Hegels Strafrechtstheorie [2 ed.] 9783428433964, 9783428033966

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Hegels Strafrechtstheorie [2 ed.]
 9783428433964, 9783428033966

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OSSIP Κ. FLECHTHEIM

Hegels Strafrechtetheorie

S c h r i f t e n zur

Rechtetheorie

Heft 42

Hegels Strafrechtstheorie

Von

Oeeip K. Flechtheim

Zweite Auflege

DUN C K E R & H U M B L Ο T/BERLIN

U m ein Nachwort erweiterter Nachdruck der 1936 im Verlag Rudolf M. Rohrer, Brünn, erschienenen ersten Auflage Alle Rechte vorbehalten © 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1975 bei fotokop, Wilhelm Weihert, Darmstadt Printed in Germany ISBN 3 428 03396 5

INHALTSVERZEICHNIS Seite

I. EINLEITUNG II. HAUPTTEIL

7 29

1. A b s c h n i t t : Die strafrechtlichen Anschauungen Hegels bis zur Rechtsphilosophie. 29 1. Kapitel: Die Theologischen Jugendschriften . 29 2. Kapitel: Das System der Sittlichkeit . . . . 38 3. Kapitel: Der Naturrechtsaufsatz von 1802 . . 41 4. Kapitel: Die Jenenser Realphilosophie I I . . 50 5. Kapitel: Die Phänomenologie des Geistes . . 58 6. Kapitel: Die Rechtslehre der philosophischen Propädeutik 59 2. A b s c h n i t t : Die Strafrechtstheorie der „ G r u n d l i n i e n der Philosophie des Rechts" 64 1. Kapitel: Recht und Freiheit 64 2. Kapitel: Das „abstrakte" Recht 70 3. Kapitel: Das Unrecht und seine Formen . . 78 4. Kapitel: Das Verbrechen als Negation des objektiven Rechts 82 5. Kapitel: Die Strafe und ihre Rechtfertigung . 91 6. Kapitel : Die Vergeltung als Verhältnis von Verbrechen und Strafe 102 III. SCHLUSS NACHWORT

113 118

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I. E I N L E I T U N G

Die Forderung von Schmitt-Dorotiö 1, die Darstellung jeder wichtigen Situation der modernen Geistesgeschichte müsse mit Descartes beginnen, trifft auch für die Behandlung von Hegels Strafrechtstheorie zu. Deren wahre Bedeutung enthüllt sich erst dann, wenn man sie aus der Problemstellung der klassischen Idealphilosophie heraus zu verstehen sucht. Schmitt-Dorotiö selbst weist auf die interessante Gegenbewegung hin, die seit dem Planetensystem des Kopernikus und dem Cogito ergo sum des Descartes Naturwissenschaft und Philosophie vollziehen: Während das naturwissenschaftliche Denken aufhört, geozentrisch zu sein, wird das philosophische Denken egozentrisch. Mit der Wendung der Philosophie von der höchsten und sichersten Realität des Mittelalters, dem transzendenten Gott und seiner Schöpfung, zur Immanenz der menschlichen Ratio und der Welt beginnt aber auch schon gerade die Antinomik, deren großartigsten Lösungsversuch die Philosophie Hegels darstellt. Der moderne Idealismus und insbesondere die deutsche klassische Philosophie von Kant bis Hegel wollen die Welt — sowohl die Natur wie die Geschichte — rational erkennen und begreifen. Indem sie dabei von den beiden Axiomen ausgehen, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt wird und daß jeder Erkenntnisgegenstand deshalb und soweit für uns erkennbar ist, weil und inwieweit er von uns selbst erzeugt wird, suchen sie die Welt nicht mehr als einen unabhängig vom erkennenden Subjekt entstandenen, etwa von Gott geschaffenen Kosmos hinzunehmen, sondern sie vielmehr als des Menschen eigenes Produkt zu erzeugen. Gelingt das der Theorie, dann hat sie damit zugleich auch auf die praktische Frage, die ihr zugrunde liegt, die Antwort gefunden, um die es ihr eigentlich geht. Als Erzeugnis der Vernunft ist das 1

Politische Romantik (1919), S. 47.

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Universum zwar nicht mehr die harmonische Schöpfung eines außerweltlich-jenseitigen Wesens, aber doch auch nicht ein toter Mechanismus, den die blinde Notwendigkeit der Natur beherrscht, oder ein regelloses Chaos, das der Willkür des Zufalls preisgegeben ist — vielmehr eine sinnvolle Ordnung und zweckhafte Verwirklichung eines vernünftigen Seins in absoluter Selbstbestimmung gemäß immanenter Notwendigkeit — kurz gesagt, selbst ein Reich der Freiheit und Vernunft! Dieses kühne Unterfangen stößt jedoch alsbald an die Grenzen, welche die Geschichte ebenso wie die Natur, jene zwar nur historisch, diese aber prinzipiell der menschlichen Vernunft und Freiheit setzen. Die Denkformen und Begriffe des Menschen können zwar als rationale entwickelt werden, nie gelingt es jedoch der Vernunft, mit deren Hilfe die Irrationalität der Natur restlos aufzuheben. Die rationale Methode ist unerläßlich — und doch bleibt der konkrete Inhalt der Kategorien und Begriffe letzten Endes vernunftmäßig unerklärlich und unbegreiflich. Ebenso wie die faktische Gegebenheit unableitbar, die letzte Substanz unerkennbar ist (Leibnizens ,,vérité de fait" und Kants ,,Ding an sich"!), ist auch die Forderung nach einem geschlossenen rationalen System sogar für die Natur unerfüllbar. Denn ein wahres System etwa im Sinne der Mathematik stellt nur eine solche Ordnung der Denkformen und ihrer Teilsysteme dar, bei welcher der Zusammenhang als ein notwendiger erscheint und das System in seiner Totalität aus dem ersten Prinzip ableitbar ist. Sowohl die Natur wie die menschliche Geschichte sprengen die raum-zeitlichen Schranken, die jedes geschlossene System aufrichten muß. Faktizität und Totalität durchbrechen immer wieder das philosophische System und stellen stets von neuem das Reich der vernünftigen Freiheit in Frage. Schließlich wird sogar der zunächst so evidente Ausgangspunkt der neuzeitlichen Philosophie, das cartesianische Cogito, problematisch. Im selben Maße, in dem alle subjektivirrationalen Momente mehr und mehr aus der Ratio ausgemerzt werden und alles Anthropomorph-Psychische aus 8

dem Subjekt eliminiert wird, löst sich der Erkenntnisträger vom konkreten Menschen ab und verwandelt sich in einen abstrakten, leeren, rein formellen Beziehungspunkt (Kants „transzendentale Einheit des Bewußtseins" und Fichtes „absolutes Welten-Ich"). Wenn dann im weiteren Fortgang der Idealismus immer mehr objektive Momente in das Erkenntnissubjekt aufnehmen muß (von Fichtes „absolutem WeltenIch" über Schellings „absolute Indifferenz" zu Hegels „absolutem Geist"), so wächst mit dieser Verobjektivierung die Problematik nur noch weiter. Die Antinomien des philosophischen Denkens sind im Keim schon alle in dem Gesamtsystem Kants enthalten. Prüft man alle drei Kritiken, so liegen dort aber auch schon die Ansätze für die nun folgenden Lösungsversuche Fichtes, Schellings und Hegels. Im Anschluß an die „Kritik der praktischen Vernunft" sucht Fichte von der Theorie zur Praxis zu gelangen und so das Universum zu rationalisieren. Als Praxis des isolierten Einzelmenschen kann sie für ihn nur die Form des sittlichen Handelns annehmen, das sich auch in der Geschichte als Sollen seinem Endziel, der absoluten Selbstbestimmung und Freiheit, stets nur nähern, sie aber nie ganz erreichen kann (von Kants „kategorischem Imperativ 14 zu Fichtes Auffassung der Welt als „versinnlichtes Materiale unserer Pflicht"). In Fortbildung von Kants schöpferisch-intuitivem „intellectus archetypus" aus der „Kritik der Urteilskraft" und unter dem Einfluß der Romantik konstruiert Schelling das Universum in „intellektualer Anschauung" als ein harmonisches Kunstwerk, dessen bloßes Organ das Selbstbewußtsein darstellt. Hegel aber schafft die Synthese aus Fichte und Schelling, indem er die von ihnen neu gewonnenen Erkenntnisinhalte zu einer Einheit zusammenfaßt, die allerdings auch bei ihm letzten Endes in Kants „Transzendentalbewußtsein" gründet 1. 1

„Die kantische Spontaneität der Vernunft ist ins Metaphysische des Geistes versetzt, der keine Grenze mehr kennt, weil er selbst das Unendliche ist, das sich in jedem Endlichen offenbarend setzt und doch über jedes Endliche als von ihm gestaltete Gestalt hin-

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Während aber Fichte voluntaristisch moralisierend die praktische Verwandlung der natürlich-sinnlich-notwendigen Welt in eine geistig-sittlich-freie fordert und Schelling kontemplativ ästhetisierend der Entfaltung der „totalen Indifferenz des Subjektiven und Objektiven" zu Natur und Geist zusieht, deduziert Hegel als Erster mit Hilfe seiner Dialektik des Denkens die Welt als Selbstverlust der Vernunft, um in demselben dialektischen Denkprozeß alle Entfremdungen wieder als Momente des ,,absoluten Geistes" in diesem „aufzuheben" (im bekannten Doppelsinne von Vernichten und Aufbewahren), die Wirklichkeit zur Freiheit zu verklären und so die „Welt" mit „Gott" zu „versöhnen". Und doch vermag auch die Dialektik nicht, das Gesamtprogramm der Idealphilosophie: die Rationalisierung des Universums, zu erfüllen. Allerdings läßt sich mit Hilfe jener die Teilwelt der Geschichte dem menschlichen Denken und Handeln unterwerfen. Die Schranke, an der Kants und Fichtes Ethik scheitern mußten, läßt sich mit der Dialektik überwinden. Entdeckt sie doch in der menschlichen Geschichte ein Reich, in dem das Subjekt ineins Erzeugnis und Erzeuger des historischen Prozesses ist. Bewegt sich hier das Subjekt in einer selbstgeschaffenen Welt, dessen bewußte Gestalt es ist, so steht ihm diese Welt doch zugleich in völliger Objektivität gegenüber. Insoweit für diese Teilordnung der Gegensatz von Objekt und Subjekt aufgehoben wird, löst sich innerhalb ihrer auch der Widerspruch von Sein und Denken, Notwendigkeit und Freiheit, Faktizität und Rationalität. Im geschichtlichen Werden, im dauernden Entstehen des qualitativ Neuen, in der Zielstrebigkeit des Prozesses findet die Dialektik die für ihre Logik der sich wandelnden Inhalte vorbildliche Ordnung und Verknüpfung der Erscheinungen. Beseitigt ja doch das historische Werden die Unabhängigkeit und Starrheit der Dinge. Damit nötigt es aber auch die Erübergreift, um in der Totalität all seiner Gestalten seine eigene konkrete Fülle, in ihrem Werden aber sein In-sich-selbst-Werden zu begreifen 44 (Steinbüchel, Das Grundproblem der Hegeischen Philosophie. 1. Bd.: Die Entdeckung des Geistes. 1933. S. 5).

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kenntnis, die ihm adäquat sein will, dazu, ihre Begriffsbildung auf das Inhaltliche, Qualitative, Einzigartige der Geschehnisse auszurichten und jede Einzeltatsache als Moment des Gesamtgeschehens in ihrer Bedeutung für den ganzen Ablauf zu sehen. Indem die Dialektik nachweist, daß die Schranken der klassischen Philosophie — die Antinomien der Faktizität und Totalität — für die geschichtliche Entwicklung grundsätzlich insoweit überschreitbar sind, als wir selber — wenn auch unbewußt — jene erst im historischen Verlauf geschaffen haben, bewältigt sie sie auch theoretisch. Was aber die Dialektik grundsätzlich für die Geschichte leisten kann, das vermag sie ebenso prinzipiell für die Natur nicht zu bieten. Unterscheidet sich doch schon nach dem prophetischen Wort Vicos die Menschengeschichte dadurch von der Naturgeschichte, daß wir die eine gemacht, die andere nicht gemacht haben. Noch weitergehend kann man sagen, daß diese uns gemacht hat. Auch die Natur erscheint zwar in der Geschichte als eine historische Kategorie — darüber hinaus aber hat sie ihre nicht weg zu interpretierende selbständige und eigenartige Gegenständlichkeit. Und ebensowenig wie die Transzendentalphilosophie kann die Dialektik die Natur rationalisieren. Während in der Geschichte wenigstens im Widerstreit der Kräfte eine Richtung auf die Rationalität zielt, ist die Natur — und somit die Welt als Ganzes — gar nicht gerichtet. Sie ist ohne Sinn und Zweck und hat keinen obersten Wert. Als Totalität ist sie nie teleologisch, immer nur kausal zu erfassen. Insoweit ist die Dingan-sich- und Unendlichkeits-Irrationalität wirklich unüberwindbar. Zwar mag im einzelnen die Rationalisierung der Natur noch so sehr fortschreiten — im ganzen wird der räumlichen Endlichkeit und der zeitlichen Vergänglichkeit jede Dialektik stets ohnmächtig gegenüberstehen. Die Rationalisierungsmöglichkeit der historischen Dialektik und die Irrationalitätsnotwendigkeit der Natur greifen eigenartig ineinander und verschlingen sich zu einem für den Menschen der Geschichte wahrhaft gordischen Knoten, der auch von Hegel nicht aufgelöst, sondern durchgehauen wird. 11

Die Welt des historischen Menschen wäre nur dann ganz von der Dialektik beherrscht, wenn er nur „zoon politikon" und nicht zugleich ,,homo sapiens" wäre. So hingegen umspannt die Irrationalität den schmalen Bereich der historischen Rationalität und ragt sogar in diese selbst ständig herein. Hier zeigt sich die Tragik des historischen Menschen, der nicht mehr nur Vitalorganismus mit biologischem Leben und Tod, sondern auch schon gesellschaftlich-geistige Gestalt ist, die gerade als solche unendlich und unvergänglich sein will und ihrem Wesen nach sein müßte. Und ebenso wie der Mensch den Bannkreis der Natur nicht verlassen kann, so „ruht" auch die Geschichte als solche — Hegels Reich des „objektiven Geistes" und des „absoluten Geistes" — vollständig auf der Natur „auf". Da diese anscheinend ständig zwischen Sein und Nichts kreist, so muß sie auch jene, die nach ewiger Dauer strebt, mit in ihren vernichtenden Kreislauf ziehen. Ist dem aber so, dann leuchtet das Licht, womit die Dialektik die Geschichte erhellt, zwar, doch zeichnet es im Dunkel der Antinomien nur einen Ausschnitt ab, der dem Menschen je nach seiner historischen Situation bald groß, bald aber auch recht klein vorkommen wird. Es wird noch im einzelnen aufgezeigt werden müssen, daß Hegels Ausweg, nicht nur die Widersprüche der Geschichte, sondern auch die Gegensätze der Natur vermittels seiner Dialektik in der Geistesmetaphysik zur Auflösung zu bringen, ungangbar ist. Dennoch muß schon an dieser Stelle anerkannt werden, daß es gerade Hegel vorbehalten geblieben ist, in seiner Dialektik das „an Fülle wie Tiefe, Erlebnisreichtum und Begriffsbildung gewaltigste System einer historischen Weltanschauung, als welches es alle vorausgegangenen fundamentalen philosophischen Problemmotive in sich aufgehoben hat" 1 , zu schaffen und damit den Ring der modernen Philosophie, der sich seit des Nicolaus Cusanus Dialektik so mächtig geweitet hatte, wieder zu schließen. Wenn der 1 Heidegger, Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1916), S. 241.

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moderne Idealismus insbesondere mit Descartes' ,,Ich denke" begonnen hatte, so vollendete er seinen Kreislauf mit Hegels dialektischem Prozeß des „absoluten" Denkens1. Es ist Hegels Eigenart, daß sogar das vollendete System des reifen Mannes, wie es uns etwa in der Logik, der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie vorliegt, nur dann ganz verständlich wird, wenn man sein Werden bis in die philosophisch-theologischen Anfänge des Jünglings zurückverfolgt. Denn in all ihren zahlreichen Wandlungen vollzieht sich Hegels Entwicklung letzten Endes doch durch sein ganzes Leben hindurch stetig, bruchlos und geradlinig 2. Die Bildungselemente der Jugend behalten ihre, allerdings wechselnde Bedeutung für Reife und Alter. Wie jeder originale Denker hat auch schon der junge Hegel niemals das geistige Erbe der Vergangenheit einfach unvermittelt in sich aufgenommen, es vielmehr von vornherein selbständig verarbeitet und aus dem Weltbild seiner Zeit heraus weiter entwickelt und neu gestaltet3. Die Darstellung seiner persönlichen Entwicklung im Rahmen der Geschichte seiner Zeit ist daher ein vorzüglicher Weg zum Verständnis des Systems. Hegels Ideal ist ursprünglich jenes klassische Griechentum, das in der athenischen Polis des perikleischen Zeitalters seine Vollendung findet. Hier sieht Hegel alle Widersprüche, die zu seiner Zeit den modernen Menschen zerreißen, harmonisch gelöst. ,,Ιη der schönen Demokratie Athens" klingen Staatsbürger und Privatmann, Individuum und Gemeinschaft, Besonderes und Allgemeines, Natur und Geist zusammen in einem sittlichen Staatsleben, das in den Göttern der Religion und Kunst nur die Einheit der nationalen Kultur ausprägt 4. 1

Vgl. Roßbach, Die Perioden der Rechtsphilosophie, S. 232 f. Vgl. Rosenkranz, G.W. F. Hegels Leben (1844), S. 21 f., 62, 258; Haering, Hegel (1929), S. X . 3 Vgl. Rosenkranz, Aus Hegels Leben (1845), S. 126 f. 4 Daß dieses „abstrakte Griechentum 41 Schillers nur eine damals allgemein verbreitete Täuschung gewesen sein soll (so Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels. In: Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1921, S. 14; vgl. im übrigen Dilthey S. 64 ff. und Steinbüchel S. 189 ff.), mag richtig sein, ist aber hier nicht entscheidend. 2

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Nach diesem Vorbild verkörpert sich in Hegels „System der Sittlichkeit" der absolute Geist im objektiv-realen Staat, und dieses antike Motiv klingt sogar noch in der „Rechtsphilosophie" stark nach1. Doch neben das antike Ideal der Polis, der Sophrosyne und des Kalos-kagathos tritt für Hegel, der selbst im Tübinger Stift als Theologe begonnen hat, beherrschend das christliche der versöhnenden Liebe und des ewigen Lebens. Dem Christen vergehen alle Widersprüche vor der unendlichen Macht der göttlichen Liebe. Was für die Antike die äußere Objektivität bedeutet, stellt die subjektive Innerlichkeit für das Christentum dar. „Über die Liebe als Lebenszustand geht hinaus das religiöse Bewußtsein vom Zusammenhang alles Lebens in der Liebe 2 ." Das religiöse Erlebnis macht den Gläubigen von allen Schranken frei, hebt ihn aus dem Raum und der Zeit hinaus und führt ihn zu Gott. Diesen Idealen widerspricht aber schroff die geschichtliche Wirklichkeit, in der Hegel leben soll und mit der er sich nun am Leitfaden seiner Ideen auseinandersetzen muß8. Erlebt doch der Mensch, wenn er auch immer in Geschichte und Natur lebt, diese fast immer nur durch jene vermittelt. In der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts aber klaffen Individuum und Gemeinschaft, Vernunft und Wirklichkeit, religiöse Innerlichkeit und profane Äußerlichkeit tief auseinander. Zunächst scheint jedoch die revolutionäre Bewegung eine harmonische Ordnung bringen zu sollen. Sogar in Deutschland, wo die Bewegung infolge der besonderen Bedingungen des Landes von vornherein keine praktisch-politische Gestalt annimmt, bewirkt sie doch eine vollkommene Umwälzung 1

Vgl. Baeumler, Einleitung zu Hegels Schriften zur Geeellschaftsphilosophie, Teil I, 1927, S. 10 f., 71 f. und Ziegler, Charakter der Hegeischen Rechtsphilosophie. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 8, 1914/15, S. 56. 1 Dilthey, S. 80. 9 Dilthey sagt von Hegel und Hölderlin: „Wie schwer mußten die Freunde an dem Widerspruch dieser Ideale mit dem Leben um sie her und mit ihrem personlichen Schicksal tragenΓ (Dilthey, S. 41).

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im gesamten Geistesleben der Nation. Die Hegeische Philosophie und das ihr zugrunde liegende Erlebnis entspringen dieser geschichtlichen Bewegung1. Den jungen Hegel drängt es nach Verwirklichung seiner Ideale. Sein Denken zielt zunächst auf ein „Eingreifen in das Leben der Menschen" ab 2 . Er will „aus der Idee ins Leben übergehen". ,,Er blickt nicht rückwärts in die griechische Welt, sondern von deren Anschauung geleitet, in eine schönere Zukunft unserer Gesellschaft 8." ,,Die verlorene Einheit des griechischen Menschen wiederzuerobern, ist die hohe Aufgabe der kommenden Zeit 4 ." Hegel will einen reinen und freien Menschenbund stiften, einen Bund der Schönheit voll göttlichen Lebens, in dem die Liebe als Religion erscheint, der ein lebendiges Verhältnis erhält und ,,sich in Gestalten des Lebens darstellt" 6 . „Die Aufgabe der Welt sei die Einigung der Tiefe der christlichen Versöhnung mit der Schönheit der griechischen Welt·." Das „Reich Gottes", das Reich eines schönen menschlichen Daseins, einer „griechisch-johanneischen Humanität" soll jetzt anbrechen7. „Das Reich Gottes aber ist real im V o l k 8 . " Doch schon bald schließt die revolutionäre Bewegung ihren Frieden mit der Vergangenheit und die alten Widersprüche entstehen von neuem in verjüngter Gestalt. Die Verwirklichung von Hegels Ideal rückt nun in unerreichbare Ferne. Wo, wie und mit wem soll er es jetzt noch durchsetzen? „Die absolute Freiheit verläßt jetzt dieses Land, wo sie in dem Versuch, Wirklichkeit zu werden, sich selbst zerstört hat, und geht in ein anderes Land, wo sie in ihrer Unwirklichkeit — eingeschlossen in das Selbstbewußtsein — als das Wahre 1

Dilthey, S. 56; vgl. auch Haym, Hegel und seine Zeit (1857), S. 82 f. 2 Hegel an Schelling 2. X I . 1800 (zitiert bei Steinbüchel, S. 144). 8 Dilthey, S. 184. 4 Rosenzweig, Hegel und der Staat (1920), Bd. I, S. 44. 5 Dilthey, S. 182. • Rosenkranz, S. 168. 7 Steinbüchel, S. 287. 8 Tillich, Der junge Hegel und das Schicksal Deutschlands. In: Hegel und Goethe. Zwei Gedenkreden (1932), S. 10.

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gilt 1 ." Wie für Hölderlin bleibt auch für Hegel nur noch eine persönliche ,,Lösung": Während aber Hölderlin sich in das Dunkel des Unbewußten verliert, vermag Hegels Naturell sich in die Überhelle des Selbstbewußtseins zu retten! So verlegt Hegel die Verwirklichung seiner Ideen in das religiöse und später in das philosophische Bewußtsein2. Unfähig, sein Ideal zu realisieren, idealisiert er die Realität. „Außerstande, die praktischen Zustände der Gegenwart zu reformieren, schließt er ein theoretisches Kompromiß mit allem, was in der Gegenwart eine bessere Zukunft ankündigt 8 ." Hat er als „theoretischer Praktiker" begonnen, so wird er nun zum „praktischen Theoretiker" 4. Von nun an „strengt" er nur noch den „Begriff" „an", um die Wirklichkeit zu bewältigen6. An die Stelle des Handelns tritt jetzt das Denken, an den Platz der Objektivität die Subjektivität, an den Ort der Realität die Idee — von Stund an ist das reine Denken das wahre Handeln, bezieht das Subjekt das Objekt in sein Bewußtsein ein und beansprucht die Idee, die stärkste Wirklichkeit zu sein! Den Hiatus, der zwischen dem realen Lebensboden und der Idealwelt des Philosophen besteht, soll nunmehr das metaphysische System ausfüllen 8! Die Systembildung scheint sich Hegel als einziger Ausweg aus den Widersprüchen seiner Zeit zu bieten. Aber der Ausweg erweist sich als Abweg. Alle Widersprüche, die Hegel 1

Rosenzweig, I, S. 218. Vgl. Dilthey, S. 160. 8 Haym, S. 86. 4 Ist doch Hegels erste Veröffentlichung die Übersetzung und Kommentierung eines politischen Pamphlets des Advokaten Cart gegen die Berner Aristokratie (vgl. dazu Haering, S. 124 und S. 292 ff.) und noch seine letzte Schrift eine Arbeit über die englische Reformbill von 1831. 5 Heiß, Das Verhältnis von Theorie und Praxis bei Hegel. In: Blätter für Deutsche Philosophie, 9. Bd., 1935, S. 77. Dieser hebt richtig hervor, daß Hegel Zeit seines Lebens einen Zug zur politischen Praxis gehabt hat und will in ihm sogar den Begründer des Gedankens von der „Einheit von Theorie und Praxis" sehen (S. 79 ff. und S. 83 f.). • Haym, S.86. a

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durch den Ubergang aus der Praxis in die Theorie lösen zu können glaubt, tauchen alsbald im System selbst wieder auf. Muß doch schon jedes metaphysische System als solches der Welt widersprechen, da diese ja nicht, wie jenes voraussetzt, eine vernünftige Ordnung logischer Beziehungen ist, die abstrakt und gleichartig für sich selber deduziert werden könnte. Hinzu kommt aber noch, daß gerade das Hegeische System vor allem Interpretation der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit ist. Und ist wie zur Zeit Hegels diese Wirklichkeit selber voller Widerstreit, so kann es auch dem vollkommensten und harmonischsten Philosophiesystem nicht gelingen, ihre Widersprüche philosophisch zu lösen. Wird der Versuch dennoch unternommen, so kommt nur noch zu den alten Widersprüchen als neuer der zwischen dem System selbst und der Wirklichkeit hinzu! Da aber Hegel auf das System nicht verzichten kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu bemühen, auch das Unvernünftige „vernünftig anzuschauen", um die in ihm angeblich nur verborgene Vernunft ans Licht zu bringen. Wie jedoch auch dann noch ein ungelöster Erdenrest bleibt, so ergibt sich für ihn trotz aller Immanenz auch wieder ein Moment der Transzendenz. Zwar drängt die Welt teleologisch-immanent zum „absoluten Geist", aber sie schließt nicht mehr die höchste Vernunft ganz in sich ein. Vollkommen und endgültig kommt die Vernunft erst jenseits der Welt, diese transzendierend im „absoluten Geist" zu sich selber. Darum kann sie ihre höchste und letzte Realisation auch nicht mehr im „verweltlichten Reiche der Sittlichkeit" 1 , in der geschichtlichen Wirklichkeit des Staates und Volkes finden, sondern nur in jenem angeblich überhistorisch-ewigen Sonderreich des „absoluten Geistes", das Hegel über der geschichtlich-vergänglichen Welt des „objektiven Geistes" aufbaut und das mit der Religion beginnen und mit der Philosophie enden soll. Damit wird diese zur alles einbegreifenden Totalität, die sogar die Religion zu einem „aufgehobenen" Moment degradiert. Allerdings rächt sich die Religion dafür ihrerseits, indem sie 1

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Dilthey, S. 185.

F l e o h t h e i m : Die Hegelache Strafrechtetheorie.

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Hegels Philosophie selber wieder zu einer Theologie macht 1 . Unter diesem Aspekt gesehen, ist das ganze System Hegels, nicht nur seine Religionsphilosophie, Theologie und — Mythologie. Alle Mythologie aber ist stets ein Anzeichen dafür, daß der Gegenstand nur in der Einbildung und durch die Einbildung überwunden und beherrscht wird, weshalb jene mit der wirklichen Herrschaft über ihn auch stets verschwindet. Die Philosophie ist zunächst für Hegel das Mittel der selbstbewußten ,,Erhebung des endlichen zum unendlichen Leben", der Darstellung Gottes als des belebenden Geistes und der Welt als der belebten Gestalt, als der schönen vollkommen geschlossenen Erscheinung dieses Geistes2. Und sein System nimmt eigentlich schon in seinen Grundzügen seine endgültige Gestalt an, sobald er die religiös-mystischen Vorstellungen durch philosophisch-spekulative Begriffe ersetzt. Diesen letzten Sprung macht er, indem er das All als die sich selbst denkende „Idee" begreift, das Leben in die Vernunft verwandelt, die Liebe durch die Dialektik ersetzt, die schöne Totalität und das ewige Leben der Welt als „absoluten", d. h. nicht gebrochenen, sondern gerundeten, nicht inhaltslosen, sondern erfüllten, nicht endlichen, sondern unendlichen Geist und diesen „absoluten Geist" nun ewig im Prozesse der Entäußerung und der Rückkehr in sich darstellt 8. 1 Steinbüchel sagt treffend (S. 6): „Von Gott geht diese Philosophie des Wirklichen als von dem Anfang aus. Gott steht in ihrer Mitte als der Gegenstand der philosophischen Betrachtung des Rhythmus der Selbstbewegung des Geistes zu sich selbst. In Gottes Wirklichkeit als des selbstbewußten Geistes, der sich als Selbst und das Wirkliche als Gestalten seines Selbst weiß, in deren Mitte er nicht mehr die starre Transzendenz des »leblosen Einsamen4 ist, mündet diese Philosophie als ihr ,Ende4 und , Resultat'.111 — Vgl. auch Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, 2. Teil: Hegel (1929), S. 367 und Croce, Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie (1909), S. 58 f. — Auch für Hegel trifft Nietzsches Wort von der deutschen Philosophie als einer „hinterlistigen Theologie" (Antichrist I n. 10) zu! 2 Haym, S. 88. 8 Haym, S. 100.

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Das ewige Werden des absoluten Geistes aus der absoluten Idee durch die Natur hindurch ist aber nur das eine dynamische Moment der Hegeischen Philosophie, und nicht einmal die Thesis, vielmehr schon die Antithesis! Ihre These und Synthese, und damit ihr „übergreifendes Moment" ist statisch. Der ganze Prozeß der Entfaltung des absoluten Geistes aus dem reinen „Sein" ist zugleich die überzeitliche, schon ewig vollendete Selbstverwirklichung des absoluten Geistes. Alles zeitliche Werden ist nur innerhalb des zeitlos seienden Absoluten1. Erst innerhalb der ewigen Ruhe flutet die dialektische Bewegung2. Die gesamte Dialektik ist letzten Endes ein zeitlos ewiger, kreisender Lebensprozeß im Absoluten selbst, ist Gottes Tat seiner Selbstverwirklichung. Der absolute Geist oder Gott vermittelt sich mit sich selbst durch die Natur hindurch; er entzweit und versöhnt sich in sich selbst und schafft diese Tat ebensosehr ewig von neuem, wie er sie ewig schon vollbracht hat. Durch das Werden der Welt hindurch schließt sich der Ring des göttlichen Seins in sich selbst zusammen8. „Das Absolute pulsiert in sich, ohne sich zu bewegen, es erzittert in sich, ohne unruhig zu sein; es ist selbst alle Unterschiede und alle Unterschiede sind in ihm aufgehoben 4." So „versöhnt" Hegel Sein und Werden, Raum und Zeit, Bewegung und Ruhe, indem er ihren Widerspruch in dem berühmten Doppelsinne des Wortes für „aufgehoben", d. h. zugleich vernichtet und aufbewahrt erklärt. „Übergreifendes Moment" dieser Synthese aber ist das Sein, der Raum, die Ruhe, so daß ungeachtet aller Dialektik für Hegel schließlich das Werden, die Bewegung und die Zeit, wenn auch nicht „Schein" 6 , so doch nur „Erscheinung" sind·! Hegel entwickelt pantheistisch1

Brunswig, Hegel (1922), S. 53. Baeumler, S. 2. 8 Brunswig, S. 56 f. 4 Ν ink, Kommentar zu den grundlegenden Abschnitten von Hegels Phänomenologie des Geistes (1931), S. 56 f. 8 So Rosenkranz, S. 104. • Vgl. Steinbüchel, S. 84. 8

2*

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evolutionistisch Gott in und aus der Welt, läßt aber zugleich panentheistisch-emanatistisch die Welt als Moment aus der Totalität Gott heraus- und in ihr aufgehen. ,,Alles ist in Gott und Gott ist in allem 1 ." Dies ist die letzte und höchste der Identitätsthesen, zu der Hegel gelangt. Aber sein Bemühen, nach dem Vorbild religiös-mystischer Schau mit dem Mittel des dialektisch-spekulativen Denkens alle Widersprüche und Gegensätze in der Einheit der Totalität aufzulösen, muß naturnotwendig scheitern. Er zwingt die Widersprüche zu einer Einheit zusammen, die doch stets voll Widerspruch bleibt. Hegels dialektischer Prozeß will ja letzten Endes nur eine Einheit wiederherstellen, die schon ewig vor ihm dagewesen sein und ihn ewig überdauern soll. Aber auch der Widerspruch soll in ihr vernichtet und bewahrt sein. Zugleich mit der Einheit wird so der Widerspruch verabsolutiert und die Trennung verewigt 2. Diese ihrerseits sind nun wieder Beweis genug dafür, daß Hegels Einheit nicht zu vereinigen und seine Versöhnung nicht zu versöhnen vermögen. Dadurch, daß er lediglich die Einheit mit dem Widerstreit „vermitteln", nicht aber durch dessen totale Überwindung zu jener kommen will, enthüllt er selber, daß seine Einheit eine metaphysisch-utopische Hypostasierung, nicht aber eine konkret-dialektisch gestaltete Einheit ist! Der Sinn, den er der Totalität unterstellt, das Ziel, das er das Universum erreichen läßt, der Gott, den er der Welt hypostasiert, sind abstrakt und spekulativ, metaphysisch und utopisch — nehmen sie doch bei ihm die Gestalt des „absoluten Geistes" an, der sich im „absoluten Wissen" selbst erfaßt und nach der vorangegangenen Entfremdung mit sich selber vereinigt. Hegel betrachtet die historischen Entfremdungen, selbst wenn er sie in seiner Geistesphilosophie als Selbstverluste des Menschen deduziert, immer nur als Gedankenwesen, als Entfremdungen des reinen Denkens. Die Entfremdung er1

Steinbüchel, S. 7. Vgl. Dilthey, S. 139 f., Hartmann, S. 183 f. und S. 237, und Croce, S. 16 ff. und S. 155 ff. 2

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scheint als Gegensatz von abstraktem Denken und sinnlicher Wirklichkeit. Macht doch für Hegel das Wesen der Entfremdung aus, nicht daß der Mensch sich im Widerstreit mit der historischen Möglichkeit und der kulturprozeßlichen Notwendigkeit v e r d i n g l i c h t , sondern daß er sich im Unterschied vom reinen Denken und im Gegensatz zur abstrakten Spekulation vergegenständlicht. Hegel will in gleicher Weise die natürliche Gegenständlichkeit wie die geschichtliche Entfremdung als Momente zu seiner Totalität des „absoluten Geistes" vermitteln. Er übersieht dabei, daß aus der allgemeinen Naturtatsache der Objektivität der Geschichtsvorgang der Verdinglichung ausgesondert werden muß. So begeht er einen doppelten Fehler: Während sich in Wahrheit die Faktizität der Natur nicht in die Subjektivität des Geistes aufheben, die Individuation des Seienden nicht durch ein Prinzip des allgemeinen Seins begründen und in dieses wieder vermitteln läßt, begreift Hegel jede reale Faktizität nur als „Selbstverlust der Idee" und jede Besonderheit nur als Individuation und Entfremdung der Allgemeinheit. Zweitens erscheinen ihm nun die wirklich vorhandenen Entfremdungen und Verdinglichungen der menschlichen Geschichte und Gesellschaft ebenso nur in idealistischer Gestalt als Selbstverluste und Entäußerungen des Geistes. In der Entfremdung erkennt er nicht das als Entfremdung, was gerade ihr Wesen ausmacht, sondern sieht einfach ihre Realität als Entfremdung an. Hegels Doppelfehler hat eine zweifache Wirkung. Er veranlaßt Hegel zunächst zu dem, natürlich vergeblichen, Versuch, die gesamte Naturfaktizität im „absoluten Geist" aufzuheben. Der Natur gegenüber aber ist jede Methode der „Aufhebung" weitgehend ohnmächtig — und Hegels idealistisch-spekulatives Verfahren vollständig machtlos. Weiter sucht Hegel aber auch die gesellschaftlichgeschichtlichen Entfremdungen nicht konkret-praktisch als Entfremdungen zu überwinden, sondern nur abstrakt-spekulativ als Vergegenständlichungen aufzuheben. Bei diesem zweifachen Versagen Hegels handelt es sich nicht so sehr um einen persönlichen, als vielmehr um einen zeitbedingten Mangel: 21

Hegel mußte zu einer Zeit leben, in der einerseits bereits die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit als aufs äußerste gesteigerte Verdinglichung erkennbar war und in der andererseits doch jede praktische Möglichkeit fehlte, die Entfremdung als geschichtlich-gesellschaftliche Erscheinung zu beseitigen. So kommt es, daß er die verdinglichte und entfremdete Welt nur am Maßstab der Philosophie mißt! Im einzelnen verfährt er dabei so, daß er alle Entfremdung für Entäußerung des Selbstbewußtseins, jede Vergegenständlichung für Verdinglichung des Geistes, die ganze Faktizität für Selbstverlust der Vernunft ansieht. Die gegenständliche Welt bietet sich dann als rein geistige Welt, die Geschichte und Natur als Produkte des abstrakten Geistes, der Mensch nur als Gestalt des Geistes dar. Ist aber der Mensch wesentlich Geist, Denken, Selbstbewußtsein, so ist auch seine Selbstentäußerung, die „Dingheit", nichts anderes als entäußerte Vernunft und entfremdeter Geist. Da jedoch das Denken kein reales Ding, sondern lediglich seine eigene Entäußerung, d. h. eine abstrakte „Dingheit 14 produzieren kann, so ist die „Dingheit" überhaupt nichts Selbständiges, Wesentliches, Eigenwertiges, vielmehr bloßes Erzeugnis des Selbstbewußtseins, momentaner Selbstverlust der Idee, wertloses Abfallprodukt des Geistes. Nur für einen Augenblick kann das Wissen der Dingheit die Rolle eines wirklich unabhängigen Wesens zuweisen. Da das Setzen der Dingheit nur eine Scheintätigkeit, ein dem Wesen des reinen Denkens widersprechender Akt ist, muß dieser alsbald wieder aufgehoben, jene wieder angeeignet werden, kurz gesagt, das Selbstbewußtsein mit den Erscheinungen des Bewußtseins wieder versöhnt werden. Aneignung der entfremdeten Objektivität, Aufhebung der Gegenständlichkeit, Vermittlung des Besonderen mit dem Allgemeinen, heißt für Hegel, die Faktizität überhaupt aufheben, weil ihr objektiver und dinghafter Charakter — nicht ihr verdinglichter und entfremdeter — für die Vernunft anstößig ist. Hegels Dialektik hebt also mit der Entfremdung zugleich auch die Gegenständlichkeit als solche auf. Die 22

Nichtigkeit des Gegenstandes ist aber für ihn gleichzeitig die Bestätigung für die Ungegenständlichkeit, die Abstraktheit, die Subjektivität der Bewußtseinserscheinungen. Die einzige Beziehung des Bewußtseins zum Objekt, sein einziges gegenständliches Verhältnis, seine einzige produktive Tätigkeit ist das Wissen: Das Wissen weiß das nichtige Objekt als seine Selbstentäußerung. Alle Wiederaneignung der Gegenständlichkeit ist somit Einverleibung ins Selbstbewußtsein. Da der Gegenstand nur dem Schein nach ein Objekt, seinem Wesen nach jedoch das Denken selber ist, so weiß das Denken, daß es im Gegenstand nur außer sich ist, nur als Gegenstand erscheint. Daher bleibt das Selbstbewußtsein auch in seinem Anderssein in Wahrheit doch bei sich selbst. So verflüchtigt und verdrängt in Hegels Dialektik — und darin besteht ihr Idealismus.! — das Selbstbewußtsein, das Wissen, das Denken Sinnlichkeit und Wirklichkeit, Natur und Geschichte. Ihre positive Leistung dagegen besteht, wenigstens in bezug auf die Geistesphilosophie, darin, daß alle Erscheinungen der Verdinglichung zu Existenzformen und Daseinsweisen des Menschen werden, die sich wechselseitig erzeugen und auflösen. Die Formen der Entfremdung werden so aus ihrer Isolierung herausgelöst und als Momente der dialektischen Bewegung konzipiert. Und da die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit noch am weitestgehenden ,,realdialektisch" strukturiert ist, kommt hier die Hegeische Dialektik den Erscheinungen der Realität noch am nächsten und schafft — zwar nicht in der Postulierung der Synthesen, wohl aber in der Herausarbeitung der Thesen und Antithesen als Aporien Bleibendes1. Aber sogar hier behält sie trotz allen realistischprofanen Abweichungen im einzelnen im ganzen ihren idealistisch-theologischen Charakter durchaus bei. Offenbart sich doch für sie die Bewegung aller Verdinglichungen nur im Denken derselben. Als deren wahre Existenz erscheint alsdann auch nur ihr philosophisches Dasein, d. h. die Philo1

Vgl. Hartmann, Hegel und die Realdialektik. In: Blätter für Deutsche Philosophie, 9. Bd., 1935, insbes. S. 2 und S. 15 ff.

