Hegels Schüler C. L. Michelet: Recht und Geschichte jenseits der Schulteilung [1 ed.] 9783428506576, 9783428106578

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Hegels Schüler C. L. Michelet: Recht und Geschichte jenseits der Schulteilung [1 ed.]
 9783428506576, 9783428106578

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MATTHIAS MOSER

Hegels Schüler C. L. Michelet: Recht und Geschichte jenseits der Schulteilung

Philosophische Schriften Band 54

Hegels Schüler C. L. Michelet: Recht und Geschichte jenseits der Schulteilung

Von

Matthias Moser

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität zu München hat diese Arbeit im Jahre 2001 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-10657-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand auf Anregung und unter Anleitung meines Doktorvaters, Herrn Professor Dr. Dres. h. c. Peter Landau, am Leopold-Wenger-Institut für Rechtsgeschichte der juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Mein erster und herzlichster Dank gilt selbstverständlich meinem Doktorvater für seine geduldige Betreuung und fachliche Unterstützung. Von ihm lernte ich neben fachlichen Inhalten insbesondere die Vorgehensweise, rechtsphilosophische Fragestellungen stets auch von einer historischen Warte aus zu bedenken. Meinen Dank weite ich auch auf die übrigen Institutsangehörigen aus. Zu größter Dankbarkeit bin ich auch Herrn Prof. G. Küenzlen vom Institut für Theologie und Gesellschaft der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität der Bundeswehr in München verpflichtet. Indem er mir die wissenschaftliche M i t arbeit an seinem Institut angeboten hat, wurde die Durchführung meiner Studie stark erleichtert und inhaltlich erheblich bereichert. Gleichermaßen dankbar bin ich Frau Dr. E. Schwinger vom selben Institut für ihre stetige fachliche und persönliche Begleitung und Unterstützung in den erfolgreichen wie in den ernüchternden Phasen meiner Forschung. Weiterhin fühle ich mich meinen beiden philosophischen Lehrern, Herrn Professor W. Kerber sowie Herrn Professor J. Schmidt von der Hochschule für Philosophie/Philosophische Fakultät S.J. in München dankbar verbunden. Sie haben mir die Befähigung zur Beschäftigung mit Rechtsphilosophie bzw. mit idealistischer Philosophie vermittelt, so daß ich Interesse an einer eigenständigen rechtsphilosophischen Studie bekam. Herrn Prof. H. Jansohn von der Universität Koblenz / Landau danke ich dafür, daß er mich als Schüler für philosophische Fragestellungen sensibilisierte. Zudem danke ich meinen Eltern, meinem Bruder, meinen Freundinnen und Freunden, deren Anregung, Beistand und Hilfe für das Gelingen des Werkes unentbehrlich war. München, i m März 2003

Matthias Moser

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13 Erster Teil Die Hegeische Schule

A. Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels I. Rekonstruktion II. Aporien B. Die Theorie der Schulspaltung I. Historischer Sachverhalt

16 16 16 22 27 27

1. Ausgangslage

28

2. Streitpunkte

29

a) Unsterblichkeitsfrage

29

b) Theologische Frage

30

c) Christologische Frage

31

3. Die Rechts-Links-Einteilung des Hegelianismus II. Rezeption in der Philosophiegeschichte

32 35

1. Zeitgenössische Darstellungen

36

2. Rückblickende Darstellungen

40

III. Unstimmigkeiten der Spaltungstheorie

50

1. Unstimmigkeiten der dichotomischen Einteilung

51

a) Argumente gegen die Spaltungsthese

51

b) Argumente für die Einheit des Hegelianismus

57

2. Unstimmigkeiten beim Linkshegelianismus

59

3. Unstimmigkeiten beim Rechtshegelianismus

61

IV. Neueinteilung des Hegelianismus

67

8

Inhaltsverzeichnis

C. Die Philosophie der Tat

70

I. Positionierung der Gegenwart

71

II. Verhältnis von Weltgeist zu endlichem Geist III. Verhältnis von Theorie zu Aktion D. Zusammenfassung

73 75 79

Zweiter Teil Michelet Α. Zur Person Michelets

81 81

I. Leben

82

II. Werke

96

1. Exkurs: Michelets „Denkbekenntniss" III. Rezeption

101 105

B. Rechtsphilosophie

113

I. Übersicht

113

II. Geschichte der Rechtsphilosophie 1. Darstellung

118 118

a) Die griechische Rechtsphilosophie

119

aa) Die Pythagoreer

119

bb) Piaton

120

cc) Aristoteles b) Die römische und mittelalterliche Rechtsphilosophie

122 124

aa) Die Moral der Stoiker

125

bb) Die römischen Rechtslehrer

125

cc) Machiavellis Politik

126

c) Die Rechtsphilosophie der neueren Zeit aa) Die Naturrechtslehrer (a) Das eudaimonistische Naturrecht (1) Das selbstsüchtige Naturrecht

127 128 128 128

Inhaltsverzeichnis (aa) Hobbes

128

(bb) Spinoza

129

(2) Das sozialistische Naturrecht

130

(aa) HugoGrotius

130

(bb) Pufendorf

130

(3) Das synkretistische Naturrecht

131

(aa) Wolf

131

(bb) Friedrich II

131

(b) Das rationalistische Naturrecht (1) Rousseau

132 133

(2) Kant

134

(3) Fichte

135

(c) Das geschichtliche Naturrecht

136

(1) Savigny und die historische Schule

136

(2) Thibauts praktische Rechtslehre

137

(3) Gans und die philosophische Rechtswissenschaft

137

bb) Kommunismus und Sozialismus (a) Die Gemeinschaftslehre (1) Die kirchliche Gemeinschaftslehre

138 139 139

(2) Die weltliche Gemeinschaftslehre

139

(3) Die Saint-Simonisten

140

(b) Fouriers Gesellschaftslehre

141

(c) Blanc und Proudhon

141

cc) Michelets eigener Standpunkt

142

2. Einordnung

143

a) Stahl

143

b) Ahrens

145

C. Geschichtsphilosophie

148

I. Konzeption

148

1. Aufgabe

149

2. Einteilung

150

a) Die vorgeschichtliche Zeit

151

b) Die geschichtliche Zeit

151

c) Die nachgeschichtliche Zeit

153

10

Inhaltsverzeichnis II. Die Geschichte der Gegenwart

153

1. Ausgangslage

153

2. Die Geschichte Amerikas

155

a) Das Prinzip Amerikas

156

aa) Die Apriorität der Zustände

156

bb) Das Demokratieprinzip

157

b) Materiale Gegebenheiten Amerikas

158

aa) Geographie

158

bb) Ethnographie

158

c) Die Einrichtungen Amerikas

159

aa) Das gesellschaftliche Leben

159

bb) Das religiöse Leben

160

cc) Das öffentliche Recht

160

III. Die Geschichte der Zukunft 1. Die Bedingungen der Nachzeit

161 163

a) Die Überwindung der Natur

163

b) Die Erinnerung der Geschichte

164

c) Die wiederhergestellte Einheit des Menschengeschlechts

164

2. Der Ort der Zukunftsgeschichte

165

a) Mittel- und Südamerika

166

b) Südafrika

167

c) Australien

167

3. Die Einrichtungen der Zukunft

168

a) Einzelrecht und Gesellschaft

170

b) Staatsrecht und Nationalität

171

aa) Die gesetzgebende Gewalt

171

bb) Die Verwaltung

172

cc) Die ausübende Gewalt

173

c) Völkerrecht und Weltbürgerrecht

173

D. Schlußbetrachtung I. Zusammenfassung II. Ausblick

176 176 177

Inhaltsverzeichnis Schriftenverzeichnis Michelets

183

Selbständig erschienene Schriften

183

Publikationen in Zeitschriften und Werken anderer

184

Literaturverzeichnis

194

Einleitung Die vorliegende Studie verfolgt eine doppelte Zielsetzung. Zum einen wird die Rechts- und Geschichtsphilosophie Carl Ludwig Michelets (1801-1893), eines Schülers von Hegel, dargestellt. Zum anderen wird Michelet, in einer vorangestellten Untersuchung, innerhalb der Hegeischen Schule positioniert. Diese Positionierung Michelets, obwohl sie zunächst wie eine Routineaufgabe erscheinen mag, erweist sich letztlich als Ausgangspunkt für eine systematische Untersuchung, die zu einer philosophiegeschichtlichen Neubewertung der Hegelschule führt. Der erste Teil der vorliegenden Bearbeitung hat die Hegeische Schule zum Gegenstand. Zunächst wird im ersten Kapitel die Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels rekonstruiert und aufgezeigt, welche Widersprüchlichkeiten diese Konstruktion birgt, welches also die rechts- und geschichtsphilosophischen Ansatzpunkte für die Meinungsverschiedenheiten sind, die bald nach Hegels Tod unter seinen Schülern aufkamen. Im zweiten Kapitel wird die Genese der Hegeischen Schule und insbesondere ihr Auseinanderdriften in verschiedene Lager dargestellt. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Untersuchung der historisch gewachsenen Auffassung zur Struktur dieser Schule. Diese historisch gereifte und inzwischen fast unisono vertretene Auffassung nimmt eine vollständige Spaltung des Lagers der Hegelanhänger in zwei gegensätzliche Gruppen an, die sich beide durch ein hohes Maß an Radikalismus auszeichnen: in aktionistische „linke" Revoluzzer und fortschrittsfeindliche „rechte" Thron- und Altarapologeten. Diese die Weltanschauung betreffende Bedeutung der Begriffe „rechts" und „links" hat ihren Ursprung in der Sitzaufteilung der Fraktionen im französischen Parlament nach der Revolution und ist im politischen Raum bis heute gebräuchlich. Wie das politische Denken bis in jüngster Zeit von einer schroffen Gegenüberstellung eines rechten und eines linken Lagers geprägt war, so stellte man die Polarisierung auch bei der Beurteilung der Hegelianer in den Vordergrund. Die Beurteilung der Hegeischen Schule geriet weitgehend in das Fahrwasser der weltanschaulichen Debatte, wodurch die differenzierte Betrachtung des originär philosophischen Charakters hegelianischer Schulstreitigkeiten in den Hintergrund trat. Dieser vorherrschenden Auffassung zufolge spaltet sich das Lager der Hegelanhänger dichotomisch in zwei entgegengesetzte Fraktionen, so daß keine Mitte, kein gemäßigter Hegelianismus übrigbleibt. Eine Überprüfung dieser Auffassung fördert allerdings eine Reihe von Unstimmigkeiten zutage, nicht nur was die These der dichotomischen Spaltung selbst, sondern auch, was die typenhafte Charakterisierung der beiden Lager anbelangt. Ausgehend von diesen nachweislichen Schwächen der Spaltungstheorie wird ge-

14

Einleitung

gen Ende des zweiten Kapitels versucht, eine Neueinteilung der verschiedenen Schattierungen des Hegelianismus zu treffen, welche diese Unstimmigkeiten vermeidet. Hierbei stellt sich heraus, daß es - entgegen der in der Philosophiegeschichte einhellig vertretenen Meinung - durchaus einen gemäßigten Hegelianismus gab, der weder radikal links noch radikal rechts eingestellt war: und dieser gemäßigte Hegelianismus erweist sich sogar als die Hauptströmung des Hegelianismus. Diese starke Fraktion von Hegelanhängern zeichnet sich durch keinerlei Extremismus oder Radikalismus aus. Sie ist geprägt von den Idealen des Vormärz, insoweit eher als links - gemessen an Hegel - zu bezeichnen, jedoch ohne das polarisierende, aufrührerische Pathos, das die typischen Vertreter des extremen Linkshegelianismus auszeichnet. Das dritte Kapitel charakterisiert die philosophischen Forderungen dieser Hauptgruppe des Hegelianismus. Ihre Vertreter setzen sich teilweise sehr entschieden von Hegel ab. Sie bringen nicht nur punktuelle Modifikationen an dessen Philosophie an, sondern vertreten eine neue Position: die Philosophie der Tat. Das Hauptanliegen besteht, wie der Name andeutet, darin, den Theoretizismus Hegels zu überwinden. In diesem modifizierten Hegeischen System bleibt der Philosoph nicht länger auf die Rolle des nur rückblickenden Erklärers beschränkt, sondern kann auch die zukünftige Entwicklung der objektiven Geschichte aktiv mitgestalten. Ein den ersten Teil zusammenfassendes viertes Kapitel schließt die Behandlung der Hegelschule ab. Carl Ludwig Michelet ist einer der weniger bekannten Schüler Hegels. Am ehesten noch stößt man auf seinen Namen als Mitherausgeber der Freundeskreisausgabe der Werke Hegels. Er selbst, seine philosophische Position und seine Modifikationen an der Hegeischen Philosophie wurden und werden kaum zur Kenntnis genommen. Vor dem Hintergrund der genannten dichotomischen Interpretation der Hegelschule kann dies nicht verwundern. Denn Michelet entspricht weder dem Bild des typischen Linken, noch dem des typischen Rechten. Er ist einerseits nicht von einem revolutionären, theoriefeindlichen Aktionismus geprägt - ebensowenig aber von serviler, rückschrittlicher Thron- und Altarromantik. In der politisch motivierten, polarisierten Betrachtung der Hegelschule eignet sich Michelet daher weder als Stütze noch als Angriffsziel einer der beiden Seiten, er taugt weder als Freund noch als Feind. Angesichts der festgefügten philosophiehistorischen Einmütigkeit über die Spaltung des hegelianischen Lagers ist die geringe Rezeption, die Michelet zuteil wurde, also verständlich. Die Rekonstruktion und Würdigung der rechts- und geschichtsphilosophischen Positionen Michelets zeigt jedoch, daß er entscheidende und viel versprechende Neuerungen in die Hegeische Philosophie einführt und insofern ein keinesfalls vernachlässigbarer Hegelschüler war. Angesichts der vorgenommenen Neugewichtung der Hegeischen Schule, insbesondere in Bezug auf die Bedeutsamkeit der Philosophie der Tat in ihr, erscheint Carl Ludwig Michelet in neuem Lichte. Er ist nicht länger ein „unpassender"

Einleitung

Hegelschüler, der im Konflikt der beiden konträren Lager untergeht, sondern ihm gebührt innerhalb des Hegelianismus ein namhafter Platz, welchen ihm die traditionelle Auffassung nie zuerkannte. Er kann als typischer Vertreter der vorherrschenden Strömung des Hegelianismus gelten: als Philosoph der Tat. Der Michelet betreffende zweite Teil der vorliegenden Studie stellt ihn als Vertreter dieser philosophischen Richtung vor. Ein Lebensabriß, verbunden mit einer Ubersicht seiner Werke sowie deren Rezeption, eröffnet diesen zweiten Teil als fünftes Kapitel. Einen Schwerpunkt bildet hierin die durch einen Exkurs ergänzte Darstellung von Michelets Religionsphilosophie. Michelets hier vertretene Thesen illustrieren exemplarisch den Übergang der Interessen der Hegelschüler von religionsphilosophischen Fragestellungen zu solchen, die den objektiven Geist im Sinne Hegels betreffen, also zu rechtsphilosophischen. Michelet bereitet dem Anliegen der Philosophie der Tat, eine Einwirkung der Philosophie auf den weiteren Verlauf der Geschichte theoretisch zu ermöglichen, mit seiner Auffassung zur Stellung des endlichen Geistes die Grundlage. Die darauf folgende Darstellung der philosophischen Positionen Michelets richtet ihr Augenmerk vorrangig auf den rechts- und geschichtsphilosophischen Aspekt, da auf diesen Gebieten die stärksten Abweichungen der Konzeption Michelets gegenüber der von Hegel bestehen. Im sechsten Kapitel wird die Rechtsphilosophie und insbesondere deren Geschichte in der Sicht Michelets dargestellt. Hegels Philosophie weist eine solche spezifische Historie nicht auf. Es liegt jedoch völlig auf der Linie der Philosophie der Tat, sämtliche Bereiche des Wissens zu historisieren, den Entwicklungsgang der bisherigen Weltgeschichte möglichst genau nachvollziehbar und davon ausgehend möglichst auch in die Zukunft hinein prognostizierbar zu machen. Durch Vergleiche mit zwei Auffassungen zur Geschichte der Rechtsphilosophie von Zeitgenossen Michelets außerhalb der Hegelschule werden die Spezifika Michelets verdeutlicht. Das siebente Kapitel stellt die Geschichtsphilosophie Michelets dar. Michelet weist der Geschichte innerhalb seines philosophischen Systems eine völlig andere Position zu, als es Hegel tut. Die Geschichte stellt für Michelet den Abschluß, die Krönung des gesamten Systems dar, wohingegen Hegel sie im Rahmen des objektiven Geistes, also vor Abschluß des systematischen Durchgangs, behandelt. Ihre Bedeutung innerhalb des philosophischen Entwurfes entfaltet sich somit bei Michelet auf Basis sämtlicher Sphären der Logik, der Natur und des Geistes, insbesondere auch erst nach der Behandlung des absoluten Geistes. Auf diese Weise gelingt Michelet die konzeptionelle Umsetzung der Forderung der Philosophie der Tat, die Philosophie zur Voraussetzung der Weltgeschichte zu machen. Dagegen steht für Hegel die Philosophie, als Stufe des absoluten Geistes, oberhalb und somit auch außerhalb der Historie. Ein achtes Kapitel faßt die Ergebnisse dieser Studie zusammen und richtet den Blick auf hieraus resultierende Fragestellungen.

Erster Teil

Die Hegeische Schule Der erste Teil der vorliegenden Studie analysiert das geistige Umfeld Michelets und stellt daher den Hintergrund dar, vor dem Michelets Rechts- und Geschichtsphilosophie gesehen werden muß. Zentraler Punkt ist hierbei eine Betrachtung der verschiedenen Strömungen innerhalb der Hegeischen Schülerschaft. Vorangestellt wird dieser Untersuchung eine Rekonstruktion der Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels, welche den Ausgangspunkt für die Meinungsverschiedenheit der Hegelschüler offenlegt. Der erste Teil findet seinen Abschluß in einer Formulierung der Position der Hegelschule, welche die zuvor aufgezeigten Unstimmigkeiten des traditionellen Urteils über die Hegelschule zu vermeiden sucht.

A. Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels Dieses erste Kapitel ruft zunächst in Erinnerung, wie Hegels Rechtsphilosophie aufgebaut ist, und welche Stellung hierin die Geschichte einnimmt. Daran anschließend wird aufgezeigt, welche Widersprüchlichkeiten dieses Konzept aufweist, worin zugleich einer der Ausgangspunkte für die Meinungsverschiedenheiten der Hegelschüler liegt.

I . Rekonstruktion Systematisch betrachtet ist Hegels Rechtsphilosophie die Darstellung des objektiven Geistes,1 erschienen als eigenständiges Werk unter dem Titel Grundlinien der Philosophie des Rechts. Sie bildet das vermittelnde Bindeglied zwischen subjektivem Geist und absolutem Geist und hat die Vergegenständlichung des Geistes in die Wirklichkeit hinein, das Objektiv-werden des Gedankens, zum Gegenstand. Als Aufgabe der philosophischen Rechtswissenschaft sieht es Hegel nicht an, die 1

Die vorliegende Rekonstruktion von Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie stützt sich unter der Vielzahl von Sekundärliteratur vorrangig auf Höste, 1987 a, S. 412 ff.; Coreth, 1989, S. 51-104; Erdmann, 1931, S. 501 ff. sowie Taylor, S. 477-604. Vgl. hierzu auch Siep, 1997.

Α. Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels

17

Rechtsbestimmungen zu erklären, sondern vielmehr, sie durch den Aufweis ihrer Vernünftigkeit zu begreifen. Die höchste Stufe des subjektiven Geistes ist das freie Wollen. Der Wille, als bloße Form des Wollens, wird durch inhaltliche Bestimmungen determiniert. Eine solche Determination durch einzelne Inhalte läuft aber genau seinem Begriff, frei zu wählen, zuwider. Daher ist der wahre freie Wille ein solcher, der keine partikulare Bestimmung, sondern die Freiheit selbst zum Inhalt hat. Das Recht ist nun das Produkt eines solchen freien Willens, wobei Recht hier in einem weitergehenden Sinne verstanden wird als demjenigen einer juridischen Kodifikation. Das Recht ist eine zweite, vom freien Geiste hervorgebrachte Natur, es ist realisierte Freiheit. Die Rechtsphilosophie handelt daher von den Schöpfungen des vernünftigen, freien Geistes und somit von den Formen, in denen sich die Freiheit i m Leben der Menschen verwirklicht. Die niederste dieser Stufen ist das rein unter objektivem Gesichtspunkt gefaßte abstrakte Recht (§§ 3 4 - 1 0 4 ) . Die grundsätzlichste Äußerungsform des freien Willens ist, sich selbst als freien Willen zu wollen, und bezieht sich nur auf das Person-sein, ungeachtet der sonstigen moralischen oder sittlichen Bestimmungen. Der grundlegende Rechtssatz lautet daher: Sei eine Person (also ein vernünftig wollendes Wesen) und achte alle anderen als Personen. Als Ausübung dieses Rechts legt der freie Wille der Person sich eine Einflußsphäre zu, sein Eigentum. Eigentum ist demnach die Gesamtheit der objektiven Erscheinungen, in welche der subjektive Wille einer Person hineingelegt ist. Die Freiheit ergreift einen Gegenstand und erhebt ihn zum geisterfüllten Teil seiner Rechtssphäre, indem sie ihn sich aneignet. I m Eigentum äußert sich die Freiheit einer Person auf objektiver Ebene. Daher ist Eigentum zu achten, insofern es Erscheinungsform eines freien Willens ist, also für eine Rechtsperson steht. Das angemessene Mittel für die rechtliche Kommunikation mit anderen Rechtsträgern ist der Vertrag, den Hegel auf die drei Formen der Schenkung, des Tausches und der Verpfändung zurückführt. In ihm werden mehrere freie Willen, die sich in Eigentum vergegenständlicht haben, zu einem Willen vereinigt. Das Verfügen über Eigentum soll aber derart geschehen, daß nicht der eine bereichert oder der andere entreichert wird. Daher ist die Ermittlung des Wertes eines Gutes nötig. Der Wert ist Ausdruck des Allgemeinen, Vergleichbaren an den je spezifischen Einzelgütern. Doch auch bei Wertgleichheit besteht die Gefahr, daß sich die Vereinigung der beiden Willen in ihrer objektiven Erscheinung und der subjektive Wille eines Vertragspartners voneinander scheiden, also der einzelne Wille sich vom allgemeinen absondert: Dies ist die Struktur des Unrechts, etwa in Form eines mentalen Vorbehaltes, das Vereinbarte gar nicht einhalten zu wollen. Durch diese von ihm gesetzte Differenz zwischen allgemeinem Recht und besonderem Einzel willen hebt jedoch der Verbrecher das Recht nicht auf, sondern bestätigt es i m Gegenteil. Denn er verläßt sich auf die Gültigkeit der objektiven Vereinbarung, wie i m Gegenzug seine Rechtsgenossen sich auf dessen Vertragstreue, mithin auf seine Vernünftigkeit verlassen. Das Unrecht, als Negation des Rechts, wird in der Strafe negiert. Zweck der Strafe ist daher Vergeltung. Die 2 Moser

18

Erster Teil: Die Hegeische Schule

Strafe richtet sich nicht gegen den Verbrecher, sondern sie ist sein Recht. Auch als Straftäter kann er nämlich verlangen, als vernünftiges freies Wesen geachtet zu werden. Dies geschieht durch die Strafe, welche - anders als wenn man ein wildes Tier unschädlich macht - auf Einsicht und Wiederherstellung der Vernunft setzt. In der Moralität (§§ 105-141) kommt im Unterschied zum abstrakten Recht das Moment der Subjektivität stärker in den Blick. Denn die Subjektivität ist die je individuelle Verwirklichung des an sich seienden, freien Willens. Gegenstand dieses Kapitels ist daher die Verwirklichung des freien Willens nach innen, die subjektive Äußerung der Freiheit im Gegensatz zur objektiven im vorangehenden Kapitel über das abstrakte Recht. Unter dieser Rücksicht des Rechts ist also gerade die Subjektivität die Auslegung des Allgemeinen ins Besondere, während in der Grobstruktur der Geistphilosophie der objektive Geist als Besonderes die objektivierende Auslegung des allgemeinen, subjektiven Geistes war. Es tritt mit Thematisierung der Subjektivität die Frage nach dem Vorsatz auf, denn nur wenn das objektiv Geschehene Ausdruck des subjektiven Wollens war, ist die Handlung als freie zu werten und moralisch zu begutachten. Diese Beurteilung der Beweggründe ist das Feld der moralischen Wertschätzung. Noch spezifischer ist zu differenzieren zwischen absehbaren und unabsehbaren Konsequenzen des Handelns, denn was nicht im Interesse des Handelnden lag, ist nicht nach gleichem Maßstab zu beurteilen wie eine beabsichtigte Folge der Handlung. Es ist falsch, eine widerrechtliche Handlung durch gute Absicht rechtfertigen zu wollen, wie es umgekehrt auch falsch wäre, große Taten durch Verweis auf selbstsüchtige Beweggründe entwerten zu wollen. Wenn gute Taten als freie anerkannt sein sollen, so muß dies gleichermaßen für Übeltaten gelten. Die große Errungenschaft der Aufklärung, daß das Geforderte einsehbar sein muß, darf nicht als Freibrief dafür gelten, letztlich alles dem privaten Gewissen, dem subjektiven Einzelwillen anheimzustellen. Denn damit wäre einem grenzenlosen Subjektivismus Tür und Tor geöffnet, und unter Berufung auf das Gewissen könnten rein private, egoistische Ziele verfolgt und sogar noch als moralisch hochstehend legitimiert werden. Dies wäre eine einseitige Auflösung des Konflikts, bei welcher der Gegenpol, die relative Vernünftigkeit der objektiv herrschenden Rechtsordnung und die aus ihrer Einhaltung resultierende Rechtssicherheit nicht als eigenständige Sphäre Beachtung fände. Insbesondere bliebe in diesem Falle ausgeblendet, daß das Gewissen seinerseits rückgebunden ist an ein bereits in Geltung stehendes, allgemeines Gutes. Die bestehende Spannung zwischen dem subjektiven Einzelwillen und dem allgemein Gewollten, das letztlich in der Maximierung des Wohles aller besteht, bedarf einer Vermittlung. Denn im Gegensatz zu Kant verneint Hegel die Möglichkeit, daß zwischen dem moralischen Sollen und dem natürlichen Willen eine permanente Spannung bestehen bleibt, da sich durch Hegels System der Gedanke zieht, daß das Bewußtsein Fortschritte macht, daß also das Vernünftige Wirklichkeit erlangt. Erst in der Sittlichkeit (§§ 142-360) wird diese Kluft zwischen Subjektivität und Objektivität geschlossen. An die Stelle des abstrakten objektiven Wohls tritt die substantielle Sittlichkeit, die sich in einem System von Institutionen manife-

Α. Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels

19

stiert und in den Subjekten ihre Wirklichkeit hat. Das Subjekt weiß sich eins mit seinen Institutionen. Die Urteilsbildung orientiert sich an bestehenden Normen und Institutionen, ohne dadurch blindlings ihnen folgen zu müssen. Es ist aber nicht zu leugnen, daß die objektiv vorhandene Wirklichkeit des Rechts das Subjekt mitbestimmt und ihm erst die Handlungsalternativen eröffnet. Insofern sind die substantiellen Gegebenheiten zwar Beschränkungen, Festlegungen bezüglich der abstrakten Freiheit der unbestimmten Subjektivität. Zugleich aber sind diese äußeren Pflichten die Befreiung des Individuums einerseits von bloß natürlichen Abhängigkeiten, andererseits von der Unbestimmtheit der reinen Subjektivität, die nicht zur Objektivierung gelangt. Die sittliche Ordnung kann nicht direkt vom Subjekt abgeleitet werden, da sie nicht von einem Individuum erfunden oder installiert wurde. Vielmehr ist der Einzelne immer schon in einen bestimmten sittlichen Geist hineingeboren und davon durchdrungen, noch ehe er darüber nachzudenken vermag. Der Inhalt dieser Ordnung entstammt der den Einzelnen übergreifenden Gattungsvernunft. Die erste Gestalt dieser Sittlichkeit ist die Familie (§§ 158-181), deren Zentralbegriff die Liebe ist. Die Darstellung dieses Kapitels zeigt merkliche Parallelen zur Personeneinheit der Trinität. In der Liebe erfährt sich der Einzelne als Partizipant einer ihn überragenden Einheit. Er lernt, wie sich das Selbstbewußtsein gerade in der Selbstaufgabe herausbildet, wie die eigene Freiheit in der familiären Bindung wurzelt. In der Ehe geben sich zwei Personen einander erstens ganz und zweitens frei hin: Daraus leitet sich einerseits die Monogamie ab, andererseits die Erhabenheit der Ehe gegenüber der bloß natürlich bedingten Verwandtschaft. Die bestehende Familie wird durch Kinder einerseits bereichert. Zum anderen aber wächst sie in den Kindern auch ihrer Auflösung entgegen, indem das Ziel der Erziehung darin besteht, die Kinder zu freien Persönlichkeiten gedeihen zu lassen, die sich alsdann aus der familiären Integration lösen und zur Gründung einer eigenen Familie übergehen. Es gibt aber eine Vielzahl dieser als sittliche Keimzellen verstandenen Familien. Dies ist für Hegel der systematische Ubergang zur bürgerlichen Gesellschaft (§§ 182-256). Es stellt ein Spezifikum von Hegels Konzeption dar, daß er, in Unterscheidung zu bisherigen Sozialphilosophien, nicht direkt zum Staat übergeht, sondern das Kapitel über die bürgerliche Gesellschaft einschiebt, in welchem auch sehr zeitbezogene gesellschaftliche Fragen wie Arbeitslosigkeit, Überproduktion oder Aufkommen eines Industrieproletariats fokussiert werden. Hier treten, als vermittelndes Bindeglied zwischen Familie und Staat, wieder die je individuelle Besonderheit des Rechtssubjekts und das Fürsich der Sittlichkeit in den Vordergrund. Allerdings, im Gegensatz zur Einzelperson des abstrakten Rechts, sind die besonderen Zwecke der Personen hier durch ein System allseitiger Abhängigkeit, somit durch die anderen Personen, vermittelt. Ziel der bürgerlichen Gesellschaft ist die Wohlfahrt. Infolge der durch Arbeitsteilung bedingten gegenseitigen Abhängigkeit ist der Einzelne gezwungen, zumindest äußerlich zu funktionieren, seine subjektive Besonderheit in die Gesellschaft einzugliedern und sein Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise zu bestimmen. Der Weg dorthin wird durch Bildung beschritten. Hegel zeigt für diese Zusammenhänge, die im 2=

20

Erster Teil: Die Hegeische Schule

Kapitel Das System der Bedürfnisse behandelt werden, auch großen volkswirtschaftlichen Sachverstand. Die partikulare Bedürfnisbefriedigung der bürgerlichen Gesellschaft ist nun von solcher Natur, daß im Gesamtergebnis doch eine Mehrung des allgemeinen Wohlstandes stattfindet. Die Rechtspflege ist auf dieser Stufe ein weiteres Moment, welches das Recht des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen zur Geltung bringt. Doch bleibt der durch diese Zwänge hervorgebrachte Gemeinsinn äußerlich und führt lediglich zu einem Not- und Verstandesstaat. Es fehlt hier noch die moralische Beziehung des Einzelnen zur Gesamtheit, das also, was man heute Solidarität nennt.2 Von unten aus dem Volk heraus, durch Korporationen und ständische Zusammenschlüsse, beginnt die Sittlichkeit, wieder wie in der Familie ein immanentes Merkmal auch der bürgerlichen Gesellschaft zu werden. Hierin liegt der Übergang zum Staat. Der Staat (§§ 257-360) wird von Hegel, in deutlicher Anlehnung an die antike Polisgemeinschaft, bewußt als sittlicher Organismus verstanden. Er ist allgemeiner Wille, der die Interessen der Einzelnen in sich trägt und organisiert. Er ist nicht, wie im Kontraktualismus, nur als Summation der Einzelwillen aufgefaßt, sondern hat eine eigene Substantialität, freilich wiederum nur durch die Mitglieder. Er stellt die dialektische Aufhebung der partikularistischen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft dar. Der Staat ist nicht nur ein Mittel für irgendwelche wechselnden Zwecke, sondern als substantielle Einheit ist er unbewegter Selbstzweck. Im Staate kommt die Freiheit zu ihrem höchsten Recht, indem es zugleich höchste Pflicht des Einzelnen ist, Mitglied des Staates zu sein. Erst durch die Einbindung in das Staatsleben wird der Freiheit aus ihrer Isolation und Abstraktheit heraus der Weg eröffnet, sich zu verwirklichen und konkrete Freiheit zu werden. Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Freiheit, die sich objektiv als System von Institutionen, subjektiv als Vertrauen in diese, somit als patriotische Gesinnung manifestiert. 3 Die Garantie der Verfassung liegt ganz überwiegend in dieser Gesinnung, und weit weniger im Formellen der Konstitution. Der Fortschritt im Vergleich zur griechischen Konzeption liegt darin, daß im Begriff der konkreten Freiheit die individuelle Entfaltung der Subjektivität in vollem Umfang gewährleistet bleibt. Denn der Staat ist eine Höherentwicklung von der bürgerlichen Gesellschaft aus, in ihm sind alle wahren Elemente der Subjektivität dialektisch aufgehoben. Im einzelnen spricht sich Hegels Staatslehre für einen Ständestaat mit Gewaltenteilung und konstitutioneller Monarchie aus, eine Option für den preußischen Staat ist deutlich erkennbar. Staatsintern plädiert er für weitgehende Rechte des Staats gegen die Anmaßungen subjektiven Meinens und Beliebens, so beispielsweise für wachsame 2 Vgl. Seelmann, § 3, Rn. 31. 3

Die Frage nach Hegels politischer Gesinnung war und ist Gegenstand einer heftigen Debatte. Seine Rechtfertigung des Staates läßt ihn als konservativen Etatisten erscheinen, andererseits steckt in Hegels Dialektik ein eindeutig revolutionäres Potential. Im Rahmen der vorliegenden Bearbeitung soll hierauf nicht weiter eingegangen werden. Neben den genannten Gesamtdarstellungen zu Hegel ist hierzu insbesondere auf Ritter, 1957 (mit ausführlicher Bibliographie) hinzuweisen.

