, in einer bestimmten Richtung‘ usw.³⁰, was auf eine Verbindung mit dem vom Himmel fallenden Regen nicht unmittelbar schließen lässt, aber mit dem Beleg aus der Flateyjarbók (vǫtn hnigu...af fjǫllum) dagegen gut zusammenpassen würde³¹. Instruktiv in diesem Zusammenhang könnte auch die 29. Strophe eines anderen Eddalieds – desselben Liedes, in dem von Heimdalls Wohnort gesprochen wird: den Grímnismál, – sein, wo unerwartet das ungewöhnliche Wortpaar heilog vǫtn nochmals auftaucht – hier aber eindeutig als Bezeichnung der Flüsse, durch die Þórr jeden Morgen waten muss, um den Thingplatz bei der Weltesche zu erreichen.

27 Übersetzung Edda, ed. von See IV, 165. 28 Edda, ed. Sijmons/Gering III 2, 69, zur Stelle (mit Hinweis auf Himmelbjærg in Jütland). 29 Edda, ed. Boer II, 135  f., zur Stelle: „Im zusammenhange der erzählung will das vielleicht sagen, daß Helgi unter sturm und gewitter geboren wurde“. 30 Siehe Frz., s. v. 31 Vgl. auch die ähnlich klingenden Ortsnamen in Helgakviða Hundingsbana  I 8.  13. 15 Sólfjǫll, Snæfjǫll und Logafjǫll.

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 Heimdalls Wohnort

2. Das Wort himinfjǫll ist an noch einer Stelle belegt. In Strophe 26 des wahrscheinlich aus dem 10. Jahrhundert stammenden, in Snorri Sturlusons Heimskringla zitierten Ynglingatal heißt es über König Ǫnundr, er sei „durch die Trauer der Jonakrsöhne“ (Jonacrs búra harmi) und Himinfjǫllum gestoppt worden, Z. 1  ff.: Varð Ǫnundr Jónakrs bura harmi heptr und Himinfjǫllum […]³².

Snorri gibt in der Prosa die Erklärung, Ynglinga saga 35: Ǫnundr konungr fór milli búa sinna á einu hausti með hirð sína, ok fór þá þangat, sem kallat er Himinheiðr; þat eru fjalldalir nǫkkurir þrǫngvir, en há fjǫll tveim megin. Þá var mikit regn, en áðr hafði snæ lagt á fjǫllin; þá hljóp ofan skriða mikil með grjóti ok leiri; þar varð fyrir Ǫnundr konungr ok lið hans, fær konungr bana ok mart lið með honum [...].

Um hier himinfjǫll im Sinn von ‚Wolken‘ verstehen zu können³³, müsste man Snorris Deutung ganz außer Acht lassen. Seine Erläuterung wird außerdem vom Inhalt der Strophe gestützt. Dass der König unter Steinen begraben worden ist, sagt die Strophe gewiss nicht klar, trotzdem aber unmissverständlich aus: Die „Trauer der Söhne Jonakrs“ waren die Steine, weil jene der Tradition nach nicht mit Waffen verwundbar waren und daher mit Steinen getötet werden mussten³⁴. Und die Strophe endet mit den Worten, Z. 9  ff.: ok sá frǫmuðr foldar beinum Hǫgna hrørs of horfinn vas³⁵. ‚und der Töter Hǫgnis wurde unter den Knochen der Erde [= ‚den Steinen‘] verborgen.‘

Mir scheint es folglich wahrscheinlich, dass der Skalde nicht etwa an den „freien, wenngleich bewölkten Himmel“ (Noreen) dachte, sondern mit himinfjǫll einen hochragenden Berg, von dem die Steine stürzten, unter denen der König begraben wurde, meinte. Hier wie in Helgakviða Hundingsbana muss das Wort also als Ortsname verstanden werden. 3. Auch in den heute bewahrten Ortsnamen gibt es „Himmelsberge“. So ist in Schweden Himmelsberget ein weit verbreiteter Ortsname. In Halland kommt er sehr oft vor. Auch in anderen Landschaften weiter im Norden, bis Jämtland und Ångermanland, ist der Name mehrfach belegt³⁶. In manchem Fall muss man beachten, dass

32 Hier nach Skj. B I, 11; entspricht Strophe 30 in Ynglinga saga. 33 Vgl. Pering, Heimdall, 230. 34 Snorra-Edda, Skáldskaparmál 50, 133. 35 Skj. B I, 12. 36 Ståhl, Ortnamnen i Hallands län, 5.

Auslegung 

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sich hinter den Wortgliedern möglicherweise ein Personname verbergen kann. So ist nach Lundahl³⁷ das bereits 1540 belegte Himmelsberg im Kreis Vadsbo, in der Provinz Skaraborg, wie auch der Hofname Himmelstorp, vermutlich vom Personennamen Hämming abgeleitet. In anderen Fällen hat der Name aber umgekehrt primär eine Anhöhe bezeichnet, wie Himmelberget im Kreis Valle derselben Provinz, und ist erst sekundär auf ein Grundstück übertragen worden³⁸. Dass bei der Namensgebung die Höhe des Berges maßgebend sein konnte, bestätigt der in Dänemark, im nördlichen Jütland liegende Himmelbjerg. Wer die dänische Landschaft nicht kennt, wird nicht verstehen, warum gerade diese Anhöhe diesen Namen bekommen hat; mit ihren 147 m wurde sie aber bis 1847 als höchster Punkt Dänemarks angesehen. – Auch das kontinentalgermanische Gebiet kennt solche „Himmelsberge“. In Deutschland sollen in Hessen mehrere „Himmelsberge“ bekannt sein³⁹. Im Schwalm-Eder-Kreis, Günsteröder Höhe, ragt z.  B. der Himmelsberg als höchster Berg der Söhre empor. In Thüringen, Gemeinde Schernberg, liegt auf einem Hochplateau der Himmelsberg, dessen Gipfel in eine Höhe von 360 m über dem Meeresspiegel reicht. Ältere Belege aus der schriftlichen Überlieferung führte schon Jacob Grimm⁴⁰ an. Der Ortsname Himinbjǫrg bzw. Himinfjǫll kann demnach als ‚der in den Himmel hochragende Berg‘⁴¹, also als Bezeichnung für einen besonders beeindruckenden Berg, verstanden werden. Die Annahme, Heimdallr müsste vorgestellt worden sein, auf einem ‚Berg im Himmel‘ zu wohnen, ist folglich nicht verbindlich. Die Vorgestellung, dass Heimdallar auf einem hohen Berg über die Heiligtümer „herrschte“, findet eine Entsprechung in den vielen Heiligtümern, die in der Eisenzeit auf Anhöhen lokalisiert waren. Manchmal fiel Heiligtum und Halle zusammen. In einigen hervorragenden Beispielen liegen solche prominenten Hallen auch auf Anhöhen, wie Borg auf den Lofoten, in Norwegen, oder Alt-Uppsala in Schweden. Der hohe Berg scheint ein funktional geeigneter Wohnort für den Beschützer Asgards zu sein, der Aussicht halten muss und bei Ragnarök wohl auch sein Horn über die Welt ertönen lassen soll. Wenn mit der früheren Forschung am religionsphänomenologischen Gedanken des „Weltenberges“ – eine Variante des axis mundi – festgehalten wird, wird es ferner möglich, eine Beziehung zu Heimdalls Charakter zu konzipieren: Der Weltenberg wäre ein symbolisch passender Wohnort für diesen mit dem „Zentrum“ der Weltordnung verbundenen Gott. Wie das Schwert der Götter, Þórr, mit dem Weltenbaum⁴², so ist der Schild der Götter, Heimdallr, mit dem Weltenberg verbunden.

37 Ortnamnen i Skaraborgs län X 1, 11  f. 38 Ebd. XII, 28 39 J. Grimm, Deutsche Mythologie I, 193. 40 Ebd. 41 Vgl. ebd. II, 662, Anm. 2: „himmelberge sind hohe, in die wolken reichende, oft als eigennamen“. 42 Siehe Bertell, Tor.

9 Der Name Heimdallr Under Studiet af vore hedenske Forfædres mytiske Forestillinger har man ofte søgt at vinde et Grundlag for Opfattelsen ved Tolkning af Gudernes Navne. Det er imidlertid en baade vanskelig og farlig Vej at gaa.¹

In der älteren Heimdallr-Forschung wurde der Name des Gottes häufig zum Ausgangspunkt weitläufiger Spekulationen über seinen Charakter gemacht, manchmal dermaßen, dass die Etymologie die eigentliche Methode der Forschung wurde². Dieses Gewicht kann der Wortgeschichte nicht mehr beigemessen werden. Schon die Reihe von Etymologien, die im Laufe der Zeit für Heimdallr vorgeschlagen worden sind, soll die Gefahr andeuten, die darin liegt, aus dem Namen allein allzu große Folgerungen ziehen zu wollen. Eine weitere Schwierigkeit liegt natürlich in der Kontextlosigkeit des Namens: Es kann nicht festgestellt werden, wann er gebildet wurde oder wie sich der Charakter der Gottheit seitdem verändert haben mag, es kann also auch nicht genau ermittelt werden, wie aussagekräftig die etymologische Bedeutung für die im Mittelalter überlieferte Gestalt wirklich ist³. Dessen ungeachtet steht fest, dass der Name immer etwas über das Wesen einer Gottheit aussagt. Die Frage nach seiner Bedeutung soll deshalb auch hier Erwähnung finden. In den Handschriften sind mehrere Schreibarten des Namens Heimdallr belegt⁴: 1. Heimdallr/-dalr. – Der Name Heimdallr ist natürlich an einer Vielzahl von Stellen sowohl in Snorris als auch in der Lieder-Edda belegt. In den Handschriften ist neben der Form -dall- mit doppeltem l auch eine Form mit einfachem l belegt. Letztere Form kommt vor allem in r und T der Snorra-Edda vor, und zwar an Stellen, die von den kenningar „Heimdalls Haupt“ bzw. „Heimdalls Schwert“ handeln. Auf diesen Umstand ist noch im nächsten Kapitel, bei der Auslegung dieser kenningar, zurückzukommen; vielleicht liegt hier eine Kontamination (mit heimdali ‚Widder‘) vor. An anderen Stellen sind die Abweichungen sicher als im Lauf der handschriftlichen Überlieferung entstandene Fehlschreibungen zu erklären. Trotz der Variationen konnte schon Eugen Mogk⁵ zeigen, dass die Schreibart mit langem Konsonant aber die durchaus gebräuchlichste ist, und dieses Resultat ist später eindeutigt bestätigt worden⁶. Mir erscheint die 10. Strophe von Úlfr Uggasons Húsdrápa, der

1 la Cour, Hejmdals Navne, 61. 2 Siehe z.  B. die einleitend zitierte Untersuchung la Cours. 3 Vgl. Meid, Die germanische Religion, 498. 4 Nicht berücksichtigt werden hier offenkundige Fehlschreibungen wie heimballdr (Þulur 4 e, Handschrift 1eβ; Skj. A I, 657). 5 Untersuchungen über Gylfaginning, 493  f. 6 Ohlmarks, Heimdalls Horn, 198–202. Die Verteilung von langem bzw. kurzem l in sämtlichen Handschriften ist nach den Resultaten von Ohlmarks’ Untersuchung: Nominativ Singular 45 : 1, Genitiv Singular 27 : 16, Akkusativ Singular 16 : 0.

Auslegung 

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ältesten mit ziemlicher Sicherheit datierbaren Quelle zu Heimdallr, als der wichtigste Beleg dafür, dass dies die älteste Form des Namens war. In der 4. Zeile dieser Strophe kommt nämlich der Name Heimdallr vor und assoniert dort mit dem Verb fallinn. Dies ist also eigentlich die einzige Schreibung, die ganz sicher nicht allein auf einen mittelalterlichen Schreiber, sondern auf die ältere mündliche Tradition zurückgeht. Es gibt folglich kaum einen Grund, die handschriftliche Variante -dal- zum Ausgangspunkt für etymologische Deutungen von Heimdalls Namen zu machen. 2. Heimdallr/-ðallr. – Die Meinung ist in der Forschung ab und zu geäußert worden, dass das letzte Glied von Heimdalls Namen ursprünglich -ðallr gewesen sein soll⁷. Der Übergang des vorausgesetzten stimmhaften Spiranten in d nach Konsonant scheint aber gerade nach m wie im Kompositum Heim-dallr eine späte Stufe dieser Lautentwicklung darzustellen⁸. Man sollte also erwarten können, in den überlieferten Schreibungen wenigstens eine Spur des Spiranten zu finden. Letztere ist aber, wie Hugo Pipping⁹ in einer sorgfältigen Untersuchung der Handschriften zeigen konnte, nicht vorhanden, auch in den Handschriften nicht, in denen noch ein Unterschied zwischen plosivem und spirantischem d gemacht wird¹⁰. Es ist deshalb von der Form -dallr auszugehen. 3. Heimdallr/-dǫllr. – In einer einzigen Handschrift der christlichen Clemens saga, AM 645 4o (1. Viertel des 13. Jahrhunderts), ist die Form Heimdaull (Akkusativ) belegt¹¹. In der anderen Handschrift der Saga, AM 655 XVIII a 4o aus derselben Zeit, heißt es aber wie erwartet heimdaꝇ¹². Der Kontext setzt kein tieferes Wissen über die vorchristlichen Götter, die hier beschimpft werden, voraus. Es scheint mir nicht berechtigt, aus dieser Schreibform Schlüsse zur Etymologie von Heimdalls Namen zu ziehen. Ähnliches gilt für die Form Heimdæll, die in den sich auf das durch Snorri Sturluson und die Þrymskviða vermittelte mythologische Wissen stützenden, vielleicht im 14. Jahrhundert entstandenen Þrymlur¹³ vorkommt.