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Sophie der zugrunde liegenden Wirklichkeit, die Theorie der vorangegangenen Praxis. Da so der dialektisch-philosophische Prozeß der Selbstentäußerung und Wiederaneignung die absolute wahrhaft menschliche Lebensäußerung darstellt, ist die Dialektik in dem Maße, in dem Hegel an die Stelle historisch-konkreter Bewegung ein spekulativ-abstraktes Verfahren setzt, selber ideologisch und entfremdet. Insoweit wird sie zu einem Prozeß, den das vom konkret-historischen Menschen losgelöste ,,reine" und „absolute" Wissen und Denken durchmacht, d. h. aber zu einem „göttlichen" Prozeß. In seinem Ablauf erscheint das Subjekt dieses Prozesses zugleich als dessen Produkt: das sich selbst als Selbstbewußtsein wissende Subjekt, das „absolute Wissen", der „absolute Geist". Der profane Mensch und die profane Natur werden zu Prädikaten, Produkten, Symbolen dieses absoluten Subjekts. Subjekt und Prädikat verkehren sich so und verschmelzen zu einem mystischen Subjekt-Objekt, zu einer über das Objekt übergreifenden Subjektivität. Da das absolute Subjekt als ein sich entfremdendes und aus der Entfremdung wieder in sich zurückkehrendes Subjekt ein reines rastloses Kreisen in sich ist, so tritt zwar an Stelle der starren Abstraktionen die in sich kreisende Bewegung der Abstraktion. Wie aber die Entfremdung des Menschen, die Verdinglichung des Objekts nur ein Bewußtseinsinhalt, ein abstrakter Gedanke ist, so kann auch die Aufhebung der Entfremdung nichts anderes sein als eine abstrakte inhaltslose Aufhebung jener inhaltslosen Abstraktion, kurz das, was Hegel die „Negation der Negation" oder die „absolute Negativität" nennt und gerade als solche verselbständigt und verabsolutiert. Da es sich aber um eine abstrakte, inhaltslose Form handelt, so kann auch deren „Inhalt" nur ein ganz formeller, von allem konkreten Gehalt ganz losgelöster „Inhalt" sein. Die Hegeische Dialektik ist insoweit notwendig ein System allgemeinster, losgelöstester, gegenüber jedem Inhalt gleichgültiger und höchstens insoweit für jeden Inhalt ,,gülti ger" Abstraktionsformen, Denkgesetze, logischer Kategorien! 24

Diese dialektische Methode ermöglicht nun Hegel zweierlei. Mittels ihrer hebt er zunächst jede Vergegenständlichung als Entfremdung auf, indem er die einzelne Gegenständlichkeit als Entfremdung der wahren Einzelidee ableitet. Weiter deduziert er aber auch die einzelnen Ideen als Entfremdungen des „absoluten Geistes" und hebt sie als Momente in diesem auf. So weist er die einzelnen Irrationalitäten in Natur und Geschichte als Verdinglichungen ihrer rationalen „Ideen" nach und versöhnt sie mit diesen. Von der Idee schreitet er dann fort zur nächsten Faktizität, die er nun als Entfremdung wieder mit einer „höhern" Idee vermittelt. So hebt Hegel alle irrationalen Realitäten in den rationalen Ideen auf. Diese Ideen hebt er dann nochmals als Momente in der höchsten und „rationalsten" Idee des „absoluten Wissens" oder „absoluten Geistes" auf. Damit baut er über der irrationalen Welt der Realitäten eine rationale Welt der Idealitäten auf. Diese Welt gipfelt in dem „absoluten Geist", der damit nicht nur alle vorangegangenen Ideen, sondern auch alle Realitäten, neben dem rationalen Idealreich auch die irrationale Faktizität in sich einbegreift. Im „absoluten Geist", d. h. dem sich selber denkenden Denken, dem allwissenden Gott, dem selbstbewußten Philosophen finden alle Widersprüche und Gegensätze ihre letzte „Aufhebung", „Vermittlung" und „Versöhnung", das bedeutet aber ihre Überwindung und Verklärung! Die tiefste Wurzel von Hegels Krypto-Positivismus und Pseudo-Kritizismus liegt in seinem Idealismus. Denn indem er die Objektivität als Selbstverlust erkennt und aufhebt, bestätigt er sie gleichzeitig in ihrer Entäußerung und stellt sie in ihrer Verdinglichung wieder her. Ist doch in ihr der Geist als in seinem Anderssein doch auch wieder bei sich selber! Auch in der Unvernunft ist die Vernunft als in ihrer Entfremdung bei sich selbst. Auch in seinem verdinglichten Leben führt der Mensch sein wahres menschliches Leben. Hegel legitimiert die Entfremdung, selbst wenn er sie in ihrer rohen Tatsächlichkeit ablehnt. Denn die Existenzform, die er ihr entgegensetzt, ist ja ihr eigenes Dasein — nur „philosophisch" interpretiert und „vernünftig angeschaut". 25

Schließlich aber erscheint sie sogar in ihrer ursprünglichen Gestalt als das nur scheinbare Anderssein ihrer wahren philosophisch verklärten Existenz, als Allegorie und Symbol ihres wahren spekulativen Wesens. So bildet jede Verdinglichung auch in ihrer rauhen Wirklichkeit eine Selbstbestätigung der Hegeischen Philosophie. Verknüpft sich doch bei ihm nicht umsonst im Begriff der „Aufhebung" der der Vernichtung mit dem der Bewahrung, der der Verneinung mit dem der Bejahung. Da er die Entfremdungen nur so aufhebt, daß er sie in das denkende Selbstbewußtsein hereinzieht, läßt er sie folglich in der Realität ruhig bestehen so, wie sie sind und bescheidet sich mit ihrer Beseitigung im Reiche des Geistes und der Vernunft. Hegel wälzt die Welt in seiner Philosophie um und läßt sie zugleich in der Praxis bestehen, wie sie ist! Mithin ist seine Dialektik ineins konservativ und revolutionär. Im gleichen Atemzug sanktioniert und negiert sie das Bestehende. Sie ist gleichzeitig dogmatisch und kritisch. Sie läßt zwar die Realwelt unangetastet, verändert sie nicht, versöhnt sich mit ihr — und doch weist sie ein Idealreich auf, leitet es ab, verlangt nach ihm. Sozusagen ungewollt und unbewußt konfrontiert sie die Faktizität mit der Rationalität, prüft sie die Realität am Ideal und liefert damit einen Maßstab für die weitere Kritik, deren Elemente sie bereits weitgehend latent enthält 1 . Wenn Hegel einen nicht vorhandenen „Sinn" auch in die Natur hineininterpretiert und der Welt als Ganzem eine ihr fehlende „Idee" hypostasiert und damit die Dialektik selbst zu einer allerdings sehr „vernünftigen" Theologie macht und das Gesamtsystem in einer mythologischen „Utopie" gipfeln läßt, so wirkt diese ideologische Verzerrung des gesamten Weltbildes besonders auf die Dialektik des historischen Pro1

Wenn Hegels Dialektik auf rational-revolutionäre Weise nur zur Deduktion der gegebenen Irrationalität gelangt, so liegt hier vielleicht eine Parallelerscheinung zur Französischen Revolution vor, die auch mit einer weitgehend revolutionär-rationalen Methode nur zur Bildung einer irrationalen Ordnung gelangt.

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zesses zurück. Ihre Wirkung ist eine erneute Entrationalisierung der Geschichte, da deren nur ihr eigentümlicher „Sinn" zu einem Moment in dem hypostasierten „Sinn" des Alls degradiert wird. Zwar rächt sich die Geschichte für diese Herabsetzung ihrerseits so, daß sie entscheidend — wenn auch sehr widerspruchsvoll — auch die Struktur jener Sphären beeinflußt, die bei Hegel methodisch über sie hinausragen: Kunst, Religion und Philosophie. Andererseits wird jetzt die Rationalität der Geschichte selber wieder zufällig und ihre Beziehung zu der von ihr losgelösten Vernunft erneut die eines raum-zeitlichen irrationalen Inhalts zu einer raum-zeitlosen abstrakten Form. Damit verfallen Geschichte ebenso wie Vernunft der alten Ding-an-sich-Antinomik des vordialektischen Idealismus. Das widerspruchsvoll-zweideutige Verhältnis von Vernunft und Geschichte zwingt Hegel, ein Ende der Geschichte anzunehmen, das sich in seiner Gegenwart und in seinem System vollzieht. Die historische Entwicklung schrumpft so zu einer Welle zusammen in dem breiten Strom der logischen Bewegung, die ein Kreislauf ohne jeden Fortschritt ist, während die von der Geschichte losgelöste Dialektik ihre eigene abstrakte Entfaltung von der Logik über die Natur zum Geiste durchmacht. Wie aber Geschichte und Dialektik wesensnotwendig zusammengehören, so ist es unvermeidlich, daß dieser angeblich übergeschichtliche Prozeß überall die Spuren der Geschichte aufweist. Während die abstrakt-spekulativ gewordene Dialektik dauernd die Geschichte vergewaltigt, wird jene ihrerseits wieder von der nicht bewältigten Geschichte verfälscht! Ist es gelungen, die Hegeische Methode, wenn auch nur andeutungsweise, kritisch darzustellen, so müssen damit aber auch schön wesentliche Konturen des Systems, auf dessen Skizzierung hier angesichts der zahlreichen vorwiegend darstellenden Arbeiten 1 verzichtet werden soll, sichtbar ge1 Vgl. etwa Brunswig, S. 73 ff.; Falkenheim, Hegel (in: Große Denker; ed. G. v. Aster; 2. Bd.), S. 187 ff.; Moog, Hegel und die Hegeische Schule (1930), insbes. S. 227 ff.; Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre (1901), insbes. Bd. I, S. 291 ff. und Bd. II.

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worden sein. Ist doch gerade bei Hegel das Verhältnis von System und Methode selbst wieder ein dialektisches. Das bedeutet nicht, daß sie sich einfach decken1, besagt aber, daß sie in der skizzierten Art aufs Mannigfaltigste und Innigste miteinander verknüpft sind. Methode und System, ,,der Weg zum Ganzen der Wahrheit und dieses Ganze selbst gehören so eng zusammen wie Schöpfung und Werk, wie Ausgang und Ende, Werden und Ergebnis dieses Werdens" 2. Das System ist die volle Entfaltung und reife Frucht der Methode, und die Methode ist die ,,Seele und Substanz" des Systems. Das natürlich nie erreichte und überhaupt nicht erreichbare Ziel der dialektischen Methode umreißt Hegel selbst in der Rechtsphilosophie8, wenn er ausführt, daß er das Bewegungsprinzip des Begriffs, das die Besonderheiten nicht nur auflöst, sondern auch aus dem Begriffe selbst als der verborgenen Seele des Gegenstandes hervorbringt, Dialektik heißt. Dialektik soll so das immanente Fortschreiten und Produzieren des ganzen Umfangs der Bestimmungen aus dem Begriffe selbst als Folge seiner Eigenentwicklung sein. Die Dialektik wäre dann nicht äußeres Tun eines subjektiven Denkens, „sondern die eigene Seele des Inhalts, die organisch ihre Zweige und Früchte hervortreibt". Der Entfaltung der Idee als Erzeugnis der eigenen Tätigkeit der Vernunft sähe das subjektive Denken nur zu. Die Dialektik hätte dann nicht die Aufgabe, von außen an den Gegenstand eine Vernunft heranzubringen, sondern nur die eigene Vernunft uns zum Bewußtsein zu bringen. Das Objekt selbst würde in seiner Entwicklung belauscht werden, die Vernunft des Dinges selbst als in sich Widerstreitendes fortrollen und in sich seine Einheit finden. Was von diesem Programm überhaupt erfüllbar ist und was Hegel selbst erfüllt hat, das zu umreißen, war das Ziel dieser Einleitung. 1

So Haym, S. 223. Steinbüchel, S. V. 3 § 31, S. 44 f.; vgl. auch Larenz in der Einführung in Hegels Rechtsphilosophie von Binder-Busse-Larenz ( 1931 ), S. 13 ff. und Kahle, Darstellung und Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie (1845), S. 8ff. 2

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II. H A U P T T E I L 1. Abschnitt Die strafrechtlichen Anschauungen Hegels bis zur Rechtsphilosophie 1. Kapilel

DIE THEOLOGISCHEN JUGENDSCHRIFTEN Wie der vollendete Bau der Hegeischen Philosophie auf dem Fundamente der Jugendideale ruht, so lassen sich auch die Ansätze seiner Lehre von Verbrechen und Strafe, die er gegen Lebensende im 3. Abschnitt des 1. Teils der „Rechtsphilosophie" systematisch entwickelt hat, bis in seine „Theologischen Jugendschriften" zurückverfolgen. In der von dem Herausgeber Nohl „Geist des Christentums und sein Schicksal" betitelten Schrift und im Entwurf zu ihr tauchen zum ersten Male die Kategorien Verbrechen, Strafe, Gesetz, Gerechtigkeit, Wiedervergeltung, und zwar auch schon als Rechtsbegriffe auf. Dies ist um so bemerkenswerter, als das Fragment zum Hauptthema die allgemein philosophischreligiöse Idee der im Geiste Jesu und des Christentums enthaltenen Versöhnung des Schicksals durch die Liebe hat 1 . Hegel geht dabei aus von der Schicksalsidee der griechischen Tragödie 2 und gelangt schließlich zur Auflösung der auf der jüdisch-alttestamentarischen Strafgerechtigkeit gegründeten lutherisch-protestantischen Dogmatik 8 . Im Vollzuge dieser 1

Vgl. Haering, S. 430 ff. und Dilthey, S. 86 ff. In des Aischylos „Eumeniden44, die Hegel vor Augen hat, bedeutet der Freispruch des Muttermörders Orestes die Versöhnung der wilden Erinnyen, die nunmehr als die göttlichen E u m e n i d e n vom Volke in die Stadt aufgenommen werden. So taucht das Verbrechen hier in der „Lethe der Oberwelt 44 unter. Vgl. Phänomenologie des Geistes (ed. Lasson 1907), S. 475 f. 3 Dilthey, S. 86 f. 2

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Arbeit ergibt sich ihm nun die Scheidung der Begriffe Gesetz und Strafgerechtigkeit einerseits, Liebe und Versöhnung des Schicksals andererseits 1: Jene gehören dem beschränkten Gebiete des starren — wie Hegel es später nennen wird: abstrakten — Rechts, diese dem umfassenden Bereiche des „göttlichen" Lebens an. Hier wie dort aber findet er die zerstörende Macht von Verbrechen und Sünde als uraltes Problem, um dessen Lösung es aufs Neue ringt 2 . Das Verbrechen bezeichnet Hegel zunächst als eine „Übertretung", durch die sich der Verbrecher von dem Gesetz, d. h. dem Recht überhaupt, losgemacht und getrennt hat, von dem er aber dennoch weiter abhängig bleibt und dem er nicht entfliehen kann 8 . Das Verbrechen ist ein mißglückter Versuch des Täters, das Recht für seine Person außer Kraft zu setzen, für sich eine Ausnahme von der Allgemeinheit des Rechts zu erwirken. Der Verbrecher erreicht nach Hegel jedoch das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt. Er hat zwar den Inhalt des Gesetzes aufgehoben, gerade deshalb verfolgt ihn aber die allgemeine Form des Gesetzes und schmiegt sich sogar an seine Tat an 4 . Da das Gesetz allgemein ist, so hat der Verbrecher zwar die Materie, d. h. den Inhalt des Gesetzes, zerbrechen können, dessen allgemeine Form bleibt aber unberührt. Durch seine Tat setzt er auch für sich selbst den Rechtsbegriff außer Kraft, der den Inhalt des von ihm übertretenen Gesetzes ausmacht, ζ. B. beim Diebstahl den Begriff des Eigentums, beim Mord den des Lebens usw. Das von ihm aufgehobene Recht — hier im Sinne von subjektivem Recht — wird nun auch für seine Person aufgehoben! Das Rechtsgut, das er verletzt hat, wird ihm selber entzogen! Dies erscheint Hegel als das Wesen der Strafe und der Straf gerechtigkeit. Weiter ist aber entscheidend, daß die Strafe der Tat notwendig folgt und ihr Zusammenhang 1

Dilthey, S. 87. » Dilthey, S. 87. 3 Theologische Jugendschriften (ed. Nohl 1907), S. 279; vgl. Haering, S. 436. 4 Theologische Jugendschriften, S. 278 f.

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unzerreißbar ist. Das Gesetz in seiner furchtbaren Majestät kann die Strafe nicht schenken; die abstrakte Gerechtigkeit kann nicht Gnade gewähren. Aber nur „so lange Gesetze das Höchste sind", ist die Gerechtigkeit unbeugsam, kann niemand ihr entfliehen, muß das Individuelle dem Allgemeinen aufgeopfert werden. Nur innerhalb der abstrakten Strafgerechtigkeit „muß getötet werden" 1 ! Damit aber dem Rechtsbrecher auch in der Wirklichkeit das von ihm dem Begriff nach verwirkte Rechtsgut genommen werden kann, muß das Strafgesetz mit Lebendigem verbunden und mit Macht bekleidet werden 2. Aber diese Konkretisierung schränkt seine Absolutheit ein. Das Lebendige ist nicht einfach mit Gerechtigkeit gleichzusetzen, die Gerechtigkeit ist nur eine Modifikation des Lebendigen. Der Richter und der Exekutor, in denen die Gerechtigkeit erscheint, sind nicht die abstrakte Gerechtigkeit selber, sondern konkrete Wesen. Und aus diesem Grunde haben sie die Möglichkeit, als Rächer zu verzeihen und als Richter zu begnadigen. So kann ein Widerspruch entstehen zwischen der Gerechtigkeit als Allgemeinem und Gedachtem einerseits und als Konkretem und Wirklich-Lebendigem andererseits. Als Modifikation eines Lebendigen ist die Gerechtigkeit nicht mehr notwendig, sondern vergänglich. Insoweit kann sie durch eine andere Modifikation ersetzt werden. Hegel selbst gibt schließlich zu, daß „die Gerechtigkeit selbst etwas Zufälliges ist" 3 . Hegels Überzeugung, Verbrechen und Bestrafung seien durch ein unzerreißbares inneres Band verknüpft und die Tat trage die Strafe bereits notwendig in sich selber — an dieser Grundauffassung wird er bis zur „Rechtsphilosophie44 festhalten —, bildet sich unter dem Einfluß der antiken Tragödie, in welcher der Held durch sein schuldlos-schuldhaftes Tun das Schicksal selber herausfordert und sich selbst 1 2 3

a. a. O. S. 278. a. a. O. S. 277 f. a. a. O. S. 278.

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sein tragisches Ende bereitet 1. Hingegen entsteht die Erkenntnis, die abstrakte Gerechtigkeit habe dem konkreten Leben gegenüber nur eine beschränkte Geltung, vor allem unter dem Einfluß der christlichen Liebesethik. Zerstört der Verbrecher durch seine Tat den vom Strafgesetz geschützten Inhalt in der Wirklichkeit, so folgt daraus, daß das Strafgesetz stets auch etwas Fehlendes, eine Lücke, einen Mangel ausdrückt. Das Strafgesetz zeigt die Zerstörung des Lebens an 2 . Es bleibt immer, auch wenn es befriedigt von dem Täter abläßt, in „drohender Stellung" 8 . Das Gesetz ,,in seiner furchtbaren Majestät" ist hypothetisch: Solange seine Bedingung nicht eintritt, ruht es, ohne eben aufgehoben und versöhnt zu sein: Denn stets bleibt die Möglichkeit seiner Wirksamkeit 4 . Die Strafe enthält ihrem Wesen nach das Bewußtsein von einer fremden feindseligen Macht in sich. Daher auch ihre schlechten Wirkungen: sie vermag nicht zu bessern, da sie nur Leiden zufügt und das Gefühl der Ohnmacht gegen einen Herrn weckt. Die Bestrafung kann nur Eigensinn und hartnäckigen Widerstand erzeugen6. Schon jetzt ist der Maßstab, an dem Hegel die Strafe in erster Linie mißt, die abstrakte Gerechtigkeit. Gerechtigkeit setzt Gleichheit, wenn auch von Feindlich-Entgegengesetztem, voraus®. Gleichheit und Wiedervergeltung nennt Hegel das Prinzip aller Gerechtigkeit und jeder Staatsverfassung 7. Auch Verbrechen und Strafe müssen einander gleich sein. Über die schwierige Frage, wie diese Gleichheit beschaffen sein muß und wie sie hergestellt werden kann, wird sich Hegel erst später aussprechen. Für jetzt begnügt er sich mit der Feststellung, daß die Strafe, die das Gesetz androht, 1

Vgl. auch Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 5. Bd. (1907), S. 60 ff. 2 Theologische Jugendschriften, S. 277. 3 a. a. O. S. 279. 4 a. a. O. S. 392. 5 a. a. O. S. 282. • a. a. O. S. 269. 7 a. a. O. S. 288.

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stets nur gerecht ist, und daß die Gleichheit und nicht das Leben den gemeinsamen Charakter und den Zusammenhang von Verbrechen und Strafe ausmacht1. Das objektive Gesetz ist befriedigt, wenn ich ebenso mißhandelt worden bin, wie ich mißhandelt habe, wenn die Trennung vom Recht, die ich vollzogen habe, ebenso auf mich zurückwirkt 2 . Und schließlich: „Die Peiniger und die Henker, die dasselbe tun, was die Tyrannen und die Mörder taten, heißen gerecht, weil sie das Gleiche tun." Ebenso wie der Verbrecher ist auch das Strafgesetz nur „ein Fragment der menschlichen Natur" 3 . Und doch scheint Hegel in dieser Sphäre des Rechts und der Gerechtigkeit die Strafe unvermeidlich zu sein. Wie die Tat sind auch Strafe und Strafgesetz „ein Objektives, das nicht zu vernichten ist" 4 . Im Bezirk des Rechts muß daher der Verbrecher die Strafe auf sich nehmen. So erscheint sie Hegel jetzt schon wie eine Naturtatsache und zugleich fast wie ein „Recht" des Verbrechers 6. Eine wahre „Versöhnung" ist hier jedoch auch durch Ausstehen der Strafe nicht möglich. Wohl ist nun das Gesetz befriedigt, es verschwindet aber nicht, noch wird es dem Täter zum „Freunde" 6 ! An dessen bösem Gewissen ändert sich nichts, der Verbrecher bleibt das, wozu ihn seine Tat gestempelt hat und muß sich immer als Verbrecher betrachten. „Von Versöhnung, von Wiederkehr zum Leben kann also bei der Gerechtigkeit nicht die Rede sein 7 ." „Gesetz und Strafe kann nicht versöhnt", sondern allein „in der Versöhnung des Schicksals aufgehoben werden" 8. Bereits in dieser ersten Auseinandersetzung Hegels mit Verbrechen und Strafe erkennt er, wie die Tat des Verbrechers als der gesellschaftlichen Wirklichkeit angehörender „Sachverhalt" immer konkret ist, während die rechtliche 1 2 3 4 6 β 7 8

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a. a. O. S. 279. a. a. O. S. 391 f. a. a. O. S. 288. a. a. O. S. 279. Vgl. Haering, S. 500. Theologische Jugendschriften, S. 392. a. a. O. S. 288. a. a. O. S. 227.

F l e o h t h e i m : Die Hegeleche Strafrechtetheorie.

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Konstruktion im „Tatbestand" und insbesondere die Rechtsfolge der Strafe stets abstrakt bleiben. Da „die Gesetze nur gedachte Vereinigungen von Entgegensetzungen sind, so erschöpfen diese Begriffe bei weitem die Vielseitigkeit des Lebens nicht" 1 . Die konkrete Tat setzt unabhängig vom Willen des Täters und ihm fast unbewußt einen abstrakten Rechtsmechanismus in Bewegung, der zwar Hegel — ebenso wie auch oft dem Rechtsbrecher selbst — als wesensnotwendig erscheint, aber doch nur historisch bedingt ist. Ist doch auch das antike Schicksal nur ein für den einzelnen undurchsichtiger und unbezwingbarer Zusammenhang menschlicher Handlungen, Verhältnisse und Einrichtungen auf der Grundlage bestimmter Naturtatsachen und -geschehnisse. Die konkrete verbrecherische Tat als solche hat keinerlei naturnotwendige Wirkungen. Die Reaktion in der menschlichen Gesellschaft auf sie ist nur geschichtlich verursacht und kann daher ganz verschieden sein. Erst innerhalb eines Rechtssystems wird die Tat zum juristischen „Delikt", die etwaige Reaktion zur „Rechtsstrafe" und die Strafe eine wesensnotwendige „Rechtsfolge" der Straftat; außerhalb des Rechtssystems ist das Verbrechen gegenüber der Straf folge „indifferent" 2 . Wenn nun auch Hegel die Strafe stets und überall für das Produkt des Verbrechens selbst hält, so fühlt er doch gleichzeitig, daß nicht das konkrete „Leben", sondern nur die abstrakte „Gleichheit" die Verbindung zwischen Tat und Strafe schaffen. Deshalb kann auch das abstrakte Recht die Lücke, welche die konkrete Tat des Täters gerissen hat, nie wirklich ausfüllen. So macht es sich auch nie selber überflüssig, weder für den Verbrecher noch für die anderen Menschen. Selbst wenn es im Einzelfall in der Strafe seine Erfüllung gefunden hat, wird es dem Verbrecher nicht zum „Freunde", da es ihn ja nicht wirklich von seiner Tat befreit, und bleibt allen in „drohender Gestalt" vor Augen. Die Gemeinschaft aber, die das Recht nicht entbehren kann, ist mangelhaft — denn sie kennt das Unrecht! Und sie ist dop1 2

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a. a. O. S. 283. Vgl. auch Hartmann, Realdial., S. 2.

pelt mangelhaft —, denn ihr Recht kann weder das Verbrechen verhindern noch es rückgängig machen, vermag weder sich noch den Täter von der Tat zu befreien! So ist die Existenz des Rechts selbst ein untrüglicher Anzeiger dafür, daß geschieht, was nicht zu geschehen hat und daß das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann! Hegels Verdienst ist es, wenigstens vorausgeahnt zu haben, daß die Strafe nicht geeignet ist, diesen doppelten Mangel zu beseitigen. Sein Irrtum ist dann allerdings, geglaubt zu haben, die Wunden, die durch das Verbrechen offenbart werden, in dem religiösen Bereich des „göttlichen Lebens" heilen zu können. Meint doch Hegel, daß in dieser höheren Sphäre die Strafe, das Gesetz und böse Gewissen, kurz der Widerspruch von Legalität und Moralität zur Aufhebung gelangen. Das ewige Leben, seine Zerstörung durch die Schuld, das Schicksal als Reaktion des Lebens gegen sie und die Liebe als Gefühl des sich wiederfindenden Lebens1 — in diesen Begriffen und Beziehungen soll sich dort die wirkliche Versöhnung vollziehen. Der Ausgangspunkt ist dabei die Einheit und Identität alles Lebens. „Leben ist vom Leben nicht verschieden." Da alles Leben eins ist, so hat der Verbrecher in Wahrheit soviel eigenes Leben verletzt, wie er anscheinend fremdes verletzt hat. Da die Natur einig ist, so wird durch den Verbrecher im Zerstörenden ebensoviel zerstört wie im Zerstörten 2. Der Theologe Hegel sieht die „religiöse" Einheit des Lebens und der Natur und vergißt dabei ihre „profane" Vielheit und Zerrissenheit. Der Verbrecher und der Verletzte mögen zwar „in Gott" eins und identisch sein, „in der Welt" bleiben sie doch immer selbst als Glieder der übergreifenden Einheit „Menschheit" zwei Menschen, die als solche sich zwar gleich, ineins damit aber auch voneinander getrennt und geschieden sind. Wie — so geht Hegels Gedankengang weiter — durch jedes Tun, so trennt sich besonders durch das Verbrechen der Täter von dem Ganzen des Lebens, 1

Dilthey, S. 90. » Theologische Jugendschriften, S. 277, 280 und S. 392 f.

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tritt ihm gegenüber, zerreißt seine Einheit und spaltet es in das handelnde Ich und das feindliche Schicksal. Dennoch glaubt Hegel nicht, daß der Lebenszusammenhang ganz vernichtet werden kann. Auch als Feind bleibt das Schicksal noch Leben. Daher kann der Verbrecher die von ihm selbst gemachte Trennung auch wieder beseitigen. Er braucht im Schicksal nur sein eigenes Leben wiederzuerkennen. Im Schmerz und in der Sehnsucht werden die Gegensätze dann in einer neuen höheren Lebenseinheit aufgehoben. Endlich wird das Schicksal vollends versöhnt in der Liebe1. Wenn Hegel so das Verbrechen in der Liebe aufheben zu können glaubt, übersieht er nur, daß das ,,Ganze des Lebens" im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung längst aufgelöst und vernichtet worden ist. Nicht erst der Verbrecher zerreißt durch seine Tat die lebendige Einheit. Der Verbrecher selbst ist überhaupt nur möglich, weil die überindividuelle Ganzheit schon untergegangen ist. Das „feindliche Schicksal" steht dem handelnden Ich gegenüber nicht als lebendige Möglichkeit, sondern als tote Notwendigkeit. Somit kann der Verbrecher die Trennung, die er nicht gemacht, sondern bereits vorgefunden und höchstens verstärkt hat, auch nicht wieder beseitigen. In der profanen Welt der Entfremdung und Verdinglichung ist kein Raum für die Erkenntnis, die Sehnsucht und der Schmerz haben keine Wirkung und die Liebe vollends ist machtlos. Wiederum ist es eine theologische Utopie, wenn Hegel vermeint, die Strafe für den diesseitigen Bezirk desRechts anerkennen und sie lediglich für den jenseitigen Bereich des göttlichen Lebens im Begriff der Liebe aufheben zu können2. Die Stellungnahme des jungen Hegel zu Fragen des Strafvollzugs kann man zwei von Rosenkranz mitgeteilten Fragmenten aus der Frankfurter Zeit entnehmen8. In den Bemerkungen über die Todesstrafe 4 hebt Hegel sehr stark die 1

a. a. O. S. 280 ff. Vgl. auch Haering, S. 502. 9 Rosenkranz, S. 85 f. und S. 526—529; vgl. dazu Haering, S. 591 f. 4 Rosenkranz, S. 526 ff. 1

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Nachteile hervor, welche die Öffentlichkeit der Hinrichtung mit sich bringt, ohne allerdings die Berechtigung der Todesstrafe selbst ausdrücklich in Zweifel zu ziehen. Die empörende Empfindung, einen Wehrlosen von einer überlegenen Anzahl Bewaffneter hingerichtet zu sehen, verwandele sich bei den Zuschauern nur darum nicht in Wut, weil ihnen der Ausspruch des Gesetzes heilig sei. Allerdings erkennt Hegel an, daß die öffentliche Vollstreckung der Gewissenlosigkeit der Richter und dem Despotismus der Fürsten einen Zaum anlegt. Aber in Staaten, in denen der Bürger von seinesgleichen in öffentlicher Gerichtsverhandlung abgeurteilt würde, wäre dieser Notbehelf überflüssig. Wichtiger sind Hegels Ausführungen zur Freiheitsstrafe 1. Der preußische Großkanzler und Chef des Justizwesens Graf von Carmer 2 war für die Verschärfung der Gefängnisstrafe durch gänzliche Einsamkeit, schwere Arbeit, Entbehrung usw. als Ausgleich für die Abschaffung der Leibesstrafen eingetreten. Hegel wendet sich aufs schärfste gegen ihn und nennt seine Einstellung ,,irokesenmäßig". Die moralische Wollust des Straf ens sei nicht sehr verschieden von der Wollust der Rache; der Absicht der Veredlung des Verbrechers liege es sehr fern, Grausamkeit zu zeigen. Die Isolierung des Gefangenen mit,,Abschneidung der Communication" hält Hegel jedoch für gerecht, da der Verbrecher sich selbst isoliert habe. Ihn aber zugleich als arbeitendes, produzierendes und zu besserndes Wesen zu betrachten, erscheint Hegel als „ärgste Tyrannei". Denn das Wohl der Gesamtheit, das auf diese Weise erreicht werden soll, ist dem Täter als Zweck fremd, falls es nicht gerecht ist. Hegel ist also noch so individualistisch, daß er den Anspruch des einzelnen auf Gerechtigkeit über das Recht der Gesellschaft auf Wohlfahrt stellt. 1

Rosenkranz, S. 85 f. Vgl. über diesen Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 1. und 2. Halbband (1898—1910), I I I / l , S. 469 f. und S. 278 f. 8

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2. Kapilel

DAS SYSTEM DER SITTLICHKEIT Das aus der Jenenser Periode Hegels stammende1, nicht vollendete, erst aus dem Nachlaß herausgegebene „System der Sittlichkeit" braucht hier nicht eingehend behandelt zu werden, da die meisten in ihm vorkommenden strafrechtlichen Ideen entweder schon in den Frankfurter Schriften Hegels enthalten sind oder fast unverändert, nur ausführlicher und in eigener Sprache vorgetragen, in dem folgenden Naturrechtsaufsatz zu finden sein werden. Das Eigentümliche der Darstellung hier im Fragment ist lediglich die von Schelling entlehnte Begriffssprache, die aber für Hegel nie wesentlich gewesen und infolgedessen schon bald wieder von ihm aufgegeben worden ist. Der erste Abschnitt des Werkes („Die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältnis") schildert als natürliche Sittlichkeit diejenigen menschlichen Beziehungen vom Bedürfnis bis zur Familie, welche „die Identität des Besonderen und des Allgemeinen nur als eine unvollkommene Vereinigung oder als ein Verhältnis" 8 enthalten, und zwar als ein solches, bei dem der „Begriff", d. h. das Besondere unter die „Anschauung", d. h. das Allgemeine subsumiert ist. Wichtig und neu ist, daß das Verbrechen in einem besonderen zweiten Abschnitt 8 ausdrücklich als „das Negative" oder „die Freiheit" bezeichnet wird. Denn durch das Verbrechen befreit sich das Individuum von der natürlichen Sittlichkeit. Die Strafe erscheint schon jetzt als die Negation dieser ersten Negation4. Im übrigen findet sich hier bereits, jetzt noch in Schellingscher Terminologie ausgesprochen, der Gedanke, der in dem Naturrechtsaufsatz näher begründet werden wird, nämlich, das Setzen der Strafe 1

Zur Datierungsfrage dieses Manuskripts und des Naturrechtsaufsatzes vgl. Rosenzweig, I, S. 242. • System der Sittlichkeit (in Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, ed. Lasson, 1913), S. 420. 8 a. a. O. S. 450—464. 4 a. a. O. S. 453.