Α. Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels

21

Pressekontrolle. Der Krieg, als ein die Zivilbevölkerung verschonender und völkerrechtlich vertretbarer, also keinesfalls als „totaler" Krieg, wird zur regelmäßigen Verjüngung der Staaten für notwendig erklärt. Uberraschenderweise sieht Hegel davon ab, auch die Vielheit der Staaten nochmals auf höherer Ebene zu vermitteln. Ihnen übergeordnet ist auf der Stufe des objektiven Geistes allein noch die Weltgeschichte.4 Denn kein einzelner wirklicher Staat stellt die Idee des Staates vollkommen dar. Daher ist erst die Weltgeschichte die Vollendung des objektiven Geistes. Erst im Interpretationsrahmen des Weltgeistes ist der jeweilige Volksgeist verstehbar. Nacheinander treten einzelne Völker hervor, spielen eine Weile eine führende Rolle, indem sie in die Geschichte eingreifen und ein jeweils tieferes Moment des allgemeinen Geistes zur Erscheinung bringen, bis sie wieder in Bedeutungslosigkeit versinken. Die Weltgeschichte ist nichts anderes als das Werden des vernünftigen Staates oder, da letzterer die wahre Freiheit ist, ist Geschichte die Realisation der wahren Freiheit. Den jeweils führenden Völkern und ihren Heroen selbst ist dabei durchaus nicht bewußt, welche historische Bedeutung ihnen im Rahmen der Weltgeschichte zukommt. Denn die List der Vernunft macht sich in der geschichtlichen Fortentwicklung die Leidenschaften, Bedürfnisse und Triebe der Menschen zunutze und läßt sie für sich wirken, ohne daß die Betroffenen für sich von der Realisation einer Idee beseelt wären. Die Weltgeschichte ist die allmähliche Realisation eines Weltplans, dessen Endzweck die sowohl als Zustand wie im Bewußtsein errungene Freiheit jedes Menschen ist. So ist Hegels Geschichtsphilosophie geprägt von dem Grundgedanken, daß die Vernunft die Welt beherrscht und sich immer erkennbarer äußert. Insofern ist sie dem Selbstverständnis nach eine Theodizee. Als Hauptperioden der Weltgeschichte sieht Hegel an: die orientalische, die griechische, die römische und die germanische; diese korrespondieren zugleich mit dem Knaben-, dem Jünglings-, dem Mannes- und dem Greisenalter der Menschheit. In Bezug auf die Höherentwicklung der Freiheit kennt die erste Epoche nur einen Freien, den Despoten, alle anderen sind Sklaven. Bei den Griechen und Römern war bereits das Bewußtsein vorhanden, daß mehrere frei sind. Und mit dem Christentum hat sich der Gedanke etabliert, daß der Mensch als Mensch frei ist, daß das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat. Wenn dieser Gedanke vollständig ins Bewußtsein eingedrungen sein und sich in den jeweiligen Staatsleben verwirklicht haben wird, sieht Hegel den Geschichtsgang als vorläufig vollendet an.

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Neben dem Abschnitt über Weltgeschichte in den Grundlinien der Philosophie des Rechts findet sich diese Thematik auch in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte behandelt: Hegel, Bd. XII. Zitate Hegels beziehen sich auf die Ausgabe von Moldenhauer und Michel, soweit nicht anders vermerkt.

Erster Teil: Die Hegeische Schule

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I I . Aporien Kants Frage „Was soll ich tun" wird von Hegels Philosophie nicht beantwortet. Allenfalls würde er entgegnen: „Erkenne das Vernünftige in der Wirklichkeit". 5 Hegel ist hier eindeutig: „Um noch über das Belehren, 6 wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reiches erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." 7

Dieser in der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts ausgesprochene Gedanke Hegels ist nicht durch die politischen Umstände diktiert, sondern er äußert die Meinung, die er aus inneren Gründen bezüglich der praktischen Philosophie haben muß. Sie ergibt sich zwangsläufig aus seiner Logik. Denn das sich selbst erfassende Denken des Denkens der absoluten Idee gilt dort als die Vollendung und höchste Stufe. Daher ist Philosophie höchster Selbstzweck. Sie ist nicht um der vorangegangenen Sphären willen da, etwa der vernünftigen Gestaltung des Staates wegen, sondern umgekehrt sind diese niedriger positionierten Sphären um der Philosophie willen da. Aus dieser logischen Hierarchie folgt denn auch die Bestimmung der Philosophie zur Erinnerung, zum Rückblick auf das Vergangene, zur Systematisierung und zum Verständnis des Geschehenen, dazu, eine vergangene oder zumindest vergehende Epoche auf den Begriff zu bringen. Hegel ist der Uberzeugung, daß eine Philosophie nur jeweils aus den Wirren einer Zeit heraus erwächst und es lediglich vermag, diese Wirren einzuordnen, ihr Prinzip zu formulieren. Voraussetzung für das Ausformulieren einer Philosophie ist Hegel zufolge eine Situation, in der eine Kultur ihr bloßes Naturleben, also die unvermittelte Einheit des Einzelnen mit seiner Zeit, überwunden hat. Sobald der Untergang der aktuellen Epoche nicht mehr aufzuhalten ist, erkennt der philosophische Geist die Vernunft in der zu Ende gehenden Zeit. „Die Philosophie ist dann die Versöhnung des Verderbens, das der Gedanke angefangen hat. Die Philosophie fängt an mit dem Untergange einer reellen Welt; wenn sie auftritt mit ihren Abstraktionen, grau in grau malend, so ist die Frische der Jugend, der Lebendigkeit schon fort, und es ist ihre Versöhnung eine Versöhnung nicht in der Wirklichkeit, sondern in der ideellen Welt." 8 5

Vgl. zum gesamten Kapitel insbesondere Hösle, 1987 a, S. 424 ff. Hervorhebungen, hier wie im weiteren Text, im Original. ι Hegel, Bd. VII, S. 27 (Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede). 8 Hegel, Bd. XVIII, S. 71 (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie). 6

Α. Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels

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Hegel deckt diese Einsicht auch durch eine entsprechende geschichtliche Argumentation ab, indem er mehrfach historische Belege für seine Ansicht anführt: so den Beginn der Philosophie bei den Ioniern, dann bei Piaton, beim Neuplatonismus, in der Philosophie des 15. und 16. Jahrhunderts. 9 An all diesen Stellen sieht Hegel die Philosophie hervorgehen aus einer untergehenden Ära. Hegels systematische Argumentation für diesen Zusammenhang ist etwa so zu verstehen: Die Philosophie einer Zeit entspringt dem Bedürfnis einer Absicherung, einer Legitimation der aktuellen Praxis. Dieses Bedürfnis aber kommt erst in Krisenzeiten auf, wenn also die Institutionen nicht mehr selbstverständlich gelten, sondern in Frage gestellt werden und ihre Bedeutung bereits im Schwinden begriffen ist. „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie."10 Hegel betrachtet die Tatsache, daß Philosophie stets für ein praktisches Handeln zu spät kommt, nicht als bedauerlich, sondern akzeptiert und affirmiert sie. Denn die Philosophie ist Selbstzweck, das Vergehen einer Kultur ist darin aufgehoben, daß aus ihr eine neue Philosophie hervorgeht. Das Ideale steht für ihn höher als das Reale, und muß historisch gesehen notwendigerweise auch später kommen. „Hegels Intention entspräche es eher zu sagen, daß es eine Verfehlung der Wesensbestimmung des Idealen wäre, wenn es auf eine Gestalt des objektiven Geistes zurückwirkte, die nur da ist, um es hervorzubringen." 11 Den Ubergang vom Modus der realen Äußerlichkeit zu demjenigen der Innerlichkeit, ausgeprägt als Erinnerung, als Idealisierung, sieht Hegel als einen Fortschritt, als Höherentwicklung an. In anderem, aber strukturell identischen Zusammenhang heißt es: „Aber wie das Mädchen, das die gepflückten Früchte darreicht, mehr ist als die in ihre Bedingungen und Elemente, den Baum, Luft, Licht usf. ausgebreitete Natur derselben, welche sie unmittelbar darbot, indem es auf eine höhere Weise dies alles in den Strahl des selbstbewußten Auges und der darreichenden Gebärde zusammenfaßt, so ist der Geist des Schicksals, der uns jene Kunstwerke darbietet, mehr als das sittliche Leben und Wirklichkeit jenes Volkes, denn er ist die Er-Innerung des in ihnen noch veräußerten Geistes [ . . . ] " 1 2

Letztlich bemüht Hegel auch noch eine etymologische Argumentation dafür, daß die Philosophie nur das Vergangene zum Gegenstand haben könne. Er sagt, der Geist erfasse das Wesen einer Epoche. Das Wort Wesen ähnele nun nicht von ungefähr dem Partizip Perfekt von „sein". „Denn das Wesen ist das vergangene, 9 Vgl. Hegel, Bd. XVIII, S. 179 und Bd. XX, S. 483 (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie) sowie Bd. XII, S. 93 f. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte). 10 Hegel, Bd. II, S. 22 (Differenzschrift), π Höste, 1987 a, S. 427 f. 12 Hegel, Bd. III, S. 547 f. (Phänomenologie des Geistes).

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

aber zeitlos vergangene Sein." 13 Somit beschäftigt sich der Geist, der eine Epoche auf den Begriff bringen, also sein Wesen erfassen will, notwendigerweise nur mit Vergangenem. Diese oben genannte hierarchische Uberordnung der Philosophie gegenüber dem objektiven Geist gilt gleichermaßen gegenüber den ersten beiden Stufen des absoluten Geistes: erst im Stadium der Auflösung werden Kunst und Religion verstanden. Im Falle der Religion heißt das, daß sie sich in dem Moment auflöst, in welchem sie philosophisch begriffen wird. „Wenn die Zeit erfüllt ist, daß die Rechtfertigung durch den Begriff Bedürfnis ist, dann ist im unmittelbaren Bewußtsein, in der Wirklichkeit die Einheit des Inneren und Äußeren nicht mehr vorhanden und ist im Glauben nichts gerechtfertigt. " 1 4 Die Philosophie solle sich hüten, mit anderen Mächten zu kollaborieren, und sich ihrer rein beschauenden, nachträglichen, der Praxis abgewandten Aufgabe widmen. Denn die Philosophie sei „ein abgesondertes Heiligtum, und ihre Diener bilden einen isolierten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammengehen darf und das Besitztum der Wahrheit zu hüten hat. Wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfindet, wie sie sich gestalte, ist ihr zu überlassen und ist nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie."15

Es ist unschwer nachzuvollziehen, daß diese Haltung Hegels den Vorwurf aufkommen lassen konnte, er vertrete eine pharisäerhafte Philosophie. „Hegel ist nur an der anabasis, dem Aufstieg zur theoretischen Schau des absoluten Prinzips, des Guten interessiert - eine Pflicht zur Mitteilung, Verbreitung der eigenen Einsichten kennt er offenbar nicht: Nicht darauf kommt es ihm an, das Gute zu realisieren, sondern es zu erkennen, ist doch das Erkennen die höchste Tätigkeit des Geistes."16

Hegels Philosophie gipfelt somit im Status eines vornehmen intellektuellen Genusses einer kleinen Schar Auserwählter, ohne Verantwortlichkeit für die Welt, und ohne Möglichkeit der Einflußnahme auf die Welt. Sie steht über allem, bleibt aber einsam. Diese Auffassung unterstreicht er auch in der Enzyklopädie, wo er betont, das Grau in Grau der Theorie sei höher als die bunte Vielfalt der Natur, die im Fürsich verbleibt. 17 Die Überordnung der Philosophie über den objektiven Geist, also damit über die Politik, ist jedoch unzureichend verstanden, wollte man folgern, daß Hegel quietistisch das Bestehende hinnimmt und schönredet. Denn obgleich keine unmittelbare Einwirkung der Philosophie auf die Politik vorgesehen ist, so ist gleichwohl die Philosophie das Formulieren des Todesurteils über die bestehende Zeit. Wie die 13 Hegel Bd. VI, S. 13 (Wissenschaft der Logik). 14

Hegel, Bd. XVII, S. 343 (Vorlesungen über die Philosophie der Religion). 15 Wie Fußnote 14. 16 Hösle, 1987 a, S. 432. 17 Hegel, Bd. IX, S. 16 (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 246, Zusatz).

Α. Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels

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Religion durch philosophisches Verständnis überwunden und aufgehoben wird, so auch die jeweilige Zeit. Die Funktion und Bedeutung der erst nachts fliegenden Eule der Minerva ist zugleich doch auch eine das Neue vorbereitende: „Zwar kann, um einen Anspruch von Marx umzukehren, die Philosophie die Welt nicht verändern, sondern nur interpretieren, aber eben die Tätigkeit der Interpretation ändert sie; sie sagt der Welt, daß ihre Zeit vorüber ist." 1 8 Hier ist der Punkt, an welchem die Philosophie der Tat ansetzt und Hegel weiterentwickelt. Sie kann mit dem Diktum des isolierten Priesterstandes, den die Philosophie nach Hegel darstellt, nichts anfangen. So kritisiert Zeller Hegels verordnete Passivität der Philosophie, konkret den Satz über die Eule der Minerva: „Dieser Satz ist nun allerdings nur theilweise richtig; die Philosophie ist nicht bloß der Nachtvogel, welcher uns den Untergang eines alten, sie ist ebenso das prophetische Wesen, welches die Morgendämmerung eines neuen Tages verkündigt." 19 Und Carl Ludwig Michelet formuliert bereits 1831, noch zu Lebzeiten Hegels: „Die Eule der Minerva weicht dann auch wieder dem Hahnenschlage eines neu anbrechenden Tages",20 ein Bild, das er in Variationen sein gesamtes Leben über neu aufgreift, und das seine Position charakterisiert. Der Ansatz erlaubt es, ohne mit Hegel brechen zu müssen, dennoch seine politische Zurückhaltung zu überwinden. Michelet denkt über den Nachtflug der Eule hinaus, fragt nach dem Danach, und läßt die Nacht als Tagesende dialektisch umschlagen in den neuen Tagesanfang. Diese Auffassung, daß aus einer untergegangenen Epoche eine neue folgt, deren Aufziehen die Auflösung der vorigen voraussetzt, und die mit frischer Kraft ihre eigene weltgeschichtliche Rolle spielt, mit anderen Worten, daß also doch eine Kausalität besteht zwischen dem Philosophieren und der politischen Zukunft, läßt sich mit Hegels diesbezüglichen Äußerungen ebenfalls stützen. Am Ende der Rechtsphilosophie heißt es, die Vollendung eines geistigen Sich-Erfassens sei „zugleich seine Entäußerung und sein Ubergang. [ . . . ] Der, formell ausgedrückt, von neuem dies Erfassen erfassende und, was dasselbe ist, aus der Entäußerung in sich gehende Geist ist der Geist der höheren Stufe gegen sich, wie er in jenem ersteren Erfassen stand."21 Wichtig aber ist festzuhalten, daß die Weiterentwicklung nicht wieder demselben Volk zugute kommt, sondern der Weltgeist zieht weiter, wenn eine Kultur ihre Aufgabe erfüllt hat. Der Fortschritt vollzieht sich dann an einem anderen Ort. Die eine Kultur, die sich im Hervorbringen ihrer sie auf den Begriff bringenden Philosophie vollendet, löst sich dann auf.

is Avineri, S. 157. 19 Zeilen S. 322. 20 Michelet, 1884, S. 90 u. 479. 21 Hegel, Bd. VII, S. 504 (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 343).

Erster Teil: Die Hegeische Schule

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„Das Leben eines Volkes bringt eine Frucht zur Reife; denn seine Tätigkeit geht dahin, sein Prinzip zu vollführen. Diese Frucht fällt aber nicht in den Schoß des Volks zurück, das sie ausgeboren und gezeitigt hat; im Gegenteil, sie wird ihm ein bittrer Trank. Lassen kann es nicht von ihm, denn es hat den unendlichen Durst nach demselben, aber das Kosten des Tranks ist seine Vernichtung, doch zugleich das Aufgehen eines neuen Plinti zips.

Insbesondere in seinen die Religion betreffenden Äußerungen spricht Hegel mehrfach einer Verwirklichung und einem Sich-auslegen des Gedankens in die Realität das Wort. Dies überrascht, da in der Enzyklopädie die Religion als Stufe des absoluten Geistes eindeutig der Geschichte, die noch im objektiven Geist stattfindet, übergeordnet ist. Das ganze Gebiet des absoluten Geistes steht über und außerhalb der Historie. Man sollte annehmen, daß er demnach die Einwirkung der Religion auf den objektiven Geist, die Politik, ebenso wenig für möglich hält wie die besprochene Auswirkung der Philosophie auf die Politik. Doch der Leser muß erfahren: „Das Wahre aber gegen dieses in die Subjektivität des Fühlens und Vorstellens sich einhüllende Wahre ist der ungeheure Uberschritt des Innern in das Äußere, der Einbildung der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewußtsein des vernünftigen Daseins, der Staatseinrichtungen und Gesetze gewonnen hat." 23

Im gleichen Paragraphen macht Hegel deutlich, die Religion müsse gar der Staatsautorität unterstehen. Denn der Staat stelle den gegenwärtigen göttlichen Willen dar, der sich in wirkliche Gestalt entfaltet habe, weshalb er höher stehe als die Religion. In der Philosophiegeschichte findet sich sogar eine Stelle, an welcher Hegel den Staat über die Philosophie zu stellen scheint - was in seinem System auf keine Weise stringent wirkt, jedoch genau damit dessen Schwachstelle aufzeigt, auf welche sich seine Nachfolger kaprizieren werden. Er sagt, die wünschenswerte Einführung des Christentums in die Wirklichkeit habe derart zu erfolgen, daß Gläubige gewonnen werden, daß der Glaube philosophisch verstanden werde, und dadurch, daß „die Idee der Wirklichkeit eingeimpft, immanent sei, daß nicht nur sei eine Menge von glaubenden Herzen, sondern daß aus dem Herzen vielmehr, wie Naturgesetz, so konstituiert werde Leben und Welt, ein Reich, - die Versöhnung Gottes mit sich vollbringe in der Welt, nicht als ein Himmelreich, das jenseits ist; sondern die Idee muß sich realisieren in der Wirklichkeit. [ . . . ] Mit anderen Worten, die Gesetze, Sitten, Staatsverfassungen [ . . . ] sollen vernünftig werden." 24

Hier geht Hegel so weit, von einer zweiten Schöpfung zu sprechen, ein Gedanke, der seinen Nachfolgern, wie sich zeigen wird, aus dem Herzen spricht, der zu22

Hegel, Bd. XII, S. 104 (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte). 3 Hegel, Bd. VII, S. 415 ff. (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 270).

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Hegel, Bd. IXX, S. 501 (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie).

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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gleich aber in Hegels System logisch keinen Platz haben kann. Religion und Staat müssen sich, führt er weiter aus, nach einer notwendig vorangehenden Entgegensetzung, in der Neuzeit versöhnen, so daß Allgemeinheit und Individualität, Inneres und Außeres, Jenseits und Diesseits vereint werden. Die objektive Welt wird dann durch den Geist neu hervorgebracht, und dies bildet das höchste Ziel der Weltgeschichte: „Dies ist das Ziel der Weltgeschichte, daß der Geist sich zu einer Natur, einer Welt ausbilde, die ihm angemessen ist, so daß das Subjekt seinen Begriff von Geist in dieser zweiten Natur, in dieser durch den Begriff des Geistes erzeugten Wirklichkeit findet und in dieser Objektivität das Bewußtsein seiner subjektiven Freiheit und Vernünftigkeit hat." 25

Hegel zeigt also an etlichen Stellen, wie erstrebenswert ein Ausfließen der subjektiven, im Allgemeinen gewonnenen Erkenntnis ins Objektive, in die Wirklichkeit hinein, wäre. Er hat jedoch einen systematischen Ansatz gewählt, der diesen Weg nicht zuläßt. „Fassen wir zusammen, so läßt sich sagen, daß in Hegels Geschichtsphilosophie das Pathos der Notwendigkeit einer Realisierung der Vernunft in ein labiles Gleichgewicht gebracht ist mit einer absoluten Überordnung des Denkens über die Praxis, mit einem totalen Desinteresse an der Zukunft [ . . . ] . 2 6

B. Die Theorie der Schulspaltung Das Kapitel über die Theorie der Schulspaltung untergliedert sich in drei Punkte. Der erste nennt die unbestreitbaren historischen Fakten hinsichtlich der Heterogenität des Hegelianismus, nämlich den schulinternen Streit um religionsphilosophische Fragestellungen. Der zweite bietet eine Ubersicht zur vorherrschenden Rezeption und Interpretation dieser Fakten in der Philosophiegeschichtsschreibung. Dieses traditionelle Urteil geht von einer durchgängigen Spaltung der Schule in zwei diametral entgegengesetzte Lager aus: die Theorie der Schulspaltung. Der dritte Punkt bringt eine kritische Prüfung dieser Rezeption.

I . Historischer Sachverhalt Die Situation der deutschen Philosophie nach Hegels Tode (1831) und die Bedeutung Hegels für das akademische Leben der damaligen Zeit bilden die erste Stufe der nachfolgenden Ausführungen. Die zweite nennt die strittigen und einer 25

Hegel (Hoffmeister/Lasson), S. 256 f., (Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte). 26 Hösle, 1987 a, S. 444.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

Entscheidung harrenden Fragen unter den Hegelschülern. Die dritte schließlich stellt das Ergebnis des Streites vor, wie es sich aus Sicht der Betroffenen dargestellt hat. 1. Ausgangslage

Bereits zu Lebzeiten Hegels, etwa seit seinem Amtsantritt in Berlin (1818), begann sich ein Kreis von Anhängern um ihn zu scharen. Die Anhängerschaft bestand nicht allein aus Studenten und Fachkollegen, sondern darüber hinaus gesellten sich begeisterte Leser und Gelehrte sonstiger Fakultäten zu diesem Kreis. Im Unterschied zu heute war die Philosophie damals in höherem Maße Teil der gesellschaftlich wahrgenommenen Wirklichkeit, so daß die debattierten Fragen nicht allein als fachwissenschaftliche betrachtet wurden. Auch im gelehrten Bürgertum fand eine rege Auseinandersetzung mit den aktuellen philosophischen Problemen statt. Für viele war der Kontakt mit Hegels Philosophie nicht nur eine gedankliche Bereicherung, sondern geradezu eine Bekehrung. Das Zentrum der „Hegelei" war dementsprechend nicht so sehr das universitäre und monographische Wirken Hegels, sondern die Berliner Kritische Assoziation, die Redaktion der weithin beachteten Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, „in denen der Meister und die Schüler geschlossen die gesamte gelehrte Produktion nach dem Maßstab des spekulativen Denkens aburteilen." 27 Ein weiterer Grund für die starke Publikumswirkung Hegels liegt in den damaligen bildungspolitischen Gegebenheiten. Der für Schul- und Hochschulwesen zuständige Minister Altenstein war erklärter Anhänger und Mentor Hegels. Während seiner über zwanzigjährigen Amtszeit besetzte er ab 1817 freiwerdende Lehrstühle vorzugsweise mit Hegelanhängern, so daß die Philosophie Hegels zu dieser Zeit fast als die preußische Staatsphilosophie bezeichnet werden kann. 28 Für junge Wissenschaftler, nicht nur aus der philosophischen Fakultät, verbesserten sich daher die Karrieremöglichkeiten entscheidend, wenn sie sich offen zur Philosophie Hegels bekannten. Auf diese Weise bildete sich ein stabiler und recht eindeutig definierter Kreis von Anhängern um Hegel, der auch über den Tod des Meisters hinaus Bestand hatte. Ob es angemessen ist, diesen Kreis als Schule zu bezeichnen, wird mitunter in Frage gestellt.29 Im Fall der Anhängerschaft Hegels sind die an den wissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs Schule zu stellenden Anforderungen, nämlich die zahlenmäßige und lokale Definierbarkeit sowie das sich Scharen um eine zentrale Figur, unzweifelhaft erfüllt, so daß die Verwendung des Begriffs Schule zunächst keiner Differenzierung oder Einschränkung bedarf. 27 Gebhardt, 1963, S. 50. 28 So Überweg, 1923, S. 200. 29 Eßbach, S. 89-90.

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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Schon bald nach Hegels Tod (1831) traten unter den Schülern erste Meinungsverschiedenheiten bezüglich einiger religionsphilosophischer Fragen zutage, zu welchen sich Hegel nicht hinreichend eindeutig geäußert hatte. In den Jahren 1833-35 wurden unter den Hegelanhängern nach und nach sämtliche christlichen Symbole als nicht adäquat für den spekulativen Gehalt dieser Religion verworfen. Die Heilsgeschichte wurde immer stärker als immanente gedacht. Die Rede vom Übergang des Jenseits ins Diesseits war zum Gemeinbesitz der Schule geworden. Von diesem Standpunkt aus wurde schließlich die Frage unausweichlich, „was es mit dem Zentrum dieser Symbolik, mit Christus, auf sich habe, inwieweit Christus, in dem Hegel noch den „Angelpunkt" der Umwälzung der Welt sah, die Ursache des Heilsprozesses oder nur dessen historischer Niederschlag gewesen ist." 3 0 Die Debatten um die streitigen religionsphilosophischen Fragen wurden mit einer Lebhaftigkeit geführt, von welcher man sich heute kaum noch eine Vorstellung machen kann. Zwar handelte es sich um mehrere strittige Fragen, doch standen diese in wechselseitigem Bezug zueinander. Der Streit bestand, vereinfachend gesagt, jedesmal darin, ob die christliche Symbolik auch nach Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie noch angemessener Ausdruck der erreichten Bewußtseinsstufe sei, oder ob auf der erreichten Stufe des absoluten Wissens die christliche Symbolik als erfüllt anzusehen und als Bestandteil der Endlichkeit nunmehr dialektisch zu überwinden sei. Etwas anders gewendet könnte man auch sagen, der Streit drehte sich darum, ob Hegels Religionsphilosophie theistisch oder atheistisch auszulegen sei, ob also das Absolute seine wirkliche Existenz in dem zum Menschen gewordenen Gott oder aber in der gesamten Menschheit habe.31

2. Streitpunkte Im einzelnen waren es, nach üblicher Gliederung, folgende drei in Zusammenhang stehende Fragen, in welchen die Hegelschüler keine Einigkeit erreichen konnten: die Unsterblichkeits-frage, die theologische Frage und die christologische Frage. a) Unsterblichkeitsfrage Gegenstand der Unsterblichkeitsfrage war, ob der Tod nur ein Scheintod ist; in welcher Form ein Weiterleben nach dem Tode stattfindet; ob es eine Auferstehung nach dem Tode gibt; ob es ein ewiges Leben gibt; ob die individuelle Seele der Person fortlebt, oder aber die endliche Persönlichkeit überwunden wird; ob das Göttliche und einer ewigen Dauer Fähige in der individuellen Persönlichkeit des einzelnen Menschen oder in seiner allgemeinen Teilhabe am Absoluten besteht, 30 Gebhardt, 1963, S. 82. 31 Löwith, 1962, S. 15.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

wobei letztere sich durch die Taten des einzelnen verewigt; ob die persönliche Unsterblichkeit nur den eitlen Versuch der Menschen darstellt, die Beschränkungen der Individualität zu kompensieren. 32

b) Theologische Frage Als sogenannte theologische Frage wurde debattiert, ob die Substanz Gottes zugleich als subjekthaft anzusehen ist. Wenn man sich Gott personhaft vorstellt, so haftet ihm auch alle Unzulänglichkeit und Begrenztheit des Personseins an, was in Widerspruch zu seiner Absolutheit stünde. Wenn man ihn andererseits nur als Substanz faßt, so vertritt man eine pantheistische Position, in welcher der wichtige Aspekt der Transzendenz Gottes dem Prinzip der Immanenz gänzlich zum Opfer fällt. Der von Hegel hergestellte Friede zwischen Religion und Philosophie wurde dadurch in Frage gestellt. Eine Gruppe von Hegelanhängern tendierte dazu, sich im Zweifel an die Bibel zu halten und die philosophischen Zweifel als unbedeutend oder überwindbar anzusehen, während eine andere Gruppe auf Klärung der Kontroverse drängte. Die Kritik der letztgenannten Gruppe an der traditionellen christlichen Vorstellung schlug hierbei zwei klar unterscheidbare Richtungen ein. Wenn Substanz und Personhaftigkeit Gottes nicht zugleich gedacht werden können, so wird entweder seine Personhaftigkeit oder aber seine Substanz angezweifelt. Diesen zwei deutlich verschiedenen Ansätzen entspricht im ersten Fall der Pantheismus, im zweiten Fall der Atheismus. Die pantheistische Position, wie von D. F. Strauß 33 vertreten, leugnet Gottes Personalität. Jeder Mensch ist nach dieser Ansicht ein Exemplar der Gattung, das „eigenthümlichkeitslose" Denken wird über alles andere gestellt.34 Gott ist überall und in allem. Alles ist göttlich, auch die Blume auf der Wiese. Gottes Verwirklichung findet nicht bevorzugt in dieser oder jener Gestalt statt, sondern er ist stets in allen Gegenständen zugegen. Gott ist der Welt immanent, seine Personhaftigkeit ist in die Welt hinein aufgelöst. Dies ist die gelassene, unaufgeregte Form der Kritik an der christlichen Gottesvorstellung. Die atheistische Position dagegen leugnet die Substantialität Gottes. Feuerbach, als ein typischer Vertreter dieser atheistischen Position, stellt eine personbezogene Ichheitslehre auf, welche die Unwiederholbarkeit des Subjekts ganz in den Vordergrund stellt. 35 Gott ist ihm zufolge eine Selbstmystifikation des Menschen, in Gott verehrt der Mensch in Wahrheit einen eingebildeten, perfektionierten Mustermenschen. Was den Menschen wichtig ist, bezeichnen sie als göttlich. Durch die Vertauschung von Subjekt und Prädikat entsteht dann die Gottesverehrung, die in Wahrheit Verehrung seiner selbst als menschliche Person ist: Aus dem Satz „Barm32 Michelet, 1837/38, S. 646-647; Erdmann, § 336; Brazill, S. 50; Moog, S. 416-417. 33 Strauß, 1841/42. 34 Erdmann, § 338. 35 Feuerbach.