7 J. Grimm, Deutsche Mythologie I, 193: „Heimđallr, nach jüngerer schreibung Heimdallr“; Uhland, Schriften VI, 14, Anm. 2; vgl. Pipping, Eddastudier I, 1  f.; Ohlmarks, Heimdalls Horn, 198  f.; vgl. Heizmann, Der Raub des Brísingamen, 513  f., der mit der Namensform Marþǫll vergleicht. 8 Nach Noreen (Altnordische Grammatik, § 238,1b) sei er altisländisch erst etwas nach 1300, z.  T. erst nach 1400 geschehen. 9 Eddastudier I, 2–7. 10 Z. B. Codex Wormianus, in dem die Schreibung mð (dœmðu, tǫmðu) noch behalten ist (Pipping, ebd., 4), und AM 645 4o, der den ursprünglichen Spiranten in der Regel mþ, Heimdallr dagegen mit md schreibt (ebd., 2). 11 Clemens saga, 146. Der Schreiber behauptet, dass der Christ Clemens die alten Götter beschimpft habe, darunter auch Heimdallr (En hrøper heimdaull). Die Form wird von Sverrir Tómasson (Skálda og heimur, 674), der die Ausgaben und Handschriften gründlich untersucht hat, bestätigt. 12 Ebd., 675. 13 Þrymlur I, Strophe 1; II, Strophe 8. 12. Laut Sverrir Tómason (ebd.) könne die Form aus /ö/ oder /ǫ/ entwickelt sein.

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 Der Name Heimdallr

Das Erstglied des Namens Heimdallr ist in der Forschung fast¹⁴ einstimmig auf altnordisch heimr ‚Welt (mundus)‘ zurückgeführt worden. Ebenso denkbar wäre aber eine Bedeutung ‚Heim, Haus (domus)‘ – vgl. gotisch heims ‚Dorf‘, altsächsisch hēm, althochdeutsch heim ‚Heim‘, altenglisch hám ‚Heim, Haus‘, das litauische Lehnwort káimas ‚Dorf, Bauernhof‘ usw.¹⁵. Bezüglich des Zweitglieds des Namens ist in der Forschung hauptsächlich¹⁶ mit zwei Alternativen gearbeitet worden: 1. Herleitungen zu altenglisch deal, deall ‚proud, exulting, eminent; superbus, clarus‘¹⁷. Das Wort ist außer in anderen germanischen Sprachen¹⁸ wahrscheinlich auch im Altnordischen belegt. Dellingr kommt nämlich in Vafþrúðnismál 25 als Name für den Vater des Tages vor. Obwohl die Identität der mehrfach belegten Gestalt unklar ist¹⁹, bestätigt ihre zugeschriebene Verwandtschaft mit dem Tag (Dagr), dass der Name eine Ableitung von *dall- ‚hell, klar‘ ist²⁰. Im Unterschied zu der früheren Forschung, die Etymologie zum altenglisch deall als einen Hinweis auf Heimdalls

14 Koegel (Germanische Etymologien, 312  ff.) dagegen hat in heim- eine Anspielung auf Heimdalls Lichtwesen sehen wollen. Zum Vergleich führt Koegel altfranzösisch hēmliacht (Handschriften hemliachtes deys ~ liachtes deis ~ lateinisch uno claro die) zur Wurzel von altnordisch heið, germanisch *hai-do- ‚klarer Himmel‘ (vgl. neuhochdeutsch heiter). Das Glied bestünde folglich aus einer m-Ableitung *hai-mo- > heim-, was in gotisch skeima, mittelhochdeutsch scheim ‚Glanz‘ (mit anlautendem s!) belegt ist. hēm-liacht bedeute also ungefähr ‚hell-licht‘. – Pering (Heimdall, 253  f.) erwog die Bedeutung ‚Haus‘; vgl. F. R. Schröder (Heimdall, 9), der mit Agni damyaḥ ‚der heimische, häusliche‘ (vgl. lateinisch domus) verglich. 15 Siehe IEW, s. v. „k^ei- 1“: zu einer Wurzel ‚liegen; Lager, Heimstätte, traut, lieb (von derselben Siedlung)‘, vgl. ferner griechisch κοιμάω, κειμήλιον ‚aufbewahrtes Gut‘, lettisch sàime f. ‚Hausgesinde, Familie‘. Die Bedeutung soll noch im Mittelalter lebendig gewesen sein; vgl. das altnordische Substantiv n. heima ‚Haus, Hof‘, das Adverb heima ‚zuhause‘ und das Verb heima ‚in sein Haus aufnehmen‘ usw.; siehe Frz., s. v. Vgl. ferner Zusammensetzungen wie heimsókn ‚Besuch, Angriff auf eine Wohnung‘ usw. Die Bedeutung des Glieds -heim in Ortsnamen wurde von Sahlgren (Jum och Jumkil, 70–78), der eine Grundbedeutung ‚Wohnsitz‘ (‚hemvist‘, ebd., 77) annahm, erörtert. 16 La Cour (Navne, 66  f.) wollte das Glied entweder zu einem norwegischen Verb dalla ‚langsam, schlendernd gehen‘ oder zu den r-Ableitungen dieses Wortes (mit der Bedeutung ‚zittern, vibrieren‘) führen. Heimdallr wäre also entweder ‚den, der nølende skrider over Verden‘ oder ‚den, der skælver, dirrer over Verden‘ (ebd., 67), – beides nach la Coer treffende Namen für den Sonnengott. Pering (Heimdall, 253  f.) erwog dieselbe Etymologie, wollte den Namen jedoch eher mit ‚der zu Hause umhergeht‘ deuten, was für den Hofwicht (Heimdallr) besser passen würde. 17 Bosworth/Toller, An Ango-Saxon dictionary, s. v. 18 Außer altenglisch deall, vgl. mittelirisch dellrad ‚Glanz‘; vielleicht auch mittelhochdeutsch ge-telle ‚hübsch, artig‘; siehe IEW, s. v. „dhel- 2“. 19 Siehe Lex. poet., s. v. 20 Vielleicht bildet -dall auch den Grund im Zweitglied von Freyjas Namen Mardǫll (in kenningar für ‚Gold‘), dann also ‚die Stolze des Meeres‘ (?). Die alternative Schreibart Marþǫll (< þǫll ‚junger Fichtenbaum‘) macht es aber unsicher, ob der Name mit Heimdalls Namen überhaupt etymologisch zusammenhängt. Vgl. AEW, s. v. „Mardǫll“.

Der Name Heimdallr 

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angeblichen Charakter als Lichtgottheit zu deuten²¹, würde ich eher die mit diesem Sinn eng zusammenhängende und im Altenglischen belegte Bedeutung ‚stolz, hervorragend‘ usw. erwägen²². Heimdallr wäre also ‚der Stolze, Hervorragende‘ (-dallr), eine nicht unpassende Bezeichnung für einen Gott, der gleichzeitig den Herrschertitel Rígr als Namen trägt und an anderer Stelle als eine „ausgezeichnete“ (kostigr, Húsdrápa 10,1) Gestalt beschrieben wird. Die Bestimmung Heim- düfte vielleicht als eine verehrende Steigerung des Letztgliedes für den Verteidiger der kosmischen Ordnung (der Ordnung der „Welt“), etwa wie die Bezeichnung von Freyr als veraldar goð ‚Gott der Welt‘²³, aufgefasst werden. 2. Herleitungen zu (einem freilich schlecht belegten) neuisländisch dall(u)r ‚fruchttragender Baum‘ und (ganz sicher sekundär!) ‚Bütte‘²⁴. Die Grundbedeutung

21 Die Etymologie findet man schon im Nachtrag zu J. Grimms „Deutsche Mythologie“, in der Grimm die überlieferte Form Heimdallr (statt der von Grimm früher rekonstruierten Form *Heimðallr) mit altenglisch deall ‚superbus, clarus‘ zusammengestellt hat. Die Herleitung fiel in der romantischen Epoche der Naturmythologie auf guten Boden und wurde einer der Vorschläge, die sich am längsten in der Forschung gehalten haben. Sie wurde unter anderem in S. Bugges Eddaausgabe aus 1867 (Norrœn Fornkvæði 68, Anm. 25, zu Vafþrúðnismál 25,1) wiederholt, und 1879 konnte Mogk (Untersuchungen über Gylfaginning, 494, Anm. 1) feststellen, dass die Ableitung vom Adjektiv dallr „wol [sic] die einzig richtige“ sei. Die notwendige religionsgeschichtliche Vertiefung gewann die Herleitung durch die, posthum von Felix Niedner fertiggestellte, Arbeit zu „Frija und der halsbandmythus“ des großen Germanisten Karl Müllenhoff (1886), in der Heimdallr, Uhland folgend, als „der gott aller frühe und alles anfangs und werdens“, der „morgenröte“ (S. 288), als „nur eine hypostase des höchsten gottes der lichten himmelshöhe“ (246) gezeichnet wurde. Nach dieser Untersuchung wichen fast alle alternativen etymologischen Herleitungen der einen: Heim-dallr ‚der durch den Heimr d. i. die Welt leuchtende Gott‘ (so E. H. Meyer, Völuspa, 16; zu den zeitgleich erschienenen Handbüchern, vgl. dens., Germanische Mythologie, 228; Golther, Handbuch der germanischen Mythologie, 360; Herrmann, Nordische Mythologie, 246). Wenn überhaupt möglich, dann könnte eine von Koegel (siehe oben, Anm. 14) vorgeschlagene Etymologie die Auffassung von Heimdalls Lichtcharakter noch mehr verstärken. Koegel meinte nämlich, Heimdallr bedeute nicht nur ‚der über die Welt Strahlende‘, sondern ‚der hell strahlende‘. Im Jahre 1898 erschien jedoch eine Arbeit, in der es frank und frei hieß, es spiele eigentlich keine Rolle, ob man Koegels oder S. Bugges Etymologie verwendete: beide Bedeutungen würden ja zu einem Tages- und Sonnengott passen (Much, Der germanische Himmelsgott, 70; ähnlich Ohlmarks, Heimdalls Horn, 307)! 22 Vgl. Müllenhoff, Frija und der halsbandmythus, 245; Pering, Heimdall, 253. 23 Ynglinga saga 10, 10. 24 Björn Haldorsen (1724–94) führte in seinem isländischen Wörterbuch unter „dallr“ teils die nur hier belegte Bedeutung ‚arbor prolifera, Træstamme som sætter Skud og Grene‘, teils die Bedeutung ‚vasculum distributorium, mensura liqvidorum, en Bytte, Maalekar‘ an. Die letztgenannte Bedeutung wird von den von Blöndal in seiner „Íslensk-dönsk orðabók“ unter der neuisländische Form „dallur“ aufgelisteten Bedeutungen ‚Bøtte, mindre Trækar‘ bzw. ‚(öskjur) en lille Æske af Træ med Laag til Smör el. Fedvarer‘ gestützt. Blöndals Vergleich mit neuisländisch öskjur (askja) ‚Dose, Schachtel‘ ist deshalb bedeutungsvoll, weil dall(u)r ein Bottich, eine Bütte usw. aus Holz war, was nämlich andeuten könnte, dass dall(u)r gerade wie öskjur (schwedisch norwegisch ask, mittelniederdeutsch ask) seinen Namen vom Material des bezeichneten Gegenstands (vgl. altnordisch askr = neuhochdeutsch Esche) bekam, was die Existenz einer Bedeutung dallr ‚arbor prolifera‘ stützt.

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 Der Name Heimdallr

sollte etwa ‚Wachstumskraft‘ sein²⁵. Mit dieser Etymologie als Ausgangspunkt sind verschiedene, von der Auffassung der jeweiligen Interpreten von Heimdalls Charakter abhängige Bedeutungen des Namens dieses Gottes vorgeschlagen worden²⁶. Obwohl die Identität des Ableitungssuffixes unklar bleibt²⁷, wäre eine Etymologie mit dieser Grundbedeutung auch im Licht der in dieser Arbeit vorgelegten Resultate sinnvoll. Es wäre hier verlockend, eine Bedeutung ‚Welt-Wachstumskraft‘ mit der sexuellen Rolle, die der Gott im Stammvatermythos spielt, zu verknüpfen. Vielleicht ist aber die Bedeutung von -dallr eher in Verbindung mit ‚Gedeihen‘ zu setzen. Diese in anderen Sprachen belegte Bedeutung des Wortstammes liegt sehr nahe bei den mit dem pflanzlichen Wachstum verbundenen Bedeutungen ‚blühen, grünen, sprießen‘ usw., kann aber auch abstrakter verstanden werden, vgl. griechisch θαλία ‚Blüte, blühendes Wohlergehen‘, besonders Plural ‚festliche Freude, Festgelage‘, griechisch θαλερός ‚blühend, grünend, jung, frisch, munter, kräftig, stark, hell, gesund‘²⁸. Vielleicht ist im Grunde auch das eben besprochene altenglische deall ‚stolz, strahlend‘ usw. mit diesem Stamm verwandt²⁹. Für ein abstrakt gedachtes „Welt-Gedeihen“ sorgt aber Heimdallr nicht nur als Urheber der sozialen Ordnung, sondern auch als Beschützer der göttlichen Ordnung, als ragna reinvári ‚Landesbeschützer der Götter‘.

