Heilung und Lebensheil im Angesicht des Todes 9783666560217, 9783525560211

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Heilung und Lebensheil im Angesicht des Todes
 9783666560217, 9783525560211

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Eugen-Biser-Lectures

Herausgegeben im Auftrag der Eugen-Biser-Stiftung

von Gunther Wenz Band 2

Vandenhoeck & Ruprecht

Heilung und Lebensheil im Angesicht des Todes Herausgegeben von Gunther Wenz

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56021-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de q 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gunther Wenz Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eugen Biser Auf dem Weg zu einer therapeutischen Theologie Gedanken zur Wiedergewinnung einer verlorenen Dimension . . . . .

17

Dietrich von Schweinitz Wo ist Gott im OP und am Krankenbett? . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Bernd Deininger Heilung durch Beziehung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Martin Thurner Das Rätsel des Todes als Ursprung des Denkens Die Lebens-Philosophie des Vorsokratikers Heraklit . . . . . . . . . . .

65

Karl Schlemmer Zeugnis vom heilenden Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Friedhelm Hartenstein Die Auferstehung und das Leben (Johannes 11) Predigt im Universitätsgottesdienst am 15. Juni 2014, St. Markus, München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Gunther Wenz Advent Jesu Christi Fallstudien zum Ansatz christlicher Eschatologie

95

Stefan Korioth Zeit und Recht

. . . . . . . . . . . .

6

Inhalt

Gunther Wenz Vollendung in Gott Grundzüge christlicher Eschatologie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Die Eugen-Biser-Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Vorwort

„Wenn ein Mensch im hohen Alter von 96 Jahren stirbt, gehört sein Lebenswerk in der Regel der Vergangenheit an. Auf Eugen Biser trifft das nicht zu! Sein Schaffen war von Anfang an in die Zukunft gerichtet, es hat im Laufe seines Lebens zunehmend an Bedeutung gewonnen und kann heute höchste Aktualität beanspruchen.“ Mit diesen Worten eröffnet Richard Heinzmann seinen Nachruf auf den am 25. März 2014 verstorbenen Professorenkollegen und Freund, dem er im Laufe der Jahre zu einem unverzichtbaren Dialogpartner geworden war. Eugen Biser, im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges geboren, wurde Zeuge eines Jahrhunderts, dessen extrem wechselvolle Geschichte und dessen rasante kulturelle, gesellschaftliche und technische Wandlungen er stets im Modus der Zeitdiagnose begleitete. Die Ambivalenz alles Menschlichen, die in den von ihm in Zeitzeugenschaft erlebten Entwicklungen dramatisch zutage tritt, war auch der Ausgangspunkt seines religionsphilosophischen Denkens und Wirkens als Professor und Seelsorger. Er kannte die ungeahnten Möglichkeiten des Mensch-Seins, war sich aber auch der steten Gefährdung des Menschlichen durch (selbst-)destruktive Tendenzen bewusst. Die paradoxe Wirklichkeit menschlichen Lebens versuchte er durch eine Existenzanalyse zu erhellen: Gerade der Reichtum an Möglichkeiten lässt den Menschen auch vor sich zurückschrecken und versetzt ihn in eine lähmende Angst. In der Befreiung von dieser Lebensangst sah Biser die anthropologische Grundbedeutung des Christentums. Unermüdlich war er bestrebt, in Büchern, Vorlesungen und Predigten, die Theorien des Denkens auf die Lebenswirklichkeit zu beziehen. Ganz in diesem Sinne begründete und leitete er an seiner Münchener Universität 1987 – 2007 das Seniorenstudium. Es sollte auch oder u. a. ein Forum werden, in welchem die Ergebnisse der akademischen Forschung auf existenzielle Fragen bezogen werden. Als solches entfaltete es seine Wirkung auch weit über den Seniorenkreis hinaus. Zur Fortsetzung dieses Anliegens wurde vom Evangelisch-Theologischen Kollegen im Stiftungsrat der EugenBiser-Stiftung, Prof. Dr. Dr. h.c. Gunther Wenz, die Reihe der „Eugen-BiserLectures“ an der Universität München konzipiert, die vom Seniorenstudium in Kooperation mit der Eugen-Biser-Stiftung durchgeführt wird. Es geht dabei nicht darum, Eugen Bisers Denken museal zu pflegen, sondern seinem Ansatz Zukunft zu geben, eine in jeder Zeit neu zu unternehmende Existenzanalyse in

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Vorwort

dialogischer Offenheit vorurteilsfrei zu wagen. Die Beiträge des nun vorliegenden zweiten Bandes der „Eugen-Biser-Lectures“ mögen Anregung und Anlass zur Hoffnung dafür sein, dass Bisers Grundanliegen Zukunft hat! Die Eugen-Biser-Stiftung dankt an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Gunther Wenz, für die Konzeption und Organisation der Vortragszyklen sowie in seiner Funktion als Herausgeber und Autor des vorliegenden Bandes. Den beteiligten Autoren danken wir für ihren Vortrag und für die uns überlassenen überarbeiteten Manuskripte. Zudem gilt unser Dank unserer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Frau Dr. Katja Thörner für die redaktionelle Bearbeitung sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die freundliche Unterstützung bis hin zur Drucklegung des Bandes. München, im September 2014 Prof. Dr. Martin Thurner Mitglied im Stiftungsrat der Eugen-Biser-Stiftung

Prof. Dr. Elisabeth Weiß Direktorin des Zentrum Seniorenstudium Ludwig-Maximilians-Universität München

Gunther Wenz

Zur Einführung

Unter den vielen Menschen, die Jesus nach seinem Besuch beim Synagogenvorsteher Jairus und seinem sterbenskranken Töchterlein folgten und sich um ihn drängten, war nach Mk 5,25 f „eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutungen litt. Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden.“ Diese nicht unalltägliche Erfahrung gibt es also schon im biblischen Kontext: Da sucht jemand, von einer chronischen Krankheit geplagt, nicht nur einen, sondern eine Unzahl von Ärzten auf, aber die Heilkundigen können nicht helfen, sondern machen das Leiden eher noch schlimmer. Der ganze quälende Aufwand war unnütz bzw. von Nutzen nur für das Einkommen der Medizinmänner und -frauen, wohingegen der Patient nicht nur leer ausgeht, sondern sich um sein ganzes Vermögen gebracht sieht. Der Kontrast zu Jesus ist auffällig und gewollt: Der Heiland heilt allein, augenblicklich, durch bloße Berührung, nachhaltig und gratis, umsonst, aber nicht vergebens, sondern auf Glauben hin, der den ganzen Menschen heil macht: „Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.“ (Mk 5,34) Arztgeschichten gibt es mehrere in der Bibel. Da befällt, um ein alttestamentliches Beispiel zu geben, den judäischen König Asa im neununddreißigsten Jahr seiner Regierung ein heftiges Beinleiden. Doch statt den Herrn, seinen Gott, um Hilfe zu bitten, sucht er, wie es im zweiten Buch der Chronik heißt (2. Chr 16,12), Ärzte auf. Wenig später ist der König tot. „Asa entschlief zu seinen Vätern; er starb im einundvierzigsten Jahr seiner Regierung.“ (2. Chr 16,13) Aus Asas baldigem Hinscheiden zu folgern, die Bibel halte generell wenig oder gar nichts von ärztlicher Kunst, wäre indes übereilt. Pauschalkritik am öffentlichen Gesundheitswesen wird nicht geübt. Man lese, um sich zu überzeugen, etwa das 38. Kapitel des Weisheitsbuches Jesus Sirach, wo es im 1. Vers heißt: „Schätze den Arzt, weil man ihn braucht; / denn auch ihn hat Gott erschaffen.“ Vorangestellt sind einige diätetische Maßregeln, die auch heute nichts an Aktualität eingebüßt haben: Mein Sohn, prüfe dich in deiner Lebensweise, / beobachte, was dir schlecht bekommt, und meide es! / Denn nicht alles ist für alle gut, / nicht jeder kann jedes wählen. / Giere nicht nach jedem Genuß, / stürz dich nicht auf alle Leckerbissen! / Denn im Übermaß

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Gunther Wenz

des Essens steckt die Krankheit, / der Unmäßige verfällt heftigem Erbrechen. / Schon viele sind durch Unmäßigkeit gestorben, / wer sich aber beherrscht, verlängert sein Leben. (Jesus Sirach 37,27 – 31)

Darauf, wie gesagt, folgt das Lob der Ärzte. Um nur einige zusätzliche Verse zu zitieren: „Durch Mittel beruhigt der Arzt den Schmerz, / ebenso bereitet der Salbenmischer die Arznei, / damit Gottes Werke nicht aufhören / und die Hilfe nicht von der Erde verschwindet.“ (Jesus Sirach 38,7 f) Wenn es schlecht um seine Gesundheit bestellt ist, soll sich der Mensch zwar in erster Linie an Gott wenden, dann aber auch dem Arzt Zutritt zu seinem Krankenlager gewähren: „Er soll nicht fernbleiben; denn auch er ist notwendig. / Zu gegebener Zeit liegt in seiner Hand der Erfolg; / denn auch er betet zu Gott, / er möge ihm die Untersuchung gelingen lassen / und die Heilung zur Erhaltung des Lebens.“ (Jesus Sirach 38,12b–14) Noch auf einen wichtigen Wink sei hingewiesen, den Jesus Sirach im 38. Kapitel seines Weisheitsbuches gibt. Im 5. Vers lesen wir folgende rhetorische Frage: „Wurde nicht durch ein Holz das Wasser süß, / so daß Gottes Macht sich zeigte?“ Der Bibelkundige weiß, dass hier auf eine Episode aus dem Exodusbuch angespielt wird. Das Volk Israel war unter der Führung von Mose aus Ägypten ausgezogen, hatte gerade das Schilfmeer hinter sich gelassen, um in Richtung des gelobten Landes die Wüste Schur zu durchqueren. Drei Tage waren sie in der Wüste unterwegs und fanden kein Wasser. Als sie nach Mara kamen, konnten sie das Wasser von Mara nicht trinken, weil es bitter war. Deshalb nannte man es Mara (Bitterbrunnen). Da murrte das Volk gegen Mose und sagte: Was sollen wir trinken? Er schrie zum Herrn, und der Herr zeigte ihm ein Stück Holz. Als er es ins Wasser warf, wurde das Wasser süß. Dort gab Gott dem Volk Gesetz und Rechtsentscheidungen, und dort stellte er es auf die Probe. Er sagte: „Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen Augen gut ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest, werde ich dir keine der Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe. Denn ich bin der Herr, dein Arzt.“ (Ex 15,22b–26)

„Ich bin der Herr, dein Arzt.“ Damit ist der für unser Thema entscheidende Grundsatz ausgesprochen und zwar vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs selbst. Dieser ist zuallererst ein Gott der Gerechtigkeit, aber er ist auch und nicht zuletzt ein ärztlicher Heiland. Er schafft dem Unrecht Leidenden Recht, indem er die Ungerechtigkeit richtet; aber er hilft zugleich dem Hinfälligen auf, um ihn aus dem Staub zu erheben und seine Gebrechen zu heilen. „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“, sagt Jesus im 31. Vers des 5. Kapitels des Evangeliums nach Lukas (vgl. Kol 4,14) anlässlich der unwilligen Frage von Pharisäern und Schriftgelehrten, warum er mit gesetzeswidrigen und ungerechten Zöllnern verkehre, um hinzuzufügen: „Ich bin gekommen, die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten.“ (Mk 5,32) Mit seiner Sendung zum Heil der Sünder und der Kranken stieß Jesus

Zur Einführung

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nicht nur in seiner Heimat auf Ablehnung. Zwar zollte man ihm anfangs Beifall. Aber sogleich wird die skeptische Frage laut: „Ist das nicht der Sohn Josephs? Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: ,Arzt, heile dich selbst!‘“ (Lk 4,22 f) Lesen Sie selbst nach, was folgt. Die Szene endet im Tumult, man treibt Jesus aus Nazareth hinaus, um ihn einen Bergabhang hinabzustürzen. „Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg.“ (Lk 4,30) „Ein Arzt ist uns gegeben, / der selber ist das Leben“, heißt es in der vierten Strophe des Liedes „Nun laßt uns Gott dem Herren / Dank sagen und ihn ehren“ (Evangelisches Gesangbuch 320). Gemeint ist Jesus Christus, der von der christlichen Gemeinde als Heiland von Leib und Seele besungen wird. Auch der im Sohn als Vater offenbare allmächtige Gott wird als „Arzt und Wundermann“ (EG 372,3) angefleht und gepriesen, der sich der Kranken annimmt, sie auch im Sterben und Tod nicht verlässt, sondern ihnen in der Kraft seines Hl. Geistes das ewige Leben zu geben verspricht. Von daher hat es seine Richtigkeit, wenn man das Christentum eine therapeutische Religion nennt, in deren Zentrum der Glaube an göttliche Versöhnung der Seele und Erlösung von allen Übeln steht. Näheres hierzu kann beispielhaft Eugen Bisers „Überlegungen zu einer therapeutischen Theologie“ entnommen werden, die in dem Sammelband „Humane Medizin aus christlicher Sicht“ publiziert worden sind.1 „Kann der Glaube heilen?“, fragt Biser. Die bejahende Antwort, die er hierauf gibt, bezieht sich nicht nur und nicht zuerst auf äußere Übel so schlimm diese auch sind, sondern auf die innere Not des Menschen, der nicht nur an körperlichen Gebrechen, sondern unter Seelenängsten leidet, die das Innerste seiner Existenz betreffen. Steht fest, schreibt Biser, „dass der heutige Mensch am Faktum seines Daseins leidet, ist auch schon die Frage nach seiner Ansprechbarkeit für das Christentum entschieden. Dann muss ihm hier, in seinem Selbstzerwürfnis, geholfen werden, wenn er für die christliche Heilsverheißung wieder zugänglich werden soll.“2 Therapeutische Theologie hat vorzugsweise im Inneren anzusetzen, nämlich bei demjenigen, was Biser „Selbstzerwürfnis“ nennt, was man aber auch mit Martin Luthers Begriff menschlichen „Insichverkehrtseins“ umschreiben könnte, um von Innen heraus Heilung zu erwirken. Das Herzstück therapeutischer Theologie „besteht in der gedanklichen und sprachlichen Vergegenwärtigung jener Hilfe, auf die gerade der in einem konstitutionellen Selbstzerwürfnis begriffene Mensch dieser Zeit angewiesen ist“3. Nicht darum kann es zu tun sein, „einen Grenzstreit mit der wissenschaftlichen Medizin 1 Biser, Eugen, Kann Glaube heilen? Überlegungen zu einer therapeutischen Theologie, in: Humane Medizin aus christlicher Sicht. Kann Glaube heilen?, hg. v. der Katholischen Akademie Hamburg, Hamburg 1989, 33 – 59. 2 Ebd., 41. 3 Ebd., 51 f.

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vom Zaun zu brechen, um etwas von den Kompetenzen zurückzugewinnen oder gar Einfluss auf ihre Behandlungsmethoden zu nehmen“4. Grenzüberschreitungen dieser und ähnlicher Art wird sich therapeutische Theologie, die einen rechten Begriff ihrer selbst hat, nicht zuschulden kommen lassen. Zwar wird sie sich auch das leibliche Wohl des Menschen angelegen sein lassen, weil der Leib untrennbar zum Menschsein des Menschen gehört. Aber ihre genuine Sorge gilt zweifellos der menschlichen Seele. Therapeutische Theologie ist seelsorgerliche Theologie. Sie ist Einweisung in die, mit Kierkegaard zu reden, Kunst, sich mit den Angstvollen auf tröstende Weise zu ängstigen und Mitleid zu haben mit den Leidenden, welches diese nicht weiter niederdrückt, sondern erbaut und erhebt. Am besten wird seine Seelsorge nach Bisers Urteil dann gelingen, „wenn der therapeutische Theologe die Spur der biblischen Heilungsgeschichten aufnimmt und in tröstender, bestätigender, gegebenenfalls aber auch aufklärender Weise zum Kranken spricht. Mit seinem Trost wird er den Vereinsamten und Verzagenden aufrichten, mit seinem bestärkenden Zuspruch seinen Lebenswillen zu stimulieren suchen. In nicht wenigen Fällen wird es aber auch darum zu tun sein, den Kranken zu einem versöhnten Abschied vom Leben zu bewegen, anstatt ihn, wie es vielfach geschieht, über die Nähe des Todes hinwegzutäuschen. In allen diesen Fällen geht es letztlich um die Akzeptanz der Krankheit, die freilich je nach Krankheitsbild ganz unterschiedliche Formen, angefangen von der kämpferischen Auseinandersetzung mit ihr bis hin zur stillen Ergebung, annehmen kann.“5 Eugen Biser hat Zeit seines Lebens nach Wegen zur Wiedergewinnung der therapeutischen Dimension der christlichen Religion und ihrer Theologie gesucht. Dass er fündig geworden und neue Bahnen eröffnet hat, davon zeugen zahllose Texte und sein Werk insgesamt. Ein thematisch besonders charakteristischer Beitrag wurde bereits zitiert, ein weiterer ist vollständig wiederabgedruckt worden, um als Leitartikel des vorliegenden Sammelbandes zu fungieren. Erstmals erschienen ist der Text im März 1987 in der ersten Nummer des 38. Jahrgangs der im Echter-Verlag Würzburg herausgegebenen Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“. Das Heft war demselben Thema wie die im Wintersemester 2012/13 an der Ludwig-Maximilians-Universität durchgeführten Eugen-Biser-Lectures gewidmet mit dem einzigen Unterschied, dass die Reihenfolge der Titelbegriffe umgekehrt wurde. Wenn nicht von „Heil und Heilung“, sondern von „Heilung und Heil“ die Rede ist, dann aus Klimaxgründen und mit dem Ziel, die Hoffnung auf Heil auch dann nicht fahren zu lassen, wenn keine Aussicht mehr auf Heilung besteht. Mit Biser zu reden: Therapeutische Theologie erstrebt nicht leibliche Heilung und Lebensverlängerung um jeden Preis, sondern will, ohne Krankheit unstatthaft zu verklären, in den Betroffenen und in uns allen Sensibilität 4 Ebd., 54. 5 Ebd., 57.

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für die im Leiden verborgenen Erkenntnis- und Sinnpotentiale erwecken. „Denn so sehr sie (sc. die Krankheit) es ,verdient‘, im Sinn der ärztlichen Bemühung ,überwunden‘ zu werden, ist sie zuletzt, im menschlichen Lebensganzen gesehen, doch zugleich noch etwas anderes: Einübung in den Tod!“6 Es entspricht daher dem Weg und der inneren Konsequenz therapeutischer Theologie, an das Thema von Heilung und Heil dasjenige von Tod und Leben anzuschließen, wie dies in den Eugen-Biser-Lectures vom Wintersemester 2013/14 geschehen ist. Beiträge beider Reihen sind im vorliegenden Sammelband dokumentiert. Das Programm liefert Eugen Biser mit seinen Gedanken zur Wiedergewinnung der therapeutischen Dimension von Christentum und christlicher Theologie. Dann haben zunächst zwei Ärzte das Wort, die sich medizinisch um Leib und Seele ihrer Patienten mühen, wohl wissend, dass sich beides zwar unterscheiden, nicht aber trennen lässt, weil der Mensch eine psychosomatische Einheit darstellt. Dietrich von Schweinitz, Direktor der Kinderchirurgischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München im Dr. von Haunerschen Kinderspital stellt eine Frage, in der sich unter Umständen die Fraglichkeit einer ganzen Menschenexistenz Ausdruck verschafft: „Wo ist Gott im OP und am Krankenbett?“ Von Heilung durch Beziehung handelt Bernd Deininger, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Krankenhaus Martha-Maria in Nürnberg. Die Probleme von Endlichkeit und Befristung des menschlichen Weltdaseins sind in der ärztlichen Theorie und Praxis allgegenwärtig. Dass sie auch für den Juristen von elementarer Bedeutung sind, zeigt Stefan Korioth, Ordinarius für Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München in seinem Beitrag „Zeit und Recht“. Er beginnt mit einer Reminiszenz an das IX. Buch der Bekenntnisse des Hl. Augustinus und an seine Frage: „Quid est ergo tempus?“, deren Antwort der Kirchenvater selbstverständlich zu wissen meint, ohne sie wirklich geben zu können. Noch weiter zurück in die abendländische Denkgeschichte bewegt sich Martin Thurner, Philosophieprofessor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der LMU und künftiger Organisator der EugenBiser-Lectures, in seiner Studie über die Lebens-Philosophie des Vorsokratikers Heraklit. Zeitlichkeit und Tod geben Rätsel auf, erweisen sich aber gerade so als Ursprung des Denkens. Die Thematik von Heilung und Lebensheil im Angesicht des Todes lässt sich nicht abstrakt und in kühler Distanz abhandeln, weil sie einen jeden von uns innerlich berührt und konkret betrifft. Zwei Referenten, die im Rahmen der Eugen-Biser-Lectures WS 2012/13 und WS 2013/14 vorgetragen haben, sind inzwischen gestorben: Karl Schlemmer, emeritierter Professor der katholischen Theologie, und Klaus Schultz, ehemaliger Intendant des Münchener 6 Biser, Eugen, Auf dem Weg zu einer therapeutischen Theologie. Gedanken zur Wiedergewinnung einer verlorenen Dimension, in: Lebendige Seelsorge 38 (1987), 1 – 7, hier: 7.

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Gärtnerplatztheaters. Das Thema von Prof. Schultz lautete: „Vergangenes Werk – lebendiges Werk. Fragen an die Interpretation“; er konnte die schriftliche und zur Publikation bestimmte Endfassung seines Vortrags nicht mehr erstellen. Die Ausführungen von Prof. Schlemmer liegen hingegen vor: Sie geben bewegendes „Zeugnis vom heilenden Gott“; der Schlussabschnitt ist überschrieben: „Ich weiß mich in Gottes Hand“. Auf dieses Bekenntnis, das dem Evangelium korrespondiert, ist der gesamte Kanon der Hl. Schrift als der Urkunde, Regel und Richtschnur des christlichen Glaubens angelegt, wie die Predigt bezeugt, die Friedhelm Hartenstein im Universitätsgottesdienst am 15. Juni 2014 in St. Markus, München, zum Thema „Die Auferstehung und das Leben (Joh 11)“ gehalten hat; ihr schriftlicher Text soll auf Wunsch des Autors seine Vorlesung zu Heilung und Heil in biblischer Perspektive im Rahmen der Eugen-Biser-Lectures ersetzen. Hartenstein ist Ordinarius für Alttestamentliche Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität. Der LMU gehört auch der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes an, als aktives Mitglied allerdings nur noch bis zum Wintersemester 2014/15. Ich danke Herrn Kollegen Thurner, dass er in Zukunft die Eugen-Biser-Lectures planen und für ihre Publikation sorgen wird. Meine beiden Beiträge zum vorliegenden Sammelband sind den „Letzten Dingen“ gewidmet: Der erste bietet Fallstudien zum Ansatz christlicher Eschatologie, der zweite skizziert Grundzüge derselben. Ich danke allen Mitwirkenden, gedenke in hoher Achtung und Verehrung der verstorbenen Kollegen und schließe mit der Kurzansprache, die ich am Tag der Beerdigung des Mentors und Namensgebers dieser Reihe in der Katholischen Akademie München gehalten habe. Eugen Biser ist am 6. Januar 1918, dem Epiphaniastag und Fest der Erscheinung Christi geboren; von dieser Welt abberufen wurde er am 25. März 2014, genau drei Monate nach dem 1. Weihnachtsfeiertag, dem Hl. Christfest. Die Kirche gedenkt am 25. März der Ankündigung der Geburt des Herrn und begeht den Tag (wenn er in die Passionszeit fällt nachträglich) als Fest Mariä Verkündigung und zwar gemäß dem Bericht von der Verheißung der Geburt Jesu im 1. Kapitel des Evangeliums nach Lukas. „Der Engel trat bei Maria ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe. Da sagte der Engel zu ihr : Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben.“ (Lk 1,28 – 31) Neun Monate später ist die durch den Engel überbrachte göttliche Verheißung in Erfüllung gegangen und der Heiland geboren, in dem Gott selbst Mensch wurde und auf die Welt kam, um zu suchen und selig zu machen, was verloren ist: „Fürchtet Euch nicht“, spricht der Engel zu den Hirten auf dem Felde, „denn ich verkündige euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr.“ (Lk 2,10 f) Die Weihnachtsbotschaft des Engels gilt allem Volk, Herden und Hirten,

Zur Einführung

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also uns allen und nicht zuletzt Eugen Biser, einem Hirten der ganz besonderen Art. Sein priesterlicher, theologischer und mitmenschlicher Hirtendienst hatte ein großes und allumfassendes Motiv : Das in Wort und Tat bekundete Zeugnis von der unbedingten und bedingungslosen Liebe Gottes, die in Jesus Christus in der Kraft des Hl. Geistes für Menschheit und Welt offenbar geworden ist. Es ist ein schönes und bedenkenswertes Zeichen, dass die Anfangs- und Enddaten seines irdischen Daseins, dass sein Leben und Sterben umfangen ist von Advent und Epiphanie der Liebe Gottes in Jesus Christus. Ihre Ankunft wird seine Zukunft sein, ja sie ist es bereits. In meinem Pfarrerskalender steht als Spruch des Tages für den 6. Januar 2014, den 96. Geburtstag von Eugen Biser, das Wort 1. Joh 2,8b: „Die Finsternis vergeht, und das wahre Licht scheint jetzt.“ Beigefügt ist der Schriftlesung für den Epiphaniastag der Lobgesang des Simeon, der das Jesuskind im Tempel in seine alten Arme nimmt und Gott mit den Worten preist: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, / wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. / Denn meine Augen haben das Heil gesehen, / das du vor allen Völkern bereitet hast, / ein Licht, das die Heiden erleuchtet, / und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“ (Lk 2,29 – 32) „Nunc dimittis servum tuum Domine, / Secundum verbum tuum in pace: / Quia viderunt oculi mei salutare tuum, / Quod parasti ante faciem omnium populorum: / Lumen ad revelationem gentium, / Et gloriam plebis tuae Israel.“ Wie Simeon einst hat auch Eugen Biser im Christuskind seinen Heiland entdeckt und den Herrn Jesus im Herzen und auch auf seinen Händen getragen, um ihn als berufener Diener der Kirche vor Gott und der Welt zu bezeugen. Nun hat ihn der Heiland selbst in seine Arme genommen und ihn zu sich gezogen, damit er unvergänglichen Anteil habe am ewigen Leben und der ewigen Liebe Gottes. Eugen Biser war ein wirkmächtiger Prediger der Gotteskindschaft, zu der alle Menschen bestimmt sind. Seiner Gelehrsamkeit war nicht nur nichts Menschliches, sondern auch nichts Kindliches fremd. Er ist bis ins hohe Alter hinein – ja, man kann sagen, je älter er wurde, umso mehr – ein Kind vor Gott gewesen. Was kann man von einem Christenmenschen und Theologen Größeres sagen! Dem Verstorbenen ist zur Lebensgewissheit geworden, was Paul Gerhardt – auch er ein Menschenkind Gottes der besonderen Art – in einem seiner von Johann Sebastian Bach vertonten Weihnachtslieder so sagt: „Da ich noch nicht geboren war, / da bist du mir geboren / und hast mich dir zu eigen gar, / eh ich dich kannt, erkoren. / Eh ich durch deine Hand gemacht, / da hast du schon bei dir gedacht, / wie du mein wolltest werden.“ (EG 37,2) Nun hat der Herr seinen Diener zu sich genommen, damit er ewig bei ihm sei. Das Jenseits, auf das alles Irdische hinstrebt, ist Eugen Biser zum Diesseits geworden. Requiescat in pace! Eugen Biser, Karl Schlemmer und Klaus Schultz mögen in Gottes Frieden ruhen. München, im Sommer 2014

Eugen Biser

Auf dem Weg zu einer therapeutischen Theologie1 Gedanken zur Wiedergewinnung einer verlorenen Dimension

Vorbemerkung Verglichen mit der Theologie der Väterzeit bietet die Gegenwartstheologie ein ausgesprochen lückenhaftes Erscheinungsbild. Ihr fehlt die Verwurzelung im Glauben des Kirchenvolks und damit die soziale Dimension. Sie wurde im Streben nach methodischer Strenge abstrakt und verlor damit, zusammen mit dem für die Vätertheologie noch so wichtigen Bildbezug die ästhetische Dimension. Und sie behandelt das mit der Gottesoffenbarung gegebene Heil vornehmlich als Lehrstück, so daß ihr schließlich auch die therapeutische Dimension verlorenging. So fehlen ihr im Vergleich zu ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild ganze Komplexe; und doch kann man nicht sagen, daß sie aus diesen Einbußen unbedingt „verarmt“ hervorging. Denn immerhin gewann sie jetzt, in ihrer szientifischen Ausformung, die Disputfähigkeit mit den Wissenschaften zurück, die ihr die von Autorität und Tradition emanzipierte Vernunft moderner Prägung streitig gemacht hatte. Man übertreibt noch nicht einmal, wenn man von dem heimlichen „Triumph“ spricht, den sie auf dem Weg zu ihrer modernen Wissenschaftsgestalt errang.

Der Preis des Triumphs Es gibt unterschiedliche Formen des religiösen Triumphalismus, massive und subtile. Seine subtilste Form erreicht er aber zweifellos im theologischen System. Nicht zu Unrecht hat man die gewaltigen Systementwürfe der Scholastik, der Barocktheologie und der ausgehenden Neuzeit mit Dombauten verglichen. In der konstruktivistischen Entwicklung ihrer Gedanken, in der kunstvollen Zuordnung ihrer Teile und in der vielfältigen Verzweigung ihrer Konsekutionen erinnern sie tatsächlich an die Strebepfeiler und Gurtbögen mittelalterlicher Kathedralen. Bei aller Bewunderung ihrer kunstvollen Architektur wird man sich aber im Sinn der vor allem von Kierkegaard vorgetragenen Systemkritik nicht verhehlen können, daß in ihren gewaltigen Räumen der Mensch – insbesondere der angeschlagene und leidende Mensch 1 Erstveröffentlichung in: Lebendige Seelsorge, 38. Jahrgang, Heft 1, März 1987, 1 – 7.

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Eugen Biser

– nicht vorkommt. Wie schon in einer Tagebuchaufzeichnung (von 1849) vergleicht der Verfasser der „Krankheit zum Tode“ den Systemdenker mit dem Erbauer eines großen, hochgewölbten Palastes, der es jedoch aus unerfindlichen Gründen vorzieht, nebenan in einem Schuppen oder gar in einer Hundehütte zu hausen. Und er richtet diesen Vorwurf mit derartiger Heftigkeit gegen die Systemphilosophie seiner Zeit, daß der theologische Systemgedanke davon unvermeidlich mitgetroffen ist. Mit diesem Vorwurf ist die Frage, ob der mit der systematischen Ausgestaltung der Theologie erzielte Gewinn nicht um einen zu hohen Preis erkauft wurde, bereits bejaht, bevor sie ausdrücklich gestellt wurde. Um so dringlicher stellt sich nunmehr die Zusatzfrage, wie es dazu kam. Ihre Beantwortung ergibt sich aus der dogmengeschichtlichen Tatsache, daß sich der Übergang von der ursprünglichen Verkündigung zur systematisierten Lehre weit dramatischer gestaltete, als es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat. Denn zur Ausbildung der Lehre führte letztlich der große Grabenbruch, der mit dem Tod der Altapostel eingetreten war und in seiner Rückwirkung auch das Glaubensbewußtsein der jungen Christenheit durch das Ausbleiben der sehnsüchtig erwarteten Wiederkunft des Herrn, also durch die „Parusieverzögerung“, zusätzlich vertieft wurde. Mit einem Bildvergleich könnte man auch sagen: Während bei der Ausfahrt auf das Meer der Weltgeschichte das Ufer, an welchem der geschichtliche Jesus mit seinen Aposteln stand, immer weiter in die Vergangenheit zurücktrat, rückte das zunächst in greifbarer Nähe geglaubte Ziel der Wiederkunft Christi und damit die endzeitliche Verwirklichung des Gottesreichs in unabsehbare Ferne. Damit aber geriet der Glaube nicht nur unter den Druck der „Spötter“ aus den eigenen Reihen, die (nach 2 Petr 3,3 f) mit wachsender Skepsis auf die ausbleibende Wiederkunft des Herrn verwiesen, sondern gleichzeitig auch unter den einer kritischen Befragung „von außen“, die sich nicht nur an einzelnen Praktiken – wie etwa derjenigen der Sündenvergebung – stieß, sondern die neue Glaubensform insgesamt in Zweifel zog. Dieser wachsenden Spannung ausgesetzt, entwickelte der Glaube der jungen Gemeinde ein ausgesprochenes Stabilisierungsinteresse. Unter dem Eindruck des zweifachen Verlustes schuf er sich zunächst ein festes Lebensgefüge in Gestalt der hierarchischen Ämterordnung. Vor allem aber verwandelte sich die „narrative“ Verkündigung immer mehr in eine festumschriebene, tradierbare und argumentativ vertretbare Lehre; deutlicher gesprochen: Die Verkündigung wurde festgeschrieben zur Doktrin. Doch worin bestand dann eigentlich der Preis, der mit diesem augenscheinlichen Gewinn, genauer betrachtet, erlegt wurde? Im Wandel der Vermittlungsformen! Während die paulinische Heilsverkündigung ihr ganzes Vertrauen auf den „Erweis des Geistes und der Kraft“ (1 Kor 2,4) setzte, bemühte sich die Darlegung der neugeschaffenen Lehre vor allem um stichhaltige Beweise, überzeugende Ableitungen und klar umschriebene Formeln. Hatte die am Modell der Predigt Jesu geschulte apostolische Predigt noch das Hauptgewicht darauf gelegt, den Hörern durch ihren

Auf dem Weg zu einer therapeutischen Theologie

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Zuspruch zu unmittelbarer Heilserfahrung zu verhelfen, so verlagerte sich der Schwerpunkt jetzt zusehends auf die Argumentation, die nicht selten eine apologetische Spitze aufwies. In noch stärkerer Vereinfachung könnte man sagen: die Vermittlung geschah nicht mehr durch den Selbsterweis des Wortes, sondern durch die Strenge des Begriffs. Denn nur mit seiner Hilfe konnten die Spötter zum Schweigen gebracht und die Einwände der Kritiker widerlegt werden.

Vom „Helfer“ zum „Herrn“ Dieser Tausch blieb durchaus nicht folgenlos. Mit dem an die Stelle des Wortes getretenen Begriff verhielt es sich vielmehr wie mit den modernen Medien, die sich, wenn auch von den meisten unbemerkt, verändernd auf die von ihnen vermittelten Inhalte auswirken. Demgemäß ließ nun auch die zur Verdeutlichung der Heilsbotschaft eingesetzte Begrifflichkeit die mit ihr gegebenen Wahrheitswerte hervortreten, während ihre ästhetische Leuchtkraft verblaßte und, bedenklicher noch, die ihr eingestiftete Heilkraft verkümmerte. Zwar war nach wie vor von dem durch Jesus gewährten Heil die Rede, doch nicht mehr in Form seiner spontanen Zuwendung, sondern eines „Lehrstücks“, als Gegenstand der „Soteriologie“. Unwillkürlich löste sich damit das „Heil“ auch von der Person seines Spenders ab, so daß es nicht mehr als Ausdruck seiner Selbstzuwendung, sondern mehr als eine von ihm verdiente und vermittelte „Gabe“ verstanden wurde. Das hatte einen tiefgreifenden Wandel in der christologischen „Optik“ zur Folge. Auf die einfachste Formel gebracht, besagt er : der „Helfer“ wurde zum „Herrn“. Wie es sich mit der ursprünglichen Sicht verhielt, läßt eine Stelle aus dem Epheserbrief des Märtyrerbischofs Ignatius von Antiochien erkennen, in der Jesus noch ganz in der Perspektive des „Heilbringers“ erscheint; sie lautet: Einer ist der Arzt, der Fleisch ist und Geist, im Tod wahrhaftiges Leben, sowohl aus Maria als aus Gott, erst leidensfähig, dann leidentrückt: unser Herr Jesus Christus (7,2).

Dem entspricht die aus der Frühzeit mehrfach bezeugte Anrufung „Hilf, Christus, du allein bist der Arzt!“ (Schneider), die dann allerdings infolge der angesprochenen Perspektivendrehung rasch aus dem altchristlichen Sprachgebrauch verschwindet. Mit verursachend kam dabei zweifellos das sich zunehmend verengende Verständnis der menschlichen Heilsbedürftigkeit ins Spiel. Während sich am „Tisch der Sünder“, denen sich Jesus mit seiner Heilkraft zuwendet, unterschiedslos alle versammeln, die in ihm ihren Retter erkennen, gleichviel, ob ihre Notlage moralisch, sozial oder existentiell be-

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dingt ist, hängt sich nunmehr der Begriff der Heilsbedürftigkeit zunehmend auf den Komplex „Sünde“ ein. Davon blieb dann aber auch umgekehrt das Verständnis Jesu nicht unberührt. Auf welches Zielbild hin es sich in der Folge entwickelte, läßt eine Stelle aus dem „Hirt des Hermas“, einem Gegenstück zur Johannes-Apokalypse, erkennen, in der dem Seher Christus im Bild eines alles überschattenden Baumes gezeigt und dazu die Erklärung gegeben wird: Er bedeutet das Gesetz Gottes, das für die ganze Welt gegeben ist. Dieses Gesetz aber ist der Sohn Gottes, der bis an die Grenzen der Erde verkündet wurde. Die Völker in seinem Schatten sind die, welche seine Botschaft hören und an ihn glauben (Sim XIII, 3.2).

Indessen war diese Entwicklung nur konsequent, da die Sünde vornehmlich als Verstoß gegen das göttliche Gesetz begriffen wurde, die als solche den auf den Plan rief, der als einziger die gestörte Ordnung wiederherstellen konnte, weil er der Inbegriff des göttlichen Ordnungswillens ist. Wieweit sich das Christusbild damit dann freilich von seinem neutestamentlichen Ausgangspunkt entfernte, zeigt die von Kierkegaard als Mitte des Evangeliums wiederentdeckte „Große Einladung“ (Mt 11,28), in der sich Jesus unterschiedslos allen Bedrückten und Bedrängten zuwendet und ihnen die Ruhe der Lebensgemeinschaft mit ihnen verheißt, oder auch die resümierende Stelle des Matthäus-Evangeliums, die das Heilswirken Jesu mit dem alttestamentlichen Verheißungswort erläutert: „Das geknickte Rohr bricht er nicht, den glimmenden Docht löscht er nicht“ (Mt 12,20). Während hier der Heilbringer noch buchstäblich in seiner Heilstat aufgeht, bringt ihn die angesprochene Entwicklung in eine immer größere Distanz zu ihr. Sie wird, wie es der Beseitigung des Notstands „Sünde“ entspricht, zur Frucht seines Erlösungswerkes und seiner dadurch erworbenen Verdienste, während er seinerseits als „Urheber“ des von ihm gewirkten Heils und, wie es dann schließlich der berühmte Guardini-Titel sagt, zum „Herrn“ seiner Heilsgemeinde wird. Rechtliche, lehrhafte und nicht zuletzt auch „hierarchische“ Gesichtspunkte treten damit gegenüber den ursprünglich mystischen in den Vordergrund. Wie aber schlug sich dieser Wandel auf die Verkündigung nieder?

Von der Bezeugung zum Beweis Mit Sicherheit darf man davon ausgehen, daß die ältesten Berichte über das Heilswirken Jesu, die „Wundergeschichten“ also, in der Absicht erzählt wurden, durch sie etwas von der in ihnen geschilderten Heilsmacht aktuell aufleben zu lassen. Wie die wunderbar Geheilten selbst sollten auch die Hörer der Berichte, allen voran die Kranken und Leidenden unter ihnen, etwas von der heilenden und aufhelfenden Vollmacht Jesu an sich erfahren. Wie sie sogar noch in ihrer endgültigen Gestaltung erkennen lassen, waren sie so struk-

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turiert, daß sich der Hörer von der Heilszusage Jesu mitbetroffen fühlen sollte. Der Empfänger des Wunders stand somit stellvertretend für den Adressaten der Wunderberichte. In dem durch Jesu Wort und Hilfe Geheilten war er gemeint. Darin trat schon durch die literarische Fixierung ein einschneidender Wandel ein. Denn die Eigengesetzlichkeit der Textualität brachte es mit sich, daß die Berichte nicht mehr in der ursprünglichen Weise auf den Adressaten hin „durchlässig“ blieben. In ihrer literarischen Gestalt wurden sie zu Berichten „über“ etwas, das durch sie zwar dokumentiert wurde, als Faktum jedoch in der Vergangenheit lag. Doch blieb es nicht bei dieser medialen Veränderung. Vielmehr geriet die Urgemeinde, wie eingangs vermerkt, zunehmend unter den Druck innerer und äußerer Kritik, deren sie sich durch eine apologetische Umstrukturierung ihrer Botschaft zu erwehren suchte. Wie Reginald H. Fuller nachwies, kann dieser Umgestaltungsprozeß noch besonders deutlich an der Perikope von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1 – 12) abgelesen werden, die zudem, wie dem christologischen Mosaikzyklus von Sant Apollinare Nuovo in Ravenna zu entnehmen ist, in der Verkündigung der alten Kirche eine Vorzugsposition eingenommen zu haben scheint. Verglichen mit den ursprünglichen Heilungsgeschichten wirkt schon die Einblendung des zu einem ausgesprochenen Disput geschärften Glaubensgesprächs als sekundär, zumal es sich nur unvollkommen, wenngleich mit einem dramatischen Spannungseffekt, in den Kontext einfügt. Der Eindruck verstärkt sich noch durch die völlig unmotivierte Anwesenheit von Gegnern, denen Jesus den unausgesprochenen Einwand aus dem Mund nimmt, um ihn mit einem – auf göttliche Autorisierung zurückweisenden – Machterweis zu beantworten: Damit ihr aber erkennt, daß dem Menschensohn auf Erden die Vollmacht zur Sündenvergebung verliehen ist, sprach er zu dem Gelähmten: Steh auf, nimm deine Bahre und geh nach Haus! (Mk 2,10 f). Jetzt duldet die von den Gegnern beanstandete Praxis der Sündenvergebung keinen Zweifel mehr, nachdem jeder Einwand auf derartig überwältigende Weise zum Schweigen gebracht wurde. Der durch die Umgestaltung erzielte Gewinn ist unverkennbar, nicht weniger aber auch der Preis, um den er zustande kam. Aus der ursprünglichen Wundergeschichte, die in einer den Hörer einbegreifenden Sprache von der rettenden Selbstzuwendung Jesu berichtete, wurde zunächst eine durch das Wunder Jesu bekräftigte Glaubensgeschichte und schließlich ein auf Widerlegung von Einwänden abzielender Bericht. Damit hörte das Wunder aber auch schon auf, ein ereignishaftes und als solches in die Gegenwart hineinwirkendes Geschehen zu sein; denn die neue Zwecksetzung drängte es in die Vergangenheit des Gewesenen ab, weil mit Fakten besser als mit Ereignissen argumentiert werden kann. Unter Hinweis auf das, was einmal geschehen und nunmehr als solches argumentativ ins Feld geführt werden kann, wird der polemische Angriff abgewehrt. Damit gewann die urchristliche Heilsverkündigung zweifellos eine für die Zwecke der Selbstverteidigung wichtige apologetische Spitze, dies jedoch um den Preis

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der Dimension, die gerade durch die Wundererzählungen vergegenwärtigt worden war : der Dimension des Heiles.

Wege zur Wiedergewinnung Die Perikope von der Heilung des Gelähmten wirkt deshalb so paradigmatisch, weil sie, in ihrem Gegensinn gelesen, den Weg zur Wiedergewinnung der verlorenen Dimension bezeichnet. Deutlicher als in vergleichbaren Wundergeschichten sind in der überlieferten Textgestalt die literarischen Spuren des Umschichtungsprozesses zu erkennen. Nachdem die Szene zunächst ganz im Zeichen der auf Jesus gerichteten Heilserwartung steht, von der die Freunde des Gelähmten derart ergriffen sind, daß sie sich mühsam zu ihm über das Dach vorarbeiten, tauchen in der Mitte der Perikope unversehens die zweiflerischen Schriftgelehrten auf, die durch ihre unausgesprochene Kritik die Reaktion Jesu auslösen und schließlich durch das Wunder zum Schweigen gebracht werden. Aus dem zugesprochenen Heil wird so die beweiskräftige Wundertat, aus dem heilsmächtigen Wort das apologetische Argument. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist der „Erweis des Geistes und der Kraft“, in dessen Verschwinden Lessing, wie eingangs vermerkt, das große Defizit des neuzeitlichen Christentums erblickte. Wenn es dabei nicht bleiben soll, muß der von der Wundergeschichte durchlaufene Weg im Gegensinn beschritten werden. Das aber heißt konkret, daß die systematisierte Aussage in das apologetische Argument und der durch beide bestimmte Bericht schließlich in die ursprüngliche Zusage „zurückübersetzt“ werden muß. Die Wiedergewinnung der therapeutischen Dimension ist somit an einen Akt der „Rückübersetzung“ gebunden. Dabei ist auch schon klar, daß dieser Akt nicht mit der exegetischen Methode gleichen Namens verwechselt werden darf. Ziel dieser Rückübersetzung ist somit nicht der aramäische Wortlaut der Sprache Jesu und seiner Apostel, sondern das volle Sprachvolumen der Mündlichkeit. Es geht somit, anders gewendet, um die Wiedergewinnung jener Sprachqualitäten, die schon bei der Verschriftung der lebendigen Botschaft „ausgefiltert“ wurden, bei denen in erster Linie an die sprachliche Empirie- und Evidenzvermittlung zu denken ist. Ein erster Schritt auf diesem – zweifellos recht schwierigen – Weg ist schon dann getan, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Wundergeschichten nicht in erbaulicher Absicht, sondern mit der Tendenz gepredigt wurden, das in ihnen ausgesagte Heil im kerygmatischen Wort so aufleben zu lassen, daß es den heils- und heilungsbedürftigen Adressaten unmittelbar zugute kam. Schon damit ist eine fundamentale Erkenntnis gewonnen. Denn nun wird klar, daß von „Heil“ in den vom Evangelium gemeinten Sinn nur präsentisch gesprochen werden kann. Heil ist keine Kategorie der Historie, sondern der allzeit währenden Aktualität. Und selbst dort, wo von „gesche-

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henen“ Heilserweisen die Rede ist, stehen diese im Kontext der „geschehenden“ Geschichte, die den Hörer der Botschaft mit umgreift. Der entscheidende Schritt auf dem eingeschlagenen Weg besteht jedoch in der Ausleuchtung des anthropologischen Rückbezugs. Worin besteht denn eigentlich die Heilsbedürftigkeit, auf die sich der Selbsterweis des Heilbringers bezieht? Spiegelbildlich zur doktrinalen Fixierung des Heilsbegriffs engte sich das Verständnis davon, wie bereits angedeutet, immer mehr auf den Komplex „Sünde“ ein. Indessen wurde auch schon klar, daß sich die Heilszusage Jesu keineswegs auf den damit bezeichneten Teilbereich menschlicher Heillosigkeit beschränkt. Zwar hat er bei seinem Heilswirken durchaus die Sündennot der Menschheit – und sie in ihrer ganzen Furchtbarkeit – vor Augen; doch tritt sie ihm nicht weniger drastisch in anderen Erscheinungsformen entgegen. Wenn man mit Kierkegaard die „Große Einladung“ als Schlüsselwort begreift, sieht man sich sogar zu dem Eingeständnis genötigt, daß es primär nicht die „Sünder“ – im spezifischen Sinn des Ausdrucks sind, denen er seine rettende Hilfe zuwendet, sondern die in menschliche Bedrängnis Geratenen, die von ihrer Lebenslast Erdrückten und damit jene, die in seiner Sprache die Menschen des „gebrochenen Herzens“ heißen. So scheint ihn auch der Matthäus-Evangelist verstanden zu haben, wenn er das Bildwort vom „gebrochenen Rohr“ und „glimmenden Docht“ aufgreift, um das Profil der von Jesus vorzugsweise angesprochenen Menschen zu verdeutlichen. Doch was ist damit für die aktualisierende Rückübersetzung der Botschaft erreicht? Nichts geringeres als die mit der Rückübersetzung erstrebte Aktualität! Denn die vom Neuen Testament zur menschlichen Heilsbedürftigkeit gerechneten Notstände erscheinen spontan in einem geradezu verblüffenden Gegenwartsbezug. Während ein fortschreitender Schwund des Sündenbewußtseins vielfach den Eindruck erweckt, als müsse mit einem bedrohlichen Verfall der Moralität gerechnet werden, wirkt der angeblich durch diesen Vorgang ent-schuldigte Mensch keineswegs, wie doch zu erwarten wäre, befreit und unbeschwert. Vielmehr läßt seine depressive Grundstimmung darauf schließen, daß sich sein sittliches Bewußtsein nicht verflachte, sondern lediglich veränderte. Nicht von einer Abstumpfung, sondern von einer Schwerpunktverlagerung muß im Blick auf seine moralische Verfassung gesprochen werden. Stand der „Sünder“ vor dem Eindruck, dem göttlichen Willen nicht entsprochen zu haben, so hat der heutige Mensch eher das Gefühl, seiner Lebensaufgabe nicht mehr gewachsen zu sein. Ging es also bisher vorwiegend um den Konflikt mit dem göttlichen Gesetzgeber, so heute eher um eine Schwierigkeit mit Gott als Schöpfer. Es ist das Problem Hiobs, der den Tag seiner Geburt verflucht, an dem der heutige Mensch insgeheim laboriert. Ein Riß geht durch ihn hindurch, der ihn von sich selbst, genauer gesprochen, vom Faktum seines Daseins trennt. Das Leben ist für ihn durchaus nicht mehr „der Güter höchstes“, sondern eher eine drückende Last, wenn nicht gar eine unerträgliche Hypothek. Was ihn beschwert, ist somit nicht so sehr das Gefühl seines sittlichen Versagens als vielmehr das der „Unfähigkeit zu sich selbst“.