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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herzigkeit ist göttlich" wird dadurch unzulässigerweise die Aussage „Gott ist barmherzig". Nach dieser Auffassung ist also die menschliche Person selbst als der wahre Gott zu betrachten. Diese atheistische, personbezogene Gotteslehre wird passioniert vorgetragen, sie ist stets ungeduldig und drängt zur Veränderung. Die starke Betonung der Person, und zwar der menschlichen Person, führt zu großem Optimismus hinsichtlich der gestalterischen Fähigkeiten des einzelnen Menschen in der Welt.

c) Christologische Frage Die meistdebattierte Frage war die christologische Frage, auf welche auch das epochemachende Werk Das Leben Jesu von D. F. Strauß - welches gemeinhin als Manifestation der Schulspaltung betrachtet wird 3 6 - eingeht. In christologischer Hinsicht herrschte Uneinigkeit darüber, ob Christus als der alleinige Gottmensch anzusehen ist, oder ob die Angleichung göttlicher und menschlicher Natur nicht vielmehr in Christus lediglich symbolisiert wird, tatsächlich jedoch als allmählicher Prozeß zu verstehen ist, zu welchem jede einzelne Person berufen ist. Sofern die letztgenannte Haltung eingenommen wurde - derzufolge Christus nicht exklusiv das Recht des Gottmenschtums zukommt, sondern er vielmehr nur der erste Gottmensch war und die Berichte über ihn nur als symbolische Personifikation einer Entwicklung verstanden werden, zu welcher jeder Mensch in der Lage und aufgefordert ist - war zugleich auch die Glaubwürdigkeit der Berichte der Evangelien als historischer Tatsachen in Frage gestellt. Die Harmonie von Religion und Philosophie, die Hegel hergestellt zu haben schien, war dadurch gestört. Strauß legte dar, daß Hegels Auffassung von Christus als Symbol der Vermittlung von Gott und Welt nicht vereinbar sei mit der besonderen, individuellen Existenz Christi. Denn wenn man an Hegels Diktum festhalte, demzufolge Gott sein Wesen allmählich in der Weltgeschichte offenbart, so könne Christus nur als ein Teil der Gesamtoffenbarung verstanden werden. 37 Michelet stimmt hierin mit Strauß von Anfang an überein und erklärt explizit, die Menschwerdung Gottes sei keine einzigartige historische Tatsache, sondern die ewige Bestimmung des Wesens Gottes. Die wahre Verwirklichung einer Idee bestehe nicht darin, daß sie sich in diesem oder jenem realisiere, sondern erst die universale Menschheit könne eine Idee wahrhaft verwirklichen. „Die Wahrheit ist aber, (und Hegel selber spricht es aus), daß die Vernünftigkeit der biblischen Geschichte eben darin besteht, daß sie aus ihrem empirischen Charakter, der ja immer angezweifelt werden kann, in die Form des Begriffs erhoben werde." 38 In dieser Aussage ist der zentrale Punkt der Auseinandersetzung gut erkennbar. Es geht um die

36 Ζ. B. Gebhardt, 1963, S. 97; Moog, S. 429; Schmidt, S. 99-100. 37 Cornu, S. 127. 38 Michelet , 1837/38, S. 656.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

Bestimmung des Verhältnisses von Begriff zu Geschichte in der Christologie. Der Dissens bezieht sich auf die Beantwortung der Frage, „ob und in wie weit mit der Idee der Einheit göttlicher und menschlicher Natur die evangelische Geschichte als Geschichte gegeben sei." 39 In dem Bestreben, gute Hegelianer zu sein, stießen Strauß und Michelet auf diesen Punkt, in welchem sie eine Unstimmigkeit der Hegeischen Position erblickten. Denn wenn, woran Hegel immer festhielt, Gott immanent ist in der Geschichte, und alle Geschichte die Geschichte des fortschreitenden Bewußtseins der hierin liegenden Freiheit darstellt: wie ist es dann möglich, daß Jesus der einzige Sohn Gottes ist, die einzige göttliche Verkörperung in der Geschichte, also der Kulminationspunkt der Geschichte?40 Sie stellten die Ungereimtheiten der Hegeischen Versöhnung von Philosophie und wörtlich geglaubter Religion heraus und stritten als Philosophen für eine Haltung, nach welcher im Zweifel die Philosophie das letzte Wort hat, da nach Hegel die Philosophie auf höherer Stufe stehe und das Wahre an der Religion in der Philosophie aufgehoben, der philosophisch nicht erhärtbare Anteil der Religion dagegen der historischen Kritik anheimzustellen sei. Einen solchen Zweifel, ob die Evangelien wortwörtlich als Wahrheit zu nehmen seien, mußte die Kirche als Provokation auffassen. Die damals einflußreiche Evangelische Kirchenzeitung stellte die Ansichten von Strauß als notwendige Konsequenzen des Hegelianismus hin und empfahl all jenen, die um eine Versöhnung von Glaube und Philosophie bemüht waren, sich von Hegel ab- und dem Glauben zuzuwenden.41 Das Lager der Hegelanhänger fühlte sich dadurch vor die Entscheidung gestellt: Philosophie oder Religion. 42 Die von Hegel gefundene Versöhnung von Religion und Philosophie, die in der Aufhebung der Glaubenswahrheiten in der Philosophie bestand, wurde seitens der Kirche nicht länger als tragfähiger Kompromiß empfunden. Die Vereinbarkeit der Hegeischen Philosophie mit dem Anspruch, gläubiger Christ zu sein, wurde bestritten. So sahen sich mehrere Hegelianer genötigt, Farbe zu bekennen, und sich entweder zur einen oder zur anderen Seite zu schlagen.

3. Die Rechts-Links-Einteilung des Hegelianismus Diese Meinungsverschiedenheit griff Strauß in einer Verteidigungsschrift seiner Thesen aus dem Leben Jesu auf und verglich sie mit der Sitzordnung im französischen Parlament: „Auf die Frage, ob und inwieweit mit der Idee der Einheit göttlicher und menschlicher Natur die evangelische Geschichte als Geschichte gegeben sei, sind an und für sich drei 39 Strauß, 1838, Heft 3, S. 94. 40 Vgl.Brazill, S. 51-52. 41 Moog, S. 430. 42 Vgl. Köster, S. 56.

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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Antworten möglich: daß nämlich mit jenem Begriffe entweder die ganze evangelische Geschichte, oder daß bloß ein Teil derselben, oder endlich, daß sie weder ganz noch teilweise von der Idee aus als historisch zu erhärten sei. Wären diese drei Antworten und Richtungen wirklich jede von einem Zweige der Hegeischen Schule repräsentiert, so könnte man nach der herkömmlichen Vergleichung die erste Richtung als die dem alten Systeme am nächsten stehende, die rechte, die dritte die linke Seite, die zweite aber das Zentrum nennen."43 Dieser originelle Vergleich wurde bald aufgegriffen und weitergetragen und entwickelte sich über seinen ursprünglichen Bezug, die eingenommene Haltung zur christologischen Frage, hinaus ganz allgemein zum Ausdruck der veränderungsbestrebten Fortschrittlichkeit i m Falle der Linkshegelianer, der konservativen Bedächtigkeit i m Falle der Rechtshegelianer. 44 Beachtenswert bleibt hierbei, daß die Kirche in ihrer damaligen Verfaßtheit kaum zu Kompromissen bereit war und schon den geringsten Zweifel an den Glaubenssätzen verurteilte. Die Linkshegelianer übten Kritik an der Religionsauffassung, wie sie von orthodoxen Lutheranern um Ernst Wilhelm Hengstenberg, dem Herausgeber der Evangelischen Kirchenzeitung, in ihrem biblischen Fundamentalismus verteidigt wurde. Der Vorwurf der Welt- und Naturfeindlichkeit konnte der so verstandenen christlichen Religiosität durchaus zurecht gemacht werden. 4 5 Es wäre jedoch unangemessen, die Linkshegelianer als Religionskritiker i m Sinne von Religionsgegner zu bezeichnen. Sie stellten lediglich die notwendige Verbindung einer bestimmten Religionsauffassung mit der Philosophie Hegels in Frage. Tatsächlich beschränkte sich die Auseinandersetzung vorrangig darauf, ob Hegels Philosophie eher theistisch i m traditionell-christlichen Sinne oder eher pantheistisch zu verstehen sei. „Was Strauß ablehnt, ist allein die rechtshegelianische Be43 Strauß, 1838, Heft 3, S. 95. 44

Neben der Unterscheidung in Rechts- und Linkshegelianer hat sich auch eine zweite Unterscheidung, die zwischen Alt- und Junghegelianern, etabliert. Das Einteilungskriterium dieses Begriffspaares ist die Frage, ob ein Hegelanhänger persönlicher Schüler Hegels war, somit Althegelianer, oder ob er den Meister nicht mehr persönlich gehört hat, was ihn zum Junghegelianer macht. Häufig werden die Begriffe unsauber und uneinheitlich angewendet. Meist findet eine weitgehende Gleichsetzung von Junghegelianern mit Linkshegelianern und von Althegelianern mit Rechtshegelianern statt. Da jedoch das rein empirische Faktum, ob ein Philosoph persönlicher Schüler Hegels war oder nicht, kein Charakterisierungsmerkmal einer philosophischen Haltung darstellt, wird hier nur von Rechts- und Linkshegelianern gesprochen, einer Unterscheidung, der wenigstens eine philosophische Meinungsverschiedenheit zugrunde liegt. Löwith (1962, S. 10), dies ist der Vollständigkeit halber zu ergänzen, gibt dem Begriffspaar Jung- und Althegelianer noch einen spezifischen Sinn, indem er auf die Bedeutung der Jungen und der Alten in Hegels System der Sittlichkeit verweist: Die Alten sind die zur Regierung Berufenen, da ihr Geist nicht mehr das Einzelne, sondern das Allgemeine und das Vergangene denkt. Die Alten leben im Gegensatz zu den Jungen nicht mehr in der unbefriedigten Spannung zwischen sich und der ihnen unangemessenen Welt. Die Bildung des Begriffspaares Hegeliter und Hegelinge ( ζ. B. bei Leo, s.u.) nimmt ebenfalls Bezug auf alt und jung, indem im ersten Fall „Hegel" und „Altere" zu einem Wort zusammengefügt wurde, während im zweiten Fall „Hegel" und „Jünglinge" kombiniert wurde. 45 McLellan, S. 31. 3 Moser

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

hauptung der Exklusivität der Offenbarung in Jesus Christus". Die Unterscheidung der beiden Seiten spiele sich daher „ i n einem ganz eng umgrenzten theologischen Fachgebiet" 4 6 ab. Strauß stellte heraus, daß aus der Philosophie Hegels nicht der Schluß gezogen werden könne, daß die Inhalte der Evangelien sich tatsächlich zugetragen haben, sondern dieser Punkt müsse der philosophischen Kritik anheimgestellt werden. Ob nun Christus ein oder gar der einzige Gottmensch war, und ob er überhaupt mit Notwendigkeit in der Geschichte auftreten muß, diese Fragen seien unter Zugrundelegung der Hegeischen Philosophie nicht eindeutig beantwortbar. Strauß als Linkshegelianer sträubte sich keineswegs gegen die Anerkennung göttlicher Taten in der Geschichte. I m Gegenteil ist für ihn „alle Geschichte göttliches Thun, Heraustreten des Ewigen in der Zeit". Und genau aus diesem Grund lehnt er es ab, irgendeinen Teil der Geschichte als unmittelbare göttliche Offenbarung aus der übrigen Geschichte auszugrenzen. Er sieht den gesamten Geschichtsprozeß als Offenbarung, daher kann er es nur „für Beschränktheit des Blickes halten, wenn aus diesem Ganzen irgendwo ein kleiner Ausschnitt gemacht, und mit einem aparten Goldrähmchen umzogen w i r d . " 4 7 Es handelte sich also in dem Schulstreit zwischen Rechts- und Linkshegelianern um eine fachphilosophische, klar umgrenzte Auseinandersetzung, in welcher die Linkshegelianer den Theisten vorwarfen, auf den Standpunkt Schellings zurückgefallen zu sein, während umgekehrt die theistischen Hegelianer den Linkshegelianern zur Last legten, den durch Hegel überwundenen subjektivistischen Standpunkt Kants einzunehmen. 48 Festzuhalten bleibt darüber hinaus, daß die Streitigkeit keineswegs mit unterschiedlichen Haltungen zu politischen Fragen einherging. Die preußische Monarchie galt bis zur Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. (1840) allen Hegelianern unbestritten als besonders fortschrittliche und der menschlichen Freiheit gerecht werdende Regierungsform, in welcher durch die Existenz verschiedener Parteien den unterschiedlichsten Interessen Rechnung getragen werde. 4 9 So sieht Moses H e ß 5 0 i m Staate das Instrument der völligen Emanzipierung des Menschen, und gerade i m preußischen Staat erblickte er „den Schutzherrn der deutschen Geistesfreiheit." 51 Es ist ungeachtet der engen Umgrenztheit des Schulstreites gleichwohl richtig, daß in ihm der Keim zu sehr unterschiedlichen Hegelinterpretationen gelegt war. Eine Bruchstelle deutete sich in diesem überschaubar wirkenden religionsphiloso46 Ottmann, S. 16. Trotz dieser Einsicht verfolgt er das Ziel, die Dichotomie zu verabsolutieren und bis auf den heutigen Tag fortzuschreiben. 47 Strauß, 1838, Heft 3, S. 97. 48 Sandberger, S. 126-128. 49 McLellan, S. 32. 50 Heß, 1812-1875, war als Journalist bei der Rheinischen Zeitung tätig, deren Leiter damals Karl Marx war. Er vertritt einen zionistischen, sozialistischen, die Tat (speziell auch im Gegensatz zum Eigentum) betonenden Standpunkt. Er gilt nicht als Vertreter der linkshegelianischen Philosophie im engeren Sinne, da er eher als Publzist denn als Wissenschaftler wirkte, steht ihr jedoch nahe. Vgl. v.a. Stuke, 1963, S. 189-244. 51 Heß, S. 138.

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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phischen Streit bereits insofern an, als die Linkshegelianer mit der Exklusivität des Gottmenschtums Christi zugleich auch bestritten, daß die Vernunft sich bereits vollständig verwirklicht habe. Denn wenn mit Christus bereits der Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung erreicht ist, wie die Theisten annehmen, so steht in der Geschichte nichts wichtiges Neues mehr zu erwarten. Wenn andererseits die Erfüllung der Geschichte, die Angleichung göttlicher und menschlicher Natur, als allmählicher Prozeß stattfindet, zu welchem jeder Mensch berufen ist, wie die Linkshegelianer behaupten: so ist die Geschichte noch nicht abgeschlossen. In diesem Falle dauert der Prozeß auch heute noch an. Und jeder einzelne Mensch kann an dem Projekt der Vergöttlichung des Menschen mitwirken. Aus dieser Auffassung kann eine völlig neuartige Geisteshaltung hervorgehen. Denn aus der Annahme, daß man sich in einem laufenden und beeinflußbaren Prozeß befindet, ergibt sich die Unterscheidung zwischen dem bereits zurückgelegten Weg einerseits und dem noch bevorstehenden Weg andererseits. Die Seite des Nochnichtseins bedeutet aber ein Sollen, einen Appell zum Handeln, einen Aufruf zur Tat. 52 Die Linkshegelianer betrachteten die Welt als noch nicht vollendet, den Heilsprozeß als noch nicht abgeschlossen, die Menschwerdung Gottes als erst teilweise vollzogen. Daher drängten sie auf ein Fortschreiten auf dem Weg, den Hegel vorgegeben hat, auf ein Verwirklichen der bereits gedachten, aber noch nicht in die Wirklichkeit getretenen Idee. Diesen Geist, der in Hegels Philosophie durchaus bereits angelegt ist, jedoch in Hegels späteren Jahren recht in den Hintergrund getreten war, frischten die Linkshegelianer wieder auf. Sie betonten damit die auf Zukunft und Realisierung der Vernunft gerichtete, in seiner Religionsphilosphie am stärksten ausgeprägte Seite an Hegel, wie sie oben bereits skizziert wurde. 53 Angesichts dieser Ausgangslage ist es durchaus naheliegend, eine Spaltung der Schule in die vorwärtsdrängenden, „gottlosen" Linkshegelianer und die konservativen, „frömmelnden" Rechtshegelianer zu vermuten. Es bleibt nun zu untersuchen, wie die aufgezeigte Situation in der Philosophiegeschichte aufgenommen und tradiert wurde, um in einem anschließenden Kapitel die Unzulänglichkeiten und Einseitigkeiten dieser Rezeption herauszustellen.

I I . Rezeption in der Philosophiegeschichte Ausgehend von der oben dargelegten, von der Kirche an die Hegelianer herangetragenen Aufforderung, sich zwischen Glaube und Philosophie zu entscheiden, und insbesondere unter Verwendung des sehr anschaulichen Schemas der Einteilung in linke und rechte Hegelianer, machte die Behauptung der durchgängigen Spaltung des Hegelianismus schnell Karriere. Es gab kaum Widerstand gegen die Verbreitung dieser Annahme, nichts schien dagegen zu sprechen, vor allem wand52 Vgl. Sandberger, S. 129-130. 53 Vgl. Erster Teil Α. II. 3=

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

ten auch die Betroffenen nichts dagegen ein, ihr Lager in Linke und Rechte aufzuteilen. Daß die Hegelianer selbst von einem Riß durch ihr eigenes Lager ausgingen, ist jedoch noch kein Beweis für die Stimmigkeit dieser These, wie im kommenden Kapitel zu zeigen sein wird. Es bleibt jedenfalls festzuhalten, daß der Siegeszug der Spaltungsthese leicht nachvollziehbar ist angesichts einer Ausgangslage, die keinerlei Zweifel am Schisma aufkommen läßt. Die Schuleinteilung nach Strauß gliederte ursprünglich in drei Fraktionen: Neben einem linken und einem rechten wurde dort noch ein mittlerer Hegelianismus angenommen. Von dieser dritten Fraktion war jedoch zusehends weniger die Rede. Sie hatte angesichts der Polarisierung der beiden Lager auf Dauer keinen Platz im Deutungsschema des Hegelianismus. Schon Michelet beispielsweise machte sich Gedanken darüber, ob die Linke und das Zentrum nicht als eine Partei auftreten sollten. 54 Gleichwohl ist der Vollständigkeit halber einzuräumen, daß sich in der Literatur bis heute immer wieder eine Erwähnung des mittleren Hegelianismus findet. 55 Die Konturen, welche dieser Fraktion zugeschrieben werden, sind jedoch noch weit blasser als die des Rechtshegelianismus, der sich bereits durch Konturlosigkeit auszeichnet.56 Die Charakterisierungen des mittleren Hegelianismus beschränken sich meist auf den Pleonasmus, er habe eine mittlere Stellung zwischen dem Links- und dem Rechtshegelianismus eingenommen.57 Nachfolgend wird dargelegt, wie weitgehend die Einigkeit der damaligen und heutigen Philosophiegeschichtsschreibung über die völlige Spaltung des hegelianischen Lagers ist. Die herrschende Meinung zu dieser Frage, ihre Grundannahmen und Konsequenzen werden hierbei aufgezeigt. Um den historisch gewachsenen Meinungsstand über das Auseinanderfallen des Hegelianismus zu dokumentieren, werden zu dieser Thematik zahlreiche Autoren referiert. Die Abfolge ist hierbei chronologisch gegliedert, so daß zwischen den zeitgenössischen (bis Ende des 19. Jahrhunderts), und den rückblickenden und heutigen Darstellungen (des 20. Jahrhunderts) unterschieden wird. Auch innerhalb der Kapitel wird chronologisch vorgegangen, wobei sich nicht jeder Autor auf ein bestimmtes Erscheinungsdatum festlegen läßt, sondern in einigen Fällen sich sein Bild des Hegelianismus über mehrere zeitlich versetzte Veröffentlichungen hinweg herausgebildet hat.

1. Zeitgenössische Darstellungen Johann Eduard Erdmann 58 erläutert ausführlich die Entwicklung der Hegeischen Schule seit dem Tode des Meisters. Er liefert die exakteste Analyse der eigentli-

54 55 56 57

Michelet, 1837/38, S. 657. So Löwith, 1950, S. 65; Ottmann, S. 15. Vgl. Erster Teil B. II. 1., und Erster Teil B. II. 2. Ottmann, S. 24-29.

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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chen Streitgegenstände. Für ihn steht die Untersuchung der genauen Streitpunkte im Vordergrund, er vermeidet Pauschalierungen und Verabsolutierungen weitgehend. Daher wird auf ihn insbesondere im folgenden Kapitel, bei der Behandlung der Unstimmigkeiten des traditionellen Urteils, einzugehen sein. Gleichwohl zieht sich die Spaltungstheorie durch seine gesamte Studie hindurch. 59 Friedrich Engels nimmt die Streitigkeiten in der Schule der Hegelianer 1839 zum Anlaß für ein szenisches Stück, das er in einem Brief an Friedrich Graeber auszugsweise zitiert. Auch hierin wird die Konfrontation zwischen den beiden Seiten als Gegebenheit hingestellt und polarisiert, wobei Heinrich Leo der rechts- und Carl Ludwig Michelet der linkshegelianische Part zugedacht wird: Leo:

Komm an, du Hund von Hegeling!

Michelet:

Pietist, bist mir wahrlich zu gering!

Leo:

Da hast du die Bibel an den Kopf!

Michelet:

Und du den Hegel, verhallerter Tropf!

Leo:

Ich werf dir den Hegel, du Lästrer, zurück!

Michelet:

Und ich dir die Bibel ins Genick!

Leo:

Was willst du noch? Du bist ja längst todt?

Michelet:

Das bist du, burschikoser Zelot!

Siegfried:

Was ist von Eurem Streit der Grund?

Leo:

Der Hegeling, der lästerliche Mund, Will die Bibel in Verachtung bringen, Da muß man wohl auf ihn eindringen!

Michelet:

Das lügt der ungehobelte Flegel, Er will nicht respektiren den Hegel!

Siegfried:

Aber Ihr warft Euch ja gegenseitig Mit den Büchern, um die Ihr streitig?

Leo:

'S ist einerlei, er ist kein Christ.

Michelet:

So gut und besser, wie du einer bist. 60

Der oben bereits zitierte Rosenkranz61 sucht bei Hegel Trost, wenn er die Spaltung der Schule konstatiert: „Zweitens besteht das Wesen einer Schule darin, sich als Schule aufzuheben. Die Hegeische ist so glücklich gewesen, in kaum zehn Jahren dies Resultat erreicht zu haben. Die Entzweiungen in ihr haben die gehörige Reife erreicht [ . . . ] . "

58 Geboren 1805 in Livland, gestorben 1892 in Berlin. Er ist stark hegelianisch geprägt und machte vor allem als Philosophiehistoriker auf sich aufmerksam. Vgl. Überweg, 1923, S. 206. 59 Erdmann, §§ 336-342. 60 Engels, S. 124 f.

61 Rosenkranz, 1840, S. XXXV.

38

Erster Teil: Die Hegeische Schule

Michelet legt auf über dreißig Seiten die Heterogenität der Hegelanhänger dar. 62 Er greift die Einteilung von Strauß dankbar auf und führt sie weiter. Er differenziert sie noch weiter aus, so daß zusätzlich zu den linken, den mittleren und den rechten noch die Gruppe der Pseudohegelianer genannt wird, wie er die Anhänger Schellings tituliert. Für diese, die Glaubensphilosophie betonende Richtung, hat er besonders wenig Verständnis, er hält ihnen das Zurückfallen auf längst überwunden geglaubte Standpunkte vor: „Dieser Theil der Schüler hat also an der Speise der Phänomenologie nur gewürgt, ohne sie einmal herunterschlucken zu können" (S. 631). Michelet ist die klare Trennung der verschiedenen Lager wichtig, er fordert daher Rosenkranz auf, sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen und aus dem Zentrum herauszutreten, da die mittlere, unentschiedene Stellung „weder Fisch noch Fleisch, ein niederträchtig Grau" (S. 659) darstelle. In diesem Zusammenhang macht Michelet auch den häufig zitierten, wohl nicht ernstgemeinten Vorschlag, Rosenkranz als Vertreter des Zentrums möge eine Koalition eingehen mit der linken Seite - ein Vorschlag, welcher dem politischen Ursprung des Bildes der Schuleinteilung Rechnung trägt, jedoch in philosophischen, zumal religionsphilosophischen Fragestellungen als völlig unangemessen bezeichnet werden kann. Heinrich Leo, der Widerpart Michelets in Engels Szene, als Vertreter des Rechtshegelianismus, hat ebenfalls einen weniger wissenschaftlichen als vielmehr polemischen Beitrag zum Verhältnis der kirchentreuen zu den häretischen Hegelanhängern geliefert. In seiner Schmähschrift Die Hegelingen sucht er 1839 den Nachweis zu führen, daß die junghegelianische Partei - was in diesem Falle mit der linkshegelianischen gleichzusetzen ist - atheistisch sei, indem sie einen personalen Gott leugne; daß sie Christus nicht als den alleinigen Gottmenschen anerkenne, also das Evangelium lediglich für Mythologie halte; daß sie ein persönliches Weiterleben nach dem Tode leugne, also eine Religion des reinen Diesseits predige; daß sie schließlich trotz all dieser unverschämten Dreistigkeiten sich nicht schäme, weiterhin an den Sakramenten teilzunehmen, und sich damit gar noch den Anschein des Christlichen geben wolle. 63 Zum Beleg dieser von Leo als inakzeptabel empfundenen Haltung, zu welcher ihm jeder weitere Kommentar unnötig scheint, dienen mehrere Auszüge aus Werken von Autoren der angegriffenen „Partei", insbesondere auch aus Michelets Geschichte der letzten Systeme der Philosophie. 64 62 Michelet, 1837/38, S. 630 ff. Michelet ist zwar Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie, doch ist er zugleich einer der bedeutenden Historiographen der damaligen Zeit und daher an dieser Stelle ebenfalls zu nennen. Dem Vorwurf, die Selbstkommentierung eines Autors sei eine unwissenschaftliche Quelle, kann entgegengehalten werden, daß sich das Urteil hier keinesfalls alleine auf Michelets Aussagen stützt, sondern er vielmehr nur ergänzend zu den zahlreichen im folgenden angeführten Autoren genannt wird. 63 Leo, S. 1 - 3 . 64 Leo, S. 4 - 2 4 , entspricht Michelet , 1837/38, S. 637 ff. Diese Textstelle Michelets stellt Leo unter die Überschrift „Das Glaubensbekenntnis der Hegelingen". Vermutlich dürfte diese

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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Besonders wirkungsvoll war die Charakterisierung der Hegelschule, wie sie sich in der Philosophiegeschichte Uberwegs findet; eine Charakterisierung, die auch in den späteren Ausgaben des Werkes noch jahrzehntelang fast wörtlich beibehalten wurde: „Bald jedoch nach Hegels Tode zerfiel die Schule in verschiedene Parteien [ . . . ] . Die sogenannte rechte Seite neigte sich in diesen Punkten der Orthodoxie und dem Supranaturalismus zu und huldigte im Grossen und Ganzen der Kirchenlehre. Sie nahm an, der Theismus sei in der Lehre Hegels begründet, ebenso wie die persönliche Unsterblichkeit und der Begriff von Christus als dem wirklichen persönlichen Gottmenschen, indem sie sich daran hielt, dass nach Hegel die Philosophie denselben Inhalt wie die Religion habe. Die linke Seite dagegen, die der Junghegelianer, wollte der Kirchenlehre einen Einfluss auf die philosophischen Theoreme nicht gestatten und trat für den pantheistischen Gottesbegriff, wonach Gott als die ewige und allgemeine Substanz erst in der Menschheit zum Selbstbewusstsein komme, ferner für die Ewigkeit des Geistes überhaupt, im Gegensatze zu der Unsterblichkeit des individuellen Geistes, und für die Auffassung der Gottmenschheit, als der Idee der Menschheit, ein. [ . . . ] . " „Von denen, die weit links gegangen waren, verliessen freilich einige der bedeutendsten die hegelschen Principien und wandten sich dem Naturalismus und Materialismus zu [ . . . ] . In den politischen Ansichten zeigt sich unter den Schülern Hegels ähnliche Verschiedenheit wie in religiösen. Die conservative Richtung war durch die Rechte vertreten, aber auch durch Strauss und Bruno Bauer, die radicale durch die Linke [ . . . ] . " 6 5

Es ist bemerkenswert, daß bereits zum damaligen Zeitpunkt das Wissenswerteste, das zum Hegelianismus zu sagen war, in dessen Spaltung zu bestehen schien. Die Vorstellung, über den Hegelianismus als Ganzes könne eine Aussage getroffen werden, war schon damals abhanden gekommen. Als Vertreter der Linken benennt Überweg: Richter, Rüge, Feuerbach, Strauß; als typische Rechte nennt er: Gabler, Hinrichs, Göschel (S. 416). Rudolf Hayms eher populär formulierte, nichtsdestoweniger versierte und vielzitierte Darstellung Hegel und seine Zeit 66 geht auf die Hegelschule knapp ein. Er spricht von einer dialektischen Auflösung des Hegelschen Systems innerhalb der Schule (S. 462). Einerseits waren da die Junghegelianer: „Die eingedämmte Dialektik des Systems durchbrach ihre künstlichen Dämme, die in ihr latenten Freiheitstendenzen wurden entbunden und tumultuarisch gegen die Wirklichkeit ins Spiel gesetzt" (S. 463). Andererseits war da noch „ein anderer Kreis von Epigonen", die vergeblich versuchten, die Harmonie wiederherzustellen zwischen den sich auflösenden Polen des Hegelschen Systems (S. 463). Auch hier wird die Polarisierung der Schülerschaft ganz in den Vordergrund gestellt, eine nennenswerte Gemeinsamkeit oder Eigenständigkeit des Hegelianismus weiß Haym nicht zu berichten. Titulierung der Anlaß gewesen sein, daß Michelet seine Haltung in Glaubensfragen mit dem programmatischen Titel Denkbekenntnis versah. 65 Überweg, 1888, S. 415 f. 66 Haym.

Erster Teil: Die Hegeische Schule

40

2. Rückblickende Darstellungen Die bedeutsamste Monographie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über den Hegelianismus stammt von Willy Moog. 67 Er hält die dialektische Gestalt für in der Hegeischen Philosophie angelegt, weshalb ihm auch die Spaltung der Schülerschaft folgerichtig erscheint (S. 406). Der rechte Flügel, vertreten durch Göschel, betone die Unsterblichkeit der Seele und die Persönlichkeit Gottes (S. 415). Auf der linken Seite hebe Feuerbach hervor, Philosophie dürfe nicht länger alleine die Sache der Philosophen bleiben, sondern sie müsse als Sache der gesamten Menschheit angesehen werden. Die theistische Vorstellung eines transzendenten Gottes und einer persönlichen Unsterblichkeit gelte ihm als eitler Versuch, die Unzulänglichkeit des einzelnen, endlichen Menschen zu kompensieren (S. 416-417). So habe sich allmählich ein orthodox-christliches und ein radikales Lager herausgebildet (S. 429), der Tonfall sei immer schärfer und polemischer geworden, die Kritik der Linkshegelianer habe sich zunehmend auch auf die politischen Zustände bezogen (S. 438). Artur Hübschers 1947 erschienener Aufsatz über die Nachfolge Hegels sieht die Bildung einer rechten und einer linken Hegelschule darin begründet, daß sich aus Hegels Philosophie zwei folgerichtige, aber doch einander widersprechende Konsequenzen hinsichtlich des Verhältnisses von Vernunft und Wirklichkeit ziehen lassen: Einerseits lasse sich aus der Vernunft des Wirklichen ein Lobpreis der gegenwärtigen Verhältnisse ableiten, eine Denkweise, die vom Rechtshegelianismus bis Hitler reiche. Andererseits lasse sich aus der Wirklichkeit des Vernünftigen eine Mission rechtfertigen, welche die Realität verändern und höherer Ziele wegen das Bestehende negieren will - was sich in der linkshegelianischen Denktradition von Marx bis Stalin widerspiegele. Der Sieg der Sowjetunion über das Dritte Reich sei somit als Sieg des Linkshegelianismus über den Rechtshegelianismus zu verstehen. 68 Karl Löwith 6 9 untersucht den Grund der Spaltung der Schule und findet ihn theoretisch fundiert in der Trennung der von Hegel vorgenommenen Identifikation von Vernunft und Wirklichkeit: „Die Spaltung der Schule beruht also beiderseits darauf, daß die bei Hegel in einem metaphysischen Punkt vereinigten Sätze von der Vernunft des Wirklichen und der Wirklichkeit des Vernünftigen nach rechts und nach links vereinzelt wurden - zunächst in der Frage der Religion und dann in der Politik. Die Rechte betonte, daß nur das Wirkliche auch das Vernünftige und die Linke, daß nur das Vernünftige auch das Wirkliche sei, während bei Hegel der konservative und revolutionäre Aspekt, formell mindestens, gleichgültig sind." (S. 83)

67

Moog. 68 Hübscher, S. 709-714. 69 Lowith, 1950.