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ergänze die entgegengesetzte Bestimmtheit des Verbrechens und hebe es damit in der Freiheit auf 1. So glaubt Hegel die absolut notwendige Verknüpfung von Verbrechen und rächender Gerechtigkeit gezeigt zu haben2. Er betont noch besonders, daß es im Unterschied von der realen Gegenwirkung oder Umkehrung der Strafe noch die ideale des bösen Gewissens gibt. Dieses ist aber nur etwas Inneres und Subjektives, dem das Äußere und Objektive fehlt. Insofern ist es unvollständig und drängt daher nach Totalität, nach auch äußerer Darstellung als rächende Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang kehren die alten Vorstellungen aus den Theologischen Jugendschriften wieder, daß der Verbrecher in der Verletzung des ihm scheinbar fremden Äußerlichen sich selbst ideell verletzt, mit der äußeren Tat zugleich eine innere und das an dem Fremden begangene Verbrechen ebenso an sich selbst begangen hat 3 . Und weiter, daß es das Gewissen des Täters selbst ist, das sich nicht eher befriedigt, bis es die ideelle Gegenwirkung auch äußerlich in drohender Realität und als seinen Feind sich gegenüber sieht4. Daß in der profanen Realität nicht der Verbrecher sich selbst, sondern die Gesellschaft ihm die „rächende Gerechtigkeit" entgegenstellt, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß ausnahmsweise die herrschende Moral- und Rechtsauffassung, die namentlich auch auf das Unbewußte wirkt, so stark ist, daß der Verbrecher selbst sein böses Gewissen erst beruhigt fühlt, wenn 1 „Das Negierende macht sich zur Ursache und setzt sich als negative Indifferenz, aber darum muß der Satz an ihm umgekehrt werden und dasselbe ebenso unter dieselbe Bestimmtheit der Indifferenz gesetzt werden, als es setzt. Was es negierte, ist reell an ihm ebenso zu negieren, und es ebenso zu subsumieren, als es subsumierte; und diese Umkehrung des Verhältnisses ist absolut, denn im Bestimmten ist es der Vernunft nur möglich, durch gleichmäßiges Setzen der beiden Entgegengesetzten sich als Indifferenz, also sich auf eine formale Weise zu behaupten." — (A. a. O. S. 453.) 2 ebenda. 8 a. a. O. S. 453. 4 a. a. O. S. 453 f.

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er die Strafe verbüßt hat. Nur insoweit kann man auch von einem „unbewußten Strafbedürfnis", das zur Tat treibt, sprechen1. Zum ersten Male sucht Hegel einzelne Verbrechenstatbestände als „Potenzen der Negation" deduktiv abzuleiten. Dieses Vorgehen braucht hier nicht im einzelnen dargestellt zu werden, da es nur als Kuriosum bemerkenswert und auch von Hegel selbst alsbald wieder aufgegeben worden ist. Die erste Potenz des Verbrechens soll die natürliche Vernichtungoder zwecklose Zerstörung, die Verwüstung (ζ. B. eines Tschingiskan oder Tamerlan) darstellen 2. Die nächste Stufe ist die „bestimmte Verwüstung" in den Formen der Beraubung, des Diebstahls und der Bezwingung8. Schließlich folgt die „Totalität der Negation" als Mord, Blutrache und Zweikampf 4. Bedeutsamer als diese sich selbst ad absurdum führende spekulative Deduktion der Realitäten erscheint die Tatsache, daß Hegel schon im System der Sittlichkeit Verbrechen und Strafe nochmals im dritten Abschnitt, in dem er das Volk und dessen Staat darstellt, als Erscheinungen des Systems der Gerechtigkeit bzw. der Rechtspflege behandelt6. Diese Wiederholung, die er bis zur Rechtsphilosophie beibehalten wird, hat den Sinn, die Stellung und Bedeutung zu zeigen, die das Teilsystem von äußerlichen einseitigen Beziehungen — das abstrakte Recht — in dem Gesamtorganismus von allseitigen menschlichen Verhältnissen hat, als den Hegel den Staat ansieht. Das Recht verhält sich demnach zum Staat ähnlich wie im Gesamtsystem die logischen Kategorien zu denen der Natur- und Geistesphilosophie. Es ist die Anatomie im Gesamtkörper, das Gerüst für den vollendeten Bau, der Grundriß zum ausgeführten Werke. Innerhalb des „Systems der Gerechtigkeit" kommt Hegel bei dem Vergleich von bürgerlicher und Strafrechtspflege zu einer klaren Gegen1 1 8 4 1

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Vgl. Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis (1925), S. 151 ff. System der Sittlichkeit, S. 454 f. a. a. O. S. 455—458. a. a. O. S. 460—464; vgl. auch Rosenkranz, S. 124 ff. a. a. O. S. 499 ff.

Überstellung des Zivil- und des Kriminalunrechts. In dem Zivilprozeß ist nur eine Bestimmtheit, nämlich der Streitgegenstand, strittig. Jede der Parteien behauptet ihr Recht auf ihn und erkennt damit zugleich das objektive Recht als solches an. Ganz anders ist die Stellung des Verbrechers. Mit seiner Tat verletzt er nicht nur ein bestimmtes Rechtsgut, sondern zugleich das Rechtssystem als Ganzes, das auf der gegenseitigen Anerkennung der Rechtspersonen ruht. „Das Verbrechen leugnet das Anerkennen 1." Infolgedessen hat die peinliche Rechtspflege die Aufgabe, die Negation der Allgemeinheit durch den Täter und die von ihm an ihre Stelle gesetzte Allgemeinheit aufzuheben. Dies geschieht vermittels der Strafe. Da das Recht stets nur in einem bestimmten Rechtsgut verletzt wird, so soll auch die Strafe nach der Bestimmtheit, in der die Allgemeinheit aufgehoben worden ist, festgesetzt werden, obwohl ihr Wesen die Wiederherstellung des Rechts überhaupt ist 2 . Die Frage nach der Strafart und dem Strafmaß tritt so zum ersten Male in den Gesichtskreis Hegels, ohne doch von ihm schon hier behandelt zu werden. 3. Kapitel

DER NATURRECHTSAUFSATZ VON 1802 Die im System der Sittlichkeit angedeutete Begründung des Strafrechts wird weitergeführt in dem schon mehrfach erwähnten, 1802 im „Kritischen Journal der Philosophie" erschienenen Aufsatz „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften". Entsprechend dem vorwiegend kritischen Charakter der Arbeit, deren Hauptangriff gegen die Kant-Fichtesche Rechts- und Morallehre geht, nimmt Hegel zunächst negativ Stellung gegen die empiristische Straf1

a . a . O . S. 501. » a. a. O. S. 501.

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theorie — so sei sie zum Unterschiede von der später zu erwähnenden empirischen Betrachtungsweise genannt. Bei jener Behandlungsart, die eine philosophische sein will, wird irgendeine besondere Bestimmtheit, eine einzelne Seite aus einem organischen Gesamtverhältnis herausgehoben und als dessen Wesen und Zweck angesehen. Aber — so führt Hegel aus — damit wird die Totalität des Organischen n i c h t erreicht und das aus jener Bestimmtheit Ausgeschlossene kommt unter dessen Herrschaft 1. So greift diese Lehre auch bei der Strafe irgendeine Begriffsbestimmung auf und macht eine solche Einzelheit zum Zweck und Wesen des Ganzen: ζ. B. die moralische Besserung des Verbrechers, den angerichteten Schaden, die Vorstellung der Strafe in anderen, die dem Verbrechen vorhergegangene Vorstellung von ihr im Verbrecher selbst, die Notwendigkeit der Realisierung dieser Vorstellung und der Ausführung der Drohung usw.2. Man sieht, wie Hegel die schon zu seiner Zeit aufgestellten sogenannten relativen Strafrechtstheorien als unzulässige Verabsolutierungen von bestimmten Seiten der Strafe ablehnt. Da die eine Bestimmtheit mit den übrigen in keinem notwendigen Zusammenhang steht, so ist nach ihm deren natürliche Folgewirkung das Entstehen eines endlosen ,,Gequäles", um ihre notwendige Beziehung zu finden, wobei jede Besonderheit sehr wohl die Unabhängigkeit von der anderen beanspruchen kann 3 . Jetzt schon wendet sich Hegel mit besonderer Schärfe gegen Feuerbachs Theorie des psychologischen Zwanges, übrigens ohne ihn namentlich zu erwähnen. Den psychologischen Zwang mit seiner auf Kants theoretischen Philosophie gegründeten Entgegensetzung von praktischer Vernunft und sinnlichen Triebfedern 4 bezeichnet 1

Naturrecht (In: Hegels Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, ed. Lasson, 1913), S. 334. 1 a. a. O. S. 335. 8 ebenda. 4 Vgl. dazu Seeger, Die Strafrechtstheorien Kants und seiner Nachfolger (In: Festgabe der Tübinger Juristenfakultät für Berner, 1892), S. 28 ff. und Günther, Die Idee der Wiedervergeltung in der

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er als eine aus der gemeinen Empirie aufgegriffene wesenlose Bestimmtheit1. Gegenüber dieser Pseudophilosophie scheint Hegel sogar die ganz untheoretische rein praktische Empirie, allerdings nur relativ, Recht zu haben: Diese zieht ihre empirische Inkonsequenz, die sich auf eine wenn auch nur trübe Anschauung des Ganzen gründet, der Konsequenz eines solchen Philosophierens vor und bevorzugt in bezug auf die Strafe sowohl in der Wissenschaft wie im praktischen Leben die Konfusion von Rache, Staatssicherheit, Besserung, Ausführung der Drohung, Abschreckung, Prävention usw. vor dem absoluten Auseinanderhalten dieser verschiedenen Seiten ein und derselben Anschauung und dem Bestimmen des Ganzen durch eine einzelne dieser Qualitäten8. Wenn Hegel so den Anspruch der Praxis gegenüber einer schlechten Theorie als relativ berechtigt anerkennt, so will er damit natürlich nicht einer eklektischen Vereinigungslehre das Wort reden, vielmehr nur für seine dialektische Einheitstheorie Raum schaffen. Deren Grundlegung findet sich auch bereits in dieser Abhandlung. Da für Hegel wie die Welt des Geistes überhaupt so auch die Sphäre des Rechts ein Reich der Freiheit ist, so bemüht er sich vor allem um den Nachweis, daß selbst solche Gebilde wie Verbrechen und Strafe, die dem gesunden Menschenverstand als Ausdruck größter Unfreiheit erscheinen, als der Rechtsordnung angehörende Einrichtungen in Wahrheit Erscheinungen der Freiheit sind8. Hegel verfährt dabei so, daß er zunächst der üblichen, auch von Kant vertretenen Auffassung der Freiheit als einer Wahlfreiheit entgegenhält, die wahre Freiheit sei keine Wahl zwischen entgegengesetzten Bestimmtheiten (ζ. Β + A und —A). Denn sonst wäre die eine, die nichtgewählte Bestimmung, stets etwas Äußeres und damit Notwendiges für Geschichte und Philosophie des Strafrechts, Abt. I — I I I (1889 bis 1895), I I I / l , S. 143 f. 1 Naturrecht, S. 344. » a. a. O. S. 345. 8 Vgl. Rosenkranz, S. 175.

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die Freiheit. Die absolute Freiheit müsse aber über diesen Gegensatz erhaben sein. Das ist sie nach Hegel, indem sie beide Bestimmtheiten vereinigt, ihre Grenzen aufhebt und sie so beide vernichtet: z.B. ist so + A — A = 0 1 . Die absolute Freiheit scheint jedoch für das Individuum nur eine Abstraktion zu sein. Denn in seiner Vereinzelung ist es immer irgendwelchen äußeren Bestimmtheiten unterworfen und damit auch dem Zwange ausgesetzt. Solange z. B. —A dem Subjekt, das sich für + A entschieden hat, äußerlich entgegensteht, bleibt das Subjekt in diesem Verhältnis fremder Gewalt unterworfen. Es bleibt ihm daher Hegel zufolge nur die negative Absolutheit oder die Unendlichkeit. Es hat eine Möglichkeit, aller fremden Gewalt zum Trotz schlechthin frei zu bleiben, indem es alle Bestimmtheiten „negativ setzt, aufhebt und entäußert". Indem es + A sowohl wie —A negiert, ist es zwar bezwungen, aber nicht gezwungen2. Die absolute Bezwingung ist der Tod. „Durch die Fähigkeit des Todes erweist sich das Subjekt als frei und schlechthin über allen Zwang erhaben 3." Sogar der Philosoph des Lebens, als der Hegel bisher aufgetreten ist, sucht die Freiheit von Zwang und Gewalt im individuellen Leben des Menschen vergeblich — und bescheidet sich damit, die absolute Freiheit im Tode zu finden! 4 Und da es sich um absolute Begriffe 1 Naturrecht, S. 368. — Hier zeigt sich noch der Einfluß Schellings, mit dem Hegel damals am engsten zusammenarbeitete: Nach Schelling werden die Gegensätze in der „Indifferenz 44 „vernichtet 44, während der reife Hegel sie später in der „Synthese44 „aufheben 44 wird. 2 a. a. O. S. 369. 3 a. a. O. S. 370. 4 Hier sei angemerkt, daß Hegel jedesmal, wenn er in der Welt des Geistes Erscheinungen vorfindet, deren rationale Deduktion allzu schwer ist — und das sind nach Baeumler bezeichnenderweise neb#n dem Tod noch die Eigentumsungleichheit und der Krieg! —, sich einfach so hilft, daß er schlicht die „Naturerscheinung 44 für vernünftig deklariert. — Wenn anscheinend ebenso heute Kelsen (Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht. In: Zeitschrift für Öffentliches Recht, Bd. X I I , 1932, S. 547) den Krieg als die „ultima ratio 44 des Völkerrechts charakterisiert, so darf das nicht darüber

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handelt, glaubt er, jeden mit seinem Gegenbegriff gleichsetzen und in diesen dialektisch umschlagen lassen zu können: So erscheint die absolute Bezwingung zugleich als das Gegenteil ihrer selbst, nämlich als absolute Befreiung, die reine Einzelheit im Tode gleichzeitig als die Allgemeinheit und das Aufheben der beiden Seiten einer Bestimmtheit ineins damit als das Setzen des Bestimmten nach seinen beiden Seiten1. Dazu sei gesagt, daß zwar im Tode als dem absoluten Nichts alle Gegensätze verschwinden, hingegen im Leben Begriffe wie Bezwingung und Befreiung, Einzelheit und Allgemeinheit, Negation und Position einer Bestimmung überhaupt nur Sinn haben, wenn man sich ihrer Relativität bewußt bleibt und sie auseinanderhält. Wobei man nur dann ihre Dynamik und ihr Umschlagen verfolgen kann, ohne ein „dialektisches" Spiel mit ihnen zu treiben, wenn man davon ausgeht, daß jeder Begriff einen Gegenstand in der Wirklichkeit erfassen muß. Indem nun Hegel die Gleichsetzung von Negation und Position der Begriffsbestimmung auf das Verbrechen anwendet, glaubt er damit die Strafe als Wiederherstellung der Freiheit begründen zu können. Das Verbrechen, so deduziert er, hat eine Bestimmtheit + A gesetzt; durch das Setzen von —A wird diese Bestimmtheit ergänzt, und so werden beide vernichtet. Oder positiv ausgedrückt: Mit der Bestimmtheit + A wird für den Verbrecher die entgegengesetzte Bestimmtheit der Strafe —A verbunden und so beide in gleicher Weise gesetzt, während der Verbrecher nur die eine setzte. Die Strafe ist so nur als Wiedervergeltung vernünftig. Durch sie wird das Verbrechen bezwungen und die Freiheit wieder hergestellt. Der Verbrecher ist frei geblieben oder hinwegtäuschen, daß für Hegel der Krieg noch inhaltlich vernünftig ist, während Kelsen sich darauf beschränkt, den unvernünftigen Inhalt in eine vernünftige Form — den Krieg in die Rechtsform — zu fassen. Man sieht, wie bescheiden ein Jahrhundert geschichtlicher Entwicklung den Neukantianismus gemacht hat, eine Bescheidenheit, die sich wohl die Rechtstheorie, nicht aber die Philosophie leisten darfl 1 a. a. O. S. 370.

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vielmehr frei gemacht und der Strafende hat vernünftig und frei gehandelt. „ I n dieser ihrer Bestimmung ist also die Strafe etwas an sich, wahrhaftig unendlich und etwas Absolutes, das hiermit seine Achtung und Furcht in sich selbst hat; sie kommt aus der Freiheit und bleibt selbst als bezwingend in der Freiheit 1 ." Damit glaubt Hegel das Verhältnis von Verbrechen und Strafe ebenfalls durch das negativ Absolute oder die Unendlichkeit bestimmt zu haben. Er hätte das aber nur dann getan, wenn er Verbrechen und Strafe durch den Tod in die „Lethe der Unterwelt" versenkt hätte, in der Sophokles in der „Antigone" die feindlichen Mächte versöhnt 2. Da Hegel aber nicht die Freiheit um den Preis des Lebens erkaufen will, so steigert sich seine Strafmetaphysik von Widerspruch zu Widerspruch. Er will beweisen, daß die Strafe das Verbrechen negiert und damit den Verbrecher frei macht. Er setzt dabei aber schon voraus, daß die Strafe sich zum Verbrechen so verhält, wie in der Mathematik die Größe + A zu der Größe — A s . Natürlich würden sie sich dann auch so aufheben wie + A und —A: allerdings zu Ο bzw. od und nicht zur „Freiheit" schlechthin, die unter Vermittlung des Nichts aus den Größen Ο oder oo zu gewinnen auch schon ein „dialektischer" Kunstgriff ist! Aber schon Hegels Voraussetzung ist falsch. Im Gegensatz zu den mathematischen Begriffen wollen die juristischen Begriffe ganz konkrete Objekte in der sozialen Wirklichkeit erfassen. Selbst wenn also der Begriff des Verbrechens durch den Begriff der Strafe zum Begriff der Freiheit ergänzt und „aufgehoben" würde — was Hegel allerdings glaubt, da für ihn ja der sich in Wahrheit aus den Begriffen „Verbrechen" und „Strafe" ergebende Begriff „Strafrecht" bzw. „Recht" dem Begriff „Freiheit" gleichkommt —, so würde sich darum in der sozialen 1

a. a. O. S. 370 f. Vgl. Phänomenologie, S. 475 f.; vgl. auch Laistner, Das Recht in der Strafe (1872), S. 190. 8 Treffend bezeichnet Baeumler deshalb Hegels Lehre von Unrecht und Strafe als eine Art Rechenexempel (S. 42). 8

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Wirklichkeit nichts daran ändern, daß der Gewalt des Verbrechers die Macht des Richters entgegengestellt wird und auf das Verbrechen nicht die Freiheit, sondern die Unterdrückung antwortet! Zwar sind auch Verbrechen und Strafe Korrelatbegriffe wie etwa auch Gut und Böse, Ursache und Wirkung und auch Positiv und Negativ. Doch ist die Beziehung in jedem dieser Begriffspaare eine verschiedene: Nur bei den Wechselbegriffen Positiv und Negativ führt das Setzen beider zu Ο und damit, Hegelisch gesprochen, zum „Nichts" und zur „absoluten Freiheit", dagegen bei Ursache und Wirkung zum neuen Begriff der Wechselwirkung, der auch für Hegel nur eine höhere Synthese, damit aber noch lange nicht die Freiheit bedeutet. Die Verbindung von Verbrechen und Strafe schließlich ist einerseits historiographischsoziologisch ein geschichtlich-gesellschaftliches Verhältnis und andererseits normlogisch-rechtsimmanent eine „formale Verknüpfung", die man zweckmäßig als „Zurechnung" charakterisiert hat 1 . Sollte also der Beweis für den Freiheitscharakter der Strafe wirklich gelingen, so hätte Hegel sich nicht mit der Feststellung des Wechselverhältnisses von Verbrechen und Strafe als metaphysischen Begriffen begnügen dürfen, sondern hätte ihre Beziehungen und die Folge ihrer Verknüpfung in der geschichtlichen Wirklichkeit aufzeigen müssen. Daß keiner Theorie ein solcher Nachweis überhaupt gelingen kann, wird noch darzulegen sein. Wie sich alsdann zeigen wird, hat Hegel recht, insoweit das Recht ein Moment der Freiheit enthält. Die Strafe ist aber gerade das Rechtsinstitut, bei dem die Abhängigkeit des Rechts von der Gewalt am offenkundigsten wird! Und so ist es kein Wunder, daß schließlich doch die anspruchslose Darstellung der Praxis recht behält, die niemand so scharf und treffend geschildert hat, wie Hegel selbst, der ja nicht nur ein kühner Metaphysiker, sondern auch ein gediegener Empiriker war: „Wenn . . . die Strafe als Zwang vorgestellt wird, so ist sie bloß als eine Bestimmtheit und als etwas schlechthin End1

Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), S. 22.

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liches, keine Vernünftigkeit in sich Führendes gesetzt und fällt ganz unter den gemeinen Begriff eines bestimmten Dinges gegen ein anderes oder einer Ware für die etwas anderes, nämlich das Verbrechen, zu erkaufen ist. Der Staat hält als richterliche Gewalt einen Markt mit Bestimmtheiten, die Verbrechen heißen, und die ihm gegen andere Bestimmtheiten feil sind, und das Gesetzbuch ist der Preiskurant 1." Ein derartig einfach beschreibendes Verfahren ist selbstverständlich besonders der Gefahr ausgesetzt, zu der Methode der „positiven Wissenschaft" zu erstarren, die Hegel so meisterhaft im letzten Abschnitt 2 seiner Abhandlung kritisiert. Es handelt sich um jenes positive Denken, das in der Entgegensetzung Bestimmtheiten starr festhält und Gedankendinge und Dinge der Einbildung für absolut nimmt, und deshalb ständig dem ausgesetzt ist, daß ihm immer an jeder Bestimmtheit die entgegengesetzte auf gewiesen und aus seiner Annahme gerade das Gegenteil hergeleitet wird. In bezug auf die Frage, die hier besonders interessiert und die Hegel soeben im Geiste seiner Philosophie ganz eindeutig beantworten zu können geglaubt hat: — die Strafe eine Erscheinung der Freiheit, nicht des Zwanges! — unternimmt er es nun noch zu allem Überfluß, nebenbei der damals in der positiven Wissenschaft herrschenden Begriffsbestimmung mit, wie er glaubt, mindestens demselben Recht ihr Gegenteil entgegenzuhalten. Behauptet die positive Wissenschaft, die Strafe sei ein ΖwangsVerhältnis, und beruft sie sich zum Beweise auf Erfahrung und Wirklichkeit, so kann man nach Hegel ebensogut dafür auf Erfahrung und Wirklichkeit verweisen, daß es überhaupt keinen Zwang gebe und noch nie ein Mensch gezwungen worden sei: Denn wo immer die Existenz von Zwang gezeigt werden soll, da macht sich Hegel anheischig, die Erscheinung des Zwanges als Äußerung der Freiheit aufzuweisen. Denn dadurch, daß jede äußere Erscheinung in die Vorstellung aufgenommen und damit durch das Innere und Ideelle bestimmt wird, ist das Subjekt ihr 1 2

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Naturrecht, S. 371. a. a. O. S. 397 ff.

gegenüber frei 1 — so subjektivistisch-psychologistisch, um nicht zu sagen solipsistisch, argumentiert hier der Philosoph des „objektiven Geistes"! Weiter: Auch dem psychologischen Zwang gegenüber bleibt der Gedanke schlechthin frei. Die Möglichkeit, die Vorstellung, die als Zwang dienen soll, aufzuheben, ist absolut. Denn es ist stets möglich, den Verlust, den die Strafe androht, freiwillig auf sich zu nehmen und das hinzugeben, was das Gesetz in der Strafe entreißen will. Jede Erscheinung, und damit auch die Strafe, kann also ebensogut als Folge einer Zwangsvorstellung wie einer Freiheitsvorstellung erklärt werden 2. Zur Kritik dieser Ausführungen kann zunächst Hegel selbst angeführt werden, der in der Rechtsphilosophie3 von einer entsprechenden Unterscheidung sagt, diese könne nur ,,ein ideeloser sophistischer Verstand machen"! Der Freiheitsbegriff, den Hegel hier entwickelt, ist ebenso abstrakt-logisch richtig wie konkret-wirklich falsch. Jede Hinrichtung eines Verbrechers könnte seinem Willen entsprechen und so seine freie Tat sein — und doch ist sie gerade als „Hinrichtung" stets seinem Willen angetaner Zwang! In diesem Aufsatz wendet schließlich Hegel dieselbe Methode auf die Tat des Verbrechers an. Insofern das Verbrechen etwas Bestimmtes, Sinnliches, Verursachtes erstrebt, rührt es von einem sinnlichen Reiz her und ist damit notwendig. Insoweit aber die Handlung ein allgemeines Wollen ist und von der sinnlichen Triebfeder zu abstrahieren vermag, erscheint sie als frei. Beide Ansichten — also sowohl die deterministische wie die indeterministische — scheinen jedoch Hegel im Grunde dasselbe, nämlich die Zufälligkeit des Willens und die Freiheit der Willkür zu besagen. Beide sind daher nur relativ wahr 4 . Aus diesem Ansatz entwickelt er später seine Lehre von dem dialektischen Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit des Willens weiter. Für ihn ist 1

a. a. O. S. 400 f. a. a. O. S. 401. 3 § 48, S. 56. 4 Naturrecht, S. 403; vgl. auch Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung (1927), S. 47 ff. 2

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F l e c h t h e i m : Die Hegeleche Strafreohtstheorie.

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der Gegensatz zum äußeren Zwang die bewußte Selbstgesetzlichkeit, die erkannte innere Notwendigkeit, die vernünftige Selbstbestimmung: Das ist die wahre Freiheit 1 ! Heute kann man das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit beim menschlichen Willen exakter folgendermaßen skizzieren : Da der Mensch als homo sapiens der Natur angehört, so ist auch seine Psyche einschließlich seines Willens der allgemeinen Naturgesetzlichkeit, insbesondere der biologischen, unterworfen. Insoweit er aber als zoon politikon über die Natur hinaus in die Sphäre der Geschichte und Gesellschaft ragt, kommt in dem Maße, in dem er als Persönlichkeit, als „Ich", als Selbstbewußtsein die Determinanten seines Willens zu erkennen und zu bestimmen vermag, zu der naturprozeßlichen Zwangsläufigkeit seiner Willensbestimmung ein Moment geschichtsprozeßlicher Freiheit hinzu. Der Wille des Menschen wird sowohl von unbewußten wie von bewußten Faktoren determiniert. Zugleich wirkt aber auch der Mensch selber als einheitliche und identische Ganzheit durch seinen Willen auf jene Faktoren zurück. So wird zwar der Wille von fremden Ursachen bestimmt — gleichzeitig gewinnt er aber auch die Möglichkeit der Selbstbestimmung. Dennoch darf man nicht an Stelle des Individuums mit seinen wirklichen Beweggründen und seinen konkreten Schwierigkeiten die Abstraktion des freien Willens setzen. Denn das hieße den ganzen Menschen durch eine seiner vielen menschlichen Eigenschaften ersetzen!

4. Kapitel

DIE JENENSER REALPHILOSOPHIE (GEISTESPHILOSOPHIE) Ein vollständiges Rechtssystem skizziert Hegel erstmalig in den Manuskripten zu den Vorlesungen, die er 1805/06 in 1

Vgl. Binder, Die Freiheit als Recht (In: Verhandlungen des ersten Hegelkongresses, 1931), S. 153 f.

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Jena gehalten hat und die erst kürzlich als ,,Jenenser Realphilosophie (Natur- und Geistesphilosophie) I I " veröffentlicht worden sind. Der zweite Teil, die Geistesphilosophie dieses Werkes, das schon in den Grundzügen sowohl die Phänomenologie wie die Enzyklopädie vorwegnimmt, stellt zunächst den subjektiven Geist als Intelligenz und Wille dar, um dann die Welt des Rechts unter dem Motto „Wirklicher Geist" in den Kapiteln „Das Anerkanntsein", „Der Vertrag", „Verbrechen und Strafe", „Das gewalthabende Gesetz" zu schildern. Wie später in der „Rechtsphilosophie" baut Hegel auch hier das objektive Recht auf dem subjektiven, die Rechtsordnung auf der Rechtsperson auf. Aber sowohl das subjektive Recht wie die einzelne Person sind für Hegel ihrerseits durchaus o b j e k t i v e Größen. Im Gegensatz zum älteren individualistischen Naturrecht knüpft der Philosoph des objektiven Geistes an Montesquieus Vorstellung von der menschlichen Vernunft als „loi invariable et règle constante", an Rousseaus Begriff der „volonté générale" im Gegensatz zur „volonté de tous" und an Kants Idee der rechtlich-gesetzgebenden Vernunft des homo noumenon an 1 . Hegel sieht in der Person, ihrem rechtlich-relevanten Willen und subjektiven Recht nur einen Knotenpunkt im Netz des objektiven und allgemeinen Vernunftwillens. Das objektive Recht, die allgemeine Rechtsordnung, das ganze Rechtssystem ergibt sich nun so, daß die Personen sich gegenseitig als solche anerkennen. ,jDies Anerkennen ist das (objektive) Recht 2 ." Denn der rechtliche Wille ist ja identisch mit dem allgemeinen Willen, und dieser „ist das Anerkanntsein" 8, „diese geistige Wirklichkeit" 4 . Im einzelnen gewinnt Hegel seine juristischen Kategorien so, daß er vom konkreten Individuum des subjektiven 1

Vgl. Lewkowitz, Die klassische Rechts- und Staatsphilosophie Montesquieu bis Hegel (1914), insbes. S. 1 ff., 25 ff. und S. 43 ff. und Seeger, S. 15 f. 2 Realphilosophie I I (ed. Hoffmeister, 1931), S. 206. 8 a. a. O. S. 212. 4 a. a. O. S. 213. 4*

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Geistes zur abstrakten Person, vom ökonomischen Tausch zum juristischen Vertrag übergeht. Das Verbrechen leitet er als Reaktion auf die zwangsweise Vertragserfüllung ab, um es schließlich in die Strafe umschlagen zu lassen. Im besonderen verfährt Hegel so, daß er an Stelle des Tausches von realen Sachen einen Wechsel von Willenserklärungen treten läßt, einen „ideellen Tausch", der auf der gegenseitigen Anerkennung und Willensübereinstimmung beruht und von ihr abhängig ist 1 . Das hat zur Folge, daß der Wille als solcher Gültigkeit hat ohne Rücksicht auf die Vorgänge in der Wirklichkeit. Und hierin liegt schon die Möglichkeit des Vertragsbruchs beschlossen. Der Einzelwille kann sich nämlich vom gemeinsamen, d. h. allgemeinen Willen lostrennen 2. Der Vertrag wird von dem einen Partner gebrochen. Da der Vertragsbrüchige sich aber dem gemeinsamen Willen widersetzt hat und dieser das wirkliche Dasein verkörpert, so respektiert der Gegner den Vertragsbrüchigen nicht, sondern behauptet zwangsweise den gemeinsamen Willen gegen ihn. Er ,,wird gezwungen, Person zu sein" 3 . Zwar richtet sich der Zwang nicht gegen die Person, vielmehr nur gegen sein bestimmtes Dasein. Da jedoch das Personsein und das Dasein unzertrennlich sind, so ergreift der Zwang ihn doch auch wieder als Person. Nicht seine Besonderheit allein wird gezwungen, sondern sein ganzes Ich 4 . Darum fühlt er sich aber in seiner Ehre gekränkt und beleidigt, und zwar gerade als Person und Ich. Er tritt nun seinerseits gegen den Vertragspartner als eine Person und als allgemeinen Willen auf, da dieser ihn ja auch zuvor als Person verletzt hat. Er rächt sich an ihm als einem vernünftigen Willen, einer denkenden Intelligenz, einem allgemein Anerkannten 5. Hier sieht Hegel auch den wirklichen Grund des Verbrechens 6: „Die innere 1 2 3 4 5 β

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a. a. O. ebenda. a. a. O. a. a. O. a. a. O. a. a. O.

S. 218. S. 220. S. 220 f. S. 222 f. S. 224.

Quelle des Verbrechens ist der" (dem Verbrecher vorher bei der Vertragserfüllung angetane) „Zwang des Rechts; Not und so fort sind äußerliche Ursachen, die dem tierischen Bedürfnisse (an)gehören." Hegel zufolge will in Wahrheit der Täter seinen Einzelwillen der allgemeinen Macht, dem Gelten, dem Anerkanntsein entgegensetzen. Der besondere Wille des Verbrechens will sich als allgemeine Macht gegen die Rechtsordnung erheben1. Er ist eine Art Herostrat — will er doch zwar nicht sosehr berühmt sein, wohl aber seinen Willen dem allgemeinen Willen zum Trotz durchgesetzt haben2. So gekünstelt diese Deduktion nun auch ist, so steckt doch auch hier in Hegels mystischer Hülle ein rationeller Kern. Die Straftat ist weder historisch noch systematisch aus der Vertragsverletzung ableitbar. Wenn sie Vertragsverletzung ist, so ist sie es immer nur zufällig, grundsätzlich ist sie gerade als Strafrechtsfigur nichts weiter als eine aus verschiedenen Gründen mit Strafe bedrohte Rechtsgutverletzung. Soweit in ihr eine Vertragsverletzung liegen würde, könnte das nur die Verletzung eines „contrat social" sein. Sollte Hegel insoweit unbewußt noch dem Einfluß der Lehre vom Staatsvertrag unterlegen sein? Richtig ahnt er aber, daß in der Rechtsordnung als einem System von Willensäußerungen und Willensverhältnissen ohne weiteres eine Diskrepanz zwischen dem konkreten Einzelwillen und dem allgemeinen Willen entstehen kann und daß dann gerade im primitiven Recht die Durchsetzung des ursprünglich gemeinsamen Willens nur vermöge der Gewalt des Gegners erfolgen kann. Bekanntlich ist ja historisch die Staatsstrafe aus der Racheübung der verletzten Gruppe entstanden3. Bei Gelegenheit des Versuchs, das Verbrechen dialektischspekulativ aus dem Vertrage abzuleiten, macht Hegel das 1

Lasson, Einleitung zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (3. Aufl., 1930), S. LII. 2 Realphilosophie I I , S. 224. 3 Vgl. V. Hentig, Die Strafe (1932), S. 28 ff.