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Der Akt der von Guardini geforderten „Annahme seiner selbst“ will ihm nicht oder doch nur bedingt gelingen. So spiegelt sich seine Heilsnot unmittelbar in den Bildern vom geknickten Rohr und dem glimmenden Docht, die deutlicher als jede Analyse das Selbstzerwürfnis zum Ausdruck bringen, unter dem er leidet. Das heißt dann aber zugleich, daß sich der von der Last seines Daseins laborierende Mensch spontan von der Einladung Jesu an die Bedrückten und Bedrängten angesprochen fühlt. Und wenn er die Zusicherung vernimmt „Ich will euch Ruhe geben“ (Mt 11,28), ist ihm auch bereits klar, wie ihm geholfen werden kann. Denn er versteht diese Zusage nicht als Beschwichtigung, sondern als Hinweis auf jene Stabilisierung, zu der er aus eigener Kraft nicht mehr fähig ist. Damit begreift er den an ihn gerichteten Appell aber auch schon als die Selbstzusage dessen, der ihm zur innerer Festigkeit verhelfen will. Der zu ihm spricht, ist keiner aus der Reihe jener Wohltäter, die lediglich Erkenntnisse vermitteln und Wege aufzeigen, nicht jedoch dazu verhelfen können, daß diese Wege auch beschritten und diese Erkenntnisse gewonnen werden. Er ist vielmehr derjenige, der sich in seiner Hilfe selber gibt und der darum mit seinem Zuspruch nichts verlangt, was er nicht durch sich auch ermöglicht. Damit ist dann aber auch schon geklärt, in welcher Weise hier vom Heil die Rede ist. Weder in doktrinal-abstrakter noch in apologetisch-argumentativer Form, sondern ereignishaft, so daß das geschieht, wovon die Rede ist. Und das nicht etwa aufgrund einer obskuren Sprachmagie, sondern ganz einfach dadurch, daß sich das Wort für den offenhält, in dessen Namen es gesprochen ist. Denn es ist seinem ganzen Wesen nach „Anrufung“, die nicht aus ihrer eigenen Kompetenz, sondern aus dem Vertrauen auf den lebt, der angerufen sein will, um in seiner Heilsmacht gegenwärtig zu werden. So aber entspricht es dem Gang der Rückübersetzung, die ihr Ziel mit der Ankunft bei dem erreicht, der damals wie heute versichert: „Dein Glaube hat dich gerettet!“ (Lk 17,19).

Die Anwendung Zweifellos wäre mit einem solchen Reden der Grundstein zu einer therapeutischen Theologie gelegt. Von ihrem Aufbau und Aussehen vermittelt der Grundstein jedoch noch keinen Eindruck. Nur soviel steht fest, daß im Vergleich zur Systemtheologie die Rückbindung an den Menschen enger und daß sie dadurch für diesen „bewohnbar“ wäre. Vordringlicher als die Frage nach ihrer Ausgestaltung ist im vorliegenden Zusammenhang aber die nach ihrer Funktion und ihrem Wert. Und das ist fast gleichbedeutend mit der Frage nach ihrem Verhältnis zur wissenschaftlichen Medizin. Denn von der Wiedergewinnung der therapeutischen Dimension ist auch diese betroffen. Das leuchtet jedoch erst ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie auf ihrem Weg durch die Geschichte einen ähnlichen Entwicklungsgang wie die Theologie durch-

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lief. Wie die – vor allem von Hans Schaefer geförderten – Bemühungen um die Konstituierung einer „Sozialmedizin“ erkennen lassen, verlor auch sie das Wissen um die gesellschaftliche Verursachung der Krankheit und damit den Sozialkontext; und von einer Wiederentdeckung der therapeutischen Funktion von Literatur und Kunst kann allenfalls in Ansätzen die Rede sein. Schwerer aber schlägt die Tatsache zu Buch, daß auch die Medizin im Zug der Ausgestaltung ihrer diagnostischen und therapeutischen Verfahren zunehmend szientifisches Gepräge annahm. Das brachte auch sie, so merkwürdig dies klingt, in ein ausgesprochenes Spannungsverhältnis zu dem von ihr „behandelten“ Menschen, den sie zum „Fall“ vergegenständlichen und dadurch einem „strukturellen Leiden“ unterwerfen mußte, um ihre Verfahrenstechniken mit Aussicht auf optimale Wirkung auf ihn ansetzen zu können. So stand im Endeffekt eine wissenschaftlich abstrakt gewordene Theologie einer gleichsinnig strukturierten Medizin gegenüber ; zwischen beiden aber klaffte eine Lücke, die um so weniger unbeachtet bleiben durfte, als sich in ihr das Schicksal des leidenden Menschen entschied. Zwar gab ihm die Theologie lehrhafte Auskünfte über sein Heil, während die Medizin ihm mit ihren – im Fall der Transplantationstechniken bis an die Grenze des Utopischen vorangetriebenen – Verfahren zu Hilfe kam. In der Frage nach dem Sinn seiner Krankheit und der Möglichkeit ihrer inneren Akzeptanz aber sah er sich von beiden Instanzen alleingelassen, und dies nicht selten mit dem tragischen Effekt, daß er gerade aufgrund dieses Unvermögens erneut in die Krankheit zurückfiel. Kein Wunder, daß Heilverfahren unwissenschaftlicher, pseudoreligiöser und obskurer Provenienz zunehmend an Boden gewinnen und ihren Anspruch auf öffentliche Anerkennung geltend machen. Gegen sie wird – bei aller noch so berechtigten Kritik – solange nichts auszurichten sein, als die Lücke zwischen Medizin und Theologie offenbleibt. Denn in dieser Lücke besteht ihr, wenngleich durchaus zweifelhaftes Recht! Im Versuch, diese Lücke zu schließen, besteht nun aber gleichzeitig die vordringlichste Anwendung der therapeutischen Theologie. Damit ist zunächst abgrenzend gesagt, daß es keinesfalls darum zu tun ist, einen Grenzstreit zwischen Theologie und Medizin vom Zaun zu brechen, um etwas von deren Kompetenzen zurückzugewinnen oder auch nur Einfluß auf ihre Behandlungsmethoden zu nehmen. Zwar gehörte – um nur dieses eine Beispiel anzuführen – die Behandlung von geistig Behinderten in altchristlicher Zeit in die Zuständigkeit der Kirche, die dafür sogar eine eigene Weihestufe mit dem Amt des Exorzisten schuf. Mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Psychiatrie ging diese Aufgabe jedoch organisch – und unwiderruflich – in die Zuständigkeit der Medizin über. Und die damit angedeutete „Kompetenzverteilung“ ist ihrer ganzen Natur nach irreversibel. Wohl aber hat die therapeutische Theologie dem vor die Frage nach dem Sinn seines Leidens gestellten Patienten gegenüber eine große und indispensable Aufgabe. Im Hinblick auf den „verwundeten Arzt“, der gerade durch sein Leiden das Heil der Welt bewirkte, wird sie dem Kranken zu einer positiven Bewertung seines

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Leidens verhelfen müssen. Im Gegenzug zur verbreiteten Auffassung, die in Krankheit und Leiden nur eine lästige Unterbrechung des Arbeitsprozesses sieht, wird sie ihm die mit der Krankheit eröffnete Chance zur Selbstbesinnung und Reifung, aber auch zur Umkehr und Sühne zu verdeutlichen haben. Und sie wird ihn im Sinn des alten Axioms, daß Gott mehr noch durch Leiden als durch Forschen erkannt wird, schließlich auch auf den Erkenntniswert der Krankheit hinweisen. In alledem aber muß es ihr Hauptziel bleiben, dem Patienten zur Akzeptanz dessen zu verhelfen, was er zunächst nur als lästigen Einbruch in seinen Lebenskontext, wenn nicht gar als wahren Widersinn ansieht. Auch wird sie nicht verschweigen dürfen, daß der Krankheit eine „mystagogische“ Bedeutung zukommt. Denn so sehr sie es „verdient“, im Sinn der ärztlichen Bemühung „überwunden“ zu werden, ist sie zuletzt, im menschlichen Lebensganzen gesehen, doch zugleich noch etwas ganz anderes: Einübung in den Tod! Mittelbar richtet sich die Botschaft der therapeutischen Theologie aber auch an die Medizin. Gerade weil es ihr nicht darum gehen kann, ihr die im Geschichtsgang gewonnenen Kompetenzen streitig zu machen, kann sie ihr zum Bewußtsein der ihr und ihren Verfahrensweisen gezogenen Grenzen verhelfen. Die aber bestehen, wie bereits angedeutet, in der Vergegenständlichung des Patienten zum „klinischen Fall“ und in dem ihm dadurch auferlegten „strukturellen Leiden“. Zwar spricht nichts dafür, daß darin eine Änderung eintreten kann, da die diagnostischen und therapeutischen Verfahren nur unter der Voraussetzung dieses „Verfremdungsprozesses“ greifen. Doch macht es einen erheblichen Unterschied, ob die Verfremdung des Menschen zum „Fall“ als solche wahrgenommen oder lediglich als technische Notwendigkeit hingenommen wird. Und eine Medizin, die sich, ungeachtet ihrer stupenden Erfolge, zugleich als leidverursachend begreift, hat damit bereits einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Überwindung jenes Triumphalismus getan, dem auch die Systemtheologie abschwören muß, um im Vollsinn des Wortes „menschlich“ zu werden. Wenn aber nur dies die Funktion der therapeutischen Theologie wäre, bestünde an ihrem Recht und Wert kein vernünftiger Zweifel.

Dietrich von Schweinitz

Wo ist Gott im OP und am Krankenbett?

Einleitung Der Herausgeber dieses Sammelbandes hat bei Gelegenheit gefordert, dass sich der Arzt auf die Medizin und deren Möglichkeiten für die Heilung einer Krankheit zu konzentrieren habe und dies nicht mit Seelsorge und religiösen Inhalten vermischen dürfe.1 Daran möchte ich mich gerne halten, und so kommt mir im Rahmen dieser Vorlesungsreihe der ganz praktische Teil zu. Als ich Gunther Wenz zum gewünschten Inhalt meines Beitrags befragte, bat er mich, aus der Perspektive eines Christenmenschen über meine alltägliche ärztliche Praxis zu berichten. Diese bezieht sich im Wesentlichen auf die Mitwirkung bei den Versuchen, in der Regel körperliche Gebrechen von Kindern zu einer Heilung zu bringen. So kommt das „Heil“ in meinem Beitrag wenn überhaupt nur am Rande vor. Auf die Frage des Titels meines Beitrags werde ich somit keine wirklich klare Antwort geben können, sie könnte aber – wenn man will – eine Anregung für weiterführende Diskussionen vor allem auch mit Theologen sein. Sie schwingt zudem sicher in meinem Beitrag immer wieder mit, vor allem dort, wo es um Probleme ethischer Entscheidungen gehen wird, die ich hier aus christlicher Sicht darstellen möchte. Im Folgenden will ich erst kurz über einige allgemeine Aspekte ärztlichen Handelns bezogen auf meine Tätigkeit berichten und danach anhand von konkreten Beispielen auf die folgenden Problemfelder der heutigen Medizin, wie ich sie erlebe, eingehen: – – – – – – – –

die Risikoabschätzung ärztlicher Maßnahmen experimentelle Eingriffe beim Patienten ausbleibende Heilung und Therapiezieländerung das Sterben von Kindern Grenzen und Fehler ärztlichen Handelns religiös motivierte Operationen medizinische Forschung die Ökonomisierung der Medizin

Schon aufgrund des möglichen Umfangs meines Beitrags kann ich hier die genannten Problemfelder nur anreißen, ohne sie in aller Tiefe zu diskutieren, 1 Vgl. Wenz, Vorwort, 2006.

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möchte damit aber vor allem Denkanstöße aus der klinischen Praxis zum Hauptthema dieser Reihe „Heilung und Heil“ geben. Ich werde im Folgenden der Einfachheit halber jeweils von dem Arzt und dem Patienten oder Kranken berichten und meine damit implizit auch alle weiblichen Angehörigen dieser Gruppen.

Allgemeine Aspekte ärztlichen Handelns Der Fokus des Handelns eines Arztes sollte primär auf die Behandlung der Krankheiten seiner Patienten mit dem Ziel von deren Heilung, d. h. einer institutio ad integrum sein. Er oder sie soll dies professionell nach bestem Wissen gemäß seiner bzw. ihrer Kenntnisse durchführen. Die ethische Grundlage hierfür ist bei Ärzten meistens der Inhalt des Hippokratischen Eides2 oder moderner der Genfer Deklaration des Weltärztebundes3. Deren wesentlichen Inhalte sind: – – – –

die Erhaltung von menschlichem Leben Handeln zum Nutzen des Patienten den Kranken vor Schaden behüten die Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht.

Diese Inhalte sind dabei durchaus mit denen einer christlichen Ethik im Wesentlichen kongruent. Ein dezidiert christlich orientierter Arzt wird nun hieraus vielleicht ein zusätzliches Engagement entwickeln in dem Bestreben, den von Jesus formulierten Erwartungen zu entsprechen, zum Beispiel der Aussage: „Was du getan hast dem Geringsten unter deinen Brüdern, das hast du mir getan“ (Mt 25,40), und gleichzeitig kann er sich in seiner Tätigkeit bei Gott angenommen und wohl geborgen fühlen.4 An dieser Stelle ist allerdings anzumerken, dass auch außerhalb des europäischen Kulturkreises und in anderen Religionen sehr viele Ärzte ein sehr ähnliches auf den Patienten gerichtetes Engagement zeigen. So habe ich zum Beispiel in Indien viele kinderchirurgische Kollegen und Kinderärzte erlebt, die mit großem Engagement unter zum Teil sehr schwierigen Bedingungen ihre Patienten behandeln. Meine eigene ärztliche Tätigkeit bezieht sich auf die allgemeine Chirurgie von Kindern und Jugendlichen im Alter vom Früh- und Neugeborenen bis zu 16 Jahren. Hierbei umfasst die Kinderchirurgie ein breites Spektrum von Diagnosen, das von der viszeralen Chirurgie über die Unfallchirurgie, die Urologie, die plastische Chirurgie bis zu einigen Eingriffen der Neurochir2 Bondolfi/MUller, Medizinische Ethik im ärztlichen Alltag, 1999, 435 f. 3 Ebd., 437. 4 MUller, Der Beitrag des Christentums zur medizinischen Ethik, 1999.

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urgie bei Kindern reicht.5 Mein spezielles Engagement gilt dabei der komplexen Chirurgie von Fehlbildungen und Krankheiten der inneren Organe und vor allem auch der Krebschirurgie bei jungen Kindern. So werden auch meine Beispiele zum großen Teil aus diesem Patientenkreis kommen. – Bei Kindern ist man ja wohl noch sehr viel eher geneigt, diese ganz elementar als Geschöpfe Gottes anzusehen. „Lasset die Kinder zu mir kommen“, sagte Jesus (Mk 10,14). So ist man bei kranken und leidenden Kindern sehr oft emotional auch persönlich betroffen. In der Klinik fällt es so nicht immer ganz leicht, diagnostische und therapeutische Erwägungen nur rational, sozusagen wissenschaftlich nüchtern zu erwägen und beim Operieren immer den notwendigen inneren Abstand und kühlen Kopf zu bewahren. Und doch ist dies natürlich notwendig und fast immer auch möglich, wenn man sich dies immer wieder ins Bewusstsein bringt. Nun zu den genannten Problemfeldern der heutigen Medizin.

Risikoabschätzung ärztlicher Maßnahmen Permanent geht es beim ärztlichen Handeln um die Abschätzung der Risiken von Tun oder Unterlassen einer Maßnahme. So erlebten wir dies in besonderer Weise vor einiger Zeit. Ein 18 Monate alter Junge war uns aus einer anderen Universitätsklinik zuverlegt worden. Dieses Kind hatte verschiedene Fehlbildungen innerer Organe. Ein schwerer Herzfehler war bereits teilweise korrigiert worden und das jetzige Problem war eine abnorme und sehr breite Verbindung (tracheo-ösophageale Spalte6) zwischen der Luftröhre und der Speiseröhre, weshalb das Kind selbst an der Maschine nur insuffizient zu beatmen war ; gleichzeitig war eine zweite Herzoperation bald notwendig. Deshalb stand nach ausführlicher Diagnostik nun relativ dringend die Korrektur dieser Fehlbildung an. Nach intensiver Diskussion, ob wir diese Operation unter konventioneller Beatmung ausführen könnten, ohne dass ein schwerer Sauerstoffmangel mit einem möglichen Hirnschaden auftreten würde, oder ob wir die Operation unter Anwendung einer Herz-Lungen-Maschine zusammen mit den Herzchirurgen machen müssten, dies aber verbunden mit dem Risiko einer weiteren Schädigung des Herzens, haben wir uns für die erste Variante entschieden. Die Operation war mit großer Anspannung verbunden, verlief aber glücklicherweise ohne schwere Einbrüche in der Beatmung. Das Kind hatte sich bald so weit erholt, dass die nötige zweite Herzoperation durchgeführt werden konnte und ist heute gut gediehen. – In einem anderen Fall waren wir weniger erfolgreich: Ein 312 Jahre alter Junge mit einem riesigen bösartigen Bauchtumor wurde zu uns verlegt mit der Frage, ob 5 Heinrich/Neuhaus/von Schweinitz, Kinderchirurgie, 2013. 6 Ure/Dingemann, Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen, 2013.

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wir den Tumor entfernen könnten. Leider hatte der Tumor über mehrere Monate überhaupt nicht auf Chemotherapie angesprochen und alle Experten waren sich einig, dass die einzige Überlebenschance für das Kind darin bestünde, den Tumor chirurgisch so radikal wie möglich zu entfernen und eventuelle kleine Reste danach zu bestrahlen. Mehrere andere Kinderchirurgen hatten diese Operation wegen des hohen Risikos bereits abgelehnt. Die Eltern des Kindes drängten sehr auf die Operation. So haben wir uns entschlossen, den Versuch zu wagen. Die Operation verlief zunächst auch ganz gut und der mäßig schwere Blutverlust konnte durch die Anästhesisten gut ausgeglichen werden. Dann aber kam es plötzlich zu einem Herzstillstand, wohl bedingt durch den Schaden, den die viele Chemotherapie zuvor bereits an dem Herzen bewirkt hatte, das nun die große Belastung dieser Operation nicht mehr tolerierte.7 Alle unsere Wiederbelebungsversuche waren erfolglos und das Kind verstarb. In diesem Fall hatten wir das Risiko unserer Operation zu niedrig eingeschätzt. Allerdings wäre das Kind ohne die Operation sicher einige Wochen später am Tumor ebenfalls verstorben. – In beiden geschilderten Fällen hatten wir nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, dennoch war der Erfolg im ersten Fall eine große Erleichterung, der Misserfolg im zweiten Fall eine erhebliche Belastung für alle Beteiligten. Eine christliche Lebenseinstellung mag da bei der Verarbeitung durchaus eine Hilfe sein. Manchmal kann eine solche Orientierung vielleicht auch helfen, dazu bereit zu sein, sich nach sorgfältiger Prüfung aller möglichen Aspekte und Optionen auch einmal im Sinne eines Patienten für einen riskanteren Weg zu entscheiden. Einem gläubigen Chirurgen mag dann auch einmal ein Gebet vor einer schwierigen Operation eine Hilfe sein. Wenn diese dann gelungen ist und zur Heilung führt, kommt neben der Freude und vielleicht ein wenig Stolz auch das Gefühl der Dankbarkeit auf in dem Wissen, dass wir selber nicht alles aus uns selbst heraus schaffen und bewirken können. Im zweiten geschilderten Fall hat sich übrigens die Familie des verstorbenen Kindes ausdrücklich bei uns dafür bedankt, dass wir den Versuch der Tumorentfernung unternommen haben.

Experimentelle Eingriffe beim Patienten Auch als Arzt kommt man immer wieder einmal in die Situation, sich zwischen zwei Möglichkeiten des Handelns entscheiden zu müssen, die beide ihre Berechtigung haben. Dies kann zum Beispiel vorkommen, wenn einem Patienten nur ein ganz ungewöhnlicher, quasi experimenteller Eingriff das Leben retten kann, dessen Ausgang vorher aber ungewiss ist. So wurde vor einigen Jahren ein Neugeborenes mit einer Trachealagenesie in unserer Klinik auf7 Kager/Langebrake/Kastner, Chemotherapie, 2006.

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genommen. Bei der extrem selten vorkommenden Trachealagenesie fehlt den Kindern die Luftröhre und es besteht nur eine Verbindung zwischen der Speiseröhre und der Aufzweigung zu den beiden Bronchien.8 So war es auch bei diesem Neugeborenen, das in den ersten Lebenstagen mühsam über die Speiseröhre und diese abnorme Verbindung atmete. Dieses Atmen über die Speiseröhre funktioniert aber fast immer nur wenige Tage ausreichend, weil die eher enge Verbindung zuschwillt, die weiche Speiseröhre kollabiert und die Kinder schließlich ersticken. Leider gibt es bisher keinen guten funktionellen Ersatz für die sehr komplex aufgebaute Luftröhre, so dass bis heute weltweit quasi alle Neugeborenen mit dieser Fehlbildung in den ersten ein bis zwei Lebenswochen verstorben sind. Nun ergab die Diagnostik bei unserem Patienten, dass er außer der Trachealagenesie keine weitere relevante Fehlbildung hatte und er deshalb für den Fall, dass wir doch irgendeinen Ersatz für die Luftröhre rechtzeitig herbeischaffen könnten, vielleicht ein relativ normales Aufwachsen und Leben haben könnte. In einer ähnlichen Situation hatte Jahre zuvor einmal mein Vorgänger einem derartigen Neugeborenen durch den Ersatz der fehlenden Luftröhre mit dem linken Bronchus zum Überleben verholfen. Seinerzeit war aber unter der sehr aufwendigen Operation der Sauerstoffmangel bei dem Kind so groß geworden, dass es einen schweren Hirnschaden davontrug und nun zerebral schwer behindert ist. Nachdem auch eine intensive Literaturrecherche keine anderen sinnvollen Optionen hervorbrachte, blieb also auch für unseren Patienten nur die Möglichkeit, in einer quasi experimentellen Operation den linken Lungenoberlappen zu entfernen, den linken Hauptbronchus als Ersatz für die Luftröhre zu benutzen und den linken Lungenunterlappen an diese Ersatzluftröhre wieder anzuschließen. Wir Ärzte konnten uns vorstellen, dass dies technisch eigentlich machbar sein müsste, das Risiko von Beatmungsproblemen und einem längeren Sauerstoffmangel war aber nicht sicher abschätzbar. Wir haben diese Option dann mit den noch jungen Eltern sehr intensiv besprochen und ihnen natürlich auch gesagt, dass auch bei technischem Gelingen der Operation sehr wohl ein Hirnschaden durch Sauerstoffmangel bei ihrem Kind die Folge sein könne. Die Eltern haben sich zwei Tage Bedenkzeit erbeten und das Problem auch in ihren Familien besprochen. Nach diesem Wochenende haben sie dann sehr eindeutig gewünscht, diese Operation nicht durchzuführen und ihr Kind lieber sterben zu lassen, weil sie und ihre Familien sich ein Leben mit einem schwer behinderten Kind nicht vorstellen könnten. Angesichts der Unsicherheit des Ausgangs dieser experimentellen Operation haben wir dies auch akzeptiert und das Kind verstarb sehr rasch nach zwei weiteren Tagen. Ich denke, dass es hier auch aus Sicht der ärztlichen Ethik und aus christlicher Sicht keine richtige oder falsche Entscheidung gibt und dass es vor allem wichtig ist, dass alle Beteiligten, vor allem natürlich die Eltern mit der Entscheidung auch langfristig gut leben können. Hierfür sind die Betreuung und 8 de Groot-van der Mooren/Haak/Lakeman [u. a.], Tracheal agenesis, 2012.

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Gespräche mit den Eltern eines solchen Kindes außerordentlich wichtig, in denen einerseits die Professionalität der betreuenden Personen, andererseits aber auch deren emotionales Engagement und mitmenschliches Einfühlungsvermögen zum Ausdruck kommen. Auch hierbei kann der Glaube natürlich eine große Hilfe sein.

Ausbleibende Heilung und Therapiezieländerung Glücklicherweise können wir in der Kinderchirurgie die allermeisten Patienten einer Heilung zuführen oder doch zumindest eine partielle Heilung mit Restbehinderungen erreichen. Aber gerade in der Kinderonkologie kommt es immer wieder einmal vor, dass ein bösartiger Tumor auch bei einem Kind nicht oder nicht mehr auf Chemotherapie oder Bestrahlung anspricht und mit einer Operation ebenfalls keine Heilung erreicht werden kann. Nachdem gerade bei jungen Kindern eine Lebensverlängerung meist nicht ein Ziel der Therapie ist, muss man sich dann entschließen, von einem kurativen auf einen palliativen Ansatz für die Therapie umzustellen. Wir nennen das „Therapiezieländerung“. Diese ist oft sehr schmerzhaft und schwierig, und bedarf vieler Überlegungen und Gespräche, insbesondere mit den Eltern und gegebenenfalls dem Kind selber, während oft die Patienten schon spüren, dass eine Heilung nicht mehr möglich ist. Diese Phase ist mit viel Verzweiflung, Bitterkeit und Aufbäumen, oft auch totaler Ablehnung verbunden und erst die Erkenntnis und Akzeptanz von allen Beteiligten, dass eine Heilung nicht mehr möglich ist, ermöglicht den Weg frei zu machen für Maßnahmen der Palliativmedizin, um dem Patienten für seine letzte Lebensphase eine möglichst gute Lebensqualität zu ermöglichen.9 Dass während einer solchen Phase aber auch aus völliger Verzweiflung ein getröstetes Akzeptieren entstehen kann, zeigt ein weiteres Beispiel: Vor einigen Jahren wurde uns aus Russland ein zweijähriger Junge mit einem großen bösartigen Lebertumor zur Operation gebracht, nachdem die dort gegebene Chemotherapie ein nur schlechtes Ansprechen des Tumors bewirkt hatte. Die uns vorher geschickten Berichte und Röntgenbilder deuteten darauf hin, dass die Entfernung des Tumors wahrscheinlich zwar schwierig, aber möglich sein würde. Als das Kind ankam, war es in einem deutlich schlechteren Zustand als angenommen und unsere Diagnostik ergab den Nachweis von zusätzlich vorliegenden Fernmetastasen in der Lunge. Damit war das Kind nicht mehr heilbar, nun aber in einem zu schlechten Allgemeinzustand, um den Rückflug nach Russland überstehen zu können. Die junge Mutter des Kindes, die es begleitete, war alleinstehend und sprach nur russisch. Von den Dolmetschern erfuhren wir, dass die Familie all ihr Geld für die Behandlung in unserem Klinikum zusammengetragen hatte, 9 FUhrer/Duroux/Borasio, Können Sie denn gar nichts mehr für mein Kind tun?, 2006.

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und die Mutter nur mit einem geheilten Kind zurück nach Hause wollte oder gar nicht. So waren wir in großer Sorge, dass sie sich etwas antun würde, wenn das Kind verstirbt. Nachdem ein Versuch einer psychologischen Betreuung bei uns im Klinikum scheiterte, konnten wir über unsere Krankenhausseelsorge Kontakt zum Priester der russisch-orthodoxen Gemeinde unserer Stadt aufnehmen. Dieser kümmerte sich in den folgenden Tagen sehr intensiv um die Mutter und besuchte sie zweimal am Tag auf unserer Intensivstation. Währenddessen wurde das Kind dort palliativ-medizinisch behandelt und verstarb nach vier Tagen. Bis dahin war die Mutter so weit, dass sie den Tod ihres Kindes akzeptieren konnte. Mit Hilfe von Spendengeldern wurde der Leichnam nach orthodoxem Ritus versorgt und konnte dann auch nach Hause für die Beerdigung in Russland zurückgeflogen werden. Später schrieb uns die Mutter einen Brief, dass sie sehr froh sei, dass ihrem Kind bei uns ein so würdevolles Sterben ermöglicht worden sei, was offensichtlich in vielen russischen Kliniken nicht so gut möglich ist. Hier ist auch ohne Heilung – vielleicht auch durch den Glauben – ein Weg eröffnet worden, der es der Mutter ermöglichte, den Tod ihres Kindes anzunehmen und ihr eigenes Leben weiterzuleben.

Sterben von Kindern Gerade heute, in Zeiten der modernen Medizin, fällt es uns schwer, mit dem Sterben umzugehen. Dies gilt ganz besonders für das Sterben von Kindern.10 Nachdem die Medizin und Hygiene wie auch unser Wohlstand die Säuglingssterblichkeit in Mitteleuropa um mehr als das 50-Fache reduziert haben und vielleicht auch, weil Kinder bei uns ein so seltenes Gut geworden sind, können wir den Tod eines Kindes kaum akzeptieren. Wir Erwachsenen, inklusive der Mediziner, reagieren mit Angst und vielleicht Verzweiflung und es kommen Fragen auf, wie: – Ist der Tod eines Kindes nicht sinnlos? – Was hat das kurze Leben eines gestorbenen Säuglings für einen Sinn gehabt? – Warum musste dieses unschuldige Kind sterben? – Wie kann Gott so etwas zulassen? Diese Fragen können wir nicht zufriedenstellend beantworten. Für einen Christen mag hier das Wissen um Gottes Mitleiden, seine Empathie und seine Liebe, wie ja gerade auch Jesus diese vorgelebt hat, eine Hilfe sein.11 – Kinder, die schwer krank sind und sterben müssen, machen oft eine besondere Entwicklung durch. Sie scheinen irgendwie sehr rasch zu reifen. Oft wissen sie 10 Niethammer, Das sprachlose Kind, 2008. 11 Huber, Die Theodizeefrage, 2008.

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schon viel eher, dass sie nicht mehr gesund werden können und sterben müssen, als ihr Umfeld, besonders ihre Eltern, dies wahrhaben wollen. Deshalb ist es wichtig, auch bei Kindern mit ihrem baldigen Tod offen umzugehen. Ein Mediziner-Ehepaar berichtete einmal vom Tod ihrer 6 Monate alten Tochter mit den Worten: „Ihr Lebenskreis schien sich einfach ganz schnell zu schließen“, und das Kind lebt seit vielen Jahren im Gedächtnis alle Familienmitglieder intensiv fort. So hat sicher auch ein so kurzes Leben einen Sinn gehabt und dies kann ein großer Trost für die Eltern und die Familie sein.

Grenzen und Fehler ärztlichen Handelns Diese Betrachtungen bringen mich auf die Frage, wie der Arzt mit seinen Grenzen, seinem Scheitern und seinen Fehlern umgeht. Gunther Wenz hat in seiner Eugen-Biser-Vorlesung sehr richtig gesagt, dass „zu einem aufgeklärten ärztlichen Bewusstsein die Einsicht in die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten gehört“.12 Hierzu habe ich oben schon einige Beispiele genannt. Gerade in der universitären Hochleistungsmedizin stoßen wir oft, ja fast täglich an die Grenzen des Machbaren. Uns wird immer wieder bewusst, dass alles was wir können, eigentlich nur Hilfestellungen für eine Heilung sind und dass es hierfür offensichtlich zusätzlich doch immer wieder des Herrgottes bedarf. Dies macht demütig trotz der vielen Erfolge unserer modernen Medizin. Wie aber gehen wir mit unserem persönlichen Scheitern und unseren Fehlern um, zum Beispiel mit einer falschen Entscheidung oder einer missratenen Operation, die auch ohne einen wirklichen Kunstfehler vorkommen kann? Immer wieder merkt man, dass Wegschieben oder Beschönigen von Dingen keine gute Lösung darstellen. Besser ist es, offen damit umzugehen, sich selber und andere, das heißt Mitarbeiter und die Patienten bzw. bei uns deren Eltern damit zu konfrontieren und die Angelegenheit aufzuarbeiten.13 Heute werden hierfür in modernen Kliniken auch Strukturen zur Fehleraufarbeitung vorgehalten. Auch hierbei können aber dem Einzelnen, dem Arzt und dem Patienten, eine christliche Lebenseinstellung und die Gewissheit des Getragenseins durch Gott durchaus helfen.

12 Vgl. Wenz, Vorwort, 2006. 13 Bartens, Die Angst der Ärzte, 2005.

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Religiös motivierte Operationen Hier will ich kurz auf das aktuell so breit diskutierte Problem der Beschneidung von Jungen14 eingehen, das uns Kinderchirurgen ja direkt betrifft. Gerade aus meinem Selbstverständnis als Christ heraus ehre ich das Judentum und den Islam und wünsche, dass sie auch bei uns in Deutschland ohne Abstriche gelebt werden können. Für die rituelle oder religiöse Beschneidung gibt es aber bei uns in Mitteleuropa keine medizinische Notwendigkeit und somit ist dieser Eingriff zunächst einmal eine nicht notwendige Verletzung der körperlichen Integrität des Kindes, die mit Schmerzen und Risiken verbunden ist, und hat mit Heilung nichts zu tun. Verschärft wird dies noch durch die Tatsache, dass es heute auch bei der Phimose, das heißt der zu engen Vorhaut bei Buben, kaum noch eine Indikation für eine Beschneidung gibt, nachdem wir gelernt haben, dass wir Phimosen in fast 90 % der Fälle konservativ mit einer Salbenbehandlung beseitigen können. Also haben wir hier ein echtes Dilemma, in dem aus meiner Sicht ein Kompromiss angezeigt ist. Deshalb kann man eine Genehmigung der religiösen Beschneidung auch vor dem Alter der Einwilligungs-Mündigkeit akzeptieren, wenn die Bestimmungen eine bestmögliche Reduzierung der Risiken des Eingriffs und eine komplette Beseitigung der Schmerzen gewährleisten. Leider ist das mit dem nun gültigen Gesetz15 vor allem bezogen auf Neugeborene und junge Säuglinge nicht zweifelsfrei gegeben. Ich selber habe nie eine religiöse Beschneidung durchgeführt, sondern den Eltern auf Anfrage immer andere Chirurgen genannt, von denen ich weiß, dass sie den Eingriff vornehmen und korrekt durchführen.

Medizinische Forschung Als Universitätsklinik gehört die Forschung zu unseren Aufgaben. Neben einer Reihe von klinischen Studien beschäftigen wir uns im Laboratorium vor allem auch mit der Entstehung und der Biologie von kindlichen bösartigen Tumoren. Forschung ist wichtig, denn nur durch sie kann die Medizin Fortschritte machen und die vielen ungelösten, in der Klinik wichtigen Fragen beantworten. Jedoch muss die Forschung mit Tieren und Menschen besonders behutsam umgehen und aus christlicher Sicht die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27) beachten.16 Dies gilt natürlich in ganz besonderer Weise für Kinder, die ja zum Beispiel im Fall von klinischen Studien nicht selber 14 Merkel, Minima moralia, 2012. 15 Bürgerliches Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland, §1631d Beschneidung des männlichen Kindes vom 20. 12. 2012. 16 Wiesing/Parsa-Parsi, Deklaration von Helsinki – Neueste Revision, 2009.

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einwilligungsfähig sind. Deshalb gibt es in Europa und Nordamerika auch ganz besonders strenge Bestimmungen für klinische Studien bei Kindern, zum Beispiel Arzneimittelstudien. Dies aber hat wiederum dazu geführt, dass sehr viele Arzneimittel bei Kindern verwendet werden müssen, ohne dass diese bei Kindern getestet und für dieses Alter zugelassen sind. Für mich ist es wichtig, dass die Forschung nicht Selbstzweck ist, sondern möglichst direkt zur Lösung eines medizinischen Problems beiträgt. So kam es zum Beispiel vor einigen Jahren bei einem Kind, bei dem wir einen großen Bauchtumor entfernen wollten, zu einer schweren Gefäßverletzung und Blutung, so dass wir die Operation abbrechen mussten. Dabei stellten wir fest, dass die Wand des verletzten großen Gefäßes vom umgebenden Tumor quasi zerfressen war.17 In den nächsten Jahren haben wir beobachtet, dass dieses Phänomen bei ca. 10 – 15 % der Patienten mit diesem speziellen bösartigen Tumor, einem Neuroblastom, vorkommt. Daraufhin haben wir ein Forschungsprojekt gestartet, in dem wir im Labor das Tumorgewebe von diesen Neuroblastomen untersuchen, um festzustellen, was diese Tumoren zu einem derart aggressiven Wachstum befähigt. In der Zwischenzeit haben wir bestimmte Moleküle in diesen Tumorzellen gefunden, die unter Umständen hierfür verantwortlich sind.18 Wenn wir mehr darüber gelernt haben, könnten wir vielleicht einmal auch ein spezifisches Gegenmittel gegen dieses aggressive Wachstum entwickeln. Für mich sollte bei der medizinischen Forschung immer der Mensch im Fokus bleiben und in seiner Integrität und eben auch in seiner Gottesebenbildlichkeit geachtet werden. Ich denke, dass man unter dieser christlich orientierten Maxime auch in den umstrittenen Feldern wie der Embryonenforschung und der Gentechnik Wege finden kann, die einerseits den Bedürfnissen moderner Forschung gerecht werden, andererseits aber auch den Wert und die Einzigartigkeit individueller Menschen nicht beeinträchtigen.

Ökonomisierung der Medizin Zum Ende meines Beitrags möchte ich das Phänomen der zunehmenden Ökonomisierung der Medizin bei uns in Deutschland19 erwähnen. Die moderne Medizin wird immer teurer und ermöglicht vor allem immer mehr Menschen glücklicherweise ein längeres Leben, so dass diese zwei Faktoren sich potenzieren und die Kosten rapide in die Höhe treiben. Dieser Prozess ist außer durch strikte Rationalisierung vielleicht gar nicht zu stoppen. Mir fällt es als Arzt dabei allerdings schwer zu akzeptieren, dass uns diese Problematik 17 Bartens, Die Angst der Ärzte, 2005. 18 Kappler/MUller-Hçcker/Kremer/von Schweinitz, Upregulation of genes involved in TGF/BMP signalling is characteristic for invasive neuroblastoma, 2012. 19 Berndt, Vorsicht Klinik, 2013.

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täglich in der klinischen Praxis begleitet und dass das ökonomische Denken dabei ist, sich endgültig in den Vordergrund zu schieben. Für das generelle Problem habe ich auch keine gute Lösung und denke, dass dieses nur auf gesellschaftlicher Ebene in einem allgemeinen Konsens gefunden werden kann. Hierfür wünsche ich mir natürlich, dass dies bei uns auf christlicher Basis geschieht. Ich wehre mich aber dagegen, dass die Ökonomie in der täglichen ärztlichen Praxis die Oberhand gewinnt. So wurde mir bei einem Budgetgespräch für meine Klinik gesagt, dass sich die großen Tumoroperationen finanziell für unser Klinikum nicht lohnen würden und ich diese doch besser einstellen soll. Nachdem speziell hierfür die oft sehr kranken Kinder von weit her extra anreisen und wir die Mehrzahl von diesen geheilt nach Hause zurückschicken können, will ich das natürlich nicht, muss mich aber weiterhin auf Auseinandersetzungen einstellen.20 Bedenklich finde ich, dass sich das ökonomische Denken zunehmend auch in den Köpfen der Ärzte immer mehr ausbreitet und es immer schwerer wird, sich dagegen zu wehren. So habe ich vor einigen Monaten an einer Tagung von Professoren und Klinikchefs zur Besprechung von Entwicklungsstrategien für Universitätskliniken teilgenommen und erlebt, dass etwa 80 % der Zeit über ökonomische Aspekte diskutiert wurde und nicht über Fragen der Weiterentwicklung der klinischen Medizin und der Forschung. Ich glaube, dass wir uns hier auf einem Holzweg befinden. Vielleicht wäre auch hier die Rückbesinnung auf christliche Werte hilfreich, um in unserem Gesundheitssystem den Menschen wieder in den Mittelpunkt unseres Denkens zu stellen.

Schlussgedanke Wo ist nun Gott in meiner Klinik? Für mich ist er überall dort, wo ich mich auf ihn besinne und versuche, meinen klinischen Alltag mit all seinen Facetten, von denen ich in diesem Beitrag einige besonders markante kurz geschildert habe, unter christlichen Gesichtspunkten zu gestalten. Karl Schlemmer hat das am 30. 11. 2012 in seiner Eugen-Biser-Vorlesung21 so ausgedrückt: „Ich weiß mich in Gottes Hand. Das reicht, vor was sollte ich mich fürchten?“

Literatur Bartens, Werner, Die Angst der Ärzte, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 125, 03. 06. 2005. 20 von Hardenberg, Kind gerettet, Krankenhaus in den Miesen, 2013. 21 Schlemmer, Karl, Zeugnis vom heilenden Gott, siehe in diesem Band unten, 75–87.

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Berndt, Christina, Vorsicht Klinik, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 187, 14./15. 08. 2013. Bondolfi, Alberto/MUller, Hansjakob (Hg.), Medizinische Ethik im ärztlichen Alltag, Basel/Bern, 1999. Bürgerliches Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland, §1631d Beschneidung des männlichen Kindes vom 20. 12. 2012. FUhrer, Monika/Duroux, Ayda/Borasio, Gian Domenico, Können Sie denn gar nichts mehr für mein Kind tun? Therapiezieländerung und Palliativmedizin in der Pädiatrie, Stuttgart 2006. de Groot-van der Mooren, Maurike D./Haak, Monique C./Lakeman, Phillis, [u. a.], Tracheal agenesis: approach towards this severe diagnosis. Case report and review of the literature, in: European Journal of Pediatrics 171 (2012), 425 – 431. von Hardenberg, Nina, Kind gerettet, Krankenhaus in den Miesen, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 179, 05. 08. 2013. Heinrich, Martina/Neuhaus, Kathrin/von Schweinitz, Dietrich, Kinderchirurgie. Basiswissen und Praxis, München 22013. Huber, Wolfgang, Die Theodizeefrage, in: W. Huber, Der christliche Glaube – Eine evangelische Orientierung, Gütersloh 2008, 58 – 63. Kager, Leo/Langebrake, Claudia/Kastner, Ulrike, Chemotherapie, in: H. Gadner/G. Gaedicke/C. Niemeyer/J. Ritter (Hg.) Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, Heidelberg 2006, 560 – 577. Kappler, Roland/MUller-Hçcker, Josef/Kremer, Nathalie/von Schweinitz, Dietrich, Upregulation of genes involved in TGF/BMP signalling is characteristic for invasive neuroblastoma. (Abstract), in: Pediatric Blood and Cancer 59 (2012), 1056. Merkel, Reinhard, Minima moralia, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 276, 26. 11. 2012. MUller, Denis, Der Beitrag des Christentums zur medizinischen Ethik, in: A. Bondolfi/H. Müller (Hg.), Medizinische Ethik im ärztlichen Alltag, Basel/Bern 1999. Niethammer, Dietrich, Das sprachlose Kind. Vom ehrlichen Umgang mit schwer kranken und sterbenden Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2008. Schlemmer, Karl, Zeugnis vom heilenden Gott. Eugen-Biser-Lecture 30. 11. 2012, LMU München, siehe in diesem Band unten. Ure, Benno/Dingemann, Jens, Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen, in: D. von Schweinitz/B. Ure (Hg.), Kinderchirurgie – Viszerale und allgemeine Chirurgie des Kindesalters, Heidelberg 22013, 285 – 304. Wiesing, Urban/Parsa-Parsi, Ramin W., Deklaration von Helsinki – Neueste Revision, in: Deutsches Ärzteblatt 106 (2009), C418–C421. Wenz, Gunther, Vorwort, in: Th. Bretting/G. Wenz (Hg.), Psychotherapie und Seelenheil. Perspektiven aus Religion, Kunst und Wissenschaft, München 2006, 9 – 12.

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Arzt und Priester sind in früheren Kulturen eine Einheit gewesen. Der antike Tempel war beides zugleich: Kultstätte zur Verehrung der Gottheit, und Heilstätte, wohin Kranke gebracht wurden. Im Laufe der Geschichte ließ sich die Synthese des Priester-Arztes nicht aufrechterhalten. Arzt und Priester bzw. Seelsorger sind heute so weit auseinander, dass die Beauftragung des Arztes mit Seelsorge nichts zu tun hat und der Seelsorger in der Regel kaum über ärztliches Wissen verfügt. Diese Teilung ist in der Moderne durchaus sinnvoll und zeitigt nicht nur negative Folgen. Um das neuzeitliche fachärztliche Wissen aufzubauen, ließ sich der Trend zum Spezialistentum nicht umgehen. Es sind aber auch die nachteiligen Auswirkungen zu bedenken, die dieses Auseinanderdriften zur Folge hatte. Theologen verloren manchmal den Blick für die Mächtigkeit der biologischen Abläufe. Der Seelenmonismus konnte nicht mehr wahrnehmen, wie viel innere Not auch vom „Leiblichen“ bzw. Körperlichen ausgeht. Biologisch orientierte Mediziner lassen dafür größtenteils bei der Behandlung von Krankheiten nur noch physiologische und biochemische Komponenten gelten. Der Mensch als Subjekt, als Person, als lebendige Seele, wird in der Organmedizin oft nicht wahrgenommen. In der Regel werden nur einzelne erkrankte Organe registriert, aber nicht mehr das biografische Schicksal des kranken Menschen in seiner Gesamtheit. In unserer technisierten und rasant verlaufenden Welt neigen viele Menschen aber dazu, einseitige naturwissenschaftliche und biochemische Erklärungen für ihre Erkrankung anzunehmen. Es gibt viele Individuen, die in ihrer Krankheit gar nicht auf eine Unordnung in ihrer Lebensführung, auf Beziehungsstörungen oder psychische Probleme angesprochen werden wollen. Eine Auseinandersetzung mit inneren Konflikten, die in der Regel viel Zeit in Anspruch nimmt, ist häufig nicht erwünscht. Vielmehr neigen viele Zeitgenossen dazu, sich durch eine Spritze, eine Tablette oder ein chirurgisches Instrument rasche Hilfe zu verschaffen. Auch dann, wenn sie wissen, dass es dabei nur zu einer vorübergehenden Symptomreduktion kommt. An der Schnittstelle, wo der Seelsorger sich um geistliche Hilfe bemüht, ohne größeres Wissen um das Leibliche, und der biologisch-naturwissenschaftlich orientierte Arzt nur ein beschränktes Interesse am Menschen selbst hat, indem er die Psyche seiner Patienten kaum berücksichtigt, setzt nun das Verdienst der psychosomatischen Medizin ein.

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Die psychosomatische Medizin fragt nun wieder : Warum wird ein Mensch gerade jetzt krank? In welchem Verhältnis steht das geführte Leben zu seiner Krankheit? Oder, warum erkrankt jemand gerade an diesem Organ? Gerade die sogenannten „klassischen Psychosomatosen“ zeichnen sich ja durch manifeste organische Erkrankungen aus, die aber seelische Ursachen haben. Hier seien das Asthma bronchiale, der Morbus Crohn, die Neurodermitis, die essentielle Hypertonie, die koronare Herzkrankheit, Formen von Magengeschwüren und verschiedene rheumatische Erkrankungen genannt. Jeder lebendige Organismus verfügt in abgestufter Weise über die Fähigkeit, eingetretene Schäden zu heilen. Im Tierreich gibt es äußere Verletzungen, wo selbst ganze Gliedmaßen erneuert werden können. Diese Heilkraft der Natur wurde über Jahrhunderte hinweg im ärztlichen Handeln mobilisiert. Dabei lautete der Grundsatz: Medicus curat, natura sanat. Die Heilkraft der Natur wirkt natürlich nicht bei jeder Erkrankung, sondern bevorzugt bei Verletzungen und Infektionskrankheiten. Bei durch psychische Prozesse bedingten Erkrankungen tritt dieser Heilungsaspekt erst einmal in den Hintergrund. Der krankmachende Faktor, der meist in der Lebensgeschichte des Erkrankten verborgen ist, muss durch intensive Auseinandersetzung mit seiner Biografie herausgefunden werden. Um sich auf die Lebensgeschichte eines anderen Menschen intensiv einzulassen, ist allerdings ein Beziehungsaufbau erforderlich, in dem der Kranke sich ernst- und angenommen fühlt und in dem es nicht zu einem Be- und Verurteilen seiner Lebenssituation und von ihm selbst kommt. Wenn wir das Wort Heilung hören, denken wir sofort an die Heilung unserer Krankheiten, an die eigene Gesundheit. In der ursprünglichen Wortbedeutung heißt heil: „gesund, unversehrt, gerettet, ganz, vollständig, frisch, ungeschwächt“. Und, Heil meint auch: „Glück, Gesundheit, Rettung, Bestand“. Wenn wir uns beispielsweise einen „Engel der Heilung“ vorstellen wollen, so könnte dieser zu uns sagen: „Es ist gut, wie dein Leben läuft, nehme alles, was in dir ist, an, versuche zu allen Dingen, die du in dir spürst, ja zu sagen, denn dann ist es möglich, ein Grundgefühl zu entwickeln, was meint: Es ist gut so, wie es ist.“ Um das Vertrauen in sich selbst zu spüren, sagen zu können, es ist gut so, müssen häufig erst Wunden heilen. Jeder von uns trägt Wunden mit sich und in sich. Häufig sind wir in unserer Kindheit verletzt worden, durch die Eltern, durch andere erwachsene Bezugspersonen, durch Lehrer oder durch Gleichaltrige. Auch wenn es oft gar nicht bewusst, gar nicht als Verletzung gemeint war, blieben doch negative Erinnerungen zurück. Verletzungen können dadurch entstanden sein, wenn wir in unserer Einmaligkeit nicht gesehen wurden, wenn über unsere Bedürfnisse und Gefühle einfach hinweggegangen worden ist, oder wenn unsere Grundbedürfnisse nach Liebe und Geborgenheit, nach Sicherheit und Verlässlichkeit nicht erfüllt

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wurden. Auch als Erwachsene werden wir von Verletzungen wohl nie verschont bleiben. Verletzungen, die wir durch Freunde, durch Partner, durch Arbeitskollegen erfahren, gerade an den Stellen, wo wir uns unverstanden fühlen. Wenn alte Wunden aufbrechen, dürfen wir immer die Hoffnung haben, dass sie heilen können. Aber nicht in dem Sinne, dass Heilung bedeutet, die Wunden nicht mehr zu spüren, vielmehr so, dass sie nicht ständig „eitern“. Über unsere Wunden kann eine Narbe wachsen und dann werden sie zu uns gehören, ohne uns am Leben zu hindern. Sie werden dann nicht mehr all unsere Energie auf sich ziehen, ja, sie können durch die Erfahrungen, die wir gemacht haben, sogar zum Leben beitragen, uns lebendig halten und eine Quelle des Lebens für uns sein. Hildegard von Bingen hat es einmal so ausgedrückt, dass sich manche Wunden zu einem kostbaren Besitz wandeln können oder zu einer kostbaren Perle. Dort, wo wir unsere eigenen Wunden spüren und um sie wissen, dort werden wir offen sein für andere Menschen um uns herum, da werden wir sensibler reagieren, wenn sie von ihren eigenen Verletzungen erzählen. Im Gegenüber, in der Auseinandersetzung und in dem sich Einlassen auf Andere, spüren wir uns auch selbst. Wir kommen mit unserem eigenen Selbst in Kontakt. Insofern bringen uns auch andere Menschen dazu, zu sehen, dass uns unsere eigenen Verletzungen nicht am Leben hindern, vielmehr befähigen sie uns zum intensiven Leben. An zwei Beispielen aus dem Neuen Testament möchte ich Ihnen nun aus meiner theologisch-psychoanalytischen Sichtweise entwickeln, wie Jesus Menschen dadurch heilt, dass er mit ihnen in Beziehung tritt. Als erstes Beispiel möchte ich die Heilung des Blinden aus Johannes 9,1 – 12 in den Blick nehmen: Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. 2/Da fragten ihn seine Jünger : Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde? 3/Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden. 4/Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann. 5/Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6/Als er dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen 7/und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach! Schiloach heißt übersetzt: Der Gesandte. Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen. 8/Die Nachbarn und andere, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sagten: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? 9/Einige sagten: Er ist es. Andere meinten: Nein, er sieht ihm nur ähnlich. Er selbst aber sagte: Ich bin es. 10/Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen geöffnet worden? 11/Er antwortete: Der Mann, der Jesus heißt, machte einen Teig, bestrich damit meine Augen und sagte zu mir : Geh zum

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Schiloach, und wasch dich! Ich ging hin, wusch mich und konnte wieder sehen. 12/ Sie fragten ihn: Wo ist er? Er sagte: Ich weiß es nicht.