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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Dementsprechend sind die Linkshegelianer die im Verhältnis zu Hegel „revolutionäre Umsturzpartei" (S. 78), die auf jeden Fall und mit alle Mitteln eine Veränderung herbeiführen will. Die Rechtshegelianer demgegenüber70 „haben Hegels Philosophie buchstäblich konserviert und in historischen Einzelforschungen weitergeführt, aber sie nicht über die Zeit von Hegels persönlicher Wirkung hinaus auf eine eigene Weise reproduziert." (S. 66) In seinem späteren Werk Die Hegeische Linke 1 λ arbeitet Löwith seine Thesen zum Hegelianismus weiter aus. Diese Schrift setzt eine Schulspaltung bereits voraus, sie behandelt nur die linke Seite der Schule und basiert auf der nicht näher bewiesenen Annahme, daß der Hegelianismus in zwei Lager zerfalle. Die Charakteristik der Linken nimmt hier weiten Raum ein und wird sehr detailliert dargestellt: Die Linken fragen, wie sich die Philosophie zur Geschichte der Welt verhält. Sie fordern und betreiben das Heraustreten der sich selbst genügenden Philosophie in die geschichtliche Existenz, das Politisch-werden der Philosophie. Sie konzipieren die Weltgeschichte ausgehend von der Philosophiegeschichte. Ihre wichtigsten Vokabeln lauten daher Wirklichkeit, Verwirklichung, Praxis, Existenz, politisch und sozial (S. 7). Ausgehend von Hegel seien die Linkshegelianer der Auffassung, die Welt sei fertiggedacht, nun breche das Zeitalter der selbstbewußten Geschichtserfüllung durch die Menschen an. Sie lösen sich von der alten Vorstellung, die Theorie sei die höchste, weil freieste menschliche Tätigkeit. Die Wahrheit bewährt sich ihnen an der Zweckmäßigkeit, das Ideal der Interesselosigkeit des „Liebhabers der Weisheit" geben sie zugunsten der weltgeschichtlichen Zweckdienlichkeit des Philosophierens auf (S. 9-10). Die Linkshegelianer wenden sich von Vergangenheit und Allgemeinem ab, sie wollen die Zukunft konkret anhand der durch Hegels Philosophie gewonnenen Erkenntnisse gestalten. Hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Seriosität bemerkt Löwith, daß „sie mit dürftigen Mitteln maßlose Ansprüche stellen und Hegels begriffliche Dialektik zu einem rhetorischen Stilmittel breittreten" (S. 11). „Als Ideologen des Werdens und der Bewegung fixieren sie sich auf Hegels Prinzip der dialektischen Negativität und auf den Widerspruch, welcher die Welt bewegt" (S. 12). Für sie liegt das Immerseiende nicht mehr im immergleichen Logos, sondern sie radikalisieren den von Hegel eingeschlagenen Weg der Historisierung der Wahrheit. So wird ihnen die Wahrheit eine zeitlich relative, die im vernünftigen Fortschritt der Weltgeschichte, welche Produkt des Menschen ist, besteht (S. 36). Die Freiheit und Erhabenheit, welche die Philosophie traditionell in der Abwesenheit äußerer Zwecke, im Wertvoll-sein um seiner selbst willen, in der Selbstzwecklichkeit erblickt, gilt den Linkshegelianern nicht mehr viel: „Mit der für alle Linkshegelianer charakteristischen Abwendung von einer sich selbst genügenden Philosophie, deren ursprüngliches Thema das von Natur aus Immerseiende und Immerwährende ist, vollzog sich eine Zuwendung zur zeitgeschichtlichen „Existenz", der 70

Löwith bevorzugt das Begriffspaar Junghegelianer/Althegelianer, was in der Sache aber keinen Unterschied macht (vgl. Fußnote 18). 71 Löwith, 1963.

42

Erster Teil: Die Hegeische Schule auf Seiten der Philosophie die Forderung des Praktischwerdens der Theorie entspricht, und damit die Aufhebung der Philosophie als Philosophie (S. 33)."

Auguste Cornus Werk über Karl Marx und Friedrich Engels beschäftigt sich ausführlich mit der Hegelschule.72 Er sieht die Spaltung der Schule dadurch vorprogrammiert, daß Hegels System eine konservative und ausgleichende, seiner Dialektik dagegen eine weitertreibende und verneinende Tendenz innewohne. So trat die Spaltung der Schülerschaft in eine konservativ-orthodoxe und eine liberale Fraktion Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts immer stärker hervor (S. 125). „Die Wendung von der religiösen zur politischen Kritik und die immer entschiedenere Opposition gegen die preußische Regierung bewirkte die endgültige Scheidung der linken von den rechten Hegelianern, die sich immer fester an Hegels reaktionäres System klammerten und die Junghegelianer des Verrats an Hegels Lehre bezichtigten (S. 148).

Die Junghegelianer verwarfen das reaktionäre System, das die christliche Religion und den preußischen Staat als endgültige Verkörperung des Weltgeistes verabsolutierte, und stellten ihm die dialektische Auffassung entgegen, die der Geschichte keine Grenze setzt (S. 202)/' Herrmann Lübbe gilt als Apologet des Rechtshegelianismus. Er versucht aufzuzeigen, daß man den Rechtshegelianern zu Unrecht den Vorwurf der religiösen Orthodoxie, des politischen Konservatismus und der mangelnden Eigenständigkeit gegenüber der Philosophie Hegels macht. Seinen Studien liegt eine klar erkennbare politische Tendenz zugrunde, die auf der politischen Bedeutung der Begriffe rechts und links basiert und darauf abzielt, die Liberalität und Fortschrittlichkeit des rechten Lagers zu betonen. Er beabsichtigt, das Urteil über den Rechtshegelianismus zu revidieren, welches er wie folgt zusammenfaßt: „Im gegenwärtigen philosophiehistorischen Bewußtsein hat also die hegelsche Rechte [ . . . ] keinen Platz. Aus den wenigen Bemerkungen, die ihr gelten, gewinnt man das Bild epigonenhafter Bedeutungslosigkeiten; als vermeintlicher Appendix eines christlich-konservativen Preußen weckt sie dasselbe philosophische Interesse wie dieses."73

Doch besteht Lübbes Verteidigungsstrategie nicht darin, die Gemeinsamkeit der rechten und der linken Hegelianer herauszuheben, sondern er geht ebenfalls von einer dichotomischen Spaltung der Schule aus. Nach seiner Charakteristik zeichnen sich die Rechtshegelianer durch eine behutsamere Vorgehensweise als die Linkshegelianer aus. Sie propagieren Reformen, agieren abwägend, nie utopisch oder hetzerisch. Sie sind Realisten, sie fordern nur, was auch Aussicht auf Verwirklichung hat. Die Theorie der rechten Hegelianer „beruht nicht, wie bei den Junghegelianern, im kompensatorischen Selbstbewußtsein derer, welche sich als die politische Vernunft vernunftloser Zustände wissen, sondern im 72 Cornu. 73 Lübbe, 1963, S. 29.

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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Gegenteil im Bewußtsein ihrer Übereinstimmung mit der Vernunft, die in diesen Zuständen selbst mindestens tendenziell gegenwärtig ist (S. 24)."

Die Linke ist in ihrer Religionskritik eindeutig und folgerichtig, in politischer Hinsicht dafür fanatisch, während die Rechte sich religionsphilosophisch auf unredliche Kompromisse einläßt, dafür in politischer Hinsicht auf vernünftig-praktischen Ausgleich bedacht bleibt (S. 38). Die Rechten sind der Auffassung, Hegels Lebenswerk sei von der Anlage her unüberholbar und nur im einzelnen fortführbar, und fühlen sich insoweit als Erbschaftsverwalter (S. 39-40). Sie empfinden den politischen Rückschritt als enttäuschend und wenden sich gedanklich von der deutschen Gegenwart ab, hin zur Vergangenheit als Philosophiehistoriker oder zum Ausland, vor allem Nordamerika, wo sie den Weltgeist weiterwirken sehen (S. 7 8 79). Es stellt sich bei ihnen nach der gescheiterten Revolution eine Verbitterung und auch Verspießerung ein, sie sehen sich von der Geschichte getäuscht, können diese Niederlage nicht verschmerzen und befinden sich zunehmend auf verlorenem Posten, wenn sie im kleinen Kreis von den großen Fortschritten der heraufziehenden Freiheit künden. Das progressive politische Denken deutscher Aufklärung und Klassik hatten die alten Hegelianer nach Lübbes Auffassung unter der geschichtlichen Bedingung des Vormärz fortgeführt und aktualisiert, und diese Aktualität verliert sich allmählich. „Der Sieg der Vernunft wurde zum Inhalt von Trinksprüchen 4' (S. 81). Als typische Vertreter des Rechtshegelianismus nennt Lübbe: Kuno Fischer, Karl Rosenkranz, Eduard Gans, Friedrich Wilhelm Carové, Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs, Carl Ludwig Michelet, Heinrich Bernhard Oppenheim, Johann Eduard Erdmann und Constantin Rössler. Jürgen Gebhardt 74 geht ebenfalls von einer Spaltung der hegelianischen Schule aus (S. 97). Seine sehr differenzierte Analyse hebt jedoch heraus, daß diese Spaltung einerseits keine durchgängige war und andererseits schon erheblich früher einsetzte als gemeinhin behauptet. Er kommt mit seinen Befunden im folgenden Kapitel ausführlicher zu Wort. Heinrich Popitz 75 zufolge verharren die Rechtshegelianer in epigonaler Befangenheit, so daß sie das Bild von Totengräbern und Denkmalsetzern Hegels abgeben (S. 13). Die Linkshegelianer charakterisiert Popitz in erster Linie anhand ihrer politischen Gesinnung, und zwar unter vorrangiger Betrachtung der radikalsten Vertreter. Sie sehen das Hauptproblem der Gegenwart in der Diskrepanz zwischen den Forderungen und Idealen der deutschen Philosophie und der rückständigen politischen Realität in Deutschland (S. 13). Zwar empfinden die Linkshegelianer ihre Theorie nicht als Absage an die Philosophie, doch tatsächlich weisen sie ihr eine Funktion zu, in welcher der wichtige Charakter der Philosophie als Selbstzweck verlorengeht (S. 14). Die Philosophie soll in die Praxis aufgehoben werden. Popitz zufolge galt eine weitestgehende Radikalität geradezu als Tugend bei den 74 Gebhardt, 1963. 75 Popitz.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

Linkshegelianern: Gemeinsam ist allen Linkshegelianern die Absicht, „um die zwei gefährlichsten Klippen herumzusteuern, welche die Bedeutung ihrer geistigen Leistung bedrohten: den Mangel an „Radikalität" und den Eklektizismus" (S. 18). Wie sich zeigt, hat sich die Rezeption des Hegelianismus zunehmend dahingehend verschärft, daß der Meinungsstreit zwischen Rechts- und Linkshegelianern als umfassender, nicht nur als thematisch begrenzter betrachtet wird; daß die Konfrontation nicht mehr als wissenschaftliche, sondern als eine solche der Lebenseinstellung angesehen wird; daß es müßig wäre, von Gemeinsamkeiten der Hegelianer berichten zu wollen; daß über die Rechtshegelianer immer weniger berichtet wird, da man sich die Auseinandersetzung mit ihren überkommenen Positionen sparen zu können glaubt. Die genannte Tendenz zur Zuspitzung läßt sich noch in gesteigertem Maße an Wilhelm Raimund Beyers 1967 in Ostberlin publizierter Studie mit dem unscheinbaren Namen Hegel-Bilder beobachten.76 Hegels System ist demnach in zwei Schulen zerfallen. Ausdrücklich wendet sich Beyer gegen die Vorstellung, die Schulen als zwei Seiten einer etwaigen Einheit eines summarischen Hegelianismus aufzufassen. Vielmehr stehe ein schroffer, unversöhnlicher Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus im Raum (S. 44-45). Er liefert auch eine Definition, was man sich unter links vorzustellen habe: „In der Philosophie bedeutet „links": von einer aufgeschlossenen und daher von der herrschenden Richtung ausgeschlossenen Fragestellung her an die Probleme der Tagespolitik und der Wissenschaft, also in radikaler Fragestellung heranzutreten und eine Lösung selbst unter Bruch mit traditionellen Momenten zu wagen. [ . . . ] . Der Begriff „links" enthält ursprünglich kein Bekenntnis zum Sozialismus. Dieses stellt sich erst ein, wenn das Problem des Fortschritts zeitgeschichtlich richtig, d. h. unter Berücksichtigung des Gebotes der Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte angelegt auftritt (S. 47)."

Beyer ist sich der historischen Entwicklung des Konflikts aus religionsphilosophischen Fragen heraus durchaus bewußt,77 hält aber gleichwohl die politische Auseinandersetzung für den zentralen Punkt. Das Kriterium zur Einordnung der Hegelianer in rechte und linke ist die Hinwendung zum System einerseits, zur dialektischen Methode andererseits (S. 58). Tätigkeitsdrang und Verbesserungswille zeichnen die Linkshegelianer ebenso aus (S. 51) wie Aktivität und Radikalität in der Fragestellung und Fragebeantwortung (S. 55). Sie heben das revolutionäre Element hervor, das in der ständigen dialektischen Verneinung des Bestehenden liegt (S. 58). Die von Hegel mühsam vermittelten Pole Philosophie und Welt fallen bei 76 Beyer 1967, ein typischer Vertreter einer vom marxistischen Standpunkt aus betriebenen Philosophie. 77 Wobei er allerdings auf S. 48 unzutreffend behauptet, Heinrich Leo habe aufgrund des von Strauß eingeführten Rechts-Links-Schemas den Vorschlag zu einer Koalition der Linken mit dem Zentrum gemacht. Tatsächlich stammt dieser Vorschlag von Michelet und wurde lediglich von Leo zitiert.

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ihnen wieder auseinander. Sie stellen den wirkungsmächtigen und strahlenden Part der Hegelnachfolge dar, in dem sich der Gehalt hegelianischer Philosophie bewährt (S. 50). Die Rechtshegelianer dagegen müssen sich vorhalten lassen, Hegel nicht verstanden zu haben (S. 70). Sie sind die theistischen Hegelnachfolger, mit Neigung zu Orthodoxie und Supranaturalismus (S. 61). Sie betreiben eine Thron- und Altarphilosophie. Ausgehend von der Religion leiten sie zum Staat und zur Rechtsphilosophie über. Sie orientieren sich stets am System und versöhnen alle widerstrebenden Tendenzen, die Dialektik dagegen vernachlässigen sie (S. 61-63). Sie verdecken durch ihr spekulatives Vorgehen den Widerspruch zur Praxis und verfallen so in bodenlose Spekulation. Durch ihre vorwiegend historische Betrachtungsweise verstärkt sich noch ihr konservativer Zug. „Die mystische Hülle, in die der rationale Kern der hegelschen Philosophie verborgen ist, wird von den Althegelianern als der eigentliche „Hegel" gewertet und ausgebaut" (S. 64). Sie setzen sich dem Vorwurf der theoretischen Faulheit aus (S. 64). „Althegelei, das ist - Stillstand, Rückschritt, Sekurität" (S. 69). Die Versuche, beispielsweise durch Lübbe, die Rechtshegelianer als bürgerlich-liberal gesinnt hinzustellen, hält Beyer für politisch motiviert und für wissenschaftlich unhaltbar. Was Lübbe durchführt, sei „antizipierte Entnazifizierung" der Rechtshegelianer (S. 61). Ohne es ausdrücklich zu benennen, sieht er die „Thron- und Altarphilosophie" der Rechtshegelianer Göschel, Vatke und Gabler (S. 67) demnach als mitschuldig für die Verbrechen zur Zeit des Dritten Reiches an. Es fällt auf, daß Beyer sich einerseits gegen die Tendenz wendet, Hegel für heutige Ziele als politische Waffe zu mißbrauchen, ihn beispielsweise als „Feind der eigenen Feinde" (S. 46) hinzustellen oder seine Schüler in gut und böse zu unterteilen - andererseits aber sich selbst dieser Taktik bedient, sich gar an die Spitze dieser politisierenden und polarisierenden Bewegung setzt. Zur Einordnung Beyers ist es gut zu wissen, daß er sich selbst eindeutig einem Lager zuordnet, das gewissermaßen in die Auseinandersetzung involviert ist: So veröffentlichte er noch 1980 in den in Frankfurt erscheinenden Marxistischen Blättern, 78 womit er sich unverhohlen als Anhänger der historisch-materialistischen Weltanschauung zu erkennen gibt. Franz Wiedmanns überblickartige Hegelinterpretation 79 berichtet ebenfalls von einer Spaltung der Hegelschen Schülerschaft (S. 122). Die rechte Seite nehmen ihm zufolge Carové, Erdmann, K. Fischer, Gans, Hinrichs, Michelet, Oppenheim, Rosenkranz und Rössler ein, welche das Recht des historisch Gewordenen auf politischem, philosophischem und theologischem Gebiet verteidigt. Der linke Flügel dagegen, repräsentiert durch Strauß, Feuerbach, Bauer, Engels und Marx, betone Hegels dialektische Methode und erhebe sie zum revolutionären Prinzip. Einen summarischen Hegelianismus gibt es daher nicht, sondern: „Das dialek-

78 Beyer 1980. 79 Wiedmann.

Erster Teil: Die Hegeische Schule

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tische Doppelgesicht seiner Lehre aber zerriß von Anfang an die - wenn je gesuchte - Einheit und wirkte einer geschlossenen Schulbildung entgegen" (S. 123). Auch David McLellan trennt scharf zwischen den beiden Seiten des Hegelianismus. 80 Die Rechtshegelianer halten nach seiner Ansicht an Hegels Versöhnungsgedanken fest und beschränken sich auf die Interpretation der Konsequenzen der Philosophie Hegels sowie auf Geschichtsschreibung. Sie halten das Wirkliche bereits für vernünftig (S. 14). Die Linkshegelianer dagegen glauben an die allmähliche Entfaltung der Vernunft im Laufe eines kontinuierlichen Prozesses, der noch nicht abgeschlossen ist. Ihre eigene Aufgabe sehen sie darin, diese Entwicklung zu beschleunigen. Die Versöhnung der Hegeischen Philosophie ist für sie noch nicht Gegenwart, sondern Zukunft: zuvor erwarten sie noch einen bedeutsamen Umbruch, welcher erst der Vernunft zum Durchbruch verhilft (S. 16-17). Sie sehen sich als diejenigen, die den wahren Gehalt Hegels erkannt haben. So unterscheiden sie zwischen einem exoterischen und einem esoterischen Aspekt der Philosophie Hegels. Der exoterische Hegel liest sich angepaßt, abwägend, staatstreu. Der wahre Gehalt dieser Philosophie müsse erst erschlossen werden, indem man zwischen den Zeilen liest, die Konsequenzen bedenkt und die Sprengkraft des dialektischen Prinzips erkennt. Diesen von Hegel bewußt oder unbewußt verschwiegenen revolutionären Charakter seiner Philosophie bezeichnen die Linkshegelianer als den esoterischen Aspekt Hegels (S. 29). Die Studie über den Linkshegelianismus von William J. Brazill stellt die Genese der Streitigkeiten in der Schule sehr differenziert dar. 81 Gleichwohl neigt auch sie zur Verabsolutierung der Spaltungstheorie. Die Rechtshegelianer affirmieren demnach das Christentum und die bestehenden Institutionen als Verkörperung des Göttlichen. Für sie besteht nicht nur Kompatibilität zwischen Christentum und Hegelscher Philosophie, sondern sie rechtfertigen sich sogar gegenseitig. Als chief philosophers of the Hegelian right werden Göschel, Erdmann, Gabler, von Henning, Hinrichs, Michelet und Hotho genannt (S. 50). Die Linken dagegen sind keine Christen, sondern Humanisten. Hierdurch unterscheiden sie sich von den Rechten. Sie glauben, daß das Christentum im historischen Prozeß überkommen ist und nunmehr allein die Philosophie Auskunft über die Realität gibt. Zwischen diesen konträren Ansichten konnte es keinen Kompromiß geben (S. 53-55). Die Kontroverse wurde von den Beteiligten als derart schwerwiegend empfunden und mit entsprechender Entschiedenheit geführt, that the participants were willing to sacrifice their careers, their fortunes, and their honor for their views (S. 50). Udo Kösters vorrangig auf den literarischen Aspekt des Linkshegelianismus bezogene Studie 82 sieht das Teilungskriterium der Hegeischen Schule im Bekenntnis zum Glauben im Falle der Rechten, zur Philosophie im Falle der Linken (S. 5 6 57). Die Hegeische Rechte „bestimmte den Glauben als die höchste Form der so McLellan. 81 Brazill. 82

Köster.

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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Wahrheit, der das Wissen sich unterzuordnen hatte. Gerieten Glauben und Wissen in Widerspruch, so wäre eher die Philosophie als die Religion zu verwerfen" (S. 57). Die Linkshegelianer haben statt dessen den absoluten Geist Hegels in die menschliche Vernunft umgedeutet. Durch diese anthropologische Wendung waren die Inhalte der Vernunft nun die Inhalte des menschlichen Denkens. Hegels Identifizierung von Vernunft und Wirklichkeit verstanden sie nicht als Ausdruck des IstZustandes, sondern als Postulat (S. 99). Horst Stuke, der zum Verständnis des Hegelianismus den bedeutsamsten Beitrag überhaupt geleistet hat, indem er die Philosophie der Tat als eigenständige philosophische Richtung dargestellt hat, bleibt bei aller Kenntnis der Situation dennoch dem Traditionsurteil, der Schulspaltung, treu. 83 Die Erkenntnisse seiner Monographie von 1963 werden unten 84 noch eingehend behandelt werden. Das zu DDR-Zeiten in Leipzig herausgegebene Philosophische Wörterbuch schreibt die Hegelschule als eine solche, die

be-

„in ihrer Aufgliederung in Alt- und Junghegelianer völlig konträre Standpunkte einnahm. [ . . . ] Der linke Flügel, die sog. Junghegelianer, gaben im Kampf mit pietistischen Orthodoxen und feudalen Reaktionären ein Stück nach dem andern auf von jener philosophischvornehmen Zurückhaltung gegenüber den brennenden Tagesfragen, die ihrer Lehre bisher staatliche Duldung und sogar Protektion gesichert hatte. [ . . . ] Die gegenwärtige bürgerliche Philosophiegeschichtsschreibung verwendet die Bezeichnungen „Links-" und „Rechtshegelianer" statt „Jung-" und „Althegelianer" mit Vorliebe, zunächst um vom wirklichen politischen Hintergrund der Auseinandersetzung innerhalb der Hegelschen Schule absehen zu können. [ . . . ] Eine solche Verflachung ermöglicht es, Marx und Engels als Episode nachhegelscher Denklinien auszugeben oder gar Marx als Antipoden von Kierkegaard innerhalb einer umgreifenden Hegel-Folge anzusprechen [ . . . ] . " 8 5

Dieser Ansicht zufolge besteht also eine unüberbrückbare Kluft zwischen den politischen Ansichten der beiden Lager, welche in der „bürgerlichen" Philosophiegeschichtsschreibung sogar noch zu wenig zur Kenntnis genommen werde. Auch Johann Mader unterscheidet strikt zwischen zwei gegensätzlichen Polen der Schule.86 Die Linkshegelianer, repräsentiert durch Strauß, Bruno und Edgar Bauer, Feuerbach, Rüge und Stirner, stehen der Philosophie Hegels kritisch gegenüber (S. 13). Der Kernpunkt ihrer Kritik sei der Versuch Hegels, die Religion in die Philosophie aufzuheben (S. 15). Sie zweifeln an, daß die Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit bereits geleistet sei (S. 30-32). Die Dialektik zwischen Geschichte und Vernunft hat bei ihnen nicht mehr den versöhnenden Charakter wie bei Hegel. Sie betreiben im Gegenteil eine negative, revolutionäre, „terroristi-

83 84 85 ein. 86

Stuke, 1974. Vgl. Erster Teil C. Klaus/Buhr, Sp. 515 f. Wie Beyer nehmen auch sie eine dezidiert marxistische Position Mader, 1975.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

sehe" Dialektik. 87 Die Rechtshegelianer orientieren sich dagegen an Hegels Position, derzufolge die höchste Leistung der Philosophie darin bestehe, daß der Geist zu sich kommt und sich dadurch als frei und absolut weiß. Sie sind „diesem Selbstverständnis Hegels dadurch gerecht geworden, daß sie nichts anderes wollten, als sein System tradieren und differenzieren." 88 Henning Ottmann liefert eine Analyse des Hegelianismus, die stark geschichtlich geprägt ist und die Tendenz verfolgt, eine durchgängige Linie von den Anfängen der Schulspaltung bis zu den heute (1977) vertretenen konträren Positionen in der politischen Philosophie zu ziehen.89 Er bedauert, daß durch Ritters Interpretation der Auffassung Hegels von der Französischen Revolution 90 die Hegelinterpretation von der dichotomischen Auffassung des linken und rechten Lagers abgekommen sei (S. 225) und möchte den Blick für die Gegensätze wieder schärfen, indem er die ungebrochene Wirksamkeit der Lagerspaltung hervorhebt. Der Linkshegelianismus, wozu Strauß, Stirner, Rüge, Moses Heß, Marx, Cieszkowski, Bruno Bauer und mit Einschränkungen auch Kierkegaard zu rechnen sind (S. 20), stellt ein Sammelbecken radikaler politischer Strömungen dar, von Radikaldemokratismus über Sozialismus bis hin zu Kommunismus und Anarchismus, geprägt von der Ablehnung der Hegeischen These der Identifikation von Vernunft und Wirklichkeit (S. 18). Sofern schon eine vollbrachte Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit durch Jesus Christus behauptet wird, so die Linkshegelianer, fehlt die Bereitschaft zum Bruch mit den Traditionen, zu selbstverantwortlicher Politik, zur eigenmächtigen Vollendung der Geschichte (S. 19). Die Linkshegelianer opponieren gegen die preußische Politik, da sie bei einer Delegierung von Freiheit, Gleichheit und Recht an die Sittlichkeit 91 eben diese Werte in Gefahr sehen. Sie wollen Staat auf Gesellschaft reduzieren, die sie mit ihren Spannungen und Entfremdungen als Beweis für die noch nicht geleistete Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit ansehen. Sie erklären den Bereich der Bedürfnisbefriedigung, den materiellen Bereich also, zum Hauptfeld der Selbstverwirklichung des Menschen. Sie halten den Staat Hegels für illiberal, antidemokratisch, fortschrittsfeindlich, für einen Polizeistaat. Die Behauptung der bereits geleisteten Verwirklichung der Vernunft im Staate sehen sie als Entmündigung des Individuums an. Ihnen schwebt im Gegenteil letztlich ein Absterben des Staates als wahre Verwirklichung der Vernunft vor. Auch wenden sie sich gegen das von Hegel einzig für möglich gehaltene nachträgliche Begreifen der Geschichte durch die Philosophie. Aus diesem Ansatz nämlich entstehe die Komplizenschaft des Hegeischen Systems mit dem jeweils bestehenden politischen System (S. 25-28). Die Linkshegelianer halten das jeweils Neue für 87 Maden 1993, S. 261. 88 Mader t 1975, S. 29. 89 Ottmann. 90 Ritter. 91 Sittlichkeit ist hier in der Begrifflichkeit Hegels in ihrer systematischen Position innerhalb der Darstellung des objektiven Geistes in den Grundlinien der Philosophie des Rechts zu verstehen.

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das Wahre, wodurch sich die Tendenz ergibt, sich gegenseitig an Avantgardismus und Radikalität übertreffen zu wollen (S. 43). Die Rechtshegelianer wie Rößler, Erdmann, A. Lasson, Binder, Larenz und Häring dagegen applaudieren dem Universalismus Hegels. Sie affirmieren genau die von den Linkshegelianern abgelehnte Delegierung der Freiheit an die im Staatsleben verwirklichte Sittlichkeit 92 . Sie betrachten die bürgerliche Gesellschaft nur als einen untergeordneten Bereich innerhalb des objektiven Geistes, der im Staate aufgehoben ist. Sie wollen den Staat gegenüber dem Individuum stärken und lehnen das Modell des Liberalismus und des Kontraktualismus als reduktionistisch ab. Sie schreiben dem Staat Selbstzweck zu (S. 15-27). Die Rechtshegelianer „lobten Hegel als Philosophen der Restauration, als Lehrer des organischen Machtstaates und als Vorläufer des totalitären Staatsgedankens" (S. 27). Sie rückten von den „leeren" Idealen des Völkerrechts, Kosmopolitismus und Friedens ab. Die Rationalität der vorhandenen Wirklichkeit rechtfertigt in ihren Augen stets den status quo. Die Weltgeschichte ist Angelegenheit des Weltgeistes und einiger Auserwählter, nicht des Durchschnittsindividuums. Was sich durchgesetzt hat, und sei es auch durch Gewalt oder Unrecht, beweist eben durch seine faktische Wirklichkeit auch seine Vernünftigkeit (S. 28). Jürgen Habermas 93 sieht ähnlich wie Henning Ottmann eine nicht abgerissene Traditionslinie von der damaligen Schulspaltung zu heute vertretenen politischen Positionen (S. 86). Die Junghegelianer halten seines Erachtens an der Grundstruktur Hegels fest und versuchen, sie für ein radikal geschichtliches Denken fruchtbar zu machen (S. 68). „Die ins Praktische gewendete, zur Revolution entfachte Kritik der Linkshegelianer will das geschichtlich akkumulierte, der Entbindung harrende Potential der Vernunft gegen deren Verstümmelung, gegen die einseitige Rationalisierung der bürgerlichen Welt mobilmachen. Die Rechtshegelianer folgen Hegel in der Überzeugung, daß die Substanz des Staates und der Religion die Unruhe der bürgerlichen Gesellschaft kompensieren wird, sobald nur die Subjektivität des Unruhe stiftenden revolutionären Bewußtseins der objektiven Einsicht in die Vernünftigkeit des Bestehenden weicht (S. 71)."

Olaf Brieses Studie über die philosophische Kultur in Deutschland von 1830 bis 1850 enthält einen Uberblick zur Rezeptionsgeschichte des Hegelianismus. Er kommt darin ebenfalls zu dem Ergebnis, daß bis in jüngster Zeit die Hegeische Schule durchweg unter der Prämisse einer Grenzziehung zwischen Linken und Rechten betrachtet wurde, die scheinbar keines weiteren Beweises mehr bedurfte. 94 Er selbst jedoch distanziert sich von diesem Urteil. 95 Auch ein Blick in die gebräuchlichen Philosophiegeschichten und -lexika zeigt, daß der Zerfall der Hegelschen Schule in zwei konträre Lager, ein fortschrittliches 92 Wie vorige Fußnote. 93 Habermas. 94 Briese, S.9-16. 95 Vgl. unten Erster Teil B. III. 1. a). 4 Moser

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

linkes und ein rückständiges rechtes, einhellig und als unstreitige Tatsache behauptet wird. 96 Dieser historische Durchgang machte deutlich, daß die Schulspaltung praktisch ausnahmslos seit Hegels Tod bis in die heutige Zeit hinein die gängige Auffassung sämtlicher Autoren zum Schicksal der Hegelschule darstellt. Genauer gesagt hat sich diese Annahme nicht nur gehalten, sondern im Laufe der Zeit hat die Entschiedenheit, mit der sie behauptet wird, sogar zugenommen. Es hat sich gezeigt, daß nicht nur in religionsphilosophischer Hinsicht, sondern darüber hinaus auf sämtliche philosophische Fragen bezogen von einer durchgängigen Trennung der Hegelschüler in eine fortschrittliche und eine rückständige Fraktion ausgegangen wird. Beide Fraktionen gelten in ihrer Art als einseitig und radikal. Dabei hat sich zusehends die Annahme festgesetzt, daß die Rechtshegelianer eine derart diskussionsunwürdige und philosophisch uninteressante Position vertreten, daß sich die Auseinandersetzung mit ihnen erübrigt. Die Spaltungsthese gilt heute als so weitgehend gesichert, daß eine Beweisführung nicht mehr für nötig gehalten wird. Gleichwohl sind erhebliche Zweifel anzumelden, ob sich diese Spaltung in der behaupteten Durchgängigkeit nachweisen läßt. Das folgende Kapitel zeigt daher zunächst die Unstimmigkeit dieses traditionellen Urteils über den Hegelianismus auf, woran sich der Versuch einer stimmigeren Ordnung dieser Thematik anschließen wird.