25 Siehe IEW, s. v. „dhal-“. Die Etymologie wurde schon von Uhlenbeck (Etymologien, 568) und Holthausen (Etymologien, Nr. 4) vorgeschlagen. 26 Schon Petersen (Nordisk Mythologi, 201  f.) führte -dallr zu griechisch θαλλός ‚junger Spross, junger Zweig‘. Seine Auslegung ist aber nicht haltbar. Mit Heimdallr würden wir nach Petersen in einen Kreis treten, in dem die Naturvorstellungen ihren Übergang ins Ethische finden („in i en krets, der naturföreställningarna finna sin öfvergång till de ethiska“, ebd., 200). Heimdallr sei hier der ‚Spross der Welt (heimr)‘, der Regenbogen (vgl. ebd., 28. 202), der die Gnade der Weltmächte („verldsmakternas nåd“) verkünde. „Hemdal är den hvita, rena, lugna friden i menniskobröstet“ (207). – Die Bedeutung ‚Baum‘ (siehe oben) hat dazu geführt, dass manche Interpreten Heimdallr als einen Baum verstanden, siehe vor allem Pipping, Eddastudier I. Für weitere Hinweise zu der Forschung dieser Richtung, siehe oben, Kap. 1, Anm. 55. Für Uhland (Schriften VI, 14, Anm. 2) dagegen schien dieselbe Bedeutung Heimdalls Funktion als Gott des Anfangs, der Frühe im Gegensatz zu Loki, der als der ‚Schließer‘ (zu altnordisch loka, germanisch *lūkann ‚schließen‘; vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte II, 265) gedeutet wurde, zu bestätigen; in „Rīgsmāl“ erscheine Heimdallr nämlich als „Stamm und Stifter“ der verschiedenen Stände! Müller (Geschichte und system, 227  ff.) nahm die Bedeutung ‚vasculum distributorium‘ zum Ausgangspunkt seiner Interpretation Heimdalls als ‚distributor mundi‘ (so schon Haldorsen, Lexicon Islandico-Danicum, s. v. „dallr“). Nach Müller sei Heimdallr nämlich ein Mondgott, und nach dem Wechsel des Mondes teile man ja das Jahr ein! 27 de Vries (Heimdallr, dieu énigmatique, 266) verstand den langen Konsonanten des Stammes dallals das Resultat einer Assimilation von l mit dem Suffix -þu wie in Götternamen wie Njǫrðr (aus einer indogermanischen Wurzel *ner- ‚Lebenskraft‘) und Ullr (aus einer indogermanischen Wurzel *u̯el-, mit germanischer þu-Ableitung: ‚Herrlichkeit‘ usw.). Aber warum hat dann Heimdallr (abgesehen von der Handschrift der Clemens saga AM 645 4o, siehe oben) keinen u-Umlaut? 28 IEW, s. v. „dhal“; Holthausen, Etymologien, Nr. 4. 29 „Eine in der Bed. abliegende Sippe ist die von ags. deall ‚berühmt‘ “ (IEW, ebd.).

10 Heimdallr und der Widder Nichts lässt bei Snorri darauf schliessen, dass er sich Heimdall ursprünglich als Widder vorgestellt oder ihn überhaupt mit dem Widder in Zusammenhang gebracht hätte. Eine solche Theorie aufzustellen […], blieb späten Forschern vorbehalten.¹

In der Forschung zu Heimdallr ist seit den frühesten Zeiten häufig angenommen worden, dass der Gott etwas mit dem Widder zu tun hat² oder sogar ein „Widdergott“³ sein soll. In den Handbüchern aus den letzten fünfzig Jahren hat sich das wenig geändert. So bemerkte Turville-Petre im Jahr 1964, obwohl es häufig abgelehnt worden sei, sei die Folgerung letztendlich unumgänglich, dass Heimdallr in irgendeiner Weise mit dem Widder zu assoziieren wäre⁴, eine Annahme, die in der Forschung später mechanisch wiederholt⁵ oder als Grundlage neuer Interpretationen von Heimdalls Wesen verwendet wurde⁶. Diese Auffassung nimmt ihren Ausgangspunkt nicht in den Mythen oder Beschreibungen Heimdalls der älteren Quellen, sondern allein in einigen nur in der Snorra-Edda mit Heimdallr verknüpften Namen wie Gullintanni, Hallinskíði und Vindler. Diese bemerkenswerte Sachlage wurde quellenkritisch eigentlich erst von Birger Pering⁷ beachtet. Perings These war, dass die erwähnten Namen primär heiti für ‚Widder‘ waren und erst sekundär, wahrscheinlich erst in der gelehrten Tradition des Mittelalters als Beinamen auf Heimdallr übertragen wurden. Wie die Handbücher zeigen, ist diese radikal kritische These in der neueren

1 Pering, Heimdall, 264. 2 Die meisten Forscher nehmen das an, so schon Rydberg, Undersökningar i germanisk mythologi I, 446 (1886). Pipping (Eddastudier I, 20  f.) griff die Auffassung Finnur Jónssons auf, die Verbindung Heimdalls mit dem Widder würde von seinem bevorzugten Opfertier herrühren. Auch F. R. Schröder (Heimdall, 15  ff.) meinte, dass die Widderzüge sekundär („von einer alten Widdergottheit“) auf den Gott übertragen worden wären, und de Vries (Heimdallr, dieu énigmatique, 266  f.) war der Meinung, dass der Widder „se rattache à Heimdallr, comme le bouc à Thor“, als ein (kriegerisches) Zeichen seiner Wächterfunktion. 3 Kennzeichnend ist Muchs Titel der Heimdallr-Untersuchung „Der nordische Widdergott“. Auch Falk (Die nomina agentis, 48) und Rosén (Studier, 64  ff.) fassten Heimdallr eindeutig als Widdergott auf. Der angebliche Heimdallr-Name Vindler z.  B. führte Falk, mit einer schon von Petersen (Nordisk Mythologi, 253, Anm.) vorgeschlagenen Etymologie, zum Stamm im neuhochdeutschen Windung, winden usw., was auf die krummen Hörner des Widders anspielen sollte; und der hvítastr ása sei Heimdallr natürlich wegen seiner weißen Wolle. 4 Myth and religion, 151 (wie Freyr offenkundlich für Schweinezüchter, so könne Heimdallr eine Bedeutung für Schafzüchter entwickelt haben). 5 Z. B. Å. V. Ström, Germanische Religion, 160 (1975); Näsström, Fornskandinavisk religion, 128  f. (2002); Steinsland, Fornnordisk religion, 246 (2007), Letztere jedoch mit der zweifelnden Hinzufügung, dass dies alles im Dunkeln liege. 6 So in Sayers Vergleich von Heimdalls angeblichem Widdercharakter mit dem irischen Held Conall Cernach, dessen Widdercharakter freilich auch seinerseits erst rekonstruiert werden muss (Irish perspectives, 1993, besonders S. 11  ff.). 7 Heimdall, 264–76.

260 

 Heimdallr und der Widder

Forschung fast völlig mit Stillschweigen übergangen worden. Es mag aber aufschlussreich sein, ihre Haltbarkeit hier noch einmal, mit etwas anderen Argumenten⁸, zu überprüfen.

10.1 Die Belege In der Snorra-Edda werden Heimdallr einige Namen zugeschrieben und er kommt in einigen kenningar vor, die die Heimdallr-Forschung zu der Überzeugung geführt haben, dass Heimdallr widdergestaltig oder auf sonst irgendeine Weise mit dem Widder verbunden sein muss. Beginnen wir mit den kenningar. 1. „Heimdalls Haupt“ = ‚Schwert‘. – In Skáldskaparmál 16 („Hvernig skal Heimdall keɴa?“) führt Snorri, hier nach r, 98  f., an: Heimdalar hꜹfvt heitir sverþ⁹; sva er sagt, at hann var lostiɴ maɴz hǫfði igognvm. Vm hann [UT: vm þat; W: Enn þat] er qveþit iHeimdalargaldri, ok er siþan kallat hꜹfvt miotvðr [U: mavtvþꝛ] Heimdalar; sverþ heitir maɴz miotvðr [U: mavtoþꝛ].

Der ganze erste Satz Heimdalar…igognvm fehlt in U. Hier folgt Vm þat… direkt auf eine Reihe kenningar von Heimdallr, die letzten davon hvıta aſ. men ſækı reẏo. Da der im ersten Satz von r angedeutete Mythos von Snorri an anderer Stelle (Skáldskaparmál 24) eindeutig mit Úlfr Uggasons Húsdrápa (nicht, wie U vm þat andeutet, mit dem Heimdallargaldr) in Verbindung gesetzt wird, scheint es ziemlich sicher, dass die Weglassung des ersten Satzes in U ein Lapsus des Schreibers ist. Außer der Angabe, Heimdalls Haupt hieße „Schwert“, unterrichtet uns die Stelle, „man sage“ (svá er sagt), Heimdallr sei von einem Männerkopf durchbohrt worden¹⁰. Nachdem im Heimdallargaldr über Heimdallr (r) oder „darüber“ (vm þat, UT; Enn þat, W) gesungen worden ist, sagt der Text außerdem, dass das Haupt „Heimdalls Schick-

8 Das in meinen Augen Fragwürdigste an Perings Auslegung ist nicht seine negative Kritik, sondern die Weise, in der er fortfährt, die Entstehung der für das Problem relevanten kenningar positiv zu erklären. Die für seine Erklärungen zentrale Furcht der Wichte vor Köpfen ist z.  B. eine verfehlte Annahme, denn Schrecken zu erregen war sicher der allgemeine Zweck der Drachenköpfe der Wikingerschiffe: Deshalb heißt es in dem von Pering (Heimdall, 142  f.) als Beweis angeführten Úlfljóts Gesetz, Schiffe dürften sich nicht með gapandi hǫfðum dem Lande nähern, damit die landvættir nicht erschrecken. Und von Pferdeköpfen (vgl. Egils níð gegen Eiríkr und Gunnhildr, von Pering S. 143  f. angeführt) berichtete Olaus Magnus (Historia om de nordiska folken 15, 158), dass Hexen solche, „mit den Zähnen grinsend aus den Kiefern“, auf Stangen gegenüber den Feldlagern aufzusetzen pflegten, um dort Schrecken zu erzeugen. Ein besonderes Verhältnis zwischen Wichten und Köpfen dagegen hat es nicht gegeben. 9 W hat hier auf S. 61 Heimdallar suerð hofut heiter; die richtige, r entsprechende Wortfolge ist aber mit Buchstaben hofut (a) heiter (b) Heimdallar suerð (c) wiederhergestellt worden. 10 Die Alternative, er sei gegen einen Männerkopf geschlagen worden, scheint wenig sinnvoll.

Die Belege 

 261

sal“ (mjǫtuðr, rTW¹¹) genannt wird. Schließlich wird hinzugefügt, dass das Schwert das „Schicksal (mjǫtuðr) des Mannes“ genannt wird. Die kenning „Heimdalls Haupt“ = ‚Schwert‘ kehrt auch in Háttatal 7 wieder, wo Snorri eine Strophe als Beispiel des Versmaßes oddhent zitiert. Die 1. Zeile lautet: Hjalms fylli spekr hilmir | hvatr Vindles skatna¹². Hier wird das ‚Schwert‘, mit dem der rasche Fürst die Männer „stillt“ (d. h. tötet), mit Vindles hjalms fylli ‚Vindles Helms Füllung‘ wiedergegeben. Die „Füllung des Helms“ ist der ‚Kopf‘. „Vindles Kopf“ ist das ‚Schwert‘. Snorri scheint auch selbst der Meinung gewesen zu sein, dass hier eine Variante der kenning „Heimdalls Haupt“ = ‚Schwert‘ vorliegt, denn an einer anderen Stelle¹³ setzt er Vindler mit Heimdallr gleich. 2. „Heimdalls Schwert“ = ‚Haupt‘. – In Gylfaginning 15 sagt Snorri beiläufig über Heimdallr: Heimdalar sverþ er kallat hꜹfvt¹⁴. Diese kenning wird ausführlicher in einem Kapitel der Skáldskaparmál (87, 90) mit kenningar für Körperteile behandelt: Havfvt heitir amaɴe. Þat skal sva keɴa at kalla […] Heimdalar¹⁵ sverþ, ok er rett at nefna hvert sverz heiti er vill ok neɴa við hvert nafn Heimdalar¹⁶.

Nach dieser Information fügt allein Handschrift W hinzu: sua quað Biarni A. son. Uarð þat er fylkis færðu ger uarð heift or hiǫruí¹⁷

fár uerk brá merkí. Heímdallz uiðer seíma¹⁸.

Varð fárverk þats seima viðir fœrðu bráa merki ór Heimdalls hjǫrvi fylkis; heipt varð gǫr = ‚Den vredeshandling skete, at mændene sled öjnene ud af fyrstens (Magnus den blindes?) hoved; en vredesgærning blev udført‘¹⁹.

fylkis Heimdalls hjǫrr ‚das Heimdalls-Schwert des Fürsten‘ bedeutet hier ‚Kopf‘; aus dem Kopf des Fürsten wurden seine Augen herausgerissen. – Dem Skalden Bjarni A.son schreibt Finnur Jónsson²⁰ vier Fragmente zu. Finnur²¹ verbindet den Dichter

11 So eher als U mǫtuðr ‚Essen‘, was zum Zusammenhang (das Schwert heißt „Essen des Mannes“?) wenig passt. 12 Hier nach Finnur Jónsson (Skj. B II, 62  f.), der aber die Form Vindhlér bevorzugt. 13 Skáldskaparmál 16, 98. 14 r, 33, Anm. 3. -dallar, W. hǫfuð manns, T; fehlt in U. 15 -dalar, rTW; -allar, U. 16 -dalar, rT; -allar, U; -dallz, W. 17 Handschrift hiǫr, korrigiert aus hǫf. Offenbar hat der Schreiber den Zusammenhang mit den oben behandelten kenningar richtig erkannt. 18 W, 111. 19 Skj. B I, 523. 20 Ebd. 21 Ebd.