In der Geschichte, die wir eben gehört haben, heilt Jesus einen Mann, der von Geburt an blind war und Jesus stellt von vornherein klar : Niemand trägt an der Blindheit dieses Mannes Schuld. Weder Eltern, noch Freunden, noch dem Blinden selbst, ist irgendetwas Negatives im Sinne einer Handlung oder Tat vorzuwerfen. In früheren Zeiten wurde Krankheit oft in Zusammenhang mit einem sündigen Leben gesehen, hier aber ist es ausdrücklich anders. Jesus will in dieser Heilungsgeschichte vielmehr darauf eingehen, wie das Beziehungsgefüge zwischen Blindheit und Glauben zu verstehen ist. Das Gefühl nicht richtig gesehen zu werden oder auch manches nicht sehen zu wollen, dürfte vielen Menschen sicherlich bekannt sein. Gerade wenn Sie sich an Ihre eigene Lebensgeschichte erinnern, insbesondere dann, wenn es um Streit und Konflikte geht, taucht oft der Wunsch auf, einfach nichts mehr hören und sehen zu wollen; oder, wie oft fühlen Sie sich im Alltagsleben übersehen, nicht richtig wahrgenommen, zurückgewiesen, blieben unbeachtet und müssen Kränkung und Unrecht aushalten? Wenn wir nun versuchen, uns in den Mann, der seit seiner Geburt blind war, hineinzufühlen, so spüren wir möglicherweise eine innere Spannung mit zwei unterschiedlichen Polen. War er vielleicht ein Mensch, der von Anfang an die Augen verschließen musste vor der äußeren Realität? Wollte er Konflikte in seiner Familie, in der er aufgewachsen ist, nicht sehen und hat deshalb die Augen nicht geöffnet? Oder, gab es doch eine Sehnsucht, die Augen zu öffnen, zugleich aber eine große Angst davor, was er hätte sehen können? Im Leben vieler Menschen gibt es Situationen, die sie nicht anschauen wollen, wo es besser ist, die Augen zu schließen. Vielleicht vor der eigenen inneren Not, vor der eigenen inneren Zerrissenheit, die sich breit gemacht hat. Gerade dann, wenn es sich um Gefühle handelt, die belastend sind, Gefühle der Aggressivität, aber auch Gefühle von Liebe und Zuneigung, die zurückgewiesen werden, dann können wir in unserem Inneren spüren, dass es auch angenehm sein kann, blind zu sein. In der Geschichte, die wir vor uns haben, versucht Jesus den blind Geborenen in mehreren Schritten zu heilen. Zuerst sieht Jesus ihn an, er nimmt also über das Anschauen eine Beziehung zu ihm auf. Dann spuckt Jesus auf den Boden und macht mit dem Speichel und der Erde einen Teig. Der Speichel ist dabei als ein Symbol für etwas ganz Intimes zu verstehen. Ich gebe von mir selbst etwas her, etwas, was aus meinem Inneren heraus kommt. Weiterhin ist der Speichel auch ein Symbol für das Mütterliche. Vielleicht kennen Sie dies noch aus Ihrer eigenen Kindheit, dass Mütter oft mit dem Speichel den Schmutz aus dem Gesicht eines Kindes wegwischen. Oder Sie haben auch schon gesehen, wie im Tierreich Mütter ihre neugeborenen Jungen mit dem Speichel säubern.

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Der Speichel stellt also eine große Nähe zwischen Mutter und Kind her. Eine Geborgenheit, die von der Mutter ausgeht. Diese Geborgenheit ist oft die erste Voraussetzung dafür, dass ein Mensch es wagt, seine Augen zu öffnen und die Wirklichkeit so anzusehen, wie sie ist. Ein Kind, das verschreckt die Augen verschließt und sich hinter der Mutter verbirgt, wird die Augen dann wieder aufmachen, wenn es auf den Arm genommen wird. Dann, wenn es die Nähe und den Schutz der Mutter spürt, vergeht die Angst, die oft genug die Ursache von Blindheit ist. Die Psychoanalyse hat uns eindringlich gelehrt, dass die größten Ängste, die es gibt, diejenigen sind, uns selbst anzuschauen. Die Angst gründet meist darauf, etwas an uns selbst festzustellen, was wir eigentlich gar nicht sehen wollen. Unsere Aggressivität beispielsweise, unsere Triebhaftigkeit oder unsere Neidgefühle. Wir haben Angst, dass wir etwas entdecken und finden könnten, wo wir Schuld auf uns geladen haben und uns dafür schämen. Davor verschließen wir schnell die Augen. Da brauchen wir jemanden, der uns Vertrauen und Geborgenheit schenkt, der uns die Kraft gibt, die Augen zu öffnen und auf Beschämendes zu schauen. Jesus macht mit dem Speichel und dem Sand der Erde einen Teig, den er dem Blinden auf die Augen streicht. Er beugt sich also hinunter zur Erde, zum Humus, um aus dem Humus einen Teig zu bilden. In dem Wort Humus steckt auch das Wort Humilitas, was so viel wie Demut bedeutet, aber auch mit dem Wort Humor zusammenhängt. Häufig ist eine Ursache der Blindheit, sich selbst offen und ehrlich zu betrachten. Es gibt geradezu einen Stolz, eine Überheblichkeit und Humorlosigkeit, mit sich selbst gelassener umzugehen. Denn, auch das ist eine Erkenntnis der Psychoanalyse: Viele Menschen tragen ein Idealbild in sich, ein Bild, wie sie gerne sein möchten, aber dieses Bild hat häufig mit der Realität nichts zu tun. Die Diskrepanz zwischen dem inneren idealen Bild und dem realen äußeren Bild führt oft dazu, dass eigene Möglichkeiten nicht richtig eingeschätzt werden, und dass es in der Folge häufig zu Konflikten mit der Außenwelt kommt. Ein wesentliches Ziel einer analytischen Psychotherapie ist es, das innere Idealbild dem äußeren realen Bild anzugleichen. Das kann bei einer gelungenen therapeutischen Beziehung und Behandlung dazu führen, dass sich der Betreffende selbst mit seinen Fehlern und Schwächen besser annehmen und erst richtig verstehen kann. Ich denke, wir alle kennen Menschen, die ihre eigenen blinden Flecken nicht sehen können, die sich beständig weigern, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Oft halten sie an einer Illusion fest, an einem Bild von sich, was es in der Wirklichkeit nicht gibt. Jesus streicht den Teig aus Speichel und dem Schmutz der Erde dem blind Geborenen auf die Augen. Er bringt ihn also symbolhaft in Berührung mit seinen eigenen Schattenseiten, mit seiner eigenen Erdhaftigkeit, mit seinen

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Fehlern und Schwächen. Damit öffnet Jesus ihm einen Weg zu seiner Menschlichkeit. Weil er den Schmutz, den er in sich selbst trägt, nicht sehen wollte, ist er möglicherweise blind geworden. Aber Jesus bringt ihn liebevoll wie eine Mutter in Berührung mit dem Dreck in seiner Seele, damit er sich selbst mit einem guten und milden Blick anschauen kann. Es ist ein warmer Teig, den Jesus auf die Augen streicht. Behutsam will er den blind Geborenen auf seinen inneren Schmutz hinweisen. Nur wenn er bereit ist, ihn wahrzunehmen, nur wenn er bereit ist, sein Inneres anzuschauen, wenn er seine Augen auf den Schmutz in sich selbst richtet, dann kann er erst die ganze Wahrheit erkennen. Etwas Wesentliches, um wirklich erwachsen zu werden, ist es, sich mit dem Schmutz auszusöhnen, den wir in uns tragen. Psychoanalytisch gesprochen heißt das: Erwachsen werden ist möglich, wenn wir uns den verdrängten inneren, schamhaft besetzten Gefühlen annähern, sie ansehen und uns ihnen stellen. Wie wir an der Beziehungsaufnahme, die Jesus mit dem Blinden gestaltet, wo er wie eine sorgende Mutter auf ihn zugeht, sehen, ist ein großes Vertrauen nötig, um sich sicher fühlen zu können. In dieser Heilungsgeschichte nimmt uns Jesus über die vertrauensvolle Beziehungsaufnahme die Angst, unsere Schattenseiten und die beschämenden Gefühle in uns zu betrachten. Was wir anderen Menschen, auch wenn sie uns noch so nahe sind, nicht sagen können – im Gebet könnte es möglich sein. Vor Gott gäbe es die Chance, alle Gefühle und Gedanken, die uns belasten und vor denen wir selbst Angst haben, zuzulassen und auszusprechen. Das Vertrauen und der Glaube würden uns die Fähigkeit verleihen, uns Gott im Gebet zuzuwenden. Mit diesem Gefühl, mit dem Schutz der mütterlichen Nähe Gottes, kann ich dann den Dingen auf den Grund gehen, da entdecke ich Gott in allem; in der Schöpfung, in den anderen Menschen, in mir, in den Ereignissen meines Lebens. Das Vertrauen in die Beziehung, die mir Jesus anbietet, besteht dann nicht mehr nur in einer Vision, sondern in der Erfahrung, dass auf einmal alles durchlässig wird, dass alles stimmt, dass ich auf einmal ja sagen kann zur Wirklichkeit, wie sie ist. Und so, denke ich, will uns die Geschichte von der Heilung des blind Geborenen sagen, dass wir, wenn wir bereit sind, Gutes und Böses im eigenen Herzen wahrzunehmen, auch sehend werden. Wir können dann die Welt als erwachsene, reife Menschen erkennen, die keine Angst vor ihrer eigenen Schwäche haben müssen. Das wäre die befreiende Botschaft des Evangeliums. Als zweites Beispiel zum Thema „Heilung durch Beziehung“, vielleicht zugespitzter formuliert: „Beziehung schafft Leben“, möchte ich Ihnen den Text aus Johannes 11,17 – 44, wo es um die Auferweckung des Lazarus geht, vorstellen. 17/Als Jesus ankam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grab liegen. 18/Betanien war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt. 19/Viele Juden waren zu Marta

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und Maria gekommen, um sie wegen ihres Bruders zu trösten. 20/Als Marta hörte, dass Jesus komme, ging sie ihm entgegen, Maria aber blieb im Haus. 21/Marta sagte zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. 22/ Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben. 23/Jesus sagte zu ihr : Dein Bruder wird auferstehen. 24/Marta sagte zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tag. 25/Jesus erwiderte ihr : Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, 26/und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? 27/Marta antwortete ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll. 28/Nach diesen Worten ging sie weg, rief heimlich ihre Schwester Maria und sagte zu ihr : Der Meister ist da und lässt dich rufen. 29/Als Maria das hörte, stand sie sofort auf und ging zu ihm. 30/Denn Jesus war noch nicht in das Dorf gekommen; er war noch dort, wo ihn Marta getroffen hatte. 31/Die Juden, die bei Maria im Haus waren und sie trösteten, sahen, dass sie plötzlich aufstand und hinausging. Da folgten sie ihr, weil sie meinten, sie gehe zum Grab, um dort zu weinen. 32/Als Maria dorthin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füßen und sagte zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. 33/Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert. 34/ Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh! 35/Da weinte Jesus. 36/Die Juden sagten: Seht, wie lieb er ihn hatte! 37/Einige aber sagten: Wenn er dem Blinden die Augen geöffnet hat, hätte er dann nicht auch verhindern können, dass dieser hier starb? 38/Da wurde Jesus wiederum innerlich erregt, und er ging zum Grab. Es war eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war. 39/Jesus sagte: Nehmt den Stein weg! Marta, die Schwester des Verstorbenen, entgegnete ihm: Herr, er riecht aber schon, denn es ist bereits der vierte Tag. 40/Jesus sagt zu ihr : Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? 41/Da nahmen sie den Stein weg. Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42/Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herum steht, habe ich es gesagt; denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast. 43/Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! 44/Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden, und lasst ihn weggehen!

Um Menschen zu verstehen, muss man durchleben, was Angst und Verzweiflung ist, nur an der Grenze empfindet man die Beunruhigung, die einen Menschen zum Christen formt. Paul Tillich hat in etwa so ausgedrückt, was es heißt, Menschen im christlichen Sinne zu verstehen. Die Geschichte des Lazarus beginnt an der Grenze, mit dem Äußersten, was Menschen zugemutet werden kann, mit dem Tod. Mit dem Tod ist eine unüberschreitbare Linie gezogen, ob wir sie nun akzeptieren oder nicht. Der Tod ist eine universale Macht, er macht vor niemandem Halt. Und so heißt es schon im Mittelalter : Der Tod ist mitten im Leben. Media

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vita in morte sumus. Dieser Satz des mittelalterlichen Mönches Notker Balbulus meint auf der einen Seite den ständigen biologischen Zerfallsprozess, dem wir von unserer Geburt an ausgesetzt sind, und er meint vor allem: Mitten im Leben gibt es auch jenes andere Tot-sein im sozialen bzw. psychologischen Sinn: Leben und doch ohne Beziehungen sein, Leben und doch zunehmend ins Abseits geraten. Leben, und doch wie Tot-sein. Menschen, die keine Freunde haben und anderen Menschen misstrauen, Menschen, die für niemanden da sind, die aber auch von niemandem in eine Beziehung hineingebracht werden wollen, Menschen, die um niemanden Angst haben, die aber auch nicht wollen, dass man sich um sie sorgt, Menschen, die nicht mehr lachen, die nicht weinen, die aus Ängsten bestehen und die Kontakte und Beziehungen als Bedrohung und Konkurrenz erleben. Diese Gestalt des Todes kann weitaus schlimmer und schmerzhafter als ein biologischer Zerfall sein, denn wir alle wissen, erst Beziehungen, Kommunikation und die Möglichkeit, dass Ich und Du zusammenkommen, macht uns zu Menschen, das ist das Menschliche an uns. Ich denke, diese Gestalt des Todes kennen wir auch selbst. Tod als Angst sich vor anderen Menschen zu offenbaren, sich mit Schwächen zu zeigen und sich anderen damit zuzumuten. Tod als Angst vor inneren Konflikten und Nöten zu sprechen, Tod als Berührungsangst, oder als Angst unser wahres Gesicht zu zeigen. In meinem Beruf als Arzt habe ich viele Menschen kennengelernt, die sich mit diesen Ängsten herumquälten. Da erzählte eine Frau, dass sie als Erstgeborene von vier Kindern eigentlich gar nicht auf die Welt hätte kommen sollen; ihre Eltern waren bei ihrer Geburt erst 17 und 19 Jahre alt. Der Vater habe ihr immer vorgeworfen, dass er nur wegen ihr bei der Mutter geblieben sei, und dass, wenn es schon ein Kind gegeben habe, dann es doch ein Junge hätte werden sollen. Auch von der Mutter erfuhr sie immer wieder, dass sie ihr lästig gewesen sei, und dass sie sie gestört habe, dass sie gerne mit 17 noch ausgegangen wäre und Kontakt zu Gleichaltrigen hätte haben wollen. So wuchs diese Frau in dem Gefühl heran, eigentlich nur zu stören, keinen Wert zu haben und ungeliebt zu sein. Wie sollte sie da ein Gefühl für sich selbst, Freude am Leben oder gar Vertrauen in Beziehungen aufbauen können? Damit sie doch einen Rest von Zuneigung erhaschen konnte, hat sie sich schon sehr früh um die dann folgenden Geschwister, die fünf, acht und zehn Jahre jünger waren als sie, gekümmert, hat versucht, den Eltern alles Recht zu machen, hat keine eigenen Ansprüche gestellt, nur um nicht zu stören, und hoffte so, durch Leistung doch etwas Anerkennung zu erhalten. Jeder weiß, dass dies nur in einem begrenzten Umfang möglich ist. Ihre psychische Energie ist erlahmt, als sie etwa 30 Jahre alt war, eine Beziehung scheiterte, sie ihren Arbeitsplatz verlor und wegen ihres Misstrauens kaum soziale Kontakte hatte. Sie geriet dann in eine tiefe Depression mit Antriebsstörungen, Selbstzweifeln, Interesseverlust, war ohne Perspektive und Ziel, war von Selbstmordgedanken gepeinigt, bis sie dann in Behandlung

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ging. Ein Mensch ohne Hoffnung, abgeschnitten von Beziehungen, ohne Bindung. Ich meine, die Lebensgeschichte dieser Frau ist nichts anderes als eine moderne Fassung der Lazarus-Geschichte: Denn diese Geschichte drückt aus, wie Leben abstirbt und wie viel es in uns innerlich gibt, was wir selbst nicht leben lassen, auch nicht leben lassen können, weil wir zu uns selbst keine positive Beziehung haben. Aber als Psychoanalytiker höre ich noch eine andere Weisheit in der Geschichte von Lazarus, Maria und Marta. Sie alle sind mir nicht als Personen wichtig, denn was hätte ich davon, dass vor rund 2000 Jahren ein Mann aus seinem Grab herauskommt. Ich lese die Geschichte der drei Geschwister einmal so, dass sie Symbole sind – für Stimmen und Anteile, die ich und Sie in uns haben. Marta und Maria stehen dann für Ordnung, Intaktheit, Leistung, äußeres Funktionieren, Versorgen und Anstrengen, wie dies so oft bei Frauen ist. Diese Stimmen lassen die andere Seite, die nichts regeln und organisieren kann, die Seite, wo es um Kreativität geht, die nichts einbringt, sondern nur Freude macht, vielleicht auch eine Seite, die schamhaft besetzt ist, weil sie mit Aggression oder Sexualität verbunden ist, nicht leben. Diese Seite muss verdrängt und abgeschoben werden, sie muss hinter einem Stein verschwinden. Auch das Bild, dass die Schwestern ihrem Bruder Lazarus mit starken Binden umwickeln, sein Gesicht mit einem Schweißtuch verhüllen, könnte bedeuten, dass diese Seite so stark gebunden werden muss, dass sie nicht mehr atmen kann, dass sie ihre Freiheit einbüßt. Eine Eigenart, ein Anders-Sein darf nicht gelebt werden. Aber alles, das sagt uns die Psychoanalyse, was wir verdrängen und abschieben wollen, das fängt irgendwann einmal an zu „stinken“, das lässt uns nicht in Ruhe, „das stinkt uns“, wie es auch der Volksmund sagt. Wenn Leistung, um Anerkennung ringen, besonders gut sein zu wollen, in uns zu dominant werden, und wir das Schwache und Andere nicht leben lassen wollen, dann schleicht sich dieser verdrängte Anteil in unsere Seele ein und setzt irgendwann einmal Symptome, wie sie z. B. in Panikattacken oder Depressionen sichtbar werden. Und ein zweites zeigt uns die Lazarus-Geschichte. In der Gestalt des Lazarus findet sich ein Mensch vor, dem es von sich aus kaum möglich ist zu anderen Beziehungen aufzunehmen. Er kann das Freundschaftsangebot Jesu nicht annehmen. Sein Misstrauen ist zu groß. Oft höre ich, wie gerade junge Männer von Mutter und älteren Schwestern so dominiert werden, dass sie nichts eigenes Männliches entwickeln können. Der Vater, oft emotional abwesend, steht als männliche Identifikationsfigur nicht zur Verfügung. So geschieht es, dass Jungen verkümmern und kontaktlos und einsam bleiben. Was im Grab liegt, verwest. Abgeschnitten von Beziehungen kann kein wahrhaftes Leben entstehen. Beziehungslosigkeit führt zu üblem Geruch und sondert den Menschen immer mehr aus. Jesus will sich mit dieser Verwesung eines Menschen aber nicht abfinden.

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Er spürt, wie traurig es ist, abgeschnitten von Beziehungen zu sein und deshalb versucht er in der Lazarus-Geschichte Beziehungen neu zu gestalten und lebendig zu machen. In einem ersten Schritt spricht er deshalb mit den Schwestern und bereitet sie auf eine neue Beziehung zu ihrem Bruder vor. Er lässt den Stein wegräumen, denn hinter dem Stein liegt das AusgeschlossenSein, hinter dem Stein verwest es, hinter dem Stein ist Beziehung nicht möglich. Als Maria kommt und ihm vom Tod des Bruders erzählt, weint sie. Dieser Schmerz rührt Jesus an, und er weint mit ihr. In diesem Betroffen-Sein, diesem Mitweinen, dieser Empathie, wird sofort eine tiefe Beziehung lebendig. Maria und Jesus reden hier nicht aneinander vorbei, sondern sie weinen zusammen, und im Weinen wächst eine innere Gemeinsamkeit, eine Gemeinschaft im Schmerz, ein Verstehen des Anderen ohne Worte. Als Jesus den Stein wegräumen lässt, wirft Marta ein: „Herr, er riecht aber schon“. Wenn wir dies einmal tiefenpsychologisch zu verstehen suchen, so geht es uns selbst doch auch oft so. Wollen wir die schwachen Seiten, das Abgestorbene, das Schamhafte in uns leben lassen? Wollen wir ihm noch einmal eine Chance geben? Es riecht doch schon, es ist doch schon am Zerfallen. Ist es nicht besser, mit unangenehmen Dingen nicht mehr in Berührung zu kommen, ist es nicht besser, vieles hinter einem Stein liegen zu lassen? Es könnte uns ja unangenehm werden, wenn wir uns den verdrängten, ungeliebten Seiten in uns nähern. Jesus setzt sich hier durch. Er lässt den Stein wegnehmen, er versucht das Verweste sichtbar zu machen, das Verdrängte an die Oberfläche zu holen. Symbolhaft muss das Tote, das Abgestorbene, wieder in Beziehung zu den gesunden, funktionierenden und mächtigen Anteilen, die durch die beiden Schwestern repräsentiert sind, kommen. Nur dann ist es möglich, dass wir als Menschen auferstehen und lebendig werden. Und Jesus schaut zum Himmel, er stellt sich ganz intensiv in die Beziehung zu Gott, um aus dieser Beziehung heraus, die ihm Kraft, Stärke und Vertrauen gibt, zu wirken; er ruft mit lauter Stimme: „Lazarus, komm’ heraus!“ Damit spricht er das Abgestorbene an, ruft in das Übelriechende hinein. Und Lazarus kommt heraus. Er ist noch mit Binden umwickelt und sein Gesicht ist mit einem Schweißtuch bedeckt. Jesus befielt nun: „Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen!“ Das Abgestorbene, das Beschämende, das Unangenehme muss freigelegt werden, gelöst werden von den Tüchern, in die es eingepackt ist. Wenn wir die Geschichte so lesen, so bekommt sie für uns eine andere und möglicherweise neue Bedeutung. Die Geschichte ist dann nicht nur Beweis für die Macht Jesu, einen Toten zu erwecken, sie ist nicht nur die Kraft der Liebe, die in Jesus gebündelt ist, die menschlich mitfühlen und weinen kann, sondern sie wird an dieser Stelle zu unserer eigenen Lebensgeschichte. In diesem Lazarus können wir uns wiederfinden, wir können uns dann selbst fragen, was wir in uns abschieben, verdrängen, hinter einem Stein verschließen, was wir binden und was wir von uns nicht wissen wollen, welchen Dingen wir keine Lebenschance geben.

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Wir können uns dann fragen: Wo bin ich denn selbst beziehungslos? Wie ist es denn mit der Beziehung zu mir selbst, zu anderen Menschen oder zu Gott? Beziehungen halten das, was in mir zerrissen und abgespalten ist, zusammen. Ohne Beziehungen hätte ich keinen stabilen inneren Kern. Mit Beziehungsdefiziten komme ich zu psychischen Erkrankungen wie Depression, Angst und Zwängen. Die Beziehungslosigkeit wäre wie ein „Tot-sein“, da ich dann keine Freude mehr am Leben empfinden würde. In hohem Maße ist die Beziehungslosigkeit, die wir in unserer Gesellschaft beobachten, eine Krankheit unserer Zeit. Wenn wir als Menschen unfähig sind, zu anderen vertrauensvoll in Beziehung zu treten, wenn wir unfähig sind, eine Beziehung zu Gott aufzubauen, so sind wir auch unfähig, eine Beziehung zu uns selbst zu entwickeln. Dann fühlen wir uns nicht mehr, dann stehen wir oft neben uns, dann sind wir abgeschnitten, spüren nur noch Schmerz und fühlen uns einsam und allein. In der Lazarus-Geschichte ruft Jesus den Freund. Freundschaft und Liebe dringen bis ins Grab und sind in der Lage, Binden zu lösen und neue Bindungen zu ermöglichen. Insofern ist diese Geschichte geradezu zeitlos, denn sie will uns auch vor die Entscheidung stellen: Worauf gründest du dein Leben? Ist es der Realismus der Endlichkeit mit dem Tod oder der Surrealismus der Unendlichkeit eines Lebens jenseits des Todes? Ist es das Hoffnungslose: „Mit dem Tod ist ja alles vorbei.“ Oder ist es ein hoffnungsvolles Glauben: „Es gibt ein Leben nach dem Tod.“ Für Johannes kommt die Auferstehung vor dem Tod. Für ihn ist das schon eine neue Existenzweise, da der Glaube uns im Licht, im Leben hält. Man kann einen Menschen nur auferwecken, wenn man selber von Angstfreiheit, von Zugehörigkeit zum Tag, vom Glauben an das Licht durchflutet ist. Diese Angstfreiheit, die aus intakten Beziehungen zu uns selbst, zu anderen und zu Gott erwächst, ermöglicht ein Leben in Freiheit und dann geht es nur noch darum, den Kerngedanken des gesamten Johannesevangeliums aufzunehmen, der uns zu dieser Freiheit verhilft: „Ich bin die Auferstehung und das wirkliche Leben.“ Das Einlassen auf die Beziehung zu Gott, macht uns mitmenschlich und für andere Menschen zur Quelle des Lebens. Denn wenn Tod Beziehungslosigkeit ist, dann ist Mitmenschlichkeit und Beziehungsfähigkeit im Namen Christi Auferstehung und Heil. In den beiden Beispielen aus dem Johannesevangelium haben wir gesehen, dass Jesus uns ein Beispiel dafür gibt, wie das Kranke und Kaputte, aber auch das Tote und Abgestorbene wieder ganz werden kann. Er gibt uns ein gutes Beispiel, wie durch Beziehungen zu anderen Heilendes sichtbar wird. In der Psychoanalyse oder in der tiefenpsychologischen Psychotherapie können wir insofern dem Beispiel Jesu folgen, als es auch da darum geht, durch eine Beziehungsaufnahme Verletzungen, die in der Lebensgeschichte aufgetreten sind oder innere Konflikte, die belastend sind, anzusprechen und in die Beziehung einzubringen. Das Aussprechen von belastendem seelischem Material sowie das Wahrnehmen von aktuellen Gefühlen, die in der Beziehung zu

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einem Therapeuten auftreten, schaffen die Möglichkeit, tiefliegende unbewusste Konflikte sichtbar zu machen und sie ins Bewusstsein zu heben. Dadurch können dann krankmachende Faktoren, wie sie zu psychischen Erkrankungen im Sinne von Neurosen oder Psychosomatosen führen, behandelt werden. Die biblischen Texte zeigen uns, wie wir Achtung vor unseren Mitmenschen entwickeln können. Sie geben uns viele Hinweise und Botschaften, wie wir in zwischenmenschlichen sowie in therapeutischen Beziehungen Heilendes und Heilungsprozesse in Gang bringen können.

Quellen- und Literaturverzeichnis Drewermann, Eugen, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 1, Olten 61992. –, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2, Olten 41992. –, Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt, Teil 1, Düsseldorf 2003. –, Atem des Lebens. Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott, Bd. 2: Die Seele, Düsseldorf 2007. Ermann, Michael, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Stuttgart 52007. Freud, Sigmund, Gesammelte Werke, Frankfurt 51977. Fromm, Erich, Gesamtausgabe, Stuttgart 1980. GrUn, Anselm, Jesus Wege zum Leben. Die Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, Stuttgart 2005. –, Der Glaube der Christen, Münsterschwarzach 2006. Jung, C. G., Gesammelte Werke, Zürich 1966. Mertens, Wolfgang/Waldvogel, Bruno (Hg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart 32008. Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 41998. Theologische Realenzyklopädie, Bd. 1 – 36, Berlin 1988. UexkUll, Thure von, Psychosomatische Medizin, München 72011. Yalom, Irvin D., Existentielle Psychotherapie, Köln 1989.

Stefan Korioth

Zeit und Recht

I. Einleitung „Denn was ist die Zeit?“ So schreibt Augustinus im IX. Buch seiner Bekenntnisse und fährt fort: Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer es denkend erfassen, um es dann in Worten auszudrücken? Und dennoch, können wir ein Wort nennen, das uns vertrauter und bekannter wäre als die Zeit? Wir wissen genau, was wir meinen, wenn wir von ihr sprechen. Wir verstehen sie auch, wenn wir einen anderen von ihr reden hören. Was also ist die Zeit? Wenn mich jemand danach fragt, weiß ich es. Will ich es aber einem Fragenden erklären, dann weiß ich es nicht. Gleichwohl sage ich getrost und ich weiß es ganz gewiss, wenn nichts verginge, dann gäbe es keine vergangene Zeit, wenn nichts käme, dann gäbe es keine zukünftige; wenn nichts wäre, dann gäbe es auch keine gegenwärtige Zeit.

Die Verbindung von Gewissheit und Ratlosigkeit, die Augustinus hier äußert, gilt auch für das Verhältnis der Juristen zur Zeit. Natürlich ist jedem Juristen klar, dass Zeit ein Faktor für Rechtsetzung und Rechtsanwendung ist, dass das Verständnis, das Entstehen und Untergehen von Rechten und Recht zeitgebunden ist. Auch kann eine Veränderung von Tatsachen und von Überzeugungen in einer Gesellschaft auf den Bestand und Inhalt des Rechts einwirken. Dennoch ist das Verhältnis von Zeit und Recht ein Thema, das meist nur indirekt von Bedeutung ist und dementsprechend behandelt wird. Dennoch ist klar : Recht knüpft an die Zeit an, Recht verfügt über die Zeit, vor allem aber – Recht ist der Zeit unterworfen. Dazu nur zwei kleine Beispiele. Das erste Beispiel nimmt seinen Anfang im Jahre 1984. In diesem Jahr 1984 hatte das Bundesarbeitsgericht in letzter Instanz über einen auf den ersten Blick wenig spektakulären Fall zu entscheiden. Eine Verkäuferin in einer Bäckerei hatte sich in einem unbeobachteten Moment aus der Auslage ein Stück Bienenstichkuchen genommen und dieses verzehrt. Der Wert des Kuchenstückes betrug damals etwa 1,20 DM. Als der Arbeitgeber davon erfuhr, kündigte er der Arbeitnehmerin fristlos. Die dagegen gerichtete Klage der Verkäuferin hatte in allen Instanzen bis hin zum Bundesarbeitsgericht (BAG) keinen Erfolg. Die Arbeitsgerichte stellten sich auf den Standpunkt, dass ein Diebstahl oder eine Unterschlagung zu Lasten des Arbeitgebers in jedem Fall zu einer fristlosen Kündigung berechtige, die nach dem Arbeitsrecht einen

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„wichtigen Grund“ voraussetzt. Dieser wichtige Grund, so das BAG im Jahre 1984, richte sich nicht nach dem Wert der entwendeten Sache, sondern liege in dem dadurch gestörten Vertrauen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Im Jahre 1984 hat dieses Urteil, vor allem in der Öffentlichkeit, relativ wenig Echo hervorgerufen. Den Allermeisten, auch den allermeisten Arbeitsrechtlern, erschien das Argument des gestörten Vertrauens einsichtig und berechtigt. Anfang 2009 passierte ein ganz ähnlicher Fall. Die Kassiererin in einem Supermarkt hatte zwei von einem Kunden vergessene Pfandbons an sich gebracht, diese bei einer Kollegin zur Einlösung vorgelegt und hierfür 1,30 Euro erhalten. Wiederum ging es also darum, dass ein Vermögensdelikt mit sehr kleinem Schaden im Rahmen eines arbeitsrechtlichen Verhältnisses geschehen war. Unter Anknüpfung an den „Bienenstichfall“ aus dem Jahre 1984 nahmen im Jahre 2009 das Arbeitsgericht und das zweitinstanzliche Landesarbeitsgericht an, das Geschehene erlaube dem Arbeitgeber die fristlose Kündigung. Jetzt setzte, ganz anders als im Jahre 1984, eine kontroverse Diskussion in der juristischen Literatur ein, und vor allem: Die Öffentlichkeit interessierte sich für diesen Fall und äußerte überwiegend Empörung über die Entscheidungen. Im Jahre 2010 hat das Bundesarbeitsgericht, das letztinstanzlich zu entscheiden hatte, dann seine Rechtsprechung geändert und nicht länger an dem Argument festgehalten, auch bei einem kleinen Schaden könne eine Straftat zu Lasten des Arbeitgebers eine fristlose Kündigung wegen des gestörten Vertrauens rechtfertigen. Was hatte sich geändert in den 25 Jahren zwischen 1984 und 2009? Ganz sicher nicht das geschriebene Recht; die fristlose Kündigung eines Beschäftigungsverhältnisses verlangte damals und verlangt heute einen wichtigen Grund. Geändert hatten sich im Laufe der Zeit die Überzeugungen von dem, was in einem Arbeitsverhältnis zu einer solchen Kündigung berechtigt und was nicht. Immerhin: Die Öffentlichkeit hatte in den Jahren 2007 und 2008 gelernt, dass in der internationalen Finanz- und Bankenwelt Mitarbeiter, auch leitende Mitarbeiter und Vorstände, Millionenbeträge zu Lasten ihrer Arbeitgeber aufs Spiel gesetzt und teilweise verloren hatten, ohne persönliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Dies schien fast allen in der Öffentlichkeit und auch in der Welt der Arbeitsrechtler in einem krassen Missverhältnis zu dem zu stehen, was das Bundesarbeitsgericht im Bienenstich-Fall geurteilt hatte. So änderte sich dann die Rechtsauffassung. Sicherlich: Ein Fehlverhalten darf mit einer Sanktion belegt werden, selbst wenn es sich um ein Fehlverhalten mit geringen vermögensrechtlichen Folgen handelt. Aber : Eine fristlose Kündigung? Hier hat der Zeitablauf offenbar einen entschiedenen Wandel der Rechtsauffassung bewirkt, der Überzeugung von dem, was rechtens ist. Recht kann sich also wandeln, ohne dass sich die Buchstaben in den Gesetzbüchern verändern. Ein zweites Beispiel. Nehmen Sie an, Sie erhalten einen Steuerbescheid, der sich bei näherer Prüfung als grob fehlerhaft erweist. Wenn Sie vieles zu tun haben, legen Sie den Steuerbescheid erst einmal zur Seite. Zwei Monate später

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fällt Ihnen die ganze Geschichte wieder ein und Sie legen beim zuständigen Finanzamt Einspruch gegen den Bescheid ein. Die Antwort des Finanzamtes wird sein, dass die Einspruchsfrist von einem Monat inzwischen verstrichen ist und deshalb der Steuerbescheid bestandskräftig ist. Jetzt ist nichts mehr zu machen, es sei denn, außergewöhnliche Rechtsbehelfe könnten doch noch helfen, was aber bei einem schlichten Beiseitelegen und Vergessen des Steuerbescheides, gegen den man mit Rechtsmitteln vorgehen wollte, nicht der Fall sein dürfte. Hier hat Zeit offensichtlich eine andere Funktion für das Recht als im ersten Fall. Der Zeitablauf kann Rechtspositionen zum Verschwinden bringen, genau wie im Zeitablauf Rechte neu oder wieder entstehen können. Aus Gründen der Rechtssicherheit wird ein behördlicher Bescheid nach einem Monat bestandskräftig, auch wenn er falsch und damit rechtswidrig ist. Zeit kann also konstitutiv für Rechte, Ansprüche und auf der anderen Seite Verpflichtungen sein. Recht ist also bezogen auf die Zeit. Die Zeit verändert ständig das Recht, die Zeit öffnet und verschließt Handlungsmöglichkeiten. Aber noch mehr : Eine Rechtsnorm hat ihren Ursprung immer in einer bestimmten geschichtlichen Situation, eine Rechtsnorm und eine Rechtsordnung gelten für einen bestimmten Zeitraum; selbst wenn sie unbefristet in Geltung gesetzt sind, sagt die Erfahrung, dass sie irgendwann durch eine neue Norm ersetzt werden. Das beschreibt zunächst ganz grob das Verhältnis des Rechts zur Zeit. Will man sich den Umgang des Rechts mit der Zeit ein wenig genauer vergegenwärtigen, so benötigen wir zunächst einen Überblick darüber, was Juristen eigentlich machen und unter welchen Aspekten die Rechtswissenschaft das Recht im Einzelnen behandelt. Hier lassen sich im Wesentlichen fünf Einzelaspekte oder Abteilungen der Rechtswissenschaft unterscheiden. Die erste Abteilung betrifft das, was die meisten mit Recht und Juristen verbinden. Es gibt ein „Kerngeschäft“ der Juristen. Dies ist das Beantworten der Frage, was in einer bestimmten Rechtsordnung für eine bestimmte Sachverhaltskonstellation rechtens ist. Die Frage, was rechtens ist, stellt sich im Einzelfall, dann also, wenn das geltende Recht auf einen bestimmten einzelnen Sachverhalt anzuwenden ist; sie kann aber auch generell-abstrakt von Bedeutung sein, etwa dann, wenn die Rechtslage für bestimmte Konstellationen beschrieben wird. Dies ist das Alltagsgeschäft der Juristen. Die Rechtsanwendung und die Systematisierung des Rechts nennen wir heute zumeist auch die dogmatische Rechtswissenschaft. Wenn also etwa die Frage auftritt, ob ein bestimmtes Recht einer Person zusteht oder durch Zeitablauf untergegangen ist, geht es darum, die einschlägigen Vorschriften des geltenden Rechts heranzuziehen, gegebenenfalls zu interpretieren und auf den einzelnen Sachverhalt anzuwenden. Hier ähnelt die Rechtswissenschaft und die praktische Tätigkeit des Juristen den anderen Wissensbereichen und Wissenschaftszweigen, in denen autoritative Texte aufgefunden und verständlich gemacht werden müssen. Mit welchen hermeneutischen Mitteln und Instrumenten dies

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geschieht, kann durchaus unterschiedlich sein. Das kann sich auch im Zeitablauf ändern. Es gibt manche Entwicklungsphasen einer Rechtsordnung, in denen sehr stark auf den Wortlaut der einschlägigen Normen abgestellt wird, es gibt auch Rechtsordnungen oder Phasen der Rechtsentwicklung, in denen das historische Verständnis eine große Rolle spielt, also das, was die Rechtsnorm zum Zeitpunkt ihres Entstehens oder nach dem Willen derjenigen, die sie erlassen haben, bedeuten sollte. In Kontinentaleuropa, insbesondere in Deutschland, bevorzugen wir eine Mischung aus verschiedenen hermeneutischen Methoden. Unsere Gesetze sind in aller Regel sehr abstrakt formuliert, so dass es nötig ist, sie durch ein System der Rechtsbegriffe und Ableitungszusammenhänge im Einzelnen verständlich zu machen. Ganz anders etwa sieht die Situation in dem angelsächsischen Rechtskreis aus; hier wird auf der einen Seite, wenn Gesetze vorliegen, vom Gesetzgeber sehr kasuistisch formuliert; auf der anderen Seite wird verlangt, dass die vorliegende Rechtsprechung zu Einzelfällen herangezogen und genau ausgewertet wird. Es gibt eine ganze Richtung im vor allem amerikanischen Recht, die unter dem Stichwort des „original intent“ verlangt, beim Verständnis einer Rechtsnorm auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung abzustellen. Die zweite Abteilung des Rechts und der Rechtswissenschaft hängt eng mit der erstgenannten Frage danach zusammen, was in einer bestimmten Situation rechtens ist. Die zweite Frage der Rechtswissenschaft lautet: Was könnte rechtens sein oder was soll rechtens sein? Wir nennen dies herkömmlich die Frage der Rechtspolitik. Hier geht es darum, Funktionsdefizite, Fehlentscheidungen oder Durchsetzungsprobleme einer geltenden Rechtsordnung zu beobachten und durch die rechtsetzenden Instanzen, den parlamentarischen Gesetzgeber also, zu korrigieren. Es geht also darum, Veränderungs- oder Verbesserungsvorschläge für das geltende Recht zu unterbreiten. Solche Veränderungsvorschläge können aus den unterschiedlichsten Quellen gespeist sein. Sie können politisch, kulturell, weltanschaulich oder mit anderen Gründen unterstützt werden. In einem demokratischen System ist es legitim und möglich, Veränderungen des Rechts unter Berufung auf verschiedenste Gründe zu fordern. Für Veränderungen gilt allein, dass höherrangiges Recht, vor allem das Verfassungsrecht, zu beachten ist und außerdem die formalen Voraussetzungen der Rechtsänderung einzuhalten sind. Letzteres betrifft vor allem Fragen des Gesetzgebungsverfahrens und, angesichts der föderalen Ordnung, der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern für die Rechtsetzung. Die rechtspolitische Argumentation kann durchaus mit der Frage verbunden werden, was rechtens ist; dies tritt dann auf, wenn eine hypothetische Rechtsänderung daraufhin befragt wird, ob sie mit höherrangigem Recht vereinbar wäre. Die dritte Grundfrage des Rechts lässt sich so stellen: Was soll Recht sein? Was ist richtiges oder gerechtes Recht? Dies ist herkömmlicherweise das Anwendungsgebiet der Rechtsphilosophie, die sich mit der Rolle des Rechts im menschlichen Zusammenleben überhaupt beschäftigt und immer wieder

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mit neuen Vorschlägen die Frage nach dem gerechten Recht beantworten will. Rechtsphilosophische Argumente sind dabei nicht nur solche, die einer bestimmten Rechtsordnung eher entrückt sind. Rechtsdogmatische Unklarheiten oder Interpretationsspielräume können mit rechtsphilosophischen Überlegungen Lösungen zugeführt werden; rechtspolitische Veränderungsvorschläge können rechtsphilosophisch begründet sein. Die vierte Grundfrage des Rechts lautet: Was war Recht? Dies ist eine Sache der Rechtsgeschichte; hier sucht die Rechtswissenschaft enge Verbindung zu den historischen Wissenschaften überhaupt. Für Juristen ist die Frage nach der Geschichte des Rechts in den allermeisten Zusammenhängen kein Selbstzweck, vielleicht im Unterschied zu den historischen Wissenschaften, sondern Juristen möchten feststellen, was sich im Laufe der Zeit verändert hat, warum dies so ist und ob es vielleicht angeraten ist, zu früheren Stadien der Rechtsentwicklung zurückzukehren oder umgekehrt sich von diesen entschieden abzusetzen. Die fünfte Grundfrage der Rechtswissenschaft lautet: Was ist anderswo Recht? Dies ist Sache der Rechtsvergleichung, die sich damit beschäftigt, was in anderen Rechtsordnungen geltendes Recht ist. Die Beschäftigung damit kann aufschlussreich sein, weil sich immer wieder zeigt, dass sich in verschiedenen Gesellschaften und Staaten auf dieser Welt bestimmte Probleme in gleicher oder zumindest in vergleichbarer Weise stellen. Der Blick darauf, wie andere Rechtsordnungen mit bestimmten Fragen umgehen, kann helfen, das eigene Recht besser zu verstehen oder aber Veränderungsvorschläge für das eigene Recht zu erarbeiten. Rechtsvergleichung kann aber auch dazu führen, von Veränderungen des eigenen Rechts abzuraten, etwa deswegen, weil andere Rechtsordnungen mit abweichendem Recht für bestimmte Problemkonstellationen keine guten Erfahrungen gemacht haben. Schließlich lehrt die Rechtsvergleichung, dass es nie einfache Übertragbarkeiten gibt. Recht ist Teil einer je spezifischen Kultur.

II. Zeit und geltendes Recht Wenden wir uns von diesem Überblick aus der Frage zu, in welcher Weise die Zeit im geltenden Recht eine Rolle spielt. Hier geht es um die Zeit als Alltagsphänomen, das aber auch rechtlich erheblich ist. Es geht um Zeit als Anknüpfungspunkt für rechtliche Regelungen. Hier lassen sich rechtserhebliche Zeitpunkte, rechtliche Zeitspannen und rechtliche Zeitrahmen unterscheiden. Die Rechtsordnung ist an sehr zahlreichen Stellen mit Regelungen ausgestattet, in denen Zeitpunkte und Zeiträume Voraussetzung für das Entstehen oder den Verlust von Rechten sind. Hierfür will ich nur einige Beispiele nennen. Verträge, Gesetze oder einseitige Bestimmungen anderer Art enthalten häufig Regelungen darüber, ab wann sie gelten sollen, gelegentlich auch,

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wann sie enden sollen. Befristungen kommen häufiger bei Verträgen vor als bei Gesetzen. Gesetze werden bei uns üblicherweise unbefristet in Kraft gesetzt, wenn sie außer Kraft gesetzt oder geändert werden sollen, muss dann eben der Gesetzgeber erneut tätig werden. In den Gesetzen gibt es sehr häufig Regelungen über bestimmte Zeitpunkte. Denken Sie nur daran, dass bei uns die volle Geschäftsfähigkeit eines Menschen mit der Vollendung des 18. Lebensjahres einsetzt, das Wahlrecht wird ebenfalls mit der Volljährigkeit dem Einzelnen verliehen, die Strafmündigkeit beginnt – eingeschränkt – mit dem 14. Lebensjahr, ebenfalls mit dem 14. Lebensjahr ist man frei in der Entscheidung über die eigene religiöse Überzeugung. Auch Zeiträume, also Fristen und Zeitspannen, spielen im Recht sehr häufig eine Rolle. So kann nach einer vertraglich oder gesetzlich festgelegten Frist ein bestimmter Anspruch erworben werden; nach einer bestimmten Zeit kann einem Anspruch der Einwand der Verjährung entgegengesetzt werden (der übrigens rechtstechnisch nicht bedeutet, dass der Anspruch untergeht, lediglich seine Durchsetzung ist nicht mehr möglich). Weitere Beispiele sind der Ausspruch von Freiheitsstrafen über eine bestimmte Dauer, die Verhängung eines Fahrverbotes für eine bestimmte Dauer, die Frage, ab welchem Zeitraum eine langjährige Übung zum Gewohnheitsrecht erstarkt; vielfach, vor allem im Verbraucherschutzrecht gibt es Überlegungs- oder Widerrufsfristen. Auch Ferien werden üblicherweise rechtlich festgelegt. Manchmal verordnet das Recht auch zwangsweise bestimmte Zeiträume. Dies soll vor allem dazu dienen, dass die Adressaten des Rechts sich bestimmte Entscheidungen gründlich überlegen. Denken Sie nur etwa an die Bestimmung, dass bei der Entstehung und Beratung eines Gesetzes drei Lesungen im Parlament erforderlich sind – eine Forderung übrigens, die nicht das Grundgesetz oder die Landesverfassungen für das Gesetzgebungsverfahren aufstellen, sondern gegenwärtig allein die Geschäftsordnungen der Parlamente. An anderen Stellen sagt die Rechtsordnung, dass bestimmte Entscheidungen erst nach Ablauf einer bestimmten Zeit nach Kenntnis von bestimmten Umständen rechtswirksam getroffen werden können. Hier betätigt sich das Recht als „Katechon“, also als ein Verlangsamer, um überhastete Entscheidungen zu verhindern. Ein einfaches und klassisches Beispiel findet sich im Disziplinar- und Beschwerderecht des Militärs. Ein Untergebener, der gegen einen Befehl oder eine sonstige Verhaltensweise eines Vorgesetzten Beschwerde einlegen will, muss damit 24 Stunden warten (von bestimmten Ausnahmen abgesehen). Das „Überschlafen“ einer Entscheidung soll den Einzelnen dazu bringen, über das Geschehene, das fremde und das eigene Verhalten näher nachzudenken und vielleicht das Aufwallen von Emotionen nicht gleich in bestimmte Reaktionen einmünden zu lassen. Solche zwangsweisen Verlangsamungen finden sich aber auch in anderen Bereichen des Rechts. Ein Beispiel sei genannt, das zugegebenermaßen sehr speziell ist: Als das Bundesverfassungsgericht zuletzt im Jahre 1999 zu entscheiden hatte, ob die

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damalige Ausgestaltung des Länderfinanzausgleichs durch das Bundesgesetz verfassungsgemäß war, hat es sich daran gestört, dass der Inhalt des Gesetzes sehr häufig strategisch und teilweise wie in einem Basar zwischen den Regierungen von Bund und Ländern ausgehandelt wurde und dann vom Parlament in Gesetzesform gegossen wurde. Das Bundesverfassungsgericht kritisierte daran die mangelnde Rationalität der gesetzgeberischen Entscheidung. Sein Ausweg bestand in einem Vorschlag, an den zuvor noch niemand im Finanzausgleichsrecht gedacht hatte. Das Gericht meinte, der Finanzausgleichsgesetzgeber solle die kargen Vorgaben des Grundgesetzes für den Länderfinanzausgleich in zwei Stufen konkretisieren, die auch zeitlich gestreckt sein sollten. Die erste Konkretisierungsstufe sollte in einem sogenannten „Maßstäbegesetz“ bestehen, in dem der Gesetzgeber allgemeine Grundsätze und Maßstäbe für die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern regeln solle. Dieses Gesetz solle nicht ergebnisbezogen sein, sondern nur abstrakte Regeln enthalten, bei denen im Einzelnen noch nicht absehbar sein dürfe, was sie bei der Umsetzung dann bedeuten. Erst auf der Grundlage eines solchen Maßstäbegesetzes solle dann ein Finanzausgleichsgesetz erlassen werden, das die konkreten, in Zahlen oder Quoten gefassten Verteilungsfolgen aus dem Maßstäbegesetz enthalten solle. Von dieser zweigeteilten Gesetzgebung im Finanzausgleichswesen, das in anderen Bereichen des Rechts keine Entsprechung findet und auch in der Verfassung so nicht vorgeschrieben ist, versprach sich das Bundesverfassungsgericht eine insgesamt rationalere Verteilung der zur Verfügung stehenden Finanzmittel auf Bund und Länder. Der Gesetzgeber hat nach dem Urteil des Jahres 1999 mit dieser Vorgabe nichts anfangen können. Er hat zwar formal die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Zweiteilung in Maßstäbegesetz und Finanzausgleichsgesetz aufgegriffen, nach wie vor aber werden alle wesentlichen Entscheidungen ergebnisbezogen und für jeden in den Folgen erkennbar im Finanzausgleichsgesetz getroffen. Das Maßstäbegesetz läuft im Wesentlichen leer, es ist so allgemein gefasst, dass aus ihm keine Rechtsfolgen abgeleitet werden können. Im Ergebnis dürfte das Bundesverfassungsgericht seine Rationalitätsanforderung an den Gesetzgeber im Finanzausgleich überzogen haben. Zur demokratischen Legitimation des Gesetzgebers gehört auch, dass sich der Gesetzgeber beim Erlass des Gesetzes über die Folgen im Einzelnen klar ist. Die Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts, im Finanzausgleich könne hiervon abgesehen werden, war also zum einen wirklichkeitsfremd, zum anderen kollidierte diese Anforderung mit der demokratischen Verantwortlichkeit der Gesetzgebung.