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bemerkenswerte Geständnis, daß es unbestimmt ist, wo bei der Vertragsverletzung eigentlich die Betrügerei anfängt, die als Gewalt zu bestrafen ist 1 . Im einzelnen sei schwer zu sagen, wo die „Nichtgewalt" aufhöre und wo die „Gewalt" beginne2. Für Hegel bleibt die letzte Abgrenzung zwischen der unerlaubten Handlung des bürgerlichen Rechts und dem Delikt des Strafrechts eine unlösbare Aufgabe, da er den historisch-sozialen Charakter jener Unterscheidung nicht sieht3, sie vielmehr mittels abstrakter Spekulation deduzieren will. Gerade hierin ist Hegels Straf rechtslehre ein Kind ihrer Zeit und der in dieser herrschenden Ideen. Noch mehr als in bezug auf die Methode ist sie das in bezug auf ihren Inhalt. Am stärksten kommt so diese Abhängigkeit von dem damals in Deutschland bestehenden Rechtssystem, das die Forderung der Französischen Revolution nach absoluter Rechtsgleichheit noch nicht verwirklicht hat, in dem von Hegel in der Realphilosophie versuchten Nachweis zum Ausdruck, es müsse für die verschiedenen Stände verschiedene Strafen geben. „Die formale steife Gleichheit. . . schont nicht den Charakter." Dieselbe Strafe trifft den Angehörigen des höheren Stands schwerer als den des niederen. Daher muß ihm auch in seiner Strafe sein Stand erhalten werden. So schreibt Hegel ganz naiv und offen: „Höhere Stände kommen auf die Festung statt ins Zuchthaus unter die anderen Verbrecher der anderen Stände4." Hat Hegel im „System der Sittlichkeit" einzelne Verbrechenstatbestände deduktiv gewinnen wollen, so begnügt er sich jetzt damit, einzelne besonders wichtig erscheinende Delikte in ihren Wesenszügen herauszuarbeiten: So schildert er kurz den Mord, den Raub, den Diebstahl und die Beleidigung. Diese letztere vergleicht er mit dem Prädikat im 1

Realphilosophie II, S. 241. a. a. O. S. 240. 8 Vgl. Loening, Uber geschichtliche und ungeschichtliche Behandlung des Deutschen Straf rechte (In: Zeitschr. f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft, 3. Bd., 1883), S. 227 f. 4 Realphilosophie I I , S. 258 f. 8

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logischen Urteil: ζ. Β. der Baum ist grün. Auch die Verbalinjurie sagt vom Beleidigten nicht eine bestimmte Tatsache, sondern ein allgemeines Sein aus. Sie hebt ihn also als Allgemeines und als Person auf und vernichtet ihn so. Die Realinjurie — unter diesem Namen faßt Hegel die anderen Vergehen zusammen — hebt den Verletzten als Willen auf. Hegel führt nun die schon im „System der Sittlichkeit" angedeutete Erkenntnis, das allgemeine Recht werde stets nur in einem bestimmten Rechte bzw. Rechtsgut verletzt, weiter aus. So greifen der Diebstahl und der Raub nicht sosehr den absoluten, als vielmehr den auf Bestimmtes gerichteten Willen, also nicht den Willen als reines Sein, als Leben, sondern in seinem besonderen Dasein als Eigentum, Sache usw. an. Folglich kann die Rückwirkung auch nicht absolut sein: keine Todesstrafe, sondern eine Strafe, die nur das besondere Sein des Täters trifft wie die Freiheits- oder Prügelstrafe. Aber da auch der besondere Wille zugleich reiner Wille ist, haben der Dieb und der Räuber im besonderen Willen auch den reinen Willen verletzt und damit „die öffentliche Sicherheit zu sehr kompromittiert". „Es kann also auch die Todesstrafe zuerkannt werden 1!" Hier ist einer der seltenen Fälle, in denen selbst die sonst so kühne Hegeische Spekulation bei dem Versuch, letzte Konkretheiten zu deduzieren, unsicher wird, sich ganz offen widerspricht und in keiner Weise zu helfen weiß. So bleibt Hegel schließlich nichts anderes übrig, als resigniert festzustellen, daß zufällige Umstände, Grade des Verbrechens und vielerlei ungefähre Bestimmungen bei der Straffestsetzung mitsprechen 2. Es wäre dem Geiste der Hegeischen Rechtslehre wohl angemessener, wenn er in der Verletzung des besonderen Willens lediglich ziviles Unrecht und nur in der des allgemeinen reinen Willens kriminelles Unrecht als Verletzung der „öffentlichen Sicherheit", d. h. des objektiven Rechts sähe. Es ergäbe sich alsdann als Rechtsfolge 1 1

a. a. O. S. 241. a. a. O. S. 223.

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des bürgerlichen Unrechts privatrechtlicher Schadensersatz; für den Verstoß gegen das objektive Recht genügte eine relative Strafe, und die Zuflucht zur Todesstrafe als „absoluter" bliebe Hegel erspart. Bei den einzelnen Delikten hebt Hegel beim Diebstahl hervor, daß bei ihm der Wille in seinem bewußtlosen Dasein angegriffen und sein Sein überhaupt nicht geachtet, beim Raub hingegen dem daseienden Willen und seinem Wesen offen zuwidergehandelt wird. Der Diebstahl erscheint ihm darum niederträchtiger, der Raub verletzender 1. Das eigentlich Böse aber ist der Mord, der die größte Verletzung darstellt, aber, wenn er offen geschieht, am wenigsten niederträchtig ist 2 . Als niederträchtig sieht Hegel die Tat an, die das Tageslicht scheut und sich listig verbirgt 8 . Bei einer solchen ist das Geständnis des Verbrechers zu einer Verurteilung erforderlich 4. Zur Rechtfertigung der Strafe führt Hegel nicht viel Neues und Wesentliches an. Das Verbrechen erregt die Tätigkeit des allgemeinen Willens, die selbst eine allgemeine ist. Das aber bedeutet für Hegel das Aufheben des verbrecherischen Einzelnen. „Strafe ist dieses Umschlagen; sie ist Wiedervergeltung . . . des allgemeinen Willens." Ihr Wesen ist weder Abschreckung der anderen noch Besserung des Verbrechers, sondern „Rache, aber als Gerechtigkeit". Sie hat das allgemeine Anerkanntsein ( = Recht!), das an sich immer ist und vom Verbrecher nur äußerlich verletzt worden ist, wieder herzustellen 6; sie zwingt zum „Anschauen des Gesetzes als der absoluten Macht" 6 . Die alten Frankfurter Vorstellungen, daß der Täter im Verletzten sich selbst getroffen 1 Hier zeigt sich der Einfluß Kants, der die Delikte in die der niederträchtigen Gemütsart (indolis abiectae) und in die der gewalttätigen (indoli sviolentae) einteilt (Metaphysik der Sitten [ed. Vorländer, 3. Aufl., 1919], S. 158). 2 Realphilosophie II, S. 223. 3 a. a. O. S. 223 f. 4 a. a. O. S. 241. 5 a. a. O. S. 224. • a. a. O. S. 225.

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hat 1 und daß ihm das gleiche geschieht, was er selbst getan hat, kehren wieder. Neu und zweckdienlich ist hingegen die strenge Unterscheidung von Rache und Gerechtigkeit: bei jener übt der Einzelne die Vergeltung aus, bei dieser die Allgemeinheit2. Wie schon im „System der Sittlichkeit" behandelt Hegel auch jetzt das Straf recht zweimal. Im Abschnitt „Das gewalthabende Gesetz"3 beschreibt er wiederum neben der bürgerlichen auch die peinliche Rechtspflege. Sie erscheint als eine Funktion des Gemeinwesens, des lebendigen Volkes — und das heißt letztlich hier schon des Staates4. Die Strafjustiz ist die Gewalt des Gesetzes über das Leben des Einzelnen, denn das Gesetz ist ja als rein allgemeiner Wille, in dem alles besondere Sein und Leben verschwindet, absolute Macht über dieses. Das Strafgesetz ist ebenso wie die Begnadigung Befreiung vom Verbrechen, Meister über das Böse wie das reine Leben: „Die Tat ist . . ., als ob sie nicht geschehen wäre 6 ." Die Macht, die Hegel einst nur der das Schicksal versöhnenden Liebe zugestanden hat, überträgt er hier auf Gesetz und Staat. Jetzt soll auch für das Recht die einzelne Tat ein Tropfen sein, der vom Allgemeinen absorbiert wird®. „Ein Totschlag, was macht es dem Ganzen7?" Die Strafe ist nunmehr die Versöhnung des Gesetzes mit sich selbst. Sie ist „nichts absolut Schändendes". Wer seine Strafe ausgestanden hat, hat keinen Vorwurf mehr zu fürchten und kehrt sogar in seinen alten Stand zurück 8. Hier spricht schon nicht mehr der mystische Theologe, sondern bereits der künftige „preußische Staatsphilosoph"! 1

a. a. O. a. a. O. * a. a. O. 4 a. a. O. 5 a. a. O. • a. a. O. 7 a. a. O. 8 a. a. O. 2

S. 240. S. 224. S. 225 ff. S. 237; vgl. auch Rosenzweig, I, S. 182. S. 237. S. 241. S. 242. S. 258 f.

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5. Kapitel

DIE PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES Gegenüber dieser Aktualisierung von Unrecht und Strafe in der ,,Realphilosophie" spiegelt deren Deutung in der „Phänomenologie des Geistes" getreulich jene Welt der klassischen Antike wieder, die einst den jungen Hegel so stark beeinflußt hat. Das ist kein Rückschritt, vielmehr aus dem Gesamtcharakter jenes eigenartigsten Werkes aller bisherigen Philosophie erklärbar. In ihm zeichnet Hegel alle Stufen nach, die der Geist durchläuft, um vom unmittelbaren Bewußtsein zum absoluten Wissen, vom gesunden Menschenverstand zum spekulativen Denken zu gelangen1. Wie dem Bewußtsein auf jeder Stufe sein Gegenstand in neuer Gestalt erscheint, so dem still zuschauenden Philosophen das Bewußtsein selbst und dessen Betrachtungsweise. Erstmals in der ganzen Philosophiegeschichte hat sich hier ein Philosoph die Aufgabe gestellt, den Prozeß der Selbstentfremdung des Menschen und ihrer Aufhebung als Ergebnis der eigenen Arbeit des Menschen darzustellen. Die Bedeutsamkeit dieser Fragestellung wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß Hegel ja, indem er den Menschen nur als Geist, die Entäußerung als Vergegenständlichung, ihre Aufhebung als Entgegenständlichung und die Arbeit lediglich als Denkarbeit faßt, nur zu einer abstrakt-mystifizierenden Antwort gelangt und so die Selbstentfremdung des Menschen in der konkreten Wirklichkeit bestehen läßt und sogar noch philosophisch verklärt. So sind in der „Phänomenologie" „psychologisch-personale4 4 und ,, makrokosmisch-soziale *4 Erscheinungen dicht nebeneinander gestellt2. Stellt sie doch den ersten Versuch einer Synthese geschichtlich-gesellschaftlicher und logisch-systematischer Erkenntniskritik dar. Unter ihren Gestalten erscheint der Rechtsbrecher nur einmal, und zwar unter der Maske des schuldlos-schuldigen 1 2

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Vgl. Hartmann, S. 79, und Fischer, I, S. 230 und S. 294 ff. Hartmann, Realdial., S. 4.

Helden der griechischen Tragödie 1. Empfängt der Schuldbegriff der Theologischen Jugendschriften seine Prägung von den „Eumeniden" des Aischylos, so der der Phänomenologie von der „Antigone" des Sophokles, die Hegel stets als die größte und tiefste Tragödie aller Zeiten erschienen ist. Kämpften in den „Eumeniden" um den einen Frevler Orestes zwei Mächte, die Erinnyen und Apollo, so laden in der „Antigone" diese Mächte selbst, die göttliche Familie und das menschliche Volk — jene in Antigone, diese in Kreon verkörpert — Schuld auf sich. Das Schicksal straft sie, damit sie ihre Schuld erkennen: denn nur „weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt" 2 . Und da sie schließlich beide im gleichen Unrecht sind, so ist „erst in der gleichen Unterwerfung beider Seiten das absolute Recht vollbracht und die sittliche Substanz als die negative Macht, welche beide Seiten verschlingt, oder das allmächtige und gerechte Schicksal aufgetreten" 8. Diese Versöhnung des Gegensatzes mit sich selbst im Tode und in der Vergessenheit nennt Hegel die „Lethe der Unterwelt" 4 . Sie vermag das Verbrechen vollkommen zu löschen, da es ebenso wie der Tod des Individuums in der hellenischen Polis nur ein Moment in der ungebrochenen Totalität ihres Lebens zu sein scheint. In der modernen Welt, deren Rechtssystem sich Hegel nunmehr von neuem zuwendet, ist es als der Schandfleck, in dem sich alle Widersprüche der Entfremdung wie in einem Brennspiegel sammeln, unaustilgbar. 6. Kapitel

DIE RECHTSLEHRE DER PHILOSOPHISCHEN PROPÄDEUTIK Als ein wichtiger Durchgangspunkt auf dem Wege zur endgültigen Formulierung von Hegels Rechtstheorie in der Enzy1 2 8 4

Vgl. auch Berolzheimer, S. 60 ff. Phänomenologie, S. 306. a. a. O. S. 307. a. a. O. S. 475 f.

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klopädie und den Grundlinien der Rechtsphilosophie kann die „Rechtslehre", die er in Nürnberg auf dem Gymnasium vorgetragen hat und die von Rosenkranz als ein Teil der Philosophischen Propädeutik herausgegeben worden ist, nicht umgangen werden. Hier, da Hegel zu Schülern spricht, bringt er es zu einer sonst selten erreichten klassischen Bündigkeit und Klarheit der Darstellungsweise, ohne doch dabei die Tiefe des Gedankens und die Weite der Fragestellung zu beeinträchtigen. Hegel beginnt die propädeutische Rechtslehre mit der jetzt schon nicht mehr neuen Feststellung, es müsse das Recht an sich und weiter sein Bestehen in der Staatsgesellschaft unterschieden werden 1. Im zweiten Kapitel stellt er auch dementsprechend zunächst fest, der Rechtsbegriff als vom Einzelnen unabhängige Macht habe nur in der Staatsgesellschaft Wirklichkeit 2 . Hierauf folgt jedoch nur eine reine Staatslehre, in der zwar das Verhältnis von Recht und Staat angedeutet, die Wandlung, infolge der das ,,Recht an sich" zum staatlichen Recht wird, dagegen nicht aufgezeigt wird. Nur daß das ungeschriebene Recht im Staate zum geschriebenen Gesetz als dem abstrakten Ausdruck des allgemeinen an und für sich seienden Willens wird, läßt sich aus dem § 26 3 schlußfolgern. Im übrigen nimmt Hegel an, daß die Grundlinien des Privat- und Strafrechts, wie er sie als ,,Recht an sich" im ersten Kapitel entwirft, sich in jeder Staatsgesellschaft unverändert wiederfinden. Wie schon in der Jenenser Realphilosophie ist das Recht auch jetzt wieder nur der auf das Subjekt bezogene Ausdruck des objektiven, allgemeinen, vernünftigen Willens. Hegel definiert: ,,Das Recht ist das Verhältnis der Menschen, insofern sie abstrakte Personen sind 4 ." Person aber ist der Mensch als ein freies Wesen6, das kraft seiner Vernunft eine ,,gei1 Philosophische Propädentik (In: Werke, 18. Bd., ed. Rosenkranz, 1840), § 1, S. 33. 2 a. a. O. § 22, S. 47. 3 a. a. O. S. 49. 4 a. a. O. Enc. § 182, S. 195. 5 a. a. O. Erl. zu § 3, S. 33.

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stige Natur" ist, und als Träger des allgemeinen Willens, der von der inneren Absicht und Überzeugung des Einzelnen und von seinen besonderen Zuständen und Eigenheiten abstrahiert 1 . „Hierin sind sie (die Menschen) dasselbe2." Jeder Einzelne muß somit den anderen als ein freies Wesen respektieren und behandeln, denn indem der freie Wille im anderen auch nur den freien Willen achtet, anerkennt er sich selbst auch im anderen. Daraus folgt das allgemeine Rechtsgebot, das Hegel im Unterschied zu Kant positiv formuliert: „Es soll jeder von dem anderen als Person behandelt werden 3." Aus ihm ergibt sich, daß kein Mensch gezwungen werden kann, es sei denn dazu, den anderen angetanen Zwang aufzuheben, und daß alles erlaubt — darum aber noch nicht geboten — ist, was die Freiheit der anderen nicht beschränkt 4. Man sieht, wie Hegel jetzt — seit 1808 in dem nach den napoleonischen Prinzipien regierten Bayern — nicht mehr auf dem Boden des Ständerechts des ancien régime steht, sondern schon ganz auf den Ideen der Französischen Revolution von der Rechtsgleichheit und Personenfreiheit aufbaut. Mit seiner Unterscheidung von Recht und Pflicht kommt er allerdings noch nicht über die aus derselben historischen Situation entspringende Rechtslehre Kants hinaus, die zu überwinden ihm erst in seiner Philosophie der Sittlichkeit gelingen wird. Und im Geiste jener führt er weiter aus, daß das Recht eigentlich nur Verbote und nicht Gebote enthält. Der allgemeine Rechtsgrundsatz, von dem die anderen nur besondere Anwendungen sind, verlangt die Unterlassung der Verletzung von fremdem Eigentum. Wenn das Recht als positives Gebot ausgesprochen wird, so ist das nur eine Sache des Ausdrucks, inhaltlich liegt dem stets ein Verbot zugrunde 5. Im weiteren Verlaufe seiner Ausführungen gelangt Hegel 1 2 3 4 δ

a. a. O. Erl. zu § 3, S. 33 f. ebenda S. 34. a. a. O. § 4, S. 34. a. a. O. § 7, S. 35. a. a. Ο. Erl. zu § 7, S. 36.

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über die Kategorien Besitz, Eigentum und Vertrag zu den Begriffen Delikt, Rache und Strafe. Widerrechtlich ist die Handlung, welche die Freiheit eines anderen beschränkt oder ihn nicht als freien Willen anerkennt 1. Daß eine solche widerrechtliche Handlung überhaupt existieren kann, rührt daher, daß das Recht nicht denselben Charakter der Notwendigkeit besitzt wie die physische Natur. Eine Übertretung eines Rechtsgebots ist möglich, denn ,,der Geist kann wegen seiner Freiheit gegen die Gesetze handeln" a . Hegel unterscheidet nun wieder zwischen Zivil- und Kriminalunrecht, je nachdem, ob das Recht überhaupt respektiert, der Gegner als Person anerkannt und nur ein besonderes Recht oder eine besondere Sache in Anspruch genommen wird oder ob das Rechtssystem — das Recht qua Recht, wie Hegel sich ausdrückt — verletzt und damit der Gegner als Person negiert wird. Im ersten Falle beansprucht der Täter etwas aus dem Grunde, weil er das Recht dazu hat oder wenigstens zu haben glaubt; im zweiten will er die Rechtspersönlichkeit des Gegners verletzen. Hegel vergleicht das Zivildelikt mit dem negativen Urteil in der Logik, ζ. B. dieser Ofen ist nicht grün, das Kriminaldelikt mit dem unendlichen Urteil, ζ. B. dieser Ofen ist kein Walfisch. Ein solches Urteil sei zwar widersinnig, aber doch logisch richtig. Ebenso soll das Verbrechen eine Möglichkeit sein, die auch geschieht, aber zugleich etwas Widersinniges, sich Widersprechendes an sich hat 8 . Beim Zivilunrecht kommt es zu einem bürgerlichen Rechtsstreit, in dem das objektive Recht von beiden Seiten anerkannt bleibt. Die Eigenart des Kriminalunrechts hingegen sieht Hegel wie schon früher in der Gewalttätigkeit. So wird die persönliche äußere Bewegungsfreiheit vernichtet durch Gefangenhaltung oder Versklavung. Ferner kann das Eigentum beeinträchtigt werden. Schwerwiegender noch ist die Verletzung von Leib oder Leben. Denn wenn Leib und Leben zwar auch etwas Äußerliches sind, so wird in ihnen doch die 1

a. a. O. § 6, S. 35. • a. a. O. Erl. zu § 17, S. 43. 8 a. a. O. Erl. zu § 17, S. 43 f.

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Persönlichkeit stärker getroffen 1. Ähnlich wie im Naturrechtsaufsatz betont Hegel jedoch auch hier wieder, daß es nur relativen und keinen absoluten Zwang gibt 2 . Zur Begründung der Strafe führt er an, daß es nicht genügt, den unrechtmäßigen Zwang aufzuheben. Vielmehr muß seine innere Nichtigkeit auf positive Art und Weise geoffenbart werden. Dazu dient die Wiedervergeltung, die „darin besteht, daß das Unrechte sich in das Rechte verkehren muß". Das Verbrechen als solches ist zwar eine unvernünftige Handlung, der Verbrecher dagegen ist ein vernünftiges Wesen. Dieser Gedanke, der hier erstmals auftaucht, wird erst in der Rechtsphilosophie näher begründet werden. Da die Tat von einem vernünftigen Wesen herrührt, so ist sie zwar nicht ihrem Gehalte, wohl aber der Form nach selbst etwas Vernünftiges und Allgemeines. Ihre Allgemeinheit gibt ihr den Charakter eines Grundsatzes oder Gesetzes. Dieses Gesetz stellt der Täter durch seine Handlung auf und erkennt es in ihr auch für sich selber an. Da aber nur er selber, nicht die anderen es anerkannt haben, so gilt es lediglich für ihn allein. Er muß daher selbst unter den von ihm aufgestellten Grundsatz subsumiert werden. Dadurch wird die durch den Verbrecher verletzte Gleichheit wieder hergestellt. „Das Unrecht, das er ausgeübt hat, an ihm vollführt, ist Recht." Schließlich taucht die scharfe Scheidung von Rache und Strafe wieder auf. Da bei jener die Leidenschaft Einfluß hat und das Recht trübt, so muß die Wiedervergeltung als Strafe von einem unparteiischen Dritten, dem Richter, der nur das Allgemeininteresse geltend macht, ausgehen3. So glaubt Hegel, das jus talionis begründet zu haben. Daß ihm das in Wahrheit nicht gelungen ist, soll erst bei der Behandlung des letzten Werkes näher ausgeführt werden, da alle Gedankengänge der Propädeutik dort ausführlicher wiederkehren. 1 2 3

a. a. O. Erl. zu § 19, S. 45. a. a. O. Erl. zu § 6, S. 35. a. a. O. § 21 und Erl. S. 46 f.

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2. Abschnitt Die Straftheorie der „Grundlinien der Philosophie des Rechts" 1. Kapitel

RECHT UND FREIHEIT Während die Darstellung der eigentlichen Rechtslehre in der Enzyklopädie knapp in nur 14 Paragraphen (§§ 488—502) zusammengedrängt ist, findet sie die ausführlichste Erörterung in den 1821 erschienenen „Grundlinien der Philosophie des Rechts" oder „Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß", auf die Hegel daher auch in der Enzyklopädie verweist. Zum Abschluß seines Lebens stellt hier der Begründer der Lehre vom „objektiven Geiste" noch einmal die gesellschaftlich-geschichtlichen Gebilde: das abstrakte Recht, die Moralität, die Familie, die bürgerliche Gesellschaft, den Staat und schließlich die Weltgeschichte der vier Reiche als Systeme der Freiheit heraus. So erschöpft sich das Werk „Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse" nicht in einer Theorie des „juristischen Rechts" und des „politischen Staats", will vielmehr weit darüber hinausgreifend zugleich eine metaphysische Interpretation des Rechts, der Moral, der Familie, der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Staats und der Geschichte geben. Hier muß nun versucht werden, das besondere Verhältnis herauszuarbeiten, in dem die Lehre vom „beschränkten juristischen Recht" 1 zu jener allgemeinen Metaphysik der Freiheit und des Geistes steht. Zunächst sucht Hegel die Beziehungen zwischen dem, was er noch „Naturrecht" oder „philosophisches Recht" nennt, und dem geltenden positiven Rechte dialektisch zu erfassen. Wie er überall und immerdar „in dem Schein des Zeitlichen 1

Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (ed. Lasson, 2. Aufl., 1905), § 486, S. 420; vgl. zum folgenden auch insbes. Binder, S. 156 ff., und in der Einf., S. 58 ff. und S. 82 ff.

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und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen" sich bemüht, so sieht er im geschichtlichen Wandel des positiven Rechts als sich verwirklichenden Wesenskern das philosophische Recht oder ,,Recht an sich", das zugleich das gerechte Recht darstellt. Ihr Verhältnis vergleicht er darum mit dem von Pandekten zu Institutionen 1 . Und da ja nach Hegels Auffassung zusammen mit der Weltgeschichte überhaupt auch das positive Recht insbesondere in seiner Gegenwart zur Vollendung gelangt, so darf man nicht erstaunt sein, bei ihm die Grundzüge des positiven Rechts seiner Zeit als philosophisches Naturrecht sanktioniert zu sehen2! Dieses philosophische Recht ist nach des Philosophen Hegel Meinung der alleinige Gegenstand der Rechtsphilosophie. Als eine P h i l o s o p h i e des Rechts hat sie dialektisch die Idee des Rechts aus dem Begriffe des Rechts und seiner Verwirklichung zu entwickeln8 und den vollen Umfang der ganzen Rechtswirklichkeit immanent aus der im Rechtskeim noch verborgenen Vernunft der Sache durch alle Widersprüche und Gegensätze hindurch zu entfalten 4. Da ja Hegel in Verfolg seiner allgemeinen Methode auch in seiner Rechtsphilosophie die Grundsätze des positiven Rechts seiner Zeit zu den Ideen der Gerechtigkeit überhaupt verklärt, so kann er ohne Schwierigkeit die Prinzipien des herrschenden Rechtssystems als die Realisation der gerechten Naturrechtsphilosophie deduzieren6! ,,Der Boden", in dem das Recht wurzelt, ist nach Hegel ,,das Geistige"6. Seinen besonderen Ausgang nimmt das 1 Rechtsphilosophie (ed. Lasson, 3. Aufl. 1930), §3, S.21; vgl. auch Horvâth, Hegel und das Recht (In: Zeitschr. f. öffentl. Recht, Bd. X I I , 1932), S. 57 ff. 2 Vgl. Loening, S. 353 f. 8 Rechtsphilosophie, § 2, S. 18. 4 Vgl. Zus. zu § 1, S. 284 f., Rechtsphilosophie. 5 In Wahrheit ist ein Rechtssystem dann „gerecht 44, wenn es sowohl seinem Inhalt wie seiner Form nach der Gesellschaftsordnung, aus der es entsprungen ist, entspricht. Es ist „ungerecht 44, sobald es ihr widerspricht. • Rechtsphilosophie, § 4, S. 27.

5

F l e c h t h « i m : Die Hegelsohe Strafrechtstheorie.

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Recht von „dem Willen, der frei ist". Das Recht ist stets dasjenige Dasein, das Existenz des freien Willens ist 1 . Und da die Grundbestimmung des Willens Freiheit und der Wille als das nach Verwirklichung strebende Denken2 nur eine besondere Art und Weise der Vernunft, diese aber stets frei ist, so führen für Hegel von allen Seiten aus alle Elemente des Rechts immer wieder zur Freiheit. So gründet er den Begriff des Rechts unmittelbar auf den der Freiheit und der Vernunft 8 und die Freiheit erscheint ihm als die Substanz und Bestimmung des Rechts. Die Rechtsordnung ist das Reich der verwirklichten Freiheit, die vom Geiste aus ihm selbst gleichsam als eine zweite Natur hervorgebrachte geistige Welt 4 . Zugleich aber erscheint die Freiheit, da sie als Recht zu einer äußerlichen Existenz gestaltet ist, in der Form der Notwendigkeit6. Diese Aussagen vom Wesen des Rechts gelten aber nicht nur für das „juristische Recht". Man muß sich darüber klar sein, daß das „Recht" schlechthin als „Dasein der selbstbewußten Freiheit" für Hegel etwas so „Heiliges" ist 6 , daß er alle schon erwähnten Gestalten des objektiven Geistes vom „abstrakten Recht" bis zur Weltgeschichte als Entwicklungsstufen des Rechts interpretiert 7. Ist doch für Hegel die Welt des objektiven Geistes jener Bereich, in dem der Geist als Vernunftwille des Menschen und der menschlichen Gemeinschaften die Natur unterwirft und sich aneignet und nun aus dem Rohmaterial der Naturnotwendigkeit in freier Selbstbestimmung eine neue höhere, innere Notwendigkeit — das Kulturreich — gestaltet. Da es so ein Produkt des sich selbst bestimmenden Geistes ist, so 1

a. a. O. § 29, S. 42. a. a. O. Zus. zu § 4, S. 286. 3 a. a. O. § 4, S. 27. 4 Vgl. Warnkönig, Rechtsphilosophie als Naturlehre des Rechts (1839), S. 153 f. 5 Zoepfl, Grundriß zu Vorlesungen über Rechtsphilosophie (Naturrecht) (1878), S. 24; vgl. auch S. 25 f. β Rechtsph., § 30, S. 43; vgl. auch Larenz, Hegel und das Privatrecht (In: Verhandlungen des 2. Hegelkongresses, 1932), S. 136 f. 7 Vgl. Horvâth, S. 53, 68 und S. 88 f. 2

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muß es ein Reich der Freiheit sein1. Diese Welt der Freiheit läßt nun Hegel in stufenförmiger Schichtung aufsteigen. Jede höhere Stufe ist gegenüber der niederen eine reichere Gestaltung der Freiheit, bis schließlich die Verwirklichung der höchsten Gemeinschaft die Vollendung der Freiheit bringt. Das Recht des Staats ist höher als das der vorhergehenden Entwicklungsstufen, das höchste aber ist das des Weltgeistes2. Wo immer aber sich Freiheit realisiert, dort herrscht für Hegel Recht. Das Reich der Freiheit ist die Herrschaft des Rechts. Jede Entwicklungsstufe hat ihr Recht: „Die Moralität, die Sittlichkeit, das Staatsinteresse ist jedes ein eigentümliches Recht, weil jede dieser Gestaltungen Bestimmung und Dasein der Freiheit ist 8 ." Hegels Auffassung des Rechts als eines Freiheitsbereiches steht im schärfsten Gegensatz zur üblichen Begriffsbestimmung des Rechts als einer Zwangsordnung. Definiert doch schon Kant: „Das strikte Recht kann als die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges vorgestellt werden 4." Und auch für Fichte ist die Rechtsordnung als Mittel zur Herbeiführung eines sittlichen und freien Vernunftstaats Zwangsordnung. Kant und Fichte gegenüber stellt Hegels Rechtsauffassung einen Fortschritt dar, obwohl sie ihrerseits das Moment, das jene nicht berücksichtigt haben, verabsolutiert. Das Recht hat nämlich zwei Seiten. Es ist weder reiner Machtzwang noch unbedingte Freiheit. Im Gegensatz zu anderen Normen, ethischen, technischen, sozialen usw., enthält es ein Mindestmaß, im Gegensatz zur reinen Macht aber auch ein Höchstmaß an Zwangsgewalt. Innerhalb dieser quantitativen Grenzen muß es sich halten, wenn es nicht qualitativ in seine Grenzbegriffe — Freiheit und Zwang — umschlagen will. Auf der Macht ruht das Recht auf und hat doch ein Element der Freiheit! 1 8 8 4

Vgl. Encyclopädie, § 484, S. 419. Rechtsphilosophie, Zus. zu § 33, S. 296, und § 33, S. 46. a. a. O. § 30, S. 43. Metaphysik der Sitten, S. 36.

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Es kann nicht, wie Hegel glauben machen will, den Zwang von Mensch zu Mensch beseitigen. Es erfüllt vielmehr die Funktion, den Zwang zu vermindern („Minimisierung" 1), ihn in einer Hand, der des Staates, zu vereinigen („Monopolisierung" 2) und ihn so für dessen Zwecke besonders rationell zu gestalten („Rationalisierung" kann man diesen Vorgang nennen). Das sind die Gründe, aus denen „die Rechtsordnung die durch sie konstituierte Gemeinschaft befriedet" 3. Das Recht als eine normative Ordnung bildet eine Zwischenstufe zwischen der sozialökonomischen Grundlage und dem ideologischen Überbau der Gesellschaft. Als einem Normensystem ist ihm eine Spannung zwischen dem Sollen der rechtlichen Regelung und dem Sein des sozialen Geschehens wesentlich4. Dieser Widerstreit darf aber ein gewisses Maß nicht überschreiten, wenn nicht das Recht seine gesellschaftliche Geltung verlieren soll. Nur das, was der zur Rechtssetzung berufene Wille setzt und durchsetzt, ist Recht5. Aber nicht jedes Normativsystem ist ein Rechtssystem. Weder ein den Zwang völlig beseitigendes, noch ein nicht einen jeden Zwangsakt erfassendes Normensystem stellt eine geschlossene Rechtsordnung dar. Voraussetzung dieser ist eine derart erschöpfende Regelung der Zwangs- und Gewaltanwendung, daß sie in ihr zwar nicht ausgeschlossen, wohl aber in bestimmter Art und Weise eingeschränkt ist. Soll ein Normensystem als Rechtsordnung charakterisiert werden können, so darf es in ihm keinen vom Recht nicht erfaßten, außerhalb stehenden Zwangsakt geben, vielmehr nur einen von ihm als Unrecht gewerteten oder als Reaktion gegen Unrecht angeordneten oder zugelassenen Zwangsakt: Jeder Zwangsakt ist also entweder Funktion des Rechts selber oder Unrecht 8. Und so müssen sich auch die durch die Rechts1

Horvâth, S. 76. Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge, S. 484. 3 ebenda. 4 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 68 f. 6 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (1925), S. 34. • Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge, S. 583. 2

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normen geregelten deren Inhalt bildenden Tatbestände in der Grundform des Rechtssatzes darstellen lassen, der an einen bestimmten Tatbestand als Bedingung einen Zwangsakt als Folge knüpft, so daß die Zwangsanwendung grundsätzlich nur als Unrecht oder Unrechtsfolge im Rechtssatz erscheinen kann 1 . Die Ausweitung des Rechtsbegriffs bei Hegel ist wie stets notwendig mit einer Verarmung seines Inhalts verbunden 2. So wie er Recht und Freiheit ganz identifiziert, unterscheidet sich der Begriff Recht eigentlich kaum noch von Begriffen wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Wert. „Recht ist für Hegel einfach, was ,recht ist*, was als recht gewußt und gewollt und anerkannt wird, ,das Rechte' 3 ." Hegel selbst ist sich dessen bewußt, daß er, wenn er von dem „Recht" der Moralität, Sittlichkeit und Geschichte spricht, nicht das „Recht, das man gewöhnlich darunter versteht" 4 , meint. Hier ist der Ausdruck „Recht" nur ein Synonym für den Begriff der Macht, Einheit und Ordnung der betreffenden Erscheinung des objektiven Geistes. Erst dort, wo Hegel von der Kollision der verschiedenen Freiheitsstufen spricht 6, nähert er sich dem, was der profane Jurist unter Recht versteht und was unlöslich mit dem Widerstreit der Interessen verknüpft ist. So kommt es, daß diese Betrachtung als eine rechtstheoretische nicht ohne weiteres all das als Recht in technischem Sinne gelten lassen kann, was bei Hegel unter dem Namen des Rechts erscheint, vielmehr die spezifisch „juristischen" Momente, die bei ihm über alle Teile der Lehre vom objektiven Geiste verstreut sind, aus der Metaphysik der Freiheit herauslösen und unter den besonderen Gesichtspunkten des Strafrechts zusammenfassen muß. 1 2 3 4 s

Vgl. Kelsen, a. a. O. S. 584. Vgl. Lasson, S. X X V I I . Binder, S. 156. Rechtsphilosophie, Zus. zu § 33, S. 295. a. a. O. § 30, S. 43.