262 

 Heimdallr und der Widder

mit Magnús blindi (gest. 1139), der während einer Gefangenschaft kastriert wurde und seine Augen ausgestochen bekam. Sonst ist über den Skalden nichts bekannt. Noch eine Stelle, die die kenning zu bestätigen scheint, ist eine in Grettis saga zitierte Strophe, die Snorri nicht anführt und die nur in der Hauksbók bewahrt ist: verð ek heimdala at hirða

hior biorgvm sva fiorvi.²²

heimdala hjǫrr ‚das Schwert des heimdali‘ – auf die besondere, schwache Form des Namens ist später zurückzukommen – bedeutet hier ‚Kopf‘: „Ich werde den Kopf schützen“, sagt Grettir; „so werden wir das Leben retten“. Diese Stelle ist natürlich umso wichtiger, als sie von Snorri unabhängig ist. Auch in den Forspallsljóð kommt, wie Sophus Bugge²³ erkannte, eine Variante der kenning vor. In Forspallsljóð 14,4 heißt es: svífr of svimi | sverþ áss hvíta, was wohl mit ‚die Ohnmacht schwebt über dem Schwert des weißen Asen‘ übersetzt werden darf. Der „weiße Ase“ ist Heimdallr²⁴; sein „Schwert“ muss hier ‚der Kopf‘ bedeuten. Sowohl die kenning als auch die Eigenschaft von Heimdalls Weiße könnten aber der Snorra-Edda entnommen sein. Dieser Wirrwarr von schleierhaften Informationen, der die Vorstellungen von einem „Schwert“ und einem „Kopf“ Heimdalls zu umgeben scheint, hat verschiedene Erklärungsversuche ausgelöst²⁵. Manche Forscher haben mithilfe irischen Materials versucht zu zeigen, dass es tatsächlich einen Mythos gegeben hätte, in dem Heimdallr seinen Tod durch einen Männerkopf gefunden hätte²⁶. Merkwürdigerweise finden wir aber in den einheimischen Quellen über eine solche Vorstellung nichts, und die Ähnlichkeiten der angeführten Parallelen sind meines Erachtens nicht groß genug, um eine geschichtliche Verbindung annehmen zu können. Wie mir scheint, haben erst jene Forscher, die einen Zusammenhang von Heimdalls Namen mit dem Widder anerkannt haben, eine befriedigende Lösung für das Problem geben können. Schon der schwedische Dichter und Gelehrte Viktor Rydberg²⁷ erkannte, dass das Haupt des Widders ja das „Schwert“ des Letzteren – die Hörner – trägt. Wenn in den kenningar unter „Heimdallr“ etwa ‚der Widder‘ verstanden wird, wird somit begreiflich, weshalb sein „Schwert“ synechdochisch für sein ‚Haupt‘, sein „Haupt“ wiederum für ‚Schwert‘ stehen kann.

22 Skj. A I, 312. 23 Norrœn Fornkvæði, XLVII. 24 Þrymskviða 15; Snorra-Edda, Gylfaginning 15, 32; Skáldskaparmál 16, 98. 25 Ein Musterbeispiel phantasiereichen Fabulierens stellt Pippings Auslegung dar, Eddastudier I, 20–28. 37  ff. 26 Young, Rígsþula, 103  ff. Turville-Petre, Myth and religion, 152  f. 27 Undersökningar i germanisk mythologi I, 129; Much, Der nordische Widdergott, 63  f. Vgl. Hellquist, Bidrag, 172: „Hufvudet, med hvilket denne [nl. der Bock, der Widder] stångas, kallas hans ‚svärd‘ liksom t. ex. fötterna, med hvilka haren räddar sig på flykten, i n[usvenskan] skämtsamt kallas „harvärjan“ “.

Die Belege 

 263

Dieser Zusammenhang Heimdalls mit dem Widder ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Namen, die (außer Heimdallr) in der Snorra-Edda dem Gott zugeschrieben werden, scheinen alle Beziehungen zum Widder zu haben. In Gylfaginning 15,  32, sagt Snorri über Heimdallr: hann heitir ok hallinskiþi ok Gvllintaɴi; teɴr hans varv af gvlli²⁸. Der Name Gullintanni ‚der mit goldenen Zähnen‘ ist nicht weiter belegt, auch wird sonst nirgendwo ausdrücklich gesagt, dass Heimdallr Zähne aus Gold hätte. Dagegen ist eine Reflexion der Vorstellung in Zusammenhang mit einem anderen Namen, den Snorri für Heimdallr anführt, erkennbar. In der zitierten Passage (Gylfaginning 15) sagt Snorri, Heimdallr hieße auch hallinskiþi (abweichend U: hıalmſkıþı). Interessanterweise kommt dieser Name auch in einer Strophe außerhalb der Snorra-Edda, in Glúmr Geirasons Gráfeldardrápa²⁹ (um 970), vor: 13.

Kuɴi xij sa er taɴa tiþum hallin sciða ógnar stafr um iofra iþrottir fram sótti.

Ógnar-stafr tanna Hallinskíða, sás sótti tiðum framm of jǫfra, kunni tolf íþróttir = ‚Den gavmilde fyrste, der tit og ofte overgik andre fyrster, forstod sig på tolv idrætter‘³⁰.

Glúms Strophe ist in Snorris Heimskringla (Handschriften KJF; um 1230) und in Óláfs saga Tryggvasonar en mesta (Handschriften 61 und Bb, um 1300) überliefert. Interessante Abweichungen der Handschriften bieten Heimskringla J1 und Bb der Óláfs saga, die für Z. 2 hallin- die ähnlich lautenden Schreibarten halm (J1) bzw. hialm ok (Bb) haben. Die kenning, von der der Name Hallinskíði Teil ist, besteht aus dem Hauptwort ógnar-stafr, zu ógn ‚Streit, Drohung, Schrecken‘, und stafr ‚Stab‘, also ‚Mann‘, samt einem bestimmenden Genitiv hallinskiða tanna ‚Zähne der Hallinskíði‘. Es ist Snorri, der in seiner Edda den Schlüssel zum Verständnis der Strophe gibt. Sind nämlich Hallinskíði und Gullintanni Synonyme, wird ersichtlich, dass hallinskíða tennr ‚das Gold‘ bedeuten muss. Da ógn ein feindschaftliches Verhältnis ausdrückt, ist anzunehmen, dass das Genitivattribut das bezeichnet, was der Fürst bekämpft und ihm somit als Bestimmung dienen kann, vgl. Gauta andskoti, Dana eyðir usw.³¹. Wer dem Golde „droht“, ist aber der ideale, der freigiebige Fürst³². Der Name Gullintanni hat natürlich das Interesse der Naturmythologen gefesselt und ist z.  B. als die Strahlen der Sonne und dergleichen interpretiert worden³³. Im

28 rTUW. Zu hallinskiþi, siehe unten. 29 Hier nach Skj. A I, 78. 30 Übersetzung Finnur Jónsson, Skj. B I, 68. 31 Siehe Meißner, Die Kenningar der Skalden, 359  f. 32 Zu diesem Motiv, vgl. Snorra-Edda, Skáldskaparmál 58, 145. 33 Z. B. Ohlmarks, Heimdalls Horn, 297  f. „morgenstunde hat gold im munde“, meinte Müllenhoff (Frija und der halsbandmythus, 247) und zitiert ebd., Anm. 1 aus einem Hávamál-Kommentar: „ ‚hora matutina aurum dat in manum‘, non enim ‚in os‘, quod quisbusdam impertis placuisse novimus.

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 Heimdallr und der Widder

Jahr 1930 erschien aber ein Aufsatz von Rudolf Much, der den von einigen früheren Forschern angenommenen Zusammenhang von Heimdalls Namen mit dem Widder weiterführte³⁴. Besonders interessant ist der Hinweis Muchs auf einen goldartigen Belag auf den Zähnen verschiedener Wiederkäuer. Dieser Belag, der aus Ablagerungen von verkalkten Bakterienmassen bestehe, sei eine durchaus gewöhnliche Erscheinung unter anderem bei Schafen³⁵. Wenn die Namen Gullintanni und Hallinskíði für das Schaf oder den Widder gebraucht werden konnten, würde dies somit den Namen Gullintanni bzw. die kenning „Hallinskíðis Zähne“ = ‚Gold‘ erklären können³⁶. Der Zusammenhang mit dem Widder wird durch den Namen Hallinskíði weiter erhärtet. Dieser Name ist außer an den oben angeführten Stellen noch einmal belegt, – und zwar in einer þula mit „hrvts heiti“ (Widder-heiti): Hrvtr ofr hyrningr hornvm skvali gvmaʀ horngloiɴ ok gialldrhroiɴ hveþvʀ hallinskiþi beʀ hornhroiɴ ok heimdali [. . . . . .]³⁷.

Auf das dieses Zitat abschließende heiti heimdali, dasselbe an Heimdalls Namen stark erinnernde Wort, das in der oben zitierten Strophe der Grettis saga vorkommt, werden wir zurückkommen. An dieser Stelle ist aber das, was uns interessiert, dass Hallinskíði hier eine Bezeichnung für ‚Widder‘ ist. Auch die Wortgeschichte scheint stützen zu können, dass Hallinskíði ein passender Primärname für den Widder ist. Von Anfang an herrschte in der Forschung ziemliche Einigkeit darüber, dass der Name Hallinskíði zurückgeführt werden muss auf halla ‚sich neigen, schief sein‘ und den Stamm germanisch *skeida, im altnordischen Substantiv skíð ‚Scheit; Schneeschuh‘ (altenglisch scīd ‚Scheit‘, althochdeutsch scīt ‚Holzstück, Scheit‘), skíði ‚(Schwert-)scheide‘ bzw. *skaiþo-, im altnordischen Substantiv skeið ‚Schwertscheide‘ (eig. ‚die beiden Holzscheiben in dieser‘; altenglisch scǽð, sceað, althochdeutsch sceida ‚Schwertscheide; Trennung, Grenze‘), eine Dentalerweiterung zu indogermanisch *sk̑hei̯d- ‚schneiden, trennen, scheiden‘³⁸. Die

mag das sprichwort erst aus Deutschland nach dem norden gekommen sein, die nordische fassung lehrt uns wol seine alte meinung kennen: das masc. ‚mund os‘ und das fem. ‚mund palma‘ sind darin verwechselt, und der lohnarbeiter redete“. 34 Der nordische Widdergott. Der Aufsatz bedeutete eine völlige Abkehr von Muchs früherer naturmythologischer Deutung Heimdalls (ders., Der germanische Himmelsgott). 35 Ebd., 64  f. 36 Ergänzend habe ich einen Beleg im Sǫgubrot af fornkonungum 1, 5 gefunden, wo über Haraldr hilditǫnn (‚Streitzahn‘!) der merkwürdige Bericht zu lesen steht: þat mark uar a honum, at tenn iꜹndverðu hofði uoru miklar ok gullzlitr a. 37 Snorra-Edda, 210 = Þulur IV aa (Skj. A I, 676). 38 Siehe IEW, s. v.

Die Belege 

 265

Auslegung der Bedeutung wurde aber zumeist auf ein Natursubstrat zurückgeführt, so E. H. Meyer: Hallinskíþe ‚der mit geneigten Schneeschuhen gehend‘ verweise auf die zur Erde geneigte Himmelsbrücke (den Regenbogen)³⁹. Mit dem beginnenden Paradigmenwechsel von einer ideengeschichtlich im Grunde in der Augustinischen Degenerationstheorie wurzelnden Konzentration auf die „höhere Mythologie“ der Indogermanen zu einem (evolutionistisch geprägten) Interesse für die „niedere Mythologie“ der Volkskunde begann man aber, wortgeschichtliche Erklärungen von Hallinskíði aus einem möglichen Zusammenhang mit dem Widder abzuleiten. So übersetzte Hjalmar Falk hallin-skíþi mit ‚der schräge, zurückgebogene hörner hat‘ („skíþ von allem, was eine länglich-schmale form hat, vom schwert, spieß etc.“)⁴⁰. Diese Bezeichnung sei im Grunde eine „homonymische kenning“ der in den Handschriften belegten Form von Heimdalls Namen Heim-dalr (mit kurzem l), was Falk in Anlehnung an die oben zitierte þula von „hrvts heiti“ als ‚cervus domesticus‘ (zu altnordisch dalr ‚Hirsch‘) = ‚aries‘ verstand⁴¹. Neben Falks Etymologie schlug Much im oben erwähnten Artikel eine alternative Herleitung von Hallinskíði als hallr ‚Stein, Fels‘ (hallinn : hallr wie das Stoffadj. gullinn : gullr) und altenglisch sceáda, mittelniederländisch schēde ‚vertex, Scheitel‘, also ‚der mit steinernem Scheitel oder Schädel‘, als dem primären Beinamen des Widders, vor⁴². Ich würde Muchs Herleitung nicht aus sprachlichen Gründen, sondern nur deshalb bevorzugen, weil sie eine – von Much nicht beachtete – merkwürdige Lesart des Namens in U: hıalmſkıþı, erklären kann. Denn wäre nicht ein Name ‚der mit einem helm- (hjalm-)artigen Schädel‘ eine gute Parallele zu Muchs Etymologie von Hallinskíði? Interessanterweise wird diese Form bestätigt durch die beiden oben erwähnten Schreibarten von Glúms Gráfeldardrápa 13 (in Heimskringla J1 und Bb der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta). Wie in der Übersicht der Belege des Namens bemerkt wurde, hat nämlich Bb statt hallin- ein hialm, J1 ein halm (was als ein Schreibfehler für hjalm verstanden werden kann). Mir scheint es folglich denkbar, dass U eine authentische alternative Form bewahrt hat, die inhaltlich mit dem gewöhnlicheren Hallinskíði völlig vereinbar ist und sich auf den „steinernen Schädel“ des Widders beziehen dürfte. Alles deutet also darauf hin, dass Hallinskíði ein Widdername ist. Schließlich scheint es mir auch möglich, den bereits oben erwähnten Namen Vindler etymologisch mit dem Widder zu verknüpfen. Die früheren Versuche, diesen

39 E. H. Meyer, Völuspa, 17. Vgl. la Cour, Navne, 63  ff.: Heimdallr bedeute ‚den hældende Stav‘, was die Strahlen der untergehenden Sonne wiedergeben sollte. Nach F. R. Schröder (Heimdall, 14) sei das Erstglied eher ein Adjektiv hallinn ‚steinern‘ (zu altnordisch hallr ‚Fels, Stein‘) und das Letztglied verbal zu verstehen, also ‚der [wie der Feuergott Agni] den Fels spaltet‘. 40 Falk, Die nomina agentis, 48. 41 Ebd. 42 Much, Der nordische Widdergott, 63. Vgl. F. R. Schröder, Heimdall, 14.