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III. Recht in der Zeit Sehr viel weniger technisch als die gerade angesprochenen Fragenbereiche sind die Überlegungen des geltenden Rechts zum Verhältnis von Zeit und Gerechtigkeit. Hier sind im Wesentlichen zwei Aspekte zu nennen. Der erste bezieht sich darauf, dass wir üblicherweise von Rechtsnormen, also von abstrakt-generellen Vorschriften eine gewisse Stetigkeit und Beständigkeit verlangen. Dies lässt sich mit Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit in Verbindung bringen. Schnelle Änderungen des Rechts können unter Umständen nötig sein, im Allgemeinen aber soll auf sie verzichtet werden. Alle Adressaten einer bestimmten Rechtsordnung sollen sich darauf einstellen können, dass eine gegebene Rechtslage auch weiterhin gelten wird. Insofern hat die Beständigkeit des Rechts einen Wert an sich. Verlässlichkeit des Rechts entsteht durch Beständigkeit in der Zeit. Allerdings: In einer demokratischen Gesellschaft kann es grundsätzlich kein schützenswertes Vertrauen darauf geben, dass eine bestimmte Rechtslage auch in Zukunft erhalten bleiben wird. Zum demokratischen Prinzip gehört es gerade, dass der Gesetzgeber jederzeit und im Rahmen der Bindungen durch höherrangiges Recht, vor allem das Verfassungsrecht, in der Lage ist, insbesondere nach seinen politischen Vorstellungen das Recht abzuändern. Aus dem Steuerrecht ist das jedem vertraut. Zeit spielt aber noch in einer anderen Weise mit Blick auf die Gerechtigkeit innerhalb einer bestimmten Rechtsordnung eine Rolle. Häufig ist es erforderlich, dass in einem Streitfall schnell entschieden wird; ein Untätigsein etwa der Gerichte oder eine überlange Verfahrensdauer kann dazu führen, dass bestimmte Rechtspositionen vereitelt werden. Dem trägt unsere Rechtsordnung dadurch Rechnung, dass es in allen Prozessordnungen und vor allen Gerichten die Möglichkeit gibt, durch einstweilige Anordnungen schnelle Entscheidungen der Gerichte vor der endgültigen Entscheidung, Juristen sagen: der Hauptsacheentscheidung, zu erhalten. Wenn etwa im Verhältnis von Mieter und Vermieter eine der beiden Seiten Rechte der anderen zu vereiteln droht, kann auch vor einer endgültigen Klärung der Rechtslage das zuständige Zivilgericht angerufen werden, um vorläufige Maßnahmen zur Schlichtung des Streites zu treffen. Gleiches gilt etwa – eine häufige Konstellation in den letzten Jahren – wenn Rechtsschutz gegen ein Demonstrationsverbot angestrebt wird. Stellen Sie sich etwa vor, eine radikale politische Partei, die aber legal ist, weil sie vom Bundesverfassungsgericht nicht verboten worden ist, plant für den 10. eines Monats eine Demonstration in einer bestimmten Stadt und meldet dies der Verwaltung dieser Stadt so an. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass die Stadt erst am 8. des Monats, also zwei Tage vor der geplanten Demonstration, die Versammlung ganz verbietet oder mit bestimmten Auflagen versieht, etwa weil gewalttätige Ausschreitungen oder gewalttätige Gegendemonstrationen erwartet werden. Hier kann nur noch eine schnelle und vorläufige gerichtliche Entscheidung helfen, um das De-

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monstrationsgrundrecht für die Demonstration am gewünschten Datum durchzusetzen oder Grenzen des Versammlungsrechtes verbindlich festzustellen. Ganz abgesehen von diesen Fällen sogenannten einstweiligen Rechtsschutzes gilt, dass eine überlange Verfahrensdauer bei den Gerichten nach Möglichkeit vermieden werden muss. Hierzu gibt es inzwischen, europarechtlich veranlasst, gesetzliche Verpflichtungen der Gerichte zur Entscheidung. Allerdings gilt, dass im internationalen Vergleich die deutschen Gerichte relativ schnell sind. Ein verwaltungsgerichtlicher Streit um eine Baugenehmigung etwa dauert in aller Regel bis zur erstinstanzlichen Entscheidung vier bis sechs Monate. Das ist in den allermeisten Fällen eine durchaus vertretbare Frist. Dabei kritisch zu sehen ist, dass ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht, das die anderen Gerichte bei überlanger Verfahrensdauer gelegentlich ermahnt, selbst manchmal recht lange für eine Entscheidung braucht. Das hat natürlich mit dem großen Arbeitsanfall zu tun; dennoch ist es misslich, etwa für denjenigen, der eine Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, mehrere Jahre auf die Entscheidung warten zu müssen. Solche Fälle kommen nicht ganz selten vor.

IV. Zeit unter dem Recht Das Recht ist aber nicht nur der Zeit unterworfen oder knüpft an diese an, es gibt auch eine andere Seite des Rechts: Es ist die rechtliche Ordnung der Zeit, vor allem des Kalenders. Die Maßeinheiten unseres Kalenders, also der Beginn des Tages um Mitternacht, die Dauer des Tages, der Woche, des Monats und des Jahres sind seit langem auf der Grundlage des gregorianischen Kalenders von 1582 auch durch weltliches Recht geordnet. Um beim deutschen Rechtskreis zu bleiben: Der gregorianische Kalender wurde durch die katholischen Fürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bereits 1583 und 1584 übernommen. Die evangelischen Reichsstände taten sich da etwas schwerer, vermutlich deshalb, weil der gregorianische Kalender vom Papst ausging. Sie anerkannten die Zeiteinteilung dieses Kalenders verbindlich erst im Jahre 1700. Noch länger dauerte die Übernahme der weltlichen Zeiten des Osterfestes durch die evangelischen Reichsstände; dies geschah letztendlich und abschließend erst im Jahre 1770 aufgrund einer nachträglichen Empfehlung Friedrichs des Großen. Erst seit dem Jahre 1776 ist das bewegliche Osterfest im Reich endgültig festgeschrieben worden. Interessant ist, dass der gregorianische Kalender mit den damit verbundenen Zeiteinteilungen über Europa hinaus auch in anderen Teilen der Welt nach und nach Anerkennung fand. So 1912 in China, 1923 in Russland und zuletzt in der Türkei 1927. Dazu gehört natürlich auch, dass die verschiedenen Zeitzonen auf der Welt, ausgehend von der europäischen Normalzeit, rechtlich festgelegt worden sind.

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V. Geschichtliches Recht Das war jetzt alles sehr technisch; ich hätte die Bedeutsamkeit der Zeit im Recht und des Rechts für die Zeit noch mit sehr viel mehr Beispielen im Einzelnen darstellen können. Ich möchte meine Zeit aber nutzen, noch auf etwas anderes hinzuweisen, was Recht und Rechtswissenschaft schon seit langem beschäftigt. Dies ist die Frage der Zeitgebundenheit oder in einem weiteren Sinne der Geschichtlichkeit des Rechts, aber auch der Rechtswissenschaft, die sich mit dem Recht beschäftigt. Wer sich mit einer bestimmten Rechtsordnung befasst, der sieht in allen ihren Schichten – vom über- und supranationalen Recht bis zum kommunalen Recht – bei der Erzeugung, Geltung, Verbindlichkeit, der ausdrücklichen Weiterentwicklung des Rechts und in seinem Bedeutungswandel, der eher in der Handhabung erkennbar wird, die Zeit als wichtiges Element. Wenn Recht die Summe von normativen Erwartungen, Handlungsentwürfen und Handlungsstabilisierungen im äußeren Verhalten der Menschen darstellt, dann ist die Hervorbringung von Recht immer zeitgebunden. Zum einen ist Recht immer eine Richtungsweisung für die Zukunft; ein Gesetz etwa, das abstrakt-generell formuliert ist, möchte auf alle Situationen in der Zukunft angewendet werden, für die das Recht formuliert ist. Das schließt natürlich nicht aus, dass im Streitfall es um die rechtliche Beurteilung vergangener Handlungsweisen geht. Es gibt aber noch etwas anderes, was mit der Geschichtlichkeit des Rechts verbunden ist. Dies ist die Frage, inwieweit das rechtliche Sollen bezogen ist auf das geschichtliche Sein, inwieweit die Rechtsnorm auf eine bestimmte gesellschaftliche Wirklichkeit zurückgeht und von dieser abhängt. Ist Recht beliebig machbar, vom Willen des befugten Gesetzgebers abhängig oder Teil überlieferter Kultur? In der europäischen Rechtsentwicklung ist diese Frage der Geschichtlichkeit und Zeitabhängigkeit des Rechts in aller Deutlichkeit im Grunde genommen erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts diskutiert worden. Seither variieren wir die Grundeinsichten und Grundanschauungen, die damals entwickelt worden sind. Lassen Sie uns kurz rekapitulieren. In der europäischen Rechtsentwicklung vor 1800 herrschte Statik vor. Das mittelalterliche Recht wurde von seinen Adressaten häufig als ungeschichtliche, wenig gestaltbare Ordnung verstanden, die letztlich vor allem die Ausprägung göttlicher Gebote sei. Die Neuzeit bis 1800 hat mit Vernunftrecht und Naturrecht überwiegend ebenfalls eher übergeschichtlich argumentiert. Recht sei die Ausprägung bestimmter Grundeigenschaften des Menschen, die unwandelbar seien und denen das Recht Rechnung tragen müsse. Jedem geltenden Recht vorgelagert gäbe es bestimmte Rechtsgrundsätze, die das geltende Recht in jedem Fall beachten müsse. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts verändert sich diese Sichtweise. Das hat zum einen natürlich mit den Erfahrungen der Revolutionen in Nord-

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amerika und Frankreich zu tun. Hier gehen Gesellschaften ein erstes Mal daran, die Regeln ihres Zusammenlebens von einem bewusst gewählten Nullpunkt aus neu zu gestalten, einem Punkt des Neubeginns, der radikal mit dem Überkommenen brach oder brechen wollte. Damit drängte sich die Frage auf, ob geltendes Recht eigentlich nur Setzung und Konstruktion sei oder ob es doch, auch nach dem Abschied von göttlichem Recht und Vernunftrecht, bestimmte Grundlagen des Rechts gebe, von denen sich keine Rechtsetzung entfernen dürfe. Ein weiterer Grund lag in den gesellschaftlichen Veränderungen um 1800. Die beginnende Industrialisierung und Verkomplizierung der Rechtsverhältnisse begann ihren Niederschlag darin zu finden, dass die europäischen Gesellschaften plötzlich sehr viel mehr Recht benötigten als zuvor. Und ein Drittes: Im Streit zwischen Monarchensouveränität und Volkssouveränität spiegelte sich die Problematik der Überkommenheit des Rechts mit ihrer Verpflichtungswirkung gegen die völlige Gestaltbarkeit des Rechts, etwa durch einen demokratisch legitimierten Gesetzgeber. Mit Blick auf Deutschland ist diese Kontroverse fast mustergültig ausbuchstabiert worden in einer Auseinandersetzung zwischen zwei großen Juristen, die im Wesentlichen in den Jahren 1813 bis 1815 stattfand. Der Anlass war durchaus wichtig, wenn auch nicht überragend wichtig. Es ging um die Frage, ob es nach dem Ende der napoleonischen Zwangsherrschaft trotz der staatlichen Vielfalt in Deutschland ein übereinstimmendes, in Gesetzesform von den Gesetzgebern in den Einzelstaaten zu erlassendes Privatrecht geben solle. Ein berühmter Heidelberger Jurist, Anton Friedrich Justus Thibaut, veröffentlichte 1814 eine Kampfschrift, in der er genau dies forderte. Es sei an der Zeit, das Privatrecht in Deutschland im Wege der Gesetzgebung zu vereinheitlichen. Dazu seien die Gesetzgeber in Deutschland durchaus in der Lage. Sie hätten genügend Erfahrungen und Möglichkeiten, die wichtigen Bereiche des Privatrechts, eventuell auch des Strafrechts, durch einheitliche Gesetzgebung zu gestalten. Dies würde im Übrigen den gesellschaftlichen Fortschritt fördern. Dieser These von Thibaut widersprach sofort danach der Berliner Jurist Karl Friedrich von Savigny in seiner programmatischen Schrift über den „Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“. Er stellte sich auf den Standpunkt, dass Recht niemals durch Gesetzgebung geschaffen werden könne, sondern allein organisch wachse. Recht habe es mit Sprache zu tun, mit der Sitte eines Volkes, aber auch mit seiner Gesamtverfassung im kulturellen Sinne. Was Sprache, Sitte und Verfassung eines Volkes „zu einem Ganzen verknüpft“, schrieb Savigny, „ist die gemeinsame Überzeugung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Notwendigkeit, welches allen Gedanken an zufällige und willkürliche Entstehung ausschließt.“ Diese Ansicht plädierte dafür, „dass alles Recht […] erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere still wirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers.“ Damit hatte die Rechtsgestaltung und die Rechtswissenschaft ein großes Thema gefunden. Ist geltendes Recht Macht, Gestaltung, Konstruktion, oder

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ist geltendes Recht etwas, das in einem langen Strom aus der Vergangenheit ableitbar ist und nicht einfach von einem Tag auf den anderen gesetzt werden kann? Wenn man genauer hinschaut, so sieht man, dass alle Phasen der Rechtsentwicklung seit 1800 von dieser Kontroverse durchzogen sind, wobei niemals eine der beiden Grundauffassungen völlig die Überhand erreichte, sondern in Wellenbewegungen die Rechtsentwicklung mal der einen oder der anderen Auffassung zuneigte. Zunächst, im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, hat sich im Wesentlichen die geschichtliche Rechtsauffassung vor allem in der Formulierung Savignys durchgesetzt. Das hing natürlich damit zusammen, dass seine Auffassung, auch wenn dies von ihm nicht vorrangig intendiert war, den monarchisch-konservativen und beharrenden Kräften zugutekam, während die Auffassung von Thibaut eher in Richtung einer demokratischen Gestaltung der Rechtsordnung abzielte. Aber im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts, trotz aller Notwendigkeiten der Modernisierung, hat man versucht, ein organisches Wachstum des Rechts, vor allem im Privatrecht, aber nicht nur dort, zu erreichen. Deutlichstes Beispiel dafür ist, dass das römische Recht vielfach als Anknüpfungspunkt zur Gestaltung der Privatrechtsordnung galt und in verschiedenen Teilen Deutschlands vorsichtig modernisiert als „gemeines Recht“ galt. Das änderte sich langsam und interessanterweise mit dem Entstehen des Deutschen Reiches nach 1871. Jetzt bekam die Idee der Kodifikation und der umfassenden Gestaltung der Rechtsordnung durch den Gesetzgeber durchaus den Vorrang, wenngleich viele dafür plädierten, bei der gesetzlichen Festlegung des Rechts das historisch Überkommene nach Möglichkeit zu bewahren und in Gesetzesform zu gießen. Das Paradebeispiel dafür ist im Privatrecht das Bürgerliche Gesetzbuch, das am 1. Januar 1900 in Kraft trat. Es hat die lang ersehnte Rechtsvereinheitlichung des Privatrechts in Deutschland endlich gebracht, dabei viel Neues enthalten, in vielen Bestandteilen aber die Rechtsanschauungen des modernisierten römischen Privatrechts auf die deutschen Verhältnisse des Jahres 1900 angepasst. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts lässt sich der Widerstreit zwischen dem mächtigen Gesetzgeber und der Geschichtlichkeit des Rechts auch in anderen Bereichen verfolgen. Mit dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung im Jahre 1919 konzentrierte sich diese Auseinandersetzung vor allem auf das Verfassungsrecht und das Verständnis der Verfassung überhaupt. Die Rechtstheorie eines Hans Kelsen war ganz und gar darauf abgestellt, Recht als positives Recht zu erklären, das von einem bestimmten Gesetzgeber in einer bestimmten Situation gesetzt worden sei. Dem standen andere Auffassungen des Rechts und vor allem des Verfassungsrechts gegenüber, die für eine kulturorientierte, geisteswissenschaftliche oder geistesgeschichtliche Interpretation des Rechts plädierten. Am prominentesten war hierbei Rudolf Smend, der Verfassungsrecht immer als wirklichkeitsorientiertes und damit geschichtlich inspiriertes und auf den Zusammenhalt einer bestimmten Gesellschaft und eines bestimmten Staates bezogenes Recht verstand. Verfassungsrecht, so sagte Smend in den 1920er-Jahren, ist zugleich

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Recht und Wirklichkeit, zwar Norm, aber eine Norm, die auf die Integration des Politischen und auf die Integration der Gesellschaft zu beziehen sei. Auch in unserem geltenden Öffentlichen Recht können wir Spuren der alten Auseinandersetzung finden. Wir leben zwar heute in einer ganz und gar demokratischen Gesellschaft, in welcher der Gesetzgeber frei ist, nach seinen politischen Vorstellungen und demokratisch legitimiert neues Recht zu setzen. Im Verfassungsrecht sieht die Sache aber durchaus differenziert aus. So spricht Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes von unveräußerlichen Menschenrechten, zu denen sich das Grundgesetz bekennt und Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes kennt Bestandteile der Verfassung, nämlich die Strukturprinzipien unseres Staates und den Grundsatz der Menschenwürde, die der Änderung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen sind. Im Grunde genommen versucht das Grundgesetz so eine Verbindung von überzeitlichen und in der Zeit gestaltbaren Teilen der Rechtsordnung. Erst neuerdings setzt das Europäische Unionsrecht diesem Zusammenhang einige Irritationen entgegen. Bei der Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch die römischen Verträge des Jahres 1957 waren sich alle Beteiligten einig, dass die ins Werk gesetzte Gemeinschaft allein auf Setzung, auf Recht beruhe. Die Europäische Gemeinschaft war Rechtsgemeinschaft in einem doppelten Sinne: Allein auf Recht beruhend, auf die Vereinheitlichung des Rechts in den Mitgliedsstaaten setzend. Das Integrationsziel war am Anfang sehr technisch und letztlich durch die ökonomische Vereinheitlichung bestimmt. Der gemeinsame Binnenmarkt war das große Ziel. Natürlich spielte, gerade in den 1950er-Jahren, auch die noch frische Erfahrung der Feindschaft zwischen europäischen Kernstaaten eine Rolle, die überwunden werden müsse; gleiches galt für die europäische Herkunftseinheit. In der Praxis der Wirtschaftsgemeinschaft aber spielte dies lange Zeit keine wirkliche Rolle. Erst mit der Gründung der Europäischen Union im Jahre 1992, die inzwischen zum Vertrag von Lissabon des Jahres 2009 geführt hat, wurde der Versuch unternommen, über die rein technische, zweckbezogene und wirtschaftsbezogene Vergemeinschaftung hinauszugehen und Europa als Wertund Überzeugungsgemeinschaft zu etablieren und hieraus gemeinsame Politikfelder zu begründen. Das aber stieß auf ungeahnte Schwierigkeiten, wie wir alle wissen. Hingewiesen sei nur auf den lange andauernden Streit, ob in die Präambel einer europäischen Verfassung oder eines erneuerten EU-Vertrages ein Gottesbezug aufgenommen werden solle. Bei Lichte besehen sind wir in Europa noch nicht über das Ökonomische hinausgekommen. Die Herkunftseinheit und die Wertgemeinschaft ist eher der Gegenstand von Proklamationen und Forderungen, die Vergemeinschaftung von Politikfeldern außerhalb des rein Wirtschaftlichen, etwa im Bereich der Außenpolitik, kommt nicht recht voran. Hier zeigt sich, dass eine supranationale Vergemeinschaftung, die ganz und gar auf die Integrationskraft des frisch gesetzten Rechts setzt, schnell an ihre Grenzen stößt. Vermutlich braucht es noch viel

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Zeit, bis hier eine stärkere Integration gelingen kann. Darüber können die Versuche nicht hinwegtäuschen, mittels einer beschleunigten, wiederum aber auf verstärkter und intensivierter Rechtssetzung beruhenden Integration voranzukommen.

VI. Schluss Soweit es um die Geschichtlichkeit und Zeitgebundenheit des Rechts geht, um den ewigen Widerstreit von Recht als gewillkürter Setzung und Recht als gewachsenem Bestandteil der Kultur einer bestimmten Rechtsgemeinschaft, befinden wir uns zurzeit in einer interessanten Entwicklungsphase. Das europäische Unionsrecht gibt dem nationalen Recht sehr viele, vor allem technisch geprägte, Impulse. Zugleich leben wir in einem Zeitalter der Auflösung der Staatlichkeit – Globalisierung und internationale Zivilverfassungen, worunter die grenzüberschreitenden Rechtsetzungen von großen Unternehmen und Organisationen zu verstehen sind, die häufig nationales Recht in den Hintergrund drängen, rütteln an den lange Zeit überkommenen Grundfesten des geschlossenen Nationalstaates. Soweit es um unseren Staat geht, haben wir im Inneren gleichzeitig und neben den Irritationen von außen ein Zeitalter alternder Kodifikationen erreicht. Das Bürgerliche Gesetzbuch ist inzwischen 115 Jahre alt – ein ungewöhnliches Alter für eine Kodifikation, auch wenn man bedenkt, dass viele Änderungen des Gesetzbuches versucht haben, zeitgemäße Anpassungen zu bringen. In seinen Grundfesten und in der Rechtstechnik ist das ursprüngliche BGB durchaus erhalten geblieben. Auch das Grundgesetz ist inzwischen eine alternde Kodifikation. Noch nie hat es in Deutschland eine Verfassung gegeben, die so lange wie das Grundgesetz gegolten hat. Alternde Kodifikationen haben Vor- und Nachteile. Der Vorteil liegt darin, dass durch lange Gewöhnung an einen bestimmten Rechtszustand eine gewisse Sicherheit und Berechenbarkeit im Umgang mit dem Recht entstanden ist. Der Nachteil liegt darin, dass alternde Kodifikationen dazu verleiten, lange, vielleicht unter Umständen zu lange, an einem Recht festzuhalten, das nicht mehr zeitgemäß ist. Einen weiteren Nachteil sehen vor allem Juristen: Alternde Kodifikationen werden umschlossen von immer größer werdenden Ringen der Interpretation, der Rechtsprechung und weiteren Rechtsmaterialien, welche die Gesetzestexte fast zu ersticken drohen. Insofern gewinnt die Zeitlichkeit und Zeitgebundenheit des Rechts in heutigen Zeiten noch einmal eine ganz neue Bedeutung. Das sollte man mit Optimismus sehen. Noch einmal Augustinus: Gleichwohl sage ich getrost und ich weiß es ganz gewiss, wenn nichts verginge, dann gäbe es keine vergangene Zeit, wenn nichts käme, dann gäbe es keine zukünftige; wenn nichts wäre, dann gäbe es auch keine gegenwärtige Zeit.

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Das Rätsel des Todes als Ursprung des Denkens Die Lebens-Philosophie des Vorsokratikers Heraklit

Die Denkbewegung Heraklits: Vom Selbst über den Logos zur Physis Das Bild, das in vielen auch heute noch gängigen Philosophiegeschichten von Heraklit gezeichnet wird, wurde maßgeblich von Aristoteles geprägt. Aristoteles zählte Heraklit zu jenen frühgriechischen Philosophen, deren Denken sich aus seiner Sicht auf die Frage nach der Materialursächlichkeit beschränkte und die er deshalb als physiologoi (Met. 990a3), als Naturphilosophen, bezeichnete. Die darauf zurückgehende Klassifizierung von Heraklits Denken als Naturphilosophie unterstellt, dass dessen beherrschendes Thema die Begründung der materiellen Weltwirklichkeit in einem substratartigen Prinzip sei. Damit löst sie Heraklits Erkenntnisse über die lebensweltliche Wirklichkeit des Menschen aus der Einbindung in den diesen ursprünglich zugrunde liegenden Fragehorizont, aus dem heraus sie überhaupt erst ihre Bedeutung gewinnen. Der Sinn von Heraklits Einsichten über die Natur, die Physis, lässt sich vielmehr allein mit dem Aufweis erschließen, warum die Physis zum für das heraklitische Denken relevanten Thema wird. Da die einzelnen Elemente eines Gedankens nur dann als sinnvolles Bedeutungsgefüge verstanden werden können, wenn das im Gedankengang Gesuchte zu Bewusstsein gebracht ist, setzt die Interpretation der verschiedenen Aussagen Heraklits die Erkenntnis desjenigen Problems voraus, das ihn zuallererst zum Denken bewegte. Der Ursprung der Denkbewegung Heraklits ist in jener konkreten ErlebensSituation zu suchen, aus der heraus er zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens zu denken begann. Diese muss im Falle Heraklits besonders radikal gewesen sein, da er am Anfang der Denkgeschichte steht und so in einem absoluten – weil beispiellosen – Sinn mit dem Denken anfängt. Die der Suchbewegung seines Denkens vorausgehende Grundfrage benennt Heraklit in einem Spruch (B 101), der sich deshalb als Auslegungsschlüssel für das Gesamtgefüge seines Gedankens erweist: edizesamen emeouton – ich suchte mich selbst. Der Aussagegehalt dieses Fragmentes wird in den Bedeutungskonnotationen des von Heraklit für „suchen“ verwendeten Wortes dizemai vermittelt: Wenn im frühgriechischen Sprachgebrauch dieses Wort die Ent-

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rätselung eines Orakelspruches bezeichnet (beispielsweise bei Herodot VII 142), so gibt Heraklit zu verstehen, dass in seinem Denken das eigene Selbst an die Stelle eines Orakels tritt. Damit deutet Heraklit zugleich die ihn ursprünglich zum Denken bewegende Grunderfahrung an: Im Ausgang seines Denkens steht ein Selbsterleben, das von Dimensionen bestimmt gewesen sein muss, die denjenigen eines Orakelspruches entsprechen. Wie ein solcher zunächst mit seiner Rätselhaftigkeit konfrontiert, so muss sich Heraklit das Ich in einer Fraglichkeit aufgedrängt haben, die in ihrer kata-strophalen Bestimmung die Rückwendung auf das Selbst not-wendig machte und Heraklit so ursprünglich zum Denken bewegte. Das Problem, das im Ausgang von Heraklits Denken steht, ist er selbst. Aus der jedem Orakelspruch eigenen Doppeldeutigkeit lässt sich nun die Heraklit auf den Weg des Denkens bringende Grunderfahrung der radikalen Infragestellung des Selbst auch inhaltlich bestimmen: Die bedenkenlose Selbstverständlichkeit des Lebenslaufs wird unterbrochen, wenn der Mensch durch die negativen Widerfahrnisse in seinem Leben auf sich selbst zurückgeworfen wird. Diese bestimmen sich als verschiedene Intensitätsgrade einer Gegebenheit, die diesbezüglich an Radikalität nicht zu übertreffen ist: der Tod. In der Feststellung, dass bei der Geburt bereits Todesgeschicke geboren werden (Fragment B 20), bringt Heraklit Leben und Tod als sich einander zu einem Kreis verschlingend zu Bewusstsein, in den der Mensch sich unentrinnbar involviert findet. Was gemeinhin (und missverständlich) als Heraklits „Gegensätze“ bezeichnet wird, sind die rückwendig einander verfügten Zustände, in denen der Mensch die Tödlichkeit des eigenen Lebens erlebt. Die Betroffenheit von der Todesbestimmtheit des Selbsterlebens drängt Heraklit auf den Weg der denkenden Selbstsuche, in der er die Aufgabe der Bewältigung der eigenen Verzweiflung wahrnimmt. Das Denken geht bei Heraklit aus der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst hervor. In nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lassender Ausdrücklichkeit bringt Nietzsche zum Ausdruck, wie die Widerwärtigkeiten des Lebens den Menschen überhaupt erst zum Philosophen werden lassen: „alles, womit der Mensch bisher nicht fertig zu werden weiß, was kein Mensch noch verdaut hat, der ,Koth des Daseins‘ – für die Weisheit wenigstens bleibt er der beste Dünger“.1 Auch der zur Lösung des Rätsels des eigenen Selbst zu begehende Denkweg ist in der Grunderfahrung der Orakelhaftigkeit des Ichs vorgegeben: Wie die Offenbarung eines Orakels in einer Untersuchung seiner Sprachgestalt auf ihre doppeldeutigen Sinnmöglichkeiten hin aufgeschlossen werden kann, erkennt der Mensch sich selbst, indem er seine eigene Sprache auf diejenigen Botschaften hin analysiert, die in ihr nach der Art eines delphischen Spruches 1 Nietzsche, Friedrich, Nachgelassene Fragmente; November 1887–März 1888 11[93], in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli/M. Montinari, Bd. 13, München 2 1988, 43, 12 – 15.

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weder direkt ausgesprochen, noch gänzlich verschwiegen, sondern zeichenhaft angedeutet (vgl. Fragment B 93) sind. Da die Selbstsuche sich demnach zur Aufgabe konkretisiert, die Sprache auf die in ihrer offenbaren Erscheinung unscheinbar verborgenen Zusammenhänge (vgl. B 54) hin zu durchforschen, verwirklicht sie sich in einer Kehrtwendung der Sprache: Um nicht mehr mit ihr selbst nicht identische Inhalte, sondern ihre eigene Wesenswirklichkeit zum Ausdruck zu bringen, muss die Sprache sich selbst als Metapher gebrauchen. Das Ergebnis des Versuches, die ungesagten Bedeutungen der Sprache hörbar werden zu lassen, ist die Sprachgestalt von Heraklits Diskurs. In der parataktischen Aneinanderreihung von syntaktisch mehrdeutig aufeinander beziehbaren Einheiten, die sich in chiastischer Verkettung, lautlichen Assonanzen und rhythmischer Gliederung gegenseitig reflektieren, bringt Heraklit die rückwendige Fügung (B 51: palintropos harmonie) als das verborgene Strukturprinzip der Sprache zur Darstellung. In Heraklits Sprachwerk vermitteln sich gedanklicher Aussagegehalt und sprachliche Darstellungsform gegenseitig, da die Sprache in seinen Grundworten sagt, was sie selbst ist: All-Einheit, Zusammenfassungen, prächtiges Ordnungsgefüge (Kosmos!), Maß, Fluss (Rhythmus!), Immerlebendigkeit (vgl. B 50, 10, 30, 31, 12). Heraklits Intention, die Sprache zum Bewusstsein ihrer selbst zu bringen, verdichtet sich zu seiner Aneignung des Wortes „Logos“. Den sein Denken vermittelnden Gedanken des Logos konzipiert Heraklit nicht nach der Art eines abstrakten Begriffes, sondern entfaltet ihn vielmehr, indem er die differenten Bedeutungskonnotationen dieses Wortes im alltäglichen frühgriechischen Sprachgebrauch aus ihrer Einheit heraus verstehen lässt: Seiner Wortwurzel nach entspricht das griechische Wort legein dem deutschen legen und bedeutet so ursprünglich (und beispielsweise noch bei Homer, Ilias 24, 793) das Zusammenbringen (vgl. Fragmente B 10, 51) dessen, was seiner natürlichen Beschaffenheit nach immer schon zusammengehört. Als Ausdruck für die in dieser Tätigkeit vorausgesetzte Ordnungsstruktur wird Logos zur Bezeichnung für das in der Verhältnishaftigkeit der Wirklichkeit vorgegebene Maß (vgl. B 31). In seinen Bedeutungen von „zählen“ (vgl. Homer, Odyssee 4,450) und „rechnen“ (ratio!) beschreibt legein die von der menschlichen Denkfähigkeit zu leistende Wiedergabe eines vorliegenden Zusammenhanges, die aus allem eins und aus einem alles (B 10) macht. Vergleichbar mit dem deutschen Er-zählen wird Logos so zum Ausdruck für eine der Reihenfolge ihres Zusammenhanges folgende sprachliche Darstellung von Sachverhalten (z. B. Homer, Illias 15,393). Von daher eignet sich das Wort schließlich als Titel für Berichte und Abhandlungen mit wissenschaftlichem Anspruch (vgl. B 1, 108). Der im Wort „Logos“ zu entdeckende Zusammenhang der Sinnebenen von Sprache, Denken und Ordnungsgefüge der Wirklichkeit kann im Deutschen annähernd durch die etymologisch fundierte Übersetzung „Darlegung“ wiedergegeben werden.

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Die Reflexion auf die Einheit der differenzierten Bedeutungskonnotationen des frühgriechischen Sprachgebrauchs von Logos erweist sich insbesondere in jenem Fragment (B 1) als die Verwirklichungsgestalt von Heraklits Denken, das von ihm selbst unmissverständlich als programmatische Exposition seines Gedankens ausgewiesen wurde. Es lautet in einer die griechische Syntax, in der sich sein gedanklicher Aussagegehalt vermittelt, beibehaltenden Übersetzung: Der Darlegung (Logos) dieser seienden immer unverständig werden die Menschen sowohl bevor gehört zu haben als auch gehört habend zuerst. Entstehender nämlich aller gemäß dieser Darlegung (Logos) Unerfahrenen gleichen sie erfahrend sowohl der Worte als auch der Werke derartiger was für welche ich auseinanderlege gemäß dem Daher-Wesen (Physis) zer-gliedernd ein jedes und ausdeutend wie es sich verhält. Was die anderen Menschen betrifft ist verborgen was aufgeweckt sie tun wie was Schlafende vergessen.

Die demonstrative Bezugnahme auf den Logos am Anfang des Fragmentes wurde von den Zeitgenossen Heraklits sicher als des Autors Verweis auf seine eigene Schrift verstanden. Doch bereits in den nächsten Worten durchbricht Heraklit den damit angesprochenen Erwartungshorizont, wenn er von der auf seinen Diskurs bezogenen Bezeichnung mit dem „immer-sein“ eine Eigenschaft aussagt, die im homerischen Epos (z. B. Illias 1,290) allein den Göttern vorbehalten war. Die darin angedeutete, über die Referenz auf die eigene Abhandlung hinausgehende Sinnkonnotation von Heraklits Logos lässt sich erschließen, wenn man eine in der doppeldeutigen syntaktischen Struktur der ersten Satzeinheit von Fragment B 1 verborgene zweite mögliche Lesart in Betracht zieht: Diese attribuiert die Partikel immer der folgenden Aussage und versteht so die Partizipialform seiend nicht kopulativ, sondern prädikativ und damit als Träger eines bestimmten Bedeutungsgehaltes. Der Sinn der auch bei anderen Autoren belegbaren Prädikation eines Logos als seiend2 ergibt sich aus der von der entsprechenden indogermanischen Verbwurzel *es- herkünftigen veridikativen Bedeutung des Wortes: Dieses hat in seiner partizipialen Form den Sinn von „wirklich-sein“ und – davon abgeleitet – „wahrsein“.3 Wenn „sein“ somit meint, dass etwas so ist, der Fall ist und deshalb wahr ist, besagt seiend als Eigenschaft einer Abhandlung, dass sie wahr ist, weil ihr Inhalt der Wirklichkeit entspricht, sie einen Sachverhalt so zur Darstellung bringt, wie er ist. In der Entdeckung, nach der die Wahrheit einer Aussage darauf beruht, dass das in ihr zur Sprache Kommende wirklich ist, wird das, was ist, zugleich als dasjenige wahrgenommen, was die Wahrheit einer Aussage begründet. Im seienden Logos wird sich die Sprache ihrer selbst als in der immer schon vorausgesetzten Erschlossenheit der Wirklichkeit er2 Vgl. z. B. Herodot I 95. Aristophanes, Frösche 1052, Euripides, Elektra 346. 3 Dazu: Kahn, Charles, The Greek Verb ,To Be‘ and the Concept of Being, in: Foundations of Language 2 (1966) 245 – 256, hier 250 f.

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möglichte bewusst. Im Hinblick auf seine ursprüngliche Bedeutung für den Selbstvollzug des Menschen in der Sprache ist das, was ist, immerseiender Logos, die Darlegung, welche die Wirklichkeit selbst ist, weil sie sich in der Sprache darlegen lässt. Heraklits Logos ist die im Selbstbewusstwerdungsprozess der Sprache als deren Ursprung erkannte Wirklichkeit. Die von Heraklit zu Bewusstsein gebrachte Grundbedeutung des Logos wird im weiteren Gedankengang des Fragmentes vertiefend expliziert. Wenn Heraklit die im Logos zur Sprache kommende Wirklichkeit als dasjenige bestimmt, dem gemäß alles entsteht (ginomenon), deutet er damit an, dass das Immer-Sein des Logos im Sinne der Immerlebendigkeit (vgl. B 30: aeizoon) zu verstehen ist. Da die Wirklichkeit sich aber nur dann als das ständige Entstehen darlegen kann, wenn sie auch das Absterben impliziert, besteht ihre Immerlebendigkeit in der rückwendigen Ineinanderfügung von Lebendigkeit und Tödlichkeit (vgl. B 51: palintropos harmonie, hokosper toxou kai lyres). Der Logos ist jenes Bestimmungsmoment der Wirklichkeit, das die Beständigkeit im Wechsel von Leben und Tod gewährleistet und so deren rationale Verhältnisstruktur begründet, in der ihre sprachliche Darlegbarkeit ermöglicht ist. Im Unterschied zu der scheinbaren Erfahrungslosigkeit der Menschen, die darin besteht, dass sie das immerlebendige Strukturgefüge der Wirklichkeit nicht als den Ursprung ihres Selbstvollzugs in der Sprache verstehen und so als Wache sich wie Schlafende verhalten, setzt sich der Denker mit den menschlichen Worten und Werken bewusst auseinander, indem er deren jegliches seiner „Physis“ entsprechend zer-gliedert. In Heraklits Aneignung des Wortes „Physis“ konkretisiert sich die Grundintention seines Denkens, die im alltäglichen Sprachgebrauch verborgen gegenwärtigen Zusammenhänge zu ausdrücklicher Gegebenheit zu bringen: Homer (Odyssee 10,302ff) bezeichnet die Beschreibung eines aus der Erde gezogenen Krautes von dessen Wurzel bis zur Blüte als der Physis gemäß, meint damit also die natürliche Beschaffenheit eines Dinges. Noch Aristoteles (Met. 1014b16) versteht das Wort auf dem Hintergrund seiner etymologischen Ableitung von phyesthai im Sinne von lebendigem Hervorkommen. Heraklit denkt beide Bedeutungskonnotationen in der Entdeckung zusammen, dass sich die natürliche Beschaffenheit eines jeden aus dessen lebendigem Hervorkommen bestimmt. Wie sich Letzteres gleich einer Wurzel dem oberflächlichen Aufscheinen entzieht, bleibt auch das, was etwas eigentlich ist, versteckt: „Die Physis beliebt, sich zu verbergen“ (B 123). Da das in der Lebendigkeit verborgene Hervorkommen dasjenige ist, von woher ein jegliches ins Leben tritt, erweist sich schließlich der Tod als die versteckte (Herkunfts-)Bestimmung der Lebendigkeit eines jeden Wesens. Etwas seiner Physis gemäß zu zer-gliedern bedeutet demnach, es durch eine Ausdeutung seiner unscheinbaren Verhältnisse einzufügen in das in seiner Rückwen-

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digkeit immerlebendige Leben-Tod-Gefüge, als welches die Wirklichkeit sich darlegt. In seinen einander reflektierenden Aussagen, dass das, dem gemäß alles entsteht, der Logos ist, und das, dem gemäß alles zergliedert wird, die Physis ist, bringt Heraklit die Entsprechung von Logos und Physis und damit die Verschränkung von Sprache und Wirklichkeit zum Ausdruck: Die immerlebendige Fügung der Wirklichkeit geschieht deshalb dem Logos entsprechend, weil die Sprache der in der Physis vorliegenden Darlegung ent-spricht (B 50: tou logou akousantas homologein). Wenn in jedem Wort der Bedeutungszusammenhang der Wirklichkeit ungesagt zur Sprache kommt (vgl. B 93), ist wahres Sprechen und Tun des Menschen im Grunde ein vernehmendes Hinhorchen auf die Physis (B 112: alethea legein kai poiein kata physin epaiontas).

Die Zeugung des Lebens aus dem Tod physis kryptesthai philei – „Die Physis liebt es, sich zu verbergen“. Wenn mit Physis bei Heraklit das Sein eines Dinges im Hinblick auf dessen lebendigen Hervorgang bezeichnet wird, könnte man „Physis“ im Kontext dieses Fragmentes auch mit „Daher-Wesen“ übersetzen. Die Antwort auf die Frage, warum nach Heraklit die Wesensherkunft eines jeden Dinges im Verborgenen liegt, wird in Fragment 88 gegeben: tauto t’eni zon kai tethnekos kai to egregoros kai to katheudon kai neon kai geraion: tade metapesonta ekeina esti kakeina metapesonta tauta – „Dasselbe ist in uns Lebendiges und Gestorbenes, Waches und Schlafendes, Junges und Altes: Dieses ist umschlagend jenes, und jenes ist umschlagend dieses“. Die Verborgenheit ist deshalb der bevorzugte Ort der Physis, weil der Lebensaufgang eines jeden Dinges ein Hervorgang aus dem Tod ist. Indem Heraklit „ein jegliches der Physis gemäß zer-gliedert und ausdeutet, wie es sich verhält“ (B 1), kommt er zur paradoxen Einsicht seines Logos, dass der Ursprung des Lebens im Tod verborgen liegt. In Heraklits Physio-Logie ist das Geboren-Werden des Leibes aus dem Nichts des Todes das Ursprungsphänomen des Seins: ginomenon gar panton kata ton logon tonde – „Alles nämlich wird diesem Logos gemäß geboren“. Diese Sicht des Seins als die verschlingende Begierde des Todes, die zugleich die zeugende Lust der Geburt ist, bringt Heraklit zum Ausdruck, indem er im „Feuer“ das ungründige Prinzip und den In-Begriff des alles umfassenden kosmischen Prozesses erblickt. Weil das Feuer in seinen „Wenden“ (B 31: tropai) den „Aus-Tausch“ (B 90: antamoibe) der verschiedenen (elementaren) Zustände des Weltganzen wie im „Blitz“ aus dem Dunkel des Nichts heraus erhellend „steuert“ (B 64), ist alles Sein das „ewige Leben“ des Feuers (B 30): kosmon tonde, ton auton hapanton, oute tis theon oute tis anthropon epoiesen, all’ en aei kai estin kai estai: pyr aeizoon, haptomenon metra kai

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aposbennymenon metra – „Diesen Kosmos, den selbigen für alle, hat weder einer der Götter noch der Menschen gemacht, sondern er war immer und ist und wird sein: immerlebendiges Feuer, aufflackernd nach Maßen und verglimmend nach Maßen“. Als die Spannungs-Einheit von „Hunger und Sattheit“ (B 65: chresmosyne kai koros; vgl. auch B 67) ist der Feuer-Kosmos des Seins „das Brennende der Lebenslust“ (vgl. B 67: hedone).

Leben als Leibwerdung Nach dem grundlosen Hervorgang des Seins aus dem Nichts des Todes ist es ein zweites wesentliches Moment der heraklitischen Lebens-Philosophie, dass sich die Sinngestalt des Seins vollkommen in der Leibwerdung erschließt. Den Aufgang der Physis, der aus der Liebe zum ungründig Verborgenen hervorgeht, sieht Heraklit im zugleich tödlich-verzehrenden und lustvoll-erzeugenden Wesen des Feuers verwirklicht. Das „immerlebendige“ Feuer ist deshalb In-Begriff für das „ewige Leben“ des Kosmos, weil die elementaren Urzustände des Seins – ebenso wie jene der (Jahres-)Zeit(en) aus den Wenden der Sonne – aus den „Wenden“ des Feuers hervorgehen (B 31): pyros tropai: proton thalassa, thalasses de to men hemisy ge, to de hemisu prester – „Feuers Wenden: erstens Meer, vom Meere aber die eine Hälfte Erde, die andere Gluthauch“. Am Wechsel der elementaren Zustände des Weltganzen offenbart sich Heraklit, wie das Leben aus der Lust am eigenen Sein durch seine Ver-Nichtung hindurch ständig neu aufgeht. Die „Wenden des Feuers“ halten diese lebendige Bewegung unter den kosmischen Elementen zu deren läuternder Umwandlung aufrecht. Diese „Wenden“ ereignen sich dabei als die (Selbst-)Zerstörung des Feuers, in denen das Feuer in die ihm entgegengesetzten Zustände hinein stirbt (Wasser, Erde, Luft), um daraus erneuert wieder zu seiner alten Kraft zurückzufinden. Aus dieser „immerlebendigen“ Auferstehungs-Bewegung des Feuers aus seinem Tod gehen also das „Flüssige“ und das „Starre“ hervor. Damit entstehen aus den Um-Wendungen der FeuerPhysis jene Dimensionen, in denen die Leiblichkeit besteht. „Des Feuers Wenden“ sind der Prozess der Leibwerdung des Seins. Indem Heraklit im Hören auf den Logos der gesprochenen Sprache den Ein-Klang von „Immerlebendigkeit“ (B 30: aeizoon) als der Wesenseigenschaft des Feuer-Kosmos und dem „Äon“ der (Welt-)Zeit des Lebens-Laufes (B 52: aion) vernimmt, entdeckt er die tiefere Einheit von Sein und Zeit: Das Sein lebt in und als Zeit. Da das zeithafte Sein in seinem Werden und Vergehen in der Wirklichkeit des Leibes Gestalt gewinnt, verwirklicht es sein Wesen im Prozess einer ununterbrochenen Neugeburt. Diese ständige, re-produktive Erneuerung des Seins zeigt sich in der Lebensgestalt des Kindes. Im grundlosfreien Spiel als der Tätigkeit des Kindes findet das Sein jene Wirksamkeit, die

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seiner Wesensherkunft als Aufgang aus dem Ungrund vollkommen entspricht. Das spielende Kind ist der „König“ (B 52), weil in ihm die höchste Stufe im Selbst-Steigerungsprozess (B 53, 79, 83, 119) des ungründigen Lebensaufgangs erreicht ist.