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2. Kapitel

DAS „ABSTRAKTE" ODER „FORMELLE" RECHT Der mit Hegel gemeinsame Ausgangspunkt ist dabei die Gestalt des Rechts, der er als dem „abstrakten Recht" den ersten Teil der Rechtsphilosophie ganz widmet. Das abstrakte oder formelle Recht — so nennt Hegel das „Recht an sich" aus der Propädeutik — ist der Rechtskeim, der alle Rechtsbestimmungen zunächst nur als verborgene Möglichkeit und potentielle Anlage enthält, bevor er sie zur aktuellen Totalität entfaltet. Das abstrakte Recht, dessen Zentralfigur die Einzelperson ist, stellt die unterste Stufe im großen Gebäude des objektiven Geistes und damit die erste Realisation und Manifestation des freien allgemeinen Vernunftwillens dar. Diese seine Stellung im Hegeischen Gesamtsystem läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß auch dag Individualrecht bei Hegel derselben überpersönlichen objektiven Quelle entspringt, die im weiteren Flusse die subjektive Moralität wie die objektive Sittlichkeit speist1. In Fortbildung gewisser schon bei Montesquieu und Rousseau, insbesondere aber in der Moralphilosophie Kants und Fichtes vorhandener Elemente, zugleich aber auch im Gegensatz zu der bei diesen in deren Rechtsphilosophie noch herrschenden Auffassung des freien Einzelwillens als einer zufälligen Willkör lebt bei Hegel die allgemeine Vernunft auch schon, allerdings noch verborgen, im juristischen EinzelwiHen1. So lfißt er zwar das abstrakte Recht von der Einzelperson ausgehen. Diese ist aber nur die Personifikation und Individuation jenes objektiven freien Willens, der schließlich nur sich selbst will; sie ist ein Wanderer auf der „vernünftigen Landstraße, wo jeder geht, wo niemand sich auszeichnet"3. Als erste Erscheinungsform des objektiven Geistes ist sie die erste, allerdings noch abstrakte Negation des Fürsichseins4. Das 1 1 8 4

70

Vgl. S. 51 und S. 60 dieser Arbeit. Vgl. Rosenzweig, II, S. 106 f. Rechtsphilosophie, Zus. zu § 15, S. 291. Larenz, Privatrecht, S. 138.

Grundprinzip des abstrakten Rechts ist dementsprechend nicht das Fürsichsein des Individuums, sondern die erste abstrakte Negation des Fürsichseins1. So ist das abstrakte Recht bei Hegel zwar individualistisch, aber nicht subjektivistisch. Als Erscheinungsform des objektiven Geistes ruht es sicher und fest auf dem Grunde vernünftiger Selbstbestimmung und ist weit entfernt von jeder natürlichen Willkürlichkeit. Warum kennzeichnet aber Hegel das Recht an sich als „abstraktes, formelles und beschränktes Recht" 2 ? Abstrakt ist es, „weil es nur eine Seite des ganzen Verhältnisses ist" 8 und als bloße Möglichkeit nicht die konkrete Wirklichkeit voll erfaßt 4. Formell, weil es „gegen den ganzen Umfang des Verhältnisses" 6 nur als äußere Form erscheint und gegenüber der Besonderheit des Interesses, des Wohles, der Willensmotivation usw. die Allgemeinheit des freien sich selbst wollenden Willens vertritt®. Hegel hat schon richtig gesehen, daß das Recht nur am Verhalten des Menschen, insoweit es insbesondere als Handeln und Wollen äußerlich in Erscheinung tritt 7 , Interesse nimmt, infolge der ihm wesentlichen Allgemeinheit weitgehend von der konkreten Individualität abstrahiert und so dem Inhalt immer nur die Form gibt. Da das aber die dem Recht wesentlichen Schranken sind, so nennt Hegel das Recht beschränkt, eben weil es abstrakt und formell ist. Die Erkenntnis, daß das Recht die soziale Wirklichkeit nur als „Silhouette" „abbildet" 8 , ist bei ihm schon vorweggenommen, wenn er ausführt: „Das Recht existiert nur als Zweig eines Ganzen, als sich anrankende Pflanze 1

Larenz, Privatrecht, S. 139. Rechtsphilosophie, § 30, S. 43. 3 a. a. O. Zus. zu § 37, S. 297. 4 a. a. O. Zus. zu § 37, S. 297. 5 ebenda. • a. a. O. § 37, S. 49. 7 Vgl. Marek, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie (1925), S. 113 f. 8 Marek, a. a. O. S. 121 und S. 137. 2

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eines an und für sich festen Baumes"1. Was Kant als das Wesen des Rechts überhaupt erscheint, ist aber für Hegel nur das Kennzeichen des abstrakten und formellen Rechts2. Dieses ist allerdings wie bei Kant so auch bei ihm beherrscht von dem Gegensatz von Recht und Pflicht, der erst im „Recht" der Sittlichkeit zur Aufhebung gelangt. Das abstrakte Recht gebietet keine konkreten Handlungen und gestaltet nicht selbsttätig moralische Verhältnisse. Dem positiv Berechtigten gibt es nur eine M ö g l i c h k e i t anhand, es verleiht ihm eine Erlaubnis oder Befugnis, von der er nach Belieben Gebrauch machen kann oder auch nicht. Die Notwendigkeit des Rechts richtet sich nur negativ gegen den Verpflichteten. Dieser wird nach Hegel nur einem einzigen unbedingten Gebot, nämlich die Persönlichkeit der anderen zu achten, unterworfen. Hegel formuliert das grundlegende Rechtsgebot im § 36 3 : „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen!" Aus der Natur dieser Norm zieht er an sich folgerichtig den Schluß, zu dem bereits Kant gelangt ist, daß es im einzelnen im abstrakten Recht nur Rechtsverbote gibt und daß jedes Rechtsgebot nur eine positive Form des ihm zugrunde liegenden Verbots darstellt 4. Natürlich ist aber die Voraussetzung Hegels, es gebe nur ein einziges Rechtsgebot, willkürlich. Die Abstraktheit des Rechts gewährt vielmehr grundsätzlich sowohl Verboten wie Geboten Raum. Die Person stellt als die erste Kategorie die selbst noch abstrakte Grundlage des abstrakten Rechts dar 5 . Hegels „Geist" läßt den Menschen, der bis dahin noch weitgehend Naturerscheinung ist, die Rolle der „Person" spielen. Er erscheint als das sich in seiner Allgemeinheit als Subjekt 1

Rechtsphilosophie, Zus. zu § 141, S. 325. Vgl. Hegels Polemik gegen Kants Definition des Rechts in der Rechtsphilosophie, § 29, S. 42 f. 8 Rechtsphilosophie, S. 48. 4 a. a. O. § 38, S. 49 f. 6 a. a. O. § 36, S. 49; über die Identität und Verschiedenheit von Hegels Personenbegriff und dem des römischen Rechts vgl. Rosenzweig, II, S. 106. 2

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oder Person begreifende Denken1. Zu diesem Behufe legt er die Charaktermaske des objektiven Vernunftwillens an. Aber damit verändert er nur sein Äußeres; innerlich bleibt er, was er war: natürlicher Wille, Trieb, Begierde. Für Hegel liegt hier der letzte Grund für den in der Person verborgenen Widerspruch, der im Verbrechen offenbar wird und in der Strafe zur Aufhebung gelangt, um aber erst in der Sittlichkeit endgültig in den Gestalten des Staatsbürgers, des Fürsten und des historischen Individuums aufgelöst zu werden. In Wirklichkeit wird dieser Widerspruch auch in der Sittlichkeit des Staats nicht „aufgehoben" oder gar „innerlich überwunden", sondern bestenfalls durch Opfer und Kompromiß ausgeglichen2. Nur die Person als geistige Existenz — so glaubt Hegel — vermag diesen Widerspruch auszuhalten, den keine natürliche Erscheinung ertragen könnte8. Die Person ist ihm daher in einem das Hohe und das ganz Niedrige; in ihr liegt diese Einheit des Unendlichen und schlechthin Endlichen, der bestimmten Grenze und des durchaus Grenzenlosen4. Als subjektiver Geist gelangt der Mensch nur zum Bewußtsein seiner als eines konkreten natürlich-geistigen Wesens; als Person weiß das Selbstbewußtsein sich selbst als einen vermittels des Denkens in die Unendlichkeit erhobenen Gegenstand5. Die Person ist sich ihrer selbst bewußt als eines sich selbst bestimmenden und mit sich identischen, jedoch abstrakten Ichs, als eines für sich seienden formellen Allgemeinwillens. Im Wesen der Persönlichkeit liegt, daß sie als konkreter Mensch vollkommen bestimmt und endlich ist und doch zugleich von allem abstrahieren und sich rein auf sich beziehen kann. Die Person ist so für Hegel die in aller 1 Larenz, Hegels Dialektik des Willens und das Problem der juristischen Persönlichkeit (In: Logos, Bd. 20, 1931), S. 206. 2 Das macht Horvâth (S. 67 und vorher) mit Recht gegen Hegels „metaphysische Staatslegende44 geltend. 3 Rechtsphilosophie, Zus. zu § 35, S. 297. 4 ebenda. 5 a. a. O. § 35, S. 48 f.; vgl. dazu auch Larenz, Privatrecht, S. 138 f., und Juristische Persönlichkeit, S. 209.

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Endlichkeit unendliche allgemeine und freie, zugleich aber auch formelle, inhaltslose und einfache Beziehung des objektiven Willens in seiner Vereinzelung auf sich1. Als Person ist der Mensch nicht nur ein individuelles Subjekt, sondern ein Vernünftig-Allgemeines. Aber er ist dieses Allgemeine nur, insofern dabei gerade von seiner Besonderheit abstrahiert wird und diese von der Persönlichkeit unterschieden bleibt. Die Allgemeinheit der juristischen Person ist nur die ganz unbestimmte Allgemeinheit der Abstraktion, die einfache Verneinung der Besonderheit2. So ahnt schon Hegel, daß die Person des Rechts eine „Verdinglichung" des konkreten Ichs darstellt 3. Aus seiner Interpretation der Person als eines formalabstrakten und „atomaren" Ichpunkts 4 zieht Hegel die Schlußfolgerung, die ganze subjektive Innerlichkeit, den Willen für sich mit seinen Motiven nicht im abstrakten Recht, der „Welt der Personen", sondern erst später in der Moralität, der „Welt der Herzen", zu berücksichtigen6. Er unterliegt so einem schon mit Recht oft kritisierten Irrtum 8 . Das Interesse des Rechts ist zwar auf die Äußerlichkeit gerichtet, mittels dieses Unterscheidungsmerkmals kann man aber nicht sein Anwendungsgebiet abgrenzen. Die Rechtsfolge kann sich auch an einen rein innern Tatbestand knüpfen, der gerade dadurch veräußerlicht, verdinglicht, formalisiert wird. Wenn so auch jeder innere Seelen Vorgang als mögliche Quelle äußerer Handlungen vom Recht erfaßt werden kann, so „streift" es allerdings auch dann „die lebendige Menschenseele immer nur als die nebensächliche Quelle ihrer rechtlich allein erheblichen Taten mit einem Seitenblick"7. Die Folge 1

Rechtsphilosophie, § 35, S. 48. Larenz, Juristische Persönlichkeit, S. 209 f. 8 Marek, S. 114. 4 Marek, S. 91. 6 Rosenzweig, II, S. 102. • Vgl. u. a. Rosenkranz, Erläuterungen zu Hegels Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften (1870), S. 96; Lasson, S. X L V I f. und Larenz, Privatrecht, S. 147. 7 Radbruch, S. 17. 8

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von Hegels Verfahren aber ist, daß er den objektiven und den subjektiven Tatbestand des Verbrechens auseinander reißt und diesen erst in der „Moralität" behandelt. Ja, sogar die objektive Seite der Tat gelangt in der Lehre vom abstrakten Recht nicht vollständig zur Darstellung. Willkürlich löst er aus ihr die objektive Zurechnung heraus und verweist auch sie in die „Moralität". An die Person, als welche jeder Mensch dem anderen gleich ist 1 , knüpft sich der Begriff der Rechtsfähigkeit 2 . Um ihn zu verwirklichen, eignet sich nach Hegel die Person die äußere unmittelbar vorgefundene natürliche Welt an. Der Person als in sich unendlicher und allgemeiner „ist die Beschränkung, nur subjektiv zu sein, widersprechend und nichtig" s . Deshalb wird sie tätig und schafft sich im Eigent u m eine äußere objektive Freiheitssphäre 4. Soll doch „das Vernünftige des Eigentums nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse liegen, sondern darin, daß sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt. Erst im Eigentum ist die Person als Vernunft 6 ." So vergegenständlicht das Recht seine eigene abstrakte Allgemeinheit im Eigentum und macht dieses zur ersten Erscheinungsform der abstrakten Persönlichkeit·. Hier hat das Recht die Form des Verhältnisses einer einzelnen Person nur zu sich selbst und der toten rechtlosen Umwelt. Dagegen ist richtig eingewandt worden, daß es erst im „Verhältnis einer Mehrheit von Personen Recht gibt" 7 . Im Vertrage schreitet dann auch für Hegel das Recht fort zu dem Verhältnis einer Person zu einer von ihr unterschiedenen anderen Persönlichkeit, und zwar stellt sich der Vertrag näher als das Verhältnis zweier Eigentümer dar, das durch den Übergang des Eigentums von 1

Vgl. Larenz, Juristische Persönlichkeit, S. 210 f. Rechtsphilosophie, § 36, S. 49. » a. a. O. § 39, S. 50. 4 a. a. O. § 41, S. 52. 5 a. a. O. Zus. zu § 41, S. 297. β Larenz, Privatrecht, S. 140. f Lasson, S. X L V . a

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dem einen auf den anderen mit ihrem gemeinsamen Willen bei Erhaltung der Rechte eines jeden von ihnen entsteht. Hier erscheint der objektive Wille in Gestalt der beiden übereinstimmenden subjektiven Willen. Im Unrecht und Verbrechen endlich, zu denen Hegel vom Vertrag übergeht, existiert das Recht als Beziehung und Entgegensetzung des besonderen Willens und des objektiven Willens in ein und derselben Person1. Im Vertrage stimmen die beiden besonderen Willen der Parteien und damit auch alle beide mit dem allgemeinen Willen überein. Der übereinstimmende Wille der Vertragschließenden beansprucht als ihr allgemeiner Wille Geltung gegenüber dem Sonderwillen des Partners. Im Vertrage gilt so nur der eigene Wille des Vertragspartners als Allgemeinwille gegenüber seinem Willen als Sonderwillen 2. Der so entstandene identische Wille ist aber nur ein relativ allgemeiner Wille 3 . Denn infolge des im Begriff der Person steckenden Moments der Unmittelbarkeit bleibt es dem Zufall überlassen, ob der Einzelwille der Parteien mit dem objektiven an und für sich seienden Willen übereinstimmt. Hegel drückt das so aus, daß er sagt, ihr Wille sei ebensosehr an sich ein identischer und im Vertrage als von ihnen gemeinsamer gesetzt, wie er auch wieder ein besonderer Wille sei. Im Vertrage haben die Parteien ihren besonderen Willen nur in bezug auf eine einzelne Sache, nicht in bezug auf den Willen selbst aufgegeben 4. Der Vertrag befindet sich also noch auf der Stufe der Willkür und bleibt damit dem Unrecht preisgegeben. Aus dem Vertragsschluß ergibt sich zwar das Recht, die versprochene Leistung zu verlangen; deren Erfüllung hängt aber von dem Sonderwillen ab. Der im Vertrage 1

Rechtsphilosophie, § 40, S. 50. Hegels Deduktion der Kategorien Person, Eigentum und Vertrag ist so oft selbst von orthodoxen Hegelianern (vgl. z. B. Lasson, S. X L V I f.) kritisiert worden, daß hier von einer Kritik abgesehen werden kann. 2 Larenz, Privatrecht, S. 141. 3 Rechtsphilosophie, Zus. zu § 81, S. 306. 4 a. a. O. § 81, S. 81.

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nur verneinte, aber nicht „aufgehobene" besondere Wille des Einzelnen kann sich dem objektiven Willen oder dem Vertrage entgegenstellen und ihn brechen1. Dann kommt die Negation, die bis jetzt im Allgemeinwillen verborgen geblieben ist, zum Vorschein 2. Jetzt und hier wird für Hegel das Unrecht geboren. Die Verletzung des Vertrags oder des fremden Eigentums als Auflehnung des besonderen Willens wider den allgemeinen ist das Unrecht 3. Und denselben Vorgang beschreibt Hegel nochmals, wenn er in der Sprache der dialektischen Spekulation sagt, im Übergang zum Unrecht würden die Begriffsmomente — das Recht an sich oder der Allgemeinwille und das Recht in seiner Existenz oder der Sonderwille — in abstrakter Realität als für sich verschieden gesetzt4. Die Ableitung des Unrechts aus dem Vertrage läßt sich nicht aufrechterhalten. Hegel übersieht dabei der abstraktlogischen Deduktion zuliebe einfach, daß der Unrechttäter und der Verletzte in keinerlei vertraglichen Beziehungen miteinander zu stehen brauchen — es sei denn in denen des Gesellschaftsvertrags! — und in der Regel ja auch gar nicht stehen5. Bei der stärksten Erscheinungsform des Unrechts, dem Verbrechen, vollends ist, wie gerade Hegel selber klar herausgearbeitet hat, nicht die Verletzung der Einzelperson oder ihrer Rechtsgüter, sondern die des objektiven Rechtssystems als solchen von entscheidender Bedeutung. Neben diesem Mangel hat die Hegeische Ableitung aber auch eine positive Bedeutung. Es ergibt sich nämlich aus ihr, daß jedes Verhalten eines Vertragspartners, sowohl ein schuldhaftes wie auch ein schuldloses, falls es sich nur, wenn auch erst nachträglich, als Abweichung vom objektiven Recht erweist, sich als Unrecht darstellt. Der Begriff „Unrecht" wird somit zu einem Wechselbegriff des Begriffs „Recht". Hiermit 1 2 3 4 5

Vgl. Larenz, Privatrecht, S. 141 f. Rechtsphilosophie, Zus. zu § 81, S. 306 f. Larenz, Privatrecht, S. 141. Rechtsphilosophie, § 81, S. 81 f. Vgl. Kahle, S. 48, Anm. 129.

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hat Hegel, wie noch zu zeigen sein wird, bereits eine wichtige Grundlage für die richtige Erkenntnis von der gegenseitigen Abhängigkeit der Begriffe Recht und Unrecht vorbereitet. 3. Kapitel

DAS UNRECHT UND SEINE FORMEN Im Vertrage lebt das Recht als Erscheinung — im Unrecht wird die Erscheinung zum Schein. Schein ist für Hegel ein dem Wesen unangemessenes Dasein. Der Schein ist so das Unwahre, das verschwinden muß, damit sich das Wesen als Macht über den Schein erweist und durch dessen Vernichtung die Wiederherstellung des Rechts bewirkt 1 . Das Unrecht hat nach Auffassung Hegels drei Erscheinungsformen. Als unbefangenes oder bürgerliches Unrecht ist der Schein nur etwas dem Rechte rein objektiv Eigentümliches und Anhaftendes. Der Täter hält hier das Unrecht noch für Recht, daher tut er nur unbefangen Unrecht 2. Im Betrüge degradiert der Betrüger das Recht zum bloßen Schein. Er macht dem Betrogenen einen Schein vor, und auch für ihn selbst hat das Recht nur noch den Wert von bloßem Schein8. Im Verbrechen endlich setzt der Täter das Recht als schlechthin nichtig 4 . Das Verbrechen ist an und für sich Unrecht. Der Verbrecher verschmäht es sogar, sich hinter dem Rechtsschein zu verbergen. Der Verletzte soll nunmehr das Unrecht gar nicht für Recht halten. Der Unterschied vom Betrüge ist also, daß in diesem das Recht in der äußeren Form der Handlung noch eine Scheinanerkennung findet, während es bei dem Verbrechen auch nach außen hin offen mißachtet wird 6 . Hegels Unterscheidung von Betrug und Verbrechen, bei der zu bedenken ist, daß sein Betrugsbegriff viel weiter reicht 1 2 8 4 6

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Rechtsphilosophie, Zus. zu § 82, S. 307. a. a. O. Zus. zu § 83, S. 307 f. ebenda. a. a. Q. § 83, S. 92. a. a. O. Zus. zu § 83, S. 307 f.

als etwa der Betrug im Sinne des §263 St.-G.-B. und in einem voll durchgebildeten Strafrechtssystem auch solche Delikte wie die Münzverbrechen, den Meineid, die Urkundenfälschung usw. umfassen würde, ist mit Recht allgemein abgelehnt worden 1. Sie ist eine künstliche Konstruktion ohne die Möglichkeit irgendeiner praktischen Nutzanwendung. Ein Verdienst Hegels ist hingegen die scharfe Herausarbeitung des Gegensatzes von „unbefangenem" Unrecht einerseits, Betrug und Verbrechen andererseits. Den Sinn dieser Unterscheidung hat man regelmäßig darin sehen wollen, daß für Hegel das bürgerliche Unrecht das unbewußte, das strafrechtliche das bewußte sei2. Dann wäre sie allerdings mit dem Hinweis auf den dolus im Zivilunrecht und die culpa im Strafdelikt abgetan. Doch hat die scharfe Gegenüberstellung von Privat- und Kriminalunrecht, die bei Hegel bis auf das System der Sittlichkeit zurückgeht, vor allem die Funktion, die gattungsmäßige, generelle, unbeschränkt eigenmächtige Natur des Verbrechens — das was Hegel seine „Unendlichkeit" nennt — hervorzuheben. Das Kriminaldelikt stellt zugleich eine Verletzung der in dem betroffenen Gut verkörperten G a t t u n g der Rechtsgüter dar 3 . Im Gegensatz zur unerlaubten Handlung des Zivilrechts verletzt das Verbrechen p r i m ä r nicht den Einzelnen und sein subjektives Recht, sondern die Rechtsgemeinschaft und ihr objektives Rechtssystem4. Wenn es so 1

Vgl. ζ. B. v. Bar, Handbuch des Deutschen Strafrechts, 1. Bd. (1882), § 97, S. 279. 2 So ζ. Β. v. Bar, § 109, S. 338 f.; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, 1. Bd.: Allgemeine Grundlagen (1925), S. 28, Anm. 4; v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1. Bd. (26. Aufl., 1932, ed. Eb. Schmidt), § 26, Anm. 4, S. 145 f. 8 Vgl. R. Schmidt, Die Rückkehr zu Hegel und die strafrechtliche Verbrechenslehre (In: Der Gerichtssaal, Bd. 81, 1913), S. 258 f. 4 Hegels Unterscheidung geht wohl auf Kant zurück, der schon „ Privatverbrechen 4 * und öffentliche Verbrechen einander gegenüberstellt: Ein Verbrechen ist ein öffentliches Verbrechen, „weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird 44 (a. a. O. S. 158).

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Hegels Verdienst ist, Strafdelikt und „unerlaubte Handlung" begrifflich scharf voneinander abgehoben zu haben, so darf man doch darüber nicht vergessen, daß in der historischsozialen Wirklichkeit die Grenze beweglich ist und sich spekulativ nicht eindeutig bestimmen läßt 1 . In der ausführlicheren Darstellung der verschiedenen Formen des Unrechts leitet Hegel die Rechtskollisionen des unbefangenen Unrechts so ab, daß unter verschiedenen Personen jede von ihnen aus einem anderen Rechtsgrunde eine Sache als ihr Eigentum ansieht2. So entsteht der bürgerliche Rechtsstreit. Da wir, so geht Hegels Gedankengang weiter, uns hier noch auf der Stufe des Endlichen und Besonderen befinden und es in dessen Natur liegt, dem Zufall freies Spiel zu lassen, so vermengt sich bei den Prozeßparteien die Anerkennung des objektiv-allgemeinen Rechts mit ihren entgegengesetzten Sonderinteressen und Privatansichten 3. Der Streit geht nur um die Subsumtion der Sache unter das Eigentum des einen oder des anderen4. Das bürgerliche Unrecht negiert lediglich den besonderen Willen des Gegners, respektiert aber den allgemeinen Willen des Rechts. Es ist mithin das leichteste Unrecht. Wieder zieht Hegel den bei ihm so beliebten Vergleich mit dem Urteil. Wie bei dem Urteil: Die Rose ist nicht rot, die Farbe, d. h. die Gattung, nicht geleugnet und nur das Rote, d. h. das Besondere, negiert wird, so wird beim unbefangenen Unrecht das objektive Recht als solches anerkannt. Jede Person verlangt nur das, was ihr recht ist. Ihr Unrecht besteht darin, das, was sie will, für das Recht zu halten, obwohl es das Unrecht ist 6 . Hegel sieht hier richtig den Widerstreit der Interessen, den das Recht so schlichten muß, daß es der einen Seite „Recht" gibt und der anderen „Unrecht". Daß aber derjenige, der schließlich unterliegt, es überhaupt zum Rechtsstreit kommen 1 2 3 4 6

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s. S. 54 dieser Arbeit. Rechtsphilosophie, § 84, S. 82 f. a. a. O. § 86, S. 83. a. a. O. § 85, S. 83. a. a. O. Zus. zu § 86, S. 308.

läßt, hat die mannigfaltigsten Gründe. Hegel hebt besonders den Rechtsirrtum als die erste Erscheinungsform des Unrechts hervor. Daneben gibt es aber in der juristischen Wirklichkeit insbesondere noch die vielen Prozesse, die bei ganz eindeutiger Rechtssituation nur wegen der unsicheren Beweislage geführt werden. Da jedoch auch bei ihnen eine Partei unterliegen und „Unrecht" bekommen muß, so hat nach Hegel jeder, der einen Zivilprozeß verliert, Unrecht getan! Hegel faßt den Begriff des Unrechts nur als Wechselbegriff zum Begriff des Rechts auf. Der Nachteil der Hegelschen Ableitung liegt darin, daß er nicht scharf genug diese Rechtswidrigkeit von der spezifischen des Strafrechts unterscheidet und diese Art von „Unrecht" mit den Erscheinungen, die in der positiven Rechtswissenschaft als Unrecht im technischjuristischen Sinne ( Strafdelikt und „unerlaubte Handlung" des bürgerlichen Rechts1) gekennzeichnet werden, vermengt. Beim Betrüge wird der allgemeine Wille von dem besonderen Willen zu einem bloßen Scheinen herabgesetzt. Jetzt besteht im Vertrag nur noch eine äußerliche scheinbare Willensgemeinschaft 2. Indem dem Betrogenen vorgetäuscht wird, daß ihm Recht geschähe, wird zwar der besondere Wille respektiert, das allgemeine Recht jedoch negiert. Die Möglichkeit des Betruges folgert Hegel daraus, daß durch den Vertrag das Eigentum an einer Sache um ihrer besonderen Beschaffenheit willen entsprechend ihrem Werte aus dem Eigentum des Vertragsgegners erworben wird. Die Willkür des Betrügers vermag über Wert oder Eigentum zu täuschen, so daß der Vertrag als beiderseitiger freier Tausch der Sache bezüglich ihrer unmittelbaren Einzelheit und Bestimmtheit in Ordnung ist, es aber an dem, was Hegel das Allgemeine nennt, d. h. ihrem Wert oder Eigentum, mangelt. Der Betrug entspricht nach Hegel dem unendlichen Urteil 8 . Das bürgerliche Unrecht wird nicht bestraft, denn der Täter hat hier nicht gegen das Recht handeln wollen. „Beim 1

Vgl. v. Liszt, § 26, S. 145 f. Rechtsphilosophie, § 87, S. 83 f. • a. a. O. § 88, S. 84. 1

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F U e h t h e i m : Dl· Hegalaehe Strafrechtetheorie.

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Betrüge hingegen treten Strafen ein, weil es sich hier um das Recht handelt, das verletzt ist 1 ." Die Darstellung des Betruges insbesondere leidet ebenso wie die des Unrechts überhaupt darunter, daß Hegel dem dialektischen Schema zuliebe den Betrug in einen wesensnotwendigen Zusammenhang mit dem Vertrag zu bringen sucht. Ganz unmöglich ist es aber, all die Vergehen, die bei ihm unter den Begriff des Betruges fallen, wie ζ. B. die Münz- und Eidesdelikte, aus der Verletzung privatrechtlicher Verträge abzuleiten. Doch auch der Tatbestand des eigentlichen Betruges, etwa im Sinne des § 263 St.-G.-B., hat seinem Wesen nach nichts mit einer Vertragsverletzung zu tun. Selbstverständlich kommt es wohl häufig vor, daß bei Erfüllung eines Vertrages eine Vertragspartei den Vertragsgegner betrügt. Es ist aber kein Grund dafür einzusehen, daß jemand nur innerhalb eines Vertragsverhältnisses infolge eines durch eine Täuschungshandlung erregten Irrtums zu einer ihn oder einen andern schädigenden Vermögensverfügung veranlaßt werden soll. Die soziale Wirklichkeit unterscheidet sich nämlich u. a. auch dadurch von Hegels „abstraktem Recht", daß in ihr die Menschen nicht nur auf Grund von Verträgen in Beziehungen zueinander treten und in Konflikte miteinander kommen!

4. Kapitel

DAS VERBRECHEN ALS NEGATION DES OBJEKTIVEN RECHTS Das eigentliche Unrecht ist für Hegel das Verbrechen, das weder das Recht an sich noch seinen Schein respektiert und so die objektive wie die subjektive Seite mißachtet2. Diese stärkste Erscheinungsform des Unrechts verletzt sowohl den 1 2

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a. a. O. Zus. zu § 89, S. 308. a. a. O. Zus. zu § 90, S. 380.

Willen wie die Sache1. Es wird von Hegel definiert als der primäre Zwang, der als Gewalt von einem Freien ausgeübt wird und der die Freiheit in ihrem konkreten Dasein, das Recht als Recht, verletzt. Es soll ein negativ-unendliches Urteil darstellen, durch das nicht nur das Besondere, die Subsumtion einer Einzelsache unter einen Einzel willen, sondern zugleich das Allgemeine und Unendliche, die Rechtsf ä h i g k e i t als solche, negiert wird, und zwar im Gegensatz zum Betrug ohne Mißbrauch des guten Glaubens des Verletzten 2 . Dieser Begriffsbestimmung wegen subsumiert Hegel Unterlassungsdelikte gewaltsam unter den Begriff des Zwanges oder zumindest der Gewalt. Sogar der natürliche Wille als solcher soll bereits Gewalt gegen die Idee der Freiheit sein8! Diese außerordentliche Ausweitung eines an sich fest begrenzten Begriffes ist selbst gewaltsam und gezwungen, dient nicht zur Klärung des Verbrechensbegriffes und geschieht nur unter dem Zwange des Systems. Daß sich in der Sphäre des abstrakten Rechtes, die doch der Welt des objektiven Geistes und dem Reiche der vernünftigen Freiheit angehört, überhaupt eine Erscheinung wie das Verbrechen vorfindet, muß Hegel aus dem Geiste seiner Philosophie heraus überhaupt erst begreiflich zu machen suchen. So will er zunächst die Möglichkeit des Verbrechens begründen, um erst dann den Ort seiner Existenz aufzuzeigen. Da sich der Wille der Person im Eigentum in einer äußerlichen Sache verkörpert, so kann er durch diese erfaßt und der Notwendigkeit unterworfen werden. Er kann entweder überhaupt Gewalt erleiden, oder es kann ihm gewaltsam eine Aufopferung oder Handlung zur Bedingung irgendeines Besitzes oder positiven Seins gemacht, d. h. relativer Zwang angetan werden 4. Aber der Mensch als ein lebendiges Wesen kann 1 Hegel, Eigenhändige Randbemerkungen zu seiner Rechtsphilosophie (ed. Lasson, 1930), Randbemerkung zu § 90, S. 59. 8 Rechtsphilosophie, § 95, S. 86. 8 a. a. O. § 93, S. 85. 4 a. a. Ô. § 90, S. 84.

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wohl bezwungen, d. h. seine physische und sonstige äußere Seite unter die Gewalt anderer gebracht, der freie Wille hingegen an und für sich nicht gezwungen werden, es sei denn, daß er sich selbst nicht aus der Äußerlichkeit, in der er festgehalten wird, oder aus deren Vorstellung zurückzieht. Nur derjenige kann zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will 1 . Da jedoch sowohl diese Freiheit wie auch jener Zwang Hegel nur als abstrakte Momente des Willens erscheinen2, so folgert er daraus richtig, daß der Wille wirklich frei ist nur insoweit, wie er in einem bestimmten Dasein existiert 3. Nun setzt ja Hegel als selbstverständlich den konkreten Willen als freien und das Dasein, in dem er erscheint, als Sein der Freiheit voraus. Aus dieser Voraussetzung aber folgt ohne weiteres, daß Gewalt und Zwang sich in ihrem Begriff unmittelbar selbst zerstören und daher unrechtmäßig sind4. Wo hat aber nun das Verbrechen, als das sich der widerrechtliche Zwang und die rechtsverletzende Gewalt darstellen, seinen Sitz? Wo tritt die verbrecherische Rechtsverletzung positiv in die Erscheinung? Sie ist zwar Verletzung des Willens an sich, und zwar desjenigen des Verletzenden wie des Verletzten und aller anderen; aber weder hier in diesem Willen an sich noch in dem „Produkt" des Delikts hat sie eine positive Existenz. Denn für Hegel ist der Wille an sich, d. h. das Recht an sich, nicht eine äußerliche Existenz und infolgedessen auch keiner Verletzung zugänglich. Als äußerlich nicht existierender Wille kann der Wille an sich überhaupt nur in dem Gefäß des daseienden besondern Willens des Verletzten getroffen werden 5. Aber sogar in bezug auf den Sonderwillen des Verletzten und der anderen ist das Verbrechen etwas rein Negatives. „Die positive Existenz der Verletzung" dagegen — so lautet Hegels 1 2 3 4 5

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a. a. O. § 91, S. 84 f. Vgl. a. a. O. Zus. zu § 7, S. 288 f. a. a. O. § 92, S. 85. a. a. O. § 92, S. 85; vgl. auch Kahle, S. 49, Anm. 133. Vgl. Laistner, S. 127.

Schlußfolgerung — „ist nur als der besondere Wille des Verbrechers" 1. Der Verbrecher aber ist für Hegel ebenso wie die Person nur juristische Figur. Die größte Leistung seiner strafrechtlichen Lehre besteht darin, das im Strafrecht begründet zu haben, was im Zivilrecht bereits die römische Rechtswissenschaft und -praxis geleistet hat. Seit den Tagen des römischen Prätors verschwindet der Mensch, sobald er als Person auftritt, vollkommen unter dem juristischen Gewände. Hegel ist der erste, der den Versuch gemacht hat, dem Menschen auch als Verbrecher eine rechtliche Charaktermaske anzulegen. Der Verbrecher ist bei ihm weder eine natürliche, noch eine moralische, noch eine soziale Erscheinung. „Er kommt nur als eine einzelne Verkörperung des unrechtlichen Willens in Betracht 2 ." Ist die Person die Individuation des objektiven Rechts als subjektives Recht, so ist der Verbrecher die Personifikation desselben objektiven Rechts als Unrecht. Er stellt das Recht in seiner Entfremdung, in seinem Schein, in seiner Negation dar. Er ist das „Persönlichkeithabende Verbrechen" 3. Da für Hegel das Recht mit dem vernünftigen Willen identisch ist, so entwickelt er dieses Wesen des Rechtsbrechers eingehender am Willen selbst. Der Verbrecher ist Ausdruck eines dem Willen selbst immanenten Widerspruchs. In dem Täter setzt sich der Sonderwille als Willkür dem allgemeinen Vernunftwillen entgegen4. So ist das Delikt dasjenige Wollen, welches das wahre Wollen negiert. Es ist die Manifestation der Willkür, während der rein natürliche Instinkt rechtlich überhaupt nicht zurechenbar ist und das freie Vernunftwollen das Recht an und für sich verwirklicht. Die Willkür ist die widerspruchsvolle Einheit von Natur und Vernunft. Ihren Inhalt bildet das sinnliche Element, ihre Form ist die denkende Allgemeinheit und die wählende 1 2 3 4

Rechtsphilosophie, § 99, S. 88. Lasson, S. LH. Theologische Jugendschriften, S. 288. Rechtsphilosophie, § 82, S. 82; vgl. auch. § 104, S. 93 f.

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Reflexion. Im Verbrechen unterwirft die Willkür den freien Vernunftwillen dem natürlichen Willen. Man hat dieses Verhältnis einen irrationalen Syllogismus genannt, in dem die Glieder vertauscht sind 1. Die Willkür hat so sich selbst an Stelle der Freiheit und Vernunft zur Determinante und die Natürlichkeit zur Siegerin gemacht. Daraus folgt, daß jedes Delikt vom sinnlichen Moment der Instinkte und Affekte begleitet ist, selbst der mit „kalter Überlegung" ausgeführte Mord. Diese Darlegung, die dem Hegelianer d'Ercole folgt 2 , will keineswegs das Verbrechen aus der Welt des Rechts wieder in das Reich der Natur zurückführen. Da nämlich das Moment der Natürlichkeit innerhalb der übergreifenden Einheit des geistigen Vernunftwillens für Hegel nur die Rolle eines „aufzuhebenden" Moments spielt, so bleibt die Wurzel des Verbrechens der freie Wille, der sich in der Willkür selbst negiert und entfremdet, um dann als wahre und konkrete Freiheit zu sich zurückzukehren. Im Gegensatz zur gewöhnlichen menschlichen Handlung verwirklicht sich aber somit in der verbrecherischen Handlung nicht die volle Freiheit 8. Der Täter begeht gerade deswegen sein Verbrechen, weil er sich nicht im Zustand der vollen Freiheit und Rationalität des Handelns befindet. Indem der Verbrecher das Recht bricht, ist er unvernünftig. Der übergroße Anteil des „Es" an der Ausführung der Tat schränkt die psychische Aktivität des „Ichs" wesentlich ein 4 . Das vorsätzliche Delikt entsteht dann so, daß der Täter sich für das Verbrechen und gegen das Recht entscheidet. Da aber die vernünftige rechtmäßige Handlungsweise für ihn nicht absolut notwendig ist, so hat er auch keine volle Freiheit. Ist es doch eine Hegeische Einsicht, daß die wahre Freiheit gleich der 1 d'Ercole, La pena di morte e la sua abolizione dichiarate teoricamente e storicamente secondo la filosofia hegeliana (1875), S. 64. 8 a. a. O. Entsprechend stellt aber auch ζ. Β. Berner die Genesis des verbrecherischen Willens dar (vgl. dazu Sulz, Hegels philosophische Begründung des Strafrechts und deren Ausbau in der Deutschen Strafrechtswissenschaft [1910], S. 54 f.). 8 d'Ercole, S. 69. 4 Reik, S. 115.