I I I . Unstimmigkeiten der Spaltungstheorie Ziel dieses Kapitels ist es, aufzuzeigen, welche Argumente gegen die Annahme der traditionellen Spaltungstheorie sprechen und wie die Thematik statt dessen stimmiger kategorisiert werden kann. Weiterhin soll auch überprüft werden, inwieweit sich eine eigenständige rechtshegelianische Philosophie der beschriebenen Art überhaupt nachweisen läßt. Zu diesem Zweck werden nachfolgend Belege zusammengetragen und vorgestellt, welche das traditionelle Urteil über den Hegelianismus in Frage stellen, indem die unzulängliche Eindeutigkeit und Anwendbarkeit der gebräuchlichen Begriffe gezeigt wird. Bei den dargelegten Aporien und sonstigen Schwächen handelt es sich teils um solche Unstimmigkeiten, die bereits in der Fachliteratur dokumentiert sind, teils um neue Ergebnisse. Diese Kritik wird zunächst auf die Behauptung der dichotomischen Spaltung, danach speziell auf den Begriff des Links- und des Rechtshegelianismus bezogen durchgeführt. An diese ausführlichere Untersuchung schließt sich eine Neueinteilung des Hegelianismus anhand der gewonnenen Erkenntnisse an.

96 Lobkowicz, S. 193; Hirschbergen S. 487.

S. 436 f.; Coreth, 1989, S. 100; Manninen; Störig,

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1. Unstimmigkeiten der dichotomischen Einteilung Es soll auf zweierlei Weisen versucht werden, die Unzulänglichkeit der Spaltungstheorie aufzuzeigen. Zunächst, indem Argumente gegen die Annahme einer Schulspaltung zusammengetragen werden, und darauf folgend durch eine Sammlung von Argumenten, welche für eine einheitliche hegelianische Strömung sprechen. a) Argumente gegen die Spaltungsthese Es fällt auf, daß eine Vielzahl von Autoren sich durchaus über die Unzulänglichkeit und Modifikationsbedürftigkeit der Spaltungstheorie im klaren ist. Doch findet sich unter ihnen nicht ein einziger, der sich dazu bereit erklärt hätte, diese Theorie tatsächlich in Frage zu stellen, was einen klaren Bruch mit der sehr gefestigten philosophiehistorischen Meinung zu diesem Thema bedeuten würde. Lübbe spricht dies offen aus: „Die Unterscheidung eines „rechten" Flügels der Schule von einem „linken" gibt sich klarer, als sie ist. Andererseits hat sie sich so sehr festgesetzt, daß der Versuch, auf sie zu verzichten, unzweckmäßig und künstlich wäre." 97 Die Haltung ist verständlich, einer gefestigten Tradition zu widersprechen ist für alle Beteiligten unbequem. Doch sachlich richtig ist diese Aussage Lübbes nicht. Es ist wissenschaftlich immer zweckmäßig, eine als unzutreffend erkannte Meinung zu revidieren - künstlich dagegen wäre das Beharren auf einer solchen. Aufgrund dieser inneren Gespaltenheit, einerseits dem Traditionsurteil anzuhängen, andererseits sich dessen Unzulänglichkeiten bewußt zu sein, kommen nachfolgend teilweise genau die selben Autoren zu Wort, die bereits oben zur Dokumentation des Meinungsstandes zum Hegelianismus konsultiert wurden. Wilhelm Raimund Beyer, der sich zwar mit besonderem Nachdruck um eine scharfe Grenzziehung zwischen den beiden hegelianischen Lagern bemüht, konzediert gleichwohl: „Letzten Endes kämpft unter den Nach-Hegelianern jeder gegen jeden. Jeder verurteilt die Klassifizierung des anderen. [ . . . ] Um das dualistische Prinzip zu retten, werden Fehlzeichnungen in Kauf genommen."98 Einem Briefwechsel zwischen den Brüdern Bauer entnimmt Wolfgang Eßbach eine Passage, die er zustimmend zitiert. Bruno Bauer schreibt dort, diejenigen, welche auf die Formel der Rechts - Links - Einteilung setzten, seien verloren, „da ihr Winkelmaß sie rechts und links, aber nie zu etwas Ordentlichem, Freiem und Kühnem führen wird." 9 9 Vittorio Hösle geht in seiner vielbeachteten Hegelstudie mit der Schuleinteilung ebenfalls sehr hart ins Gericht, ohne aber aus dieser Erkenntnis Konsequenzen zu ziehen: 97 Lübbe, 1963, S. 33. 98 Beyer, 1967, S. 67. 99 Eßbach, S. 137, Fußnote 228. 4*

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Erster Teil: Die Hegeische Schule „Es sei noch gesagt, daß das beliebte, aus der religionsphilosophischen Diskussion der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts erwachsene Einteilungskriterium der Hegel-Schule in „Rechte" und „Linke" völlig unbrauchbar ist; „rechts" und „links" sind (auch in der Politik) keine irgendwie aussagekräftigen Kategorien, und die politische Gesinnung der wichtigsten Hegelschüler hat mit ihrer Treue zum System schlicht nichts zu tun gehabt. Michelet betrachtete sich selbst als Linkshegelianer und stand politisch und religionsphilosophisch in der Tat weitaus mehr „links" als etwa Rosenkranz - der andererseits Hegels „Wissenschaft der Logik" einer derart kritischen Umarbeitung unterzog, daß er deswegen von den Berliner Hegelianern um Michelet (u. a. von Lassalle, den man politisch ja nicht den „Rechten" zuzählt) des Abfalls vom Hegelianismus bezichtigt wurde." 100

Das Philosophische Wörterbuch erkennt, daß sich eine strenge Unterscheidung der Hegeischen Schule in Jung-, Links-, Alt- oder Rechtshegelianer immer nur mit Einschränkungen vornehmen läßt. Denn es bestünden fließende Ubergänge zwischen diesen sich auf Hegel berufenden ideologischen Gruppierungen, „so daß sogar der einzelne Philosoph oft alle Stationen des Hegelianismus durchlief." 101 Zur Frage, wie fundamental der Unterschied zwischen den linken und den rechten Hegelianern tatsächlich war, merkt Nicholas Lobkowicz an: „ [ . . . ] the difference between the Hegelian Right and the Left was one of emphasis only. The Left Hegelians believed that this steering of history entailed the destruction of the existing order which did not comply with the development of knowledge. To the Right Hegelians the existing order was essentially sound; it only had to be taken in possession and guided toward further development." 102

Domenico Losurdo fällt ebenfalls die Begriffsverwirrung bei der Einteilung der Hegeischen Schule auf. So stehe beispielsweise Lassalle einerseits Michelet nahe, also einem Rechten oder gar Orthodoxen, wie gelegentlich behauptet wird. Andererseits verweise Lassalle auf die Geschichte der Arbeiterbewegung und sei insoweit als Linker zu klassifizieren. Aufgrund der aufgeworfenen Fragen zur Klassifizierung der Hegelschüler resümiert Losurdo, „daß eine politische Geschichte der Hegeischen Schule erst noch geschrieben werden muß." 1 0 3 Die von Domenico D'Orsi besorgte Textauswahl zu Michelet und Sträter stellt fest, daß rechts und links keine absolut anzuwendenden Etiketten seien, sondern sich beim gleichen Autor abwechseln oder gar zeitgleich Anwendung finden könnten 1 0 4 . Dieser Einsicht entsprechend enthält die Schrift ein Kapitel mit dem Titel Über die Spaltung der Hegelschule hinaus: K. L. Michelet , der Vermittler. 105 loo Hösle, 1987, S. 15 Anmerkung, ιοί Klaus/Buhr, Sp.516. 102 Lobkowicz, S. 194. 103 Losurdo , 1998, S. 267, Anmerkung 8. 104 D'Orsi, S. 30. i° 5 Oltre la scissione della scuola hegeliana: K. L. Michelet, il mediatore.

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Henning Ottmann, ein engagierter Vertreter der These, die Spaltung des Hegelianismus sei eine vollständige und sogar bis heute (1977) fortwirkende, räumt ein, daß die Anknüpfung an das traditionsreiche Begriffspaar Rechts- und Linkshegelianismus Probleme historischer, politischer und philosophischer Art mit sich bringe. 1 0 6 Probleme historischer Art, weil die Schulspaltung zunächst auf eine theologische Frage bezogen war und erst nachträglich auf andere Bereiche übertragen wurde („ein Wirrwarr, der schon die Klassifizierung der ersten Hegelianer zur Kontroverse macht"); Probleme politischer Art, weil die scharfen Konturen der Begriffe rechts und links fehlen; und Probleme philosophischer Art, weil sich, je nachdem wie abstrakt das Einteilungskriterium gewählt wird, keine scharfe Grenze ziehen läßt. Die mangelnde Eindeutigkeit der Begriffe komme auch darin zum Ausdruck, daß es häufig Frontwechsel einzelner Beteiligter gab. D. F. Strauß, der in theologischer Hinsicht als Vorreiter des Linkshegelianismus gilt, wurde 1848 politisch zum Konservativen; v. Henning, zunächst wegen Demagogie verfolgt, mutierte zum Anhänger der ständischen Monarchie; und Bruno Bauers Entwicklung verlief gar „von der theologischen Rechten über die politische und theologische Linke zur Rechten zurück." René Serreau fällt ebenfalls auf, daß eine eindeutige Zuordnung der Beteiligten zu den beiden Lagern des Hegelianismus schwerfällt: „C'est pourquoi nous trouvons une droite et une gauche hégélienne sur le plan politique comme sur le plan religieux, droite et gauche qui ne coincident. Par exemple, Strauss, qui se range nettement à gauche sur le terrain de la religion, défend [ . . . ] des idées conservatrices qui le font classer à droite en politique." 107

Horst Stuke gibt zu bedenken, die Unterscheidung von Rechts- und Linkshegelianismus sei keineswegs klar. Insbesondere die übliche Identifizierung der Althegelianer mit den Rechten und der Junghegelianer mit den Linken sei unhaltbar. So sei der Althegelianer Gans beispielsweise eindeutig auf dem linken Flügel zu verorten. Die verbreitete, auf Löwith 1 0 8 zurückgehende Auffassung, die Jung- und Linkshegelianer seien diejenigen, welche eine Tendenz zur radikalen Neuerung hatten, wohingegen den Alt- oder Rechtshegelianern diese Tendenz abgehe, lehnt er ebenfalls als untauglich ab: denn dieses rein formale Unterscheidungskriterium entleere die Bezeichnungen „rechts" und „links" ihrer Bedeutung, indem beispielsweise der radikale Theist gleichermaßen wie der radikale Anarchist als „links" bezeichnet werden müßte. 109 In seinem Artikel für Ritters Wörterbuch der Philosophie referiert Stuke pflichtschuldig die Spaltung des Hegelianismus in eine rechte und eine linke Seite, um dann anzumerken: „Dennoch trifft es nicht zu, daß sich die Schule [ . . . ] nur zwischen den Polen einer buchstäblichen Konservierung des 106 107 los 109

Ottmann, S. 15-20. Serreau, S. 80. Löwith, 1950, S. 66. Stuke, 1963, S. 32 f.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

Systems (durch die Althegelianer) und eines Umsturzes (durch die Junghegelianer) bewegt habe." 110 Die oben bereits erwähnte Abhandlung der hegelianischen Schulspaltung in der Darstellung Überwegs, von vielen späteren Autoren als Referenz angeführt und häufig passagenweise wörtlich zitiert, verbirgt ebenfalls nicht, welche Bedenken gegen die dichotomische Einteilung der Hegelianer in Linke und Rechte angebracht wären: Die Einteilung „läßt sich aber nicht genau durchführen, also auch nicht festhalten." 111 Diese Einsicht hinderte die Autoren jedoch nicht daran, weiterhin von einem Zerfall der Hegeischen Schule in eine konservative Rechte und eine radikale Linke zu sprechen. 112 Valerio Verra zieht in seiner Hegelabhandlung den Schluß, die Unterscheidung der Hegelianer in rechte und linke, so erfolgreich sie auch die Meinungsverschiedenheiten auf spezifisch religionsphilosophischem Gebiet veranschauliche, sei als rigoroses Einteilungskriterium für die Zugehörigkeit eines Autors zu dieser oder jener Gruppe schlicht unschlüssig.113 Olaf Briese betont die deutlich konturierte religionsphilosophische Problemstellung, auf welche sich die Einteilung in Linke und Rechte zunächst allein bezog. 114 Die anschließende Verwendung dieser Einteilung hält er für eine „Überdehnung und Instrumentalisierung" (S. 11), da sie von einer beiderseitigen Lageridentität ausgeht, die tatsächlich nicht besteht: „Die fälschlicherweise ein in sich konsistentes Fundament von allgemein-weltanschaulichen, konfessionellen, politischen und philosophischen Gemeinsamkeiten unterstellenden Schlagwörter von „Rechts" und „Links", von „Jung" und „Alt" sowie „Fortschritt" und „Reaktion" wurden weiterhin recht umstandslos kolportiert. [ . . . ] Die tatsächlichen philosophischen Konstellationen sollten dadurch gewollt oder ungewollt verwischt werden (S. 12) "

An Elisabeth Weisser-Lohmanns Studie über die Vorlesungen der Hegelschüler zeigen sich nicht minder die enormen Schwierigkeiten, die ein Festhalten an der traditionellen Spaltungsthese mit sich bringt, wenn sie schreibt: „Michelet repräsentiert innerhalb der Hegelschule einen der „linken Rechten", den Übergang zwischen Alt- und Junghegelianern." 115 Die Anführungszeichen, in welche sie „linken Rechten" setzt, machen bereits deutlich, daß sie selbst sich der Bedenklichkeit ihrer Aussage bewußt ist. Das Gemeinte als „Übergang zwischen Alt- und Junghegelianern" zu verdeutlichen, verstärkt die Verwirrung noch, statt zu klären. Denn Alt- und Junghegelianismus ist nun tatsächlich eine eindeutige, an einem no Stuke, 1974, Sp. 1027. m Überweg, 1923, S. 202. 112 Vgl.ErsterTeilB.il. 2. 113 Verra, S. 251. 114 Briese, S. 9 - 1 6 . us Weisser-Lohmann, S. 202.

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empirischen Kriterium meßbare, dichotomische Einteilung. 116 Entweder ein Hegelschüler hat den Meister noch persönlich gehört oder nicht. Eine dritte Möglichkeit ist hier nicht gegeben, also auch kein „Übergang". Michelet war mit Hegel persönlich bekannt, insoweit also eindeutig Althegelianer. Diesen aus der Literatur referierten Schwachstellen einer eindeutigen Lagereinteilung sind hier noch einige zusätzliche anzufügen. So wird regelmäßig behauptet, der Linkshegelianismus zeichne sich aus durch sein Bestreben, die Philosophie zu verwirklichen. „Wirklichkeit, Verwirklichung, Praxis, Existenz, politisch, sozial", das seien die Grundbegriffe des Linkshegelianismus.117 Dieses Anliegen sei die linkshegelianische Antwort auf eine Überbetonung des Allgemeinen, Abstrakten, von der Einzelverwirklichung absehenden Blickes bei Hegel und den Rechtshegelianern. Doch wenn man sich den Ausgangspunkt des Schulstreites vergegenwärtigt, so zeigt sich, daß zumindest dort Linke und Rechte genau die entgegengesetzte Haltung hinsichtlich der Auseinandersetzung Allgemeines versus Konkretes eingenommen haben: Die Rechtshegelianer verteidigten die unmittelbare Bedeutung des einzelnen christlichen Dogmas, plädierten für eine wörtliche Kenntnisnahme der Heiligen Schrift, für ein persönliches Weiterleben eines jeden Menschen nach dem Tode und die Einmaligkeit der Menschwerdung Gottes in einer konkreten Einzelperson. Demgegenüber wurde auf linkshegelianischer Seite gerade das Allgemeingültige der einzelnen Aussagen der Bibel herausgestellt und die Fähigkeit zur Abstraktion von der mythischen Einzelfallbeschreibung der Schrift hin zum Verständnis des Bleibenden, Vernünftigen an ihr gefordert; kurz, ein Bezweifeln der konkreten historischen Gegebenheiten forciert und ein Herausfiltern der allgemeinen Wahrheit dieser Geschichten versucht. 118 Es suchten also in der ursprünglichen Konstellation die Linkshegelianer nach der allgemeinen Vernünftigkeit des Konkreten, während die Rechtshegelianer die konkrete Verwirklichung in den Vordergrund rückten: gerade umgekehrt als traditionell beschrieben. Ein weiteres Argument gegen die Annahme einer dichotomischen Schulspaltung ergibt sich, wenn man den zeitlichen Aspekt untersucht: Wann gab es die Schule, wann fand die Schulteilung statt, wann bildete sich ein Links- und ein Rechtshegelianismus heraus? Es steht, wie die Auswertung der Literatur ergibt, noch nicht einmal fest, daß die Schulspaltung erst nach Hegels Tod stattfand. So wird die Meinung vertreten, bereits zu Hegels Zeiten in Jena habe sich eine Trennung der Schülerschaft Hegels abgezeichnet.119 Nach Ottmanns Auffassung dagegen kann erst zu Zeiten des Dritten Reiches von wirkungsstarken, tatsächlich konservativen und illiberalen Rechtshegelianern gesprochen werden. 120 Da zu einer Spal116 Vgl. Erster Teil Β. I. 3., Fußnote 44. 117 So Löwith, 1962, S. 7. Vgl. die Ausführungen zu Erster Teil Β. II. us Vgl. Erster Teil Β. 1.2. 119 Manninen, S. 523. Ebenso sieht Gebhardt, 1963, S. 97, ein Auseinanderbrechen des Hegelianismus bereits zu Hegels Lebzeiten. 120 Ottmann, S. 23.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

tung jedoch ein Auseinanderfallen in zwei Einheiten gehört, so wäre Ottmann zufolge die Lagerspaltung auf die Zeiten des Dritten Reiches zu datieren, da die eine der beiden Fraktionen erst zu diesem Zeitpunkt merklich in Erscheinung getreten ist. Zwischen diesen beiden angeführten Zeitpunkten der Schulspaltung besteht ein Abstand von mehr als hundert Jahren. Doch werden die Unstimmigkeiten noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, daß auch über den Zeitpunkt, zu dem die Bewegung des Hegelianismus ihr Ende gefunden hat, höchst unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. So findet sich als frühester Zeitpunkt des Zerfalls das Jahr 1840, 121 während andererseits auch vertreten wird, der Hegelianismus in seiner Gespaltenheit dauere bis heute fort. 1 2 2 Es ergibt sich somit der verwirrende Befund, daß der gespaltene Hegelianismus nach einer Ansicht noch gar nicht zu voller Wirksamkeit gefunden hatte, als er nach anderer Ansicht längst vorbei war. Ein weiteres Argument gegen die Annahme der Schulteilung ist, daß nirgends unterschieden wird zwischen der Situationseinschätzung durch die Beteiligten vor 165 Jahren und einer solchen, die heute, aus der zeitlichen und geistigen Distanz heraus, angemessen erscheint. Es ist verständlich, daß die in den Streit involvierten Hegelschüler die schulinternen Meinungsverschiedenheiten als sehr bedeutsam empfunden haben. Zur damaligen Zeit war der philosophische Horizont stark hegelianisch geprägt, das Hegeische Denken war fast schon als damalige Staatsphilosophie zu bezeichnen.123 In dieser Situation, in welcher Philosophie in Deutschland nahezu gleichgesetzt werden kann mit Hegels Philosophie, erscheint die Differenz zwischen einem eher pantheistisch eingestellten Denker gegenüber einem eher theistisch eingestellten naturgemäß recht groß. Zur Zeit beispielsweise, als sich die protestantische Konfession von der ehedem einheitlichen römisch-katholischen Kirche abspaltete, war der Unterschied zwischen den beiden Konfessionen in der Wahrnehmung der Zeitgenossen gewaltig. Heute dagegen wird niemand behaupten, die christliche Kirche zeichne sich vor allem durch eine Zerrissenheit in zwei diametral entgegengesetzte Lager aus. Vielmehr erscheint im heutigen Bewußtsein der Gegensatz zwischen den beiden Konfessionen gering, verglichen mit den einenden Gemeinsamkeiten. Ein vergleichbares Beispiel aus heutiger Zeit wäre vielleicht, daß es einem Mitglied der Partei „Die Grünen" heute als bedeutsamer Unterschied erscheint, ob seine Partei einen eher „fundamentalistischen" oder eher „realpolitischen" Kurs 121 Stuke, 1974, Sp. 1028. 122 Mit Einschränkungen Habermas, S. 86; insbesondere aber Ottmann, dessen Werk von der Vorstellung, daß die Spaltung des hegelianischen Lagers bis heute fortbesteht, durchzogen ist, deutlich beispielsweise auf S. 23 oder S. 225. Eßbach greift Ottmann in diesem Punkt zurecht an (S. 137, Fußnote 228) und hält ihm vor, nicht etwa die Legenden um den Hegelianismus zu beenden, wie sein Selbstanspruch lautet, sondern vielmehr eine neue Legende zu schaffen. 123 Überweg, 1923, S. 200.

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verfolgt. Aus zeitlicher Entfernung dagegen wird vermutlich vorwiegend das Gemeinsame dieser Partei gesehen werden, wohingegen die Streitigkeiten innerhalb derselben dann eher als unbedeutend erscheinen dürften. Gleichermaßen kann von der Hegelschen Schule gesagt werden, daß die damals empfundene interne Gespaltenheit keinen notwendigen Grund dafür darstellt, auch heute noch in diesen Flügelkämpfen ihr Hauptmerkmal zu sehen, unter weitestgehender Mißachtung der Gemeinsamkeiten.

b) Argumente für die Einheit des Hegelianismus Der Einsicht entsprechend, daß sich eine durchgängige Spaltung des Lagers schwerlich nachweisen läßt, sind vereinzelt Stimmen zu hören, welche auf Gemeinsamkeiten der gesamten hegelianischen Schule aufmerksam machen. So bemerkt Horst Stuke, es sei „unerläßlich, verschiedene Vorurteile als solche zu durchschauen und abzulegen, die im Grunde seit den Tagen des Vormärz die Einschätzung der Hegelianer und die Beurteilung des Zerfalls der Hegelschen Schule bestimmen. So ist es nicht angängig, die Althegelianer prinzipiell als Rechtshegelianer und die Junghegelianer ebenso grundsätzlich als Linkshegelianer einzustufen oder ihnen insgesamt epigonale Befangenheit zu bescheinigen. [ . . . ] [Stuke betont, daß M.M.] eigentlich keine Richtung der Hegelianer sich der Einsicht in die Notwendigkeit einer Philosophie der Tat verschlossen hat, Alt- und Junghegelianer Hegels Lobpreis der Theoria kritisiert haben und sowohl für die Erkenntnis der Zukunft wie für die „Einführung der Philosophie ins Leben" eingetreten sind. Das bedeutet nun nicht nur, daß unter den Linkshegelianern auch Althegelianer anzutreffen sind. Es bedeutet vielmehr auch, daß Junghegelianer in mehr oder weniger entschiedener Form rechtshegelianische Positionen vertreten haben, es sowohl eine Philosophie der Tat „von rechts" wie „von links" gegeben hat." 1 2 4 Jürgen Gebhardt untersucht Karl Löwiths Diktum kritisch, demzufolge ein durch Hegel sorgfältig ausbalanciertes Gleichgewicht von Wirklichkeit und Vernunft unter seiner Schülerschaft in zwei Richtungen auseinandergebrochen sei: „Basis für jede der Richtungen ist das absolute Wissen, daß der göttliche Logos Wirklichkeit geworden ist. Deshalb beruht die Spaltung der Schule auch nicht darauf, daß die Sätze von der Vernunft des Wirklichen und der Wirklichkeit des Vernünftigen nach rechts und links vereinzelt wurden. Denn vereinigt waren sie auch bei Hegel nicht in einem metaphysischen Punkt, sondern ausschließlich in dessen Anstrengung, die christliche Eschatologie vorwegzunehmen und den göttlichen Logos in sich hineinzuzwingen.125 Diesen Zustand aufrechtzuerhalten ist die Absicht aller seiner Schüler. [ . . . ] Für alle Hegelianer ist die Identität der Wirklichkeit [ . . . ] mit der Vernunft [ . . . ] unbestritten." 126

124 Stuke, 1963, S. 247. 125 Gebhardt zitiert hier Löwith, 1950, S. 83. 126 Gebhardt, 1963, S. 123 f.

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Zur Frage, ob sich tatsächlich unterscheiden läßt zwischen einer staatstragend gesinnten rechten und einer staatskritisch gesinnten linken Seite unter Hegels Schülern, gibt Herrmann Lübbe zu bedenken, daß die Hegelianer insgesamt ab 1840 in die Oppositionsrolle gedrängt wurden. Alle Hegelianer waren von da an nicht mehr wohlgelitten in Preußen. Das Aufbegehren gegen die Bevormundungen und Unfreiheiten wurde verbindendes Merkmal aller Hegelianer, ohne daß eine Seite der Schülerschaft davon ausgenommen geblieben wäre 127 . Auch Johann Mader liefert einen Beitrag zur Frage nach eventuellen Gemeinsamkeiten aller Hegelianer, indem er den identischen geistigen Ausgangspunkt der Hegelschüler herausstellt. So sei bei den rechten wie bei den linken Hegelianern nach Hegels Tod die Kritik an der Philosophie des absoluten Geistes aufgekeimt. „Denn eine Philosophie, durch die die Geschichte der Philosophie als das Innerste der Weltgeschichte geschlossen und beschlossen wurde, konnte keine in die Zukunft weisenden Ideen beibringen. Sie war in des Wortes doppelter Bedeutung „am Ende" und hatte auch philosophisch überholt zu werden." 128

Von diesem Bewußtsein, daß es irgendwie grundsätzlich anders weitergehen müsse, waren alle Denker nach Hegel geprägt. 129 Die Behauptung, es habe eine rechte Schülerschaft gegeben, die im möglichst unveränderten Tradieren Hegels ihr Heil gesehen habe, ist hiernach nicht zu halten. Es läßt sich zudem festhalten, daß es eine Einseitigkeit darstellt, wenn man in der Hegelnachfolge den stets negierenden Aspekt der Dialektik und der Differenz alleine betrachtet. Denn bei Hegel steht die Dialektik im Wechselspiel mit der einenden Systematik, und die Differenz im Wechselspiel mit der Identität. Wenn die Hegelschülerschaft schon durch die Brille des Hegeischen Denkens betrachtet werden soll, so gilt es, alle Aspekte Hegels mitzubeachten, nicht nur die Dialektik. Somit besteht auch aus hegelinterner Perspektive kein Anlaß dazu, allein den divergierenden Momenten unter seinen Schülern Beachtung zu schenken, sondern es ist möglich und erforderlich, gerade von Hegel ausgehend auch merkliche Gemeinsamkeiten aller seiner Schüler herauszustellen. Erinnert sei abschließend auch nochmals an den oben 130 bereits erwähnten Punkt, daß nämlich der Schulstreit sich um eine ganz klar umgrenzte religionsphilosophische Frage drehte. Abgesehen von dieser Auseinandersetzung verband die Hegelanhänger eine weitgehende Einmütigkeit, auch in politischer Hinsicht. Sie alle sahen bis zur Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. die preußische Monarchie als eine besonders fortschrittliche und gelungene Organisationsform an, als Garanten deutscher Geistesfreiheit und geradezu als Verkörperung der Freiheit. 131 127 Lübbe, 1962, S. 14. 128 Mader, 1993, S. 19. 129 Mader, 1993, S. 27. 130 Vgl. Erster Teil Β. I. 3. 131 Vgl. McLellan S. 32; Cornu S. 140 mit spezieller Bezugnahme auf Rüge.

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Und ebenso seitenunabhängig brach im Laufe der Restauration der politische Unmut über den Rückfall Preußens bei den Hegelianern durch. 132 Die Auffassung, der Linkshegelianismus zeichne sich generell durch Ablehnung der herrschenden politischen Zustände aus, wohingegen Merkmal des Rechtshegelianismus eine ebenso generelle staatstragende Gesinnung gewesen sei, läßt sich nicht beweisen.

2. Unstimmigkeiten beim Linkshegelianismus Herkömmlicherweise lebt der Begriff des Linkshegelianismus aus seinem Kontrast zum Rechtshegelianismus. Eine interne Differenzierung des Linkshegelianismus unterbleibt weitgehend, da die Lagereinteilung in linke und rechte Hegelianer eine einheitliche Lagerbestimmung mit sich bringt und für Binnenunterscheidungen wenig Spielraum läßt. Gleichwohl finden sich in der Literatur vereinzelt Stimmen, die zwischen verschiedenen Schattierungen des Linkshegelianismus unterscheiden. Ansatzpunkt hierfür ist zumeist eine Abgrenzung der philosophisch relevanten Linkshegelianer gegenüber den radikalen Linken, die eher nur in politischer oder journalistischer Hinsicht von Interesse sind, und aufgrund ihrer kämpferischen, unduldsamen Einseitigkeit dem philosophischen Anliegen der Fraktion schaden. Diese Möglichkeit, daß einzelne vermeintliche Vertreter des Linkshegelianismus sich von der wissenschaftlichen Diskussion verabschiedet haben könnten, verdient genauer Prüfung. Denn das Anliegen des Linkshegelianismus besteht darin, Hegels starke Betonung der Theorie und sein geringes Interesse an der Praxis, an der Gestaltung der Wirklichkeit, an der Zukunft und an der Politik zu überwinden. 133 Hier wird jedoch der Grat schmal. Ihrer Selbstdefinition gemäß hat die Philosophie nichts mit Zweckrationalität zu tun, sondern sie ist selbstzwecklich. Demzufolge widerspricht es der Philosophie und es stellt ein Herausfallen aus derselben dar, wenn von ihr die Lösung praktischer Fragen erwartet wird. Die Philosophie läßt sich nicht vorgegebenen Zwecken oder Zielen unterstellen, wie es viele Linkshegelianer wünschten, sondern sie erhebt den Anspruch, oberhalb der Fragen nach Zweckdienlichkeit zu stehen, und über Zwecke, Ziele und Werte selbst zu entscheiden, anstatt ihnen zu dienen. Es wird daher in der Literatur teilweise die Frage aufgeworfen, bis zu welchem Grade von Zweckrationalität der Linkshegelianismus noch als philosophische Theorie anzusehen ist, und ab welchem Grade er gar keinen Beitrag zur philosophischen Debatte mehr darstellt, sondern nur noch technische bzw. pragmatische Anweisungen zum Erreichen eines von vornherein feststehenden und nicht mehr hinterfragbaren Zwecks gibt. Das besprochene Zuspätkommen der Philosophie bei Hegel 134 mag als Einseitigkeit erscheinen. Doch ein generelles Vorweg132

Zur politischen Einstellung einiger Rechtshegelianer vgl. Lübbe, 1962, insb. S. 7 - 1 5 . Vgl. die Ausführungen zu Erster Teil A. 134 Vgl. Erster Teil Α. I. 133

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schreiten der Philosophie gegenüber der Wirklichkeit, wie auf linkshegelianischer Seite erhofft, stünde in klarem Widerspruch zum nach-denklichen Charakter der Philosophie. Etliche Autoren gelangen daher zu der Auffassung, daß die radikal aktionsorientierten Vertreter des Linkshegelianismus gar nicht als Hegelianer gelten und daher auch keinen Anlaß geben können, von einer Spaltung der Hegelianer zu sprechen. Willy Moog gibt zu bedenken, es habe eine immer deutlichere Unterscheidung der Auffassungen unter den Hegelianern stattgefunden, „auch wenn man von extremen Vertretern absieht, die sich aus der eigentlichen Schule herausbewegen mußten, indem sie auf der rechten Seite, wie Göschel, zu eng an den christlich-kirchlichen Standpunkt anschlossen oder auf der linken Seite, wie Feuerbach, die Verbindung mit den Hegeischen Lehren schließlich lösten." 135

Auch die ausführliche Darstellung des Hegelianismus bei Überweg trägt der Erkenntnis Rechnung, daß es auf Seite der Linkshegelianer zwischen Schismatikern und eigentlichen Schulanhängern zu unterscheiden gilt. So firmieren Strauß, Feuerbach, Marx und Stirner, die gemeinhin als besonders wichtige Figuren des Linkshegelianismus gelten, hier unter der Rubrik „aus der Hegeischen Schule hervorgegangener Radikalismus" 136 . Im vorangehenden Kapitel dagegen beschäftigt Überweg sich mit den eigentlichen Hegelianern und bringt eine Aufzählung von fast siebzig Vertretern. Demnach sind die als Hauptexponenten des Linkshegelianismus angesehenen Wortführer tatsächlich gar keine Vertreter des Hegelianismus, sondern davon abgespaltene Radikale. Auguste Cornu bemerkt zu Feuerbach, er sei im Gegensatz zu den Junghegelianern von der idealistischen zur materialistischen Weltanschauung übergegangen, indem er die Auffassung Hegels über das Verhältnis von Denken zu Sein umkehrte. Hierdurch sei er von den Junghegelianern getrennt, die Idealisten geblieben und daher außerstande seien, Hegel prinzipiell zu kritisieren. 137 Auch Marx habe sich in einem entscheidenden Punkt von den Junghegelianern entfernt. Er habe den wichtigen Punkt Hegels, die innige Verbundenheit von Geist und Welt in ihrer organischen Entwicklung, unter Umkehrung des Verhältnisses übernommen, wohingegen die Linkshegelianer auf Fichte zurückgegangen seien, um Geist von konkreter Wirklichkeit zu lösen. Im Gegensatz zu den Junghegelianern sei Marx, wie auch Engels, nicht mehr liberal zu nennen. Ihm sei es bereits mehr auf Veränderung denn auf Kritik angekommen.138 Vittorio Hösle argumentiert ähnlich. Marx und Feuerbach hätten Hegels Idealismus durch einen Materialismus ersetzt, auf dessen Basis eine praktische Wirksamkeit der Philosophie möglich werden sollte. Doch dieser scheinbare Ausweg aus 135 Moog, S. 418. 136 Überweg, 1923, S. 219 ff. 137 Cornu, S. 137. 138 Cornu, S. 159 u. 204.