Die Über-Lebens-Ethik Heraklits Wenn Nietzsche von sich behauptete, in zehn Sätzen zu sagen, „was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche n i c h t sagt […]“,4 so trifft dies noch grundsätzlicher auf jenen einen, aus nur drei Worten bestehenden Satz (B 119) zu, in dem Heraklit in unüberbietbarer Konzentration den Bestimmungsgrund seines Ethos zur Sprache bringt: ethos anthropo daimon – „Bestimmung dem Menschen der Gott“. Der Sinn dieses Spruches erschließt sich, wenn man ihn gleich einem Orakel (vgl. B 93) auf die verschiedenen in seiner Sprachgestalt vermittelten Bedeutungen hin untersucht. Der Grundintention seines Logos entsprechend bringt Heraklit dabei die verschiedenen frühgriechischen Sinnkonnotationen der hier verwendeten Worte zum Bewusstsein ihres Zusammenhangs. Seiner Wortwurzel nach bezeichnet Ethos den Ort des Aufenthalts. Vergleichbar dem lateinischen habitudo und dem deutschen Wort „Gewohnheit“ wird es zum Ausdruck für die an einem bestimmten Ort üblichen Gebräuche. Ähnlich wie das lateinische Wort für Sitten (mores) bedeutet es sodann in einem allgemeinen Sinn das Verhalten des Menschen im Hinblick auf dessen Prinzipien (Moral) und schließlich seine darin sich vermittelnde (charakterliche) Eigenart (Moralität). Die im Wort Ethos zur Sprache kommende Entsprechung von Sein und Sollen kann annähernd in der deutschen Übersetzung „Bestimmung“ angedeutet werden. Der Daimon, zu dem Heraklit das Ethos im Menschen ins Verhältnis setzt, benennt den Gott, der dem Menschen Glück (Eudaimonie) und Unglück zuteilt und damit das vom Einzelnen auszutragende Lebensschicksal. Die Interpretation des Fragments hat von der Lesart auszugehen, die jenem Erwartungshorizont entspricht, den Heraklit darin zunächst anspricht. Die Zeitgenossen Heraklits verstanden den Spruch wohl als Ausdruck der Determiniertheit des menschlichen Lebens von göttlichen Schicksalsmächten (vgl. z. B. Homer, Odyssee 18,136). Denn: „Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit“5 (vgl. B 80, 52). Kann denn dann der Mensch im alle(s) involvierenden Kampf-Spiel (vgl. B 52, 53, 80) des (Über-)Lebens überhaupt be4 Nietzsche, Friedrich, Götzen-Dämmerung; Streifzüge eines Unzeitgemässen 51, in: KSA VI 153,13 – 15. 5 Ders., Morgenröthe; Zweites Buch 130, in: KSA III 122,8 – 10.

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stehen, geschweige denn daraus als der Sieger (vgl. B 52, 53) hervorgehen? Heraklits Philosophie [vgl. B 35] im „tragischen Zeitalter“ der Griechen hört im Logos des Spruches einen dahin wegweisenden Wink. Dieser ist in der Möglichkeit einer zweiten Lesart des Textes verborgen, die darin besteht, nicht wie bisher Daimon, sondern Ethos als dessen Subjekt zu konstruieren. Damit offenbart der Spruch einen seinem offenkundigen entgegengesetzten Sinn: Der Gott erscheint so nicht mehr als der Grund, sondern als das Ziel der menschlichen Bestimmung, als jene Wesenswirklichkeit, die das Leben des Menschen nicht mehr determiniert, sondern auf die hin sich der Mensch in seinem praktischen Lebensvollzug zu verwirklichen hat. Die zusammenfassende (vgl. B 10) Kraft des Denkens ist nun gefordert, um die divergierenden Bedeutungen des Spruches aus ihrer Einheit heraus zu begreifen. Diese erschließt sich, wenn man B 119 mit jenem Fragment (B 78) in einen Zusammenhang bringt, in dem Heraklit ebenfalls vom Menschen, dem Ethos und dem Gott spricht: Die menschliche Bestimmung (ethos) hat keine Einsichten (gnomas), wohl aber die göttliche. Dieser Spruch scheint dem zu interpretierenden insofern zu widersprechen, als hier die in letzterem dem Menschen aufgegebene Bestimmung streng von der menschlichen unterschieden wird. Der Widerspruch lässt sich im Grundgedanken des von der Physis her bestimmten Ethos Heraklits vermitteln: Die in B 78 als Eigenschaft des göttlichen Ethos ausgesagte Einsicht (gnome) bedeutet in Fragment B 41 die Regel (gnome), der gemäß alles durch alles hindurch gesteuert wird, also das göttliche Gesetz (B 114) der immerlebendigen Verhältnisstruktur der Wirklichkeit, deren Verstehen im selben Spruch als das Eine Weise (hen to sophon) bezeichnet wird. Daraus lässt sich schließen, dass für Heraklit das göttliche Ethos in der Erkenntnis der Zusammengehörigkeit der auseinanderstrebenden Er-Lebensmomente besteht. Der im Wort Ethos verborgenen Wurzelbedeutung „Aufenthalt“ entsprechend lassen sich menschliche und göttliche Bestimmung als Standpunkte verstehen, von denen aus die Widersprüche des Lebens entweder aus einem Winkel heraus, „vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam“6 in ihrer offenkundigen Vereinzelung gesehen oder im Über-Blick auf ihren unscheinbaren Zusammenhang betrachtet werden. Denn: „Dem Gott ist alles schön und gut und gerecht, die Menschen aber nehmen das eine als ungerecht, das andere als gerecht an“ (B 102). Wenn Heraklit in Fragment B 119 den Gott dem Menschen als Bestimmung zuspricht, so fordert er damit – vergleichbar der platonischen homoiosis theo (Theaitetos 176b1) – eine in der philo-sophischen (vgl. B 35) Annäherung (B 122) an die göttliche Weisheit zu verwirklichende Angleichung des Menschen an das göttliche Ethos, durch die der Mensch sein Sein in einem 6 Ders., Jenseits von Gut und Böse. Erstes Hauptstück: von den Vorurteilen der Philosophen 2, in: KSA V 16,28 – 30.

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Selbstüberstieg auf eine übermenschliche Ebene steigern (vgl. B 82 – 83, 52, 53) soll: Giebt es Schuld Ungerechtigkeit Widerspruch Leid in dieser Welt? Ja, ruft Heraklit, aber nur für den beschränkten Menschen, der auseinander und nicht zusammen schaut, nicht für den contuitiven Gott; für ihn läuft alles Widerstrebende in eine Harmonie zusammen, unsichtbar zwar für das gewöhnliche Menschenauge, doch dem verständlich, der, wie Heraklit, dem beschaulichen Gotte ähnlich ist.7

Wenn der Mensch so „beschaulich über und wirkend in“8 der ihm vom Daimon zugeschickten Bestimmung steht, gewinnt er im Kampf-Spiel des (Über-) Lebens den einzig darin ausgeschriebenen Siegespreis, von dessen Erringung aber alles abhängt: „die höchste Freiheit unter dem Gesetz, die göttliche Leichtfertigkeit, Leichtfertigkeit im Schwersten“9. Weil „der Gott Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger ist und sich wandelt, wie, wenn mit Räucherwerk vermischt, er nach der Lust eines jeglichen benannt wird“ (B 67), besteht das den Menschen bestimmende göttliche Ethos in der Einfügung in das rückwendige Leben-Tod-Gefüge der Physis. Diese ist der Logos, mit dem es dem Menschen aufgegeben ist, in „horchsamem Gehorsam“10 zu ent-sprechen (vgl. B 50: tou logou akousantas homologein). Die Lösung des am Anfang des Denkweges Heraklits gestellten Rätsels des eigenen Selbst (vgl. B 101) besteht in der durch den Rückgang des Denkens auf seinen Ursprung (Logos) ermöglichten Einsicht in die eigene göttliche Bestimmung in der Weise einer philosophischen Bejahung auch der abgründigtodhaften Momente, sowohl im kosmischen wie im existenziell-eigenen Lebensgeburtsprozess.

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Ders., Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 7, in: KSA I 830, 12 – 19. Ebd. 813, 9. Ders., Nachgelassene Fragmente; Frühjahr–Sommer 1888 16[37], in: KSA XIII 497,3 f. Heidegger, Martin, Heraklit (Vorlesungen 1943 – 1944), in: Gesamtausgabe 55, Frankfurt a.M. 1979, 260.

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1. Das innerste Geheimnis des Christentums Um das Wesen des Christentums und folglich auch seines Gottesdienstes und seiner Seelsorge näher definieren und einordnen zu können, scheint es in der Gegenwart unerlässlich zu sein, auf eine lange Zeit vergessene Dimension zu verweisen, die für das Verständnis von Christentum von nicht unwesentlicher Bedeutung ist. Es muss nämlich grundsätzlich, wie Eugen Biser es sagt, festgehalten werden, dass das Christentum keine asketische und moralische Religion, sondern wesentlich eine therapeutische und mystische Religion ist. Zugegeben, das klingt einigermaßen fremd. Denn dass das Christentum eine Religion des Opfers, eine Religion der Askese, eine Religion des Kreuztragens ist, das ist uns von Kindesbeinen an vielfältig beigebracht und eingebläut und ins Bewusstsein gehoben worden, so dass es fast als Frevel erscheint, wenn man an dieser Überzeugung rüttelt. Biser tut es bewusst, und zwar aus der Überzeugung heraus, dass das Christentum hier in einem signifikanten und fundamentalen Unterschied steht zu den primär asketischen Religionen wie beispielsweise der Buddhismus. Wer die Lehre Buddhas genauer unter die Lupe nimmt, der weiß, dass Buddha alles Elend auf die Leidenschaften zurückführt, die Leidenschaften ihrerseits auf den Lebenswillen, so dass Erlösung darin besteht, dass der Mensch den Lebenswillen in sich ertötet und in einen Zustand der absoluten Indifferenz eintritt, der ihn schließlich ins Nirwana führt. Das ist also eine primär und echt asketische Religion, die auf die Austrocknung des Lebenswillens ausgerichtet ist. Jeder, der also die Lehre Buddhas näher kennt, wird wissen, dass solch ein Denken Jesus denkbar fremd ist. Er hat keinerlei Interesse an der Unterdrückung unseres Lebenswillens. Im Gegenteil, im Unterschied zu seinem Täufer Johannes sagt er einmal – und das ist eines der härtesten Worte, das zweifellos die originale Sprache Jesu (ipsissima vox) überliefert hat: „Johannes ist gekommen, er isst und trinkt nicht, und sie sagen: er ist von Dämonen besessen. Der Menschensohn [er meint sich damit selbst] ist gekommen, er isst und trinkt, darauf sagen sie: dieser Fresser und Säufer!“ (Mt 11,18 f). Es ist eindeutig, dass Jesus kein Nein zu den Lebensvollzügen des Menschen gesprochen hat. Das heißt selbstverständlich nicht – und ich möchte dies mit Nachdruck betonen, um nicht missverstanden zu werden –, dass das Chris-

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tentum eine Religion zu Diskountpreisen ist, in der es keine Entbehrungen, keine Verzichtleistungen, kein Opfer gibt; ganz im Gegenteil. Die Liebe Gottes, die Liebe Christi fordert uns heraus, oder wie es Paulus in seinem zweiten Brief an die Gemeinde zu Korinth ausdrückt: „Caritas Christi urget nos“ (2 Kor 5,14). Sie ist das eigentliche Zentrum des Christentums. Man kann nach meiner Überzeugung das Christentum in einem einzigen Satz zusammenfassen, den bereits die mittelalterliche Frauenmystik in Kloster Helfta so zum Ausdruck gebracht hat: Gott liebt dich. Aber das ist ein Satz von ungeheurer Gewalt, von ungeheurer Herausforderung, ein Satz, der uns nicht allein das Äußerste gibt, sondern auch das Äußerste abverlangt. Und insofern ist das Christentum selbstverständlich eine Religion von allerschwersten Forderungen bis hin zur Feindesliebe. Etwas Härteres kann dem Menschen nicht mehr abverlangt werden als das, was Jesus ihm abverlangt hat. Aber er hatte Gründe, es zu tun, und er konnte das fordern, weil er noch Größeres dem Menschen geschenkt hat. Und jetzt noch einmal mit Eugen Biser : das Christentum ist keine asketische und moralische, sondern eine therapeutische und mystische Religion. Denn es geht davon aus, dass der Mensch krank ist. Das ist eine Aussage, die jeden trifft, auch den Gesündesten. Denn wir alle leiden unter einer Krankheit, die der dänische Theologe Sören Kierkegaard diagnostiziert hat mit einem Buch, dem er den Titel „Die Krankheit zum Tode“ gegeben hat. Das ist unsere Krankheit; eine Krankheit, die wir, so meine ich, täglich durchleben und durchleiden in dem vorgezogenen Tod, in dem täglich erlittenen Tod. Und dieser tägliche Tod ist die Angst, die sich etymologisch von „Enge“, „Engegefühl“ herleitet. Hier handelt es sich, wie Biser sagt, um drei Grundängste des Menschen. Zum einen ist dies die Angst vor einem grausamen und strafenden Gott, einem Gott der Vernichtung und des Leids; zum anderen handelt es sich um die Angst vor dem Mitmenschen, dem man alles Böse zutraut, wobei dieses Misstrauen auch auf die eigene Person zurückfällt. Daraus erschließt sich zum dritten die Angst des Menschen vor sich selbst, vor seiner Schwachheit und Hinfälligkeit, die Angst vor dem eigenen Versagen, die Angst weniger zu leisten oder nicht genügend zu leisten, die Angst nicht zu genügen und im harten Konkurrenzkampf unterzugehen. Zu diesen Grundängsten gesellt sich noch eine weitere Angst. Je mehr die Lust am freien Leben und Lieben, an verrohender sexueller Libertinage steigt, desto mehr wächst naturgemäß die Angst vor dem Sterben. Alle Lust will Ewigkeit und keine Krankheitsscham, doch wenn die Medizin das ewige Leben nicht schafft und die traditionellen Bindungen immer lockerer werden, braucht es einen anderen Trost und Halt. Und genau dies dürfte der wahre Grund für die Wiederkehr der Religion in unseren Breitengraden sein. Allerdings spielt dabei das Christentum nur eine bescheidene Rolle. Gerade deshalb müssen von christlicher Seite gewisse Zusammenhänge bedacht werden. Jegliche Angst ist ja ein vorweggenommenes Sterben, und das

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Sterben ist eine zur extremen Konsequenz geführte Angst. Man kann diese beiden Dinge zweifellos gegensinnig definieren. Das Christentum jedoch, das Zeugnis vom heilenden Gott gibt, weiß auch in Zeiten, in denen Wellness angesagt ist, um diese Todverfallenheit des Menschen; es weiß tiefer darum, denn das Christentum hat es darauf angelegt, uns Menschen in dieser Todverfallenheit zu helfen, weil es den Tod zu überwinden sucht. Deswegen ist ihm eine ganz besondere Sensibilität für diese „Krankheit zum Tode“ eigen. Und weil nun das Christentum es mit dieser Krankheit aufnimmt, darum ist es eine therapeutische Religion. Jesus zögert ja auch nicht, seine ganze Sendung unter diesen einen Begriff zu subsumieren, dass er der Arzt der Menschheit sei. „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“ (Mt 9,12), so sagt er an die Adresse seiner erbitterten Gegner und Feinde. Er will damit in keiner Weise andeuten, dass es zwei Kategorien von Menschen gibt: solche, die ihn brauchen, jene also, die als Kranke von ihm bezeichnet werden, und andere, die sich der Gesundheit erfreuen. Nein, dieser Satz will sagen, ihr alle seid krank. Es gibt nur eine besonders bedauernswerte Gruppe von Leuten unter euch, die das nicht wahrhaben wollen, die das noch nicht gespürt haben, die zu stumpfsinnig sind, um das zu realisieren. Aber ihr alle leidet an der Krankheit zum Tode, und deswegen braucht ihr mich alle, mich, euren Arzt. Und deshalb ist eben das Christentum keine asketische, sondern eine therapeutische Religion. Aber das Christentum ist auch keine moralische, sondern eine mystische Religion. Denn es will den Menschen in eine Lebensbeziehung zu Gott versetzen, es will ihm ganz tief erfahren lassen, dass der bedingungslos liebende Gott nicht nur ein Gott des Heils, sondern auch ein Gott der Heilung ist. Es will dem Menschen durch die Heil machende Auferstehung Jesu ein neues Leben einhauchen, göttliches Leben. Hier handelt es sich ohne Zweifel um das innerste Geheimnis des Christentums. Und genau deshalb ist eben das Christentum keine moralische, sondern eine mystische Religion. So ist es von daher nicht überraschend, dass sich in unserer Zeit, nicht zuletzt bei nichtgetauften und konfessionslosen Menschen, eine ungeahnte Offenheit und auch Betroffenheit für mystische Texte und deren Verfasserinnen und Verfasser zeigen. Gerade diese Erfahrung machen die Zisterzienserinnen in Kloster Helfta, das im Jahr 1999 in einer nahezu völlig entchristlichten Gegend im Mansfelder Land (nur 10 % Christen!) wieder erstanden ist. Sie bereiten die am Evangelium orientierte Christusmystik der drei hier in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebenden Mystikerinnen (Mechthild von Magdeburg, Mechthild von Hackeborn, Gertrud die Große von Helfta) für die heutige Zeit auf. So strahlen das Gottes- und Menschenbild dieses Zentrums der mittelalterlichen Frauenmystik auch in unsere heutige Zeit in heilender Weise herein. Als Christen und Kirchen brauchen wir nämlich vor der gegenwärtigen Säkularisierung aller Lebensbereiche nicht zu kapitulieren, wenn wir unsere Chancen besser erkennen und nutzen würden. Dies aber bedeutet unter an-

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derem auch, die reichen mystischen Schätze, angefangen von der Zeit der Kirchenväter des Westens und Ostens über die abendländische Mystik des Mittelalters und ebenso der Neuzeit bis hinein in das vergangene Jahrhundert zu heben und für die heutigen Menschen, ob Christen oder Nichtchristen, zu erschließen. Von daher ist für mich Seelsorge im derzeitigen Kontext Mystagogie auf hoher Ebene und der Vollzug des Gottesdienstes benötigt dringend eine therapeutische Ausrichtung, um das Christentum als Religion der Liebenswürdigkeit und nicht als Demonstration von Autorität, Macht und Gesetzlichkeit darzustellen. Und darum sei nochmals betont: Das Christentum ist keine moralische, sondern eine mystische Religion. Und jeder Christ, jede Christin sollte eigentlich ein Mystiker sein und mit der Hl. Gertrud der Großen von Helfta (1256 – 1302) zu Gott sprechen können: Wenn wir fliehen, / Du folgst uns nach; / kehren wir Dir den Rücken, / Du trittst uns vors Angesicht; / Du flehst voller Demut, / aber Du wirst verachtet. / Aber weder Beschämung noch Verachtung kann Dich dahin bringen, / Dich von uns abzuwenden; / Du bist unermüdlich, / uns zu jenen Freuden zu ziehen, / die kein Auge gesehen, / die kein Ohr gehört hat / und die noch nie / in eines Menschen Herzen gekommen sind. (aus: Gesandter der göttlichen Liebe, II,3, L 18)

2. Heilsbedürftigkeit und Heilsangebot Eine Beschäftigung mit der Mystik und dem heilenden Gott wäre meines Erachtens unvollständig, wenn nicht auch verwiesen würde auf jene Quelle, aus der letztlich jegliches christliche Leben schöpft, auf die Eucharistie/ Abendmahl. Beachten wir doch, dass in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die drei heiligen Frauen von Helfta ihre mystischen Erfahrungen immer wieder an der Liturgie festgemacht haben. Es gilt festzuhalten, dass es bei jeder eucharistischen Feier, also der Hochform christlichen Gottesdienstes, inhaltlich nicht allein um das geht, was sich „äußerlich“ abspielt. Vielmehr verweist der Ritus auf eine Ebene, die den Menschen in seiner Heilsbedürftigkeit anspricht; es geht also um Heilsgeschichte und Heilsgegenwart. Der Mensch erfährt sich ja immer wieder als einer, der trotz größter Leistung doch nicht das eigene Lebensglück schaffen kann. Trotz vieler Errungenschaften und Erleichterungen sind die Menschen nicht gesünder und zufriedener geworden. Es scheint so, als schaffe der technische und wissenschaftliche Fortschritt eher mehr und noch größere Probleme, als er löst. Und jeder Mensch macht immer wieder die Erfahrung des Schuldigwerdens, er erfährt die Grenzen menschlicher Machbarkeit. Wer sich auf diesem Hintergrund als erlösungsbedürftig versteht, hat auch einen grundsätzlichen Zugang zum Geschehen der Messfeier. Die Basis dafür ist, dass jeder Mensch die Bedeutung eines Opfers, einer Hingabe verstehen kann.

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Und in der Messfeier geht es um ein Opfer, es geht um die Lebenshingabe Jesu, um seinen Tod am Kreuz und um seine Auferstehung, also um sein Erlösungsund Heilswerk. Jesus war ja sozusagen in die Rolle eines Opfers geraten. Er hat Hassgefühle in solcher Heftigkeit auf sich gezogen, dass sie nicht durch sein vorausgehendes Handeln begründet sein konnten. Spannungen innerhalb des israelitischen Volkes, nicht zuletzt hervorgerufen durch die Willkür der römischen Besatzungsmacht, haben sich offensichtlich auf ihn entladen. Das Besondere an Jesu Handeln war, dass er darauf nicht mit Aggression und Gegengewalt geantwortet hat. Er hat die Rolle des Opfers, in die er gedrängt wurde, aus freien Stücken angenommen und so die Spirale der Gewalt und Gegengewalt durchbrochen. Er hat damit aber auch den Menschen die Möglichkeit genommen, sich befreit zu fühlen, wenn Schuld auf irgendein Opfer abgewälzt wird. Insofern war sein Opfertod gleichsam ein Erlösungstod, ein Heilstod, für die Menschen. Und dies hat zur Folge, dass die, welche schuldig geworden sind am Kreuzestod Jesu, mit ihrer Schuld unter dieses Kreuz treten können und vom Gekreuzigten angenommen werden. Der Tod am Kreuz wird zum paradoxen Sieg, zum Hineinsterben in neues Leben, zum Sieg über den Tod, hinein in die eschatologische Vollendung. Mit der Messfeier hat nun das ganze Geschehen insofern zu tun, als im Grunde die eucharistische Feier die Gegenwärtigsetzung des schuldlosen Opfers Jesu für uns, das Versöhnungs- und Heilsangebot Gottes an uns ist, wenn wir als Schuldig-Gewordene und Erlösungsbedürftige vor ihn treten. Dies ist das eigentliche Messgeschehen, das, was sich wirklich tut und sich nicht bloß im Herzen des einzelnen abspielt. So stellt sich die Frage, wie dies konkret erfahrbar wird. Über diese Zusammenhänge hat vor allem der Benediktiner Odo Casel (1886 – 1948) nachgedacht und mit seiner Mysterientheologie versucht, die Begegnung des Menschen mit dem Heilswerk Jesu in der Liturgie zu beschreiben. Sein Anliegen gründet in der Frage: Wie wird der Mensch des Heiles teilhaftig? Und er gibt zur Antwort: Erlöser und zu Erlösender müssen sich begegnen. Dies bedingt nun die Frage nach der zeitlich längst vergangenen Heilstat. Dafür hat Casel den Begriff „Mysteriengegenwart“ geprägt. Mysterium ist für ihn zunächst Gott selbst, der Verborgene. Aber zum Begriff „Mysterium“ gehört auch das Offenbarwerden. Der verborgene Gott offenbart sich in Jesus Christus. „Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). Ganz entscheidend ist nun für Odo Casel, dass die Person Jesu Christi nicht von seinen Taten zu trennen ist. Jesu gesamtes Heilswirken bildet zusammen mit der Person, die es gewirkt hat, eine Einheit. Durch den Vollzug der Liturgie tritt diese Einheit von Person und Werk in die Gegenwart herein. Nach Casel ist also die Heilstat Jesu Christi nicht nur kraft seines Stifterwillens ihrer Heilswirkung nach im Gottesdienst gegenwärtig und erreicht auf diese Weise die Mitfeiernden, sondern die Heilstaten des Herrn selbst sind in der

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Liturgie gegenwärtig und wirksam und vermitteln den Christinnen und Christen die Gewissheit, dass sie miteinander auf dem Weg zur ewigen Gemeinschaft mit Gott sind. Damit tritt Odo Casel entschieden dem weitverbreiteten Missverständnis entgegen, dass die Liturgie bloße Gedächtnisfeier und Erinnerung an vergangenes Geschehen im subjektiven Sinn sei. Er betont vielmehr, dass sie die wirkliche Gegenwart (Realpräsenz) des Herrn und seiner Heilstaten zum Inhalt hat, die sich in jedem Gottesdienst, am dichtesten aber in der Feier des Herrenmahles, neu aktualisieren (Aktualpräsenz). In der Feier der Liturgie ereignet sich darum nach Odo Casel das gleiche göttliche Heilswirken, wie es in den geschichtlichen Taten Jesu Wirklichkeit geworden ist. Das ChristusMysterium wird gegenwärtig im Kultmysterium. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass das Kultmysterium die kultische Vergegenwärtigung des Christus-Mysteriums ist. Von daher gilt es, auf gewisse Zusammenhänge hinzuweisen. Die Reformatoren warfen im Blick auf die katholische Lehre vom „Opfercharakter der Messe“ der alten Kirche zu Recht vor, dass in der Messe das einmalige Opfer Christi vom Priester „wiederholt“ und „ergänzt“ wird. Dadurch verfälschte diese Messopferlehre das Verständnis der Eucharistie. Und wenn in früheren katholischen Katechismen bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts noch zu lesen war, dass die Messfeier die unblutige Erneuerung des Kreuzesopfers Jesu ist, dann ist diese Aussage nach dem Verständnis der Mysterientheologie von Odo Casel schlicht und ergreifend einfach nicht mehr haltbar. Denn entsprechend der Aussage der Katechismen wäre der damalige Kreuzestod des Herrn nicht so viel wert gewesen, er müsste vielmehr immer wieder erneuert werden. Wir feiern im Gegenteil – und das ist inzwischen zwischen Lutheranern und Katholiken Konsens – das Abendmahl/die Eucharistie als Lobopfer und Danksagung an Gott, den Vater, für alles, was er in Schöpfung, Erlösung und Heiligung für die Welt getan hat und tut. Insbesondere danken wir Gott und lobpreisen ihn für die Hingabe seines Sohnes, der im Abendmahl/in der Eucharistie gegenwärtig ist. Diese Hingabe kann vom Priester und von der Kirche nicht wiederholt, nicht erneuert und auch nicht fortgesetzt oder ergänzt werden. Wohl aber wird diese Hingabe Jesu in der Feier der Messe für die Mitfeiernden gegenwärtig, sodass die Gemeinde in diese Hingabe mit einbezogen wird und an ihr teilhat. Von daher bezeichnet der Begriff „Hingabe“ das ganze Geschehen am Kreuz verständlicher und für unsere heutigen Vorstellungen genauer und präziser als es der Terminus „Opfer“ vermag. Im Übrigen aber besitzen die theologischen Zusammenhänge der Casel’schen Mysterientheologie eine ganz gewichtige ökumenische Relevanz. In diesem Zusammenhang dürfte von Bedeutung sein, dass Odo Casel seine Mysterientheologie in regem Austausch mit dem evangelischen Ökumeniker Wilhelm Stählin entwickelt hat. Der intensive Briefwechsel darüber existiert heute noch im Kloster Kirchberg an der Jagst. Wir können also bilanzieren, dass nach dem Verständnis von Odo Casel der

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unsichtbare Gott zum Heil der Menschen sichtbar handelt in Jesus Christus und dieses Handeln in der Liturgie der Kirche, vor allem in der Messfeier, gegenwärtig setzt im Geheimnis, im Mysterium. So begegnen wir nach der Mysterientheologie in der Liturgie dem Heilswirken des Herrn, das, befreit von historischen Bindungen, sakramental gegenwärtig ist, am dichtesten in der Eucharistie, welche die sakramentale Gegenwärtigsetzung seines Lebens, seiner Passion, seiner Auferstehung und Vollendung, also des Höhepunkts und Inbegriffs seines Heilswirkens, darstellt. Darum leben alle anderen Sakramente von der Eucharistie her und sind liturgisch auf sie hingeordnet. In den Sakramenten wirkt also der Herr zum Heil der Menschen. Gerade im Hinblick auf die wiederverheiratet Geschiedenen hat dies der verstorbene Kardinal Carlo M. Martini von Mailand kurz vor seinem Tod beherzigenswert zum Ausdruck gebracht: Die Sakramente sind keine Instrumente zur Disziplinierung, sondern sie sind Heilmittel, eine Hilfe für die Menschen an den Wendepunkten und in den Schwächen des Lebens […]. Die Frage, ob wiederverheiratet Geschiedene zur Kommunion gehen dürfen, sollte umgedreht werden: Wie kann die Kirche den Menschen, deren Beziehung gescheitert ist, mit der Kraft der Sakramente zu Hilfe kommen? Die Einladung, zur Kommunion zu gehen und das Brot des Lebens zu empfangen, richtet sich an die Suchenden und Bedürftigen. Das ist kein Anbiedern, sondern ein selbstbewusstes Angebot der Kirche im Wissen darum, dass bei Gott nichts unmöglich ist.

3. Heiterkeit aus Glauben contra Heilsangst Vom rechten Verständnis der Mysterientheologie her müssen wir noch einmal zurückkommen auf die von Kierkegaard diagnostizierte „Krankheit zum Tode“. Die Kirchen haben nicht nur das Evangelium verkündet, von dem wir erkannt haben dürften, dass es eine Botschaft der Angstüberwindung ist. Sondern sämtliche christlichen Kirchen, keine einzige ausgenommen und am schlimmsten der Calvinismus, haben mit dem Mittel der Angst die Menschen an sich zu binden und zur Akzeptanz ihres Heilsangebotes zu bewegen gesucht und damit ein verheerendes Gottesbild bei den Massen der „Kleinen“ verbreitet. Wobei die katholische Kirche den Schuldbeladenen die Angst vor den Sündenstrafen oft brutal eingepflanzt hat und durch den Ablass Erleichterung zusicherte und leider immer noch zusichert. Den Kirchen ist also die Einsicht verlorengegangen, dass die Mitte des Evangeliums und seine Norm Jesus Christus selbst ist mit seiner Botschaft von einem heilenden Gott, der die Menschen ohne Vorleistungen und Opfer bedingungslos liebt. Bleibt bei diesem Kontext nur noch der Hinweis, dass gerade die katholische Kirche nicht nur Sündenängste gezielt geschürt hat, sondern selber ein sehr angstbesetztes System ist, das sich durch autoritäres Denken und Rea-

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gieren zu retten versucht und deshalb aus Angst kein Vertrauen in das Wehen und die Überraschungen des Heiligen Geistes setzt, der eigentlich nach ihrer eigenen Lehre seit Taufe und Firmung jedem Christgläubigen innewohnt. Zahlreiche Bischofsernennungen in den letzten Jahrzehnten waren Ergebnisse solcher unchristlichen Angst um die Erhaltung der Macht, wo dann eklatante moralische, spirituelle wie persönliche Defizite einfach beiseitegeschoben wurden. Wie aber war es vor 50 Jahren? Das Zweite Vatikanische Konzil hatte einen erstaunlichen Mut zu Veränderungen. Dazu hat Papst Johannes XXIII. aus seiner Zuversicht und, wie er selbst meinte, vom Heiligen Geist erleuchtet, die Kirche und eine große Schar von Bischöfen, die bislang theologisch anders dachten, ermutigt. Heute aber macht sich in der Kirche wieder Angst vor dem Neuen breit, Angst vor der eigenen Courage. Aus Angst ist bis hinauf zum Papst1 Restauration anstelle von Reform angesagt. Man hat Angst vor dem durch den Heiligen Geist geschenkten Neuen. Angst vor dem Neuen aber verrät ein zu geringes Vertrauen auf Gottes Führung, auf die uns der gute Papa Giovanni in seiner beeindruckenden Rede zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils so ausdrucksstark und tiefgreifend hingewiesen hat, in der er sehr eindringlich warnt vor den Unglückspropheten, die immer nur Unheil voraussagen und in der Kirche Angst schüren. Irgendwie ist es unerklärlich, dass nach einer solchen Aussage heute Angst vor dem Neuen die Kirche hindert, auf die ganz neuen Herausforderungen unserer Zeit, wie etwa die Säkularisierung aller Lebensbereiche, eine tragfähige Antwort zu geben. Wer über all diese der Heiligen Schrift diametral widersprechenden kirchlichen Praktiken Näheres erfahren will, der möge das Buch „Das Christentum und die Angst“ des evangelischen Pfarrers und Freundes von Sigmund Freud, Oskar Pfister, in die Hand nehmen. Es ist ein geradezu erschütterndes Dokument dieser Strategie. Sämtliche christliche Konfessionen waren der Meinung, dass man den Menschen zunächst in die Sündenangst hineintreiben müsse, weil er dann gleichsam wie nach einem Rettungsanker, nach dem Heilsangebot der Kirchen greifen werde. Hinter dieser Strategie steht ein religionsgeschichtlicher Rückfall, an dem sämtliche Kirchen beteiligt waren: der Rückfall in das gespaltene, aber von Jesus überwundene Gottesbild der Menschheit. Nur ein Gott, der gleichzeitig geliebt und gefürchtet werden sollte, konnte auf diese unnachsichtige Weise auf Sühne und Entsühnung bestehen. Nur ein solcher Gott konnte das Heilsangebot vom Sündenbewusstsein der Menschen abhängig erscheinen lassen. Nur ein solcher Gott rechtfertigte diese von allen christlichen Konfessionen praktizierte Strategie. Doch dieser Mechanismus, die Menschen in die Arme der Kirchen zu treiben, hat ausgespielt. Er funktioniert nicht mehr, so dass es im Grunde nicht nötig gewesen wäre, diese Fessel, in die der heilende Gott eingebunden war, zu zerschneiden. Aber wir mussten es tun; denn alles ist, einfacher ausgedrückt, an der Wiedererweckung der Glaubensfreude gelegen. Sie aber kann nicht 1 Zum Zeitpunkt des Vortrags war Papst Benedikt XVI. im Amt [red. Anm.].

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herbeigeredet, sondern zuletzt nur herbeigebetet werden. Herbeigebetet durch die Anrufung des inwendigen Lehrers Christus. Seine Antwort ist uns längst gegeben, sie muss nur mit neuen Ohren gehört werden. Seine Worte wirken, als hätten sie geradezu auf die glaubensgeschichtliche Situation der Gegenwart gewartet. „In der Welt habt ihr Angst“, sagt Jesus im vierten Evangelium, „doch habt Vertrauen, ich habe die Welt überwunden“ (Joh 16,33). Und ein Kapitel vorher können wir von ihm lesen: „Nicht mehr Knechte nenne ich euch, Freunde habe ich euch genannt, weil ich euch alles gesagt habe, was mir von meinem Vater mitgeteilt worden ist“ (Joh 15,15). Und durch seinen Zeugen Johannes versichert er : „Furcht ist nicht in der Liebe, vielmehr treibt die vollkommene Liebe die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe, und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht vollendet“ (1 Joh 4,18). „Denn Angst ist nicht der Kompass für unser Leben“ (Joachim Gauck). Und wir sollten nicht vergessen, was einmal der unvergessene Papst Johannes XXIII. gesagt hat: „Wer glaubt, der zittert nicht! Er überstürzt nicht die Ereignisse, er ist nicht pessimistisch eingestellt, er verliert nicht die Nerven. Glauben – das ist die Heiterkeit, die von Gott kommt!“ Und damit finden wir auch Zugang zu einem weiteren Problemkreis.

4. Heilender Gott und Sühneleistung Für das Christentum ist es eine geradezu fundamentale Überzeugung, dass Jesus als Sühneopfer für unsere Sünden hat sterben müssen und dass ihm dieses Sühneopfer von seinem Vater abverlangt war. So steht es in jenem letzten großen Brief des Neuen (Zweiten) Testamentes, dem ersten Johannesbrief, in dem auch diese Schlüsselsätze zu finden sind wie „Furcht ist nicht in der Liebe“ (1 Joh 4,18), oder : „Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm“ (1 Joh 1,5), oder : „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,8). Aber dort steht eben auch: „Er ist die Sühne für unsere Sünden, nicht nur für unsere Sünden, sondern auch für die der ganzen Welt“ (1 Joh 2,2). Und dasselbe leuchtet uns entgegen in der Gestalt des Täufers: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt“ (Joh 1,29) – ein Wort, das bis in die Liturgie eingedrungen ist. Und dieser Gedanke findet sich auch in den Abendmahlsworten: „Nehmt und trinkt alle daraus: mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (vgl. Mt 26,28). Tiefer, so denken wir, könnte eine christliche Überzeugung überhaupt nicht mehr verankert sein als die von der Sühneleistung durch den Tod Jesu. Und doch müssen wir diese Überzeugung hinterfragen, damit Leben in die Gestalt Jesu kommen kann, nicht zuletzt auch deswegen, weil Gott uns Menschen nicht erschaffen hat, dass wir uns mit ihm quälen. Dass Jesus so hätte sterben müssen, müsste zwei Zusammenhänge als Voraussetzung haben: zum einen, dass dieses Sterben von Gott abverlangt

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wird, denn sonst bräuchte er dieses Opfer ja nicht zu leisten; und zum anderen, dass es Anhaltspunkte in der Lebensgeschichte Jesu gibt, die darauf schließen lassen, dass er im Bewusstsein, eine Sühneleistung erbringen zu müssen, in den Tod gegangen ist. Irgendwo müsste man dies ja festmachen können, aber merkwürdigerweise kann man das nicht. Jesus spricht zwar – und das ist sicher etwas Nachgestaltetes, aber möglicherweise mit einem historischen Hintergrund – wiederholt von der Notwendigkeit seines Sterbens, oder sagen wir vorsichtiger : von der Unvermeidlichkeit seines Todes. Aber nie spricht er davon, dass er im Interesse einer Sühneleistung in diesen Tod gehen müsse. Das allerälteste Wort spricht sogar eine ganz andere Sprache: „Amen, ich sage euch: Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von neuem davon trinke im Reich Gottes“ (Mk 14,25). Das ist, wie Eugen Biser meint, sozusagen das biblische Urgestein, auf das wir uns berufen müssen, wenn wir nach dem Todesbewusstsein Jesu fragen. Von irgendeiner Verpflichtung zum Sterben oder gar von einer damit verbundenen Sühneleistung ist da überhaupt nicht die Rede, sie würde sich auch geradezu unversöhnlich mit dem Prinzip der Gottesverkündigung Jesu stoßen. Denn seine zentrale Lebensleistung, seine große Innovation bestand darin, dass er die Schatten des furcht- und angsterregenden Gottes, des göttlichen Zorns und der Strafandrohung getilgt und stattdessen das Antlitz des bedingungslos liebenden und heilenden Vaters zum Vorschein gebracht hat. Der damals weit bekannte Würzburger Dogmatiker Herman Schell hat an der Wende des 19./20. Jahrhunderts in vielen seiner Schriften diesen liebenden Vatergott fokussiert und darauf verwiesen, dass die Liebe des Schöpfers wie keine andere Liebe in der Welt ein uneingeschränktes Ja zu seinen Geschöpfen sagt, ein Ja, das deren Anderssein will und fördert. „Gott ist der Urheber der geschöpflichen Existenz und Selbstständigkeit, und zwar aus reiner Liebe und uneigennütziger bedürfnisloser Güte. Gott begründet die Interessen seiner Geschöpfe, aber er beeinträchtigt sie nicht.“2 Damit hat Schell zu seiner Zeit das Prinzip der Gottesverkündigung Jesu entgegen den damaligen kirchlichen Verstehens- und Handlungsweisen geradezu prophetisch vor- und dargelegt, was ihn, den untadeligen Priester und Theologen, aber paradoxerweise ins Visier des römischen Heiligen Offiziums geraten ließ, sodass viele seiner Publikationen auf den Index kamen. Und nun bedenken wir einmal, was wir, bedingt durch kirchliche Vorgaben, in unserer bisherigen Auffassung Gott zugemutet, in welche Fessel wir ihn gesperrt haben. Und noch heute ist man in gewissen Kreisen der katholischen Kirche der Auffassung, dass sie den Schatz der Sühneleistungen Christi und der Heiligen autoritativ verwaltet. Doch mit dem ehemaligen Bischof von Erfurt Joachim Wanke, einem ausgewiesenen Neutestamentler, fragen wir :

2 Vgl. Scheele, Herman Schell im Dialog, 2006, 243.

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Wie kann ein liebender Gott Genugtuung empfinden am qualvollen Sterben seines Sohnes? Wie kann dieser liebende Gott auf höchst grausame Weise das Leben und den Tod seines Sohnes als Sühneleistung für die Sünden und die Schuld der Menschen abverlangen? Es ist dies eine Vorstellung und Behauptung, wie sie absurder und sadistischer eigentlich nicht mehr gefasst werden können.

Aber dieses verdunkelte Gottesbild ist uns so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass es außerordentlich schwerfällt, uns davon zu verabschieden. Wir könnten es auch nicht, wenn wir jetzt nicht die Frage stellen dürften und erstmals stellen könnten: Was gewinnen wir, wenn wir diese Fessel zerschneiden? Darauf möchte ich mit Eugen Biser eine zweifache Antwort geben. Zum ersten Mal entdecken wir den Sinn des Todes Jesu. Im Grunde wissen wir, worin dieser Sinn bestand: es ist unverfälschte Liebe, sein mit uns Menschen solidarisches Schicksal. Jesus starb zweckfrei aus reiner Liebe zu uns Menschen. Denn in keinem andern ist das Heil zu finden. Von hierher lässt sich dann auch ein neues Verständnis vom sogenannten Sühnetod Jesu ableiten; denn das Kreuzesopfer Jesu versteht sich nicht als brutale Auslieferung an den Vater, sondern als seine Selbsthingabe, die den Begriff der Sühne von seinem ursprünglichen biblischen Sinn nicht als Strafe, vielmehr als Antwort auf die Spirale der Gewalt und als Ermöglichung eines neuen Anfangs erschließt. Bibeltheologisch bedeutet daher die Aussage „Jesus sühnt“: Er legt seine heilende Hand über und um uns. Und zum zweiten gewinnen wir ein Verständnis des Todes, das erstmals dem Tod des Menschen gerecht wird. Denn in der Philosophie aller Jahrhunderte ist der Tod nie wirklich als Problem erörtert und diskutiert worden. Das wurde verhindert durch einen unbeholfenen und ungelenken Unsterblichkeitsglauben, der es dazu gebracht hat, dass man den Tod eigentlich nur als das dunkle Tor begriffen hat, das mit einigen Mühen durchschritten werden muss, um hineinzugelangen in das ewige Licht des göttlichen Lebens. Dies hat dann folgerichtig dazu geführt, dass man dem Tod keine Eigenbedeutung zuerkannt hat. Er war nur Durchgang, peinlicher, schmerzlicher und verlustreicher Durchgang, aber eben nur Durchgang in ein besseres, in ein unverbrüchliches, in ein ewiges Leben. Doch unter der Erfahrung des vergangenen blutigen 20. Jahrhunderts ist uns eine neue Einsicht in das Wesen und in die Würde menschlichen Sterbens geschenkt worden. Unter der geradezu erdrückenden Todeserfahrung des letzten und leider auch des neuen Jahrhunderts, denken wir nur an die Selbstmordattentate, ist uns klar geworden, dass der Tod nun wirklich das Ende, der Schlussakt und der Schlussakkord menschlichen Daseins ist. Denn im Tod entscheidet sich definitiv unser Dasein, und alles in diesem Dasein läuft auf den Tod hinaus, auch wenn es nach dem Tod weitergeht. Aber zunächst einmal spricht der Tod ein eindeutiges Nein zu diesem Leben. Und in diesem Nein wird alles bejaht, was in diesem Leben gut und kostbar war. Denn „ich sterbe in Gott hinein“ (Martin Buber). Von daher ist der Tod durchaus

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nicht als eine endgültige Vernichtung zu verstehen, sondern als ein Wandlungsgeschehen, zwar hart und schmerzhaft, aber unvermeidbar für den, der sich auf das Leben einlässt. Von daher muss also dem Tod seine eigene Würde belassen werden. Das heißt kritisch: der Tod darf und kann nicht mit einem Zweck verrechnet und verbunden werden.

5. „Ich weiß mich in Gottes Hand“ Es ist das große Verdienst der Theologie von Eugen Biser, dass er uns eindringlich den neuen Gott der angstfreien und heilenden Liebe, den Jesus verkündet und bezeugt hat, ins Bewusstsein gehoben hat. Denn wenn der christliche Glaube etwas taugt, dann muss er an den menschlichen Grundängsten ansetzen und sie zum Verschwinden bringen. Das ist zweifellos mitgemeint, wenn wir von der zentralen Lebensleistung Jesu sprechen. Sie besteht in allererster Linie darin, dass er uns das Angst überwindende Verhältnis zwischen Gott und uns Menschen geschenkt und dass er uns die angstlose Selbstbeziehung, nämlich die Gotteskindschaft, ins Herz hineingelegt hat. Denn das Gotteskind, das sich vom Vater angenommen, vom Vater ans Herz gezogen weiß, kann und darf sich nicht fürchten und in Angst erstarren. Ein Kind kann ja seinen Vater, wenn er ein menschlicher Vater ist, nicht tiefer kränken, als wenn es ihm mit Angst und Furcht begegnet. Die väterliche Liebe erwartet ein angstfreies Verhältnis. Und dies ist letztlich eine heilende und mystische Glaubenserwartung, die sich auf die Überwindung der diesseitigen Lebensprobleme konzentriert. Vielleicht wird von daher verständlich, was einmal ein kritischer und in gutem Sinn liberaler Priester in sein Testament geschrieben hat: „Ich weiß mich in Gottes Hand, das reicht.“ Oder : „Ich weiß, dass Gott mit mir ist, vor was sollte ich mich denn fürchten“ (Vaclav Dvorak). Oder wie es Eugen Biser bei der Frage nach seinem Tod ausgedrückt hat: „Ich lasse mich von Gott überraschen.“

Quellen- und Literaturverweise Biser, Eugen, Hat der Glaube eine Zukunft?, Düsseldorf 1994. –, Die Entdeckung des Christentums, Freiburg i.Br./Basel/Wien 2000. –, Glaubenserweckung. Das Christentum an der Jahrtausendwende, Düsseldorf 2000. –, Gott im Horizont des Menschen, Limburg 2001. –, Der obdachlose Gott. Für eine Neubegegnung mit dem Unglauben, Freiburg i.Br./ Basel/Wien 2005.

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–, Glaubenskonflikte. Strukturanalyse der Kirchenkrise, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1989. –, Jesus. Sein Lebensweg in neuem Licht, Regensburg 2008. Casel, Odo, Das christliche Festmysterium, Paderborn 1941. Fischer, Balthasar/Wagner, Johannes (Hg.), Paschatis Sollemnia. Studien zu Osterfeier und Osterfrömmigkeit, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1959. Frisch, Max, Entwürfe zu einem Tagebuch, Berlin 2010. Hausberger, Karl, Herman Schell (1850 – 1906). Ein Theologenschicksal im Bannkreis der Modernismuskontroverse, Regensburg 1999. Kahlefeld, Heinrich, Das Abschiedsmahl Jesu und die Eucharistie der Kirche, Frankfurt a.M. 1980. KrTtzl, Helmut, Angst in der Kirche, in: Diakonia 38 (2007), 419 – 424. Reifenberg, Hermann, Fundamentalliturgie, Bd. 1 und 2, Klosterneuburg 1978. Richter, Klemens/Schilson, Arno, Den Glauben feiern, Mainz 1989. Scheele, Paul-Werner, Herman Schell im Dialog. Beiträge zum Werk und zur Wirkung von Herman Schell, Würzburg 2006. Schlemmer, Karl, Das ganze Leben ist Gottesdienst. Zum katholischen Verständnis der Sakramentalien und Segnungen, in: Gottes Volk – Bibel und Liturgie im Leben der Gemeinde (Nr. 2), Stuttgart 1994. –, Die Gottsuche des Menschen heute angesichts der Situation der Kirchen in unserer Gesellschaft, in: W. Godel/A. Bilgri (Hg.), Mönche und Nonnen. Dialogpartner für solche, die Gott ahnen und ihn suchen (Andechser Reihe 5), St. Ottilien 2001. –, Geistliche Biotope – notwendende Orte einer Pastoral mit Zukunft, in: L. Nowak (Hg.), Un-Möglich, Leipzig 2008. SchUtzeichel, Harald, Die Feier des Gottesdienstes, Düsseldorf 1996. Williams, Paul, Mein Weg zu Buddha und zurück. Warum ich wieder Christ bin, München 2006.