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eisernen, aber vernünftigen Notwendigkeit ist. Sich zu vergehen, ist mithin ein Anzeichen für die Unvollkommenheit der Freiheit, in der sich der Verbrecher bei Ausübung seiner Tat befindet. Er könnte, so glaubt wenigstens Hegel, sich selbst so bestimmen, daß er frei bliebe. Darin, daß er es nicht tut, liegt seine Schuld. Hier ist aber auch die Grenze seiner Schuld: Er handelt, da er unvernünftig handelt, nicht vollkommen frei. Deshalb ist es aber gerade im Geiste Hegels unvernünftig, den Unvernünftigen als Vernünftigen zu behandeln und seine Unvernunft zum unbedingten Maßstab für die Straf Vernunft zu machen1. Unter diesem Gesichtspunkt müßte gerade für^Hegel die Strafschuld nur ein Sonderfall der tragischen Schuld überhaupt sein. Besteht doch auch das Wesen der tragischen Schuld in einer eigenartigen Verkettung von Freiheit und Notwendigkeit. Der tragische Held führt durch sein schuldlosschuldhaftes Handeln sein Schicksal selbst herbei. Und so wie Hegel den Verbrecher zeichnet, trägt er denselben Widerspruch in sich. Sein schuldhaftes Tun wird ihm zugerechnet. Es ist aber nur ein Ausfluß seiner Persönlichkeit. Für sie wird er verantwortlich gemacht. Und hier liegt das Moment seiner Unschuld. Denn an seiner Persönlichkeit ist er nicht schuld; sie haftet ihm an, sie bildet sein Ich, sie ist sein Wesen2. Diese tiefe Problematik der verbrecherischen Schuld ist aber Hegels Blickfeld nun fast ganz entrückt, obwohl er selber das Wesen der tragischen Schuld schon in den Theologischen Jugendschriften gestaltet und dort auch den Zusammenhang zwischen Verbrecher und Held entwickelt hat. Im abstrakten Recht behandelt er die subjektive Seite des Verbrechens überhaupt nicht und auch in der „Moralität", wohin er die Zurechnung verweist, begnügt er sich mit einigen Worten über die Unzurechnungsfähigkeit. Den Rechtsphilosophen interessiert jetzt in erster Linie die äußere Gestalt des Verbrechers als Verkörperung des Begriffs des 1 2

Kahle, S. 50, Anm. 138. Berolzheimer, S. 60 f.

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Strafunrechts, nicht mehr die Tragödie, die sich hinter der starren juristischen Maske in der Seele des Menschen abspielt. So ist es nicht zu verwundern, daß Hegel die subjektiven Momente der Zurechenbarkeit in die Lehre von der objektiven Zurechnung einordnet, die er eingehend entwickelt. Auf die Darstellung seiner Theorien über objektive und subjektive Zurechnung kann hier jedoch um so eher verzichtet werden, als seine Lehre von der objektiven Zurechnung bereits in einer Monographie1 eingehende Würdigung gefunden hat und die von der subjektiven Zurechnung nur die Frage nach der Bedeutung der eigentlichen Zurechnungsfähigkeit und des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit beantwortet, ohne dabei neue Gesichtspunkte zu entwickeln2. Erwähnt sei nur, daß Hegels Begriff der Zurechnung eine ähnliche Funktion hat wie der der „zentralen Zurechnung" in der „Reinen Rechtslehre" 8. Bisher ist das abstrakte Recht nur in den Erscheinungsformen der Person, ihres Lebens, Körpers und Eigentums und des Vertrags hervorgetreten. Das Verbrechen als Rechtsverletzung erscheint daher bei Hegel zunächst auch nur als Verletzung einer dieser Bestimmungen, so ζ. B. als Mord, Körperverletzung, Diebstahl usw., d. h. als Verletzung der Einzelperson und ihrer Rechtssphäre. Die Vergehen gegen den Staat, wider die öffentliche Ordnung und die Rechtspflege — Hegel selbst hebt im § 95 Meineid, Staatsverbrechen, Münzvergehen und Wechselverfälschung hervor und erwähnt in den §§ 232—234 das Polizeiunrecht, in dem § 282 die Vergehen gegen Staat und Fürst, im § 294 die Amtsverbrechen und im § 319 die Pressedelikte — können daher bei dem eigenartigen Stufenbau der Hegeischen Rechtsphilosophie auch erst dort auftreten, nachdem die Institutionen, die sie verletzen, ζ. B. die Rechtspflege, die Polizei, der Staat, die Beamten, die öffentliche Meinung usw. in seinem System erschienen sind. Hegel geht nicht näher auf sie ein, 1

Larenz, Zurechnungslehre, § 6, S. 50—59. • Rechtsphilosophie, §§ 120 und 132, S. 103 f. und S. 110 ff. 3 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 56 f.

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da sie nach seiner Meinung lediglich der empirischen Wissen schaft angehören. Doch hebt er schon bei der allgemeinen Behandlung des Verbrechens als Erscheinung des abstrakten Rechts richtig hervor, daß die bei dieser Untersuchung sich ergebenden allgemeinen Wesenserkenntnisse und -bestimmungen auch jene Delikte erfassen 1, insofern jedes Delikt als Verbrechen eine „Auflehnung gegen das allgemeine Rechtsprinzip" 2 des herrschenden Rechtssystems darstellt. Insoweit aber der Wille nur in seiner Existenz verletzt werden kann und er in dieser sowohl quantitativ wie qualitativ verschieden ist, unterscheidet Hegel die Verbrechen in bezug auf ihre objektive Seite zunächst danach, ob das Dasein in der seinem Begriffe gleichen Unendlichkeit, d. h. nach seinem ganzen Umfange, verletzt wird, wie ζ. B. beim Mord, der Versklavung, dem Religionszwang usw., oder nur in einem Teil. In diesem Fall soll es wieder auf die Qualität der verletzten Teilbestimmung ankommen. Die stoische Ansicht, daß es nur eine Tugend und ein Laster gebe, die drakonische Gesetzgebung, die jedes Verbrechen mit dem Tode bestraft, und die rohe, formelle Ehre, die in jeder Verletzung die unendliche Persönlichkeit verletzt fühlt, haben nach Hegel den gemeinsamen Fehler, bei dem abstrakten Begriff des freien Willens und der Persönlichkeit stehen zu bleiben und sie nicht als Idee in ihrem konkreten und bestimmten Dasein zu erfassen 8. Diese „Phänomenologie" der Delikte ist außerordentlich abstrakt und spekulativ, was ζ. B. in der Gleichsetzung von Mord und Religionszwang zum Ausdruck kommt. Es ist auch sehr fraglich, ob die Gegenüberstellung von „Kapitalverbrechen" und anderen Vergehen einen Sinn hat, wenn nicht den, als Begründung für die Todesstrafe zu dienen. Immerhin ist es schon ein Fortschritt, daß Hegel überhaupt einzelne Tatbestände in seine Untersuchung einbezieht. 1

Rechtsphilosophie, § 95, S. 86. • v. Bar, § 97, S. 277. 8 Rechtsphilosophie, § 96, S. 86 f.

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Von einzelnen Deliktstatbeständen hebt er nur den Raub und den Diebstahl voneinander ab, indem er ausführt, daß bei jenem das Ich auch als gegenwärtiges Bewußtsein durch direkte Gewaltübung verletzt werde 1. Dieser Gedanke ist jedoch nur eine Wiederholung aus der ,,Realphilosophie"2. Erstmals behandelt Hegel die Frage der Gefährlichkeit der Delikte. Das gefährlichere Verbrechen soll in seiner unmittelbaren Beschaffenheit eine dem Umfang oder der Qualität nach schwerere Verletzung sein8. Wichtig wird der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der Handlung erst in der bürgerlichen Gesellschaft, in der Eigentum und Persönlichkeit gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit finden. Infolgedessen ist in ihr das Verbrechen nicht mehr nur Verletzung eines Subjektiv-Unendlichen, d. h. des Rechtsprinzips, sondern der allgemeinen Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat, d. h. des positiven Gesetzes. Hierdurch wird zwar einerseits die Größe des Verbrechens verstärkt, andererseits vermindert aber die ihrer selbst sicher gewordene Macht der Gesellschaft die äußerliche Wichtigkeit der Verletzung und mildert infolgedessen seine Ahndung. Als Folge der Festigkeit der Gesellschaft erscheint das Verbrechen als etwas bloß Subjektives, das nicht sosehr aus dem besonnenen rechtsbrecherischen Willen als aus natürlichen Antrieben entspringt 4. Mit dieser Darstellung nähert sich Hegel der Realität beträchtlich, verwischt allerdings damit den „klassischklaren Umriß" 6 seiner Straf rechtslehre, indem er in dem Verbrecher nicht mehr nur den starren Rechtsbrecher aus Grundsatz, den personifizierten Träger der dialektischjuristischen Notwendigkeit, sondern auch den schwachen natürlich-gesellschaftlichen Menschen sieht. Er beeilt sich daher zu erklären, daß die Natur des Verbrechens auch in der bürgerlichen Gesellschaft sich nicht in ihrem Begriffe, viel1 2 8 4 5

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a. a. O. § 96, S. 86 f. Vgl. S. 56 dieser Arbeit. Rechtsphilosophie, § 96, S. 86 f. a. a. O. Zus. zu § 218, S. 343. Baeumler, S. 41.

mehr nur in ihrer äußeren Existenz verändert- Die Verletzung trifft nun nicht mehr nur das Dasein des unmittelbar Verletzten, sondern zugleich auch die Vorstellung und das Bewußtsein der Gesellschaft, das in der Geltung der verschiedenen Gesetze zum Ausdruck kommt. Die Gefährlichkeit ist so in der bürgerlichen Gesellschaft eine Eigenschaft des Verbrechens, die sich mit dem gesellschaftlichen Zustand verändert 1. 5. Kapitel

DIE STRAFE UND IHRE RECHTFERTIGUNG Es wurde bereits angedeutet, daß Hegel der Rechtsverletzung nur eine äußerliche positive Existenz zugesteht, die in Wahrheit nichtig ist. Da das Recht als etwas Absolutes unaufhebbar ist, so ist die Nichtigkeit das Wesen des Verbrechens. Es muß sich aber auch nach außen hin als nichtig manifestieren, d.h. sich als selbst verletzbar offenbaren. Dies soll der Sinn der auch äußerlichen Vernichtung der Rechtsverletzung sein. Das Verbrechen ist Hegel zufolge nicht eine primäre Position, zu der die Strafe erst als Negation hinzukäme, sondern selbst schon eine Negation, so daß die Strafe Negation der Negation ist 2 . Die Wirklichkeit des Rechts entsteht so als seine sich mit sich selbst durch die Aufhebung des Verbrechens vermittelnde Notwendigkeit3. Erst in und durch diesen Prozeß der Vermittlung, der Rückkehr aus der Negation zu sich selbst, wird das Recht zu etwas Festem und Geltendem, während es vorher nur an sich und unmittelbar war 4 . Ist doch für Hegel wirklich nur das, was wirkt und sich in seinem Anderssein erhält, wogegen die Unmittelbarkeit noch für die Negation empfänglich ist 6 . 1 8 8 4 5

Rechtsphilosophie, § 218, S. 176 f. a. a. O. Zus. zu § 97, S. 309. a. a. O. § 97, S. 87. a. a. O. § 82, S. 87. a. a. O. Zus. zu § 82, S. 307; vgl. auch Sulz, S. 8 f.

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Die Verletzung des Sonderwillens des Verbrechers und das Aufheben des Verbrechens bedeutet die Wiederherstellung des Rechts. Diese aber ist nach Hegel insbesondere notwendig, da „sonst das Verbrechen gelten würde" 1 . Diese Auffassung Hegels, das Verbrechen sei eine „Verletzung" des Rechts, die durch die Strafe geheilt und wiedergutgemacht werden müsse, damit das Unrecht nicht gelte, ist sehr fragwürdig. Ein Deliktstatbestand kann nämlich nicht einfach geheilt, gutgemacht oder aus der Welt geschafft werden 2. Jede Rechtsverletzung ist eine unwiderrufliche Tatsache und gerade als solche die Bedingung der spezifischen Rechtsfolge. Diese tritt aber nie an die Stelle des Unrechts, sondern zu diesem hinzu. Das Recht bleibt trotz allen Unrechtsfolgen „verletzt". Zwar kann rechtssoziologisch die Rechtsfolge des Schadensersatzes das Unrecht unschädlich machen, rechtslogisch hingegen das sie bedingende Unrecht nicht wieder ungeschehen machen. Nun bewirkt die Strafe als neue Verletzung, daß zu der ersten Verletzung des Verbrechens noch eine zweite hinzukommt, so daß sich so eine Summe und Verdopplung, keineswegs aber eine Entgegensetzung und Aufhebung der Verletzungen ergibt 3. Rechtslogisch hat auch die Strafe weder das subjektive Recht des in seinen Interessen Verletzten durchzusetzen oder zu wahren noch das objektive Recht in seiner Geltung sicherzustellen. Denn in jenem Falle kann das subjektive Recht, ζ. B. nicht ermordet oder bestohlen zu werden, nach erfolgtem Mord oder Diebstahl überhaupt nicht mehr intakt gehalten werden und in diesem Falle kommt das objektive Recht gerade durch Vermittlung des Unrechtstatbestands zu seiner Geltung. Kelsen ist daher insoweit recht zu geben, als rechtsimmanent sich das Verhältnis von Verbrechen und Strafe exakt nicht anders als in der Rechtsnorm erfassen läßt, die für die Be1

a. a. O. § 99, S. 88. Kelsen sagt sehr plastisch, ein Unrechtstatbestand könne nicht „wie die Krankheit eines Organismus, wie ein Loch gestopft werden4 4 (Unrecht und Unrechtsfolge, S. 603). 8 Kahle, S. 50, Anm. 136. a

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dingung der Rechtswidrigkeit die Folge der Strafsanktion anordnet 1. Dagegen hat Hegel schon richtig gefühlt, daß rechtssoziologisch die Funktion der Strafe in der Wiederherstellung und Durchsetzung des objektiven Rechts besteht. Hat doch, wenn man ein bestimmtes Rechtssystem als geltend voraussetzt, jeder Rechtsbruch prinzipiell die Tendenz, die ihm entgegenstehende Rechtsnorm außer Kraft zu setzen und würde so schließlich, wenn die von dem Rechtssystem statuierte Strafsanktion nicht angewandt würde, insoweit das Recht in seiner typischen Geltungsexistenz Abbruch leiden. Auch hier würde sich dann die derogierende Kraft des Gewohnheitsrecht werdenden „Unrechts" zeigen. So unklar nun aber auch Hegels Meinung ist, das Recht gelange erst durch „Vernichtung" des Unrechts zu seiner Geltung, so fruchtbar ist andererseits seine Erkenntnis, das Recht trete in seine eigentlich „rechtliche" Existenz erst durch die „Vermittlung" des Unrechts und gründe sich so letzten Endes auf der Zwangsgewalt. Haben doch schon geschichtlich Strafrecht und Zivilrecht lange Zeit eine Einheit gebildet und waren doch zu jener Zeit in der „Sühne" die spätere Strafe ebenso wie die nachmalige Zwangsvollstreckung ungeschieden enthalten. Aber auch bei systematisch-rechtsimmanenter Betrachtung zeigt sich das eigenartige Wesen des Rechts, das in seiner unlöslichen Verbindung mit dem „Unrecht" besteht. Der Begriff „Unrecht" ist nur ein Korrelatbegriff zu dem Begriff „Recht". Es ist ein und dasselbe Normensystem, das von der einen Seite aus gesehen sich als „Recht", von der anderen hingegen als „Unrecht" darbietet. Vom Standpunkt einer immanenten Strukturanalyse des Rechts muß das sogenannte „Unrecht" als Recht begriffen werden, wenn es überhaupt rechtlich erfaßbar sein soll. Für die spezifisch rechtstheoretische Betrachtung ist somit das Unrecht nicht die Negation des Rechts — vielmehr die Bedingung der Rechtsnorm 2. Ist die Rechtsnorm eine einen Zwangsakt anordnende Norm, so stellt das „Unrecht" jenen 1 2

Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge, S. 603 f. Kelsen, a. a. O. S. 488.

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Tatbestand dar, der die spezifische Voraussetzung dafür ist, daß der Rechtssatz den Zwangsakt als die Unrechtsfolge an ihn knüpft. Rechtslogisch wird erst hierdurch der bedingende Tatbestand als „Unrecht" oder „Rechtswidrigkeit" qualifiziert. Nur insofern mit einem Verhalten rechtsnormmäßig eine Unrechtsfolge verknüpft wird, ist es unrecht oder rechtswidrig 1 . Definiert man so das Unrecht von der Sanktion als der Unrechtsfolge her, so unterscheiden sich auch Kriminalund Zivilunrecht lediglich dadurch voneinander, daß für jenes die Kriminalstrafe, für dieses dagegen die Zwangsvollstreckung oder sonstige Zwangsakte angedroht werden. Erst vom Standpunkt einer zwar „transzendenten", darum aber doch unerläßlichen rechtssoziologischen auf den Zweck und die Funktion des Rechtssystems abstellenden Betrachtungsweise erscheint das Unrecht als ein Tatbestand, den das Rechtssystem vermieden haben will und dessen Vermeidung es dadurch herbeizuführen sucht, daß es mit ihm eine Reaktion verbindet, von der es voraussetzt, sie werde von dem Betroffenen als Übel empfunden. So gesehen ist das Unrecht ein sozialschädlicher oder vielmehr von dem Rechtssystem als sozialschädlich qualifizierter Tatbestand, den zu vermeiden die Rechtsuntertanen durch die Rechtsnorm veranlaßt werden sollen2. Und nunmehr wird es von der Bedeutung abhängen, die das herrschende Rechtssystem der Rechtswidrigkeit beilegt, ob das Unrecht als bürgerlich-rechtliches oder als strafrechtliches Unrecht behandelt wird. Erblickt die Rechtsordnung in der Tat einen Verstoß gegen die herrschenden Rechtsinstitutionen, -begriffe und -ideen, sozusagen einen „Protest gegen die bestehende Rechtsordnung 3" als solche, so wird sie dazu neigen, die Tat in der Regel als Vergehen zu charakterisieren. Sieht sie in ihr hingegen in erster Linie eine nicht sehr tiefgreifende und gefährliche Verletzung unter1

Kelsen, a. a. O. S. 483. Vgl. Kelsen, a. a. O. S. 483 f.; über die Doppelfunktion des Strafrechts vgl. v. Hentig, S. 194 ff. 8 Coenders, Strafrechtliche Grundbegriffe, insbesondere Täterschaft und Teilnahme (1909), S. 4. a

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geordneter Privatinteressen, so wird sie ihre Regelung dem Privatrecht zu überlassen geneigt sein. Natürlich lassen sich aber für die Abgrenzung keine abstrakten Regeln deduzieren — letzten Endes wird sie vielmehr von dem Charakter des Rechtssystems selbst bestimmt sein. Hegel nennt die Negation des Verbrechens zunächst einfach Aufhebung des Verbrechens, Vernichtung der Verletzung, Negation der Negation usw., da er das Verbrechen und dessen Aufhebung noch innerhalb des abstrakten Rechts als Folge der Selbstbewegung des Rechtsbegriffs darzustellen sucht und für ihn auf dieser Stufe der Begriff der Strafe noch nicht existiert. Diese erscheint bei Hegel vielmehr erst in der bürgerlichen Gesellschaft als Funktion der Rechtspflege und des Staats. In der Lehre vom abstrakten Recht kommt er nur bis zum Begriff der Rache1. Doch wie überhaupt bei ihm die abstrakten Rechtskategorien Person, Eigentum, Vertrag und Unrecht ihre inhaltliche Geltung auch für die höheren Rechtsstufen behalten, so enthält auch schon die Kategorie „Negation der Negation des Rechts durch die Rache" das Wesen der Strafe. Im folgenden wird daher der Einfachheit halber in der Regel der konkretere Begriff der Strafe für den abstrakteren der „Aufhebung des Verbrechens" verwandt werden. Die Vergeltung, die der Verbrecher erleidet, — so sucht Hegel jetzt die Strafe zunächst o b j e k t i v zu rechtfertigen, um sie dann in Verknüpfung beider Beweisführungen auch aus dem s u b j e k t i v e n Willen des Verbrechers abzuleiten —, ist an sich gerecht. Damit ist sie zugleich der an sich seiende Wille des Verbrechers, eine Existenz seiner Freiheit und sein Recht2. Der Rechtsbrecher ist ja für Hegel lediglich das verkörperte Unrecht. Das Unrecht aber ist selber nur eine Stufe, ein Moment des Rechts, das Recht in seiner Selbstentäußerung, in seinem Schein, in seinem Widerspruch. So ist der Verbrecher letztlich die Charaktermaske einer Entwicklungsphase des Rechts, das schon in ihm selber über seine Entfremdung, seinen Verlust, seine Verneinung hinausdrängt. 1 2

Rechtsphilosophie, § 102, S. 92. a. a. O. § 100, S. 89.

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Der Rechtsbrecher kann infolgedessen immer nur vorübergehend Verbrecher sein. Solange er es ist, verletzt er das Recht als solches, das allgemeine Rechtsprinzip, den objektiven Vernunftwillen. Aber schon als Verbrecher ist er zugleich ,,Person". Das bedeutet, daß er in Wahrheit nicht nur sein Opfer, sondern auch sich selbst verletzt 1 . Dieser alte Gedanke Hegels kehrt hier wieder, jetzt aus der Sprache der Lebensphilosophie übersetzt in die der Geistesphilosophie. Als Person wurzelt auch der Verbrecher in der allen, und damit auch ihm gemeinsamen Substanz des objektiven Rechts. Als Rechtsträger ist er ein Glied der allgemeinen Rechtsordnung. Als Wille ist er ein Bestandteil des objektiven Vernunftwillens. So ist die Entgegensetzung von Verbrecher und Recht falsch, das Recht die Sache aller und damit auch des Verbrechers selbst2. Wie die Natur ist dagegen auch der Verbrecher nur ein vorübergehender Selbstverlust des Hegeischen Geistes. Auch in ihm muß der Geist am Ende wieder zu sich zurückfinden. Mag sich der Verbrecher selbst ebensowenig wie die Natur dieses Fortschritts bewußt sein, er vollzieht sich doch in ihm und durch ihn. Wie auf der höchsten Stufe des objektiven Geistes die ,,List der Idee" das große historische Individuum in „unechter Geschäftsführung" handeln läßt, so ist auch auf der untersten Stufe des objektiven Geistes der Verbrecher 1

Vgl. d'Ercole, S. 23 f. Vgl. Hartmann, S. 324. Dieser Gedanke findet sich schon bei Kant: „Was für unverschuldetes Übel Du einem anderen im Volke zufügst, das tust Du Dir selbst an. Beschimpfet Du ihn, so beschimpfst Du Dich selbst; bestiehlet Du ihn, so bestiehlst Du Dich selbst(< usw. (S. 159.) — Und Kelsen ist im Sinne seiner „Reinen Rechtslehre'1 nur konsequent, wenn er zugibt, daß bei einem weiten und formalen Organbegriff auch die Erfüllung einer Pflicht ale Organfunktion der diese Pflicht statuierenden Ordnung gedeutet werden kann. Den Verbrecher als Organ des Staats zu qualifizieren, ein Organ gegen ein anderes vorgehen zu lassen, den Staat sich selbst strafen und exequieren zu lassen, sei kein rechtslogiecher, höchstens ein teleologischer Widerspruch, obwohl „auch der Mensch, an dem die Strafe vollstreckt wird, als Glied des Staats ihn irgendwie repräsentiert 14! (Unrecht und Unrechtsfolge, S. 499 f.) 2

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nur ihr Werkzeug. Doch während die historische Persönlichkeit meist tragisch untergeht, wenn sie vom Weltgeist nicht mehr gebraucht wird, benutzt die objektive Vernunft den Verbrecher selbst noch ein zweites Mal, um ihre eigene Herrlichkeit zu offenbaren. So läßt sie ihn alsbald seine Rolle des Rechtsbrechers mit der des Rächers vertauschen, dessen Funktion die Aufhebung des Verbrechens und die Wiederherstellung des Rechts ist. Der Verbrecher wird selber zum Richter über sich selbst. Er spricht sich sein eigenes Urteil, und es kann nur auf „Schuldig" lauten. Er wendet sich gegen sich selbst, um den inneren Widerspruch innerhalb des Rechts, den er bisher darzustellen gehabt hat, aufzuheben. Sein inneres Selbst prüft, überführt und verurteilt sein Außeres Selbst1! Sein wirklicher Wille, seine wahre Vernunft, seine sich selbst bestimmende Freiheit heben die verbrecherische Willkür, die scheinbare Unvernunft, den äußeren Zwang auf. So erhebt sich der Verbrecher über sich selbst und wird zum „Verwirklicher und Förderer der Gerechtigkeit" 2! Und Aufgabe der Strafe ist es, die Majestät des Rechts leuchtend zu offenbaren, nachdem das Verbrechen sie verdunkelt hat! In der Strafe vereinigt sich der Verbrecher wieder mit dem Vernunftwillen, von dem er sich losreißen zu können geglaubt hat und dem er doch auch in der willkürlichsten Unvernunft ständig verhaftet geblieben ist. So ist für ihn die Strafe nicht eine Pflicht, der er unterworfen wird, vielmehr ein Recht, auf das er Anspruch hat! In der Strafe scheint sich für Hegel der Widerspruch von Recht und Pflicht, von dem das abstrakte Recht noch beherrscht war, erstmalig zu versöhnen. Da der Widerstreit der Interessen zwischen dem Täter und dem Recht bzw. Staat für den Philosophen nur als ein Schein der Oberfläche erscheint und ihm im Grunde der allgemeine und der besondere Wille identisch sind, so fallen hier sowohl für den Verbrecher einerseits, wie für das objektive Recht und den Staat andererseits 1

Vgl. Wines, On Hegel's Idea of the nature and sanction of law (In: Journal of speculativ philosophy, Vol. 18, 1884), S. 20. 1 d'Ercole, S. 95. 7

F l · oh the im: Dit Htgdaohe 8ti*flr«olitath«orie.

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Recht und Pflicht zusammen. Gerade in der Strafe kündigt sich Hegel jene Harmonie an, die sich seiner Ansicht nach vollkommen in der Sittlichkeit des Volks und Staats verwirklichen wird 1 . Somit ist die Strafe auch in Wahrheit kein Zwang und keine Gewalt, sondern Selbstbestimmung und Freiheit. Soweit sie mit Zwang und Gewaltanwendung verbunden ist, stellen diese für Hegel nur äußere Mittel dar, die auf die Verwirklichung der Freiheit abzielen! Diese Waffen werden dem Recht vom Unrecht selbst zu seiner eigenen Zerstörung dargereicht 2. Die Strafe ist das Recht des Verbrechers, denn sie ist die höchste Erscheinungsform des Rechts. Sie ehrt ihn als „Vernünftiges", denn sie ist die stärkste Offenbarung der Vernunft. Sie behandelt ihn als Freien, denn sie ist der Sieg der Freiheit. Daraus folgt, daß nicht die Strafe als solche, sondern nur die Straftat entehrend sein kann. Jene ist vielmehr ein „wahrhafter Segen" für den Schuldigen, den er erflehen muß 8 ! Als die Wiederherstellung des Rechts rehabilitiert die Strafe zugleich den Täter. Sie schafft ihm daneben Frieden, Tröstung und Versöhnung — all das aber nur, indem sie ihm Recht bringt 4 ! So ist die Strafe die Aufhebung aller Widersprüche des abstrakten Rechts, dessen Vollendung und Höhepunkt, der eigentlich im Geiste des Hegeischen Systems nicht zur „Moralität", sondern zur „Sittlichkeit" überleiten müßte. Die objektive Legitimierung der Strafe ist der Wesenskern von Hegels berühmt-berüchtigter Theorie der Strafe als der Befreiung, der Ehrung, dem Recht des Verbrechers. Ohne Zweifel haben hier der Hegeische „Begriff" und die Hegeische „Idee" eine Glanzleistung dialektischer Spekulation vollbracht. Und fast scheint der Hegeische Optimismus recht zu 1

Rechtsphilosophie, § 155, S. 139. Laistner, S. 128. 3 d'Ercole, S. 26. 4 Vgl. d'Ercole, S. 26 f.; McTaggart, Hegel's theory of punislement (In: International Journal of Ethics, Vol. VI, 1896), S. 484; Wines, S. 20. Ähnlich gewährt bei Plato der Verbrecher dadurch, daß er die Strafe auf sich nimmt, der Weltordnung die Dike und empfängt sie zugleich zurück; vgl. v. Bar, § 72, S. 204 ff. 1

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behalten, daß es genügt, auch das Unvernünftige nur „vernünftig anzuschauen", um eine in ihm verborgene Vernunft zu entdecken! Sieht man jedoch genauer zu, so kommt man zu dem Ergebnis, daß es auch Hegels großartiger Spekulation letzten Endes nur gelingt, das alte ius talionis in die Sprache der modernen Warenäquivalenzwelt zu übersetzen und es in dieser erneuerten Form zu verklären. Die Talionslehre ist ja immer noch trotz oder vielmehr wegen ihrer offenkundigen Irrationalität die spezifisch „rechtlich" befriedigendste aller Straftheorien. Das hat schon Kant erkannt, wenn er ausführt: „Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) . . . k a n n die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle anderen sind hin und her schwankend . . , 1 " Triebmäßig kann sich die Strafe nur auf das Talionsprinzip stützen und so ist die Talionslehre einfach eine Triebdarstellung als „Theorie" verkleidet. Und wenn sie auch allen Fortschritten der Kultur und Humanität widerspricht, so hat sie dafür den Vorzug der Geschlossenheit und psychologischen Folgerichtigkeit 2 . Sosehr nun aber Kants Talionslehre der gesellschaftlichen und rechtlichen Empirie entspricht, ebensosehr widerspricht Hegels Strafmetaphysik dieser Wirklichkeit. Seine Idee von der Selbstrichtung und Selbstbefreiung des Verbrechers bleibt eine bloße rechtsphilosophische „Idee", die an der strafrechtlichen Realität nichts ändert. Genau so, wie sich Hegel auf die rein spekulative Interpretation der zu seiner Zeit üblichen empirischen Kriminalstrafen beschränkt und der jeweiligen Bildungsstufe des Rechts und Staats ihre Modalität zu bestimmen überläßt, so läßt er trotz aller „Theorie" in der Praxis die Strafe als solche, d. h. als Lebensminderung 8, so bestehen, wie sie nun einmal ohne das Dazutun der Philosophen geworden ist. Deswegen bemüht er sich auch vergebens, im Verbrecher der freien „Person" zur Anerkennung 1

Kant, S. 159 f.; vgl. auch v. Hentigs Kritik an Kant, S. 162 f. ' Reik, S. 148. 8 Daran ändert auch nichts der Umstand, daß, wie v. Hentig, S. 11 ff., schildert, die Strafe auch ausnahmsweise anders empfunden werden kann.

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seitens der StrafJustiz zu verhelfen. Da die Strafe in der konkreten Empirie und profanen Wirklichkeit als Zwangsgewalt und Machtübel dem menschlich-freien Wesenszug der Person schärfstens widerspricht 1 und sogar in ihrer fortgeschrittensten Form nicht einmal die Elemente ihrer magischsakralen Vergangenheit abzustreifen vermag 2, so kann ihm das eben nur in der philosophischen Abstraktion, in der spekulativen Einbildung, in der phantasmagorischen Ideologie gelingen. ,,Der Mummenschanz, welcher dem Verbrecher als Zeichen seiner gesetzgebenden Würde eine Dornenkrone in die Stime drückt", wird so zum „grausamen Spott 3 ." Den Widerspruch von Strafe und Menschenwürde scheint Hegel aber selbst geahnt zu haben, wenn er in seiner „Religionsphilosophie" über den Untergang des Helden in der antiken Tragödie sagt: „Die höhere Versöhnung wäre, daß im Subjekte die Gesinnung der Einseitigkeit aufgehoben würde, das Bewußtsein seines Unrechts ihm aufginge und daß er sich in seinem Gemüte seines Unrechts abtäte . . . Dies Höhere macht die äußere Bestrafung . . . überflüssig 4." Die objektive Begründung der Strafe erscheint jedoch Hegel noch nicht als ausreichend. Er versucht nachzuweisen, daß der Verbrecher auch s u b j e k t i v durch seine Tat in die Strafe einwilligt. So sagt er, daß der Staat nicht nur den Begriff des Verbrechens, seine Vernunft an und für sich mit oder ohne Einwilligung der Einzelnen geltend macht. Vielmehr soll sogar in der Handlung des Verbrechers das subjektive Einverständnis seines Sonderwillens mit der Strafe liegen. Denn in seiner Tat als der Handlung eines Vernünftigen liegt 1

Trifft es doch auf die Strafe besonders zu, wenn Kelsen „den grausamen Zwang von Mensch gegen Mensch das vom Standpunkt des sozialen Ideals schwerste aller Übel" nennt (Unrecht und Unrechtsfolge, S. 546). * „Zauberakt und Opferhandlung stehen in der öffentlichen Strafe wieder auf 44, sagt v. Hentig, der die „Entzauberung 44 der Kriminalstrafe fordert (S. 60). 3 Laistner, S. 133. 4 Vorlesungen über die Philosophie der Religion (ed. Lasson, 1. Bd., 1930), S. 157.

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nach Hegel, daß sie etwas Allgemeines ist und ein Gesetz aufstellt, das der Täter in seiner Tat für sich anerkannt hat und unter das er also als unter sein eigenes Recht subsumiert werden darf. Daß seine Handlung so angesehen wird, als wenn sie die Strafe als sein eigenes Recht enthielte, ,,darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt. Diese Ehre wird ihm nicht zuteil, wenn aus seiner Tat selbst nicht der Begriff und der Maßstab seiner Strafe genommen wird; ebensowenig auch wenn er nur als schädliches Tier betrachtet wird, das unschädlich zu machen sei, oder in den Zwecken der Abschreckung und Besserung1." Aus dieser Beurteilung der Tat allein wird auch die Rolle verständlich, die Hegel dem Geständnis und dem Schwurgericht zuschreibt. Wenn der Täter, und zwar nicht nur als Träger des objektiven Vernunftwillens, sondern auch als Träger seines Sonderwillens in seine eigene Strafe einwilligt, so erübrigt sich eigentlich jedes Gericht, da er selbst sein eigenes Urteil fällen muß. Da es aber sogar Hegel nicht wagt, die Realität im Sinne dieser „Idee" auszulegen, so begnügt er sich mit der Forderung, daß „das, was die Richter sprechen, im Bewußtsein nicht verschieden sei" von dem subjektiven Selbstbewußtsein des Täters. „Erst, wenn der Verbrecher eingestanden hat, ist kein Fremdes mehr gegen ihn in dem Urteil." So ist wirklich für Hegel das Geständnis die Vorbereitung des Urteils, in ihm ist das Urteil des Verbrechers über seine Tat enthalten2. Was aber, wenn der Verbrecher leugnet? „Soll nun wieder die subjektive Überzeugung des Richters allein gelten, so . . . wird der Mensch nicht mehr als Freier behandelt!" Eine Lösung dieses Gegensatzes glaubt Hegel nun in dem Ausspruch des Geschworenengerichts „als der Seele des Verbrechers" 3 finden zu können. Natürlich muß auch der Versuch Hegels mißlingen, nachzuweisen, daß der Täter durch seine Tat auch s u b j e k t i v seiner Bestrafung zustimmt. Diese Art der Rechtfertigung 1 2 8

Rechtsphilosophie, § 100, S. 90. Reik, S. 131; vgl. auch S. 131 ff. Rechtsphilosophie, Zus. zu § 227, S. 344 f.