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Hegels Theoretizismus stelle tatsächlich eine Sackgasse dar. Denn sobald die reflexive Begründungsstruktur als Zentrum der Philosophie aufgegeben werde, verfalle man unweigerlich in einen Dogmatismus, welcher zur Philosophie in Widerspruch stehe. 139 Eine Abkehr von der von Hegel hochgehaltenen Kontemplation als Konstituens der Philosophie führe zwangsläufig aus der Philosophie heraus. Karl Löwith formuliert vergleichbare Einsichten noch etwas entschiedener. Marx' Diktum - die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es kommen jedoch darauf an, sie zu verändern - stelle die Forderung auf, die Philosophie müsse aus sich selbst heraustreten, um praktisch und weltlich zu werden und Hegels Prinzip zu verwirklichen. Doch hierin lauere ein Selbstwiderspruch. Denn die von Marx angestrebte Veränderung sei eine Veränderung aufgrund einer geschichtsphilosophischen Interpretation, einer unter vielen. Er setze sich daher in Widerspruch zur Philosophie, wenn er diese einem von außen herangetragenen Zweck unterstelle. „Durch diese ihm eigene praktisch-geschichtliche Tendenz ist der Marxismus ein radikaler Widersacher der Philosophie [ . . . ] . " 1 4 0 Wer also so weit geht wie Marx und annimmt, das Sein bestimme das Bewußtsein, man müsse daher von dem durch Hegel erklommenen metaphysischen Gipfel unter Verzicht auf das Absolute herabsteigen: der ist nicht länger Gesprächspartner der Philosophie. Und er ist auch kein Hegelianer mehr, denn Hegel ist Philosoph, und Hegelianismus muß eine auf Hegel aufbauende Weiterführung der Philosophie sein, wenn der Begriff nicht irreführen soll.

3. Unstimmigkeiten beim Rechtshegelianismus Die einzige systematische monographische Bearbeitung des Rechtshegelianismus liegt mit Herrmann Lübbes Buch Die Hegeische Rechte vor. Diese Schrift legt insbesondere die politischen Intentionen einiger Hegelanhänger dar, die nach gängiger Meinung nicht dem Linkshegelianismus zuzurechnen sind. 141 Lübbe stellt diese Hegelianer als erstaunlich liberale Geister vor, denen keineswegs Rückständigkeit, Lobpreis von Thron und Altar oder blinde Hegelorthodoxie nachgesagt werden könne, entgegen dem landläufigen Urteil über diese Fraktion der Schule. Lübbe hält die bisherige Rezeption des Rechtshegelianismus für einseitig und stellt heraus, diese Seite sei stets nur als kontrastives Komplement zur Linken wahrgenommen worden. Man habe den Eindruck, weil die Rede von „Linken" ein Pendant fordert, werde stets in wenigen Sätzen auch noch eine „Rechte" erwähnt, die aber einer eigenen Untersuchung für unwürdig befunden werde. Das heutige historische Bewußtsein habe die Tendenz, Lücken zu schließen und dulde keine weißen Flecken auf der Landkarte. Aus diesem Bedürfnis heraus habe sich eine Meinung 139 Höste, 1987, S. 446. 140 Löwith, 1962, S. 36 f. 141 Auf die Schwierigkeiten, die von Lübbe angeführten Autoren zweifelsfrei als Rechtshegelianer zu bezeichnen, wird unten noch eingegangen werden.

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über den Rechtshegelianismus gebildet, die sich „zu einem kaum noch bezweifelten Überlieferungsbestand" (S. 7) verdichtet habe. Gleichwohl sei diese Meinung, der Rechtshegelianismus zeichne sich durch Orthodoxie, Reaktion und Konservatismus aus, schlicht falsch (S. 8). Das Bedürfnis, links und rechts bezüglich der Hegelschule eindeutig zu kontrastieren, sei mitgeprägt und somit verzerrt von den Assoziationen, die sich zu „links" und „rechts" außerhalb dieser fachphilosophischen Fragestellung einstellen. Tatsächlich seien die Rechtshegelianer zu charakterisieren als „die philosophische Seite jener vielgestaltigen politischen, gesellschaftlichen und geistigen Tendenzen, die, ohne daß sie die Revolution als diese gewollt hätten, in der Bewegung des Jahres 1848 ans Ziel zu gelangen hofften." 142 An Lübbes Schrift wird verschiedentlich Kritik geübt. Insbesondere wird ihm vorgehalten, er sei von der politischen Voreingenommenheit, die er den Philosophiehistorikern hinsichtlich der Schulteilung vorhält, seinerseits keineswegs frei, sondern liefere selbst einen Beitrag zum Denken in Lagern mit seiner Studie über den Rechtshegelianismus. So stelle die Auswahl der Autoren, die er zur Erhärtung seiner Thesen heranzieht, einen taktisch motivierten und keineswegs wissenschaftlichen Kunstgriff dar. Diese seien nämlich keinesfalls die typischen Rechtshegelianer, sondern Hegelianer, die teilweise geradezu dem linken Lager zuzurechnen seien. Dieses Außerachtlassen der tatsächlich rückschrittlichen Rechtshegelianer und die ausschließliche Bezugnahme auf solche Hegelianer, die niemals dem Rechtshegelianismus zugerechnet worden seien, mache es Lübbe einfach, die Rechtshegelianer als Liberale auszuweisen.143 So entschied sich folgerichtig auch Claudion Cesa, der die italienische Ausgabe von Lübbes Schrift Die Hegeische Rechte besorgte, auf den Begriff „Rechtshegelianer" überhaupt zu verzichten und das Werk statt dessen Gli Hegeliani liberali zu titulieren. Diese Kritik darf als teilweise berechtigt betrachtet werden. Es trifft zu, daß die von Lübbe herangezogenen Autoren nicht alle zweifelsfrei als Rechtshegelianer gelten. Doch ob oder inwieweit es überhaupt Hegelianer gibt, die zweifelsfrei dem Rechtshegelianismus zugeordnet werden können, diese Frage bedarf der Klärung. Aus heutiger Beurteilung ist Lübbe zuzugeben, daß sich in der Tat ein unzutreffendes Bild über den Rechtshegelianismus in der Philosophiegeschichte eingebürgert hat. Es läßt sich schlichtweg nicht nachweisen, daß ein konservativer oder gar reaktionärer Flügel von Hegelanhängern bestand, der einfach Hegel bewahren wollte oder gar dessen rückschrittliche Züge hinsichtlich Religion und Politik heraushob, unter Vernachlässigung des stets negierenden, weitertreibenden Elementes der Hegeischen Dialektik. Im Aufzeigen der Unstimmigkeit dieser traditionellen Auffassung über den Rechtshegelianismus besteht ein bleibendes Verdienst Lübbes. Doch kann seinem Lösungsvorschlag zur Bewältigung der aufgeworfenen Problematik nicht zugestimmt werden. Lübbe diagnostiziert zwar richtig, daß es einen Rechtshegelianismus, welcher der traditionellen Auffassung entspräche, 142 Lübbe 1963, S. 31-32. 143 So Eßbach, S. 137, Fußnote 228; Ottmann S. 21; Losurdo 1998, S. 267 Anmerkung 8.

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nicht oder nur minimal gibt. Doch hält Lübbe, ungeachtet dieser Einsicht, am Lagerdenken fest. Es gelingt ihm nicht, sich von der dichotomischen Einstellung zu lösen und zu erkennen, daß von Rechtshegelianismus als philosophisch wirksamem Flügel der Hegelschüler nicht gesprochen werden kann. Lübbe bleibt dem traditionellen Denken verhaftet und nimmt eine Umklassifizierung des Rechtshegelianismus vor. Der Begriff wird beibehalten, auch seine Kontrastierung zum Linkshegelianismus, doch er wird mit einem anderen Inhalt gefüllt. Uber Lübbes Motive kann nur spekuliert werden. Am nächsten würde die Erklärung liegen, daß er selbst - obgleich er dies seinen Kollegen ankreidet - von der politischen Konnotation der Begriffe rechts und links zu sehr geprägt ist, als daß es ihm gelänge, dieses Schema zu überwinden und einzuräumen, daß fast alle philosophisch relevanten Hegelianer die fortschrittliche, handlungsorientierte und zukunftsoffene Seite Hegels betonten und insofern, nach damaliger Terminologie, als Linkshegelianer zu bezeichnen sind. Bei Überprüfung der Frage, welche Autoren zweifelsfrei als Rechtshegelianer gelten, ergibt sich ein erstaunliches Bild: Die in der Literatur genannten Vertreter decken sich nicht. Es bliebe schlicht kein Rechtshegelianer übrig, wenn man aus all der oben vorgestellten Literatur 144 eine Schnittmenge der überall als solche erwähnten Rechtshegelianer bilden wollte. Das bedeutet, bei keinem einzigen Hegelianer herrscht völliges Einvernehmen darüber, daß es sich in seinem Fall um einen typischen Rechtshegelianer handelt. Am häufigsten finden noch Georg Andreas Gabler, Karl Friedrich Göschel und Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs Erwähnung, wenn in der Literatur von Rechtshegelianern die Rede ist. Doch läßt sich nachweisen, daß auch diese drei Hegelianer merklich mit typisch linkshegelianischen Anliegen sympathisierten: So waren Gabler und Göschel Gründungsmitglieder der im Januar 1843 ins Leben gerufenen Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, die sich folgenden Zielen verschrieben hatte: nähere Verständigung der Hegelschüler untereinander, allseitige Fortbildung der Philosophie, Einführung der Philosophie ins Leben und Eindringen der philosophischen Prinzipien in die Fachwissenschaften. 145 Gabler (1786- 1853) war direkter Schüler Hegels und Lehrer der Söhne Schillers. Er wurde als Nachfolger Hegels auf dessen Lehrstuhl in Berlin berufen. In seiner 1836 herausgegebenen Schrift De verae philosophiae erga religionem christianam pietate verteidigt er ausdrücklich die pantheistische Interpretation Hegels, nach der Gott erst und nur in den einzelnen menschlichen Personen wirklich wird, gegen die theistische Hegelauslegung.146 Er bezieht damit eine eindeutig linkshegelianische Position, indem er klar die Religion als in der Philosophie aufgehoben ansieht. Somit widerspricht er der als typisch rechtshegelianisch gelten144 ObenErsterTeilB.il. 145 Michelet, 1884, S. 189-190. 146 Vgl. Erster Teil Β. I. 2. b). Zu Gabler generell vgl. Moog, S. 407.

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den Position, derzufolge im Zweifelsfalle die Philosophie der Religion Vortritt zu gewähren hat. Göschel (1784-1861) war wie Michelet Jurist und als preußischer Oberlandesgerichtsrat in Naumburg tätig. Er stand nicht in ständigem persönlichem Kontakt zu Hegel und seinen Schülern. In politischer Hinsicht ist er wohl tatsächlich als konservativ zu betrachten. Er wehrt sich gegen jede Störung der öffentlichen Ordnung und tritt ausdrücklich für eine Bewahrung aller bestehenden Institutionen ein. Allerdings war sein Interessengebiet weniger das politische als vielmehr das religiöse. Ihm ging es um eine Regeneration des christlichen Glaubens durch die Dichtung Goethes und die Philosophie Hegels. 147 Göschel entspricht wohl noch am ehesten den Vorstellungen, die man sich von einem typischen Rechtshegelianer macht. Doch selbst er wendet sich persönlich an Hegel, um sich über die rein kontemplative und theoretische Funktion zu beklagen, die der Meister der Philosophie zuweist: Seines Erachtens müsse die Philosophie davon abgehen, sich als „epikureische, sich um nichts bekümmernde Gottheit [ . . . ] in des Herzens heilig stille Räume" zurückzuziehen, statt dessen den Kontakt zur Welt suchen und die Einwirkung auf andere Wirklichkeitsfelder anstreben. 148 Dies wiederum stellt ein zentrales linkshegelianisches Anliegen dar. Hinrichs (1794-1861) schließlich kann ebenfalls nicht als eindeutiger Rechtshegelianer gelten. Er war schon seit Hegels Heidelberger Zeiten dessen Schüler. Er wurde Professor zunächst in Breslau, dann in Halle. Wie Göschel liegt auch ihm die Harmonie von Wissen und Glaube am Herzen. Doch da er wie Gabler und die Linkshegelianer die Religion als in der Philosophie aufgehoben ansieht, gelingt es ihm, die spekulative Philosophie als höchstes Produkt des Christentums anzusehen.149 Auf politischem Feld kann er keinesfalls als rückschrittlich gelten. Im Gegenteil: Seine politischen Vorlesungen wurden sogar unter Minister Eichhorn wegen Staatsfeindlichkeit verboten. Er forderte darin eine Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Zustände nach den Erkenntnissen der Philosophie. 150 Die Philosophie solle wirken und verändern. Die Philosophen seien aufgefordert, „die Tiefe nicht bloß im Gedanken zu suchen, sondern auch in der Wirklichkeit zu realisieren." Denn das philosophische Bewußtsein bestehe mithin darin, „die Wirklichkeit auch praktisch zu durchdringen." Auch diese Auffassung steht in eindeutigem Widerspruch zu den typisierten rechtshegelianischen Grundhaltungen. Unter diesen Umständen, daß sich nämlich, wie aufgezeigt, kein einziger anerkannter Vertreter nennen läßt, kann es nicht überzeugen, vom Rechtshegelianismus als einer Schule oder einem Schulzweig zu sprechen. 147 Gebhardt, 1964, S. 541. Vgl. auch Moog, S. 414-416. 148 Hegel (Hoffmeister), Bd. III, S. 325, Brief Göscheis an Hegel vom 31. 12. 1830. Hierzu auch Stuke, 1963, S. 67 Anmerkung sowie Hösle, 1987 a, S. 433. 149 Moog, S. 408. 150 Hinrichs, Bd. I, S. VII. Eine überzeugende Analyse der praxisorientierten, den Theoretizismus überwindenden Haltung Hinrichs' findet sich bei Lübbe, 1963, S. 64-67.

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Um die Verwirrung, die hinsichtlich des Begriffs „Rechtshegelianismus" herrscht, weiter zu dokumentieren, ist erneut die Konsultation Ottmanns 151 hilfreich. Er will, wie oben dargelegt, den Blick für die Verschiedenartigkeit der beiden Lager schärfen und die Trennung bis in die heutige Zeit hinein verfolgen. Er sieht die Hauptwirkungszeit des Rechtshegelianismus zu Zeiten des Dritten Reiches, während er zuvor, im 19. Jahrhundert, kaum nennenswert vertreten worden sei (S. 23). Die Beschäftigung mit dem Rechtshegelianismus sei aufgrund dessen politischer Verquickung mit der NS-Zeit tabuisiert, gleichsam „so etwas wie eine Leiche im Keller der deutschen akademischen Philosophie" (S. 124). Der alte Rechtshegelianismus dagegen habe sich auf hohem Niveau bewegt und alle wichtigen Punkte einer liberalen, gemäßigten Hegeldeutung miteinbezogen (ebd.). Insofern räumt Ottmann konsequenterweise ein, daß „in der Geschichte der Hegelforschung eigentlich nur zwischen linkshegelianischen und mittleren Deutungen" unterschieden werden könne (S. 29). Ottmann konzediert damit, daß zu der Zeit, die gemeinhin als die Zeit des Hegelianismus gilt, nämlich ca. 1835-1848, kein rechter Hegelianismus im traditionellen Sinne vertreten wurde. (Von dieser Erkenntnis aus wäre es für Ottmann nur noch ein kleiner Schritt, anzuerkennen, daß es zur fraglichen Zeit keinen Rechtshegelianismus gab. Doch diesen letzten Schritt scheut er sich zu gehen). Es ist nun zu fragen, ob die von Ottmann apostrophierten Rechtshegelianer des Dritten Reiches sinnvollerweise als Hegelianer bezeichnet werden können. Einerseits besteht die Gefahr einer Aquivokation, wenn man die Begriffe „rechts" und „links" im Sinne des Hegelianismus mit den Begriffen „rechts" und „links" im politischen Sinne gleichsetzen wollte. Immerhin fand eine beträchtliche Bedeutungsverschiebung des Begriffs „rechts" statt, denn der religiöse Gehalt trat völlig in den Hintergrund und wurde durch nationale und rassische Konnotationen ersetzt. Ob Ottmann dieser Verschiebung hinreichend Rechnung trägt, mag dahinstehen. Zweitens aber bedürfte es einer kontinuierlichen Traditionslinie, um Hegelianer des Dritten Reiches zu Recht als Rechtshegelianer bezeichnen zu können. Doch genau diese durchgängige Traditionslinie fehlt, Ottmanns eigener Analyse zufolge. Denn seines Erachtens ist ein nennenswerter Rechtshegelianismus erst zu Zeiten des Dritten Reiches aufgekommen. In der vorherigen Zeit dagegen habe es „einen reaktionären rechtshegelianischen Flügel [ . . . ] nie gegeben" (S. 19). „Die Gleichung der Vergötterung von Thron und Altar entspricht (wenigstens in der Geschichte der Hegelforschung) eher linkshegelianischem Wunschdenken als der Wirklichkeit" (S. 29). Wenn also erst hundert Jahre nach Hegels Tod einige Autoren damit beginnen, unter Bezugnahme auf Hegel solche Thesen zu verbreiten, die zweifelsfrei rechtshegelianisch im traditionellen Sinne genannt werden können: so ist nicht einsichtig, mit welchem Recht diese Autoren überhaupt als Hegelianer bezeichnet werden können. Man könnte sie vielleicht als Neohegelianer bezeichnen, aber nicht als Hegelschüler oder deren in kontinuierlicher Tradition stehende 151 Ottmann. 5 Moser

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Nachfahren, wie es der Begriff Hegelianer üblicherweise impliziert. Der bloße Umstand, daß die Position einiger Denker des 20. Jahrhunderts von Hegel inspiriert wurde, kann nicht genügen, um sie als Angehörige der Hegelschule zu bezeichnen. Ebensowenig stimmig wäre es, Nicolai Hartmann oder Heinrich Rickert als Angehörige der kantianischen Schule zu bezeichnen, sondern man wird sie Neukantianer nennen. 152 Sie greifen von einem eigenständigen Ansatzpunkt aus auf philosophiegeschichtliche Positionen zurück, ohne gleichwohl in einer durchgängigen, ununterbrochenen Traditionslinie mit den Begründern dieser Positionen zu stehen. Eben dies gilt auch für die Neohegelianer des Dritten Reiches. Somit führt auch die chronologische Betrachtungsweise zu dem Ergebnis, daß von einem Rechtshegelianismus, welcher der Typisierung der traditionellen Auffassung entspräche, nicht die Rede sein kann. In der Literatur finden sich vereinzelt Stimmen, welche die aufgezeigte Problematik, nämlich die Unstimmigkeit des traditionellen Urteils über den Rechtshegelianismus, bestätigen. Doch führen diese Einsichten bei keinem der Autoren zu einer gründlichen Revision des Urteils. Auguste Cornu und Hermann Lübbe betonen, daß seit Erscheinen des Leben Jesu von Strauß die preußische Regierung zunehmend zur politischen und religiösen Reaktion neigte. Sie „verwarf deshalb nicht nur den Junghegelianismus, sondern auch den Hegelianismus als solchen." 153 Dadurch waren nicht nur die betont progressiven Linken, sondern auch die Rechtshegelianer mit ihrem konstitutionellen Credo zur Opposition geworden. 154 Dies widerspricht deutlich der Annahme, daß sich als eine der beiden Fraktionen eine angepaßte, staatstragend gesinnte Rechte gebildet hätte. Jürgen Habermas bestätigt, es sei kein Privileg der Linkshegelianer gewesen, auf ein Herübertreten der Philosophie aus der Theorie in die Praxis zu pochen, sondern die Rechtshegelianer hätten gleichermaßen die Gegenwart als den geeigneten Ort zur Verwirklichung der Philosophie betrachtet. 155 Bei Johann Mader 156 findet sich ebenfalls die Einsicht, daß das traditionelle Urteil den Rechtshegelianern nicht gerecht wird: „Auch die gegenwärtige Einschätzung der Rechtshegelianer und ihrer politischen Philosophie ist einem wohl zeitbedingten Mißverständnis erlegen. Diese Philosophen waren durchaus nicht konservativ, sondern weitgehend liberal" (S. 259). „Tatsächlich bemühten sich auch die sogenannten „Rechten", die orthodoxen Hegelianer, um soziale und politische Reformen" (S. 26). Bemerkenswert ist an dem letztgenannten Zitat auch,

152 Coreth, 1990, Ε II. 153 Cornu, S. 136. 154 Lübbe, 1963, S. 69. 155 Habermas, S. 87. 156 Mader, 1993.

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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daß Mader von den sogenannten Rechten spricht, wodurch er andeutet, diesen Begriff für bedenklich zu halten. Horst Stuke schlägt in die selbe Kerbe, wenn er betont: „Zwar hält sich in der Literatur hartnäckig die Ansicht, alle übrigen [nicht radikal Linken M.M.] Hegelianer, zumal die von der „Rechten", seien generell als Hegelianer der „stikten Observanz" in epigonaler Befangenheit verharrt oder hätten auf dem Weg einer Historisierung Hegels Philosophie buchstäblich konserviert. Aber das läßt sich zumindest in der beanspruchten Allgemeingültigkeit nicht aufrecht erhalten - ganz abgesehen davon, daß die Grenzen zwischen den beiden „Flügeln" vielfach fließend sind." 157

Interessant ist schließlich noch der Begriffsgebrauch Winfried Sembdners in seiner Studie Heine und die Hegelschule. In der Einleitung stellt er klar, er fasse den Begriff „Schule" sehr weit, und zwar derart, daß er sich im wesentlichen mit Lübbes Definition der Rechtshegelianer decke. 158 Diese Definition korrespondiert nicht mehr mit der herkömmlichen Terminologie. Sie bestätigt jedoch, daß es neuerdings Tendenzen gibt, die liberalen, gemäßigten Hegelianer für diejenigen zu halten, auf welche die Bezeichnung „Hegelianer" am ehesten zutrifft. Lübbe nennt diese Gruppe Rechtshegelianer, das vorliegende Kapitel dagegen zeigt auf, daß dieser Hauptstrom des Hegelianismus eher als linkshegelianisch zu bezeichnen ist - soweit es überhaupt noch sinnvoll ist, an diesem Ordnungsschema festzuhalten. Denn da es keinen nennenswerten Rechtshegelianismus und somit keinen Gegenpol gibt, erübrigt es sich, von Lmfcshegelianern zu sprechen.

IV. Neueinteilung des Hegelianismus Die im vorigen Kapitel referierten Kritikpunkte an der Begrifflichkeit der traditionellen Spaltungstheorie sollen hier zusammengefaßt und zu einem neuen Einteilungsschema des Hegelianismus weiterentwickelt werden. Um beurteilen zu können, was unter Links- und Rechtshegelianismus verstanden werden kann, und inwieweit diese Strömungen nachweisbar sind, ist es zweckmäßig, vorab zu klären, was „Hegelianismus", als gemeinsamer Oberbegriff, bedeutet. Eine recht grundsätzliche Frage muß hier beantwortet werden: Wie weit zieht man den Kreis der Hegelianer, also wer ist (noch) Hegelianer? Es ist zu entscheiden, ob Hegelianer nur diejenigen sind, die an Hegel anknüpfen, ihn weiterentwickeln wollen, seine Konzeption für zukunftsträchtig und vielversprechend halten und auf ihn aufbauen wollen - oder ob Hegelianer auch diejenigen genannt werden sollen, die zwar von Hegels Gedanken geprägt sind, sich jedoch von ihm abwenden, ihn ausdrücklich verwerfen, und allenfalls noch in negativ dialektischer Abhängigkeit hegelianisch philosophieren oder agitieren. Von der Beantwortung 157 Stuke, 1963, S. 63. 158 Sembdner, S. 7. 5*

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

dieser Frage hängt es entscheidend ab, ob man von einer Schulspaltung sprechen kann oder nicht, bzw. welche Lager sich von welchen abgespalten haben. Wenn man das Unterscheidungskriterium, ob ein Autor sich selbst als Hegelanhänger oder aber als Hegelgegner versteht, mitheranzieht, so wird es möglich, auf rechter wie auf linker Seite zu differenzieren zwischen Anhängern und Schismatikern. Es ergeben sich danach theoretisch vier Gruppen von Hegelianern: • Radikale linke Schismatiker • Radikale rechte Schismatiker • Gemäßigte linke Anhänger bzw. Hegeltreue • Gemäßigte rechte Anhänger bzw. Hegeltreue In der Literatur wird kaum darauf eingegangen, ob sich die Spaltung auch im Lager der gemäßigten Hegelanhänger vollzogen haben soll, oder ob die Spaltung in der Herausbewegung der Schismatiker aus dem hegeltreuen Kreis besteht. Der Unterschied zwischen den vier genannten Gruppen läßt sich noch auf andere Weise charakterisieren: Die linken Schismatiker verwerfen Hegel als reaktionär. Die linken Hegeltreuen affirmieren Hegel als fortschrittlich. Die rechten Hegeltreuen affirmieren Hegel als konservativ, und die rechten Schismatiker verwerfen Hegel als revolutionär. Hieraus erhellt auch, daß eine ganz deutliche Verschiedenheit besteht zwischen den Schismatikern und den Hegeltreuen auf einer jeweiligen Seite. Die Verschiedenheit besteht darin, daß das Hegelverständnis der Schismatiker jeweils genau konträr ist zu dem Hegel Verständnis der gemäßigten Anhänger auf gleicher Seite: Die linken Schismatiker lehnen Hegel ab, während die gemäßigten Linken Hegel anerkennen. Und die rechten Schismatiker lehnen Hegel ab, während die gemäßigten Rechten ihn anerkennen. Aus diesem Grund ist es nicht naheliegend, die gemäßigten und die radikalen Vertreter einer jeweiligen Seite zu einem Lager zusammenzufassen. Denn gerade zwischen gemäßigten und radikalen Vertretern einer jeden Seite verläuft tatsächlich eine Spaltung, nämlich hinsichtlich der Frage, wie die eigene Position im Verhältnis zu derjenigen Hegels verstanden wird: als Fortentwicklung bei den Gemäßigten oder als Bruch bei den Radikalen. Um sinnvollerweise von einer Spaltung des hegelianischen Lagers sprechen zu können, wäre es nötig, auch einen Bruch des gemäßigten, des hegeltreuen Lagers nachzuweisen. Die Tatsache, daß sich an den Rändern Abspaltungen beobachten lassen, ist nämlich kein Spezifikum der Hegeischen Schule. Zumal ja die Spaltungstheorie regelmäßig von einer vollständigen, dichotomischen Trennung spricht. Soweit also mit der Spaltung lediglich die Abwendung einiger ehemaliger Hegelanhänger von der Schule gemeint sein sollte, so wäre der Begriff unangemessen, weil er dem Fortbestand eines relativ einheitlichen gemäßigten Lagers nicht Rechnung tragen kann. Eine Bestätigung der Spaltungstheorie könnte daher nur derart erfolgen, daß ein Auseinanderfallen der gemäßigten, sich selbst als hegeltreu verstehenden Hegelianer in zwei konträre Lager nachgewiesen würde. Doch dieser Nachweis wird nicht erbracht. Vielmehr wird zumeist nur ein Bruch zwischen den

Β. Die Theorie der Schulspaltung

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Vertretern des radikalen Linkshegelianismus und den restlichen Hegelianern nachgewiesen, also der Abfall von solchen, die sich von Hegel bewußt abwenden, gegenüber denen, die ihrem Selbstverständnis nach in der Folge Hegels stehen. Offen bleibt in der Literatur auch, ob die vermeintliche Spaltung des hegelianischen Lagers tatsächlich im Auseinanderdriften von philosophischen Inhalten besteht, oder sich nur an einem formalen Kriterium festmacht, nämlich dem Selbstverständnis in Relation zu Hegel: ob die vertretene Position in Einklang oder in Widerspruch zu derjenigen Hegels steht. Wenn der radikale Linkshegelianer sich als Gegenposition zum reaktionären Hegel versteht, der gemäßigte Linke als Fortsetzer eines fortschrittlichen Hegel, der gemäßigte Rechte als Fortsetzer eines konservativen Hegel und der radikale Rechte als Gegenposition zum revolutionären Hegel: so ist noch keine Aussage darüber gemacht, ob sich die vertretenen Inhalte tatsächlich unterscheiden. Es ist durchaus möglich, daß zwei Philosophen ein und denselben Inhalt vertreten, jedoch konträrer Meinung darüber sind, ob dieser Inhalt mit der Philosophie Hegels kompatibel ist oder nicht. Die Unklarheit besteht also darin, daß nicht feststeht, ob die in der Literatur einhellig angenommene Einteilung der Hegelianer in linke und rechte tatsächlich eine Unterscheidung philosophischer Gehalte meint, oder lediglich eine Unterscheidung nach der Frage, ob ein Autor sich selbst als Nachfolger oder Gegner Hegels begreift. Im letztgenannten Falle wäre die Aussagekraft der Unterscheidung rechter und linker Hegelianer darauf beschränkt, wie Hegel interpretiert wird. Es wäre dann eine Einteilung bezüglich der Frage, wie der jeweilige Autor die Position Hegels einschätzt, völlig ungeachtet der Frage, welche eigene Position er vertritt. Der oben 159 skizzierte historische Ausgangspunkt des Schulstreites läßt es naheliegend erscheinen, daß die Hegelianer sich tatsächlich gar nicht so sehr um philosophische Inhalte stritten, sondern eher über das rechte Verständnis Hegels. Der ursprüngliche Streit hatte nicht die Struktur, daß einfach zwei entgegengesetzte Meinungen im Raum gestanden hätten, sondern man war uneins darüber, ob sich gemäß Hegel die Evangelien anhand der Idee der Einheit göttlicher und menschlicher Vernunft ganz, teilweise oder gar nicht bewahrheiten lassen. Ausgangspunkt war also ein Streit der Hegelinterpretation, wobei die eigene Haltung zur Streitfrage gar nicht die entscheidende Rolle spielte. Zurückkommend auf die oben vorgeschlagene Einteilung der Hegelschüler in vier Kategorien, nämlich linke Schismatiker, linke Anhänger, rechte Anhänger und rechte Schismatiker, soll hier eine Gewichtung dieser vier Fraktionen vorgenommen werden. Unter den sich lose oder direkt auf Hegel beziehenden Philosophen in der Zeit zwischen Hegels Tod und der Revolution von 1848 herrscht bei weitem keine ausgeglichene Verteilung auf die vier Fraktionen. Vielmehr dominiert eine Fraktion, das Lager der gemäßigt Linken, auf erdrückende Weise. Die Gruppe der linken Schismatiker wie Feuerbach und Marx ist zahlenmäßig sehr überschaubar. Sie haben sicherlich erhebliche Bedeutung in der Geistesge159 Vgl. Erster Teil B.I.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

schichte. Doch kommt ihnen diese Bedeutung nicht als Hegelianer zu, sondern als Initiatoren einer neuen Schule bzw. Denkrichtung, die nicht notwendig als philosophische zu bezeichnen ist. Auf der rechten Außenseite finden sich noch weniger Vertreter. Es gab einige in religionsphilosophischer Hinsicht extremistische Köpfe, so Hengstenberg oder Leo, die wohl teilweise bei Hegel ihren Ausgang nahmen, jedoch sich selbst als Hegelgegner verstanden und daher nicht als Hegelianer firmieren können, wie schon Willy Moog 1 6 0 bemerkte. Es ist das Lager des theistischen Fundamentalismus. Ihm kann weitgehende Bedeutungslosigkeit ebenso wie mangelnde Originalität bescheinigt werden. Eine Fraktion von gemäßigt rechtsgerichteten Anhängern schließlich läßt sich, wie oben dargetan, in keinem einzigen Vertreter zweifelsfrei nachweisen.161 Es gibt - ausgenommen vielleicht Göschel - keine Hegelschüler, die sich als seine Fortsetzer verstehen, jedoch die bestehende Wirklichkeit gutheißen und bewahren wollten und gegenüber einer Fortentwicklung im Sinne des Vormärz Vorbehalte gehabt hätten. Ein Rechtshegelianismus, der sich im Gegensatz zu den rechten Schismatikern zu Hegel bekennt und zugleich dessen konservative Züge herausstellt, existiert folglich nicht. Die ganz deutliche, absolute Mehrheit unter den Hegelschülern ist dagegen dem Lager der linken Anhänger zuzurechnen. Sie stellen allein weit mehr als die Hälfte aller Hegelianer. Es handelt sich hierbei um die nach Überweg und Rosenkranz knapp siebzigköpfige Gruppe der gemäßigten, fortschrittlich gesinnten Hegelianer. 162 Man macht keinen Fehler, wenn man diesen hauptsächlichen Zug des Hegelianismus als den eigentlichen Hegelianismus bezeichnet, unter Auslassung einer Vorsilbe wie „rechts" oder „links". Die Anhänger des so verstandenen Hegelianismus sind zugleich weitgehend Mitglieder der moderat linkshegelianisch geprägten Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, die fast bis zum Ende des Jahrhunderts weiterwirkte. Ihr unumstrittenes Programm ist die Philosophie der Tat, wie sie das folgende Kapitel umreißt. Sie stellt damit die Position des Hegelianismus jenseits von Schulspaltung und Radikalismus dar.