Friedhelm Hartenstein

Die Auferstehung und das Leben (Johannes 11) Predigt im Universitätsgottesdienst am 15. Juni 2014, St. Markus, München

Liebe Universitätsgemeinde, mit vierunddreißig Jahren habe ich zum ersten Mal einen toten Menschen gesehen. Es war im Vikariat im Marburger Land, einer Gegend, in der das 19. Jahrhundert mit dem ausgehenden 20. immer noch verschwistert war ; Gebrüder-Grimm-Gebiet, viel Fachwerk und Heimatverbundenheit, evangelisch aus Tradition und gerade deshalb auch immer nahe am Säkularen. Die Verstorbene, zu der ich in einen großen Bauernhof zur Aussegnung gerufen wurde, war in ihrer Kammer aufgebahrt, bereits im offenen Sarg. Sie war um die achtzig Jahre alt, die weißen Haare hatte man ihr akkurat gescheitelt zurechtgesteckt, ihre Hände lagen gefaltet auf der Brust. Sie trug eine schlichte schwarze Tracht, wie sie an Pfingsten und Michaelis von den älteren Frauen auch zum Abendmahl getragen wurde. Um das sehr schmale Gesicht mit pergamentener Haut und spitzer Nase hatten die Familienmitglieder grüne Zweige, darunter viel Rosmarin, gelegt. – Die Wirklichkeit des Todes hat eine Evidenz, der man sich nicht entziehen kann. Eine elementare Erfahrung, die in meiner Biografie, vermutlich nicht untypisch, sehr lange auf sich warten ließ. Meine verstorbenen Großeltern habe ich nicht mehr als Tote gesehen, man wollte uns Kindern den Anblick ersparen, und die Särge im offenen Grab hatten etwas Abstraktes. Es war also diese Tote, der ich bei der Aussegnung meine Hand auflegte und zu deren Ausgang aus dem Leben die Angehörigen und ich beteten, die ich nicht vergessen kann, wenn von Auferstehung die Rede ist. Im Marburger Land gehört es zur Tradition, dass die Trauergemeinde am Ende jeder Bestattung am offenen Grab das „Christ ist erstanden“ singt. Es war dieser Moment, auf den ich mich – so seltsam das klingen mag – jedes Mal auch gefreut habe, wenn ich eine Beerdigung zu halten hatte. „Christ ist erstanden, von der Marter alle …“ Dieses Singen mit vom Weinen heiseren und anderen starken Stimmen, entlastete mich als Liturgen: Ich trat zurück in die Gemeinde und im Weiteren in den Alltag, meine Aufgabe war getan und ich fühlte mich getragen von der überindividuellen Kraft der Worte jenes christlichen Urbekenntnisses, das hier über offenen Gräbern laut wurde. Zugleich war ich aufgehoben in jener ganz konkreten Gemeinschaft der Zweifelnden und Hoffenden, die sich auch des Prekären ihres Glaubens im Angesicht des Todes bewusst wurden. Im Singen selbst gab es beides: Vergewisserung und Hingabe, Verstummen und Ausweichen. Der Tod eines ge-

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liebten Menschen ist ein Moment der Wahrheit: Was trägt, wofür stehen wir, stehe ich? Im Angesicht des Todes, der für uns immer nur der Tod eines Anderen, der Tod der Anderen, sein kann, weil es unmöglich ist, sich selbst als tot vorzustellen, erhebt sich die Frage nach dem Leben in ihrer ganzen Wucht und Zerbrechlichkeit. Auf diese Frage antwortet Jesus in Joh 11,25 mit den Worten: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“ Das 11. Kapitel des Johannes-Evangeliums ist um dieses Ich-Bin-Wort herum gestaltet: In ihm spricht ein Autor, dessen Situation der unsrigen viel näher war, als wir vermuten mögen. Drei auffallende Gesichtspunkte an der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus möchte ich zur Verdeutlichung hervorheben: Ein erster Zug an Joh 11 ist die Wirklichkeit des Todes, der die Wirklichkeit der Auferstehung entsprechen muss. Lazarus ist in der erzählten Welt so real tot, wie ich es soeben beschrieben habe: Es sind bereits vier Tage und „er riecht schon“, wie es Marta Jesus gegenüber sagt (V. 39, vgl. V. 17). Hier handelt es sich nicht um ein fernes antikes Weltbild, sondern um die Universalität einer Erfahrung, die Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen machen. Vielleicht ist es mit Thomas Macho und anderen genau die kulturelle Verarbeitung des Todes, die das Grunddatum des Menschlichen bezeichnet.1 Ein zweiter mir wichtig erscheinender Gesichtspunkt in Joh 11 ist die intensive Beleuchtung der menschlichen Beziehungen im Angesicht des Todes. Da sind die Schwestern Marta und Maria, die um ihren verstorbenen Bruder trauern, den sie geliebt haben. Und da ist Jesus, der als Freund des Lazarus (V. 3) schon um Hilfe gebeten wird, als dieser noch krank ist und der diese Freundschaft in den Augen der Umstehenden bekräftigt, als er, so scheint es ihnen, um dessen Tod weint (V. 35). In V. 5 heißt es ausdrücklich, dass Jesus Marta, Maria und Lazarus „liebte“, ihnen also tief verbunden war. Gerade in der intimen Situation der Begegnung im Angesicht des Todes lässt der Autor Jesus als „die Auferstehung und das Leben“ zu Wort kommen. Es geht um einen Trost, den allein er vermittelt. Der dritte und letzte Aspekt der Geschichte von der Herausrufung des Lazarus aus dem Grab, ist die deutliche Benennung der Erfahrung des Todes der Anderen. Weil wir unseren eigenen Tod nie erleben, sondern allein unser Sterben, liegt hier ein tiefer ethischer Impuls: Unser Protest gegen den Tod und unser Wille zum Leben darf und kann sich nicht auf uns selbst beschränken; er muss sich – gerade unter Christen – vor allem gegen den Tod der Anderen richten und das heißt auch gegen die vermeidbaren gewaltsamen Tode der Weltgeschichte oder gegen den isolierten Tod fernab aller Solidarität. Es geht um ein Vergessen, das nicht sein darf. Joh 11 kennt konkrete Netzwerke, in denen Trost und Hilfe gefunden werden: „Vielen von den Juden 1 Vgl. Macho, Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich, 2000.

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waren zu Marta und Maria gekommen, um ihnen wegen des Bruders zuzusprechen/sie zu trösten“ (V. 19). Auch Jesus ist einer von ihnen. Diese drei Aspekte sollen heute helfen, uns dem Wort zu öffnen, das im Mittelpunkt dieser Predigt steht: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“ Erstens: Die Wirklichkeit der Auferstehung: Eine der mit Recht größten Anfragen an den christlichen Glauben richtet sich seit seinen Anfängen gegen die Ungeheuerlichkeit der Behauptung, dass Jesus nicht dasselbe Ende gefunden hat wie alle anderen Menschen. Stattdessen beginnt der Glaube an ihn als den Christus mit den Erfahrungen seiner Freunde und sogar einzelner Feinde (wie Paulus) nach seinem Tod. Sie haben vor dem Hintergrund jüdischer Endzeiterwartungen diese Erfahrungen als Auferweckung gedeutet, wie sie allen Menschen guten Willens vonseiten Gottes versprochen war. Diese Erfahrungen waren den Nachgeborenen nicht mehr direkt zugänglich, sondern allein durch die Zeugnisse der neutestamentlichen Schriften. Seit der Aufklärung erscheinen deren Aussagen der historischen Kritik als mythologisch. Der Abstand zu ihrem möglichen Wahrheitsgehalt hat sich vergrößert. Eine andere, übrigens ebenfalls moderne Weise damit umzugehen, ist die Annahme, die Texte seien autorisiertes Gotteswort und berichteten Dinge, die wie empirische Wahrheiten behandelt werden müssten. Dann müsste man ihnen einfach glauben und der kritische Verstand wäre dabei nur hinderlich. In seinem Buch „Warum ich kein Christ bin“ hat der Philosoph und Historiker Kurt Flasch vor kurzem dargelegt, dass er seinen kirchlich vermittelten Glauben deshalb aufgegeben hat, weil er weder an die Auferstehung Christi als historisches Faktum glauben kann, noch diese „ausschließlich [als] Glaubenszeugnis“ zu akzeptieren bereit ist, wie es z. B. der einschlägige Artikel in der vierten Auflage der RGG vorschlägt. Flasch plädiert dagegen für eine rein literarisch-poetische Lösung: Die Auferstehung als Bild sagt mir etwas, als Ereignis in der Außenwelt kann ich nichts von ihr wissen. Deswegen bin ich im Sinn der Kirchen kein Christ mehr. Deren Urkunden, angefangen vom Evangelium des Lukas, beschreiben Auferstehung Jesu und Auferstehung der Toten am jüngsten Tag durchweg als realistisches Faktum. Bilder lösen Lebensströme aus. Vielfältige, unerwartete, auch gegensätzliche. Die mühselig ermittelten Fakten der historisch-kritischen Forschung können das nicht.2

Es fragt sich, ob diese Alternative nicht zu simpel ist: Realität oder Fiktion, Ereignis oder Poesie? Das Problem jedenfalls ist echt und darf nicht übergangen werden. Wir alle müssen, wenn wir redlich mit unserem Glauben oder Unglauben umgehen wollen, fragen, was wir im Angesicht des Todes als tragend empfinden. Dafür sind wir an die Glaubenszeugnisse verwiesen, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. In Joh 11 ist die Auferwe2 Flasch, Warum ich kein Christ bin, 2013, 132.

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ckung des Lazarus mit besonders drastischen Farben gemalt: Kein billiger Effekt, sondern ein Hinweis auf die tiefe Wirklichkeit des Gemeinten. Wir wissen heute noch besser als frühere Generationen, wie sehr wir Körperwesen sind. Insofern ist die Auferstehung des „Fleisches“ eine unverzichtbare und weise Aussage: Nur in der ganzen Fülle unserer leiblichen Existenz und Geschichte lohnt das Wagnis, an Gottes endgültige Rettung zu glauben. Gemeint ist ein Akt des Vertrauens auf Gott als den großen Liebenden, wie ihn der Theologe Karl Rahner formuliert hat: Wenn die Vollendung kommt, werden wir überrascht sein, wie ganz anders alles sein wird, als wir es uns vorgestellt haben […], aber eben dieses ganz andere wird doch auch überraschend nahe und zu unserem bisherigen Daseinsstand passend sich zeigen. Mein Geist und mein Fleisch werden frohlocken in Gott meinem Heiland […]. Ich warte, o Gott, in Geduld und Hoffnung. Ich warte wie ein Blinder, dem man den Aufgang des Lichtes verheißt. Ich erwarte die Auferstehung der Toten und des Fleisches.3

Zweitens: Eine Sprache der Liebe: Marta in der Erzählung von Joh 11 hat einen nüchternen Blick auf die Realität des Todes ihres Bruders. Sie ist traurig, dass Jesus zu spät kommt, um dem Kranken zu helfen, traut ihm aber auch jetzt noch viel zu als Fürbitter und Tröster. Auf seine Ankündigung „Auferstehen wird dein Bruder“ (V. 23) antwortet sie nach bestem Gewissen: „Ich weiß […] bei der Auferstehung am letzten Tag“ (V. 24). Doch genau das ist nicht gemeint, wenn Jesus in der Begegnung mit der Freundin die Schranken zwischen uns und Gott aufhebt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt wird leben, auch wenn er stirbt. […] Glaubst du das?“ (V. 25 f) Und sie antwortet: „Ja, Herr.“ (V. 27) Das mächtige Wort gehört genau in diese intime Ansprache an Marta im Angesicht des Todes hinein: Es ist ein Wort der Liebe – einer Liebe, die in der Rettungstat der Auferweckung des Lazarus durchsichtig wird auf den, von dem es in einem der spätesten Texte im Buch Jesaja heißt: „Verschlingen wird er den Tod auf ewig. Und abwischen wird Gott, der Herr, die Tränen von jedem Antlitz.“ (Jes 25,8) Es ist die Stärke des Johannesevangeliums, dass es gerade nicht allein vom realistisch-objektiven „Faktum“ der Auferstehung spricht, sondern vor allem von der persönlichen Begegnung mit Jesus, in der allein Glaube und Vertrauen sich ereignen können, weil sie auf Anrede und Angenommensein reagieren. Der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour, auch er wie Kurt Flasch darum bemüht, die Distanz zu seiner verlorenen kirchlich sozialisierten Identität zu bearbeiten, hat in seinem Buch „Jubilieren“ sehr eindrücklich auf die Analogie zwischen der Sprache der Liebe und der Sprache der Religion hingewiesen: Bin ich fähig, von dem zu sprechen, was nicht fern, sondern nahe ist, nicht geistig, sondern fleischlich, nicht tot, sondern lebendig? Und das, wovon ich spreche, dieses 3 Rahner, Gebete des Lebens, 1984, 197.

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Wort selbst – ist es nicht fähig, diejenigen aufzurichten, an die ich mich wende, so das Ausdrücke wie „gerettet“, „erlöst“, „auferstanden“ ihnen erneut als passend erscheinen, selbst wenn sonst nichts, gar nichts auf der Welt sich geändert hat? Liebende wissen wohl, dass ein Wort, das sie von der Distanz erlöst, nicht von weit her kommt, sondern unter ihnen wohnt, daß es ihr Dasein erhöht, ohne es doch zu verändern, daß es ihrer kleinen Welt keinen Byte Information, keine Erkenntnis, kein einziges Wissen hinzufügt, und daß es sie doch von innen bereits verklärt hat.4

Drittens: Der Tod der Anderen: Wenn es so ist, dass nur in einer Sprache der Liebe die Botschaft von der Auferstehung immer neu gesagt und geglaubt werden kann, dann bedeutet das für uns, dass wir solidarisch sein müssten mit allen Lebenden. Nicht die Angst vor dem eigenen Tod, die abstrakt bleibt, sondern die konkrete Erfahrung der Sterblichkeit der Anderen sind der Antrieb für unser Zusammenleben in Mitmenschlichkeit und Liebe: „Hierin bin ich unvertretbar – nicht in meinem Todesbewußtsein, sondern darin, daß der andere getötet werden kann“, so hat es der an AIDS gestorbene Marburger Theologe Henning Luther unter Bezug auf die Ethik des jüdischen Religionsphilosophen Emmanuel Lwvinas formuliert.5 Dann wäre die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten, nicht eine Vertröstung auf ein Jenseits, von dem wir bis zu unserem eigenen Sterben nicht wissen, ob es Illusion ist. Diese Hoffnung wäre dann hier und heute Ausdruck einer christlichen Überzeugung, die sich angesichts der von Menschen verursachten Tode in eine Solidarität mit den Leidenden begibt und nicht schweigt, wenn einsam und verlassen gestorben wird. Ich möchte dazu eine letzte Anregung aus Joh 11 aufgreifen: Die Trostgemeinschaft nicht nur der Angehörigen, sondern eines weiteren sozialen Umfelds, wie ich es im Vikariat in den Dörfern des Marburger Hinterlandes erlebt habe, kann ein Beispiel sein, einander im Angesicht des Todes nicht allein zu lassen. Zu den beeindruckendsten Zeugnissen einer solchen Solidarität der Lebenden gehören die tagebuchartigen Reflexionen von Leon Wieseltier mit dem Titel „Kaddisch“. Darin schildert er – ein von seiner Tradition entfremdeter amerikanischer Jude – sein Trauerjahr um den verstorbenen Vater, in dem er sich dem Ritus des Betens des Kaddisch der Trauernden unterzieht, ohne doch an dessen Relevanz glauben zu können. Ich möchte mit einer besonders eindrücklichen Szene daraus schließen: Freitagabend. Der Sabbat naht in hellem Glanz. Der Rabbi macht mich mit zwei Männern bekannt. Es sind Brüder, und sie haben an diesem Morgen ihren Vater beerdigt. Sie sind gekommen, um Kaddisch zu sagen, aber sie sind mit dem Wortlaut und den Gebräuchen nicht vertraut. Sie sind hilflos. Der Rabbi bittet mich, ihnen zu helfen. Die Trauernden sollen während des Gottesdienstes in einem bestimmten Moment hereingeführt werden, und ich führe sie herein. […] Als die beiden Brüder eintreten, empfängt sie die Gemeinde mit einem melancholischen Gruß: „Möge der 4 Latour, Jubilieren, 2011, 195 f. 5 Luther, Tod und Praxis, 1991, 422.

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Allgegenwärtige euch zusammen mit den übrigen Trauernden von Zion und Jerusalem trösten!“ Dann ist es an der Zeit, das Kaddisch aufzusagen. Die Brüder erheben sich mit mir. Sie lesen eine englische Transliteration des hebräischen Gebets. „Wir werden als Dummköpfe dastehen“, sagt einer der beiden. „Nein“ sage ich, „ein Dummkopf ist nur der, der es nicht probiert.“ Der Ton, in dem ich das sagte, gefiel mir nicht recht; er erinnerte mich an die Selbstgefälligkeit, mit der ich unterwiesen wurde. Aber was ich sagte, das stimmt. Als ich sah, wie sich die Brüder mit dem transliterierten Gebet abplagten, empfand ich Bewunderung. Die Laute, die sie hervorbrachten, hatten für sie keinen Sinn. Und doch lasen sie das ihnen Unverständliche mit solcher Treue, solcher Demut.6

Amen.

Literatur Flasch, Kurt, Warum ich kein Christ bin. Bericht und Argumentation, München 2013. Latour, Bruno, Jubilieren. Über religiöse Rede, Frankfurt a.M. 2011. Luther, Henning, Tod und Praxis. Die Toten als Herausforderung kirchlichen Handelns. Eine Rede, in: ZThK 88 (1991), 407 – 426. Macho, Thomas, Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich, in: J. Assmann (Hg.), Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt a.M. 2000, 89 – 120. Rahner, Karl, Gebete des Lebens, hg. v. A. Raffelt, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1984. Wieseltier, Leon, Kaddisch, München 2000.

6 Wieseltier, Kaddisch, 2000, 33.

Gunther Wenz

Advent Jesu Christi Fallstudien zum Ansatz christlicher Eschatologie

Eschatologie ist ein Lehnwort aus dem Griechischen und bezeichnet die Lehre vom Eschatos, vom Eschaton und von den Eschata im Sinne dessen, was die traditionelle Dogmatik die Lehre von den Letzten Dingen nennt. Als Lehre von dem Eschatos, nämlich von Gott, näherhin dem dreieinigen, ist christliche Theologie insgesamt Eschatologie in dem Sinne, dass sie von dem absoluten Bestimmungsgrund von Selbst und Welt und damit vom schlechterdings Letztgültigen handelt. In der Absolutheit des ewigen Gottes ist die Differenz des Temporären aufgehoben, ohne dass die Ewigkeit deshalb zeitlos genannt werden dürfte. Denn in Jesus Christus hat sich Gott selbst in ein Verhältnis zum Zeitlichen gesetzt, um seine Schöpfung in der Kraft des Hl. Geistes der Erfüllung und Vollendung im Eschaton zuzuführen. Das von dem in Jesus Christus offenbaren Eschatos bereitete Eschaton wird in der biblischen Tradition vorzugsweise „Reich Gottes“ genannt. Nach dem Bekenntnis christlichen Glaubens geht dessen Kommen und das ewige Leben, welches der Geist bereiten wird, untrennbar mit der Parusie Jesu Christi einher. Auf seine eschatologische Erscheinung ist die christliche Zukunftshoffnung konzentriert, weil von ihm und von ihm allein endgültiges Heil für Menschheit und Welt zu erwarten ist. Als personaler Inbegriff des vom Eschatos bereiteten Eschaton ist der kommende Jesus Christus bestimmender Grund und Kriterium all dessen, was nach Maßgabe christlichen Glaubens von den Eschata, den sogenannten Letzten Dingen zu lehren ist. Das Lehrstück „De novissimis“, welches seit alters von den Eschata, den sogenannten Letzten Dingen handelt, pflegt seit geraumer Zeit wissenschaftssprachlich im spezifischen Sinne Eschatologie genannt zu werden.1 1 Vgl. im Einzelnen MUhling, Grundinformation Eschatologie, 2007. Zum Kunstwort wissenschaftlicher Theologie ist der Eschatologiebegriff erst in der Dogmatik der altlutherischen Orthodoxie geworden. Erstmals soll ihn Philipp Heinrich Friedlieb, ein Schüler Johann Gerhards, im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts in lateinischer Fassung in Gebrauch genommen haben und zwar als Umschreibung des klassischen dogmatischen Locus „De novissimis“. Im wissenschaftssprachlichen Deutsch hat sich der Begriff erst allmählich etabliert; allgemeine und über die Konfessionsgrenzen hinausreichende Verwendung findet er nicht vor dem 18. Jahrhundert. Dabei wird seine Bedeutung immer unspezifischer, je weiter der Prozess generalisierender Verwendung fortschreitet. „Einerseits wird er als Bezeichnung für jegliche Jenseits- und Zukunftsvorstellungen verwendet, auch außerchristliche. Andererseits wird er – wie schon bei Johann Gerhard der Terminus der novissima – für die binnenchristliche Lehre ,von den Letzten Dingen‘, die Eschata (pl.) gebraucht.“ (Ebd., 17)

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Klassische Themen spezieller Eschatologie sind Tod, Auferstehung, Gericht, Weltvollendung, ewiges Leben und ewige Verdammnis. Zahl und Reihenfolge der Themenbestände können gelegentlich variieren; doch bleiben die Inhalte im Wesentlichen konstant.2 Für die Strukturierung der Gesamtthematik ist die Eine eigene Studie über Sprachgebrauch und Sprachverwirrung in der protestantischen Theologie von der Orthodoxie bis zur Gegenwart ist von Sigurd Hjelde vorgelegt worden. Er konzentriert sich insbesondere auf das Verhältnis der Rede vom Eschaton einerseits und den Eschata andererseits. Die Pluralform sei stets erhalten geblieben und zwar auch unter der Bedingung der Wortschöpfung Eschatologia, deren Thema die Eschata sind. Doch habe der an die Stelle der Wendung „De novissimis“ tretende Eschatologiebegriff die Neigung befördert, die Singularform sprachlich zu privilegieren, wie dies in der modernen Literatur häufig der Fall sei, wenn von Eschatologischem die Rede sei. Indes lasse sich zeigen, dass die „Doppelseitigkeit des Eschatologiebegriffs“ (Hjelde, Das Eschaton und die Eschata, 1987, 487) im Sinne von Eschaton und Eschata inhaltlich bereits in der altprotestantischen Dogmatiktradition angelegt sei, was besonders dann zutage trete, wenn man die klassisch-analytische Eschatologie mit der nach Maßgabe der synthetischen Methode generierten vergleiche (vgl. ebd., 69ff). Die Alternative „Eschaton oder Eschata?“ (ebd., 488) habe sich schon damals nicht gestellt, insofern der Sinngehalt der Eschata stets von dem Eschaton her bestimmt wurde, welches in Jesus Christus in der Kraft des Hl. Geistes dem Glauben offenbar geworden ist. 2 Schon in mittelalterlichen Überlieferungszusammenhängen hat sich ein mehr oder minder fester Kanon von Eschata ausgebildet, die in der Lehre von den Letzten Dingen thematisiert wurden. Als abschließender Traktat der Dogmatik behandelt die Eschatologie üblicherweise diejenigen Endereignisse, die den einzelnen Menschen als Einzelnen, sodann jene, welche ihn als Glied der Menschheit, diese insgesamt und im Verein mit der ganzen Welt betreffen. Zu den individuellen „Letzten Dingen“ werden in der Regel Tod, besonderes Gericht, Himmel, Hölle und diverse „Zwischenzustände“ gerechnet, zu den allgemeinen Wiederkunft Christi, leibliche Totenauferstehung, universales Endgericht und Weltende bzw. Weltvollendung. Doch ist leicht zu sehen, dass sich die getroffene Unterscheidung nicht als Trennung verstehen lässt, da Individual- und Universalaspekte der Eschatologie auf differenzierte Weise zusammengehören. Die gängigste Form der Zuordnung folgt einem Zeitschema und bringt die individuellen und allgemeinen Endereignisse in eine bestimmte temporale Reihung. Im Augenblick seines Todes bzw. unmittelbar danach entscheidet sich das ewige Geschick jedes Einzelnen in einem besonderen Gottesgericht, wobei die ungläubigen Todsünder sogleich verdammt, die gänzlich Reinen ebenso schnell dem Himmel zugeführt, die zur Seligkeit Bestimmten, aber vorheriger Reinigung Bedürftigen hingegen in einen purgatorischen Zwischenzustand eingewiesen werden, in dem sie auszuharren haben, bis sie vollkommen von ihren lässlichen Sünden gereinigt sind. Einen wichtigen Referenztext diesbezüglicher Aussagen katholischer Tradition bildet die dogmatische Konstitution von Papst Benedikt XII. „Benedictus Deus“ aus dem Jahr 1336 (vgl. DH 1000 – 1002). Wie das Verhältnis der Themen der allgemeinen zu denjenigen der individuellen Eschatologie zumeist chronologisch bestimmt wird, so folgt auch ihre Anordnung einer temporal gedachten Reihung, die mit der Parusie Jesu Christi beginnt, woraufhin kollektive Totenauferweckung und universales Endgericht folgen. Die Platzierung von Weltende bzw. Weltvollendung kann variieren. Der Vorrang der individuellen vor der Kollektiveschatologie ist in den klassischen Lehrbüchern nicht nur zeitlicher, sondern auch sachlicher Art, was u. a. aus der ungleich strengeren Systematisierung der einschlägigen Stoffe ersichtlich wird. Der Kanon der Themenbestände des traditionellen Lehrstücks „De novissimis“ bleibt über die Jahrhunderte hinweg verhältnismäßig stabil, wie dies für römisch-katholische Dogmatiken und dogmatische Lehrbücher des 19. und 20. Jahrhunderts Elmar Fastenrath erwiesen hat („In vitam aeternam“, 1982). Abgesehen von der Fegfeuerthematik gilt dies auch für reformatorisch geprägte Eschatologiekonzeptionen. Vgl. Holmstrçm, Das eschatologische Denken der Gegenwart, 1936. – Geisser, Grundtendenzen der Eschatologie im 20. Jahrhundert, 1994.

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Tatsache bedeutsam geworden, dass in der christlichen Eschatologie schon zeitig die aus dem apokalyptischen Frühjudentum überkommene Vorstellung einer eschatologischen Totenauferstehung zum allgemeinen Endgericht mit der griechischen Annahme einer Seelenunsterblichkeit verbunden wurde. Infolge dieser Kombination ergab sich eine charakteristische Unterscheidung zwischen individueller und universaler Eschatologie. Über das eschatologische Los der Einzelseele, so die verbreitete Annahme, wird in Form eines besonderen Gerichts bereits unmittelbar im Augenblick des Todes entschieden. Die Wiedervereinigung von Leib und Seele hingegen findet erst bei der allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Tage statt, die zugleich das universale Endgericht und die definitive Scheidung von Himmel und Hölle mit sich bringt. Was zwischen dem besonderen und dem allgemeinen Gericht statthat, ist Gegenstand diverser Spekulationen geworden. Eine Interimslösung stellt die römisch-katholische Lehre vom Fegfeuer dar, der zufolge die grundsätzlich zum Heil bestimmten, aber mit lässlichen Sünden versehenen Seelen einen purgatorischen Prozess zu durchlaufen haben, bis sie der ewigen Seligkeit endgültig teilhaftig werden. Über den materialen Gehalt der Purgatoriumslehre ist im gegebenen Zusammenhang ebenso wenig zu befinden wie über sonstige Inhalte des Locus „Von den Letzten Dingen“. Erörtert werden soll im Folgenden lediglich das Problem des Ansatzes christlicher Eschatologie und dabei vorzugsweise die Frage, ob sie diesen primär von der gegenwärtigen Glaubenserfahrung oder der zu erhoffenden Zukunft her zu wählen hat bzw. wie beide Aspekte angemessen zu verbinden sind. Dazu werden Fallstudien zu prominenten Eschatologiekonzeptionen der jüngeren westkirchlichen Tradition vorgestellt. In Betracht kommen Karl Rahners grundlegende Studie zu den theologischen Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer Aussagen, der Entwurf einer christlichen Eschatologie von Paul Althaus und schließlich zwei Monographien Jürgen Moltmanns zum Thema, nämlich seine „Theologie der Hoffnung“ und sein Werk „Das Kommen Gottes“. Präsentischer und futurischer Aspekt der Eschatologie werden in den zu behandelnden Konzeptionen durchaus unterschiedlich akzentuiert, was entsprechend auch für die jeweilige Zuordnung von individueller und universaler Eschatologie gilt. Doch zeigt sich bei näherem Zusehen rasch, dass kein Ansatz auf die Wahrnehmung des zunächst in den Hintergrund gerückten Gesichtspunkts verzichten kann. Vor allem auf diese Einsicht soll die Aufmerksamkeit gerichtet werden, um abstrakte Gegensätze schon im eschatologischen Ansatz zu vermeiden. Der Advent Jesu Christi umgreift Präsens und Futur, und die Erwartung der Zukunft des Gekommenen lässt sich von Erinnerung offenbar nicht trennen. Eine christologisch-trinitarisch orientierte Eschatologie hat „das Futurum im Licht des Präsens, die Verheißung auf Grund der bereits geschehenen und verkündigten Erfüllung,

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aber auch umgekehrt wieder die Erfüllung im Licht der mit ihr unlöslich verklammerten Verheißung [zu] verstehen“3.

Karl Rahners Theorie der Möglichkeitsbedingung eschatologischer Aussagen Versteht man unter Religion das menschliche Verhältnis zu einem fundierenden Sinngrund von Selbst und Welt, welches zu Denken und Handeln in Beziehung steht, ohne in ihnen aufzugehen, dann kann Offenbarung die Selbsterschließung jenes Grundes genannt werden, wie das religiöse Verhältnis sie voraussetzt. Nach Zeugnis christlicher Religion hat sich besagtes Erschließungsgeschehen, also die Selbstoffenbarung Gottes, in Jesus Christus ereignet, näherhin in seiner Auferweckung vom Tod, den er am Kreuz erlitten hat. Der auferstandene Gekreuzigte ist nach dem Bekenntnis des christlichen Glaubens die vom Geist bezeugte Selbstoffenbarung Gottes in Person, Ostern mithin das Urdatum des Christentums und seiner Theologie einschließlich der Eschatologie. Christliche Eschatologie handelt grundlegend von der Parusie Jesu Christi als der Zukunft dessen, der zur Rettung der Menschheit auf die Welt gekommen ist. Im Zeichen der „Zukunft des Gekommenen“4 steht in christlicher 3 Kreck, Die Zukunft des Gekommenen, 1961, 120. In vergleichbarer Weise bilden individuelle und universale Eschatologie einen differenzierten Zusammenhang, der zu Unterscheidungen nötigt, aber keine Trennungen zulässt. Trotz tendenzieller Bevorzugung der individuellen Eschatologie nachgerade in der protestantischen Tradition ist der universale Bezug doch auch in ihr stets erhalten geblieben. Denn so entscheidend der Gottesbezug der einzelnen Menschenseele in eschatologischer Hinsicht ist, so kann doch von ihrer leibhaften Beziehung zur Welt nie abgesehen werden. Dies gilt auch und gerade in Anbetracht des individuellen Todes. Er trennt zwar nach traditioneller Auffassung die Seele von ihrem Leib und damit dasjenige, was das Ich an sich selbst und in seinem Selbstbezug ist, vom leiblichen Weltbezug. Aber diese Trennung kann nicht als definitive Scheidung verstanden werden, sondern vollzieht sich in Erwartung künftiger Wiedervereinigung von Leib und Seele in der allgemeinen Auferstehung der Toten, deren universaler Charakter ohne Wahrnehmung menschheitsgeschichtlich-kosmologischer Relationen nicht denkbar ist. Strittig kann also nicht die Frage sein, ob die Weltthematik zur Eschatologie gehört, sondern nur der Modus ihrer Zugehörigkeit und damit die Ordnung, in der Gott, Selbst und Welt in eschatologischer Hinsicht zueinander stehen. 4 Unter diesem Titel exponiert Kreck die eschatologische Thematik des „Zugleich von ,Schon‘ und ,Noch nicht‘“ (vgl. a. a. O., 82ff) in exegetischer und systematischer Hinsicht, um die differenzierte Einheit von Perfekt, Präsens und Futur der Erscheinung Jesu Christi zu erfassen. Dies geschieht in engem Anschluss an Karl Barth, der „das Verhältnis der drei Gestalten des Kommens bzw. Wiederkommens Jesu Christi in Analogie zur Trinitätslehre, und zwar speziell zur Lehre von der Perichoresis“ (a. a. O., 86) gestellt habe. Die Ordnung der drei Weisen der Parusie sei nicht „mit der Elle eines linearen Geschichts- und Zeitbegriffs“ (a. a. O., 118), sondern an dem Verhältnis der intertrinitarischen zu den ökonomischen Beziehungen der göttlichen Dreieinigkeit zu bemessen, welchem dasjenige von Person und Werk Jesu Christi entspreche. Die Dreiheit seiner soteriologischen Erscheinungen als auferstandener Gekreuzigter, als in Wort und Sakrament

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Eschatologie alles, was über das endzeitliche Reich Gottes und das ewige Leben des Geistes zu sagen ist. Christologie und Trinitätslehre gehören zusammen und bilden in ihrem wechselseitigen Verweisungszusammenhang die Basis christlicher Eschatologie.5 Sie thematisiert die Hoffnungsgewissheit des christlichen Glaubens und ihren Grund, ohne den die Hoffnung und die erhofften Inhalte keinen Bestand hätten. Eschatologisches Denken muss demnach stets mit der Frage nach der theologischen Bedingung seiner Möglichkeit verbunden sein. Darauf hat Karl Rahner in seinen transzendentaltheologischen Reflexionen zu den theologischen Prinzipien eschatologischer Aussagen beispielhaft aufmerksam gemacht. Entgegen der nach seinem Urteil „falschen und primitiven Meinung, es

gegenwärtig Wirksamer und als künftig Wiederkommender sei im Persongeheimnis Jesu Christi inbegriffen und zwar kraft des Gottesgeistes, der es in seinem Geheimnischarakter bezeugt und erschließt. Kraft des Gottesgeistes, der den auferstandenen Gekreuzigten mittels Wort und Geist aktuell präsentiert, damit er dem Glauben gegenwärtig sei, ist das Perfekt Jesu Christi als die Zukunft offenbar, auf die sich die Hoffnung des Glaubens ausrichtet. Hoffnungsvolle Erwartung gehört ebenso zum Glauben wie heilsame Erinnerung. Beide sind eins in ihrer Beziehung auf Jesus Christus, in dem der Geist der väterlichen Liebe Gottes auf ewig gegenwärtig ist, ohne aufzuhören gerecht zu sein. Wie sich das Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit Gottes eschatologisch darstellt, entfaltet Kreck im Detail unter der Überschrift „Der Gerichtete als Richter“, um von der theologia crucis her das Verhältnis von Rechtfertigung und Gericht, die Thematik eines Gerichts nach den Werken sowie diejenige von Seligkeit und Verdammnis einschließlich des Problems einer möglichen apokatastasis panton ins Auge zu fassen. 5 Diese Feststellung schließt die Einsicht nicht aus, sondern ein, dass sich eschatologische Postulate auch außerhalb des Christentums finden. Im systematisch-theologischen Eschatologieartikel der TRE werden vier von ihnen benannt: „Das anthropologische Argument, daß mit dem Tode nicht alles aus sein kann; das kosmologische Argument, daß die Welt als die Welt Gottes nicht ins Nichts fallen kann, das hamartiologische Argument, daß die flagranten Ungerechtigkeiten dieser Welt einen endzeitlichen Ausgleich finden müssen; und das soteriologische Argument, daß das Heil allen Wesen der Welt nach dem Willen Gottes zukommt, daß dies aber keineswegs so zu sein scheint.“ (Ratschow, Eschatologie, TRE 10, 351) Ratschow nimmt an, dass christlichen und außerchristlichen Eschatologievorstellungen „ein analoges Modell“ (a. a. O., 359) zugrunde liege, nach dem sich ihre Ordnung und Abfolge bestimme: 1 Der Tod und der Zwischenzustand (anthropologisches Argument); 2. Die neue Welt (kosmologisches Argument); 3. Das Gericht (hamartiologisches Argument); 4. Das Reich (soteriologisches Argument). (Vgl. a. a. O., 352ff) Unterschieden ist die christliche von der nichtchristlichen Eschatologie Ratschow zufolge dadurch, dass in ihr alles hingeordnet werde auf die Zukunft Jesu Christi. In seiner Parusie werde manifest, was in seinem Leben, Sterben und Auferstehen zwar einerseits schon vollendet, andererseits aber erst im Verborgenen offenbar geworden sei: die eschatologische Enthüllung, welche sich „jenseits des Todes, jenseits des Vergehens dieser Welt, jenseits des Gerichtes, als die unmittelbare Klarheit des Reiches Gottes“ (a. a. O., 351) ereigne. Wie immer man Ratschows Annahme eines Analogiemodells zu beurteilen hat, das angeblich alle religionsgeschichtlichen Eschatologievorstellungen verbinde: dass die Christologie die dogmatische Basis und den Skopus christlicher Eschatologie bildet, ist zweifellos richtig. Das christologische Dogma hinwiederum kann ohne das trinitarische nicht gedacht werden. Entsprechend steht die Parusie Jesu Christi in unveräußerlicher eschatologischer Verbindung zum Kommen des Gottesreiches als der Herrschaft des Vaters und dem ewigen Leben, welches der Hl. Geist wirkt.

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seien die Eschata ein Wirklichkeitsbereich wie jeder andere auch“6, betont Rahner, der spezifische Sinn eschatologischer Aussagen lasse sich nur im Zuge einer „grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Besinnung“ (403) auf ihr Wesen und ihre Tragweite erheben. Nach Maßgabe christlichen Glaubens und seines Bekenntnisses hätten eschatologische Sätze ihren Ausgang bei der „Erfahrung von dem Heilshandeln Gottes an uns selbst in Christus“ (417) zu nehmen. Diese habe als die durch Offenbarung erschlossene Quelle aller speziellen Aussagen christlicher Eschatologie zu gelten. Generell und eindeutig festzuhalten sei der „Grundansatz […], daß in dem Wissen um die Heilsgegenwart in Christo das Wissen um die Eschata gegeben ist und nur so“ (ebd.). Christus selbst, wie er sich in seiner österlichen Erscheinung kraft des Geistes dem Glauben aktuell vergegenwärtigt, ist „das hermeneutische Prinzip aller eschatologischen Aussagen“ (425). Mit der namentlichen Benennung des hermeneutischen Prinzips eschatologischer Aussagen, die als christlich gelten wollen, ist zugleich der Erkenntnisgrund benannt, der sie ermöglicht. Eschatologische Sätze informieren nicht über Endzeitszenarien und vermitteln kein gegenständliches Wissen von jenseitigen Welten, sondern explizieren die in der Christusoffenbarung gründende Glaubensgewissheit auf jene Zukunft hin, die, obzwar auf temporales Futur bezogen, jedes chronologische Maß transzendiert. Im Unterschied zur „Auffassung der eschatologischen Aussagen als einer antizipierten Reportage künftiger Ereignisse“ (407 f), die den Verborgenheitscharakter des Eschaton zu beheben beansprucht, bleibt nach Rahner das eschatologische Geheimnis in seiner Offenbarung nachgerade deshalb gewahrt, um als Geheimnis offenbar zu werden. Gott hat in Christus nicht nur den Zeitpunkt des Jüngsten Tages nicht offenbart, sondern durch seine Offenbarung jede Möglichkeit verschlossen, ihn chronologisch zu berechnen: „Das Eschatologische ist in seiner Offenbarung gerade da als das Geheimnis.“ (409) Ohne Wahrung ihres offenbaren Geheimnis- und Verborgenheitscharakters wird jede eschatologische Aussage um ihre spezifische Bedeutung für den Menschen gebracht und dieser „selbst enteschatologisiert, d. h. ein Wesen, das in seiner Gegenwart als solcher selbst durch das Künftige nicht betroffen ist, weil das Künftige dann nur noch das abständig Ausständige und nicht mehr das als Künftiges Anwesende ist“ (408). Das Eschaton ist in der in der Kraft des Hl. Geistes erschlossenen Gottesoffenbarung in Christus als Geheimnis offenbar, um eine Gewissheit zu begründen, welche die Differenz von Wissen und Nichtwissen transzendiert. Die Christusoffenbarung überführt in eschatologischer Hinsicht weder „bisher Nichtgewusste[s] in das Stadium des nun Gewussten und durchschaut Verfügbaren“ (409), noch lässt sie den Glauben im Ungewissen. Sie vergewissert ihn vielmehr der Zukunft des Gekommenen, dessen eschatologischer Advent 6 Rahner, Theologische Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer Aussagen, 1961, 402. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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alle Zeiten umfassen und einer Erfüllung zuführen wird, welche die Schöpfung vollendet und die eigene Vollendung mit sich zu bringen verspricht. Diese Zukunft erwartet der Glaube, und in der Gewissheit seiner Hoffnung ist sie ihm jetzt schon geistesgegenwärtig präsent. Der hoffnungsvolle Glaube ist in der Kraft des göttlichen Geistes, der ihm die Christusoffenbarung erschließt, gewiss, „daß das beendende Ende des einzelnen, der Menschheit und der Welt überhaupt eben die Vollendung des Anfangs ist, der mit Christus (dem Auferstandenen) gesetzt ist, und nur das“ (414). Aus dem Ansatz beim österlichen Urdatum des Christentums ergibt sich in Kritik und Konstruktion Rahners Begriff christlicher Eschatologie, den er in einem Satz von stattlicher Länge wie folgt umschreibt: Eschatologie ist […] nicht die antizipierende Reportage später erfolgender Ereignisse (die Grundansicht falscher Apokalyptiker im Unterschied zu echter Prophetie) aus den künftigen Ereignissen heraus und von ihnen her (weil Gott für eine metaphysische Erkenntnislehre des Seins und Wissens Gottes ihnen „jetzt schon“ gleichzeitig ist und so von ihnen schon jetzt berichten kann), sondern der für den Menschen in seiner geistigen Freiheits- und Glaubensentscheidung notwendige Vorblick aus seiner durch das Ereignis Christi bestimmten heilsgeschichtlichen Situation heraus (als dem ätiologischen Erkenntnisgrund) auf die endgültige Vollendung dieser seiner eigenen, schon eschatologischen Daseinssituation zur Ermöglichung seiner eigenen, erhellten und doch glaubend wagenden Entscheidung ins dunkel Offene hinein, damit der Christ darin seine Gegenwart annehme als Moment an der Verwirklichung der im Anfang (der letztlich Christus ist) gestifteten Möglichkeit und als schon jetzt verborgen gegenwärtige und endgültige Zukunft, die dann gerade als Heil sich gibt, wenn sie angenommen wird als die auf Zeitpunkt und Weise nicht berechenbare Tat Gottes, der allein verfügt, und wenn so der Skandal des noch gegebenen Widerspruchs zu dem schon gegebenen Heil in Christus (Welt in Sünde, Geteiltheit der Völker, Diskrepanz zwischen Natur und Mensch, Begierde, Tod, Herrschaft der Mächte und Gewalten) in hoffender Geduld ausgehalten wird als Teilnahme am siegreichen und erlösenden Kreuz Christi. (414 f)

Bleibt hinzuzufügen, dass nach Rahner der eschatologische Vorblick des Glaubens auf die kommende Vollendung mit der Vorstellung eines wirklichen Zukunftsgeschehens und endzeitlicher Ereignisse notwendig verbunden sein muss, weil der reale Mensch „in echter, auf wirklich noch ausständig Zukünftiges gerichteter Zeitlichkeit existiert“ (418). Rahner wendet sich entschieden gegen eine, wie er sagt, „absolute Existentialisierung“ (ebd.) und abstrakte Entmythologisierung eschatologischer Aussagen. Aber ebenso dezidiert lehnt er es ab, die christliche Eschatologie in einem vorgegebenen Rahmen apokalyptischer Endzeitspekulationen einzuzeichnen. Biblische Eschatologie muß immer gelesen werden als Aussage von der Gegenwart als geoffenbarter her auf die echte Zukunft hin, nicht aber als Aussage von einer antizipierten Zukunft her in die Gegenwart hinein. Aus-sage von Gegenwart in Zukunft

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hinein ist Eschatologie, Ein-sage aus der Zukunft heraus in die Gegenwart hinein ist Apokalyptik. (Ebd.)

Entsprechend bleibt es bei dem Grundsatz, daß es keine eschatologischen Aussagen geben könne, die nicht auf die über diese christliche Existenz, so wie sie jetzt ist, zurückgeführt werden können. Aber solche Einsicht bedeutet keine Enteschatologisierung, sondern eine (wenn man das Wort wagen dürfte) Entapokalyptisierung. (Ebd.)

Zukunftsoffene Gegenwart. Die Eschatologiekonzeption von Paul Althaus Rahners Absage an die Apokalyptik in seinem Text über die Hermeneutik christlicher Eschatologie von 1960 steht in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts keineswegs beispiellos da, sondern darf zum damaligen Zeitpunkt eher als die Regel gelten. Bereits zwei Generationen vor Rahner hatte Paul Althaus, einer der damals führenden lutherischen Theologen, eine konsequente Entapokalyptisierung eschatologischer Aussagen des Christentums angemahnt. Von ihm stammt die vielleicht einflussreichste reformatorische Eschatologie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.7 7 Althaus, Die letzten Dinge, 1926. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Althaus hat die Eschatologie im Allgemeinen und die christliche im Besonderen anfangs durch Unterscheidung und Zuordnung eines sog. axiologischen und eines sog. teleologischen Gedankenkreises zu begründen versucht. Unter dem axiologischen Grund der Eschatologie versteht er das Fundament, auf dem sie aufruht, im Falle des Christentums die „Christustatsache des Neuen Testaments“ (a. a. O., 36), näherhin die österliche Wirklichkeit des auferstandenen Gekreuzigten (vgl. a. a. O., 5 f), „mit der Gott unsere Seele überwindet und bindet“ (a. a. O., 7). Mit ihr „ist der Schlüssel zum Verständnis des biblischen Zukunftsbildes, zugleich der Maßstab für die Wertung seiner einzelnen Züge gegeben“ (a. a. O., 6). Denn in Jesus Christus ist das Eschaton angebrochen und gegenwärtig und zwar definitiv. Doch ist „die Endgültigkeit Christi eine solche innerhalb der Grenzen, die das irdisch-geschichtliche Dasein zieht“ (a. a. O., 39). Ihr definitives Jetzt darf daher gerade um der Endgültigkeit willen nicht als Abschluss verstanden werden. Das „Schon“ muss offen sein für ein „Noch nicht“ und für eine Zukunft, deren Advent zu bedenken Aufgabe teleologischer Eschatologie ist und zwar so, dass der konstitutive Zusammenhang individueller und universaler Hoffnungsperspektiven, personaler und kosmischer Erwartungshorizonte deutlich wird. Seit der 4. Auflage seines Werkes über „Die letzten Dinge“ (1933) hat Althaus unter Preisgabe des missverständlichen Begriffs einer axiologischen Eschatologie die Zukunftsoffenheit und den Verheißungscharakter des Lehrstücks „De novissimis“ deutlicher hervorzuheben versucht. Dennoch ist er der Forderung seiner Kritiker, die Heilszukunft der Heilsgegenwart sachlich überzuordnen, nicht gefolgt. Die Heilsgegenwart, wie der Glaube sie wahrnimmt, bleibt nach Althaus für die Heilszukunft insofern bestimmend, als diese enthüllt, was in jener grundsätzlich bereits gegeben ist, wenngleich auf verborgene Weise. Die Zukunft des Heils ist für und bleibt für Althaus endgültige Apokalypsis des durch die Auferstehung des Gekreuzigten österlich gesetzten und pfingstlich erschlossenen Perfekts, wie sie dem Glauben kraft des Geistes Jesu Christi gegenwärtig ist.