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der Strafe widerspricht zudem auch dem objektiven Wesenszug der Hegeischen Rechtsphilosophie. Besteht doch für Hegel das Wesen des Verbrechens gerade darin, daß der Sonderwille den allgemeinen Vernunftwillen beiseite drängt. Durch seine Tat will der Verbrecher eine Ausnahme von der Regel statuieren, im Gegensatz zum generellen Recht für sich ein P r i v i l e g schaffen — und ein Privileg besteht ja nur solange, wie es nicht allgemein isti Der Dieb, der stiehlt, kann nicht wollen, daß ihn der Bestohlene oder ein Dritter wiederbestehle; denn alsdann hätte er gar nicht zu stehlen brauchen1. Der Begriff des Diebstahls z. B. existiert nur als Gegenbegriff zum Eigentumsbegriff; er setzt die Geltung des Eigentums voraus und will sie nur ausnahmsweise durchbrechen. Allerdings ist die Haltung des Verbrechers insofern widerspruchsvoll, als er selbst den Rechtsschutz für sich beansprucht, ohne ihn seinem Opfer zuzubilligen. Aber auch das Bewußtsein des Übeltäters ist erfüllt von den herrschenden Rechtsbegriffen und -Vorstellungen. Seine Tat kann man zwar auch als „Protest gegen die bestehende Rechtsordnung" 2 bezeichnen, keineswegs aber als grundsätzliche Auflehnung gegen sie — im Gegensatz etwa zu der Handlung des Überzeugungstäters oder Revolutionärs, der bewußt das Rechtssystem als solches negiert, entweder um ein anderes an seine Stelle zu setzen oder um überhaupt jedes Rechtssystem abzuschaffen, und dessen Tat als „Ausdruck neuer Lebensanschauung wie Wetterleuchten vor dem Sturm erscheint" 8. 6. Kapitel

DIE VERGELTUNG ALS VERHÄLTNIS VON VERBRECHEN UND STRAFE Die Strafe bezeichnet Hegel insofern als Wiedervergeltung, als die Aufhebung des Verbrechens dem Begriffe nach Ver1

Hepp, Darstellung und Beurteilung der deutschen StrafrechtsSysteme, 1. und 2. Abt. (2. Aufl., 1843—1845), S. 182 f. 8 Coenders, S. 4. 8 Wolf, Verbrechen aus Uberzeugung (1927), S. 28.

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letzung der Verletzung ist und ebenso wie das Verbrechen selbst einen bestimmten qualitativen und quantitativen Umfang hat 1 . Da aber für Hegel sogar in der Rache nicht die Person, sondern der Begriff des Rechts, der sich der Person nur als Werkzeug bedient, Vergeltung übt, ist die Strafe nur das das Unrecht ergänzende Gegenglied in der dialektischen Entfaltung des objektiven Geistes2. ,,.. . Wenn man in dem Worte Wied er Vergeltung etwa die Vorstellung eines besonderen Beliebens des subjektiven Willens haben sollte, so muß gesagt werden, daß es nur die Umkehrung der Gestalt selbst des Verbrechens gegen sich bedeutet. Die Eumeniden schlafen, aber das Verbrechen weckt sie, und so ist es die eigene Tat, die sich geltend macht 3 ." Die die Wiedervergeltung begründende Identität von Verbrechen und Strafe aber ist für Hegel nicht spezifische Gleichheit, sondern nur Gleichheit im Hinblick auf ihre Beschaffenheit an sich, d. h. auf ihren Wert. Hegel zufolge zeigt die profane Wissenschaft in Übereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstand wohl, daß für das allgemeine Gefühl der Völker und Individuen das Verbrechen Strafe verdient und dem Verbrecher geschehen soll, wie er getan hat. Unlösbar ist jedoch für die Empirie die Hauptschwierigkeit, die Gleichheit bei der Wiedervergeltung näher zu bestimmen4. Im Gegensatz dazu will Hegel das Grundprinzip allein aus dem Begriff schöpfen 6: Das Verbrechen enthält seine Nichtigkeit, die als Strafe erscheint, in sich selbst. Diese innere Identität stellt sich lediglich für den beschränkten Verstand als äußerliche Gleichheit dar. Die qualitative und quantitative Beschaffenheit von Verbrechen und Strafe fallen allerdings in die Äußerlichkeit, in der eine absolute Bestimmung unmöglich ist. Diese bleibt aber als Forderung, der man sich stetig annähern kann, ohne sie je ganz erfüllen zu können6. Und die Grenze 1

Rechtsphilosophie, § 101, S. 90. Hartmann, S. 324. 8 Rechtsphilosophie, Zus. zu § 101, S. 311. 4 a. a. O. § 101, S. 90 f. * Vgl. Hepp, S. 189 f. 0 Rechtsphilosophie, § 101, S. 91. 2

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ist dadurch gegeben — so haben die Hegelianer Hegeli Gedanken in seiner eigenen Sprache weiter entwickelt —, daß an einem bestimmten Punkt die Qualität in die Quantität umschlägt und umgekehrt. Ein Zuviel oder Zuwenig an Strafe kann also zwar an einem Grenzpunkt die Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit verwandeln, andererseits verbleibt aber ein gewisser Spielraum für die freie Bewegung der Strafe. Das Strafquantum ist kein absolut bestimmtes, sondern liegt zwischen einem Maximum und Minimum. Innerhalb dieses Feldes soll nach der Meinung Hegels1 und der Hegelschüler2 die Strafe auch Abschreckungs- und Besserungszwecken Einfluß gewähren können. Die Form der Wiedervergeltung, die von der materiellen Identität von Verbrechen und Strafe ausgeht, d. h. also das jus talionis, wie es insbesondere Kant gefordert hat 3 , lehnt Hegel entschieden ab. Sie widerspricht auch vollständig seiner Dialektik, für die ja Gleichheit stets Identität der Identität und der Nichtidentität ist. Für Hegel schließt die Gleichheit immer die Ungleichheit ein und hebt sie in der Synthese auf 4 . Wenn die Strafe die Einheit von abstraktem Recht und Verbrechen darstellt, so ist innerhalb dieses dialektischen Dreitakts jedes Moment von dem anderen verschieden. Nicht nur Recht an sich und Delikt, auch Delikt und Strafe müssen einander nicht nur gleichen, sondern sich auch wieder voneinander unterscheiden. Im Widerspruch zum Verbrechen enthält die Strafe das Moment des abstrakten Rechts in sich: deshalb ist sie eine rechtmäßige Verletzung im Gegensatz zur unrechtmäßigen der Straftat. Dieser Begriffsunterschied muß aber auch in Erscheinung treten; die beiden Verletzungen müssen verschiedene Qualität haben. Andern1

a. a. O. § 99, S. 89. ζ. B. Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts (1857), §31, S. 33; vgl. über die Hegelianer unter den Kriminalisten des 19. Jahrhunderts (Abegg, Köstlin, Hälschner, Berner und Bar), insbes. Sulz, §§ 4 ff., S. 16 ff. 3 a. a. O. S. 158 ff. 4 d'Ercole, S. 39 ff. 1

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falls wäre im Geiste Hegels die Strafe nicht die Synthese von Verbrechen und Recht an sich1. Diese Stellung der Strafe in der dialektischen Entwicklungsreihe macht auch verständlicher, warum sich Hegel nicht darauf beschränkt, die Negation der Negation, als die sich ja die Strafe für ihn darstellt, in einer bloßen Mißbilligung und Nichtigkeitserklärung des Verbrechens durch das Gesetz zu erblicken, was er nach Meinung mancher2 konsequenterweise hätte tun müssen. Macht man Ernst mit der Hegeischen Idee, daß die Strafe kein Übel sein darf, so ist diese Schlußfolgerung, die auch v. Bar in seiner Reprobationstheorie gezogen hat 3 , natürlich sehr naheliegend. Hegel ist jedoch der Auffassung, die Nichtigkeit des Verbrechens müsse auch nach außen hin sichtbare Gestalt annehmen und sie werde nur so realisiert, daß das Verbrechen durch Gegenzwang aufgehoben werde. Hegel erscheint der Zwang nicht nur bedingt gerechtfertigt, sondern direkt notwendig als zweiter Zwang, der den ersten aufzuheben hat 4 . Doch bemerkt er richtig, das abstrakte Recht dürfe nicht primär als ein Zwangsrecht definiert werden, da der Zwang nur eine Folgeerscheinung sei, die erst auf dem Umwege über das Unrecht eintrete. Das abstrakte Recht ist nach Hegel nur deshalb Zwangsrecht, weil das Unrecht Gewalt darstellt. Nur deshalb muß die Existenz der Freiheit gegenüber der Gewalt selbst durch eine äußerliche Handlung und gewaltaufhebende Gewalt erhalten werden 6. Aber selbst wenn man mit Hegel unterstellt, das Verbrechen müsse als Negation wiederum negiert und die Negation der Negation auch äußerlich verwirklicht werden, so folgt hieraus noch nicht zwingend, daß der Rechtszwang die Form der Strafe annehmen müsse. Vielmehr würde auch dann jede 1

d'Ercole, S. 46 f. ζ. Β. Heinze, Strafrechtstheorien und Strafrechtsprinzip (In: Holtzendorffs Handbuch des deutschen Strafrechts, 1. Bd., 1871), § 25, S. 298, und Hepp, S. 180. « Vgl. über diesen Sulz, § 8, S. 60 ff., insbes. S. 65. 4 Rechtsphilosophie, § 93, S. 85. ö a. a. O. § 94, S. 85 f. 1

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andere Rechtssanktion dem Hegeischen System Genüge leisten. So ergibt sich, daß der Begriff der Negation des Verbrechens bei seinem großen Umfang so leer ist, daß der Begriff der Strafe aus ihm nicht eindeutig abzuleiten ist 1 . Wenn man die Wiedervergeltung als Absurdität darzustellen vermocht hat, so trägt nach Hegel die Theorie der spezifischen Vergeltung die Schuld daran. Delikt und Strafe sind für Hegel nur nach ihrem Werte und nicht nach ihrer Qualität gleich. Er erinnert daran, daß der Wert schon bei den Verträgen und beim privatrechtlichen Schadenersatz von Bedeutung ist. Bei dem Verbrechen soll die Gleichheit nur die Grundregel für das Wesentliche bilden, das der Täter verdient hat, aber nicht die äußere spezifische Gestalt der Vergeltung bestimmen. Diebstahl und Raub einerseits, Geld und Gefängnisstrafe andererseits erscheinen Hegel nur in ihrer äußeren besonderen Gestalt einander ungleich. Für vergleichbar hält er sie ihrem Wert nach, der in ihrer allgemeinen Eigenschaft bestehen soll, Verletzungen zu sein2. Das ist aber kein tertium comparationis, anhand dessen man Delikt und Strafe in befriedigender Weise miteinander vergleichen könnte. Auf Hegels Erkenntnis, daß beide Verletzungen sind, ließe sich nur die von ihm selbst abgelehnte drakonische Gesetzgebung aufbauen. Abgesehen hiervon liefert sie keinen Vergleichsmaßstab, vermittels dessen Strafen und Vergehen in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gebracht werden könnten. Doch könnte man gerade im Geiste der Hegeischen Wiedervergeltungslehre einen Schritt weiter gehen. Hegel selbst führt aus, daß, soweit das Delikt nur das äußerliche Dasein oder den Besitz trifft, es sich nur um ein Übel und einen Vermögensschaden handelt. Die Beseitigung dieser Verletzung durch den Schadenersatz ist die Aufgabe der zivilrechtlichen Genugtuung. Insofern die Beschädigung zerstörend und unwiederherstellbar ist, soll dabei an die Stelle der qualitativen spezifischen Beschaffenheit des Scha1 2

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Vgl. Laistner, S. 132. Rechtsphilosophie, § 101, S. 91 f.

dens die allgemeine Beschaffenheit als Wert treten 1 . Der Wert des Schadens wird in Geld geschätzt und der so ermittelte Geldbetrag als Ersatz geleistet. Nun ließe sich bei den Vermögensdelikten ihr „Wert" ebenso feststellen, allerdings nur, wenn man lediglich den durch sie angerichteten Vermögensschaden und nicht die „Unendlichkeit" des Verbrechens berücksichtigte. Der Wert des Verbrechens wäre in diesem Falle gleich dem Werte des angerichteten Schadens. Wie läßt sich aber der „Wert" einer Strafe berechnen? Bei der Geldstrafe macht das keine Schwierigkeit. Bei der Freiheitsstrafe hat Zachariae auf einen interessanten Gesichtspunkt hingewiesen2. Zachariae erkennt nur die Freiheitsstrafe, die als „geistige Strafe" auch noch am besten in Hegels Straflehre paßt, als gerecht an. Da es nun einer gewissen Zeit bedarf, um Geld oder Geldeswert zu verdienen, so soll die Gefängnisstrafe so lange dauern, wie erforderlich wäre, um eine dem angerichteten Schaden entsprechende Geldsumme im Taglohn zu verdienen. Wäre ζ. B. eine Sache im Werte von 100 RM gestohlen und wäre der Taglohn zu 5 RM zu veranschlagen, so müßte der Dieb 20 Tage Gefängnis verbüßen. Das Geld und die Arbeitszeit als Wertmesser sind also die Vergleichsmaßstäbe zwischen dem Delikt und der Freiheitsstrafe. Die Bestimmung ihres beiderseitigen Wertes anhand dieser Kriterien hätte Hegel an sich nahegelegen, da er ja auf dem Boden der Arbeitswerttheorie der klassischen politischen Ökonomie steht, nach welcher der Wert jeder Ware durch die Dauer der auf sie verwandten Arbeitszeit bestimmt wird 8 . Wenn Hegel es dennoch unter1

a. a. O. § 98, S. 87 f. Anfangsgründe der philosophischen Rechtslehre (1805), § 42 ff., S. 35 ff.; vgl. über diesen Hepp, S. 111 ff., und Heinze, §20, S.284f. 8 In seiner Wertlehre geht Hegel schon 1805/06 mit seiner Unterscheidung von „abstrakter" und „konkreter" Arbeit sogar über die Klassiker weit hinaus (vgl. insbes. Realph., S. 213 ff., und zu Hegels Wertlehre überhaupt Kraus, Wirtschaft und Gesellschaft bei Hegel. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 25, 1931/32, S. 27 f.). 8

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läßt, dem Beispiel Zachariaes zu folgen, so geschieht das vielleicht sowohl in der Erkenntnis, daß dessen Strafberechnung bei allen Nichtvermögensdelikten auf allergrößte Schwierigkeiten stößt, wie auch aus der gerade von Hegel gewonnenen Einsicht heraus, daß das Wesen des Verbrechens ja nicht nur die Verletzung eines subjektiven Rechtsguts, sondern auch die der objektiven Rechtsordnung ausmacht. Da Hegel aber die Talion ablehnt und auch keinen sonstigen Maßstab für die Vergleichung von Verbrechen und Strafe zu finden vermag, so füllt auch seine Theorie die Lücke, die jede Vergeltungslehre zeigt, nicht aus. Hegel fällt sogar beim Mord, für den er die Todesstrafe fordert, auf den Standpunkt des ius talionis zurück. Hier hat ihm die traditionelle Anschauung einen bösen Streich gespielt1! Seine Begründung, das Leben umfasse das Dasein in seinem ganzen Umfang und demzufolge gebe es dafür keinen Wert, so daß nur die Entziehung des Lebens selbst übrig bleibe2, ist unhaltbar. Von dieser Voraussetzung aus müßte Hegel die Todesstrafe ζ. B. auch für die Versklavung und den Religionszwang fordern, da diese Verbrechen nach seiner Auffassung ja ebenfalls das Dasein in seinem ganzen Umfange aufheben 3. Die Todesstrafe paßt jedoch noch viel weniger als irgendeine sonstige Leibesstrafe in das Hegeische Strafensystem. Gegen sie sprechen alle Gründe, die von Hegel selbst oder in seinem Geiste gegen die Talion überhaupt angeführt worden sind. Weitere Gesichtspunkte, aus denen heraus die Todesstrafe dem Geiste Hegels und des Hegelianismus widerspricht, hat der Hegelianer d'Ercole zusammengestellt4. 1

v. Bar, § 97, Anm. 234, S. 278. Rechtsphilosophie, Zus. zu § 101, S. 311. 8 a. a. O. § 96, S. 86 f. 4 So sollen sich auch bei Mord stets mildernde Umstände nachweisen lassen, die aus dem jedem Verbrechen immanenten Moment der Unfreiheit stammen (S. 68). Die Schuld des Mörders könne infolgedessen nie so groß sein, wie die Strafe des Todes (S. 72). Da die Strafe ein Moment des objektiven Geistes sei, so dürfe sie nur in geistiger Form erscheinen (S. 94). Folglich sei die Todesstrafe 2

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Die Grundprinzipien seiner Straftheorie legt Hegel in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen ihm entgegengesetzten strafrechtlichen Richtungen noch näher dar, wobei er sich insbesondere gegen Klein, Feuerbach, Beccaria und, ohne Namensnennung, Kant wendet. Hegel zufolge kommt es bei der Straftheorie wesentlich auf den Begriff an. Infolgedessen ist sie auch seiner Meinung nach in der positiven Rechtswissenschaft sehr schlecht weggekommen. Hegel ist es bei der Strafe weder bloß um ein Übel, noch um dieses oder jenes Gute zu tun, sondern es handelt sich einzig und allein um Unrecht und um Gerechtigkeit. Die objektive Betrachtung der Gerechtigkeit muß der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen sein. Der moralische Gesichtspunkt und die subjektive Seite der Tat sind demgegenüber unwesentlich. Die verschiedenen Seiten, welche die Strafe als Erscheinung bietet, sind wohl für ihre M o d a l i t ä t von Bedeutung, setzen aber schon als Begründung voraus, daß das Strafen an und für sich gerecht ist. Für das Strafrecht kommt es nur darauf an, daß das Verbrechen als Rechtsverletzung und nicht als Hervorbringen eines Übels aufgehoben wird. Die Existenz des Verbrechens ist das wahrhafte Übel, das zu beseitigen ist. Hegel wirft den relativen Straftheorien, der Verhütungs-, Abschreckungs-, Androhungs-, Besserungstheorie vor, daß sie zunächst die Strafe als Übel voraussetzen, und ebenso oberflächlich ihre Wirkung als ein Gut bestimmen1. Wenn das Verbrechen und die Strafe nur als ein Übel betrachtet werden, dann kann man freilich — so wendet sich Hegel gegen Klein, den ,,Strafgesetzgeber Preußens"2 — wie wie jede andere Körperstrafe als ungeistig abzulehnen (S. 95 ff.). Aus all diesen Gründen verlangt d'Ercole als Strafe für den Mord die lebenslängliche Zellenhaft (prigiona cellulore) (S. 79). — Daß übrigens das ganze Problem der Todesstrafe auch von dem Glauben an ein persönliches Fortleben nach dem Tode abhängig ist, hebt sehr einleuchtend v. Hentig hervor (S. 200). 1 Rechtsphilosophie, § 99, S. 88 f. 8 v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge (2. Bd., 1905),

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dieser es als unvernünftig ansehen, ein weiteres Übel bloß deswegen zu wollen, weil schon ein Übel vorhanden ist 1 . Besteht kein innerer Zusammenhang zwischen dem Verbrechen und seiner Aufhebung, dann hat wiederum Klein recht, wenn er in der Strafe nur eine willkürliche Verbindung eines Übels mit einer unerlaubten Handlung sieht8. Hegel glaubt aber, daß Klein das Problem der Strafe überhaupt nicht sieht8. Mit besonderer, aber nicht ganz berechtigter Schärfe wendet sich Hegel wiederum gegen Feuerbach, jenen großen Strafrechtsreformator, der ähnlich wie Hegel selbst sich zwar „von den Maßlosigkeiten überkühner Reformer freigehalten hat", jedoch auch „wahrem Fortschritte zugetan war" 4 . Die wahre Bedeutung der Feuerbachschen Lehre vom psychischen Zwange hat Hegel nicht erkannt. Ihre Realistik ist dem idealistischen Philosophen zuwider und ihre Praktikabilität interessiert den Theoretiker nicht 6 . Im einzelnen zieht Hegel die Rechtmäßigkeit der Strafandrohung in Zweifel, weil sie den Menschen nicht als Freien behandelt. Bekanntlich will Feuerbach den sinnlichen Antrieb zur Tat durch die Vorstellung seines Übels aufheben, „das größer ist als die Unlust, die aus dem nicht befriedigten Antrieb zur Tat entspringt"·. Das Recht und die Gerechtigkeit haben aber doch, wendet Hegel ein, ihren Sitz in der Freiheit und im Willen und nicht in der Unfreiheit, an die sich die Drohung richtet. „Es ist mit der Begründung der Strafe auf diese S. 144; vgl. über Klein auch Hepp II, S. 109 ff., und Landsberg, I I I / l , S. 515 ff. 1 Klein, Grundsätze des gemeinen deutschen und preußischen peinlichen Rechts (1796), § 9, S. 6. * Rechtsphilosophie, § 101, S. 92. 8 Dyde, Hegel's conception of crime and punishment (In: The Philosophical Review, Vol. V I I , 1898), S. 64. 4 Coenders, Richtlinien aus den Lehren Feuerbachs für die moderne Strafrechtsreform (1914), S. 3. 5 Uber die praktischen Wirkungen der Abschreckung vgl. etwa Coenders, Strafrechtliche Grundbegriffe, §2, S. 8 ff.; über ihre Problematik v. Hentig, S. 172 ff., und Reik, S. 154 f. • v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (ed. Mittermaier, 13. Ausg., 1840), § 13, S. 37.

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Weise, als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt." Immerhin muß auch Hegel zugeben, daß der psychologische Zwang für die qualitative und quantitative Unterscheidung der Delikte von Bedeutung ist 1 . Gegen den großen Aufklärer Beccaria, der dem Staat das Recht zur Todesstrafe abspricht 2, macht Hegel geltend, daß der Staat gar nicht, wie Beccaria auf Grund des Naturrechts annimmt, auf einem Vertrag beruht. Sein Wesen ist auch nicht der Schutz und die Sicherung des Lebens und Eigentums seiner Bürger, vielmehr ist er ihnen gegenüber eine höhere Wirklichkeit, die ihr Leben und Eigentum für sich selbst beanspruchen kann 8 . Daß die Todesstrafe, wie sie Hegel selbst in diesem Zusammenhang zu begründen versucht, einen Fremdkörper in seinem System darstellt, ist schon angedeutet worden. Die Aufhebung des Verbrechens vollzieht sich für Hegel innerhalb der Sphäre des abstrakten Rechts in der Form der Rache. Diese ist zwar dem Inhalt nach gerecht, da sie insoweit Wiedervergeltung ist. Aber ihre Form ist mangelhaft, da sie die Handlung eines subjektiven Willens ist, der dem Verbrecher als ein Sonderwille gegenüber tritt und bei dem es stets vom Zufall abhängt, ob er gerecht ist. So wird die Rache leicht zu einer neuen Rechtsverletzung. Auf der Stufe des abstrakten Rechts ist dieser Widerspruch unlösbar; er erscheint als ein Progreß in die „schlechte Unendlichkeit" 4 . Hegel nimmt ihn zum Anlaß, einen Willen zu fordern, der als subjektiver Sonderwille das Allgemeine als solches will. Damit glaubt Hegel den Übergang von der äußeren Abstraktheit des Rechts zur inneren Subjektivität der Moral gefunden zu haben6. Der wahre Fortgang müßte aber gerade 1

Rechtsphilosophie, Zus. zu § 99, S. 310. Beccaria, Uber Verbrechen und Strafen (ed. Esselborn, 1905), § 16; über Beccaria vgl. v. Bar, §82, S. 233 ff., und v. Hippel, § 16, S. 266 ff. • Rechtsphilosophie, § 100, S. 89 f., und Zus. zu § 100, S. 310. 4 a. a. O. § 102, S. 92 f. 5 a. a. O. § 103, S. 93. β

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im Sinne Hegels der von der rächenden zur strafenden Gerechtigkeit sein. Diese verkörpert sich bei ihm in derjenigen der höheren Sittlichkeit angehörenden Gestalt der „bürgerlichen Gesellschaft", die er „Rechtspflege" nennt 1 . Darunter versteht Hegel den gesamten Prozeß, durch den das Recht in der Gesellschaft wirksam wird: Gesetzgebung, Rechtsprechung und Gesetzesvollziehung2. In ihm wird das Recht an sich zum positiven Gesetz und die Rache zur Strafe 3. Die Verwirklichung des Rechts ist nunmehr Aufgabe des Gerichts 4. Die höchste Erscheinungsform der Rechtspflege aber ist für Hegel auf dem Gebiet der Strafjustiz das Schwurgericht, das die Idee, nach welcher der Verbrecher sich selbst richtet, zu realisieren hat 6 . So vollendet sich Hegels Straftheorie, die zunächst mit der Sanktionierung der absoluten Vergeltung ganz konservativ-autokratisch anhebt, in der Postulierung und Idealisierung einer so liberal-demokratischen Rechtsinstitution, wie sie das echte Schwurgericht stets und überall darstellt. Ein Ergebnis, das nur den verwundern kann, der den zwiespältig konservativ-reaktionären und zugleich liberal-revolutionären Charakter Hegels und seiner Philosophie übersieht! 1 2 3 4 6

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a. a. O. § 209, S. 169. Vgl. Larenz, Privatrecht, S. 144 f. Rechtsphilosophie, § 211, S. 169 ff. a. a. O. § 219, S. 177. Vgl. a. a. O. Zus. zu § 227, S. 345.

III. SCHLUSS

Zum Abschluß seien die wesentlichen Gesichtspunkte der Hegeischen Strafrechtstheorie nochmals kritisch zusammengefaßt und in den Zusammenhang seines Gesamtsystems sowie die Problemstellung des klassischen Idealismus überhaupt eingefügt. Wie die klassische Philosophie und ihr „gewaltigstes System" in ihren Bemühungen, die Welt als ein Reich der vernünftigen Freiheit nachzuweisen, scheitern, so die Hegeische Strafrechtstheorie im besonderen an dem Versuch, Verbrechen und Strafe als Teilerscheinungen jenes Freiheitsbereichs einsichtig zu machen. Will man verstehen, warum sich für Hegel überhaupt aus der Problematik seiner Philosophie und darüber hinaus aus der Aufgabestellung der Idealphilosophie schlechthin die Notwendigkeit ergibt, die Strafe auf die Freiheit und Vernunft zu gründen, so darf man sich nicht damit begnügen, seine Theorie schlicht als Wiedervergeltungslehre aufzufassen. Denn dann läuft man Gefahr, ihn einfach ohne weiteres den vielen Vorgängern 1, Zeitgenossen und Nachfolgern gleichzusetzen, die von Pythagoras 2 bis zu Binding 8 die Strafe auf die Idee der gerechten Vergeltung gründen wollen und für die alle Wiedervergeltung bedeutet, die Strafe als ein Übel aufzufassen, das dem Verbrecher von dritter Seite wegen des begangenen Verbrechens auferlegt wird 4 . Ganz anders will doch Hegel das Problem, das wirklich das „exemplum crucis der Rechtslehre" ist 6 , anfassen und 1

Vgl. über diese das leider nicht vollendete Werk von Günther, a. a. O. 2 Vgl. über diesen Laistner, S. 8, und Hepp, S. 6 f. 3 Grundriß des Deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil (7. Aufl., 1907), § 92, S. 226 ff.; vgl. über Binding ν. Hippel, § 21, S. 474. 4 Vgl. Grotius* klassische Definition: „Est autem poena generali significa tu malum passionis, quod infligitur ob malum actionis." „De iure belli ac pacis libri très1*, lib. IV, cap. 20, § 1. (Zit. nach Berolzheimer, S. 201.) 5 Hartmann, S. 320. 8

F l e c h t h e i m : Die Hegeleche 8trafreohtetheorie.

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lösen. Er kann sich nicht damit abfinden, daß man das Übel, das immer wieder frech sein Haupt erhebt, nur durch ein weiteres Übel wie ,,den Hund mit dem Stock" soll bändigen können. Zwar geht der Rationalismus des alten Hegel nicht mehr so weit, wie der gute Krug gemeint hat, der von ihm, Hegel, die Deduktion seiner — des Herrn Krug — Feder verlangt hat 1 . In der Natur läßt Hegel jetzt der irrationalen Faktizität recht weiten Spielraum. Und auch in der Welt des Geistes kennt er ,,faule" und „nichtige Existenz". Nur das, ,,was wirklich (im prägnanten Sinne des Hegeischen Begriffs der Wirklichkeit!) ist, das ist vernünftig". Demzufolge gibt Hegel zu, daß das Verbrechen ein unvernünftiges Übel ist. Er kann das um so eher tun, als die Eigenart seines Rationalismus ja gerade darin besteht, die unvernünftige Existenz, die er auch in der Welt des Geistes findet, nicht einfach zu leugnen, sondern sie zu einem untergeordneten Momente der übergreifenden Vernunftwirklichkeit herabzusetzen und so „aufzuheben" 2. Denn „was vernünftig ist, das ist (am Ende der dialektischen Entwicklung auch) wirklich" 3 . So glaubt der Optimist Hegel an den Endsieg der Vernunft, der allein den zeitweiligen und stellenweisen Triumph der Unvernunft erträglich macht. Das Verbrechen mag darum nur seinen freien Lauf nehmen! Der Philosoph, der es nicht verhüten kann, tut so, als ob er es gar nicht hindern wollte! Wird es doch aufgehoben werden: Denn „das Verbrechen muß nichtig sein oder es gibt kein Recht 4 "! Bei der Behandlung der Theologischen Jugendschriften ist 1

Immerhin werden noch in der Jenenser Realphilosophie die Zahnschmerzen als „vegetabilischer unmittelbarer Prozeß" metaphysisch deduziert! (Realph., S. 145, Anm. 5.) 2 „Wenn auch der reife Hegel das Irrationale kennt" (Steinbüchel, S. 216), so ist er deswegen aber noch lange nicht „ohne Zweifel der größte Irrationalist, den die Geschichte der Philosophie kennt" (Kroner, Von Kant bis Hegel, 2 Bde., 1921—1924, I I , S. 271). Kroner übersieht geflissentlich, daß auch die „Vernunft" und nicht nur der „Verstand" eine Form der Ratio ist. 8 Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 14. 4 Fischer, II, S. 701.

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angedeutet worden, wie sich Hegel schon damals darum bemüht hat, die geschehene Tat ungeschehen zu machen und wie er schließlich die Versöhnung in der Liebe gefunden zu haben glaubt. Doch inzwischen ist aus dem Lebens- der Geistesphilosoph, aus dem Theologen der Staatsideologe geworden. Bereits in der Jenenser Realphilosophie sieht man den Übergang vollzogen. In seiner Zeit sucht Hegel das versöhnende Schicksal vergeblich. In der modernen Welt ist, um das Wort Napoleons zu variieren, das Schicksal zur Politik geworden. Der „politische Staat" ahndet das Delikt mit der Strafe. Hegel kann sie nur so rational interpretieren, daß er sie als vernunftnotwendige „Aufhebung" des Verbrechens auslegt. Damit erreicht er ein Doppeltes. Die Irrationalität des Verbrechens wird besiegt und zu einem untergeordneten Moment in der Entfaltung der Vernunft degradiert. Gleichzeitig wird die Ratio erhöht und erhält eine neue Gestalt in der Reihe ihrer Offenbarungen. Der Ermordete ist zwar tot, und auch Hegel kann ihn zu keinem neuen Leben erwecken, aber der Mord „ g i l t " nicht mehr! Das Leben ist zwar vergangen, aber die Vernunft hat gesiegt! Und ihr Sieg gewinnt Leben und nimmt Gestalt an in der Strafe. In der juristischen Realität, wo sie ursprünglich und rechtmäßig beheimatet ist, stellt die Strafe die Repression des Delikts dar. Für Hegel ist das Verbrechen ein unvernünftiger und unfreier Schein, der sich zudem direkt gegen das vernünftige und freie Recht auflehnt. Kein Wunder, daß Hegel der dialektischen Notwendigkeit des eigenen Systems unterliegt und die Strafe einfach für die Synthese von abstraktem Recht und Unrecht, für die Wiederherstellung des Rechts auf höherer Stufe, für die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit erklärt. Es ist ihm unverständlich, wie man gleich dem „begrifflosen" Feuerbach in der Strafe Zwang sehen kann. Wenn man das tut, ist die Strafe dann nicht noch unvernünftiger und willkürlicher als Klein sich einfallen läßt?l Die Strafe ist aber doch überall und immerdar vorhanden, sie bekämpft das Verbrechen, sie ist ein Rechtsinstitut, sie 8*

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ist eine Funktion des sittlichen Staats, sie ist eine Erscheinungsform des objektiven Geistes — wie soll sie da unvernünftig sein? Muß nicht im Gegenteil auch an ihr sich der Ausspruch als richtig erweisen: „Wer es vernünftig ansieht, den sieht es auch vernünftig an?!" Und da sie der V e r n u n f t angehört, so ist sie der F r e i h e i t verschrieben! Ist schon die Strafe nicht etwas Gutes, so aber auch erst recht kein Übel — sie ist schlicht das Recht und die Gerechtigkeit! Wenn aber die Strafe weder Zwang noch Gewalt, sondern Selbstbestimmung und Freiheit ist, so steht sie dem Verbrecher nicht als „feindselige Macht" gegenüber. Sie ist sein Recht und seine Ehre. Ist doch der Verbrecher zwar der Selbstverlust von Recht, Freiheit und Vernunft, aber doch nur, auf daß die ,,listige Idee" sich an der Divina commedia erfreue, in deren Verlaufe der Verbrecher seine Rolle alsbald mit der des Rächers und Richters vertauscht, sich das höchste Unrecht in das höchste Recht und die vernunftlose Unfreiheit in die vernünftige Selbstbestimmung verwandelt. So glaubt Hegel Verbrechen und Strafe, als „die Dissonanzen der Welt", wie den „Zwist der Liebenden"1 versöhnt zu haben. Geflissentlich übersieht er, daß Unrecht und Bestrafung jener Sphäre angehören, deren Widersprüche er selbst so treffend unter dem Motto „Bürgerliche Gesellschaft" schildert. Im Verbrechen spiegeln sich die Interessengegensätze der bürgerlichen Gesellschaft wie in einem Brennpunkt, und die Strafe ist am wenigsten berufen, diesen Widerstreit in Harmonie zu lösen. Ist doch der Verbrecher nicht nur abstrakte Personifikation des Begriffs „Unrecht" — „juristischer Täter" —; sondern zugleich auch konkretes Glied der menschlichen Gesellschaft, „zoon politikon". Und als solches weigert er sich beharrlich, daran zu glauben, daß die Strafe die Entfremdung zwischen ihm und der Gesellschaft aufhebt. Hegel sucht ihn zu überreden, daß die äußere Gewalt, die ihm die anderen antun, in Wahrheit die Freiheit ist, zu der 1

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Hölderlin, Hyperion.

er sich selbst bestimmt. Wie das Wesen von Hegels Philosophie darin besteht, die Unvernunft und Unfreiheit durch spekulativ-dialektische Deduktion zur Vernunft und Freiheit zu erheben, ohne sie deshalb in der Wirklichkeit auch nur anzutasten, so läßt er auch in der Welt des positiven Rechts Verbrechen und Strafe bestehen wie sie sind und begnügt sich damit, sie anders — wie er glaubt, vernünftiger — „anzusehen" als der profane Jurist. Dadurch wird aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit weder aus Unrecht Recht noch aus Zwangsgewalt Freiheit. Solange aber Unrecht und Zwangsgewalt in der sozialen Realität miteinander ringen, solange kann keine Idee verhindern, daß Verbrechen und Strafe stets von neuem den Beweis erbringen, daß jene Wirklichkeit noch kein Reich der vernünftigen Freiheit isti