C. Die Philosophie der Tat Zum Abschluß des ersten Teiles stelle ich eine Interpretation des Hegelianismus vor, welche die aufgezeigten Unstimmigkeiten zu vermeiden sucht: die Philosophie der Tat. Geprägt wurde der Begriff von Graf von Cieszkowski, Schüler und 160 Moog, S. 414-418. 161 Vgl. Erster Teil B. III. 3. 162 Überweg, 1923, S. 202-219, der sich weitgehend auf die Zusammenstellung von Rosenkranz, 1861 stützt.

C. Die Philosophie der Tat

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Freund Michelets und Mitbegründer der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, bereits 1838 in seiner Prolegomena zur Historiosophie, ]6 3 gewissermaßen der Programmschrift der Philosophie der Tat. Doch erst im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Philosophie der Tat als eigenständige philosophische Strömung zur Kenntnis genommen. Es ist das große Verdienst Horst Stukes, diese Philosophie rezipiert und als bedeutsamen Zug des Hegelianismus aufgezeigt zu haben. 164 Stuke bleibt jedoch an dem Punkte stehen, die Philosophie der Tat ergänzend zur gewohnten Schulteilung als zusätzlichen Aspekt zu präsentieren. Die vorliegende Studie geht darüber hinaus und versteht die Philosophie der Tat, aufgrund der Erkenntnisse des vorigen Kapitels, als die Hauptströmung des Hegelianismus.165 Die Einteilung in linken und rechten Hegelianismus tritt demgegenüber in den Hintergrund. Die drei wichtigsten Aspekte, in denen die Philosophie der Tat die Konzeption Hegels modifiziert, sind erstens die Positionierung der Gegenwart im gesamten Geschichtsprozeß, zweitens das Verhältnis von Weltgeist zum endlichen Geist der Einzelperson und drittens das Verhältnis von kontemplativer Theorie zu wirklichkeitsgestaltender Aktion. Die Gliederung richtet sich nach dieser Aufzählung.

I. Positionierung der Gegenwart Hegel ist der Auffassung, seine Philosophie sei eine Philosophie der Gegenwart, eine Theorie der aktuellen Wirklichkeit. Da sein philosophisches System abgeschlossen und am Ziel - dem vollen Bewußtsein der Freiheit bzw. der Identität von Sein und Wissen - angelangt sei: so sei zugleich auch die Geschichte abgeschlossen, und die Gegenwart müsse die Höchstform der geschichtlichen Entwicklung darstellen. Die aktuelle Wirklichkeit entspricht demnach der Vernunft in vollem Maße. Sie hinkt nicht mehr der Theorie hinterher, sondern hat das Niveau der Theorie erreicht. Alles als vernünftig Erkannte ist bereits in der Wirklichkeit in Erscheinung getreten. Konsequenz dieser Haltung ist eine große Zurückhaltung hinsichtlich jeder außertheoretischen Aktivität. Denn es gibt nichts mehr zu tun, die Vernunft waltet bereits, die Welt hat einen perfekten Zustand erreicht. Die Vernunft ist gegenwärtig, für die Zukunft gibt es keine Fortentwicklung zu erwarten, da der Entwicklungsgang der Welt beendet ist und sein Ziel erreicht hat. Mit der Gegenwart ist die geschichtliche Entwicklung insoweit abgeschlossen. Aus diesen Gründen erwähnt Hegel an keiner Stelle, welches die Merkmale der Zukunft sein könnten. 163 Cieszkowski, 1838; diese Schrift stellt zugleich das Hauptwerk des 1814 geborenen und 1894 gestorbenen polnischen Grafen dar. Eine Biographie Cieszkowskis, verbunden mit einer Textauswahl, liegt vor durch: Kühne, 1938. Vgl. Stuke, 1963. Meines Erachtens stellt diese Monographie den bedeutsamsten Beitrag überhaupt dar, der bislang zum Thema Hegelianismus veröffentlicht wurde. 165 Vgl. Erster Teil B. III.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

Für die Hegelschüler ist diese Auffassung unbefriedigend. Denn eine unwidersprochene Hinnahme des Hegelschen Konzeptes würde bedeuten, daß es für sie als Philosophen keine Verwendung mehr gäbe, da alle philosophischen Aufgaben bereits gelöst wären. Doch gerade in den Tagen der Restauration empfinden die Hegelschüler zu Recht eine größer werdende Spannung zwischen der Theorie Hegels und der objektiven Wirklichkeit in Deutschland. Sie gelangen zu der Auffassung, daß Hegels Philosophie gegenwärtig noch nicht verwirklicht ist, sondern diese praktische Umsetzung erst bevorsteht. Sie sehen also die Gegenwart noch nicht als vollständige Ausprägung der Vernunft an, sondern betrachten diese höchste Vermittlung aller Gegensätze als Vorhaben für die Zukunft. Damit behaupten sie eine Differenz zwischen Hegels Theorie der Versöhnung aller Gegensätze und der gegenwärtigen Wirklichkeit, die den hohen Ansprüchen der Theorie bislang nicht gerecht wird. Im Gegensatz zu Hegel gibt es für die Philosophen der Tat die moderne Welt noch gar nicht, der eigentliche Umbruch, den Hegel bereits in der französischen Revolution erkannt zu haben meinte, steht für sie erst noch bevor. Die Hegeische Philosophie faßt demzufolge nicht etwa ihre Zeit in Gedanken, sondern sie stellt Prinzipien der wahren Wirklichkeit der Freiheit auf, woraus die Aufforderung zur Verwirklichung dieser als vernünftig erkannten Prinzipien abgeleitet wird. 1 6 6 Erst in der Zukunft wird der dialektische Umschlag des absoluten Denkens ins absolute Sein stattfinden. Die Philosophie kommt nach dieser Auffassung nicht mehr zu spät, wie bei Hegel, sondern sie wird Gestaltungsmacht der Zukunft. 167 Die Gegenwart erhält damit eine neue Positionierung; sie ist noch nicht die Verwirklichung der höchsten Freiheit. Die Gegenwart ist also nicht auf der Höhe des Gedankens, und der Gedanke ist, umgekehrt gewendet, Ausdruck einer zukünftigen, erst noch herzustellenden Ordnung. Die endgültige Versöhnung aller Gegensätze steht erst noch bevor, die Geschichte ist demnach noch nicht zu Ende, sondern es gibt eine Weiterentwicklung in der Zukunft. Die Zeit der Perfektion ist nicht die Gegenwart, weshalb im Gegensatz zu Hegel ein ausgesprochenes Interesse an der Zukunft besteht.168 Cieszkowski schreibt hierzu: „Er [Hegel M.M.] hat nämlich in seinem Werke mit keiner Sylbe die Zukunft erwähnt; und sogar war es seine Meinung, dass die Philosophie in der Ergründung der Geschichte nur eine rückwirkende Kraft besitzen könne, die Zukunft aber gänzlich aus dem Bereiche der Speculation auszuschliessen sey. Wir unsererseits müssen jedoch von vornherein behaupten, daß ohne die Erkennbarkeit der Zukunft, ohne die Zukunft als einen integrirenden Teil der Geschichte, welche die Realisation der Bestimmung der Menschheit darstellt, unmöglich zum Erkennen der organischen und ideellen Totalität, so wie des apodiktischen Processes der Weltgeschichte zu gelangen ist. Darum ist die Feststellung der Erkennbarkeit der Zukunft eine unentbehrliche Vorfrage für den Organismus der Geschichte. [ . . . ] Die Totalität der Geschichte muß aber bestehen aus der Vergangenheit und aus der Zukunft, 166 Vgl. Stuke, S. 55 f. 167 Vgl. Mader, 1993, S. 90. 168 Vgl. Gebhardt, 1963, S. 130.

C. Die Philosophie der Tat

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aus dem bereits durchgemachten und dem noch durchzumachenden Wege, und daraus entsteht als erste Forderung: die Erkenntniss des Wesens der Zukunft für die Speculation zu vindicieren. [ . . . ] Warum konstruieren wir nicht aus dem schon verlaufenen Teile des ganzen historischen Prozesses eine ideale Ganzheit überhaupt und insbesondere den noch fehlenden künftigen Teil, welcher dem vergangenen entsprechen muß und erst integral mit diesem die wahre Idee der Menschheit aufstellen wird?" 1 6 9

Eine ebenso große Aufbruchstimmung vermittelt Michelet, jedoch mit einer Diktion, die noch stark an den religionsphilosophischen Ausgangspunkt der Meinungsverschiedenheiten in der Hegelschule erinnert: „Ungeachtet wir uns mitten in dem brausenden Strudel dieser Kämpfe der Gegenwart befinden, so können wir doch mit Zuversicht der Zukunft entgegensehen, da das Ziel derselben dem Auge nicht mehr verborgen ist: die Realisierung der vernünftigen Freiheit und die Ausbildung aller substantiellen Verhältnisse des Geistes, wie sie der Idee entsprechen. Das Ziel der Weltgeschichte ist also die Ausbildung des Menschengeschechts zum Bilde Gottes in der Wirklichkeit, auf daß die Einheit der menschlichen und göttlichen Natur in ewiger Gegenwart erscheine." 170

II. Verhältnis von Weltgeist zu endlichem Geist Für Hegel ist die Weltgeschichte Ausdruck der allmählichen Fortentwicklung des Geistes. Ziel dieses Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit ist die Identität von Sein und Wissen, eine Stufe, auf welcher der endliche Geist sich identisch weiß mit dem Weltgeist. Es wäre daher naheliegend, mit dem Fortgang der Geschichte eine immer explizitere Rationalität in der geschichtlichen Wirklichkeit anzunehmen. Doch Hegel ist in dieser Hinsicht nicht konsequent, sondern wählt hier einen anderen Weg. Im Kapitel über die Weltgeschichte in seiner Rechtsphilosophie 171 spricht er von der List der Vernunft, die sich der menschlichen Individuen ohne deren Bewußtsein bediene, um die höheren Zwecke des Weltgeistes ins Werk zu setzen. Die weltgeschichtlich bedeutsamen Individuen, die Heroen, sind sich nach dieser Konzeption über die ganze Geschichte hinweg in gleichem Maße nicht der Bedeutung ihrer Taten bewußt. Napoleon wußte also ebensowenig wie Cäsar, welche Stellung sein Handeln in der Weltgeschichte hat. Da aber Napoleon später als Cäsar auftrat, so müßte auch sein historisches Verständnis der eigenen

169

Cieszkowski, S. 8-13. Zur Veranschaulichung des Organismus - Modells verweist er auf die Biologie, wo es unbestritten möglich sei, aus einem einzigen Zahn eines ausgestorbenen Tieres auf dessen vollständige Beschaffenheit zu schließen. Ebenso sei die Geschichte als Organismus zu betrachten, aus deren vorliegenden Teilstücken der fehlende Rest konstruiert werden könne, da alle Teile in einem vernünftigen und logischen Verhältnis zueiander stehen müßten. no Michelet, 1837/38, S. 799-800. 171 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 341-360. Vgl. Erster Teil Α. I.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

Rolle ein selbstbewußteres sein, da doch nach Hegels Theorie in der Zwischenzeit Fortschritte im Bewußtsein der Freiheit erzielt wurden. „Die logischen Gesetze, welche er uns zuerst offenbarte, spiegeln sich in seiner Philosophie der Geschichte nicht in genügender Klarheit ab, mit einem Worte, Hegel hat es nicht bis zum Begriff der organischen und ideellen Ganzheit der Geschichte, bis zu ihrer speculativen Gliederung und vollendeten Architektonik gebracht." 172

Die Philosophen der Tat haben dieses systemfremde, merkwürdig ahistorische Element in Hegels Konzeption erkannt und eliminiert. 173 Sie vermeiden die Inkonsequenz Hegels, einerseits die Geschichte als Fortschritt im Selbstbewußtsein der Freiheit zu betrachten, andererseits aber die später auftretenden Individuen doch nicht als weiterentwickelte und damit selbstbewußtere anzuerkennen. Die Philosophie der Tat betont die systematische Aussage Hegels, nämlich die historische Identifizierung des endlichen Geistes mit dem Weltgeist, lehnt jedoch seine damit inkompatible Konstruktion einer kontinuierlichen Bewußtlosigkeit ab. Sie geht davon aus, daß der Mensch mit dem Auftreten der Philosophie Hegels den Zustand der partiellen Bewußtlosigkeit vollständig überwunden und zum Bewußtsein des Weltgeistes aufgeschlossen hat: „Die neueste deutsche Philosophie ist davon ausgegangen, den Begriff des Absoluten in die Gedankenwelt einzuführen; sie hat als dann die Menschheit als den Träger des Absoluten erkannt; und ist jetzt dabei angelangt, das einzelne Individuum zum Besitzer des Absoluten, mit dem es nach Belieben schalten und walten kann, zu machen." 174

Die Geschichte ist damit nicht länger das Geschehen göttlichen Willens, sondern sie wird zur Angelegenheit bewußter menschlicher Tätigkeit. Der endliche Geist des Menschen hat nun die Bewußtseinsstufe erreicht, nicht mehr nur Objekt des Weltgeistes zu sein, sondern sich mit ihm identisch zu wissen. Denn seit der durch Hegel geleisteten Vollendung der Philosophie sehen die Menschen selbst die Zwecke der Vernunft ein und wissen ihr Bewußtsein als Realisierung des Selbstbewußtseins des absoluten Geistes.175 Das Selbstbewußtsein des Menschen als sich selbst wissendes Wesen wächst damit ins Unermeßliche. An die Stelle des Strebens nach Gott tritt nun das Streben, sein eigenes Selbst zu werden, die Selbstverwirklichung. 176 „ [ . . . ] so soll die Menschheit jetzt, nachdem sie ihr wahres Selbstbewusstsein erreicht, gleichsam kunst- und ideengemäss ihre wahrhaft eigenen Thaten nunmehr vollbringen, womit keineswegs gesagt werden soll, dass die Vorsehung aus der Geschichte heraustreten und dieselbe ihrem eigenen Loose überlassen solle, sondern nur, dass die Menschheit selbst eben zu dieser Reife gelange, wobei ihre eigenen Bestimmungen ganz identisch mit

172

173 174 175 176

Cieszkowski, S. 3. Vgl. Hösle, 1987 a, S. 452. Szeliga, S. 4. Vgl. Köster, S. 101. Vgl. Beyer 1967, S. 57.

C. Die Philosophie der Tat

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dem göttlichen Plane der Vorsehung werden, und dass in so fern die weltgeschichtlichen Individuen, diese Helden, welche die Nationen vorstellen, und dieselben so repräsentiren, dass ihre eigenen Biographien füglich für allgemeine Geschichte gelten können, nicht mehr blinde Werkzeuge, sei es nun des Zufalls oder der Nothwendigkeit, sondern bewusste Werkmeister ihrer eigenen Freiheit sein sollen. Nur dann erst kann Gottes Wille so auf Erden, wie im Himmel geschehen, d. h., mit Liebe, Bewusstsein, Freiheit, während er sich bis hieher durch Gottes Allmacht, ohne selbstbewusste und selbstbestimmende Mitwirkung der Menschheit verwirklichte." 177 Nicholas Lobkowicz faßt die diesbezügliche Position bei Cieszkowski und Michelet auf eine Weise zusammen, die dem damaligen Pathos durchaus gerecht wird: „Absolute Knowledge has been reached; as far as Knowledge is concerned, man is the master of the universe. Accordingly he must proceed to transform the world. Up to now the World Spirit had developed and dragged man along. Since the World Spirit was conscious of itself in man's mind, man would now hold in his hands the fate of the world. He would no longer be pushed around by the World Spirit; he could climb to a higher stage consciously and at will. He would be able to steer the future course of history." 178 Michelet sieht in dieser Erkenntnis der Identität von endlichem Geist und Weltgeist die Voraussetzung zur Etablierung einer Vernunftreligion, die er als das neue, wahre Christentum bezeichnet. Die o b e n 1 7 9 bereits angeführte Stelle Michelets macht seine Vorstellung von einer rechtverstandenen Religion deutlich: „Das Ziel der Weltgeschichte ist also die Ausbildung des Menschengeschlechts zum Bilde Gottes in der Wirklichkeit, auf daß die Einheit der menschlichen und göttlichen Natur in ewiger Gegenwart erscheine. Die Philosophie ist zur Erkenntniß dieses Zwecks gekommen. In dieser Einsicht findet der Geist seine Befriedigung und seine Versöhnung mit der Wirklichkeit. Er weiß, daß, was geschieht, nicht nur nicht ohne Gott geschieht, sondern seine eigene Verwirklichung ist. Durch diese Erkenntniß ist die Zeit getilgt, und der Himmel zur Erde herabgestiegen: der Einzelne aber darin des ewigen, seligen Lebens gewiß." 180

III· Verhältnis von Theorie zu Aktion Bei Hegel bildet die Weltgeschichte einen Teilbereich des objektiven Geistes. Oberhalb der Geschichte erst erhebt sich die Triade des absoluten Geistes, bestehend aus Kunst, Religion und Philosophie. Folge dieser Anordnung ist, daß die Philosophie, als Stufe des absoluten Geistes, keine Einwirkung auf die Geschichte

177 Cieszkowski, S. 20 f.; vgl. dazu auch Gebhardt, 1963, S. 133; Cornu, S. 131. 178 Lobkowicz, S. 194. 179 Vgl. Erster Teil C.I. 180 Michelet, 1837/38, S. 800.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

haben kann. Dementsprechend gelangt Hegel auch zu seiner Auffassung, die Philosophie könne die Welt nicht verändern, sondern immer nur nachträglich fassen: er verwendet das bekannte Bild der Eule der Minerva, die stets erst abends ihren Flug beginnt, wenn sich der Tag schon seinem Ende neigt. 181 Hegels Theoretizismus, sein Ausschließen einer Einflußnahme der Philosophie auf die Geschichte, ist also eine zwangsläufige Folge der Position, die er der Geschichte zuweist. Die Philosophen der Tat bemängeln diese Konstruktion. Sie halten es für unstimmig, die Sphäre des absoluten Geistes als zeitlos und für den Geschichtsverlauf unerheblich einzustufen. Sie vertreten demgegenüber die Auffassung, die Weltgeschichte sei ganz offenbar mitbestimmt von Kunst, Religion und Philosophie. Michelet nimmt daher eine systematische Änderung an Hegels Anordnung vor, indem er die Geschichte nicht länger als Stufe des objektiven Geistes positioniert, sondern als Abschluß des Gesamtsystems, nach dem absoluten Geist. Auf diesem Wege eröffnet er die Möglichkeit, Geschichte als Ausdruck aller geistigen Sphären, also auch als Ausdruck und Folge der Philosophie aufzufassen. Er ebnet damit den Weg für das Anliegen der Philosophie der Tat, die philosophischen Erkenntnisse zum Ausgangspunkt von Veränderungen in der objektiven Welt zu machen. „Die Philosophie der Weltgeschichte ist hiernach in jeder Rücksicht als das Ende und der Gipfel der philosophischen Thätigkeit Hegel's zu betrachten. Sie ist die Resumption des ganzen Systems in sich, und der schlagende Beweis, wie [ . . . ] die philosophirende Vernunft im Staate und den unterschiedenen geistigen Funktionen des gesammten Staatsorganismus sich selbst erkannt habe." 182

Ein weiterer Ansatzpunkt der Philosophie der Tat ist ihr Rückgriff auf Fichte. Bei Fichte kommt der Tat eine größere Bedeutung zu als bei Hegel. Bei ihm findet sich der Hegeische Gedanke, das Vernünftige sei das Wirkliche, ohne die umgekehrte Verknüpfung, also ohne Lobpreis des Bestehenden. Die praktische Tat tritt hier in den Vordergrund. Die objektive Welt wird nach den subjektiv als vernünftig erkannten Zielen neu gestaltet. Der Mensch ist in der Lage, die Welt zum Abbilde seiner gedanklichen, durch Vernunft hervorgebrachten Vorbilder zu machen. „Nicht bloßes Wissen, sondern nach deinem Wissen Tun ist deine Bestimmung. [ . . . ] . Ich schreibe mir zu [ . . . ] eine reele, wirksame, ein Sein hervorbringende Kraft, die ganz etwas anderes ist, als das blosse Vermögen der Begriffe. Jene Begriffe, Zweckbegriffe genannt, sollen nicht wie die Erkenntnisbegriffe, Nachbilder eines Gegebenen, sondern vielmehr Vorbilder eines Hervorzubringenden sein." 183

In geschichtsphilosophischer Hinsicht unterteilt Fichte in fünf Epochen. Die Gegenwart betrachtet er, wie auch die Philosophen der Tat, 1 8 4 noch nicht als Endsta181 Hegel, Bd. VII, S. 27 (Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede). Ausführlichere Darstellung vgl. 1.1. und 1.2. 182 Michelet, 1832, S. XVI. 183 Fichte, Bd. II, S. 249 f. (Die Bestimmung des Menschen).

C. Die Philosophie der Tat

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dium der Geschichte, sondern als Übergangs- und Umbruchzeit, an der Stufe von der vierten in die fünfte Epoche. Dieses erst anbrechende fünfte und letzte Weltzeitalter trägt nach Fichte folgende Züge: „Die Epoche der Vernunftkunst: das Zeitalter, da die Menschheit mit sicherer und unfehlbarer Hand sich selber zum getroffenen Abdrucke der Vernunft aufbauet." 1 8 5 Die auf diesem Wege systematisch begründete praktische Auswirkung des Philosophierens auf die objektive Wirklichkeit, verbunden mit den in den vorigen beiden Punkten angesprochenen Positionen - es gibt eine Zukunft, und der endliche Geist hat das Niveau des absoluten Geistes erreicht - versetzt die Philosophen der Tat in die Lage, die Zukunft als dem menschlichen Willen unterworfen zu verstehen. Die Zukunft kann nun, vom erreichten Standpunkt des absoluten Wissens aus, ingenieurhaft geplant und ausgeführt werden, ohne Zufälligkeiten, ohne Risiko, ohne vom rechten Wege abzukommen. Die Menschheit ist zum Komplizen des Absoluten geworden. 1 8 6 Michelet faßt das Anliegen der Philosophie der Tat in einem Spätwerk sehr ausgewogen zusammen: „Wenn man Hegel, wie dem Aristoteles, den Vorwurf des blos theoretischen Standpunkts gemacht hat, da Beide doch vielfach ihr Augenmerk auch auf das praktische Leben und die Politik gerichtet hatten: wenn Cieszkowski der linken Seite der Schule mit Recht den ähnlichen Vorwurf macht, dem Allgemeinen auf Kosten der Einzelnheit und Wirklichkeit den Vorzug gegeben zu haben; so hat er den guten Blick gehabt, eine Philosophie der That zu fordern. In Griechenland, sagt er sehr treffend in seiner „Historiosophie", sei die Kunst und das Schöne das Absolute gewesen, von Aristoteles bis Hegel der philosophische Gedanke; und von nun an müsse das aus dem höchsten Wissen mit Bewusstsein fliessende Sein, oder das absolute Thun zum Höchsten gemacht werden. So ergänzte ich den Hegel'sehen Satz, dass die Philosophie die Eule der Minerva sei, die ihr Grau in Grau in der Nachtdämmerung male und damit die Zeit nicht verjüngen könne, durch die Behauptung, dass sie auch der Hahnenschlag einer neu anbrechenden Morgenröthe sei; und nicht ungern schien mir Hegel sich hierin entgegengetreten zu sehen. An der Hand der Philosophie wird also das Ziel der Weltgeschichte, die Realisierung der Freiheit und die Gestaltung aller sittlichen Verhältnisse des Geistes zum Bilde der Vernunft, seiner allmäligen Ausführung entgegengehen, und damit die Wissenschaft in's Leben übergeführt werden. Dazu ist der Deutschen Philosophie, besonders durch Fichte und Hegel, die Kraft gegeben."187 In besonderer Prägnanz findet sich das Programm der Philosophie der Tat bezüglich des Verhältnisses von Theorie zu Aktion erneut bei Cieszkowski. 1 8 8 Er 184 Vgl. Erster Teil C. I. 185 Fichte, Bd. VII, S. 12 (Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters). Vgl. dazu Mader, 1975, S. 37-46, der die Berührungspunkte der Hegelschüler mit der Philosophie Fichtes herausarbeitet. Zur Bedeutung der konkreten Tat für die Entwicklung des positiven Rechts am Beispiel Fichtes vgl. Landau, S. 28-30. 186 Vgl. Lobkowicz, S. 198. 187 Michelet, 1878, S. 667. 188 Cieszkowski.

Erster Teil: Die Hegeische Schule

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sieht seine Modifikationen an Hegels Philosophie als die wahre Vollendung und Versöhnung an, die Hegel noch nicht erreicht habe. Erst in der Tat sei die wahre Vermittlung von Denken und Sein gelungen, indem der Gedanke in ihr in die Wirklichkeit trete. Ebenso stelle erst die Tat die wahre Vermittlung des Subjektiven mit dem Objektiven dar, sie sei die Verobjektivierung, welche die Subjektivität bewahrt. Das fehlende Dritte zum Ansich und Fürsich schließlich sei im Aussich zu finden: in der praktischen Tat eines Menschen, der nach seiner theoretischen Einsicht die Wirklichkeit hervorbringt. „ [ . . . ] wir eine höchst wichtige Unterscheidung zwischen den Factis oder Thatsachen und den eigentlichen Thaten machen werden, welche, obgleich sie synonym scheinen, doch ganz heterogene Bestimmungen sind, deren Unterscheidung von der grössten Wichtigkeit ist. Thatsachen (facta) nennen wir diejenigen passiven Gegebenheiten, die wir gleichsam vorfinden, und zu welchen wir uns ganz gleichgültig verhalten, etwas Daseiendes ohne unsere Mitwirkung und unser Bewusstsein. [ . . . ] That (actum) aber ist etwas ganz Anderes; es ist nicht mehr dieses unmittelbare Ereigniss, welches wir bloss aufzunehmen und in uns zu reflectiren hatten, es ist schon reflectirt, schon vermittelt, schon gedacht, vorgesetzt und dann vollführt; es ist eine active Begebenheit, die ganz die unsrige ist, - nicht mehr fremd, sondern bewusst, noch ehe sie verwirklicht wurde. [ . . . ] Die Facta bilden eine unbewusste, also vortheoretische, die Thaten aber eine bewusste, also nachtheoretische Praxis (S. 17-

18).189

Das absolute Denken also muss zum absoluten Seyn zurückkehren, ohne sich jedoch sich selbst zu entfremden. Dieses wieder hervorgebrachte Seyn wird nicht das erste passive und vorhandene seyn, sondern das geschaffene, mit Bewusstseyn erzeugte Seyn, welches das absolute Thun ist (S. 111). Das absolut Practische, das sociale Wirken und Leben im Staate [ . . . ] wird von jetzt an das Bestimmende, und die bis jetzt für höchste Identitäten geltende Kunst und Philosophie werden nunmehr zur Bedeutung abstracter Prämissen des Staatslebens herabgesetzt werden. Seyn und Denken muss also im Thun, - Kunst und Philosophie im socialen Leben, - zu Grunde gehen, um dort erst wieder wahrhaft und ihrer letzten Bestimmung gemäss aufzutauchen und aufzublühen (S. 112). Hegel hat den Geist bloss bis zum An- und Für-sich geführt. Das An-sich und das Für-sich aber haben erst ihre volle Wahrheit in dem Aus-sich [ . . . ] . Das Aus-sich begreift nämlich das Hervorbringen aus sich selbst, ohne sich jedoch sich selbst zu entfremden, keineswegs also das Herausgehen oder sogar das Herausbleiben ausser sich. Darum ist das Aussieh erst das Resultat des Ansich und Für-sich, die substanzielle und stetige Einheit dieser Prämissen [ . . . ] (S. 115-116). Nach Hegel ist der Wille nur eine besondere Weise des Denkens, und diess ist die falsche Auffassung; vielmehr ist das Denken ein bloss integrales Moment des Willens, denn das Denken, welches wieder zum Seyn wird, ist erst der Wille und die That (S. 120). Die practische Philosophie, oder eigentlicher gesagt, die Philosophie der Praxis, - deren concreteste Einwirkung auf das Leben und die socialen Verhältnisse, die Entwicklung der

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Cieszkowskis Einteilung in vor- und nachtheoretische Praxis wurde stark rezipiert. Vgl. Hösle, 1987 a, S. 449-451; Lobkowicz, S, 202, Mader, 1975, S. 37-46, McLellan, S. 18.

D. Zusammenfassung

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Wahrheit in der concretesten Thätigkeit - diess ist das künftige Loos der Philosophie überhaupt (S. 129)."