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Althaus zufolge trägt uns die Überlieferung insbesondere drei Zukunftsbilder vom Ausgang der Menschheit und dem Ende der Weltgeschichte zu: „den dualistischen Ausgang in Himmel und Hölle, die Vernichtung der Heillosen, die Wiederbringung aller.“ (203) Jedes dieser Bilder bringt seine je eigenen Schwierigkeiten mit sich. Die Apokatastasistheorie destruiert, indem sie die Hoffnung auf universales Heil prinzipialisiert, den Entscheidungsernst der existentiellen Lebenssituation und vergleichgültigt den Gegensatz von Gut und Böse, was nicht recht und gut, sondern im Gegenteil böse und ungerecht ist. Selbst die eschatologische Lehre einer definitiven Vernichtung der Heillosen macht sich nach Althaus einer tendenziellen Egalisierung der Differenz von gerecht und ungerecht schuldig, indem sie dem Tod ungerechter- bzw. ungerechtfertigterweise die Macht und Möglichkeit zudenkt, Geschehenes ungeschehen zu machen und so zu tun, als sei nichts gewesen. Auch darin habe man eine theologisch unstatthafte Verkennung existentiellen Daseinsernstes zu entdecken, die als nicht nur nicht richtig, sondern als verkehrt zu beurteilen sei. Bleibt offenbar nur die eschatologische Annahme eines doppelten Ausgangs der Menschheit im Sinne eines Himmel-Hölle-Dualismus bestehen. Doch auch ihr begegnet Althaus mit Zurückhaltung. Die dogmatische Theorie der endgültigen Menschheitsscheidung sei in ihrer überlieferten Form im Unterschied zu den beiden anderen erwähnten Traditionen zwar nicht einfachhin falsch, aber unzulänglich. Es gehe nicht an, den weder durch menschliches Denken noch durch menschliches Handeln zu behebenden, sondern nur in Gottes Offenbarung im auferstandenen Gekreuzigten für den Glauben aufgehobenen Gegensatz von Gericht und Rechtfertigungsurteil „auf zwei Gruppen von Menschen zu verteilen“ (209). Die eschatologische Scheidung gehe durch einen jeden mitten hindurch, wobei nicht etwa zwei Teile gesondert bestehen blieben, sondern abgesehen von einem, nämlich dem zweiten Adam ausnahmslos alle Menschen zur Linken zu stehen kämen, würde ihnen nicht aus Gnade um Christi willen durch den Glauben unverdiente Rechtfertigung zuteil. Nehme man dies ernst, dann sei eine theoretische Lösung des durch den Gegensatz und Zusammenhang von Gesetz und Evangelium umschriebenen eschatologischen Menschheitsproblems nicht nur nicht möglich, sondern „unmöglich“ (211). Aus der Einsicht in die Lösungsunmöglichkeit des eschatologischen Grundproblems ergibt sich nach Althaus, dass jeder einzelne mit beidem ernsthaft zu rechnen habe, mit der nicht auszuschließenden Möglichkeit seiner ewigen Verdammnis durch den gesetzlich urteilenden, gerechten Richterspruch Gottes und mit der ebenfalls nicht auszuschließenden Möglichkeit Gottes, die in Jesus Christus Tatsache geworden ist, seiner Gerechtigkeit durch das Rechtfertigungsevangelium Geltung zu verschaffen, ohne eschatologisch Strafe am Sünder zu üben. Bei beiden Möglichkeiten handelt es sich um theoretisch unausdenkliche Grenzwerte, die nicht zur Spekulation reizen, sondern den Menschen in seine konkrete Situation einweisen und auf

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jenen Glauben hinweisen wollen, dessen Leben durch Gesetz und Evangelium bestimmt ist. Die Eschatologie von Althaus ist ganz vom Evangelium der Rechtfertigung des Sünders her entwickelt, dessen personaler Inbegriff Jesus Christus ist. Seine Präsenz im Glauben stellt wie bei Rahner die Bedingung der Möglichkeit eschatologischer Zukunftsaussagen dar, die als Extrapolationen gegenwärtiger Gewissheiten zu verstehen sind. Ihrem Selbstverständnis nach (vgl. 271ff) ist für die Althaus’sche Eschatologie das Verhältnis von Gesetz und Evangelium entscheidend, wohingegen temporale Gesichtspunkte sekundär sind. Was das Verständnis des Gesetzes betrifft, so grenzt es Althaus dezidiert von jedwedem Moralismus ab. Durch das Gesetz wird nicht nur diese oder jene menschliche Untat, sondern auch und gerade das Ich selbst gerichtet, welches meint, sich durch seine sittliche Selbsttätigkeit in Form von guten Werken Bestand vor Gott verschaffen und sich so verewigen zu können. Genau jenes Ich nämlich werde durch das Gesetz als dem peccatum originale verfallen erwiesen, aus dessen Abgründigkeit alle peccata actualia hervorgingen. Schwerer als gegen dasjenige, was er Moralismus, Pelagianismus, Semipelagianismus o. ä. nennt, fällt es Althaus, sich gegen eine tendenzielle Fatalisierung der Sünde und dagegen abzugrenzen, dass aus seinem metaethischen ein moralitätsdestruierendes Gesetzesverständnis entsteht. „Sittlicher Ernst und Glaube an Gottes Schöpferfreiheit“, heißt es (235; bei A. gesperrt), „gehören zusammen.“ Dem ist nicht zu widersprechen. Probleme ergeben sich indes aus der Althaus’schen Bestimmung ihrer Zusammengehörigkeit: wie Gott mir, dem Einzelnen, meine sittliche Lage nach der Freiheit seines Willens bereitet hat, so befreit er mich, ohne daß moralische „Läuterung“ ans Ziel gekommen wäre, durch seine Machttat. Da meine besondere Sündigkeit durch den übergreifenden Zusammenhang der Vererbung und des Gemeinwillens selber ein metaethischer Tatbestand ist, unter den ich mich gehorsam beugen muss, so hat auch die metaethische Lösung meiner sittlichen Not nichts Befremdendes und Unwürdiges mehr : Gott erlöst uns, indem er im Tod das „Fleisch“ zerstört. (234 f)

Indem Althaus Sätze wie diese, statt sie als Ausdruck eines Problems zu verstehen, mit dem Anspruch der Problemlösung versieht, erzeugt der den missverständnisträchtigen Eindruck, Gottes schöpferische Freiheit mit naturhaftem Belieben vergleichen zu wollen. Auch und gerade in dieser Hinsicht lässt sich seit der Viertauflage seines Werkes über „Die letzten Dinge“ ein tendenzielles Umdenken konstatieren. Um dem Missverständnis einer Gleichsetzung von Gottes schöpferischer Freiheit und naturhaftem Belieben und damit einer drohenden Entsittlichung des Rechtfertigungsgedankens zu wehren, wendet Althaus im Laufe der Entwicklung seiner Eschatologie dem Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung vermehrte Aufmerksamkeit zu. Ein signifikantes Indiz hierfür kann man in der Tatsache entdecken, dass er sich seit der Viertauflage seiner Eschatologie mit großer Intensität eines Themas angenommen hat, welches in

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den vorhergehenden Auflagen eher nebenbei erörtert wurde: der Purgatoriumsthematik und der Thematik eschatologischer Interimszustände. Ein Wahrheitsmoment hatte Althaus dem Fegefeuergedanken von Anfang an nicht bestritten, nämlich das Bestreben, den Zuspruch unbedingter und dem ganzen Menschen geltender Rechtfertigungsgnade mit dem Anspruch auf einen Prozess fortschreitender Heiligung zu verbinden. Doch statt das „schwerste Problem der Heilslehre, das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung“ (227) zu klären, trage die Purgatoriumslehre zu deren Verunklärung bei und zwar weniger dadurch, dass sie in die Ewigkeit ein Werden hineindenke, was nicht einfach abwegig sei, sondern durch Beförderung und eschatologische Befestigung des Glaubens, „daß der Mensch nur das sein könne, wozu er sich selber, durch Gottes Gnade befähigt, gemacht hat“ (231). Sofern er darauf ziele, sei der Purgatoriumsgedanke als unevangelisch abzulehnen. An der grundsätzlichen Ablehnung des Purgatoriumsgedankens hat Althaus auch in der vierten Auflage seines Eschatologiewerkes festgehalten. Immerhin verweist die vergleichsweise intensive Auseinandersetzung mit ihm auf das andauernde Problem, welches Althaus die Zuordnung von Rechtfertigung und Heiligung eschatologisch bereitete. Ob er es wirklich gelöst hat, ist fraglich und ihm selbst, wie es scheint, ebenso fragwürdig geblieben wie das Verhältnis zwischen der Gegenwart des kommenden und der Zukunft des gekommenen und gegenwärtigen Jesus Christus. Vieles spricht dafür, dass seine immer stärker werdende Hervorkehrung des Verheißungsaspekts der Eschatologie sachlich verbunden ist mit der offenen Frage nach dem Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung, der von demjenigen von individuellem und universalem Heil bzw. Unheil nicht zu trennen ist. Die Zentralprobleme der Eschatologie von Paul Althaus sind rechtfertigungstheologischer Natur und ergeben sich aus der aktuellen Verfasstheit des Glaubens. Schon zeitig ist an seiner Konzeption kritisiert worden, dass sie die hoffnungsvolle Erwartung des eschatologisch Künftigen zu einseitig von der Heilsgegenwart her begründe, welche der Glaube wahrnehme, ohne hinreichend zur Geltung zu bringen, dass der gegenwärtige Glaube ohne die ihm verheißene Zukunft und deren Erfüllung keinen Bestand habe. Beispielhaft für diese Kritik ist G. Hoffmanns Studie über „Das Problem der letzten Dinge in der neuern Theologie“ von 1929.8 Anders als Althaus wollte Hoffmann die eschatologische Zukunft, welche der Glaube erwarte, primär nicht von der Gewissheit präsenten Heils her begreifen, sondern umgekehrt die gegenwärtige Gewissheit des Heils von der Erwartung der noch ausstehenden Heilsvollendung und Heilserfüllung her verstehen. Denn was gläubige Heilsgewissheit aktuell bedeute, erschließe sich nur von der eschatologischen Zukunft her, auf die der Glaube hoffe und als deren erwartungsvolle Antizipation er zu begreifen sei. 8 Hoffmann, Das Problem der letzten Dinge in der neueren evangelischen Theologie, 1929. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Hoffmann zufolge ist es für den christlichen Glauben konstitutiv, aus zu sein auf die ewige Zukunft: „der Glaube lässt sich gar nicht ohne seine eschatologische Bestimmtheit verstehen.“ (91) Die in ihm dem Menschen geschenkte Heilsgewissheit trägt stets die Erwartung des realen, uneingeschränkten Heilsbesitzes in sich. In der gegenwärtigen Glaubensgemeinschaft mit Gott ist immer schon der Hinweis auf ihre künftige Erfüllung enthalten. Die Heilsgegenwart ist […] ein Provisorium, will nichts weiter als ein Provisorium sein. (Ebd.)

Werde die Heilsgegenwart als zwar gegeben, aber als provisorisch gegeben verstanden, dann ergebe sich daraus die „gesuchte Verbindung der endzeitlichen und überzeitlichen Eschatologie“ (117) von selbst. Heilsgegenwart, lautet der Grundsatz der sog. bestimmenden Eschatologie, hat „das Gepräge der Vorwegnahme: Das volle Heil tritt erst mit dem Ende ein […], aber es ist als ewige Gegenwart da und kann deshalb vom Glauben vorweg behauptet werden […].“ (116) Provoziert werden die antizipatorischen Aussagen des Glaubens über die eschatologische Zukunft durch dasjenige, was man die produktive Einbildungskraft des Geistes nennen könnte. Der Geist, der von dem in Jesus Christus offenbaren Gott ausgeht, ruft Erwartungen hervor, die alles Gegebene und empirisch in Erscheinung Tretende transzendieren, ohne deshalb fiktiv und irreal genannt werden zu können, weil sie durch die allerrealste Realität Gottes selbst gewährleistet sind, der Himmel und Erde geschaffen hat und seine Schöpfung trotz Tod und Teufel der Vollendung zuführen wird.

Gegenwartsbezogene Zukunft. Die Eschatologiekonzeption von Jürgen Moltmann Hoffmanns Althauskritik kommt über den speziellen Anlass der Kontroverse hinaus exemplarische Bedeutung zu. Denn sie kennzeichnet „eine tiefe Umschichtung im Zeitverständnis“9 und eine „Wendung menschlicher Aufmerksamkeit von der Vergangenheit zur Zukunft“10, wie sie für die Entwicklung der Eschatologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmend werden sollte. Den prominentesten Beleg hierfür bietet Jürgen Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ aus dem Jahr 1964.11 Moltmann lehnt es entschieden ab, die eschatologische Zukunft als eine bloße Extrapolation jener 9 Ratschow, Eschatologie, TRE 10, 335. 10 Ebd., 337. 11 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 1964. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zu nennen wäre ferner Wolfhart Pannenbergs eschatologisch geprägte Theologiekonzeption, bes. Systematische Theologie, Bd. III, 1993, 569 ff. Vgl. dazu Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 2003, 238 ff.

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Heilsgegenwart zu verstehen, deren der Glaube gewiss ist, und hält es entsprechend für falsch, Eschatologie und Apokalyptik einander entgegenzusetzen, wie das sowohl bei Althaus als in gewisser Weise auch bei Rahner der Fall sei. Als neues Paradigma der Transzendenz bildet Zukunft die Grundkategorie, von der her und auf die hin Moltmann seine eschatologische „Theologie der Hoffnung“ entwirft. Zwar sei Jesus Christus die perfekte Erfüllung biblisch verheißener Zukunft, jedoch so, dass diese Erfüllung selbst verheißungsvoll sei und Zukunftsverheißungen aus sich entlasse. Es gelte der Grundsatz, „daß der Auferstandene in seiner Offenbarung die Verheißung seiner eigenen Zukunft“ (77) sei. Die Hoffnung auf die zu erwartende Parusie Jesu Christi am Ende der Zeiten sei dem Osterglauben nicht lediglich folgeweise, sondern als Grund seiner inneren Bewegtheit verbunden. Ohne Hoffnung auf die Wiederkehr des österlich erstandenen und zum Himmel aufgefahrenen Herrn könne der christliche Glaube an die Auferstehung des Gekreuzigten gar nicht erfasst werden, da „sowohl das Erhoffte wie das von ihm bewegte Hoffen“ (12) konstitutiv und unveräußerlich zu seinem Wesen gehörte.12 Paul Althaus und Karl Rahner vertreten eine dezidiert antiapokalyptische Eschatologie. Der Eschatologe Jürgen Moltmann hingegen sucht ebenso entschieden Anschluss an die Überlieferungen der Apokalyptik. Ohne Apokalyptik kann es nach seinem Urteil keine christliche Eschatologie geben. Denn christliche Hoffnung, welche die Sünde hoffnungsloser Verzweiflung (vgl. 18ff) hinter sich lässt, steht nach Moltmann in der Tradition der messianischen Verheißungs- und Hoffnungsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel, wie die hebräische Bibel sie bezeugt. Im Unterschied zur Epiphaniereligiosität der paganen Antike und ihrer gegenwartsfixierten Kosmosfrömmigkeit sei die verheißungsorientierte „Erwartungsreligion“ (92) Israels auf Künftiges aus, was zu einer Vergeschichtlichung der Welt und einer Eschatologisierung des menschlichen Daseins in ihr führe. In der Apokalyptik habe diese Tendenz menschheitsgeschichtlich-universales Ausmaß und Dimensionen angenommen, welche die den aktuellen Äon beherrschende Ver-

12 Als die „Lehre von der christlichen Hoffnung, die sowohl das Erhoffte wie das von ihm bewegte Hoffen umfasst“ (11 f), erschöpft sich die Eschatologie nach Moltmann nicht in einer Sammlung von einschlägigen Sätzen zum Lehrstück „De novissimis“. Sie kann „kein Teilstück christlicher Lehre sein“ (a. a. O., 12), weil sie deren Gesamtzusammenhang prägt und ein charakteristisches Kennzeichen des christlichen Glaubens überhaupt ist. „Das Christentum ist ganz und gar und nicht nur im Anhang Eschatologie, ist Hoffnung, Aussicht und Ausrichtung nach vorne, darum auch Ausdruck und Wandlung der Gegenwart. Das Eschatologische ist nicht etwas am Christentum, sondern es ist schlechterdings das Medium des christlichen Glaubens, der Ton, auf den in ihm alles gestimmt ist, die Farbe der Morgenröte eines erwarteten neuen Tages, in die hier alles getaucht ist. Denn der christliche Glaube lebt von der Auferweckung des gekreuzigten Christus und streckt sich aus nach den Verheißungen der universalen Zukunft Christi. Eschatologie ist das Leiden und die Leidenschaft, die am Messias entstehen.“ (Ebd.)

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gänglichkeitsmacht des Todes von der Zukunft her und auf Zukunft hin infrage stellten.13 Dem Zusammenhang von Eschatologie und Geschichte hat Moltmann in 13 An die apokalyptische Überlieferung schließt nach Moltmann nicht nur die jesuanische Botschaft vom nahe herbeigekommenen Gottesreich an, sie bleibt auch im Osterkerygma vom auferstandenen Gekreuzigten erhalten, sofern in diesem nach urchristlichem Bekenntnis die Menschheits- und Weltgeschichte zwar zu vollendeter Erfüllung, nicht aber zum Abschluss gelange, da der den Seinen österlich offenbare Jesus Christus seine künftige Wiederkehr und allgemein-universale Manifestation verheiße. Der christliche Glaube sei und bleibe daher Verheißungsglaube. Entsprechend teile die Gemeinschaft des christlichen Glaubens mit der des jüdischen die Bestimmung als „Exodusgemeinde“ (vgl. 280ff), die aus dem Banne der Vergangenheit und einer selbsterschlossenen Gegenwart zum Aufbruch in die Zukunft gerufen werde. Welche praktischen Konsequenzen diese Bestimmung aktuell zeitigt, hat Moltmann in Bemerkungen zum eschatologischen Verständnis der Christenheit in der modernen Gesellschaft skizziert, mit denen seine „Theologie der Hoffnung“ schließt. Ab der dritten Auflage ist als Anhang ein Gespräch mit Ernst Bloch beigefügt (vgl. 313ff). Die wesentliche Aufgabe der christlichen Exodusgemeinde besteht nach Moltmann darin, einer dem Banne des Todes und des Bösen hoffnungslos verfallenen Menschheit und Welt den Horizont der Zukunft Jesu Christi zu eröffnen. Diesem Ziel will nachgerade die „Theologie der Hoffnung“ dienen. Sie versteht sich als kritisch-konstruktiver Gegenentwurf gegen Konzeptionen einer, wie Moltmann sie nennt (vgl. 39ff), transzendentalen Eschatologie, welche den endzeitorientieren Zukunftsbezug entweder ganz ausblende oder auf einen bloßen Aspekt gegenwärtigen Glaubens reduziere und so entgegen ihrem Anspruch das Christentum tendenziell enteschatologisiere. Vor allem in zwei exemplarischen Varianten ist die sog. Transzendentaleschatologie, die in Wahrheit keine sei, weil sie den Verlust der Eschatologie mit sich führe, nach Moltmann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts theologiegeschichtlich bestimmend geworden: in Form einer Theologie der transzendentalen Subjektivität Gottes (vgl. 43ff), wie Barth, und in Form einer Theologie der transzendentalen Subjektivität des Menschen (vgl. 51ff), wie Bultmann sie vertreten habe. Zwar hätten Barth und Bultmann ihre transzendentaleschatologischen Entwürfe nicht wie etwa Paul Althaus im expliziten systematischen Gegenzug gegen die historische Wiederentdeckung der apokalyptischen Prägung der jesuanischen und urchristlichen Botschaft entworfen. Gleichwohl seien bei ihnen die endzeitlichen und auf Realgeschichte bezogenen Eschatologieaspekte im Grunde ebenso vernachlässigt worden wie bei diesem und wie in der sog. konsequenten Eschatologie selbst, die, was ihr Thema betreffe, systematisch keineswegs so konsequent verfahren sei, wie es unter historischen Gesichtspunkten der Fall zu sein schien. In systematischer Hinsicht sind nach Moltmann die Vertreter der sog. konsequenten Eschatologie wie je auf ihre Weise Althaus, Barth und Bultmann und die meisten modernen Eschatologen dem namentlich von Kant vorgegebenen neuzeitlichen Subjektivitätsparadigma verhaftet geblieben, demzufolge das seiner selbst bewusste Ich auch unter Gesichtspunkten eschatologischer Erwartung die Bedingung der Möglichkeit sinnvoller Rede von Gott sei. Zwar scheint sich Barths Konzeption diesem Schema nicht nur nicht zu fügen, sondern zu widersetzen. Doch in Wahrheit sei auch seine Theologie einschließlich der Eschatologie transzendental entworfen, und der Barth’sche Gottesgedanke werde strukturell vom neuzeitlichen Subjektivitätsprinizip bestimmt. Gegenüber ihrer zum Solipsismus neigenden Egologie gelte es, theologisch darauf zu insistieren, dass Gott der Herr sowohl des Ich als auch der Welt sei, welcher alle anderen mitmenschlichen Ichwesen und im Verein mit der Menschheit alle lebendigen Kreaturen, ja das All dessen, was ist, angehören. Von diesem menschheitsgeschichtlichen und allumfassend kosmologischen Bezug kann nach Moltmann eine christliche Theologie, die ihren Namen verdient, gerade in eschatologischer Hinsicht nicht absehen. Die eschatologische Existenz des Menschen ist ohne Geschichts- und Weltbezug theologisch nicht angemessen aussagbar.

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seiner „Theologie der Hoffnung“ ein eigenes Kapitel gewidmet (vgl. 210ff). Es folgt auf das christologische Grundlegungskapitel, welches das Zentrum des Buches bildet, sofern sich nach christlichem Zeugnis an Jesus Christus mit der Zukunft der Menschheitsgeschichte diejenige der ganzen Welt entscheidet. Den Konstitutions- und Erhaltungsgrund des christlichen Bekenntnisses zu Jesus als dem Christus stellt nach Moltmann das Osterereignis bzw. der auferstandene Gekreuzigte selbst dar, der sich den Seinen in der Kraft des göttlichen Geistes als die Zukunft der Menschheits- und Weltgeschichte präsentiert. Dabei kommt alles darauf an, das Ostergeschehen zugleich als geschichtlich und als eschatologisch zu verstehen und zu vermeiden, dass entweder die Geschichte die Eschatologie oder die Eschatologie die Geschichte „verschlingt“ (150). Im auferstandenen Gekreuzigten sind kraft des Geistes Geschichte und Eschatologie als differenzierter Zusammenhang offenbar dergestalt, dass der österliche Jesus Christus als der Erfüller aller protologischen, in der Religionsgeschichte Israels kulminierender Verheißungen zugleich derjenige ist, der eschatologische Aussicht von universalen Dimensionen deshalb erschließt, weil er im Perfekt seiner Gegenwart sich als die Zukunft der Welt, der Menschheit, ja als die Zukunft seiner selbst erweist. Mit der Aussage, dass sich Jesus Christus im vollendeten Perfekt seiner österlichen Geistesgegenwart als die Zukunft nicht nur der Welt und jedes Menschen, sondern auch als die Zukunft seiner selbst erweise, ist der entscheidende christologische Grundsatz der Moltmann’schen Eschatologie formuliert, in dem mit der Bedeutung des Entwurfs all seine Probleme angelegt sind. Das Zentralproblem betrifft die Frage, wie die Korrelation von Christologie und Eschatologie präzise zu bestimmen sei. An der normativen Funktion der Christologie für alle christlich zu nennende Eschatologie lässt Moltmann keine Zweifel; zugleich soll die Eschatologie die Christologie an sich selbst formieren. Wie verhalten sich christologische Norm und eschatologische Form zueinander? Um die Frage zu konkretisieren: Bildet die apokalyptische Tradition, wie sie sich im Zuge der jüdischen Überlieferungsgeschichte entwickelt hat, den festen Rahmen, innerhalb dessen das Osterereignis zu verstehen ist, oder transzendiert das Verständnis Osterns die durch die Apokalyptik vorgegebenen eschatologischen Deutungsformen? Moltmann tritt entschieden für letztere Option ein: So gewiß die Ostererscheinungen Jesu in den apokalyptischen Kategorien der Erwartung der allgemeinen Totenauferstehung und als Anfang des Endes aller Geschichte erfahren und verkündigt worden sind, so gewiß ist doch die Auferweckung Jesu nicht nur als der erste Fall von endzeitlicher Totenauferstehung allein gedacht, sondern als Ursprung des Auferstehungslebens aller Glaubenden. Es wird nicht nur gesagt, daß Jesus der Erste aus der Auferstehung sei und die Glaubenden wie er Auferstehung finden werde, sondern es wird verkündet, daß er die Auferstehung und das Leben selber sei, und daß folglich die Glaubenden ihre Zukunft in ihm finden und

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nicht nur wie er finden. Darum warten sie auf ihre Zukunft, indem sie auf seine Zukunft warten. (73)

Man wird Moltmann in Anbetracht dieser und ähnlicher Feststellungen nicht vorwerfen können, er subsumiere im Stile einer eschatologisch gewendeten theologia naturalis das österliche Offenbarungszeugnis einem vorgefertigten Allgemeinbegriff, wie ihn die apokalyptische Erwartung einer allgemeinen Totenauferstehung darstelle. Zwar bezieht er das Ostergeschehen auf eine universalanthropologische Erwartungshaltung, ohne doch deshalb die normative Funktion der Christologie für die Eschatologie zu vernachlässigen. Dass die christologische Norm nicht nur Modifikationen und konstruktive Fortbildungen, sondern gegebenenfalls auch kritische Revisionen erforderlich machen kann, wird nach Moltmann insbesondere darin offenkundig, dass der auferstandene Christus nach christlichem Zeugnis mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth identisch ist (vgl. 179ff). Christliche Eschatologie dürfe das Kreuz Jesu Christi nicht übergehen oder hinter sich lassen, sondern sei entschieden als „eschatologia crucis“ (vgl. 140ff) zu gestalten. Das Kreuz Jesu Christi ist nach Moltmann nicht lediglich ein „Durchgangsstadium seines Weges zur himmlischen Herrschaft“ (143), sondern „die bis zum erfüllenden Eschaton hin bleibende Signatur seiner Herrschaft in der Welt“ (ebd.). Entsprechend sind die Christen zum aktuellen Mitsterben mit ihrem Herrn berufen, wohingegen sich ihre Teilhabe an seiner Auferstehungswirklichkeit erst mit dem Ende dieses Äons erfüllen wird. Christusgemeinschaft ist Leidensgemeinschaft mit dem Gekreuzigten. Die Getauften sind mit Christus gestorben, wenn sie auf seinen Tod getauft werden. Aber sie sind nicht in einem kultischen Perfekt schon mit ihm auferstanden und in den Himmel versetzt. Sie gewinnen an der Auferstehung Christi Anteil durch neuen Gehorsam, der sich im Raume der Hoffnung auf Auferstehung entfaltet. In der Kraft des Geistes, der Christus von den Toten auferweckt hat, können sie gehorsam das Leiden der Nachfolge auf sich nehmen und eben darin die zukünftige Herrlichkeit erwarten. (146)

Präsentische und futurische Eschatologie verhalten sich wie eschatologia crucis und eschatologia resurrectionis.

Die Parusie Jesu Christi als Vollendung der Zeiten. Wider die Alternative von präsentischer und futurischer Eschatologie Jürgen Moltmann hat wiederholt in Erinnerung gerufen, dass das deutsche Wort „Zukunft“ sowohl futurum als auch adventus bedeute und nicht nur temporal, sondern auch im Sinne des Zuvorkommens Gottes und seiner Ewigkeit verstanden werden könne, die alle Zeiten umgreife. Das lateinische

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futurum leitet sich ab von fieri und „meint das, was sein wird, was sich aus dem Werden des Seins […] ergibt“14. Es finde im Griechischen phyo ein Äquivalent und hänge mit dem Verständnis von physis als dem Hervorbringenden insofern zusammen, als futurische Zukunft dasjenige sei, was sich aus der Natur des Gegebenen herkunftsbestimmt entfalte und entwickle. Dagegen sei adventus gleichbedeutend mit dem griechischen parousia und bezeichne wie dieses die Ankunft und das „Anwesen“ eines von Hause und Natur aus nicht Gegebenen, „eines Fremden und anderen“. Im Sinne von Advent verweist das Wort Zukunft mithin auf das Kommen eines „Neuen und Ändernden, das so noch nicht da war und noch nicht da ist“. Von diesem „adventlichen“ Zukunftsverständnis lasse sich sagen: „Gegenwart hat kein Futur, wenn sie nicht Gegenwart der Zukunft ist. Ist sie aber die Gegenwart einer großen Zukunft, so begründet sie ein Futur.“ Für die christliche Eschatologie und ihre Methodik ergibt sich hieraus nach Moltmann, die Erwartung des Glaubens auf den göttlichen Advent Jesu Christi zu gründen, dessen Ankunft nicht Abschluss, sondern Aufschluss von futurischer Zukunft bedeutet. Zukunft eröffnet die Parusie Jesu Christi nach Moltmann als Jenseits allen Futurs und als Vollendung aller Zeiten, die auch Gegenwart und Vergangenheit umfasst. Genau dafür stehe das österliche Perfekt der Auferweckung des Gekreuzigten, auf das jede Eschatologie zurückkommen müsse, um zukunftserschließend zu sein. Aus dieser Einsicht ergibt sich, dass christliche Eschatologie darauf angelegt sein muss, die Alternative von präsentischer und futurischer Eschatologie schon im Ansatz zu überwinden. Immanente Selbstkorrekturen Moltmann’scher Eschatologie bestätigen die Richtigkeit dieser Annahme. Einen abschließenden Beleg dafür gibt das 1995 erschienene Werk „Das Kommen Gottes“. Bestimmend für die darin entworfene personale, geschichtliche, kosmische und göttliche Eschatologie soll ein Begriff der Zukunft sein, der es weder erlaubt, daß die „weiterlaufende“ Geschichte jede Eschatologie verschlingt, noch daß die stets gegenwärtige Ewigkeit jede Geschichte aufhebt. Das „Eschaton“ ist weder das Futur der Zeit noch die zeitlose Ewigkeit, sondern die Zukunft und An-kunft Gottes. Wir verwenden daher einen adventlichen Begriff der Zukunft.15

Moltmanns personale Eschatologie ist an zwei für die europäische Geistesgeschichte charakteristischen Vorstellungen angesichts des Todes orientiert: am antiken Bild der unsterblichen Seele und am biblischen der leibhaften Auferstehung der Toten (vgl. 74). Ersteres beruhe auf einer Einsicht, letzteres auf einer Hoffnung (vgl. 82). Moltmann verbindet beide Bilder, indem er das grundlegende Hoffnungsbild der Totenauferweckung auf dasjenige der See14 Moltmann, Zukunft der Schöpfung, 1977, 36. A.a.O. finden sich auch die drei Folgezitate. 15 Moltmann, Das Kommen Gottes, 1995, 39. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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lenunsterblichkeit mit dem Hinweis rückbezieht, für die von Gott erweckten und auferstehenden Toten sei personale Selbigkeit und der Einheitserhalt ihres gelebten prämortalen Lebens in Anschlag zu bringen. Die Auferweckung der Toten setzt zwar den Tod, nicht aber die Vernichtung der Identität der Toten voraus. Gott muss die Toten vielmehr identifizieren können, um sie aufzuwecken, denn es tritt kein anderes Leben an ihre Stelle, sondern ihr Leben wird auferweckt. Auferweckung ist keine neue Schöpfung, sondern eine Neuschöpfung dieses sterblichen Lebens zum ewigen Leben, nämlich die Aufnahme unseres menschlichen Lebens in das göttliche Leben. (92 f)

Was die Sterblichkeit des Lebens der Menschen und die Faktizität seines Todes betrifft, so differenziert Moltmann zwischen natürlichem Ende und Sündenfolge. Nicht jede Kreatur sterbe infolge der Sünde, und nicht jede Sünde habe den Tod zur Folge. Als Beleg für den ersten Teil der These führt Moltmann die extrahumanen Lebewesen, als Beleg für den zweiten die gefallenen Engel an. „Es gibt folglich in der Schöpfung Sünde ohne Tod und Tod ohne Sünde.“ (109) Auch im Falle des Menschen bestehe zwischen Sünde und Tod kein Kausal-, wohl aber ein Korrelationsverhältnis, insofern die durch das Wesen der kreatürlichen Zeit bedingte temporale Befristung und das natürlich zu nennende Enden des endlichen Daseins des Menschen von diesem erst unter sündigen Bedingungen als sinnzersetzend erfahren würden. Moltmann unterscheidet zwischen einem allgemeinen Naturtod des Menschen und seinem Sündentod im Besonderen: „Gehört der allgemeine Tod zur zeitlichen Schöpfung, dann ist der besondere ,Tod der Sünde‘ durch die Sünde in die Welt gekommen.“ (Ebd.) Zwischen beiden „Todesarten“, wenn man so sagen darf, ist zu unterscheiden, wenngleich faktisch ein Zusammenhang besteht, der allerdings nicht zwangsnotwendig genannt werden darf. „Die Gebrechlichkeit der zeitlichen Schöpfung der Menschen“, so konstatiert Moltmann, ist wie der Zunder für jene Sünde, Gott gleich zu werden und diese Gebrechlichkeit zu überwinden. Der Tod ist nur insofern „Folge der Sünde“, als die Sünde aufgrund des Todes da ist: Wir ertragen die Sterblichkeit nicht und wir können durch Töten andere sterben lassen. Die Verwundbarkeit der anfänglichen Schöpfung macht die Gewalttat gegen das Leben möglich. (109 f)

Fraglich wird bzw. fraglich bleibt, wie unter diesen Bedingungen von der vollkommenen Güte der Schöpfung und des Menschengeschöpfs die Rede sein kann; tatsächlich dient die eschatologische Ausrichtung der Theologie bei Moltmann nicht zuletzt dazu, die protologischen Mängel des Schöpfungswerks zu kompensieren. Die kirchliche Lehre unterscheidet zwischen einer Individual- und einer Universaleschatologie. Gegen den häufig begegnenden Trend, letztere auf erstere zu reduzieren, macht Moltmann den umfassenden Charakter der universalen Eschatologie geltend, von dem her die individuelle allererst zu

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begreifen sei. Ist die Individual- auf die Universaleschatologie hin anzulegen, werden das Problem des Verhältnisses von Tod des Einzelmenschen und Weltende sowie die Frage virulent, wo die Toten zwischen ihrem je eigenen Tod und der allgemeinen Totenauferstehung bleiben (vgl. 115ff). Moltmann setzt sich diesbezüglich mit der Purgatoriumslehre, der Lehre vom Seelenschlaf und der Annahme einer Auferstehung im Tode auseinander. Die Vorstellung eines Läuterungsprozesses für die Gläubigen nach dem Tod weist er zwar nicht grundsätzlich ab, kritisiert aber ihre Verbindung mit derjenigen einer durch postmortale Leiden der Verstorbenen oder stellvertretende Bußleistungen der Hinterbliebenen erwirkten Verdienste. „Für die Reformatoren war die über den Tod hinaus projizierte Werkgerechtigkeit der eigentliche Stein des Anstoßes.“ (119) Was die Seelenschlaftheorie einerseits und die Annahme einer Auferstehung im Tode andererseits betrifft, so sucht Moltmann eine Lösung vom Gedanken der Gemeinschaft Jesu Christi und des dreieinigen Gottes mit Lebendigen und Toten her. „Im Zentrum der christlichen Eschatologie stehen weder das Ich noch die Welt, sondern Gott, der uns in Christus seine Zukunft geöffnet hat.“ (125) Jesus Christus, in dessen österlicher Erscheinung die Zukunft des Gottesreiches bereits antizipiert und das Angeld des Geistes ewigen Lebens gegeben ist, ist nicht nur der Vorläufer des Eschaton, sondern selbst der Weg dorthin. In ihm sind daher Individual- und Universaleschatologie auf differenzierte Weise dergestalt vereint, dass die im Glauben an Christus Verstorbenen einerseits als augenblicklich und ganz der Ewigkeit Gottes zugehörig zu denken sind, ohne deshalb Endlichkeitsbezügen einfachhin entnommen zu sein. Denn in der Gemeinschaft Christi werden zwar die Grenzen des Raumes und der Zeit transzendiert, nicht aber Räumlichkeit und Zeitlichkeit abstrakt negiert.16 16 Die personale Eschatologie Moltmanns ist mit der Überschrift „Ewiges Leben“ versehen, die geschichtliche mit der Wendung „Reich Gottes“. Unter der sog. geschichtlichen Reich-GottesEschatologie werden apokalyptische Endzeitentwürfe (vgl. 150ff), Millenarismuskonzepte messianischer (vgl. 167ff), politischer (vgl. 182ff) und kirchlicher (vgl. 202ff) Provenienz, schließlich jener epochale Chiliasmus (vgl. 209ff) verhandelt, der das Beginnen der Neuzeit bestimmt. Die Frage, ob eine chiliastische Eschatologie notwendig sei, verneint Moltmann in Bezug auf Deutungen der politischen, kirchlichen und universalgeschichtlichen Gegenwart im Sinne eines historischen Chiliasmus, wohingegen er die Notwendigkeit eines eschatologischen Chiliasmus, einer „Zukunftserwartung im eschatologischen Zusammenhang des Endes und der Neuschöpfung der Welt“ (217 f) bejaht. Entsprechend wird über apokalyptische Eschatologie und ihre Säkularisate (nukleare, ökologische, ökonomische Endzeit sowie Post-histoire) geurteilt. „Die apokalyptische Deutung weltgeschichtlicher oder kosmischer Katastrophen ist etwas anderes als eschatologische Apokalypse der Mächte dieser Welt im Gericht Gottes zum Zwecke der Geburt der neuen Welt. Die modernen apokalyptischen Deutungen menschlicher Endzeiten sind Säkularisierungen biblischer Apokalyptik und haben mit ihr nur noch die Katastrophe, aber nicht mehr die Hoffnung gemein.“ (253) Dem sei durch eine konsequent christologische Ausrichtung sowohl der apokalyptischen als auch der chiliastischen Eschatologiekonzepte zu begegnen. Die Christologie bietet nach Moltmann auch das Beurteilungskriterium der Erwartung einer

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Wiederbringung aller Dinge bzw. eines doppelten Gerichtsausgangs von irreduzibler Definitivität. Nur aus der Versenkung in die Tiefe des Kreuzestodes Jesu Christi heraus, der den Gekreuzigten in den Abgrund der Hölle hinabgeführt habe, könne eine christliche, dem Osterevangelium des auferstandenen Gekreuzigten entsprechende und dem Pfingstgeist gemäße Antwort gefunden werden. „Die wahre christliche Begründung der Hoffnung auf Allversöhnung ist die Kreuzestheologie, und die einzig realistische Konsequenz aus der Kreuzestheologie ist die Wiederbringung aller Dinge.“ (279; bei M. kursiv). Der kommende Christus, der in die Hölle gefahren ist und Tod und Teufel überwunden hat, wird den Gegensatz von schuldigen Tätern und schuldlosen Opfern niemals vergleichgültigen, wofür als Garantie und Wahrzeichen seine Wundmale bürgen; er vermag aber den Gegensatz auf eine unvordenkliche Weise dergestalt zu beheben, dass er nicht ewig das Verhältnis von Opfern und Tätern bestimmen muss. Was schließlich Moltmanns kosmische Eschatologie (vgl. 285ff) anbelangt, so handelt sie von einem neuen Himmel und von einer neuen Erde, in welchen das universale All der Vollendung zugeführt und Raum und Zeit in der Ewigkeit und Allgegenwart Gottes ihre Erfüllung finden werden. Gott wird im Eschaton alles in allem sein, ohne deshalb alles, was er nicht unmittelbar selbst ist, mit sich gleichzuschalten. In der göttlichen Eschatologie wird im Gegenteil alles und jedes seiner je eigenen Bestimmung zugeführt, weil just darin Gott sich selbst verherrlicht und seine Herrlichkeit endgültig und universal offenbart.

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Rahner, Karl, Theologische Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer Aussagen, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. IV: Neuere Schriften, Einsiedeln/ Zürich/Köln 21961, 401 – 428. Ratschow, Carl Heinz, Art. Eschatologie. VIII. Systematisch-theologisch, in: TRE 10, 334 – 363. Wenz, Gunther, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003.

Gunther Wenz

Vollendung in Gott Grundzüge christlicher Eschatologie

1. Media in vita mors Alles, was der Welt zugehört, ist eines unter anderem. Jedes Seiende ist differenzbestimmt: Es ist, was es ist, im Unterschied zu demjenigen, was es nicht ist. Die rudimentärste Form der Differenzbestimmtheit alles Weltlichen ist das Nebeneinander des Raumes, worauf das zeitliche Nacheinander folgt. Der Raum, der das Weltall bestimmt, ist der äußerlichste Bezug des Einen zum Anderen, wohingegen mit der Zeit sich ein Innenverhältnis anbahnt, sofern in ihr Eines als Eines anders wird und so Veränderung statthat. Alles raumzeitlich Bestimmte ist endlich. In ihrer Negativität manifest wird die Endlichkeit des Endlichen, wenn im Vollzug einer Veränderung die Identität des Einen, das anders wird, nicht erhalten, sondern zerstört wird. Dann findet Veränderung nicht länger in Form eines Sich-Änderns statt, weil eine Entität dergestalt anders wird, dass sie aufhört, sie selbst zu sein. Der Lauf der Zeit nimmt Vergänglichkeitscharakter an. In Bezug auf den Vergänglichkeitscharakter anorganischer Entitäten wird in der Regel kein großes Gewese gemacht. Wenn ein Atom gespalten, ein Molekül in seine Bestandteile zerlegt oder ein Stein zerschlagen wird, hält sich die Trauer in Grenzen. Entsprechend verhält es sich, wenn Sachen kaputtgehen, die bloßen Gebrauchswert und nicht mehr als die Bedeutung von austauschbaren Waren haben. Nicht unerheblich anders stellt sich die Angelegenheit für den Fall dar, dass beispielsweise eine wertvolle Vase zu Bruch oder ein Erinnerungsstück verloren geht, das einem lieb und teuer geworden war. Dann ist man zumindest für den Augenblick betrübt und betroffen, weil man meint, Unersetzbares sei abhandengekommen. Ein noch einmal ganz anderes Empfinden begleitet den Verlust eines Tieres, an dem man hing. Jedes Kind weiß, was gemeint ist, und auch Erwachsene haben eine bleibende Ahnung davon, sofern sie ihr kindliches Gemüt und die dazugehörige Sensibilität nur ein wenig bis ins fortgeschrittene Alter hinein erhalten haben. Wenn das Haustier, mit dem in stillschweigender Übereinkunft zusammenzuleben man gewohnt war, steif und regungslos vor einem liegt, dann wird uns bange und ein wenig unheimlich ums Herz und die Sympathie wandelt sich zu dem, was ihr Begriff seiner originären Bedeutung gemäß besagt: in Mitleid und in das Empfinden, dass ein Unikat dahingeschieden ist. Ins Unerträgliche steigert sich dieses Empfinden beim Tod eines

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geliebten Menschen. Schlagartig wird uns dann klar, Einmaliges unwiederholbar, unwiederbringlich verloren zu haben. Alles Endliche endet. Doch nur Lebewesen sterben. Im pflanzlich-vegetabilischen Bereich bahnt sich allmählich an, was Leben und Sterben heißt, um in der tierisch-animalischen Sphäre vollends zutage zu treten. Leblose Entitäten sind da, aber nicht für sich; lebendige Wesen hingegen sind nicht nur an sich, sondern auch für sich präsent. Die urtümlichste Weise der Selbstpräsenz ist das taktile Gefühl. Lebewesen sind fühlende Wesen, Wesen, die der anfangs erwähnten Differenzbestimmtheit alles Seienden nicht nur äußerlich unterliegen, sondern ihrer innewerden. Fühlen heißt, der Differenz von Innen und Außen inne sein zu können. Erst mit dem möglichen Innesein der InnenAußen-Differenz hebt Leben an. Lebewesen stehen, in welch rudimentärer oder entwickelten Weise auch immer, in einem Verhältnis zu sich. Die Beziehung von einem zum andern nimmt unter diesen Bedingungen eine neue Qualität an. Lebewesen sind fühlende Wesen und der Differenz von Innen und Außen inne. In der fühlenden Wahrnehmung der Innen-Außen-Differenz ist diejenige von Lust und Unlust elementar mitgesetzt. Lebendiges, das fühlt, kann Lust und Unlust und damit Formen oder Vorformen dessen empfinden, was Freude und Leid heißt. Die elementarste Weise von Unlust und Leid ist der Schmerz, den jedes Lebewesen instinktiv scheut, zu vermeiden bzw. zu beseitigen trachtet. Schmerz dient durchaus dem Lebenserhalt, ist aber zugleich ein Indiz der Verletzlichkeit des Lebens und insofern ein Vorbote des Todes. Auch wenn Tiere eine empfindsame Ahnung von ihm haben, so fehlt ihnen doch ein explizites Wissen vom Tod. Der Mensch als animal rationale hingegen hat ein entwickeltes Todesbewusstsein und ein Bewusstsein eigener Sterblichkeit, wodurch sein Empfinden von Lust und Unlust, Freude und schmerzlichem Leid bei aller Vergleichbarkeit einen kategorial anderen Charakter annimmt als im Falle des Tieres. Ein Tier wird vom Tod betroffen, wenn es stirbt oder in seinem vitalen Trieb akut bedroht ist. Uns Menschen hingegen begleitet der Tod ein Leben lang. Dies ängstigt. Angst ist von Furcht zu unterscheiden, auch wenn zwischen beiden ein unbestreitbarer Zusammenhang besteht, vor allem derjenige eines Empfindens von Unwohlsein und von Unlust. Furcht hat einen Gegenstand; man fürchtet sich vor etwas. Angst dagegen kann sich auch ohne Objektbezug einstellen. Sie ist dann Angst vor nichts, wobei es angstgemäßer ist, Nichts großzuschreiben. Angst weiß in der Regel nicht genau zu sagen, wovor sie sich ängstigt; gerade darin besteht ihre Unheimlichkeit als Nichtigkeitsangst. Die Todesangst ist nicht lediglich Angst vor physischer Vernichtung, sondern vor einem psychosomatischen Verderben, welches den ganzen Menschen erfasst und ihn in den bodenlosen Abgrund von Sinnlosigkeit, ja Sinnwidrigkeit hinabfallen lässt. Todesangst kann höllische Ausmaße annehmen. Seit es Menschen gibt, haben sie nach einem Leben nach dem Tod bzw. nach einem Sinn des Lebens gefragt, der auch im Tod und durch ihn hindurch

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unvergänglichen Bestand hat. Im Christentum und in der christlichen Theologie sind zwei Antworten auf diese Frage verbunden worden, die ursprünglich getrennt entstanden, aber schon im vorchristlichen Hellenismus in Beziehung zueinander gesetzt worden sind: Die vorzugsweise in der jüdischen Apokalyptik ausgebildete Erwartung einer leibhaften Auferweckung aller Toten am Ende der Menschheits- und Weltgeschichte und die aus der griechischen Antike stammende Annahme einer Unsterblichkeit der Seele. In der Überlieferung schon des frühen Christentums wurden beide Vorstellungen kombiniert, wobei zunächst die allgemeine Auferstehung am Ende der Zeiten im Vordergrund der Lehre stand, wohingegen später vor allem der Gedanke der Seelenunsterblichkeit das Interesse auf sich zog mit der Folge, dass sich der Lehrakzent immer mehr von der universalen zur individuellen Eschatologie verschob. Mit der Akzentverschiebung von der universalen hin zur individuellen Eschatologie hängt das Problem des sog. Zwischenzustands, also die Frage zusammen, ob und wie sich beide Eschatologieformen miteinander vermitteln lassen. Hierauf und auf den differenzierten Zusammenhang von endzeitlicher Erwartung einer leibhaften Auferstehung aller Toten und der Annahme individueller Seelenunsterblichkeit wird ein erster Hauptteil der nachfolgenden Erörterungen konzentriert sein. Er behandelt, wenn man so will, die förmlichen Rahmenbedingungen christlicher Eschatologie. In einem anschließenden zweiten Hauptteil werden sodann die materiale Bestimmtheit der äußeren Form christlicher Eschatologie und ihr innerer Gehalt thematisiert: Zu handeln ist vom gerechten Endgericht nach den Werken und von der endzeitlichen Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben. Ein Epilog schließt sich an; er trägt die Überschrift: Media in morte vita.

2. Allgemeine Totenauferstehung Der christliche Glaube bekennt, wie die altkirchlichen Symbole belegen, die Auferstehung der Toten und das Leben in der kommenden Welt des Reiches Gottes. Die Erwartung des nahe herbeigekommenen Gottesreiches bestimmte nicht nur die Botschaft Johannes des Täufers und die Zeichenhandlung, von der er seinen Beinamen erhielt, sondern auch die Verkündigung des irdischen Jesus. Es genügt ein Blick in die synoptischen Evangelien, um sich von der Richtigkeit dieser Annahme zu überzeugen. Im Zentrum der Logien Jesu, seiner Gleichnisreden und der Zeichen, die er durch seine Taten setzte, stand die vollmächtige Ansage der nahen Herrschaft Gottes, den er seinen und den Vater aller zur Gotteskindschaft berufenen Menschen nannte. Der urchristliche und altkirchliche Glaube hielt an dieser Aussage fest und verband sie nach der österlichen Auferstehung des Gekreuzigten, die als Antizipation des Anbruchs des Gottesreiches gedeutet wurde, mit der gewissen Aussicht auf die

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Parusie, auf den zweiten Advent des in den Himmel zur Rechten Gottes erhöhten Herrn, wie der Pfingstgeist sie verhieß. Am Jüngsten Tag, wenn Menschheits- und Weltgeschichte enden werden, wird Jesus wiederkommen zu richten die Lebenden und die Toten. Die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts, zu dem alle Menschen am Ende der Tage vor Gott zu erscheinen haben, hat sich nicht erst im Christentum ausgebildet, sondern ist bereits durch die apokalyptische Tradition des Frühjudentums überliefert worden, wobei die Erwartung einer allgemeinen Totenauferstehung ein konstitutives Implikat der Endgerichtsvorstellung bildet: Um vor den Richterstuhl Gottes treten zu können, müssen die Toten aus ihren Gräbern gerufen und erweckt werden zu einem neuen Leben. Dabei bewirkt die Neuheit des eschatologischen Lebens einerseits einen Wandel dem gewesenen, im Tode endenden gegenüber, sofern es alle Verwesung abstreift und ein unvergängliches Dasein hervorbringt, das keinem Tod mehr entgegengeht. Andererseits ist das neue Leben der zukünftigen Welt kein dergestalt anderes, dass der aus dem Tode erweckte Mensch nicht mehr derselbe wäre, der er vor seinem Tod und zu seinen irdischen Lebzeiten war. Seine Identität wird vielmehr gewahrt und zwar, um es scholastisch zu formulieren, in der Weise numerischer Selbigkeit. Die am alltäglichen Vorgang des Erwachens vom Schlaf orientierte metaphorische Rede von Auferweckung und Auferstehung legt die Annahme eines Identitätserhalts gleichsam von selbst nahe. Sobald wir aus dem Schlaf erwachen, finden wir, wenn wir nicht Gregor Samsa heißen, in der Regel unmittelbar zu uns, um augenblicklich bei uns und im Bewusstsein unserer selbst und unserer Welt zu sein. Zugleich fühlen und wissen wir uns identisch mit uns und als dieselben, die wir waren, als wir zu Bett gingen. Damit ist allerdings erkennbar die Grenze des Vergleichs zwischen Schlaf und Tod, Schlafeserwachen und Totenauferstehung erreicht. Denn suchen wir die Potenz, aus dem Schlaf zu erwachen, nicht ohne Grund im Schlafenden, der ja, auch wenn er schläft, am Leben bleibt, so finden wir ein solches Vermögen im Falle eines Toten erfahrungsgemäß nicht. Es ist im Gegenteil ein förmliches Kennzeichen des Todes, dass es aus ihm kein Erwachen gibt. Tote zu erwecken, sodass sie auferstehen, vermag nur derjenige, der nicht nur am Anfang der Schöpfung, sondern auch in ihrem Verlauf aus dem Nichts zu erschaffen vermag und zwar so, dass die Identität des im Tode Negierten erhalten bleibt. Dieser Eine ist Gott und Gott allein. Von dieser Voraussetzung geht der Auferstehungsglaube der frühjüdischen Apokalyptik ebenso selbstverständlich wie entschieden aus. Er ist strikt theozentrisch orientiert. Mit unsterblichen Teilen, die den Menschen von sich aus eignen, rechnet er nicht. Der Mensch wird ganz von Gott und von Gott ganz auferweckt. Die Auferstehung betrifft den ganzen Menschen, wie ihn zuvor sein Tod im Ganzen und nicht nur in Teilen bzw. zur Hälfte betraf. Es ist der Anthropologie der hebräischen Bibel von Hause aus fremd, den Menschen in einzelne Teile zu zerlegen und beispielsweise ewiges Leben nur seiner Geistigkeit und nicht

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seinem Leib zuzuschreiben. Nein, die Auferstehung wird gemäß frühchristlicher Erwartung durchaus leiblich-leibhaftig stattfinden. Damit ist zugleich gesagt, dass der Auferstehungsgedanke vom menschlichen Weltbezug nicht abstrahiert werden kann. Ist der Leib doch der Inbegriff des Weltverhältnisses des Menschen und das Medium, mittels dessen er am Weltgeschehen teilhat. Wer mithin eine leibhafte Auferstehung erwartet, kann an dieser Erwartung konsequenterweise nicht nur Einzelne oder einen Einzelnen teilhaben lassen, er muss sie auf die ganze Menschheit, ja auf die gesamte Welt ausdehnen, um alle Kreatur von ihr umfasst sein zu lassen. Im frühjüdischen Auferstehungsglauben, wie ihn die Apokalyptik überlieferte, ist dies eindeutig der Fall. Zwar werden ihm zufolge die Auferweckten individuell auferstehen, aber doch nicht allein, sondern im Verein mit allen Menschen, wobei die allgemeine Totenauferstehung einhergehen wird mit Ende und Vollendung der Welt. Aus diesem Grunde findet sie endzeitlich statt, wobei die Endzeit einen Zeitbezug beinhaltet, zugleich aber als Ende der Zeit deren Verlauf transzendiert und aufhebt. Der Glaube an eine endzeitliche Auferstehung der Toten war in der Religion Israels nicht immer und von Anfang an vorhanden, sondern hat längere Zeit gebraucht, um sich auszubilden und durchzusetzen. Zur Zeit Jesu wurde er bekanntlich keineswegs von allen Juden geteilt, wie das Beispiel der Sadduzäer belegt. Hinzu kommt, dass der Auferstehungsgedanke im Frühjudentum eine, wenn man so sagen darf, Annahme sekundärer Art und zweiten Grades war. Auch diejenigen, die ihn vertraten, wie beispielsweise die Pharisäer, taten dies primär nicht um des Gedankens der Auferstehung selbst willen, sondern zu dem Zweck, sich und andere der Gerechtigkeit Gottes zu vergewissern, die vielen ihrer Glaubensgenossen zweifelhaft geworden war. Das Judentum, dessen religiöse Identität sich weniger im alten Juda und Israel der Könige, sondern erst in exilisch-nachexilischer Zeit ausbildete, lässt sich in Kürze als universaler Thoramonotheismus charakterisieren: Gott ist einer und in seiner Einheit und Einzigkeit universaler Schöpfer des Himmels und der Erden, allmächtiger Herr der Welt. Offenbart hat der eine und allmächtige Gott seine Gottheit in der Thora, damit sein Volk vor aller Welt Zeugnis gebe von seiner Gerechtigkeit. Gott ist gerecht. Er waltet nicht nach naturhaftem Belieben oder arbiträrer Willkür, sondern nach Maßgabe seiner Gerechtigkeit, die zwischen Gut und Böse scheidet und dem Guttun Wohlergehen zuordnet, wohingegen sich am Bösen das Geschick seiner Bosheit auswirken wird. Jede Nivellierung oder gar Vergleichgültigung der Differenz von Recht und Unrecht ist dem frommen Juden zuwider und zwar zu Recht. Denn es ist gut, zwischen gut und böse zu unterscheiden, wohingegen die Egalisierung dieses Unterschieds böse ist an sich selbst. Die religionsgeschichtliche Bedeutung der ursprünglichen Einsicht des Judentums lässt sich schwer überschätzen, und man tut als christlicher Theologe gut daran, sie unter keinen Umständen zur Disposition zu stellen. Es gibt ein Judentum ohne Christentum; ein Christentum ohne Judentum kann

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und wird es nicht geben! Die Gewissheit, dass der eine Gott ein Gott universaler Gerechtigkeit ist, hat für den christlichen und für den jüdischen Glauben gleichermaßen als grundlegend zu gelten. Bereits im vorchristlichen Judentum war besagte Glaubensgewissheit schweren Anfechtungen ausgesetzt. Stimmt es denn, dass zwischen Tun und Ergehen ein von Gott geordneter und gemäß göttlicher Gerechtigkeit proportionierter Zusammenhang besteht? Spricht die Erfahrung nicht eher gegen einen solchen Zusammenhang? Und falsifiziert nicht spätestens der Tod den Grundsatz der Gerechtigkeit, indem er alles gleich und keinen Unterschied macht zwischen Gerechten und Ungerechten, sodass der Eindruck entstehen muss, dieser Unterschied habe im Grunde ebenso wenig Bestand wie die Gerechtigkeit, weil am Ende alles doch so ist, als sei nichts gewesen? Das Ringen mit solchen und ähnlichen Fragen hat im Alten Testament in einer Reihe von Büchern seinen Niederschlag gefunden, in den Psalmen etwa oder bei Hiob und u. a. zu jener Eschatologisierung der jüdischen Religion geführt, wie sie für die apokalyptische Bewegung kennzeichnend wurde, in deren Überlieferungszusammenhang sowohl Jesus als auch Johannes der Täufer gehört. Mit Apokalyptik wird heutzutage alles Mögliche und Unmögliche assoziiert. Doch ist ihr religiöses Grundmotiv recht einfach und unschwer zu erkennen, wenn man einmal von allerlei ornamentalem Beiwerk absieht. Die apokalyptische Frömmigkeit gibt lieber die ganze Erfahrungswelt als die Gewissheit der Gerechtigkeit Gottes preis: Mögen auch Himmel und Erde vergehen, mögen die schlechten und schlimmen Erfahrungen der Gerechten sein, wie sie sind, und mögen die Ungerechten über die Gerechten spotten und höhnen: Am letzten Ende wird der eine Gott seine gerechte Allmacht und allmächtige Gerechtigkeit erweisen und Endgericht halten über die ganze Menschheit und alle Welt. Zu diesem Primärzweck werden alle Toten auferweckt. Um des Endgerichts und der göttlichen Gerechtigkeit willen findet die allgemeine Totenauferstehung statt. Sie bildet, wenn man so will, den äußeren Rahmen des eschatologischen Gerichts, wohingegen dieses den inneren Grund der Auferstehung der Toten bildet. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als an der Tatsache, dass die Totenauferstehung an sich selbst einen ambivalenten Charakter hat. Für die Gerechten zwar ist sie nichts als gut, für die Ungerechten hingegen, so muss es den Anschein haben, wäre es besser, wenn sie im Tode belassen blieben. Denn in ihrem Fall zieht die Auferstehung ein Gericht nach sich, dessen Folgen nicht anders als höllisch zu nennen sind. Der erstandene Ungerechte verfällt dem bodenlosen Abgrund seiner Verkehrtheit, als der die Sünde vor Gott, Menschheit und Welt und nicht zuletzt vor ihm selbst offenbar wird.