266 

 Heimdallr und der Widder

Namen zu erklären, sind von einer Menge Schreibarten vor allem des letzteren Wortglieds ausgegangen. Die Variationen des zweiten Glieds sind hier nach den wichtigsten Handschriften zusammengefasst: a) le- Skáldskaparmál 16 rTW; Háttatal 7 T, (vın)le- U. b) hlæ- Háttatal 7 r, hlę- W. c) gle- Skáldskaparmál 16 U. Die Schreibarten schwanken schon innerhalb der einzelnen Handschriften. So findet sich in r, die als eine der zuverlässigsten Quellen angesehen zu werden pflegt, einerseits Vindler (l-, -e-) andererseits Vindhlær (hl-, -æ-). Die eigenartigsten Abweichungen hat U (vınleſ, vıngler), was ja häufig der Fall ist. Es ist weder klar, ob der Schreiber den Namen überhaupt mit einem besonderen Sinn (etwa gler ‚Glas, Spiegel‘) verknüpft hat, noch, ob er diesen Sinn dann aus einer Kenntnis der traditionellen Vorstellungen erschlossen hat. Einen größeren Quellenwert kann man diesen jeweils nur einmal auftretenden Schreibarten nicht beimessen. Welche Form die ursprüngliche ist, ist schwer zu beantworten. Wenn die Formen auf hl- ursprünglich sind, können die Formen ohne anlautendes h- dadurch erklärt werden, dass h in den isländischen Handschriften des 13.  Jahrhunderts schon begonnen hatte, in der fraglichen Stellung wegzufallen⁴³. Im umgekehrten Fall (l- ursprünglich, Zusatz von h-) müssten die Schreibarten auf hl- entweder als ein Ausdruck der Nachrationalisierung der Schreiber oder durch eine sekundäre Assoziation im Laufe der mündlichen Überlieferung erklärt werden, und auch das erscheint durchaus denkbar. Die Interpretationen können deshalb nicht von einer gesicherten Form ausgehen, sondern müssen nach ihrer philologischen und inhaltlichen Überzeugungskraft beurteilt werden. Am häufigsten und in den besten Handschriften belegt ist jedoch die Schreibart Vindler, die in dieser Arbeit deshalb als die normalisierte Form verwendet wird. Das erste Wortglied ist eindeutig vind-, d. h. vindr, was entweder für das Substantiv ‚Wind, Luft‘ oder das Adjektiv ‚schräg, schief‘ stehen kann. Für das letzte Wortglied dagegen ist eine Reihe von Herleitungen je nach den verschiedenen Schreibarten und Hypothesen bezüglich Heimdallr (womit ja Snorri den Namen verbindet) vorgeschlagen worden⁴⁴. Mir scheint es jedoch angemessen, von der gebräuchlichs-

43 Noreen, Altnordische Grammatik, § 279, Anm. 2. Lindquist, Guden Heimdall, 92. 44 Vgl. Rosén (Studier, 65): eine Abl. vind- ‚schräg‘ durch das Suffix -ler (vgl. die krümmen Hörner des Widders). Ähnlich Rydberg (Undersökningar i germanisk mythologi I, 447): Vindler als Nebenform zu vindill (zu vinda ‚herumdrehen‘: weil Heimdallr ein Gott des „Reibfeuers“ („gnideld“) sei). Das Suffix in der Form -lir, die für die Handschriften der Snorra-Edda zu erwarten wäre, kommt aber nicht einmal unter den Belegen des Namens vor. Müllenhoff (Frija und der halsbandmythus, 248): Vindhlér ‚Gott des Windmeeres‘. la Cour (Navne, 65): Vindhlér ‚den, der giver Luften Varme‘ (da hlé ‚Schutz vor dem Winde‘ in einem Ablautverhältnis zu hlý ‚Wärme‘, lateinisch calēre steht). Zu hlé, vgl. Lindow (Mythology, 170) der den Namen mit dem Motiv in Lokasenna 48 vergleicht. Der Paragraph endet mit den Worten „enigmatic figure“ (S. 172). Lindquist (Guden Heimdall, 91  ff.): Ursprünglich *vindhlævir,

Auslegung 

 267

ten Form (Vind)ler auszugehen. Nun steht e in den Handschriften häufig für æ. Wenn vind- ‚schräg, schief‘ bedeutet, kann Vindler als Vindlær ‚der, der schiefe, schräge Schenkel hat‘ verstanden werden, – ein durchaus passender Name, vielleicht nicht für Heimdallr, aber für den Widder, dessen Unterschenkelknochen ja nach hinten gewinkelt sind. Sämtliche der kenningar, die Heimdallr mit einem „Schwert“ und einem „Kopf“ verbinden, können also inhaltlich oder etymologisch auch mit dem Widder verknüpft werden. Die weit verbreitete Ansicht, Heimdallr sei ein Widdergott oder ein Gott mit Widderattributen gewesen, scheint mit einem Wort gut untermauert zu sein. Leider ruht die Verknüpfung von Gott und Tier aber auf einem schwächeren Fundament, als man häufig annimmt.

10.2 Auslegung 10.2.1 Die Entwicklung der „Widdertradition“ Schon Elof Hellquist war der Meinung, dass Heimdallr erst sekundär, in einer Zeit, in der er keine religiöse Bedeutung mehr hatte⁴⁵, mit dem Widder verknüpft worden sei. Die Ursache dafür sei die Namensgleichheit: Heimdalr (nach Hellquist zu heim ‚Welt‘ und dalr ‚Bogen‘) sei ein Name des Regenbogengottes Heimdallr, heimdalr aber gleichzeitig ein Name des Widders – vgl. Falks oben erwähnte Etymologie ‚cervus domesticus‘; eine Widderbezeichnung heimdali ist in der oben angeführten þula mit „hrvtz-heiti“ belegt. Wegen dieser Verwechslung heimdalr : Heimdallr seien auch andere Namen, die ursprünglich nur dem Widder zugeschrieben worden sind, auf den Gott übertragen worden⁴⁶. Schon die Tatsache, dass nur Snorri die mit dem Widder verknüpften Namen Hallinskíði, Gullintanni und Vindler explizit mit dem Gott Heimdallr verbindet, sollte auffallend genug sein, um Hellquists Erklärung nicht einfach abzutun. Und in der Tat kann die von Hellquist vorgeschlagene Entwicklung auch quellenkritisch nachgewiesen werden.

eine Substantivierung von hlær ‚milde, warm‘. Pipping (Eddastudier I, 29): Vindhlér ‚den som skyddar mot vinden‘ (zu hlé ‚Schutz, Leeseite‘: eine Benennung für den Gott des Himmelsgewölbes; ähnlich Vindgler [‚Luftglas‘?], von der Himmelskuppel). Dumézil (Remarques comparatives, 277): Vindhlér, das Meer (hlér), durch den Wind (vindr) zu schäumenden Wellen geformt. de Vries (Heimdallr, dieu énigmatique, 265): Vindhlér ‚colline exposée au vent‘ (nl. Heimdalls Wohnsitz, Himinbjǫrg – aber warum dann als Name des Gottes? Zu urnordisch hlaiwa ‚tumulus‘). 45 Und, füge ich hinzu, die Bedeutung seines Namens undurchsichtig geworden war, also auch als Heimdalr erscheinen konnte. 46 Hellquist, Bidrag, 172.

268 

 Heimdallr und der Widder

Die ältesten Quellen sollen, wenn sie – was freilich diskutabel ist – authentisch sind, die Skaldenstrophen (Glúmr, Grettir, Bjarni A.son) sein. In der oben angeführten Strophe, die in der Saga dem Grettir Ásmundsson (gest. 1031) zugeschrieben wird, bedeutet heimdala hjǫrr (‚das Schwert des heimdali‘) ‚Haupt‘, eine Gleichsetzung, die – wie wir gesehen haben – nur dann verständlich wird, wenn man heimdali als ein gehörntes Wesen, d. h. ein Wesen, dessen Kopf auch dessen „Schwert“ ist, versteht. Wie Pering⁴⁷ richtig bemerkt hat, gibt es aber keinen Anlass, heimdala in Heimdalar zu emendieren und als den Gott zu verstehen⁴⁸: heimdali ist dasselbe Wort, das in der Snorra-Edda – zusammen mit hallinskíði – in der þula mit „hrvtz-heiti“ als Bezeichnung für ‚Widder‘ angeführt wird. Es wird also in einem Beleg, der auf den ältesten und, ebenso wichtig, von der Snorra-Edda unabhängigen Quellen beruht, bestätigt, dass es ein Wort heimdali (wahrscheinlich mit Falk eine Ableitung von dalr ‚Hirsch‘) gegeben hat, das den Widder bezeichnet hat. Heimdallr dagegen hat ursprünglich weder heimdalr (wie Hellquist meinte) noch heimdali geheißen. Heimdallr mit langem l sollte, wie in Kapitel  9 dargelegt wurde, die älteste Form von Heimdalls Namen darstellen und auch vorliterarisch der Name des Gottes gewesen sein. Zu dieser Sachlage kommt dazu, dass von den Belegen für das weniger gebräuchliche Heimdalr in der Snorra-Edda fast alle in Bezug auf die kenningar von „Heimdalls Haupt“ vorkommen⁴⁹. Dies legt die Annahme nahe, dass die Formenwahl hier nicht zufällig ist. Vielleicht beruht sie darauf, dass diese kenningar ursprünglich dem *heimdalr (heimdali), also dem Widder, nicht dem Gott, galten. Was die Form heimdali betrifft, ist sie abgesehen von den beiden oben erwähnten, eindeutig mit dem Widder verbundenen Stellen (Grettis Strophe bzw. die þula mit Widder-heiti) nur ein Mal, in Handschrift r von Skáldskaparmál 24, belegt. In Finnur Jónssons GKS 2367, 4o als Leithandschrift folgender Ausgabe steht eine emendierte Form Heimdalar zu lesen⁵⁰, die Handschrift, Bl. 22v hat aber – wie die unten stehende Abbildung zeigt – heimdali. Die Stelle nennt Loki þrætv dolgr heimdala ok skaþa ‚den Haderfeind von heimdali und Skaði‘. Ein Mythos, in dem der Gott Heimdallr als Haderfeind Skaðis auftritt, ist aber heute nicht bekannt. Dagegen gibt es (und zwar in der Snorra-Edda) einen Mythos, in dem ein dem Widder ähnliches Tier (geitr ‚Ziege‘) in einem Konflikt zwischen gerade Loki und Skaði auftaucht. In Skáldskaparmál 3 wird nämlich erzählt, Skaði habe mit den Göttern gewettet, dass sie die Riesin nie zum Lachen bringen könnten. Þa gerþi Loki þat, at hann batt vm skeɢ geitar nokqvoʀar ok ꜹðrvm enda vm hreðiar ser, ok letv þꜹ ymsi eptir ok skrækti hvartveɢia hatt; þa let

47 Heimdall, 270. 48 So z.  B. Finnur Jónsson in seiner Ausgabe der Skaldendichtung, Skj. B I, 289  f. 49 Ohlmarks (Heimdalls Horn, 203) führt die 13 Belege der Form Heimdalar in rT in ihrem textlichen Zusammenhang an. Sämtliche stammen aus diesem Kontext. 50 r, 100. Die anderen Handschriften haben -da(l)lar.

Auslegung 

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Loki fallaz ikne Skaþa, ok þa hlo hon⁵¹. Es scheint mir denkbar, dass die kenning von Loki als þrætv dolgr heimdala ok skaþa (f. þræta bedeutet unter anderem ‚Zwistigkeit‘⁵²) sich in Snorris Quelle nicht auf Loki, Skaði und den Gott „Heimdallr“ bezog, sondern auf Loki, Skaði und „heimdali“: den Widder.

Abb. 1: GKS 2367, 4o, Bl. 22v, Z. 28 Gedruckt mit freundlicher Genehmigung der Stofnun Árna Magnússonar í íslenskum fræðum

Während heimdali als Bezeichnung für ‚Widder‘ also etymologisch erklärbar und sicher belegt ist, sind folglich die Hinweise darauf, dass der Gott jemals diese Bezeichnung trug, schwach. Eine sekundäre Übertragung der „Widdernamen“ auf Heimdallr wegen der Namensgleichheit mit heimdali scheint deshalb denkbar, nicht zuletzt, weil keine der älteren Quellen diese Verbindung herstellt. Vor allem zwei von Snorri angeführte Skaldenstrophen könnten freilich für die entgegengesetzte Auffassung, dass Heimdalls Beziehung zum Widder älter als die Snorra-Edda war, herangezogen werden. Die erste ist die Strophe vom sonst unbekannten Bjarni A.son (12. Jahrhundert?), der Heimdalls hjǫrr für ‚Kopf‘ schreibt. Auch wenn man diesem Skalden noch authentische Kenntnisse von Heimdallr zutrauen will, verliert der Beleg jedoch dadurch an Wert, dass er nur in W (14. Jahrhundert) vorkommt. In allen anderen Handschriften der Snorra-Edda fehlt die Strophe. Wir haben also keine Belege, die zeigen könnten, dass nicht erst der Schreiber dieser Handschrift an den darin behandelten Gott Heimdallr dachte und eine frühere Genitivform heimdala in den Götternamen, den er in der Edda so häufig gelesen hatte, „korrigierte“. Die zweite Stelle ist die Strophe Háttatal 7, in der Vindler in einer kenning für ‚Haupt‘ vorkommt. Dass Vindler ein Name des Heimdallr (und nicht vielmehr ein primärer heiti für ‚Widder‘) war, ist jedoch eine Angabe, die wir nur von Snorri⁵³ kennen. Wie ich meine, kann er diesen Namen aus eben dieser von ihm selbst angeführten Strophe Háttatal 7 entnommen und, wegen der Übertragung der kenning „das Schwert des Widders“ = ‚Haupt‘ auf Heimdallr, sekundär mit dem Gott assoziiert haben. Auch diese Textstelle kann folglich nicht als Beweis für einen frühen Zusammenhang zwischen Heimdallr und dem Widder angeführt werden, sondern bestä-

51 Snorra-Edda, 81. 52 Frz., s. v. „þræta 2“. 53 Skáldskaparmál 16.

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 Heimdallr und der Widder

tigt eher, dass die kenningar „Haupt = Schwert“ ursprünglich nur auf den Widder (Vindhlær ‚der mit schrägen Schenkeln‘) bezogen waren. Die Conclusio der obenstehenden Untersuchung ist, dass der Gott Heimdallr vorliterarisch nie „der Goldzähnige“ usw. hieß. Diese Bezeichnungen kamen dem Widder (heimdali), nicht Heimdallr zu, und nur das Haupt des Widders, nicht jenes des Gottes, war gleichzeitig sein „Schwert“.