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NACHWORT

Habent sua fata libelli — dieses Römerwort setzte Karl Korsch der 1929 erschienenen zweiten Auflage seiner auch heute noch lesenswerten Schrift „Marxismus und Philosophie" voraus. Auch die jetzt hier neu vorgelegte Schrift hat einige Schicksale erlebt: 1934 wurde sie von der Juristischen Fakultät der Universität Köln als Doktorarbeit angenommen und in erweiterter Fassung 1936 in dem altrenommierten Verlag Rudolf M. Rohrer in Brünn publiziert — natürlich konnte ich damals manches „Subversive" nur andeuten. Allzubald folgten Hitlers Heere dem Buch nach Brno und der Verlag verschwand von der Bildfläche. Auch die Doktorwürde wurde mir nach meiner Ausbürgerung 1938 entzogen — und erst nach 1945 wieder zurückgegeben. Erstaunlicherweise sind aber Hegel wie die Problematik des Strafrechts heute kaum weniger aktuell als vor 40 Jahren; auch meine Analyse beider scheint mir durch inzwischen erschienene Arbeiten wie etwa das von Professor A. A. Piontkowski 1947 in Moskau und in deutscher Übersetzung 1960 in Ostberlin publizierte umfangreiche Werk „Hegels Lehre über Staat und Recht und seine Strafrechtstheorie" noch nicht überholt zu sein. Was Hegel und seine Philosophie anlangt, so ist die Literatur über ihn weiter angewachsen. Es ist nicht einfach, den vielschichtigen und widerspruchsreichen Philosophen auf einen Nenner zu bringen — heute ebensowenig wie vor 155 Jahren, als seine „Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß" erschienen. Freilich hat es nicht an Versuchen gefehlt, Hegel eindeutig zum Liberalen und Progressiven, ja, zum Radikalen und Revolutionären zu stempeln. Was ich davon halte, habe ich schon 1936 angedeutet. An meiner damaligen Interpretation der Hegeischen Philosophie als einem Kompromiß, einem Abweg, einer „hinterlistigen Theologie" und einer Mythologie habe ich nicht viel zu korrigieren. Ich möchte nur noch stärker hervorheben, daß sein Kompromiß sich nicht auf das 118

beschränkte, „was in der Gegenwart eine bessere Zukunft ankündigt", sondern auch ein solches mit den herrschenden Mächten seiner Zeit war. Den Begriff „mythologische Utopie" halte ich nicht mehr aufrecht, statt dessen scheinen mir Termini wie Ideologie oder Theodizee geeigneter. Hinzufügen möchte ich aber vor allem, daß Hegel ganz stark in der optimistisch-harmonisierenden Tradition eines Leibniz verharrt hat — auch für Hegel war die Welt die beste aller möglichen Welten und daher keiner grundlegenden Innovationen und „Revolutionen", höchstens kleinerer Korrekturen und begrenzter Reformen bedürftig. Allerdings würde ich heute nicht mehr behaupten, Hegels Entwicklung habe sich immer stetig, bruchlos und geradlinig vollzogen, nicht einmal „letzten Endes". Zwischen dem Jüngling, der zusammen mit Hölderlin Rousseau und die Französische Revolution bewundert sowie in eine „schönere Zukunft unserer Gesellschaft" blickt und dem etablierten Familienvater und arrivierten Staatsbediensteten klafft ein Abgrund. Wenn Ortega y Gasset behauptet, Hegels Philosophie sei „imperatorisch, cäsarisch, tschingis-khanisch", so übersieht er doch, daß sich der alte Hegel nur allzu dienstfertig vor Napoleon I. wie vor Friedrich Wilhelm III., nach Engels „einem der größten Holzköpfe, die je einen Thron geziert" haben, verneigt hat. Der alte Hegel hat schließlich dem, was man Prussifizierung nennen könnnte, nicht widerstanden. Er war und blieb, wie das jetzt Hubert Kiesewetter in seiner minutiösen Studie „Von Hegel zu Hitler" nachgewiesen hat, ein Anbeter des Machtstaates. Dessen historisches Ende konnte sich Hegel nicht vorstellen. Es war daher auch keineswegs nur Zufall, daß die Hegelianer das Dritte Reich bejaht haben. Ob Hegel selber so wie die Heidegger und Carl Schmitt, Emge und Larenz auf Hitler hereingefallen wäre, wollen wir nicht entscheiden. In der Anpassung des genialen Intellektuellen, der seine frühen Erwartungen und Hoffnungen scheitern sieht, an den status quo, die zu fast allen Zeiten sozusagen das normale gewesen ist, war Hegel sicherlich ein Meister. Vielleicht hätte das Genie dennoch etwas weiter gesehen als seine Epigonen; es sei auch nicht verschwiegen, daß die freilich recht schwachen liberalen Elemente in der preußischen Autokratie 119

nach 1815 ihn nicht gestört haben. Andererseits fand für Hegel die Geschichte in seiner Gegenwart ihren Abschluß. Ernst Bloch, der glaubt, keine Zukunft würde Hegel missen, hat richtig bemerkt, Hegel habe die Zukunft geleugnet. Das Ende der Geschichte versteht sich bei Hegel sowohl theoretisch-methodisch wie aber auch vor allem gesellschaftlich-praktisch. Die Antiquiertheit des alten Hegel, der am Schluß seines Lebens seinen Frieden mit dem preußischen Absolutismus und der preußischen Bürokratie machen wollte, die er höchstens noch von innen zu erobern gedachte, ist typisch für diesen Staatsideologen. Seine Staatsbegeisterung erklärt wohl auch, daß auf den internationalen Hegel-Kongressen die Teilnehmer aus Ost und West, soweit sie Marxisten-Leninisten oder orthodoxe Hegelianer sind, Hegel nicht zuletzt deswegen feiern, weil er sich so gut dazu eignet, die etablierten Staatsbürokratien aus Ost und West in ihrer friedlichen Koexistenz zu verklären. So begrüßenswert es nun aber ist, wenn die Mächtigen in West und Ost den Kalten Krieg aufgeben, die Aufgabe der kritischen Intelligenz hier wie drüben bleibt es, die „heilige" oder „unheilige" Allianz der Häupter beider Welten mit einem humaneren Staat und Recht der Zukunft zu konfrontieren. Wir haben von der ideologischen Verzerrung der Dialektik des Geschichtsprozesses bei Hegel gesprochen, wenn wir auch nicht leugnen, daß ein radikal-kritisches Element in der Dialektik bewahrt blieb — aber eben doch nur als ein Moment, das immer wieder von den affirmativ-apologetischen neutralisiert wurde. Das Dialektische an der Dialektik ist und bleibt nämlich, daß diese selber immer wieder dahin tendiert, doppeldeutig, ambivalent, widersprüchlich, d.h. selber „dialektisch" zu werden. Einer dialektischen Betrachtung erscheint diese Dialektik als die spekulative „Vernunft", wie sie sich im logischen Prisma bricht und so gebrochen sich uns darbietet. Sie ist der Ubergang von der hellen Oberfläche des logisch-rationalen zur dunklen (oder wenn man so will: überhellen) Tiefe des alogischen Irrationalen, damit aber auch der Zugang für die Logik zu diesem Untergrund und zugleich die dauernde kritische Speisung und Korrektur der Logik aus den Springquellen jener Tiefe. Die Dialektik ist so eine Grenze der Logik, die keine Schranke ist, sondern vielmehr die logische Ver120

standeserkenntnis über sich selbst hinaus zu treiben versucht. Gleichzeitig ist sie der einzige Weg, der die vollkommen irrationale Geistestätigkeit der logischen Kritik näherzurücken vermag. Aus dieser ihrer eigenartigen Stellung als eines Zwischenbereiches und Uberganges, als eines Nicht-mehr-nur-Logischen und Noch-nichtganz-Alogischen oder umgekehrt als eines Nicht-mehr-ganz-Alogischen und Noch-nicht-nur-Logischen ergibt sich ihre Stärke und ihre Schwäche. Stark ist sie der Logik gegenüber als die Kritik des Lebens an den Widersprüchen, Aporien, Schranken des Verstandes. Stark ist sie als der Vorstoß und das Eindringen der Vernunft in die dunkelsten und geheimsten Regionen des Irrationalen. Schwach wird sie als die Zersetzung und Auflösung logischer Bestimmtheit und Klarheit durch den Einbruch des Alogischen, sobald man sie am Maßstab der Logik mißt. Und schwach ist sie als der unbeholfene, tastende, unglückliche, von vornherein stets von neuem zum Scheitern verurteilte Versuch, am relativ untauglichen Objekt das Unbewußte, Fließende, Widerstreitende bewußt zu machen, zufixieren, aufzuhellen. Immer wieder eignet sich eine bestimmte — sagen wir ruhig: entfremdete, pervertierte — Form von Dialektik zur Verzerrung der Wirklichkeit und zur Verherrlichung der Machthaber, zur Täuschung der Machtlosen und zur Verhüllung des Terrors. Will man sich diesen Gebrauch oder Mißbrauch von Dialektik alles historisch-schmückenden „Beiwerks" entblößt sozusagen abstraktidealtypisch vor Augen führen, so erinnere man sich nur der „dialektischen" Belehrung, die schon in Shakespeares „Einer Widerspenstigen Zähmung" Petruchio seinem Käthchen erteilt: Als gehorsames Weib habe diese dem Eheherrn immer und überall zu glauben, auch wenn dieser den Mond als Sonne, einen Mann als eine Frau (oder umgekehrt!) ausgibt. Von dieser Dialektik als Stütze einer patriarchalischen Familienstruktur führt ein nicht ganz kurzer, aber doch direkter Weg zu Orwells Dialektik der totalitärterroristischen Staatsstruktur mit ihrer Verkehrung des Kriegs-, Terror-, Propaganda- und Rationierungs-Ministeriums in das Friedens·, Liebes-, Wahrheits- und Uberfluß-Ministerium. Daß Orwells gegenutopische Dialektik den dialektisch-materialistischen PseudoUtopismus des totalitär-terroristischen Herrschaftssystems eines 9

F l e c h t h e i m : Die Hegeleohe Strmfrechtetheorle.

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Stalin oder auch jedes anderen „Großen Bruders" getreulich widerspiegelt — das sehen wir heute nur allzu deutlich. Wie rasch und leicht nun aber die von Hegel übernommene emanzipatorischrevolutionäre Dialektik eines Marx und Engels in die gegenrevolutionäre Dialektik des Terrors und der Täuschung bei Stalin umschlagen konnte, wird jeder zu bedenken haben, der den Stellenwert der Hegeischen Dialektik abzuwägen versucht. In der extrem terroristisch-totalitären Diktatur reduziert sich das Strafrecht zu einem untergeordneten Element des staatlichen Unterdrückungsapparates. Wie weit dieser Apparat überhaupt noch als Rechtsordnung zu deuten ist, mag fraglich sein, wenn wir „im Recht nicht nur ein Aggregat von Zwangsbefehlen sehen, sondern idealtypisch eine Ordnung von Normen, die ein Minimum an logischer Konsistenz aufweisen, die bis zu einem gewissen Grade zugleich allgemein und spezifisch, relativ feststehend und dauernd sind und deren Verkündigung und Abänderung nur nach festgelegten formalen Verfahrensweisen stattfinden kann" (so die Formulierung in meiner Schrift „Von Hegel zu Kelsen", Seite 52). Aber auch all jene Staaten, die sehr wohl als Rechtssysteme zu gelten haben, bleiben Gewaltordnungen, so lange sie, wenn auch noch so legal und rechtens, physische Gewaltsamkeit anwenden — sei es im Kriege durch Tötung und Verstümmelung von Menschenmassen oder Zerstörung und Beschädigung von Sachen, sei es aber auch im Frieden durch Vernichtung von Menschenleben (Hinrichtung), Zufügung von Qualen und Körperschäden aller Art (Tortur, Prügelstrafe usw.) oder auch durch Beraubung der Freiheit (Zuchthaus, Sicherungsverwahrung, Arrest usw.). Der Krieg und die Strafe als Akte offenkundigster physischer Gewaltsamkeit sind sicherlich nicht zufällig immer wieder in ganz ähnlicher Weise gerechtfertigt worden — auch Hegel war ja zugleich ein begeisterter Befürworter des Krieges wie ein nimmermüder Verteidiger der Strafe. Kein Wunder, daß wie die Rechtfertigung des Krieges so auch die der Strafe stets das exemplum crucis einer jeden Rechtstheorie gewesen ist. Die enge Verbindung von Recht und Gewalt gibt nun einmal zu denken — um so mehr, da es bisher kaum je einen Staat gegeben hat, der total und final auf den Krieg als Mittel 122

seiner Politik verzichtet hätte. Ebenso selten dürfte eine Rechtsordnung sein, die auf das malum passionis der Strafe verzichtet (von einigen sogenannten primitiven Rechtssystemen sehen wir hier einmal ab). Die ideologische Rechtfertigung dieser Formen der Repression ist um so gewichtiger, als der Mensch doch immer wieder zumindest zu fragen beginnt, ob diese Phänomene der Unterdrückung wirklich so ganz unabänderlich in der Natur der Dinge beschlossen liegen oder gar Resultat eines „unerforschlichen göttlichen Ratschlusses" sind. Zumindest ahnt man hier und da, daß sie doch eher Ausfluß der eigenen Unvollkommenheit menschlicher Ordnung sind. Solange aber alle Versuche, sich von diesen Verhängnis- und leidvollen „Gebilden von Menschenhand" zu emanzipieren, vergeblich bleiben, solange werden die Menschen immer wieder versucht sein, aus der Not eine Tugend zu machen. Es scheint nun einmal in der „Natur" des Menschen zu liegen, daß er das, was er nicht oder nur mit allzu großer Kraftanstrengung zu ändern vermag, hinnimmt und verdrängt oder gar rechtfertigt. Wie schon Rousseau bitter beklagt hat, gelangt schließlich der Sklave dazu, seine Ketten zu lieben. So ist mit der Legitimierung von Herrschaft und Staat auch die Theorie von der Rechtfertigung der Kriminalstrafe ein Stück jener stets von neuem unternommenen Theodizee, die dem hilflosen Menschen helfen soll, die Unvernunft der Natur und aller bisherigen Kultur leichter zu tragen. Die Theodizee und ideologische Verhüllung werden aber insbesondere dann zu einem bedeutsamen Unternehmen, wenn im Verlaufe weitgehender gesellschaftlicher Arbeitsteilung ein Stand von Ideologen und Theologen, Staatsdienern und Rechtsgelehrten entsteht, deren besonderes Geschäft es wird, das scheinbar Unabänderliche philosophisch zu interpretieren und juristisch zu legitimieren. In diesen nun schon Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende währenden Prozeß der Ideologisierung fügt sich Hegels Versuch der Rechtfertigung von Staat und Strafe recht nahtlos ein. Von einer „kopernikanischen Wendung" kann man bei ihm höchstens insofern sprechen, als er auch in seiner Rechtsphilosophie seine dialektische Methode so anwendet, daß er mittels einer Fiktion, eines Kunstgriffs die frühkapitalistisch-feudale Gesellschaft, den konstitutionellen Ständestaat und das autokratisch-repressive 123

Rechtssystem seiner Tage in einen Idealstaat und in eine gerechte Rechtsordnung verzaubert. Hegels Interpretation des preußischen bürokratisch-ständischen Staatswesens als eines harmonisch-idealen Gemeinwesens kann sich dabei vielleicht noch auf den von der Französischen Revolution unternommenen, allerdings auch bald fehlgeschlagenen Versuch berufen, die bürgerliche Klassengesellschaft mittels der politischen Demokratie zu überwinden; dagegen findet Hegels Metaphysik des Strafrechts kaum irgendwelche praktischen Vorbilder in seiner eigenen Gesellschaft. Zwar kann er sich natürlich auf das alte Vergeltungsprinzip stützen, das allerdings auch nie logisch konsequent zur Anwendung kommen konnte. Hegel will ja aber gar nicht Vergeltungstheoretiker sein. Im Gegensatz zu all jenen, die in der Strafe gerechte Vergeltung und damit auch vor allem ein malum passionis gesehen haben, soll nach Hegel die Strafe kein Übel und auch nur in einem höheren Sinne Vergeltung sein. Die Strafe ist für ihn eine Erscheinung menschlicher Freiheit und objektiver Vernunft. In einer Zeit, in der die Liebe ohnmächtig und nach dem Wort Napoleons die Politik zum Schicksal geworden ist, muß auch ein Hegel seine „Jugendtorheiten" überwinden und darauf verzichten, die Wunden, die das Verbrechen geschlagen hat, in der allmächtigen Liebe geheilt zu sehen. War der junge Hegel noch nonkonformistischer Lebensphilosoph und revoltierender Theologe, so ist ja der reife Mann mystifizierender Geistesphilosoph und konservativer Staatsideologe. Will man sich nun mit dem allmächtigen Staat versöhnen, in dessen Dienst man ja schließlich nur allzu gern treten möchte, so muß man auch dessen Mittel und Wege, mit dem Verbrechen fertig zu werden, akzeptieren und glorifizieren. Ein Beccaria hatte die grausamen Strafen seiner Zeit angegriffen und die Abschaffung von Folter und Todesstrafe verlangt. Hegel, der nun seinen Platz in der sozialen Hierarchie seiner Zeit gefunden hat, verteidigt die gängigen Strafen seiner Zeit einschließlich der Todesstrafe. Richter und Henker, Kerker und Galgen erlebt er nur noch aus der Ferne — da fällt es ihm nicht gar so schwer, ihre Rationalität zu stipulieren. Diese glaubt er um so leichter beweisen zu können, als er an dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Verbrechen und 124

Strafe festhält, ohne allerdings hieraus alle Konsequenzen zu ziehen. Zudem kritisiert Hegel auch jene Straftheorien, die den Rechtsbrecher mit Gewalt und Zwang abschrecken, rehabilitieren und resozialisieren wollen — ohne Rücksicht auf die Schwere des Verbrechens. Gegenüber der Strafpraxis extrem-terroristischer Regime steckt in seiner Verteidigung des Prinzips nulla poena sine lege wie in seiner Verklärung des ius talionis zweifellos ein humankritischer Kern. Dennoch kommt man nicht um die Feststellung herum, daß auch dann noch die Strafen, wie sie Hegel fordert und verteidigt, seinen eigenen Frühidealen und zugleich auch dem Traum des Menschen von einer gerechten Ordnung deutlich widersprechen. Wir wollen hier aber gar nicht von der utopischen Antizipation einer ganz neuen Ordnung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sprechen. Der alte Hegel war wohl alles andere als Revolutionär. Aber selbst eine zukunftsoffene „futurologische" Haltung, die sich der Vergänglichkeit des Bestehenden und der Möglichkeit der Verbesserung bewußt ist, ist beim alten Hegel kaum noch zu finden. Je älter er wird, um so mehr ist er darauf aus, die juristische, politische, soziale Realität seiner Zeit und seiner Gesellschaft zu verteidigen, ja, sie vor den subversiven Angriffen der Reformer zu schützen. So soll nun, was wirklich ist, auch schon vernünftig sein. Es fragt sich dann nur, ob die Strafe w i r k l i c h ist oder nicht. Das ist sie aber doch zweifellos — weiß der „Realist" Hegel nur allzu gut, wie wenig die Machthaber seiner Zeit daran interessiert sind, die Strafe abzuschaffen oder auch nur radikal zu reformieren. So liegt es nahe, die Strafe als vernünftige und befreiende Äußerung des Rechts und des Staates, die ja auch als Erscheinungen des objektiven Geistes an der absoluten Vernunft partizipieren, zu interpretieren. Unvernünftig ist daher für Hegel nur das Verbrechen. Dieses darf nicht anerkannt werden, es darf nicht gelten. Es einfach zu ignorieren, geht allerdings sogar über die Vorstellungskraft des Metaphysikers Hegel hinaus. Geschehen ist es nun einmal, und da tut der Philosoph einfach so, als ob er es auch gar nicht ungeschehen machen möchte. Es genügt ihm, wenn eine so hehre Instanz wie der Staat es mittels seines Rechts für nichtig erklärt. Eine 125

solche Konstruktion paßt sowohl in die sozio-kulturelle Landschaft seiner Zeit als auch in den Bau seines dialektischen Systems mit dem ewigen Fortschritt von der These über die Antithese zur Synthese. So wird die Strafe systemgerecht zur Synthese von abstraktem Recht und Unrecht, zur Wiederherstellung des Rechts auf höherer Stufe erhoben. Und — absurderweise, könnte man vielleicht mit Camus sagen — soll gerade der Verbrecher die Rolle des Rächers und Richters mitspielen. Damit er dazu in der Lage ist, muß er allerdings aller historisch-soziologisch-psychologischen Merkmale entkleidet werden — als einzige Charaktermaske bleibt für ihn nur die der abstrakten Personifikation des Begriffes Unrecht. Anders als der große historische Held, den Hegels Weltgeist nur einmal eine Rolle spielen läßt, muß der Rechtsbrecher sogar — hier ist Hegel sparsam! — im Strafrecht gleich zwei Rollen übernehmen. Nach seiner Tat muß der juristische Täter als Verkörperung des — allerdings verletzten und entfremdeten — Rechts sich nun selber schuldig sprechen und so dem Recht zu seinem höchsten Triumph verhelfen. Diese Doppelrolle begründet Hegel damit, daß angeblich das Verbrechen eine logische Inkonsistenz enthalte: Der Verbrecher habe die im Recht verkörperte allgemeine Norm verletzt, zugleich aber gerade durch seinen Rechtsbruch die allgemeine Norm doch auch als für sich verbindlich anerkannt. Hätte Hegel diesen seinen Cedankengang konsequent zu Ende geführt, so hätte er allenfalls noch Platz für Gefängnis und Scharfrichter gefunden, jede Art von Richter und Gericht wäre überflüssig geworden. Der alte Hegel ist natürlich viel zu konformistisch und „realistisch", so radikale Schlußfolgerungen zu ziehen. Da sind schon Kleist und Kafka konsequenter — der Prinz von Homburg spricht sich ja sozusagen selber sein Urteil und in der grauenhaft-grausamen Geschichte „In der Strafkolonie" geht dem armen Soldaten während der Tortur „um die sechste Stunde" „der Verstand auf" und sein zermartertes Gesicht verklärt „die endlich erreichte schon vergehende Gerechtigkeit" ebenso wie der Offizier sich unbedingt selber zu Tode foltern will. Zwar gibt Hegel in seiner Religionsphilosophie bei der Behandlung des Untergangs des Helden in der antiken Tragödie zu, die höhere Versöhnung mache die äußere Bestrafung überflüssig; in 126

seiner Rechtsphilosophie mißtraut aber der Staatsideologe sowohl seiner eigenen Spekulation als auch dem Verbrecher zu sehr, als daß er auf Gericht und Gefängnis verzichten wollte. Im Idealismus von Kant bis Hegel kommt es immer wieder vor, daß abstraktfortschrittliche Ideen den Philosophen doch nicht daran hindern, sich im konkreten Einzelfall mit der Reaktion zu akkomodieren. Eine Ausnahme hiervon ist die Betonung der Bedeutung von Geständnis und Schwurgericht bei Hegel. Schlägt hier der einstige Bewunderer der Französischen Revolution bei dem Systematiker noch so weit durch, daß dieser ausnahmsweise einmal seine eigene Idee von der Dignität des Täters ernst nimmt? Das Schwurgericht wird man in der Tat verglichen mit den Gerichten des alten Preußen als Fortschritt bewerten können — der Wert des Geständnisses ist dagegen schon fragwürdig: Man denke nur an die mittelalterliche Institution der Folter zur Erzwingung eines Geständnisses oder an die fatale Rolle der Geständnisse in den stalinistischen Schauprozessen der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre! Der Widerspruch bei Hegel zwischen einem halbwegs humanen Prozeßrecht und dem repressiv-autoritären materiellen Strafrecht bleibt gravierend, zumal ja jenes höchstens den Unschuldigen schützt, dieses dagegen den sogenannten Schuldigen um so härter trifft. Was haben wir nun aber von der Hegeischen Idee einer angeblichen Inkonsistenz des Verbrechens zu halten? Verhält sich der Verbrecher eigentlich soviel unlogischer als seine honetten Zeitgenossen? Letztlich sind ja auch diese immer wieder darauf aus, zu ihren Gunsten Privilegien und Ausnahmen von einer allgemeinen Regelung zu erwirken. Der wichtigste Unterschied ist vielleicht der, daß der sogenannte gemeine Täter nicht über genügend Macht verfügt, um die Anerkennung seines Privilegs in der Gesellschaft durchzusetzen. Gelingt ihm das doch einmal, so gilt er eben nicht mehr als Rechtsbrecher, sondern als Schöpfer neuen Rechts, das seine Gewalt legalisiert und legitimiert — aus dem Räuber wird so ein Raubritter und bald sogar ein Ritter ohne Furcht und Tadel, aus dem Banditen ein Heerführer und Staatsstifter, aus dem Hochverräter ein Führer oder Monarch, aus dem Massenmörder und Terroristen ein Nationalheld, aus dem Ketzer ein 127

Kirchenfürst und Religionsgründer. Eine ideologische Legitimierung läßt sich dann leicht aus Religion, Recht, Sitte usw. herholen und mehr oder weniger gewaltsam gegen Ungläubige und Ketzer, Häretiker und Skeptiker durchsetzen. Nun wird der moderne Staat als Wohlfahrts- und Rechtsstaat legitimiert, und insofern er das zum Teil wirklich ist, liegt hier ein zu beachtender und zu bewahrender Fortschritt vor. Doch wer kann übersehen, daß auch der modernste Staat noch wesentlich Militär- und Gewaltstaat ist? Der enge Zusammenhang von Staat und Gewaltsamkeit beunruhigte schon Augustinus, wenn er fragte: „Was sind die Staaten denn überhaupt anderes als große Räuberbanden?" Noch schärfer hat der französische evangelische Militärpfarrer André Happel formuliert, es habe noch keinen Staat gegeben und gäbe auch heute keinen Staat, der nicht den Mord als Existenzbedingung, als Mittel zum Uberleben oder als Mittel zu seiner Gründung benötigt habe. Seit Kain den Abel erschlug, ziehen sich tatsächlich Mord und Gewalt wie ein roter Faden durch die Geschichte aller Staaten und Gesellschaften hindurch. Die gewaltsame Unterdrückung der Massen ging Hand in Hand mit dem ewigen Kampf der Gewalthaber untereinander. Wie Lewis Mumford in einer tiefgründigen Betrachtung über „Utopie, Stadt und Maschine" ausgeführt hat, fungierten die ersten Stadtstaaten und Monarchien als riesige Maschinen, die aus Menschen bestanden, und diese Maschinen überleben noch heute in der Armee und Bürokratie. Ohne diese Maschinen oder Apparate wären vielleicht „Errungenschaften" wie die „ägyptischen Pyramiden, die römischen Wasserleitungen und gothischen Kathedralen" (die Marx und Engels rühmen), aber auch die Eisenbahnen und Hochöfen, Traktoren und Tanks, Raketen und Wasserstoffbomben nie aus den Massen herausgepreßt worden. Eine solche Machtstruktur konnte insbesondere in einem Zeitalter des Mangels und der Armut wohl nur durch Gewalt und Strafe zusammengehalten werden. Hören wir hierzu Mumford: „Nicht umsonst war das Zepter das Symbol der Macht des Königs; jener vornehme Ersatz der Keule, mit der der König durch einen einzigen Schlag auf den Kopf jeden töten konnte, der sich seinem Willen entgegenstellte. Auf einer der ältesten Darstellungen eines Königs, der 128

Narmer-Palette, hält der König sein Zepter über einen Gefangenen und zerstört — in der Gestalt eines Stieres — eine Stadt. Der Preis der Utopie waren demnach vollständige Unterwerfung unter eine Zentralgewalt, Zwangsarbeit, Spezialisierung auf Lebenszeit, unbeugsame Reglementierung, einseitige Kommunikation und Kriegsbereitschaft, kurz: eine Gemeinschaft verängstigter Menschen, die ständig mit Hilfe der Keule, der Peitsche und des Knüppels zum stummen Gehorsam gezwungen wurden." Das Verbrechen ist also kaum so viel irrationaler als die Strafe, die auch bei Hegel i. W. im alten Schema der Rache und Vergeltung fixiert bleibt. Selbst in ihrer modernen Form läßt die Strafe nur selten die Elemente ihrer magischen und sakralen Vergangenheit hinter sich zurück. In unserer hochtechnisierten und angeblich so humanen Zivilisation erinnert sie mit ihrer die Persönlichkeit verletzenden Gewaltsamkeit ständig an Zauberakt und Opferhandlung der Primitiven. So scheint sie nicht einmal den von ihr angestrebten Zweck des Schutzes der bestehenden Rechts-, Besitzund Herrschaftsordnung erfüllen zu können. Was wir an empirischem Material besitzen, deutet darauf hin, daß die Gefängnisse eher Brutstätten neuer Verbrechen sind, als daß sie zur Verhütung des Verbrechens beitragen. Man kann daher eine sarkastische Bemerkung von Marx, wonach der Verbrecher für den Unterhalt von Polizisten und Professoren wie für die Erzeugung von Kunst, schöner Literatur usw. sorgt, auch umdrehen und sagen, daß das Strafrecht, die Gerichte, die Polizei ihrerseits erst das Verbrechen produzieren. Doch zurück zu Hegel. Halten wir seine philosophischen und juristischen Abstraktionen für unzureichend und liegt uns daran, die sich aus dem Verhältnis von Verbrechen und Gesellschaft ergebenden Probleme anzugehen, so werden wir zunächst zu fragen haben, ob es das Verbrechen im Sinne von Hegel überhaupt gibt. Ist nicht die Mannigfaltigkeit der Verbrechen und der Verbrecher entscheidend? Wie erwähnt, dürfte allen Verbrechern in Vergangenheit und Gegenwart gemeinsam sein, daß sie nicht mächtig genug sind, für sich als Individuum oder Gruppe eine offizielle Position und einen legitimen Status zu erzwingen. Unterscheiden sollte man aber auch wohl zwischen dem Gesinnungstäter, der die 129

bestehende Rechtsordnung im Interesse einer anderswertigen Ordnung verletzt, und dem sogenannten gemeinen Täter, der, wie Hegel richtig sah, mit seiner Tat das herrschende Rechtssystem als solches nicht negiert, vielmehr nur eine Ausnahme zu seinen Gunsten durchsetzen möchte. Ein solcher Täter mag nun wiederum entweder einen grundlegend allgemein menschlichen Wert verletzen (so etwa im Falle eines Vaters, der sein Kind zu Tode quält) oder einen nur für die gegebene Gesellschaftsordnung bedeutsamen Wert gefährden (Beispiele wären etwa Steuerhinterziehung, Beamtenbeleidigung, Veruntreuung von Heeresgut) oder ein sogar innerhalb der bestehenden Ordnung bereits antiquiertes Gut negieren (wie etwa heute im Falle der Sodomie, der Homosexualität — vor der Abschaffung des § 175 StGB —, der Gotteslästerung). Weiter wird zu bedenken sein, welcher Klasse oder Schicht der Rechtsbrecher angehört oder welche soziale Position er innehat — es macht doch wohl einen Unterschied, ob ein Bettler Brot stiehlt oder ein Großgrundbesitzer einen Wilddieb niederknallt, ob ein Deserteur seinen Verfolger erschießt oder ein General seine Soldaten in den Heldentod sendet. Schließlich wird man auch psychologische Gesichtspunkte berücksichtigen. Der das bestehende Strafrecht verletzende Gesinnungstäter wird sich meist auch psychologisch von den Vorurteilen, Tabus und Stereotypen seiner Zeit befreit haben. Sofinden wir ihn an dem einen Ende eines Kontinuums, an dessen anderem Ende etwa der arme Teufel steht, der so von der gängigen Moral- und Rechtsauffassung beherrscht wird, daß er, angetrieben von seinem bösen Gewissen, mehr oder weniger bewußt nach Strafe verlangt. Nur dieser Typ paßt in das Hegeische Schema — insofern hat Hegel sogar schon Erkenntnisse der modernen Tiefenpsychologie wie etwa Reiks „unbewußtes Strafbedürfnis" antizipiert. In der Regel wird aber der Täter weder ein extrem masochistischer noch ein ausgesprochen sadistischer Typ sein — ähnlich wie sein rechtlicher gesonnener Zeitgenosse wird er der Rechtsordnung auch psychologisch mehr oder weniger ambivalent gegenüberstehen, sie zwar nicht prinzipiell negieren, wohl aber ein Privileg zu seinen Gunsten postulieren. Wie bereits angedeutet, liegt hier weniger ein logischer Widerspruch als ein gesellschaftlicher Widerstreit vor. 130

Trotz Hegel geht es uns nicht um die Bestätigung, sondern um die Aufhebung der Strafe. Hierzufinden sich einige wenige Ansätze schon beim jungen Hegel. Diese Gedanken, die Bentham, aber auch Marx weitergeführt haben, nehmen gewisse Überlegungen der modernen Psychologie und Kriminologie voraus. Dabei handelt es sich nicht einmal um die „utopische" Perspektive der Fortbildung der Gesellschaft zu einer friedlichen, genossenschaftlichen Weltordnung, in der Not und Krieg, Elend und Entfremdung beseitigt oder zurückgedrängt wären. Daß dann die Belohnung ganz an die Stelle der Versagung treten würde, ist selbstverständlich. Aber auch schon auf dem Wege zu einer besseren Ordnung eröffnen sich heute Möglichkeiten, den Delinquenten als Menschen zu behandeln, dessen Würde nicht mit Füßen getreten wird. Nicht zufällig ist ja die Kriminalstrafe seit eh und je in allen Machtsystemen mit physischem Schmerz, Qual und Tod, zumindest aber mit Erniedrigung und Vergewaltigung der Persönlichkeit nur allzu eng verbunden gewesen. Und selbst in unserem angeblich so fortgeschrittenen Zeitalter, da sich alle Staaten und Regierungen zu den Menschenrechtserklärungen der Vereinten Nationen bekennen, ist bei allen bescheidenen Ansätzen zur Reform des Strafrechts und des Strafvollzugs in kleineren Staaten wie etwa Schweden eine wirklich humane Strafe noch immer eine contradictio in adiecto — im Westen wie im Osten, im Norden wie im Süden. Ja, wie Amnesty International und andere internationale Organisationen immer wieder feststellen müssen, scheint in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein wachsender Trend zu neuer Brutalisierung im Umgang mit Straf-, Untersuchungs- und anderen Gefangenen vorherrschend zu sein: „In den letzten zehn Jahren ließen mindestens 60 Regierungen ihre politischen Gegner foltern." In Südamerika zum Beispiel „werden Polizei und Militär zu immer grausameren Quälereien angestachelt". Resolutionen zum Schutz der Menschenrechte dienen vielen Regierungen „nur als Alibi: die Folterknechte bleiben im Dunkeln, aber sie quälen ihre Opfer weiter" (so Die Zeit vom 4.1.1974, Seite 2). Humanisierung des Strafrechts hieße dagegen natürlich Verzicht auf Todesstrafe und Torturen jeder Art, aber auch auf die Frei131

heitsstrafe in ihrer bisherigen primitiven Form. An deren Stelle müßten Geldbußen sowie verschiedene Formen der Wiedergutmachung wie aber auch der Rehabilitierung und Resozialisierung treten. Dabei muß man wiederum auf der Hut davor sein, daß nicht wie in Irrenanstalten der Sowjetunion gewaltsame Verkrüppelung und Zerstörung der Persönlichkeit durch pervertierte medizinisch-ärztliche Eingriffe als „Behandlung" und „Heilung" ausgegeben werden können. Die die Tradition von Gandhi, Martin Luther King, Dolci u. a. fortführenden Anhänger gewaltfreier Aktion unterscheiden bei ihren Kampfmaßnahmen gegen Machthaber und Autoritäten zunehmend zwischen nicht-verletzendem Zwang, der sich ausschließlich auf bestimmte Handlungen beschränkt, und totaler verletzender Gewaltsamkeit. Diese Unterscheidung sollte ähnlich auf die Formen staatlicher Machtausübung, insbesondere auch auf die Strafe, Anwendung finden. Eine humane Behandlung von Gefangenen müßte sich wenigstens in den Grenzen eines nicht-verletzenden, rational-funktional legitimierten Zwanges halten, wenn schon nicht auf jeden Zwang verzichtet wird. Damit würde man sich auch in Ubereinstimmung mit den neuesten Erkenntnissen der Sozial- und Tiefenpsychologie sowie der Kriminologie befinden — auch hier beginnt man sich mit dem Gedanken der Minimisierung der Gewalt anzufreunden. Solange aber all diese Versuche auf so viel Widerstand und Unverständnis stoßen, wie das auch heute noch bei uns der Fall ist, wird man gut daran tun, immer wieder jede Mystifikation des Strafrechts, wie sie bei Hegel anzutreffen ist, mit unserer elementaren Sinneserkenntnis zu konfrontieren. Solange wird der bittere Aufschrei eines Oscar Wilde: „ I know not wether Laws be right, or wether Laws be wrong: all that we know who lie in goal is that the wall is strong", als durchschlagende Widerlegung aller Tüfteleien der Philosophen und Ideologen ernst zu nehmen sein. Oscar Wilde war kein Uberzeugungstäter. Erst recht aber haben seit den Tagen des Sokrates diese immer wieder den Beweis dafür erbracht, daß die größere Rationalität auf ihrer Seite, nicht auf der der Richter, Scharfrichter und Kerkermeister zufinden ist. Jene sind in ihren Aussprüchen und Handlungen Zeugen dafür, daß die so132

genannte soziale Technik des Strafrechts eigentlich auf lange Sicht eine asoziale und antiquierte Technik ist. Niemand kann dafür bürgen, daß die Menschheit je so weit kommen wird, das in Wort und Tat einzusehen. Sollte sie das aber doch eines Tages tun, so dürfte man in jenem Museum der Altertümer, in dem Friedrich Engels neben dem Spinnrad und der bronzenen Axt die ganze Staatsmaschine unterbringen wollte, auch Muster von Galgen und Schafott, von Ketten, Kerkerriegeln und Fesseln vorfinden — zusammen mit einem Exemplar von Hegels Rechtsphilosophie.

Berlin, im Januar 1975

Ossip K. Flechtheim