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3. Unsterblichkeit der Seele Man sagt der Anthropologie der griechischen Antike nicht selten ein dualistisches Menschenbild nach. Sie habe menschliche Intelligibilität und Sensibilität geschieden und Leib und Seele im Unterschied zum ganzheitlichen Menschenbild der hebräischen Bibel unstatthaft auseinanderdividiert und getrennt. Dieser Vorwurf beruht auf einem Pauschalurteil und trifft schon für Platon nur sehr bedingt und noch weniger für seinen großen Schüler Aristoteles zu. Ihm zufolge ist die Seele die Form des Körpers, die ihn zweckmäßig und zielorientiert zum lebendigen Leib und zum Organ bewussten und willentlichen Denkens und Handelns gestaltet. Ohne Seele könnte kein Lebewesen in seiner Lebendigkeit erfasst werden, am allerwenigsten der lebendige Mensch, dessen Seelenvermögen dasjenige der Tiere oder gar der Pflanzen, die Aristoteles ebenfalls als anfangsweise beseelt denkt, bei Weitem übertrifft und transzendiert. Umgekehrt gilt im aristotelischen Sinne freilich auch, dass menschliches Seelenleben am Leib hängt und ohne diesen allenfalls abstrakt gedacht, nicht aber konkret begriffen werden könnte. Konsequenterweise hat Aristoteles daher die individuelle Seelenunsterblichkeit geleugnet. Wenn das Christentum von Seelenunsterblichkeit sprach, dann stets in Bezug auf die Einzelseele. Damit wurde es für christliche Theologie im Grunde gänzlich unmöglich, die Seele ohne Bezug auf den Leib als das Individuationsprinzip bzw. Vermittlungsorgan seelischer Individuierung zu denken und ihr gewissermaßen leiblose Unsterblichkeit zu attestieren. Sofern sie es im Zuge der Bestimmung des Todes als Trennung von Leib und Seele dennoch tat, geschah dies im Bewusstsein einer Aporie, die einerseits zwar als aporetisch, andererseits aber auch als unvermeidbar zu erachten sei. Wie auch immer : Fügt man der die psychosomatische Einheit zwar nicht auflösenden, aber differenzierenden Unterscheidung von Leib und Seele noch den Geist hinzu, dann ergibt sich eine anthropologische Trias, die auf ihre Weise durchaus geeignet ist, die Verfassung des Menschen als eines Beziehungswesens zu begründen. Als Leib und mittels desselben steht der Mensch in einer Beziehung zur Welt, die ihn sinnlich affiziert und der er selbst zugehört. Ohne leibhaften Weltbezug lässt sich menschliches Leben nicht denken, wobei der Leib selbst Kriterien bereitstellt, zwischen weltlichen Gegebenheiten phänomenologisch zu differenzieren und etwa lebendige von nicht lebendigen Entitäten zu unterscheiden. Trotz und unbeschadet der Unentbehrlichkeit, welche die Welt für ihn hat, geht der Mensch nicht in ihr auf, sondern ist zugleich eine transmundane Größe, die in einem Selbstverhältnis steht, welches auf Weltverhältnisse nicht reduziert werden kann. Nicht als ob das Ich, als welches der Mensch sich selbst wahrnimmt, nicht von dieser Welt wäre; davon kann nicht die Rede sein. Dennoch eignet ihm in Bezug auf die Welt und alles, was dieser

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zugehört, eine Irreduzibilität, ohne deren Anerkennung verkannt werden müsste, was Ich heißt. Für die Irreduzibilität des Ichs und für die weltliche Unverrechenbarkeit des menschlichen Selbstverhältnisses steht der Seelengedanke ein, der damit bezeichnet, was im strikten Sinne die personale Identität eines Menschen und seine Selbigkeit ausmacht. Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Er steht in Beziehung zu Mitmensch und Welt und zugleich in Beziehung zu sich selbst, wobei beide Beziehungen sich zwar unterscheiden, nicht aber trennen lassen, sodass von einer Beziehung beider Beziehungen zu reden ist. Seele und Leib, Ich und Welt gehören auf differenzierte Weise zusammen, ohne dass die Einheit des differenzierten Zusammenhangs in einem der beiden Relate gefunden oder von diesem synthetisiert werden könnte. Dies wahrzunehmen ist, wenn man so will, die Aufgabe des Geistes als des Dritten im anthropologischen Bunde, der von seinem Begriff her nicht von ungefähr an den Dritten im göttlichen Bunde verweist und entsprechende theanthropologische Überlegungen nahelegt. Wenn der Leib für den Weltbezug und die Seele für den Selbstbezug steht, dann steht der Geist für den Gottesbezug, also für jene Beziehung, die konstitutiv ist für Leib und Seele bzw. Selbst und Welt und zwar nachgerade in ihrem differenzierten, aber untrennbaren Zusammenhang. Religion kann man formal die Beziehung eines Subjekts oder von Subjekten zu einem fundierten Sinngrund von Selbst und Welt nennen, wobei hinzuzufügen ist, dass das religiöse Verhältnis sich selbst und alle sonstigen Verhältnisse in demjenigen Grund gegründet weiß, auf den es sich bezieht. Es ist die Funktion des Offenbarungsbegriffs, dieses Begründungsverhältnis förmlich zu bezeichnen. Im Judentum weiß sich das religiöse Verhältnis in Gottes Selbsterschließung in der Thora, im Christentum in der Erscheinungsgestalt Jesu Christi begründet. Aus diesem Grund heraus, wie er den religiösen Geist bestimmt, ist über den materialen Sinn sowohl der Annahme einer endzeitlichen Totenauferstehung als auch derjenigen einer Unsterblichkeit der Seele sowie über die Kombination beider Annahmen zu befinden, wie sie nicht erst im Christentum, sondern schon im hellenistischen Judentum der vorchristlichen Zeit in Teilen der Tradition vorgenommen wurde. Der formale Grund für diese Verbindung dürfte vor allem in der Notwendigkeit liegen, den universalen Aspekt der Eschatologie, der in der Vorstellung einer allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Menschheits- und Weltgeschichte dominiert, mit dem individuellen zu vermitteln, den die Lehre von der Seelenunsterblichkeit jedenfalls in ihrer jüdisch-christlichen Rezeption unterstrich. Die Annahme einer Unsterblichkeit der Einzelseele setzt die Allgemeinheit der endzeitlichen Totenauferstehung ins Verhältnis zum individuellen Todesfall und betont zugleich die für den Gedanken der allgemeinen Auferstehung der Toten ohnehin konstitutive Prämisse, dass sie die Identität des jeweiligen Menschen wahrt. Man muss diese Identität keineswegs mit einem seelischen Eigenvermögen bzw. mit einer unsterblichen Seelensubstanz begründen; eine solche Begründung ist im Gegenteil als abwegig abzulehnen.

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Dennoch ist festzuhalten, dass in der endzeitlichen Auferweckung Gott jeden als ihn selbst und in der Selbigkeit des Ichs, das er zu seinen Lebzeiten war, auferstehen lassen wird. Unter diesem Gesichtspunkt verhält sich der Seelengedanke im Allgemeinen und der Gedanke seelischer Unsterblichkeit im Besonderen zu dem Gedanken allgemeiner Totenauferstehung nicht nur kompatibel, sondern komplementär. Ebenso und möglicherweise stärker noch als der Gedanke allgemeiner Totenauferstehung auf denjenigen der Seelenunsterblichkeit ist dieser auf jenen angewiesen, sofern die unsterbliche Einzelseele, die ihres Leibes und des leibhaften Weltbezugs entbehrt, im Grunde nicht ist, was zu sein sie bestimmt ist. Die christlichen Theoretiker der Seelenunsterblichkeit affirmieren dies nachdrücklich und richten die abgeschiedene Einzelseele konsequent aus auf die Wiedervereinigung mit ihrem Leib in der allgemeinen Auferstehung der Toten, der sie entgegenstrebt. Die Lehren von der Unsterblichkeit der Einzelseele und der allgemeinen Totenauferstehung stehen so in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang und in einer Beziehung, in der keiner des jeweils anderen entbehren kann, obwohl eine abschließende Synthese aussteht. Doch mag man genau dies als ein Indiz für die spezifische Eigenart des eschatologischen Lehrstücks werten. Individuelle und universale Eschatologie sind konstitutiv aufeinander bezogen, ohne, wie es scheint, zu einer abschließenden Synthese gebracht werden zu können. Um Ansätze zu einer Vermittlung bzw. zu einem intermedialen Ausgleich sind sog. Zwischenzustandstheorien bemüht. Sie sind besonders zu einer Zeit virulent geworden, als sich der Akzent christlicher Eschatologie von der universalen, welche die altkirchlichen, frühmittelalterlichen Erwartungen bestimmte, auf die individuelle Eschatologie verlagert hatte, was bereits im Laufe des Mittelalters der Fall war und zwar aus einsichtigen Gründen. Die Urchristenheit erwartete den Anbruch des Reiches Gottes und die Parusie ihres Herrn als unmittelbar bevorstehend. Paulus etwa äußert im 1. Thessalonicherbrief die Vermutung, dass er und andere Gemeindeglieder den Eintritt des Eschatons noch erleben werden. Er sagt aber auch, dass die am Tag des Herrn bereits Verstorbenen keinerlei eschatologische Nachteile zu gewärtigen hätten, womit er den Unterschied zwischen Toten und Lebenden sub specie aeternitatis zugleich relativierte. Diese Relativierung änderte indes nichts an der paulinischen Naherwartung, die von der Urchristenheit geteilt wurde. Ob die sog. Parusieverzögerung, also die Nichterfüllung der Erwartung eines zeitlich unmittelbar bevorstehenden Anbruchs des Gottesreiches und einer baldigen Wiederkunft Christi, tatsächlich jene tiefe Enttäuschung und Glaubenskrise bewirkte, die manche Exegeten vermuten, kann man bezweifeln. Offenbar fand die Christenheit Mittel und Wege, mit dem Problem umzugehen und seine Lösung der Vorsehung Gottes zu überlassen, bei dem tausend Jahre wie ein Tag sind. Eschatologisch gespannt und erwartungsvoll blieb der christliche Glaube gleichwohl. Doch überrascht es nicht, dass sich das Interesse allmählich von universalen Endzeitperspektiven auf die Frage

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nach dem eschatologischen Los des Einzelnen und seinem postmortalen Geschick verlagerte. Die jesuanische Gleichnisrede von dem bereits vor dem Ende der Menschheits- und Weltgeschichte in Abrahams Schoß ruhenden Lazarus oder die Zusage des Gekreuzigten an den Schächer zu seiner Rechten, er werde noch heute mit ihm im Paradiese sein, kamen diesem Perspektivenwandel entgegen und unterstützten ihn. So setzte sich nach einigem Streit, der sogar unter Päpsten ausgetragen wurde, kirchenoffiziell die Auffassung durch, dass das Eschaton für die einzelne Menschenseele im Augenblick des Todes unmittelbar und ohne weiteren Verzug anbreche. Zwar stehe dann die Wiedervereinigung von Leib und Seele im Zuge der allgemeinen Totenauferstehung noch ebenso aus wie das universale Endgericht, aber ein besonderes Gericht, das im Grundsatz über ihn entscheide, finde für den Menschen sofort nach Ende seiner individuellen Lebenszeit statt. Bleibt zu fragen, was zwischen dem eschatologischen Vorentscheid über den Einzelnen und dem universalen Endgericht nach erfolgter allgemeiner Totenauferstehung geschieht? Auf diese Frage wollen die bereits erwähnten Zwischenzustandstheorien eine Antwort geben. Die sog. Seelenschlaftheorie, um mit ihr zu beginnen, löst das Problem, indem sie es beseitigt: Zwar werde, so die Annahme, über das Seelenheil von Verstorbenen bereits im Augenblick ihres Todes entschieden. Aber sie selbst wie alle anderen Menschen erfahren vom getroffenen Entscheid erst am Jüngsten Tag. Bis dahin bleibt die Menschenseele bezüglich ihres ewigen Heils oder Unheils bewusstlos, weil in einen Tiefschlaf versenkt. Luther hat die Seelenschlaftheorie gelegentlich vertreten; doch konnte sie sich auch im Luthertum nicht allgemein durchsetzen. Gründe hierfür sind unschwer einzusehen: Eine Menschenseele, die einem Ich gleicht, das keinerlei Bewusstsein seiner selbst haben kann, scheint ihrem Begriff zu widersprechen. Trotz naheliegender Einwände sollte man sich die Vorzüge der Theorie eines bis zum Jüngsten Tag währenden postmortalen Seelenschlafes nicht verhehlen. Für den Verstorbenen beginnt der Jüngste Tag im Augenblick seines Todes, sodass sich in dieser Hinsicht die Frage nach etwaigen Zwischenzuständen ebenso erübrigt wie die nach dem eschatologischen Verhältnis von Leib und Seele. Denn das Erwachen der Seele wird sich im Verein mit der Auferstehung ihres Leibes vollziehen. Was aber die Hinterbliebenen anbelangt, so können sie ihre Verstorbenen in Frieden ruhen lassen, ohne sich über ihren Verbleib sorgen zu müssen. Dürfen sie doch im Glauben gewiss sein, dass alle, die sich auf Gott verlassen, auch im Tode nicht verlassen werden, sondern ihre Ruhe finden in ihm, welche Ruhe sich im ewigen Lichte Gottes betrachtet als identisch erweisen wird mit unvergänglichem und vollendetem Leben. Denn in Gott seine Ruhe zu finden, bedeutet nicht Totenstille und tödliche Erstarrung, sondern eine Lebendigkeit, über die hinaus eine lebendigere nicht gedacht werden kann. Lehnt man die Seelenschlaftheorie ab, dann kehren die Zwischenzustandsprobleme bzw. die Probleme der Vermittlung von individueller und

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universaler Eschatologie zwangsläufig wieder, ohne einer abschließenden Lösung zugeführt werden zu können. Um nur einige dieser Probleme zu benennen: Fällt der grundsätzliche Entscheid über das eschatologische Los der Menschenseele im Augenblick ihres Todes, dann wird es schwierig zu sagen, was ihre noch ausstehende Wiedervereinigung mit dem Leib im Zuge der allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Tage Weitergehendes erbringen soll? Wird hingegen der Endentscheid dem Jüngsten Gericht vorbehalten, dann befindet sich die Menschenseele bis dahin sozusagen in einem Wartestand, der unter der Voraussetzung gegebenen Bewusstseins für sie – selbst im Falle ihrer Bestimmung zum Heil – quälende Ungewissheit mit sich führen muss. Man kann gegen diese Ungewissheit die die Schranken des Todes transzendierende Solidargemeinschaft der Kirche und ihrer Glieder, die Macht des fürbittenden Gebets und möglicher sonstiger Hilfen für die abgeschiedenen Seelen in Stellung bringen, aber all dies ändert doch nichts an der verbleibenden Ungewissheit ihres Status und der prinzipiellen Offenheit des eschatologischen Prozesses. Umgekehrt wird, wo primär von der individuellen Eschatologie her gedacht wird, ihr universaler Charakter leicht unterbestimmt und mit ihm der kommuniale Aspekt, der bei keiner christlichen Eschatologie fehlen darf. Wie immer man es dreht und wendet: Individuelle und universale Eschatologie lassen sich theoretisch nicht abschließend zum Ausgleich bringen und synthetisieren. Geboten werden stets nur Interimslösungen. Doch kann aus der Einsicht in diese Aporie und ihre Unvermeidbarkeit eine konstruktive Konsequenz gezogen werden, die für das Selbstverständnis eschatologischer Lehre von grundlegender Bedeutung ist: Offenbar gehört es zur Eigenart des eschatologischen Themas, nicht definitiv auf den Begriff gebracht werden zu können. Es ist nun einmal ein charakteristisches Kennzeichen christlicher Hoffnung, dass sie ihr Vertrauen auf die unbegreifliche Liebe Gottes und auf einen himmlischen Frieden setzt, der höher ist als alle Vernunft.

4. Endgericht und eschatologische Rechtfertigung Sowohl die Erwartung einer allgemeinen Auferstehung der Toten am Ende der Welt als auch diejenige eines seelischen Erhalts des einzelnen Menschen durch den Tod hindurch bleibt ambivalent und ist nur bedingt Hoffnung zu nennen. Warum? Weil nach traditioneller Lehre der individuelle Seelenerhalt um des besonderen, die allgemeine Auferstehung um des universalen Endgerichts willen geschieht. In der Frage nach ihrem Verhältnis konkretisiert und spezifiziert sich das generelle Problem der Beziehung von individueller und universaler Eschatologie. Aber dieses Problem ist nicht das eschatologisch Entscheidende. Eschatologisch entscheidend ist vielmehr, wer im besonderen und allgemeinen Endgericht besteht. Gibt es Rettung im Gericht und warum?

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Auf diese Frage vor allem hat christliche Eschatologie zu antworten, welche Antwort durch den bloßen Verweis auf die zu erwartende allgemeine Auferstehung der Toten bzw. auf den postmortalen Erhalt der einzelnen Menschenseele noch keineswegs gegeben ist. Dieser Verweis bleibt solange soteriologisch uneindeutig, ja zweideutig und ambivalent, bis Er in Erscheinung tritt, der als eschatologischer Richter zugleich und zuvörderst derjenige ist, der aus dem Gericht rettet, weil er stellvertretend für uns – an unserer statt und uns zugute – gerichtet wurde, damit die Gerechtigkeit Gottes erfüllt und in ihm und durch ihn kraft des österlichen Pfingstgeistes als vorbehaltlose Liebe manifest werde. Das größte und schlimmste Defizit christlicher Eschatologie besteht nicht im fehlenden Ausgleich individueller und universaler Eschatologie, der abschließend nicht zu leisten ist, sondern darin, dass sie den eschatologischen Retter Jesus Christus weithin hinter den Richter hat zurücktreten lassen mit der Folge, dass der Heiland von Menschheit und Welt kaum mehr zu erkennen war. Um nicht missverstanden zu werden: Der Gedanke eschatologischen Gerichts, das endgültig und definitiv zwischen gerecht und ungerecht scheidet, ist nicht nur unter jüdischen, sondern auch unter christlichen Bedingungen unaufgebbar. Denn er ist der göttlichen Gerechtigkeit geschuldet, ohne welche Gott nicht als derjenige gedacht wird, der er ist. Liebe ohne Gerechtigkeit verdient ihren Namen nicht, sondern erweist sich zuletzt als reines Belieben und als arbiträre Willkür naturhafter Art. Solange das Christentum am jüdischen Erbe festhält, ohne welches es kein Christentum gibt, wird es daher Liebe nicht mit Belieben verwechseln und kein Evangelium verkünden, das nicht in differenzierter Weise auf das Gesetz bezogen ist. Es darf als ein Zeichen der in der Thora offenbaren Güte Gottes gelten, dass er kraft seiner Gerechtigkeit für den Unrechtleidenden eintritt und dem Übeltäter das vermeintliche Recht nicht lässt, Unrecht zu tun. Es gehört zur göttlichen Gerechtigkeit, dass sie urteilt und das Unrecht richtet, damit der Unterschied von Gut und Böse nicht nivelliert und vergleichgültigt werde; ansonsten nämlich wäre zuletzt und im Grunde alles egal und nicht nur sinnlos, sondern sinnwidrig zu nennen – und der Teufel hätte gesiegt und sei es auch unter dem falschen Schein der Liebe. Der Gott, den Jesus Christus seinen Vater genannt und als dessen Sohn er sich in der Kraft des Heiligen Geistes erwiesen hat, ist kein anderer als der gerechte Gott Israels, in dessen kommendem Reich sich durch Universalisierung göttlicher Gerechtigkeit die Schöpfung vollenden wird. Dass der Anbruch der Gottesherrschaft nach dem Bekenntnis christlichen Glaubens mit der Parusie Jesu Christi einhergehen wird, steht in keinem Gegensatz zur eschatologischen Erwartung gerechter Gottesherrschaft, sondern in völligem Einklang mit ihr. Wie das Apostolikum bekundet: Der österlich erhöhte Herr, der zur Rechten des Vaters sitzt, wird wiederkommen und gerechtes Gericht halten über Lebende und Tote, um der Gerechtigkeit Gottes die Ehre zu geben und ewiges Leben im Geist zu erwirken. Das Maß der göttlichen Gerechtigkeit,

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nach dem Jesus Christus in seiner gottmenschlichen Personeinheit eschatologisch richtet, ist dabei nach traditioneller Lehre ganz und gar menschlich. Jesus Christus richtet, wie die Dogmatik sagt, gemäß seiner menschlichen Natur, bemisst den Menschen also nicht an einem ihm fremden Gesetz, sondern nach dem Gesetz seiner eigenen Bestimmung zur Humanität. Ob er menschlich, also ein Mensch war, der seinem humanen Begriff entsprach, wird die entscheidende Frage sein, die jeder im Jüngsten Gericht durch Jesus Christus gestellt und zwar so gestellt bekommen wird, dass die Stimme des Herrn mit derjenigen des eigenen Gewissens völlig übereinkommt. Es ist dies die nämliche Frage, die bereits die recht verstandene Thora stellt und deren Basis im Dekalog und im Doppelgebot der Liebe bündig zusammengefasst ist, das als Grundgesetz der Menschlichkeit und als Verfassungsurkunde einer menschlichen Schöpfungsordnung gelten darf. Formales Kennzeichen des Doppelgebots der Liebe sind Verallgemeinerungsfähigkeit und universales Geltungsvermögen; materialiter aber gebietet das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe nichts anderes, als was die Bestimmung eines jeden Menschengeschöpfs ist, nämlich ein gottunterschiedener Mensch unter Menschen in einer gemeinsam gegebenen Welt zu sein. Spätestens an dieser Stelle ist eschatologisch von der ursprünglichen Einsicht der Reformation zu reden, die nach reformatorischem Urteil als die ursprüngliche Einsicht des Christentums überhaupt zu gelten hat. Mit dem Gesetz konfrontiert und nachgerade mit dem seiner eigenen Bestimmung muss der Mensch erkennen, dass er dem gesetzlichen Anspruch im Grunde und zuletzt nicht nur nicht entspricht, sondern widerspricht. Zwar vermag er sich äußerlich mit dem gesetzlich Gebotenen konform zu erweisen; aber im Innersten seiner selbst widersetzt er sich bewusst und willentlich, weil er nicht einer unter anderen, sondern einer allein und das Ein und Alles zu sein bestrebt ist, um welches sich die ganze Welt dreht. Dieser Widersetzlichkeit überführt ihn das Gesetz und zwar, wie die Alten sagten, gemäß seinem theologischen Gebrauch, dem usus elenchticus legis. Das Gesetz ist wie die kreatürliche Bestimmung des Menschen eine gute Gabe Gottes. Doch unter den Bedingungen des Falls der Sünde, wie er in seiner unbegreiflichen Faktizität gesetzlich identifiziert wird, nimmt es die Form des vernichtenden Vorwurfs und einer Anklage ein, die auf heillose Weise zugrunde richtet. Die Erscheinung Jesu Christi falsifiziert diesen Tatbestand nicht, sondern bestätigt und bekräftigt ihn auf staurologische Weise. Der wahre Mensch, der seiner Bestimmung im Unterschied zum alten Adam auf vollkommene Weise entsprach, endet am Kreuz als Opfer der Bosheit der Sünde. Doch ist mit dieser Einsicht die christologische Erkenntnis längst nicht erschöpft, sondern erst im Beginnen begriffen. Denn der am Kreuz als Opfer der Sünde Gestorbene ist kein anderer als der Freund der Sünder und derjenige, welcher der göttliche Menschensohn nicht sein wollte ohne die verlorenen Söhne und Töchter des gefallenen Menschengeschlechts. An Ostern erscheint der Gekreuzigte daher nicht nur als Opfer der Sünde,

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sondern zugleich als derjenige, welcher sich für die Sünder als Opfer dargebracht hat, um Rechtfertigung zu erwirken für sie. Erst damit ist der christologische Skopus formuliert, die göttliche Sendung Jesu Christi erfasst und der Richter als Retter begriffen, der Heillosigkeit in Heil zu verwandeln vermag. Wer dem auferstandenen Gekreuzigten vertraut, wird gerettet im Gericht. Erspart werden wird das Gericht ihm nicht; er wird vielmehr in der Nachfolge seines Herrn die Sündenerkenntnis bis hin zur resignatio ad infernum durchlaufen und den Tod nicht nur des äußeren, sondern auch die mortificatio des inneren Menschen erfahren. Aber er hat, indem er seinem Herrn folgt, die Hölle grundsätzlich bereits hinter sich gelassen und nur mehr den Himmel zu gewärtigen. Mit dem, was Hölle heißt, ist eine Grenze markiert, die sich jedem theoretischen Zugriff entzieht und einem Stoppschild gleicht, das vor jenem bodenlosen Abgrund warnt, dem die Sünde in ihrer unausdenklichen Verkehrtheit verfallen ist. Die Lehre von der apokatastasis panton, der Wiederbringung aller muss als häretisch abgelehnt werden, weil sie die Differenz zwischen Gut und Böse auflöst. Aber ebenso wenig lässt sich die Eschatologie auf eine sog. Lehre eines doppelten Ausgangs festlegen, wonach eine bestimmte Gruppe von Menschen in den Himmel kommt, wohingegen die anderen, welche nach traditionellem Urteil die Mehrheit bilden, in die Hölle fahren werden, um dort für immer und ewig gepeinigt zu werden. Stattdessen gilt die Mahnung, jeder möge selbst zusehen, wo er bleibt, um zu der Einsicht zu gelangen, dass die einzige Bleibe, die heilsam und ewig zu sein verspricht, bei Jesus Christus ist, in dem sich Gott nicht nur des Menschengeschöpfs im Allgemeinen, sondern auch und insbesondere des sündigen Menschen angenommen hat. Was kommt auf uns zu und zwar nicht nur im futurischen, sondern in jenem adventlichen Sinne, den die Eschatologie bedenkt? Die christliche Antwort darauf kann nur lauten: Die Zukunft dessen, der gekommen ist, zu suchen und zu retten, was verloren ist. Der eschatologische Retter ist kein anderer als der eschatologische Richter, gewiss. Aber er will nicht zugrunde richten, sondern den Sünder aufrichten und rechtfertigen, der glaubt und sich im Geist auf Gottes Gnadenzusage verlässt. Ihm wird der Himmel zuteil und zwar gratis! Im IV. Artikel der Confessio Augustana ist, was gratis rechtfertigungstheologisch besagt, in bündiger Weise zum Ausdruck gebracht, ohne doch im XVII. Artikel, der von der Wiederkunft Jesu Christi handelt, eschatologisch bereits hinreichend zum Ausdruck gebracht worden zu sein. Wer an Christus glaubt, der durch seinen Tod der Gerechtigkeit Gottes Genüge geleistet hat, um an Ostern und in der Kraft des pfingstlichen Geistes die Gnadenliebe Gottes zu offenbaren, der wird im Endgericht bestehen, weil er um Christi willen gerechtfertigt wird, und er wird teilhaben am ewigen Leben des dreieinigen Gottes und an der himmlischen Welt. Das Gericht fällt auch für den Glaubenden nicht dahin, ja, man wird sagen müssen, dass im Glauben die sündige Verkehrtheit am allerschmerzlichsten und -peinlichsten

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erfahren wird, wie das Beispiel des Petrus belegt, der nach seinem Verrat vom Blick seines dem Kreuz entgegengehenden Herrn im Innersten betroffen bitterlich weint. Aber die Reue des Petrus ist, gerade in ihrer die Wurzeln des eigenen Ichs berührenden Abgründigkeit, eine heilsame Reue, weil sie von der Anschauung des Heilands hervorgerufen wird und daher unter dem Vorzeichen des Heils steht. Was haben wir eschatologisch zu erwarten? Was kommt auf uns zu? Was dürfen wir über das eigene Ende und das Ende von Menschheitsgeschichte und Welt hinaus erhoffen? Wir dürfen die Rettung im Gericht durch Sündenvergebung und Rechtfertigung aus Gnade um Christi willen durch Glauben erhoffen, um noch einmal an den IV. Artikel des Augsburger Bekenntnisses zu erinnern. Der Erfüllung dieser Hoffnung kann gewiss sein, wer auf Jesus Christus vertraut. Zwar kommt der vom Tode auferstandene und erhöhte Herr durchaus als Richter auf uns zu; aber sein Gericht ist auf Rettung hingeordnet, ja steht in deren Diensten. Wie die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nur unter Bezug auf das Evangelium recht zu treffen ist, ist ein heilsames Verständnis des eschatologischen Endgerichts nur von der im auferstandenen Gekreuzigten bereiteten Rettung her und auf sie hin zu gewinnen. Gott ist gerecht, und Gottes Gerechtigkeit richtet zwischen Recht und Unrecht. Aber in Jesus Christus ist Gott durch den Heiligen Geist zugleich und von Ewigkeit her als der dreieinige und in seiner Dreieinigkeit in unvordenklicher Weise als das Geheimnis der Liebe offenbar, welche will, dass allen Menschen geholfen und der Sünder gerechtfertigt werde, der die in Christus offenbare Liebe Gottes sich gefallen lässt und gläubig auf sie vertraut. Wer sich auf Gott verlässt, wird von Gott auch in der Verlassenheit des Todes und am Ende der Zeiten nicht verlassen, sondern verewigt werden in ihm und zwar als er selbst und in Verein mit allen anderen Verewigten, ja mit der gesamten vollendeten Schöpfung.

5. Media in morte vita Was muss ich tun, um das ewige Heil zu erlangen? Antwort: Nichts! Vertraue nur darauf, dass dir das Heil in Jesus Christus von Ewigkeit her bereitet ist. Wie können wir bewirken, dass das Reich Gottes herbeikommt und seine Herrschaft über Menschheit und Welt anbricht? Antwort: Seid in dieser Hinsicht vollkommen sorglos, denn das Gottesreich kommt von selbst, wie denn auch für euer Seelenheil all eurem Denken und Tun zuvor verlässlich gesorgt ist. Man hat Sätzen wie diesen Quietismus, ja tendenzielle Amoralität nachgesagt und gefolgert, wo der Glaube allein für heilssuffizient erachtet werde, da würde der Wert guter Werke zwangsläufig gering geschätzt. Doch handelt es sich hierbei um einen Fehlschluss. Richtig ist vielmehr das Gegenteil: Erst wenn wir von der Sorge um das Heil unserer Seele und um die letzte Zukunft der

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Welt und den Sinn der Menschheitsgeschichte gründlich entledigt sind, können wir sinnvolle Werke der Nächstenliebe und der Weltgestaltung überhaupt erbringen. Wer meint, den Sinn des Ganzen durch sein Wissen und Tun erst herstellen zu müssen, der wird ihn von Grund auf verfehlen. Menschliches Denken und Handeln kann sinnvollerweise stets nur endliche Ziele verfolgen, was die Gegebenheit von Sinn voraussetzt. Selbsttotalisierung von Theorie und Praxis hingegen wirkt stets kontraproduktiv und zersetzend. Sinngegebenheit ist ein Datum, das nur religiös und als gottgegebene Gabe erfasst werden kann. In protologischer Hinsicht hat die Theologie entsprechend an das Gegebensein der Welt und aller Kreatur sowie daran zu erinnern, dass ich mir selbst mit Leib und Seele gegeben bin. Die Soteriologie hat theologisch präsent zu halten, dass Gott am Sinn seiner Schöpfung auch unter den Bedingungen seiner Verkehrung durch den Fall der Sünde und aller Übel, die damit verbunden sind, festhält. In eschatologischer Hinsicht schließlich ist die Aussicht auf die Vollendung der Schöpfung durch Gott zu eröffnen, auf welche hoffen zu dürfen die conditio sine qua non sinnvoller Selbst- und Weltgestaltung ist, weil ohne solche Hoffnung das Ganze der Welt und meines eigenen Lebens zuletzt als sinnlos, ja als sinnwidrig erscheinen müsste. Solchem Sinnlosigkeits- und Sinnwidrigkeitsempfinden begegnet die Eschatologie. Sie dient durch einen Jenseitstrost, der mit billiger Vertröstung ganz und gar nichts zu tun hat, indirekt, aber umso effektiver menschlichem Leben in der diesseitigen Welt. Nicht primär, aber doch auch um dieses Effektes willen kommt gerade im eschatologischen Lehrstück alles darauf an, das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, Glaube und Werke, Rechtfertigung und Heiligung angemessen zu bestimmen. Die Reformation, deren 500-jährige Gedächtnisfeier 2017 begangen wird, nahm ihren Anfang mit Thesen, die mehr oder minder alle in einem Bezug zum eschatologischen Lehrstück standen. Es ist im gegebenen Zusammenhang nicht vom Ablasswesen zu handeln: Man mag gute Gründe für seine Verteidigung finden; jedenfalls ändert aller Missbrauch, den Luther zu Recht kritisierte, nichts an der Tatsache, dass die Solidargemeinschaft der communio sanctorum die Grenze des Todes zwar zu achten hat, ohne doch durch sie absolut beschränkt zu sein. Auch die Purgatoriumsidee, auf welcher die Theorie und Praxis des Ablasses wesentlich basierte, muss in reformatorischer Perspektive nicht per se als abwegig beurteilt werden. Zwar teilt sie das Problem aller Zwischenzustandslehren, aber dies ist für sich genommen noch kein Grund, sie prinzipiell abzulehnen. Das entscheidende Kriterium ihrer Beurteilung muss sich aus dem besagten Zusammenhang rechter Verhältnisbestimmung von Glaube und Werken ergeben. Auch reformatorische Eschatologie lehrt ein Gericht nach den Werken. Doch als heilsam gedacht werden kann dies nur, wenn ihm die eschatologische Rechtfertigung aus Glauben und aus Glauben allein zugrunde liegt. Weder die dem Glauben vorhergehenden Werke, noch diejenigen, welche ihm folgen, bedingen Gerechtigkeit vor Gott und ewiges Heil. Denn Sündenvergebung und

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Rechtfertigung, mit denen Leben und Seligkeit verbunden sind, empfängt allein der Glaube, der sich in der Kraft des Geistes auf die Gnade Gottes in Jesus Christus verlässt. Entsprechend ist das Endgericht nach den Werken, soll es als heilsam gedacht werden können, der eschatologischen Rechtfertigung nicht vor- und nicht bei-, sondern dergestalt einzuordnen, dass sie als implizite Konsequenz ihrer Prämisse erscheint. Muss dem die römisch-katholische Lehre vom Purgatorium notwendigerweise widersprechen, und ist diese Annahme inkompatibel mit der ostkirchlichen Eschatologietradition? Darüber ist im ökumenischen Diskurs zu befinden. Dabei wird man sich evangelischerseits, falls man es vergessen hat, daran erinnern zu lassen haben, dass sich weder das besondere Endgericht von dem allgemeinen, noch die eschatologische Rechtfertigung des Einzelnen von ihrer kommunialen und universalen Dimension ablösen lässt, welche nicht nur die Gemeinschaft der Christenheit und aller Menschen umfasst, sondern auch die extrahumane Kreatur. Das ewige Leben im Reich Gottes wird nicht weltlos sein.

Autoren

Biser, Eugen, (1918 – 2014), Dr. phil. Dr. theol. Dr. phil. h.c. Dr. theol. h.c.; Prof. em. für Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; thematische Schwerpunkte seines Werkes: Therapeutische Funktion des Christentums, Theologie der Zukunft, Dialog aus christlichem Ursprung; Veröffentlichungen (Auswahl): Glaubensprognose. Orientierung in postsäkularistischer Zeit, Graz/Wien/Köln 1991; Der inwendige Lehrer. Der Weg zur Selbstfindung und Heilung, München/ Zürich 1994; Einweisung ins Christentum, Düsseldorf 1997. Deininger, Bernd, (geb. 1946), Dr. med. bacc. theol.; Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Krankenhaus MarthaMaria in Nürnberg; Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatische Medizin, Psychoanalyse sowie Theologe; Forschungsschwerpunkte: krankmachende Faktoren von Religion, die Auswirkungen von religiösem Leben auf die psychische Gesundheit, Krebserkrankungen und ihre Auswirkungen auf die Psyche, handlungsorientierte Gruppentherapie mit traumatisierten Menschen, szenisches Arbeiten in tiefenpsychologisch fundierten Gruppen; Veröffentlichungen (Auswahl): Liebe und Leidenschaft in Mozarts Opern, München 2000; Das Gleichnis vom Ungerechtigkeitsrichter, Lukas 18, 1 – 8, in: B. Steiner/U. Barke (Hg.), Der innere Richter im Einzelnen und in der Kultur, Gießen 2013; Wie die Kirche die Macht missbraucht, Frankfurt a.M. 2014. Hartenstein, Friedhelm, (geb. 1960), Dr. theol.; Prof. für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München; Forschungsschwerpunkte: Religionsgeschichte Israels und des Alten Orients (Schwerpunkt Ikonographie), Exegese und Theologie des Alten Testaments (Schwerpunkt Psalmen und Prophetie), Hermeneutik des Alten Testaments; Veröffentlichungen (Auswahl): Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32 – 34 (FAT 55), Tübingen 2008; JHWHs Wesen im Wandel. Vorüberlegungen zu einer Theologie des Alten Testaments, in: ThLZ (137) 2012, 3 – 20; JHWH, Erschaffer des Himmels. Zu Herkunft und Bedeutung eines monotheistischen Kernarguments, in: ZThK (110) 2013, 383 – 409.

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Autoren

Korioth, Stefan, (geb. 1960), Dr. jur.; Prof. für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht sowie Deutsches Staats- und Verwaltungsrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Forschungsschwerpunkte: Verfassungsrecht, Finanzrecht, Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht und Kirchenrecht; Veröffentlichungen (Auswahl): Staatsrecht I: Staatsorganisationsrecht unter Berücksichtigung europäischer und internationaler Bezüge, Stuttgart 2014; Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen. Ein Studienbuch, München 92012; zusammen mit Bernd Jeand’Heur, Grundzüge des Staatskirchenrechts. Kurzlehrbuch, Stuttgart [u. a.] 2000. Schlemmer, Karl, (1937 – 2013), Dr. theol.; Prof. em. für Liturgiewissenschaft und Pastoraltheologie an der Universität Passau; thematische Schwerpunkte: Liturgiewissenschaft, Zukunft der Seelsorge („Kommunikationspastoral“), ökumenisches Gespräch; Veröffentlichungen (Auswahl): Zurück in die Zukunft. Mut zum Risiko in Pastoral, Liturgie und Ökumene, Würzburg 2007; Ausverkauf unserer Gottesdienste?, Würzburg 2002; Auf der Suche nach dem Menschen von heute, St. Ottilien 1999. von Schweinitz, Dietrich, (geb. 1954), Dr. med.; Direktor der Kinderchirurgischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München im Dr. von Haunerschen Kinderspital; Prof. für Kinderchirurgie und Chirurgie; Forschungsschwerpunkte: Molekulargenetik und funktionelle zellbiologische Aspekte bei malignen embryologischen Tumoren des Kindesalters, therapeutische Strategien bei kindlichen Tumorerkrankungen, Fehlbildungen und Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes, des Pankreas und der Lunge bei Kindern; Veröffentlichungen (Auswahl): zusammen mit Benno Ure, Kinderchirurgie – Viszerale und allgemeine Chirurgie des Kindesalters, Heidelberg 22013; zusammen mit Martina Heinrich/Kathrin Neuhaus (Hg.), Kinderchirurgie. Basiswissen und Praxis, München 22013; zusammen mit Arthur Zimmermann/Georgio Perilongo/Marcio Malogolowkin, Pediatric liver tumors, Heidelberg 2011. Thurner, Martin, (geb. 1970), Dr. theol.; Prof. für Christliche Philosophie am Martin-Grabmann-Forschungsinstitut der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München; Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Antike und des Mittelalters (insbesondere Anthropologie), Thomas von Aquin, Nikolaus von Kues, Geschichte der Mystik; Veröffentlichungen (Auswahl): Der Ursprung des Denkens bei Heraklit, Stuttgart [u. a.] 2001; Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues, Berlin 2001; mit Christian Schäfer (Hg.), Passiones animae. Die Leidenschaften der Seele in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, Berlin 22013.

Autoren

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Wenz, Gunther, (geb. 1949), Dr. theol. Dr. h.c.; Prof. für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor des Instituts für Fundamentaltheologie und Ökumene; Forschungsschwerpunkte: Bekenntnistradition der Reformation, speziell des Luthertums, Ökumene, Theologie unter den Bedingungen der Neuzeit; Veröffentlichungen (Auswahl): Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, 2 Bände, München 1984/1986; Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bände, Berlin/New York 1996/1998; Studium Systematische Theologie, bisher 8 Bände, Göttingen 2005 ff.

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Eugen-Biser-Stiftung

„Wir leben in einer Stunde des Dialogs und überleben nur, wenn die wachsenden Konfrontationen durch eine Kultur der Verständigung überwunden werden können.“ Eugen Biser

Die im Jahre 2002 gegründete, unabhängige, gemeinnützige Eugen-BiserStiftung (www.eugen-biser-stiftung.de) richtet ihren Blick aus christlichem Welt- und Werteverständnis auf alle Bereiche menschlicher Existenz mit dem Ziel des Dialogs für die künftige Entwicklung des Christentums und für die Verständigung mit anderen Weltreligionen, Weltanschauungen und Kulturen. Die Stiftung widmet sich dementsprechend zwei Aufgabengebieten: a) der „Zukunft des Christentums“ in theologischer und in gesellschaftlicher Hinsicht sowie b) dem „Dialog aus christlichem Ursprung“ mit den anderen Weltreligionen, Weltanschauungen und Kulturen. Zu a) Eugen Bisers „Theologie der Zukunft“ gibt dem unsere Kultur prägenden christlichen Glauben eine Deutung, die ihn als Impuls für die Bewältigung der Probleme der Gegenwart neu wirksam machen kann. Die hohe Sensibilität Eugen Bisers für die aktuellen Probleme von Kirche und Welt macht ihn zu einem in die Zukunft weisenden und im besten Sinne modernen Denker, dessen visionäre und innovative Kraft weit über den christlichen Raum hinausreicht und dadurch für Mensch und Gesellschaft grundsätzliche Bedeutung gewinnt. Deshalb widmet sich die Eugen-Biser-Stiftung der Bewahrung, Erschließung, Fortführung und Verbreitung seines theologischen und philosophischen Werkes, das in der Bibliographie zu seinem Werk (www.bibliographie.eugen-biser-stiftung.de) erfasst ist. Die Stiftung setzt sich wie ihr Namensgeber für die Zukunft des Christentums ein; sie vermittelt die Grundwerte des Christentums und gibt Impulse in Veranstaltungsreihen, Tagungen, Symposien, Fernsehsendungen, Einzelveranstaltungen, sowie in einem breiten Angebot an Publikationen.

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Zu b) Im interreligiösen und interkulturellen Dialog, den die Eugen-BiserStiftung „aus christlichem Ursprung“ führt, befasst sie sich wegen der großen gesellschaftlichen Bedeutung gegenwärtig vor allem mit der Verständigung zwischen Christen und Muslimen. Ihre derzeit vorrangigen Projekte sind die Verbreitung des vorliegenden „Lexikons des Dialogs – Grundbegriffe aus Christentum und Islam“ und seine praktische Anwendung, die Erarbeitung eines Handbuchs zum christlich-muslimischen Zusammenleben sowie die Durchführung wissenschaftlicher Symposien, Expertentagungen, christlichislamischer Summer Schools und Veröffentlichungen zu gesellschafts- und religionspolitischen christlich-islamischen Grundsatzfragen. Zur Finanzierung ihrer Projekte ist die Stiftung, deren Kapitalstock sich noch im Aufbau befindet, auf Spenden und Fördermittel angewiesen. Die ehrenamtlichen Vorsitzenden des Stiftungsrates, des Vorstandes und des Kuratoriums der Eugen-Biser-Stiftung sind: Prof. Dr. Richard Heinzmann, Marianne Köster und Prof. Dr. Dr. h.c. Paul Kirchhof. Zu den Trägern des Eugen-Biser-Preises gehören Prof. Dr. theol. Dr. theol. H.c. Ferdinand Hahn, S.E. Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, H.R.H. Prince Ghazi bin Muhammad bin Talal, Haschemitisches Königreich von Jordanien, Dr. Mustafa Ceric´, ehemaliger Großmufti von Bosnien und Herzegowina, Shaykh Habib Ali Zain al-Abideen al-Jifri, Vereinigte Arabische Emirate, und Prof. Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages. Eugen-Biser-Stiftung, Pappenheimstraße 4, 80335 München Tel. 089 – 18006811, Fax: 089 – 18006816 [email protected], www.eugen-biser-stiftung.de