10.2.2 Heimdalls Tod? Wenn das Resultat der obenstehenden Untersuchung richtig ist, bleibt nur ein letztes Rätsel des Widderproblems zu klären, nämlich die geheimnisvollen Aussagen Snorris in Skáldskaparmál 16: Heimdalar hꜹfvt heitir sverþ; sva er sagt, at hann var lostiɴ maɴz hǫfði igognvm. Vm hann [TU: Vm þat; W: Enn þat] er qveþit iHeimdalargaldri, ok er siþan kallat hꜹfvt miotvðr Heimdalar; sverþ heitir maɴz miotvðr⁵⁴. Zunächst sei angemerkt, dass, falls Snorri einen Mythos gekannt hätte, der die eigenartige Schilderung von Heimdalls Tod durch einen Männerkopf enthalten hätte, dann hätte er diesen Mythos sicher irgendwo in der Gylfaginning im Zusammenhang mit Heimdallr angeführt. Das tut er aber nicht, ganz im Gegenteil – Snorri sagt an jener Stelle, an der ein solches Motiv erwartet werden könnte, nicht ein Wort: In Gylfaginning 38, 73 erwähnt er nur kurz, dass Loki und Heimdallr einander bei Ragnarök töten (Loki a orrosto [berſt, U] við Heimdall, ok verþr hvaʀ aɴars bani). Und diese Angabe ist überhaupt unsicher. In den Eddaliedern, auf die Snorri seine RagnarökSchilderung stützt, kommt die Angabe jedenfalls nicht vor. Offenbar stammt Snorris Angabe, Heimdallr var lostiɴ…, aus dem Heimdallargaldr (die Bemerkung sva er sagt kann sich darauf beziehen). Was aber hat er im Heimdallargaldr gelesen? Nur „von Heimdallr“ (Vm hann, r)? Oder von der Durchbohrung Heimdalls mit einem Kopf (Vm þat, TU; Enn þat, W)? Fest steht nur, dass nach Snorri „nach“ der Entstehung des Heimdallargaldr (síðan) „Heimdalls Schicksal“ (mjǫtuðr Heimdallar) für ‚Haupt‘ stehen konnte. Wenigstens den Ausdruck mjǫtuðr Heimdallar muss Snorri also dem Heimdallargaldr entnommen haben. Er muss den Ausgangspunkt für Snorris Text gebildet haben. Dagegen scheint der von Snorri hinzugefügte letzte Satz: sverþ heitir maɴz miotvðr, im Gegensatz zu den übrigen kenningar mit Heimdallr nichts zu tun zu haben⁵⁵. Er

54 Verschiedene Interpretationen dieses Rätsels haben unter anderen de Vries, Studiën, 66  ff.; Ohlmarks, Heimdalls Horn, 151  ff.; Pering, Heimdall, 267–74 vorgelegt. Sie scheinen aber alle ziemlich gesucht und stark von der resp. Auffassung der Forscher über Heimdallr abhängig zu sein (Heimdallr sei ein Kultpfahl; sein Kopf sei die Sonne; er sei ein Wicht, dem bange sei vor Pferdeköpfen…). 55 Die kenning findet man in Hervarar saga, wo das Schwert Tyrfingr mannz mjǫtuðr heißt. Lex. poet., s. v. „mjǫtuðr“. Vgl. de Vries, Studiën, 67.

Auslegung 

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scheint nur dazustehen, um die dunklen kenningar von Heimdallr zu erhellen. Unter den von Snorri angeführten kenningar ist die direkteste Analogie zu diesem Satz, die er mit diesem womöglich erklären wollte, natürlich mjǫtuðr Heimdallar. An sich ist dieser Ausdruck undurchsichtig und mag es auch für Snorri gewesen sein. Im Licht der kenning sverð = mannz mjǫtuðr wird er aber klarer: Wie das „Schicksal (der Tod⁵⁶) des Mannes“ das Schwert ist, so – dies soll wohl die Nebeneinanderstellung der Ausdrücke andeuten – sei auch „Heimdalls Schicksal“ das Schwert. Heimdallr sei also nach Snorris Auffassung von der kenning des Heimdallargaldr wahrscheinlich mit einem Schwert getötet worden. Nun glaubte aber Snorri zu wissen, dass „Heimdalls Schwert“ ‚Haupt‘ und „Heimdalls Haupt“ ‚Schwert‘ bedeutete (eigentlich bezog dies sich ja auf den Widder). Die Frage, warum dies so war, muss auch Snorri sich gestellt haben. Wenn Heimdallr aber mit einer Waffe getötet wurde („Heimdalls Schwert“, d. h. ‚das Schwert, das sein Leben nahm‘), die eigentlich ein Haupt war („Heimdalls Haupt“, d. h. ‚das Haupt, das sein Leben nahm‘), werden alle kenningar mit einem Mal begreiflich – so muss wohl Snorri gedacht haben. Und er fügt diese Erklärung expressis verbis mit der ebenso lapidaren wie phantastischen, aber trotzdem nicht weiter gestützten Anmerkung hinzu: hann [d. i. Heimdallr] var lostiɴ maɴz hǫfði igognvm! Die Gedankenkette kann also ungefähr wie folgt rekonstruiert werden: *Heimdallar mjǫtuðr mannz mjǫtuðr > Heimdallar mjǫtuðr

=? = ‚Schwert‘' = ‚Schwert‘

= ursprünglich ‚Horn des Heimdallar sverð (‚Haupt‘) Widders‘ Heimdallar hǫfuð (‚Schwert‘) > Heimdallar mjǫtuðr = (Heimdallar) sverð = (Heimdallar) hǫfuð > hann var lostinn mannzhǫfði ígǫgnum

Heimdallargaldr Selbstständige kenning Snorri Selbstständige kenningar Snorri Snorri

Es gibt folglich keinen Grund dafür, verlorene Mythen über Heimdalls Tod durch ein Haupt anzunehmen. Im Heimdallargaldr stand wahrscheinlich nur die kenning mjǫtuðr Heimdallar zu lesen, was Snorri im Zusammenhang als ‚Schwert‘ („Heimdalls Tod“) verstand. Wenn wir uns einen eigenen Deutungsversuch dieser kenning erlauben, liegt es vielleicht näher, mjǫtuðr eher als ‚Tod‘ in der buchstäblichen Bedeutung ‚Schicksal‘ zu verstehen und, freilich weniger phantasiereich, die Gleichsetzung „Heimdalls Schicksal = Schwert“ in der Weise zu deuten, dass der Verteidiger Asgards (ragna reinvári) nie von seinem Schwert ablassen konnte, dass das Schwert sein „Los“ war. Leider gibt es aber nichts, das sagt, dass die Bedeutung ‚Schwert‘ ursprünglich mit der kenning aus dem Heimdallargaldr zusammengehört hat.

56 Vgl. das Eddabruchstück Codex AM 748, 4o, Snorra-Edda II, 495, in dem eine Reihe von Synonymen aufgezählt werden, darunter miǫtvðr (bani).

11 Schlussbetrachtungen Eine grundlegende Zielsetzung der vorliegenden Arbeit war, dass Heimdallr zunächst und soweit als möglich aus den Texten, der Mythologie und der Gesellschaft heraus, denen seine Figur selbst angehörte, verstanden werden sollte (Kap.  1). Denn wenn Heimdallr früher – buchstäblich – als „alles zwischen Himmel und Erde“ gedeutet wurde, so ergab sich dies nicht nur aus dem teilweise fragmentarischen Quellenmaterial, sondern auch aufgrund der bisher angewandten komparativen Forschungsmethode. Aus den verschiedensten Texten, Zeiten und Kulturen (bestenfalls der altnordischen geographisch naheliegend oder mit ihr sprachlich verwandt) konnte der religionsphänomenologische Typus von Heimdallr oder seine angeblich ursprüngliche Gestalt rekonstruiert werden, wobei es nie eine schwierige Aufgabe dargestellt hat, in diesem Material etwas zu finden, was mit den schon an sich mehrdeutigen Informationen über Heimdallr nicht in Übereinstimmung gebracht hätte werden können. Wie in der Einführung festgestellt wurde, lag das hauptsächliche Problem also weder in der vergleichenden Methode an sich, noch in den jeweiligen Theorien, die mit ihr verknüpft wurden, sondern in der Tendenz, Heimdallr eher aus fremden Vorstellungen als aus seiner eigenen Welt heraus zu erklären. Wenn in dieser Untersuchung angestrebt wurde, sich an die altwestnordischen Quellen zu halten, so resultiert daraus gleichzeitig eine Einschränkung der Deutungsmöglichkeiten und ein Versuch, Heimdallr im Kontext der Überlieferung festzumachen. Das Bild Heimdalls, das in der obenstehenden Untersuchung zutage tritt, ist ein deutlich anderes als das gewohnte. Das lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass die Sekundärliteratur häufig noch im Bann Snorri Sturlusons stand. Wenn Snorris Darstellung von Heimdallr früher herangezogen wurde, geschah dies gewöhnlich ohne die erforderlichen textkritischen Erwägungen. Die frühere Forschung wurde bei ihrer Bewertung von Snorris Angaben häufig von den jeweiligen Theorien über den Charakter Heimdalls geleitet. Zum Beispiel wurden die Angaben zu Heimdalls gutem Seh- und Hörvermögen wiederholt als Spuren von Eigenschaften des alten (indogermanischen) Himmelsgottes gewertet. Snorri wirkte aber mehr als zwei Jahrhunderte nach der Christianisierung Islands. In der Tat beruht die Entstehung seiner Edda wohl nicht zuletzt auf dem Umstand, dass die alte Mythologie zu dieser Zeit nach und nach in Vergessenheit geriet, wodurch die altüberlieferte Dichtung unverständlich zu werden drohte. Snorri aber musste mit dem arbeiten, was er zur Verfügung hatte, auch wenn dieses Material verschiedene Weiterentwicklungen der heidnischen Götter in christlicher Zeit miteingeschlossen haben mag. Wenn Snorris Angaben, wenn überhaupt, nur durch Texte gestützt werden, die nach der neueren Forschungslage nicht vor dem 12.  Jahrhundert entstanden sein können, dann ist es folglich alles andere als sicher, dass diese Informationen auch für den vorchristlichen Gott Heimdallr von Bedeutung waren. Als ein solches unsicher bzw. spät belegtes Charakteristikum Heimdalls ist nach dem Ergebnis der vorliegenden Untersuchung seine Verbindung mit dem Widder zu

Schlussbetrachtungen 

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bewerten (Kap. 10). In dieser Arbeit wurde diese Verbindung nicht als Relikt einer angenommenen älteren Gestalt des Gottes, sondern aus textkritischen Gründen als Entwicklung innerhalb der Textüberlieferung des christlichen Mittelalters ausgewiesen. Schwieriger war es, Heimdalls Eigenschaft als „Wächter der Götter“ (vǫrðr goða) zu bewerten (Kap. 7). Es konnte festgestellt werden, dass die pejorativen Aspekte, die dem Begriff des Wächters innewohnen, für Heimdallr nicht zutreffen. In der Überlieferung tritt er fast eindeutig als erhabener Gott hervor und wird er mit entsprechenden Attributen bezeichnet. Auffallend ist, dass die einzigen Ausnahmen der Eddadichtung, in denen Heimdallr also herabwürdigend dargestellt wird, den Gott gerade mit vǫrðr bezeichnen. Hier scheint vǫrðr im Sinn von ‚Wächter‘ aufgefasst und negativ konnotiert zu werden. Ebenso bemerkenswert ist, dass diese Quellen – die Lokasenna und die Skírnismál – zu der späteren Überlieferung gehören. Dabei ist die herabsetzende Perspektive der „Schimpfrede Lokis“ textintern begründet; vielleicht wird mit der in der Sprache latenten Doppelbedeutung von vǫrðr im Sinn einerseits von ‚Beschützer‘, andererseits von ‚Wächter‘ hier bewusst gespielt. In den Grímnismál hingegen scheint die auch dort vorkommende Bezeichnung vǫrðr goða mit der Bedeutung ‚Wächter‘ kontextuell (in der ruhigen Halle trinkt er Met) nur schlecht zusammenzupassen. Daraus konnte der Schluss gezogen werden, dass die Bedeutung von vǫrðr goða in älterer Zeit vielleicht eher ‚Beschützer, Verteidiger‘ gewesen sein dürfte. Dies muss auch der Bedeutung der Bezeichnung von Heimdallr als ragna reinvári (‚Landesbeschützer der Götter‘?) in Húsdrápa 2 nahekommen, wo der Gott für das Heil Asgards und die regenerativen Kräfte der Götter, verkörpert in Freyjas Brísingamen, kämpft (Kap. 3). Als der Schild Asgards – wie Þórr dessen Schwert ist – stand Heimdalls Funktion aber immer nahe jener des Wächters, was die negative Umwertung, die in der Lokasenna vor unseren Augen stattfindet, ziemlich unkompliziert erklärt. Bei Snorri schließlich wird Heimdallr als Brückenwächter der Götter dargestellt und seine Eigenschaften unter diesen Aspekt eingeordnet. Erleichtert wurde wohl diese Entwicklung vor der Zeit der Entstehung der SnorraEdda noch durch die Popularität der in der Vǫluspá geschilderten Eschatologie, die sich auch auf den Britischen Inseln mit Abbildungen von Heimdallr verbindet. Hier wird Heimdallr nämlich vor allem als endzeitlicher Hornbläser dargestellt, ein Motiv, das an sich schon vorchristlich sein kann, das aber mit dem Christentum durch Analogie mit den posaunenblasenden Engeln des Jüngsten Tages eine neue Relevanz und neues Leben bekommen haben dürfte (Kap. 5). Vorchristlich kann Heimdalls Gjallarhorn eventuell auch als Heerhorn konzipiert worden sein. Bei Snorri ist Heimdalls Hornstoß aber unzweideutig das Warnsignal des Wächters, das – so Snorris unikale Hinzufügung – die Götter bei Ragnarök erweckt. Dagegen weder zitiert noch erwähnt Snorri überhaupt die 1. Strophe der Vǫluspá, in der ein anderes Motiv – jenes von Heimdalls Vaterschaft – bewahrt ist. Wahrscheinlich hat Snorri die Strophe gekannt, wusste aber nicht, was er daraus machen sollte: Der als Ständegründung konzipierte Mythos von Heimdalls Vaterschaft (Kap. 2) war

274 

 Schlussbetrachtungen

auf Island vermutlich nie von größerer Bedeutung, und so ging das Wissen darüber – wie fast auch das einzige dieses Thema ausführlicher behandelnde Lied, die nur in Codex Wormianus bewahrte Rígsþula – schnell verloren. Es konnte aber dargelegt werden, dass das Motiv in der Eddadichtung noch lebendig war. Außer der Vǫluspá und der Rígsþula haben es auch die Hyndluljóð bewahrt. Besonders in diesen drei Liedern kommen die Ordnungsvorstellungen zum Vorschein, von denen in der Einführung (1.4.2) gesagt wurde, dass sie als eine Art Denkmodell die tragenden Konflikten der Mythologie aufzeigen. Nach diesem Modell wird die mythologische Welt durch teils territoriale, teils genealogische Grenzen in sozial dominantes Zentrum und untergeordnete Peripherie gegliedert. Die Zugehörigkeit zur zentralen Position innerhalb der Ordnung kann nur durch Abstammung, durch Herkunft legitimiert werden. Folglich gibt es für die periphere Gruppe zwei Wege ins Zentrum: durch Gewalt (Territorium) oder durch Heirat (Genealogie). Dieses Ordnungsmodell wurzelt in den Strukturen der altnordischen Gesellschaft. Und so ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter Beziehungen bestehen, was dazu führt, dass zur Abgrenzung des „Anderen“ vom Zentrum für beide Welten ähnliche, z.  T. identische sprachliche Mittel gebraucht werden können. In dieser Weise entsprechen die Riesen als Götterfeinde in der Mythologie im Lied Rígsþula (Kap. 2) den Unfreien, der peripheren Gruppe in der Welt der Menschen. In beiden Welten aber erscheint Heimdallr als Beschützer der dominanten Gruppe: In der Rígsþula und den Hyndluljóð ist er der besondere Schutzgott der Kriegeraristokratie, in der Húsdrápa und als vǫrðr goða der Verteidiger der Asen. Als Verteidiger der dominanten Ordnung ist Heimdallr aber gleichzeitig Aufrechterhalter der ganzen, der sozialen bzw. kosmischen Ordnung. Er verteidigt teils eine genealogisch definierte Gruppe, teils ihre zentrale Position. Wenn diese Position – aus der Wir-Perspektive der Mythologie: die Ordnung – zusammenbricht, zerbröckelt die Ordnung als Ganze. Aus dieser Sicht ist es nur logisch, dass Heimdallr im Mythos von seiner Vaterschaft der Urheber der ganzen sozialen Ordnung ist. Genealogisch, durch die Geburt der drei agnatischen Linien der Edlen, Freien und Unfreien, gründet und befestigt er in der Rígsþula die Grenzen zwischen den Ständen. Eine ähnliche Rolle erfüllt er auch in der Vǫluspá (Kap.  5), wo er die ganze Ordnung der untergehenden Welt zu umschließen scheint: Am Anfang des Liedes tritt er als Ständegründer auf; in der Mitte deutet sein verborgenes Horn die Ferne und Nähe der Ragnarök an; am Ende verkündet er mit seinem Hornstoß das Weltende. Er kehrt nicht mit Baldr zu der zum Untergang verurteilten Welt zurück, sondern ist mit ihr verbunden und geht mit ihr unter. Als Gott des Anfangs und des Endes wurde Heimdallr manchmal schon in der früheren Forschung gedeutet. Vielleicht kann dies jetzt besser so umgeschrieben werden, dass er ein Gott der Grenzen ist: der Grenze, die die Ordnung unter anderem räumlich und zeitlich umschließt, und der Grenzen innerhalb dieser Ordnung, deren Abgrenzungen erst die Ordnung zu Ordnung machen.

Schlussbetrachtungen 

 275

In den Hyndluljóð schließlich erscheint Heimdallr als Bindeglied zwischen den beiden Ebenen, auf denen sich die Handlung dieses Liedes abspielt – der göttlichen und der menschlichen, Asgard und Midgard (Kap. 6). In Asgard ist die dominante ætt der Götter von der Verwandtschaft und damit den potentiellen Verbindungen mit den Riesen bedroht. In Midgard ist die dominante ætt der menschlichen Gesellschaft – der (wie in der Rígsþula) als große Verwandtschaftsgruppe gedachte Stand der Edelgeborenen – durch das Vergessen der Verwandtschaftslinien ähnlicherweise vom potenziellen Eindringen sozial niederer Gruppen ins Zentrum der Macht bedroht. In diese Problematik ist Heimdallr tief miteinbezogen, denn einerseits umschließt er die ganze soziale Ordnung, die hier auf dem Spiel steht – die Hyndluljóð verweisen auf die Soziogonie und seine Verwandtschaft mit „allen“ (43,7  f., sif sifiadann | siotum giorfaullum) –, andererseits scheint er als göttliches Gegenbild zum jungen Königssprössling des Gedichtes, Óttarr, konzipiert zu werden. Er ist das mythologische Fundament jener Ordnung, die zur Legitimierung der künftigen Herrschaft Óttars dient. Die Ähnlichkeiten mit der Rígsþula, von Óttarr ungi mit Konr ungr – beide für den Thron bestimmt und aus der von Heimdallr beschützten Aristokratie herstammend – liegen auf der Hand. Der unbekannte Dichter der Hyndluljóð ist gleichzeitig ebenso sehr auf Problematisieren eingestellt wie jener der Vǫluspá, der dieses Gedicht nachgebildet ist: Wo Heimdalls Geburt von neun Müttern, den Wellentöchtern des Meerriesen Ægir, erwähnt wird, versäumt es der Dichter nicht, deren Riesenwesen hervorzuheben. Auch Heimdallr ist in die Problematik der durch genealogisches Chaos und soziale Mobilität untergehenden Welt mit einbezogen. Im Grunde darf aber in diesem Motiv von Heimdalls Geburt aus dem Meer (Kap. 4) das wohl belegte Mythem der Geburt des mythologischen Stammvaters – per definitionem des Ersten einer Linie – aus den Elementen gesehen werden. Als Gott der Grenzen steht Heimdallr in einem natürlichen Gegensatzverhältnis zu Loki, der als Halbriese auch genealogisch als Grenzüberschreiter bezeichnet werden kann. Mit Loki als Vater von Unholden und Chaoswesen wird Heimdallr, der Vater der sozialen Ordnung, in den Hyndluljóð kontrastiert. Mit ihm kämpft er um Freyjas Halsband in der Húsdrápa, als Loki dieses gestohlen hat. Und nach Snorri soll er bei Ragnarök noch einmal mit Loki kämpfen, wobei beide der Tod des anderen werden. Heimdalls Wissen (Kap.  2.3.2) ist ein in mehreren Quellen belegtes Motiv. Es scheint „numinosen“ Charakters zu sein. Heimdallr wurde vorgestellt, die Zukunft zu kennen, vielleicht auch galdrar singen zu können, und wenigstens nach Snorri soll er, im Kampf mit Loki, die Gestalt gewechselt haben. Dies führte schon den Dichter der Þrymskviða dazu, Heimdallr (bezüglich seiner Kenntnis der Zukunft) mit den Wanen zu vergleichen. Einen Vergleich mit den Fruchtbarkeitsgöttern könnte auch seine Rolle als Samenspender/Befruchter im Mythos von seiner Vaterschaft und die Verteidigung von Freyjas Brísingamen als Fruchtbarkeitssymbol der Götter nahelegen. In den bewahrten Quellen wird Heimdallr aber nie zu den Wanen gerechnet, dagegen

276 

 Schlussbetrachtungen

häufig als Ase bezeichnet. Vielleicht liegt deshalb ein Vergleich mit Óðinn näher. Mit diesem Gott wollten schon viele der früheren Forscher Heimdallr-Rígr identifizieren, vornehmlich weil ja dieser wie Óðinn vorgestellt wird, magische Runen zu kennen. Nach der Rígsþula wird dieses numinose Wissen offenbar zum geforderten „symbolischen Kapital“ der Kriegeraristokratie stilisiert, und angesichts des Charakters Heimdalls als erhabene, kriegerische Gottheit ist es denkbar, dass die Mythologie von Heimdallr bzw. von Óðinn teilweise in derselben sozialen Sphäre ausgebildet ist. Mit all dem haben wir noch nicht die eventuelle Bedeutung Heimdalls im Kultus berührt. Eine Bedeutung für den sakralen Bereich könnte z.  B. in der Beschreibung von Heimdalls Wohnort, Himinbjǫrg (Kap.  8), widerspiegelt sein, wovon Heimdallr nämlich gesagt wird, über die „Heiligtümer“ (vé) zu gebieten. Auch in Heimdallr-Rígs Initiation von Jarl in der Rígsþula könnte man eine Spiegelung kultischer Aktivitäten annehmen. Ähnliche Vermutungen über Heimdalls kultische Bedeutung stehen aber deshalb notwendig auf unsicherem Boden, weil in den schriftlichen Quellen von einer solchen nichts ausdrücklich berichtet wird. Vor allem müsste dem Umstand Rechnung getragen werden, dass auch die Ortsnamen – mit dem norwegischen Berg Heimdalshaugen als möglicher Ausnahme (Kap. 8.1.2) – keine Spuren einer Verehrung dieses Gottes aufzeigen, während Götter wie der in den isländischen Texten wenig hervortretende, ebenfalls rätselhafte Ullr im Ortsnamenmaterial häufig belegt ist. Dafür könnte die Erklärung erwogen werden, dass Heimdallr ein deus otiosus ist, der einst eine kultische Funktion gehabt hatte, der aber im nordgermanischen Raum vor allem in der Mythologie weiterlebte. Die Erklärung ist aber mit dem nicht zu lösenden Problem behaftet, dass die Quellen keine Aussagen darüber erlauben, ob Heimdallr überhaupt als eine alte, gemeingermanische Gottheit verstanden werden kann. Außerhalb des altwestnordischen Sprachgebiets ist der Gott nicht belegt. Der zweigliedrige Name Heim-dallr (Kap.  9), der sich von den eingliedrigen Namen der anderen Götter gemeingermanischen Ursprungs unterscheidet, könnte sogar gegen die Annahme eines höheren Alters des Gottes sprechen. Aber auch die alternative Erklärung, dass Heimdallr ein relativ junger, nordgermanischer Gott ist, der nicht bedeutend genug ist, um im Ortsnamen- und Sagamaterial Spuren hinterlassen zu können, ist mit Problemen behaftet. Vor allem das relativ häufige Vorkommen von Heimdallr im textlichen mythologischen Quellenmaterial und der diesem Umstand entsprechende Platz, den Snorri Sturluson diesem Gott unter den anderen Göttern und in deren Aufzählung gibt, deuten nämlich an, dass Heimdallr wenigstens in den mythologischen Traditionen der ausgehenden vorchristlichen Zeit ein nicht unwichtiger Gott war. Worin aber, wenn nicht in einem weit verbreiteten Kultus, würde diese Bedeutung des Gottes gründen? Die in jedem Fall naheliegende Annahme, dass Heimdallr kein maßgeblicher nordgermanischer Kultgott war, müsste aber nicht bedeuten, dass er, wie z.  B. Elard Hugo Meyer meinte, eine sonderisländische Skaldenschöpfung oder, wie Birger Perings Heimdallr-Monographie implizierte, ein eigentlich unbedeutender Gott gewesen sein muss, der im Wesentlichen als „Füllfigur“ im mythologischen System fungiert habe.

Schlussbetrachtungen 

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Die vorliegende Untersuchung hat auf Funktionen von Heimdallr in den mythologischen Texten hingewiesen, von denen – z.  B. von der Darstellung von sozialen Ordnungsschemen – eine Brücke zum Kult nur schwer geschlagen werden kann. Die Frage ist aber, ob dies überhaupt notwendig erscheint. Die Mythologie bekommt nicht erst als Widerspiegelung von kultischen Bräuchen oder als Kulttext einen Wert. Die mythologischen Erzählungen waren keine von der Gesellschaft losgelöste Größe. Durch das Vortragen der Mythen über Heimdallr am Hof und in der Halle (vgl. die Húsdrápa) konnten Ideen in der Gesellschaft gefestigt und verstärkt werden. Durch die Transzendierung von Ideen in die Welt der Götter konnten diese in die mythologische Urzeit versetzt und ihnen ein göttliches Fundament metaphysischer Gültigkeit zugeteilt werden. Dies gilt natürlich nicht nur für diejenigen Mythen, in denen Heimdallr ausdrücklich mit der Welt der Menschen verbunden wurde (Rígsþula), sondern auch für die Erzählungen, in denen die in Asgard und Utgard ausgetragenen Konflikte mit den Strukturen und Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft vergleichbar waren (Hyndluljóð) oder diese sich in einen konzeptuellen Rahmen einfügen konnten (Vǫluspá). Schon als Protagonist der mythologischen Erzählungen konnte Heimdallr folglich eine wichtige Funktion erfüllen – und vielleicht lag gerade in der mythologischen Vorstellungswelt seine größte Bedeutung. Ob dies immer der Fall war, bleibt im Dunkeln. Mit der Frage zu früheren Entwicklungsstufen Heimdalls überschreiten wir die Grenzen der vorliegenden Untersuchung und der Probleme, die auf Basis des altwestnordischen Materials beantwortet werden können. Der zukünftigen Forschung steht es noch offen, z.  B. auf komparativem Weg solche Fragen zu älteren Formen Heimdalls vor der Überlieferung zu verfolgen. Das Ziel dieser Arbeit war aber, Heimdallr im Kontext dieser Überlieferung zu verorten und ihn aus diesem heraus zu verstehen.

12 Literaturverzeichnis Die Titel sind in der Regel alphabetisch nach dem ersten Substantiv im Nominativ gelistet. Wenn bei mehreren Ausgaben einer Quelle eine gewisse Ausgabe bei Zitaten und Nummerierung regelmäßig verwendet wird, wird sie unten mit einem Sternchen (*) versehen.

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Register Hinweise im Register, die nur zu den Anmerkungen der angeführten Seiten referieren, sind kursiv gesetzt. Mythologische Wesen sind in 13.1 dann nicht, wenn sie lediglich Teil einer kenning sind, und Helden, historische Personen und Ortsnamen (auch mythologische) nur ausnahmsweise verzeichnet. In 13.2 sind Quellen und Strophen bzw. Stellen in der Arbeit, die direkt auf Heimdallr Bezug nehmen, mit einem Sternchen (*) markiert und Hinweise zu Seiten, wo die Datierung oder der Quellenwert eines Textes besonders thematisiert wird, unterstrichen. Hinweise zu Wörter¬büchern sind in 13.3 nicht mitgenommen, außer wenn der Name des Verfassers im Text besonders erwähnt wird.

13.1 Wörter, Sachen und mythologische Wesen Adam und Eva 79 f. Ægir 18, 142 f., 145, 147, 212, 232, 234, 275 Agni 10, 18, 101, 147, 221, 256, 265 aldinn, auf Heimdallr bezogen 100, 148 Alfǫðr (Óðinn) 140 amor hereos 238 (240) Anfang und Ende, auf Heimdallr bezogen 175 f., 210, 219, 274 Angeyja 134, 139, 146 Äpfel 127, 198 Árgjǫll, Heimdalls Horn 163 vgl. Gjallarhorn Ásgarðr, Begriffsdiskussion 27 f. Askr 94 áss, auf Heimdallr bezogen 100 Atla 134, 139, 145 Auðumbla 148 Augen 65–67 vgl. physische Merkmale; Óðins Auge 170 f., 237 Aurbóða 184 Aurgelmir 148 Austri 159 Bára 143 Baldr VIII, 32, 102, 125, 127, 137, 160 f., 169, 175, 176, 180, 181, 188, 197, 204 f., 207, 217, 223, 225 f., 240, 274 Bestla 31, 93 Bifrǫst 222, 243–45, 247 vgl. Brücke Blóðughadda 142, 143 Bragi 17, 224, 234 brāhmanas 86, 87 Brísingamen 2, 97, 106–29, 225, 273, 275 Brücke, auf Heimdallr bezogen 2, 120, 221 f., 231, 243–45, 247, 265, 273 vgl. Bifrǫst, Regenbogen Búri 29, 94, 148, 208

Burr (Borr), Burs Söhne 29, 31, 93 f., 111, 207 Bylgja 142 f. Christentum, christlicher Deutungsrahmen 6–9, 10, 22 f., 27, 41, 49, 58, 90–92, 94 (105) (108) 132, 141, 148, 157–59, 155–61, 163–66, 168 f., 172–74, 176, 185 f., 206, 216–20, 223, 234, 238, 243–45, 255, 272 f. vgl. Christus, Jungfrau Maria Christus 4, 10, 137, 167, 206, 216 f. Cú Chulainn 150–52 Danr und Danpr 47, 52, 77 deus otiosus 20, 276 dieu cadre 175 domus Dei 54, 219 Dritte Reich, das 87 Drǫfn 142 Dúfa 142, 143, 145 Dyauḥ, Dyáuṣ pit 10, 118 Eber 134 f., 189, 200–2, 210, 226 Eheschließung, als Investition 33 f. vgl. Verwandtschaftsbeziehungen Eistla 134, 139, 145 Eldir 234 Erdschöpfungsmythos 27, 37, 93 f., 111, 126 ergi 212 (236) Euhemerismus 4, 6, 9, 102, 105, 114, 117, 197 Evolutionismus 14, 17, 265 eylúðr 140 f. Eyrgjafa 134, 139, 146 Fárbauti 106–8, 118 Fenrir, Fenriswolf 28, 164, 173 f., 211 f., 215, 184, 188 Freyja 31, 97, 109, 114–18, 121, 124 f., 127 f., 180 f., 183, 187–89, 191 f., 196, 200, 208 f., 212, 214, 217, 225 f., 232, 233, 256, 273, 275

Wörter, Sachen und mythologische Wesen 

Freyr 4, 32, 68, 94, 102, 135, 139, 198, 201, 208, 216, 225 f., 234, 235, 238 f., 257, 259 Frigg 117 f., 206, 235 ful(c)free, Begriffsdiskussion 83 galdrar 97, 121, 131, 275 Gāyōmarḍ 101 Geburtsstein siehe lausnarsteinn Geirrøðr 31, 139, 144, 167 Geirskǫgul 159 Gerðr 4, 32, 184, 198, 208, 239 f. Gjallarhorn, Heimdalls Horn 2, 4 14, 25, 154, 162–77, 210, 222, 226, 243, 245, 253, 273 f.; Etymologie 162 Gjálp 134, 139, 143–45 glissement guerrier 81 goldene Zeitalter, das 35–39, 155 Greip 134, 139, 143–45 Gríðr 31 Gróa 131 Grótti 140 f. Gullintanni, auf Heimdallr bezogen 13, 259, 263 f., 267 gullnar tǫflur, Mythos von 36 f. Gulltoppr, Heimdalls Pferd 13, 221, 226 Gullveig 36, 160 Gunnlǫð 31, 207 Haar, Haarfarbe siehe physische Merkmale Hadingus 32 hafnýra, auf Heimdallr bezogen; Begriffsdiskussion 122–24 Hallinskíði, auf Heimdallr bezogen 13, 20, 259, 263–65, 267 f. Harlungengold 114 f., 124, 126 Hefring 142, 143 heimanfylgja (Mitgift) 33 Heimdal, Studentenverbindung 2 Heimdalshaugen 4, 25, 247–49, 276 heimild 195 heimski, Beiname Óttars 211 heimskr, auf Heimdallr bezogen 126, 223 f. Helios 18, 221 Hermóðr 223 f. hersir, Begriffsdiskussion 60 Hildisvíni 200 Himinbjǫrg, Heimdalls Wohnort 2, 25, 163, 228, 230 f., 241, 243, 247–53, 267, 276 Himinglæva 142, 143 Himmelsgott 10 f., 12, 100 f., 118, 126, 147, 272

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Hǫðr 160, 205–7 Hofwicht siehe Wicht hǫldr, Begriffsdiskussion 59 f. Hœnir 223 f. Hrǫnn 142, 143 Hrungnir 31 hvíti áss, hvítastr ása, auf Heimdallr bezogen 98, 100–4, 109, 114, 116, 139, 214, 258 f., 262 Hyndla 178, 180–82, 187–89, 191 f., 214, 217 Ideologie 19, 22, 24, 28, 38, 67 f., 78, 79–92, 96, 103 f., 159 f., 180, 197 f., 203 f., 210–14, 219 vgl. 53 f., 56–58, 80, 95, 150, 274 f., 277 vgl. idéologie tripartite; Königsideologie; physische Merkmale idéologie tripartite 3, 19, 80–87 Iðunn 32, 127 ἱερός γάμος 197 f., 238 Imð(r) 67, 134, 139, 145 indogermanische Ursprünge 11 f., 15, 31, 41, 80–82, 86 f., 101, 118, 135, 137 Initiationsriten 150–53, 190 f., 210 f., 213, 276 Iring 71 irische Einflüsse 19, 48, 49, 51, 68 f., 71–79, 80, 104, 227, 259, 262 íviðjur 138, 182 f. Janus 175 jarl, Begriffsdiskussion 60 f. Járnsaxa 134, 139, 145 Jungfrau Maria 124, 137 lausnarsteinn 123 f. kanonisches Recht (und Odal) 193 f. kartr, Begriffsdiskussion 124 keltische Einflüsse, Mythologie usw. 36, 51, 68, 80, 86, 150–52 kindir, Begriffsdiskussion 95 Kolga 142 f. Königsideologie 197 f., 214, 219 konr, Begriffsdiskussion 69–71; Konr ungr, als Wortspiel 45, 52, 73–76, 78, 80, 81, 92, 214, 275 Krähe 46, 65 f. Kult, des Heimdallr 5, 13, 18, 24, 126, 132, 137 f., 221, 231, 270, 276 f. Kulturkreislehre 14, 16 (137) kyrra, Begriffsdiskussion 46 Legitimierung siehe Ideologie Loddfáfnir 136

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 Register

Loki 2, 12, 17, 29, 32, 34, 97 f., 106 f., 109–12, 114, 116–18, 121, 124–28, 156, 184, 211, 225, 232–37, 240 f.; im Endstreit mit Heimdallr 175, 270, 275; Heimdallr gegenübergestellt 211–13, 215, 258, 275; þrætu dolgr heimdala 107, 109, 268 f.; und Baldrs Tod 161, 205 f., 207; als Trickster 233 Longinus 206 Magni 139 Männerbünde 83, 151 Mannus 149 Mardǫll (Freyja) 255; Etymologie 256 Meerniere 110, 119, 121–28 Menglǫð 102, 117 f. Miðgarðr, Begriffsdiskussion 27 Millenarismus 157–59, 161 Mímr, Mímir 162, 164–68, 170, 171 f.; ein Riese 167 Mithra 12, 18 Mitra 18, 221 Mond, auf Heimdallr bezogen 10, 12, 101, 126, 140, 258 Moses 149 mundr (Mahlschatz) 33 Mythologie, Begriffsdiskussion 24 naddbaufgann, auf Heimdallr bezogen; Begriffsdiskussion 132 f. Nase siehe physische Merkmale naturalis religio, natürliche Theologie 8, 9 217–19 naturmythologische Schule, die 11–13, 100 (103 f.) 126, 140, 147 (244) 257, 263 Njǫrðr 32, 38, 94, 147, 212, 258 Noah 54, 85, 88, 90, 185 Oberon 48, 163 Odal, Odalrecht VIII, 26, 29–31, 34, 45, 47, 60, 96, 103, 178, 192–96, 202–4, 209 f., 213; óðal, Etymologie 30 Óðinn 4, 8, 29, 31, 34, 42, 48, 60, 66, 74, 92 f., 94, 104, 108, 117 f., 139 f., 141, 147, 160– 64, 165, 167, 169–72, 173 f., 175 f., 182, 183, 188, 191, 198, 206 f., 212, 215, 217, 219, 224, 225 f., 228 f., 232, 237, 245 f., 276 Ohr, Heimdalls 169 f., 172 Ōhþere 199 f. Ongenþēow 199 f. open resource model 59 oral formulaic theory 6, 157

physische Merkmale, als Teil einer hegemonischen Mentalitätsgeschichte 54, 57 f., 80 f., 100–4, 66–68 ráð, ráðgegninn, auf Heimdallr bezogen 44, 97, 99, 106 f., 114, 118 vgl. Wissen Ragnarök VIII, 28, 35 f., 157, 160, 163–67, 172–77, 181, 204 f., 206, 208–11, 215, 217, 219, 245, 253, 270, 273–75 vgl. Millenarismus rammr, auf Heimdallr bezogen 100, 133 Regenbogen 2, 10, 126, 147, 221, 244 f., 247, 258, 265, 267 Reginn, als Initiator 152 Regnilda 32 reinvári, vári, auf Heimdallr bezogen 15, 106–8, 118–21, 128 f., 153, 242, 258, 271, 273; Begriffsdiskussion 107 f., 120 f., 128 f. Rígr, Rigus 4, 19, 40–105, 137 f., 148, 150, 213 f., 227, 232, 257, 276, Etymologie bes. 71–73 Rindr, Rinda 31, 207 Ringherrin (baugrygr) 32 Robben, auf Heimdallr und Loki bezogen 97, 109 f., 121 rǫgn, auf Heimdallr bezogen 139 Rǫgnir (Óðinn) 140 rúnar, Begriffsdiskussion 96 f. Runensteine, als Erwerbsurkunden 196 Sakralkönigtum (138) 198 vgl. Königsideologie Satan, der Teufel 8, 85, 156, 157 f. sævar niðr 18 Savitar 221 Scēfing 149 Schicksalsfäden 68 f. Sif 41 sif, Begriffsdiskussion 41 f. Singasteinn, auf Heimdallr bezogen 106, 107, 109 f., 118 f., 121 Sippe, Begriffsdiskussion 26 f., 41 f. Skaði 32, 35, 38, 127, 198, 268 f. Skjǫldr 149 Skǫgul 159 Sleipnir 211 f., 226 sonardreyri, auf Heimdallr bezogen 134 f., 153 Sonne, auf Heimdallr bezogen 10 f., 12, 13–15, 20, 101, 126, 147, 221, 256 f., 263, 265, 270 Sūrya 18 symbolisches Kapital 96, 276 Teufel, der siehe Satan Tius 147

Quellen und Autoren der Primärliteratur 

Þjazi 32, 38, 127, 139 Þǫkk 206 Þórr 28, 31, 41 f., 60, 98, 107 f., 116, 125, 128, 139, 144, 188 f., 191, 216, 225, 235, 244, 251, 253, 259, 273 Tǫtrughypja 75 f., 118 Tuisto 148 f. þurs, Begriffsdiskussion 35 Týr 174, 231 Übergangsrituale siehe Initiationsriten Uðr 142, 143