Die konkreten Ziele der Philosophie der Tat sollen hier nicht näher betrachtet werden, da sie im zweiten Teil ausführlich am Beispiel von Michelet zur Sprache kommen werden. Wichtiger scheint, nochmals den Bezug der Philosophie der Tat zu den Ergebnissen des vorigen Kapitels in Erinnerung zu rufen. Es Schloß mit der Behauptung, die Hauptfraktion der Hegelianer sei durch die Etiketten „links" und „rechts" der herkömmlichen Terminologie nicht passend zu charakterisieren. Diese Gruppe trete nicht extremistisch, sondern gemäßigt auf, ihre Forderungen seien, verglichen mit Hegel, als fortschrittlich zu bezeichnen, geprägt von einem vormärzlichen Tatendrang. Dies ist die Strömung der Philosophie der Tat. Sie stellt nicht nur überhaupt einen Zweig des Hegelianismus dar, sondern sogar den bedeutsamsten und meistvertretenen. Horst Stuke bestätigt diese Behauptungen, wenn er sagt, daß „Hegelianer aller Richtungen sich in der Uberzeugung treffen, der moderne Philosoph sei aufgerufen, „der Prophet einer neuen Welt, der Prediger der Tat" zu sein." 190

D. Zusammenfassung Das erste Kapitel ruft Hegels Rechtsphilosophie in Erinnerung und stellt einige ihrer Aporien und Unklarheiten heraus. Insbesondere die beiden Aussagen Hegels, die Philosophie sei erstens unfähig, auf die Welt einzuwirken, und ihre systematische Position als rein theoretische Kontemplation sei daher zweitens separiert vom objektiven Geschichtsverlauf, spielen hierbei eine zentrale Rolle. Das zweite Kapitel, Die Theorie der Schulspaltung, nimmt seinen Ausgang bei den im ersten Kapitel rekonstruierten Aporien und stellt dar, wie die Schüler Hegels sich angesichts dieser Zwiespältigkeiten zu verschiedenen Lösungsansätzen hingezogen fühlten. Darüber hinaus wird aufgezeigt, daß die Meinungsverschiedenheiten der Hegelschüler inhaltlich klar umgrenzt waren, und nicht etwa zu einer Spaltung hinsichtlich sämtlicher philosophischer Fragen geführt haben. In der Philosophiegeschichte werden diese begrenzten schulinternen Meinungsverschiedenheiten als das Hauptmerkmal der Hegelschule angesehen und verabsolutiert, wie eine Dokumentation der Literatur ergibt. Im Laufe von inzwischen 165 Jahren hat sich das Bild zunehmend verfestigt, die Schülerschaft Hegels sei auseinandergefallen in zwei konträre Lager, „rechts" und „links", welche jedes auf seine Weise radikal gewesen sei. Eine Überprüfung dieser traditionellen Sichtweise fördert jedoch ihre Unstimmigkeiten zutage. Die beiden wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung sind, daß erstens keine durchgängige Spaltung des Lagers in zwei entgegengesetzte Flügel stattfand, sondern der Großteil der Hegelianer durch weitgehende Einmütigkeit 190 Stuke, S. 67. Die wörtliche Passage entleiht Stuke aus: Julius, Theorie und Praxis, in: Wigands Vierteljahresschrift, 18441, S. 104.

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Erster Teil: Die Hegeische Schule

gekennzeichnet ist; und daß es zweitens unter den Hegelschülern keine Fraktion gab, die sinnvollerweise als „rechts" im Sinne der traditionellen Terminologie bezeichnet werden könnte. Es lassen sich zwar schismatische Tendenzen aus dem hegelianischen Lager heraus einerseits in die materialistische, andererseits in die theistische Richtung beobachten: doch der Hauptstrang der Hegelschule war liberal und fortschrittsfreundlich gesinnt und bestrebt, die Erkenntnisse der Hegeischen Philosophie zu verbreiten und auf die Lebenswirklichkeit anzuwenden. Dieser Hauptanteil der Hegelianer ist von den Idealen des Vormärz geprägt, und daher als „gemäßigt links" einzustufen, soweit man die traditionelle Begrifflichkeit überhaupt beibehalten will. Sie wollen Hegels Philosophie weiterführen, bemängeln jedoch dessen Überbetonung der kontemplativen Funktion der Philosophie und fordern statt dessen ein Einwirken der Philosophie auf das praktische Leben: die Philosophie der Tat. Das dritte Kapitel, Die Philosophie der Tat, stellt einige Merkmale dieser hegelianischen Hauptströmung heraus. So zeigt sich, daß die Vertreter der Philosophie der Tat die geschichtsphilosophische These Hegels, die Einheit von Sein und Wissen habe sich im Geschichtsverlauf bereits ausgeprägt, abstreiten. Vielmehr sehen sie Hegels Geschichtsphilosophie als ein System der Zukunft, das erst noch verwirklicht werden muß. Weiterhin wird dargelegt, daß die Philosophen der Tat davon überzeugt sind, der endliche Geist des Menschen habe sich inzwischen auf das Niveau des Weltgeistes erhoben, wodurch der Mensch fortan nicht mehr nur Objekt der Weltgeschichte sei, sondern selbst die Geschichte verstehen und daher auch selbständig gestalten könne. Drittens sind die Philosophen der Tat der Auffassung, daß die Philosophie nicht nur in der Lage ist, nachträglich das Geschehene zu betrachten und auf den Begriff zu bringen, sondern daß sie auch auf die aktuelle Gestalt der objektiven Welt Einfluß zu nehmen vermag. Vor diesem Hintergrund stellt der zweite Teil dieser Studie Carl Ludwig Michelet als typischen Vertreter der Philosophie der Tat und damit zugleich als typischen Vertreter des Hegelianismus in seiner Hauptströmung vor.

Zweiter Teil

Michelet Auf Grundlage der im ersten Teil erfolgten Neubestimmung des Hegelianismus setzt sich der zweite Teil zum Ziel, Michelet als typischen Vertreter des gemäßigten Hegelianismus, der Philosophie der Tat, vorzustellen. Die Konzentration auf seine Rechts- und Geschichtsphilosophie stellt hierbei zwar eine Eingrenzung der Untersuchung dar. Da jedoch Michelets rechts- und geschichtsphilosophische Position als das zentrale und eigenständigste Element seines Systems anzusehen ist, konzentriert sich die vorliegende Studie somit auf den Kernbereich Michelets. Nachfolgend werden zunächst in einem allgemeinen Kapitel Leben und Position Michelets dargestellt, einschließlich eines Uberblicks zu der sehr geringfügigen Rezeption, die seinen Werken zuteil wurde. Anschließend daran werden einige seiner philosophischen Ansätze vorgestellt. Sie sind danach ausgewählt, daß sie erstens dem Bereich der Rechtsphilosophie (im Sinne Hegels) zugehören oder zu deren Verständnis unabdingbar sind, zweitens eine eigenständige, über Hegel hinausgehende Leistung darstellen und drittens als charakteristisch für die Philosophie der Tat gelten können.

A. Zur Person Michelets Die im vorliegenden Kapitel beabsichtigte biographische und bibliographische Einführung zu Michelet gliedert sich folgendermaßen: erstens Leben und Position, zweitens Werke und drittens Rezeption. Aufgrund seines breiten Arbeitsgebietes, in Einklang mit dem enzyklopädischen Anspruch der hegelianischen Philosophie, fallen hierbei die Ausführungen zum ersten Punkt recht umfangreich aus: Michelet, als Vertreter der Philosophie der Tat, ging theoretisch von einer Verbundenheit aller Lebens- und Wissensbereiche untereinander aus und lebte auch selbst dieser Überzeugung gemäß. Daher fällt es schwer, sein Leben von seiner Position zu unterscheiden, wie es auch nicht leicht fällt, dieses gelebte Gesamtkonzept in Einzelaspekte zu trennen.

6 Moser

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Zweiter Teil: Michelet

I. Leben Michelet wurde am 4. Dezember 1801 in Berlin geboren und auf den Namen Charles Louis getauft, bevorzugte aber die deutsche Version Carl Ludwig. Er lebte bis zu seinem Tode 1893 permanent an seinem Geburtsort. Aus seiner 1832 geschlossenen ersten Ehe gingen zwei Söhne und eine Tochter hervor. Nach dem Tode seiner Ehefrau verheiratete er sich 1867 erneut und hatte aus dieser Verbindung zwei Töchter und zwei Söhne, wovon der jüngste 1878 geboren wurde. Seine Vorfahren auf väterlicher wie auf mütterlicher Seite sind französische Calvinisten, die infolge der Aufhebung des Edikts von Nantes ausgewandert waren. In seiner 1884 erschienenen Autobiographie Wahrheit aus meinem Leben1 behauptet er von sich, daß zwar in seinen Adern rein französisches Blut fließe, er jedoch durch und durch von deutschem Geist durchdrungen sei.2 In der damals noch gartenreichen Stadt verlebte er eine glückliche Kindheit. Michelets Vater betrieb in Berlin ein Seidengeschäft. Als seine beiden vertrautesten Spielkameraden nennt er seine leiblichen Vettern Heinrich Gustav Hotho und Albert Jordan. Ab 1814 besuchte er das französische Gymnasium, wo er eine Vorliebe für die alten Sprachen entwickelte. 1819 bestand er die Prüfung zur Hochschulreife. Er immatrikulierte sich zum Wintersemester an der Berliner Universität für ein Studium der Rechtswissenschaft. Schon als Gymnasiast hegte er mit seinen Kameraden die große Hoffnung auf eine freie Verfassung. Entsprechend empfanden sie die wegen der Ermordung Kotzebues durch Sand eingeleitete Beschneidung der Bürgerrechte als große Enttäuschung. Michelet erzählt, er sei von Jugend an und sein ganzes Leben hindurch ein sensibler und nervlich leicht reizbarer Mensch gewesen, so daß er auch aus geringen Anlässen häufig in Ohnmacht fiel. Daher wurde er einerseits nicht zum Wehrdienst gezogen, andererseits mußte er zeitlebens regelmäßig beruhigende Kuraufenthalte absolvieren. Das Jahr 1819, in welchem Michelet sein Studium an der Berliner Universität aufnahm, war zugleich das Jahr nach Hegels Amtsantritt dort. Obwohl Michelet nicht als Philosophiestudent eingeschrieben war und daher sein Interesse an diesem Fach nicht in den Vordergrund stellen konnte, fühlte er sich gleichwohl an dieser Fakultät, zumal bei Hegel, besonders gut aufgehoben. Zunächst jedoch galt sein Interesse der Philosophie Schleiermachers. An dessen Position schätzte Michelet den dialektischen Ansatz sowie insbesondere den Versuch, Geschichte der Philosophie und systematische Philosophie ineinander verwoben zu betreiben. Auch fühlte er sich angesprochen von Schleiermachers Bestreben, eine Verbindung herzustel-

1 Michelet , 1884; zum Leben Michelets vgl. Lübbe, 1963, S. 72-81; Ottmann S. 224239; D'Ercole, 1894, (im wesentlichen ein Exzerpt der Autobiographie Michelets); Kühne, S. 1-10, mit biographischer Einführung zu Michelet bis zum Jahre 1842. 2 Michelet, 1884, S. 2.

Α. Zur Person Michelets

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len zwischen der Eigentümlichkeit des Einzelnen und der in Christus dargestellten allgemeinen Idee der Menschheit. „Freilich bis zum innersten Kern der Dialektik ist Schleiermacher nicht durchgedrungen. [ . . . ] . So hat erst Hegel mir die wahre Natur der Dialektik aufgeschlossen, wie er denn auch über Heraklit ausruft: „Hier sehen wir Land!". Damit ging mir aber auch erst die richtige Bedeutung der Platonischen Ideenlehre auf, indem ich zu der Erkenntniss kam, dass die Urbilder der Dinge, die mit unsern Begriffen identisch seien, nicht irgendwo am Himmel, im äussern Umkreis der Sterne ihren Sitz haben, wie es noch im Phädrus des Plato geschildert sei, sondern dem innersten Wesen der irdischen Dinge einwohnen (S. 47)."

Michelet betont, daß sich nach seiner Ansicht Schleiermachers Gefühlsreligion und Hegels Gedankenreligion vorrangig formal unterscheiden, während sie sich inhaltlich recht nahe stehen. Hegels Gedanken fielen bei Michelet jedoch auf noch fruchtbareren Boden. Die Beschäftigung mit ihm wurde daher zum Hauptgegenstand im Studium Michelets. Er faßt sehr anschaulich zusammen, worin er die Vorzüge der Philosophie Hegels sieht: „Erstens ist die dialektische Methode bei Hegel nicht ein Hin- und Herfahren, kein herumtappendes Anknüpfen an diesen oder jenen einzelnen Punkt, als sei der Kreis des Ganzen, die Gliederung der Wissenschaft noch nicht vorhanden, wie Schleiermacher unaufhörlich klagte. Hegel weiss seine Methode als die wahre Methode, weil sie als Form nicht vom Inhalt geschieden ist, sondern nur das Leben, den Pulsschlag und Rhythmus des ganzen Systems der Wahrheit bildet, das durch eigene Bewegung fortschreitet. Der Philosoph ist nur das formelle Gefäss, in welchem dieser inhaltliche Fortschritt des objectiven Gedankens stattfindet. Hegel hat also die Philosophie, aus der Stufe der Liebe zur Weisheit, zum wirklichen Wissen erhoben, indem er sie zur sich selbst beweisenden Wissenschaft machte. Dabei bildet die dialektische Methode keinen Gegensatz zur Erfahrung, noch tritt sie dieser feindlich oder hinderlich gegenüber, weil die Erfahrung, wenn sie nur in ihrer Totalität aufgefasst wird, die Speculation selber sei. Der zweite Hauptpunkt ist der, dass, weil die Wissenschaft der Philosophie die aus und durch sich selbst sich entfaltende Wahrheit ist, die Philosophie und ihre Geschichte nicht nur zugleich betrieben werden sollen, wie Schleiermacher verlangte: sondern Beide sind Ein und dasselbige. Die Geschichte der Philosophie ist das Sich-Finden des philosophischen Gedankens: der Gedanke, „der auf die Entdeckung seiner selber ausgeht". Das erste geschichtliche System der Philosophie enthält schon in sich den an sich seienden Keim der ganzen Wahrheit, die sich dann in ihre für sich seienden Momente unterscheidet, um solche einseitigen Systeme wieder in ein höheres System zusammenzufassen. Solche reichere Systeme finden wir in Plato, in Proklus, bis im höchsten Zusammenfassen der höchsten Gegensätze der majestätische Baum der Erkenntniss zu seiner vollen Entfaltung gekommen ist. So bleibt, ungeachtet der Mannigfaltigkeit der Philosophien, die Philosophie doch Eine, wie die Wahrheit Eine ist. Der dritte Punkt ist aber der, dass, wie im Copernicanischen System der Himmel nicht mehr jenseits und über der Erde ist, sondern diese selber den Himmel an sich hat, indem sie am Himmel den Kreislauf um die Sonne und um sich selber vollbringt: so sind auch die Ideen der Natur und des Menschengeistes diesem immanent, indem er ihren Himmel in sich selber hat. Der Weltgeist hat damit die Fremdheit und Aeusserlichkeit, die er gegen 6*

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Zweiter Teil: Michelet den endlichen Geist zu haben schien, aufgegeben; er hört auf, dem endlichen Selbstbewusstsein transcendent zu sein. Damit hat das endliche Selbstbewusstsein sich selbst zum absoluten Geiste erhoben; es erzeugt aus sich in der Wissenschaft die adäquate Darstellung der unendlichen Vernunft der Sache selbst. Alle Endlichkeiten und Unvollkommenheiten, die allerdings noch bestehen bleiben, dienen einerseits, als dunkle Flecke, der vollkommenen Unendlichkeit nur zur Folie, um dieselbe in ihrem rechten, leuchtenden Glänze zu erkennen. Andererseits wird dieser Glanz aber auch zum zündenden Feuer, das nach und nach alle diese Finsterniss wieder in Staub und Asche zerfallen lässt. So gelang es mir, wie früher Boumann, mein religiöses Gefühl durch Hegel in Einklang mit meinem philosophischen Wissen zu setzen [ . . . ] (S. 59-60)."

Noch prägnanter liest sich eine im Dezember 1821 verfaßte Tagebuchnotiz Michelets. Als er einem Kommilitonen begeistert erzählt, in Hegels Position finde sich Monotheismus mit Pantheismus und Idealismus mit Materialismus einheitlich verbunden, da antwortete ihm dieser, Hegel trüge offenbar seinen Mantel nach allen Winden. Michelet erwiderte hierauf: „Oh! Nein! Er hat vielmehr einen Mantel für alle Winde" (S. 63). Seine juristischen Studien erwähnt Michelet nur knapp, wie er überhaupt keinen Hehl daraus macht, sich schon zu Studienzeiten von der Philosophie stärker als von der Jurisprudenz angezogen gefühlt zu haben. Unter seinen Rechtslehrern hebt er vor allem Savigny hervor, dessen Vorlesung über die Institutionen er besuchte. Über dessen Standpunkt urteilt Michelet: „Als Gründer der historischen Schule, wollte er das Recht nur für ein geschichtlich gewordenes gelten lassen: das sogenannte Naturrecht sei nur eine Auslese des Besten aus dem allmälig gebildeten Gewohnheitsrechte der Völker. Dieses Beste war aber doch das der Idee des Rechts am Meisten Entsprechende; und so brach Savigny durch eine Hinterthür aus dem historischen Rechte zum vernünftigen durch. Die Wissenschaft der Rechtsgelehrten sollte nach ihm nur darin bestehen, das aus dem Bewusstsein des Volkes heraus gewachsene Recht in eine systematische Ordnung zu bringen; diese ist aber gerade das Philosophische daran (S. 53)."

Da Michelets Familie keine überreichlichen Mittel zur Verfügung hatte, mußte er sich um den Aufbau einer bürgerlichen Existenz kümmern. Am nächstenliegend schien es, die juristische Staatsprüfung zu absolvieren. „Da trat aber die Dialektik meines Lebens hervor, auch ihr Wort mitzusprechen. Sollte ich die Prüfung nutzloser Weise wirklich machen? Denn schon hatte ich den unabänderlichen Entschluss gefasst, mich dem akademischen Lehrstuhl für die Philosophie zu widmen (S. 73)."

Doch seine persönliche Umgebung bestärkte ihn darin, die juristischen Studien zu Ende zu führen, und als selbst Hegel ihm riet, es sei gut, „in irgend einem Kreise des praktischen Lebens gearbeitet zu haben" (S. 74), entschied sich Michelet, zur Staatsprüfung anzutreten. Nach deren Bestehen trat er 1822 sein Referendariat beim Stadtgericht an. Zugleich fertigte er unter Hegels Betreuung eine rechtsphilo-

Α. Zur Person Michelets

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sophische Dissertationsarbeit an, die sich mit der Zurechnung menschlicher Handlungen beschäftigte. 3 Da kurzfristig keine philosophische Professur in Aussicht stand, nahm Michelet eine Halbtagsstelle für Philologie am französischen Gymnasium an, dessen Schüler er gewesen war. Ab Sommersemester 1826 hielt er an der Universität philosophische Vorlesungen. 1827 wurde er in die ein Jahr zuvor gegründete, hegelianisch geprägte Societät für wissenschaftliche Kritik zu Berlin aufgenommen, bekannt durch ihr seit 1827 herausgegebenes Organ Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. In einer 1827 dieser Zeitschrift eingereichten Abhandlung äußerte Michelet erstmals sein Mißfallen an Hegels rein kontemplativer Betrachtung der Philosophie. „ [ . . . ] erinnere ich mich, die berühmten Worte der Hegel'schen Rechtsphilosophie: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden; und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug", dahin erläutert und erweitert zu haben, dass ich hinzusetzte: „Die Philosophie ist aber auch der Hahnenschlag eines neu anbrechenden Morgens, der eine verjüngte Gestalt der Welt verkündet." Als ich Hegel nun eines Tags besuchte, zog er meine Handschrift aus seinem Pulte hervor, und las mir meine kühne Behauptung vor. Ich meinte im ersten Augenblick, er wolle die Stelle beanstanden. Doch bald bemerkte ich an seinem wohlwollenden Schmunzeln, dass er es nicht übel nahm, gewissermaassen überboten zu sein, sondern sich vielmehr an der jugendlichen Zuversicht seines Fortsetzers zu erfreuen schien. Auch wurde die kritische Stelle ungehindert abgedruckt (S. 90)." 4

Diese Interpretation, den Hegelschen Nachtflug der Eule dialektisch umschlagen zu lassen in einen morgendlichen Hahnenschrei, kann als Programm der Philosophie der Tat verstanden werden. Walter Kühne stellt seiner Biographie 5 über Michelets Freund Cieszkowski, ebenfalls einem Vertreter der Philosophie der Tat, ein inhaltlich sehr ähnliches Motto voran: „[Hegel] selbst hat zwar nicht vermocht, alle Konsequenzen seines Standpunktes durchzuführen, doch tut dies seinem Verdienste nicht den geringsten Abbruch; und derjenige, welcher einen erkannten Mangel in seinem System ausfüllt, oder sogar einen weiteren Fortschritt aus diesem Standpunkte normal entwickelt, wird ohne Zweifel dadurch Hegels Genius weit mehr huldigen, als der, welcher nur eine Aufrechterhaltung seiner unantastbaren Überlieferungen bezweckt."6

Michelets wie auch Cieszkowskis Äußerungen zeugen eindeutig von dem Bestreben, Hegel einerseits nicht nur zu konservieren, wie es den Rechtshegelianern 3 Michelet , 1824 (De doli et culpae in jure criminali notionibus. Dissertatio inauguralis philosophica). 4 Michelet bezieht sich auf: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Mai 1831, Nr. 88, S. 697. 5 Kühne, 1938. 6 Cieszkowski, 1838, S. 7.

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Zweiter Teil: Michelet

vorgeworfen wird, ihn andererseits auch nicht als den dialektischen Revolutionär zu lesen und zur ideologischen Grundlage tagespolitischer Agitation zu machen, wie es von den Linkshegelianern heißt. Die Philosophie der Tat beabsichtigte vielmehr, dem Hegeischen System weitgehend treu zu bleiben, es jedoch auf die Gestaltung der Zukunft hin nutzbar zu machen und weiterzuentwickeln. Zu Beginn des Jahres 1828 veröffentlichte Michelet sein erstes größeres Werk, das System der philosophischen Moral Der damals für Bildungspolitik zuständige Minister Altenstein schätzte diese Schrift sehr, so daß er dem Autor eine finanzielle Unterstützung für seine im Sommersemester 1828 unternommene Forschungsreise nach Paris bewilligte. Michelet nahm dort regen Anteil am gesamten kulturellen Leben: er besuchte Vorlesungen, Theater, Kunstausstellungen, interessierte sich für Architektur, Gartenbau, Friedhöfe ebenso wie für die politische Befindlichkeit und Lebensart. Das dialektische Denken prägte ihn schon damals bis ins Private hinein, selbst seine Tagebuchaufzeichnungen machen da keine Ausnahme: „Aus diesen Betrachtungen zog ich dann schon damals den Schluss auf den Französischen Charakter, dass er sich in religiöser Hinsicht zwischen den zwei äussersten Grenzen einer einseitigen Freigeisterei, und jenes Traums der Priesterherrschaft hin und herbewege. Dem entspricht denn auch der politische Gegensatz zwischen der atomistischen Freiheit des Einzelnen, und der Neigung, der Regierung die Vorsorge des öffentlichen Wohls zu überlassen. Endlich ist der Gegensatz auch in's tägliche, häusliche, gesellschaftliche Leben eingedrungen, wie er sich mir bei der Frage aufdrängte, die eine spätere Stelle der Reisebeschreibung verzeichnet: „Woher können sich die tausend und aber tausend Cafés in Paris erhalten? Nicht allein durch die Fremden, sondern auch durch die grosse Menge einheimischer Junggesellen und kinderloser Eheleute, welche das chez soi vernachlässigen oder keines haben, und die Cafés dem Familienleben vorziehen". Die unmittelbare Sittlichkeit der Familie zerfällt also hier in den Gegensatz des sich abschliessenden Individualismus, der dann seine Ergänzung an dem geselligen Zusammenleben für die Bedürfnisse und Vergnügungen des gewöhnlichen Lebens finden muss (S. 118)."

Durch das Wohlwollen Altensteins gefördert erhielt Michelet 1829 eine außerordentliche Professur für Philosophie und Philologie, die ihm zunächst in Königsberg, auf seine Bitte hin allerdings in Berlin zugestanden wurde. Er mußte sich zeitlebens mit dieser Stelle begnügen und wurde niemals Ordinarius. Es waren insbesondere seine religionsphilosophischen Gedanken, die ihn bei den Nachfolgern Altensteins schon bald in merkliche Ungnade fallen ließen. Michelet nahm mit Bitterkeit zur Kenntnis, daß die seines Erachtens rückschrittlichen, religionsphilosophisch eher an Schellings Theismus orientierten Denker ihm bei Berufungen stets vorgezogen wurden. Während seiner über fünfzigjährigen Tätigkeit als Professor hielt er Vorlesungen zu sämtlichen damals anerkannten Gebieten der Philosophie, mit Ausnahme der Ästhetik. Die Vorlesung zur allgemeinen Geschichte der Philosophie übernahm Michelet im Wintersemester 1831/32 von seinem plötzlich verstorbenen Lehrer Hegel. Seine erste Vorlesungsstunde nach Hegels Tode eröffnete er mit folgenden Worten:

Α. Zur Person Michelets

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„ [ . . . ] ehren wir den grossen Mann, unser Aller Lehrer, und den Lehrer aller Philosophen für Jahrhunderte und Jahrtausende mit der letzten Ehre! [ . . . ] Jeder muss an seinem Theile die Arbeit fortsetzen, von welcher er so plötzlich abgerufen wurde (S. 143-144)."

Hier zeigt sich erneut, daß Michelet nicht die Absicht hatte, Hegels Lehre unangetastet zu konservieren. Vielmehr sah er das Ziel darin, den durch Hegels Dialektik ausgelösten Prozeß fortzuführen, und dadurch die Gedanken des Meisters in der Philosophie der Tat aufzuheben. Unmittelbar nach Hegels Tode fand sich ein Kreis seiner Anhänger zusammen, die sich vornahmen, Hegels gesammelte Werke herauszugeben. Michelet gehörte diesem Verein von Freunden des Verewigten an und edierte die Naturphilosophie, die Geschichte der Philosophie sowie den ersten Band Einleitung in Hegels philosophische Abhandlungen. Auch zwölf Jahre nach Hegels Tode war die Berliner Universität stark von den Anhängern Hegels geprägt, die sich entschlossen, sich zu institutionalisieren. So gründeten im Januar 1843 Michelet und Graf Cieszkowski die Philosophische Gesellschaft zu Berlin. Als die Zwecke dieser Gesellschaft wurden festgelegt: Erstens die nähere Verständigung der Schüler Hegels untereinander, zweitens die allseitige Fortbildung der Philosophie, drittens die Einführung der Philosophie ins Leben und viertens das Eindringen der philosophischen Prinzipien in die Fachwissenschaften (S. 189 ff. 7 ). Mittel für diese Zwecke sollten Vorträge und Verhandlungen sein, die in einer Zeitschrift erscheinen sollten. Da sich jedoch selbst ein Jahr später noch immer keine Zeitschrift zur Veröffentlichung der Verhandlungen der Gesellschaft etabliert hatte, faßte Michelet den Entschluß, selbständig und ohne Rücksprache mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft zu handeln. Er edierte die Verhandlungen als Gespräche, wobei er die Gesprächsteilnehmer anonymisierte, indem er ihnen griechische Namen gab. Michelets Trilogie Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes 8 stellt somit ein überarbeitetes Gedächtnisprotokoll der Sitzungen der Philosophischen Gesellschaft in ihren Anfangsjahren dar. Das Vorgehen Michelets führte bei einigen Mitgliedern der Gesellschaft zu merklicher Verstimmung, Benary und Hotho verließen die Gesellschaft unter Protest, gesellten sich jedoch bald darauf wieder dazu. Eine 1854, also sechs Jahre nach der Revolution, von Michelet gehaltene Ansprache verdeutlicht sein und der Gesellschaft Verständnis von Philosophie, Wirklichkeit und Zukunft sehr plastisch: „Gestatten Sie mir aber zugleich, in wenigen Worten hier zunächst anzugeben, welche Philosophie uns zusammengeführt hat. Wir können ihr ein Janus-Gesicht zuschreiben; mit dem einen schaut sie in die Vergangenheit, mit dem andern in die Zukunft. Das erste Gesicht ist das, was Hegel im Sinne hatte, als er von der Eule der Minerva sprach. Es lebe 7

Mit weiteren Nachweisen. Vgl. auch Ottmann, S. 224-239. Michelet, 1844-1852, erschienen in drei Teilen: Erstes Gespräch. Ueber die Persönlichkeit des Absoluten, 1844; Zweites Gespräch. Der historische Christus und das neue Christentum, 1847; Drittes Gespräch. Die Zukunft der Menschheit und die Unsterblichkeit der Seele oder die Lehre von den letzten Dingen, 1852. 8

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Zweiter Teil: Michelet zuerst dieses Gesicht der Philosophie! [ . . . ] dachte schon Fichte höher von der Philosophie, indem er in seinen Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters die fünfte Epoche der Geschichte die Geschichte der Zukunft nannte: das Zeitalter der Vernunftkunst, worin die Menschheit die im vierten Zeitalter, in der Epoche der Vernunftwissenschaft, gewonnenen Einsichten nunmehr verwirklichen und alle ihre Lebensverhältnisse der Zukunft gemäss praktisch einrichten werde. So hat mein edler Freund [gemeint ist Cieszkowski M.M.] [ . . . ] von einer Philosophie der That gesprochen, die er sogar, im Gegensatze zu dem mehr der reinen Theorie hinneigenden Geiste der Deutschen, die Slavische Philosophie nannte. Ich selbst habe darum zum Grau in Grau malenden Nachtvogel den Hahnenschlag eines neu anbrechenden Morgens hinzuzufügen mir erlaubt. [ . . . ] Als vor sechs Jahren die Philosophie uns gerade dieses ihr verjüngendes Gesicht herauszukehren anfing, da stockten unsere Versammlungen, indem der Strudel des wirklichen Lebens der Einsamkeit der nur denkenden Betrachtungsweise Zeit und Ort geraubt hatte. Wenn unsere göttliche Sophia uns nunmehr wieder ihr alterndes Gesicht zuwendet, und die Eule ihre erlahmten Flügel von Neuem zu schwingen beginnt, erfreuen wir uns auch des Guten, das in dieser Wendung des Schicksals enthalten ist! Beschränken wir uns vorläufig mit Cicero darauf, einer Philosophie zu huldigen, die mit Absicht die Menge flieht und mit wenigen Richtern zufrieden ist, bis sie in bessern Zeiten uns auch wieder durch das Krähen des Morgenvogels zu neuer Thatkraft weckt (S. 202-203)."

Zur selben Zeit, als die Philosophische Gesellschaft noch immer kein regelmäßig erscheinendes Publikationsorgan ins Leben gerufen hatte, wurde 1855 die französisch - italienische Zeitschrift La Ragione gegründet. Zwischen deren Autoren und der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin entstand ein reger geistiger Austausch. U m den Standpunkt Michelets richtig einzuschätzen, gerade auch hinsichtlich der Frage, wie hegeltreu oder gegenwartskritisch er eingestellt ist, sollte sein ausdrückliches Wohlwollen für Ausonio Franchi, den Herausgeber der La Ragione , berücksichtigt werden, über den Michelet schreibt: „Er stellt sich [ . . . ] auf den Feuerbach'sehen Standpunkt, und erkennt im Gefühl eine instinetartige Vernunft, als das immanente Göttliche, als das eigentliche Wesen des menschlichen Geistes selbst: Symbole aber seien nur dichterische Personificationen der Gottheit für rohe Geister nach dem Bildungsgrade jedes Volks; und wenn sie, veraltend (rancido), nicht mehr für die Gesellschaft passen, muss man zur Erschaffung anderer übergehen. Die Menschheit ist das erhabenste Phänomen oder Symbol der Gottheit; jeder Mensch ist Gottes Bevollmächtigter, das ist die Religion der Menschheit (S. 208-209)." Hervorzuheben ist an dieser Passage Michelets explizite Bezugnahme auf Feuerbach, der durchweg 9 als typischer Vertreter der Links- bzw. Junghegelianer ausgegeben wird. Es zeigt sich hier erneut, daß die Theorie der Schulspaltung in zwei verfeindete Lager, ein fortschrittliches und aufrührerisches gegenüber einem rückschrittlichen und die Wirklichkeit als vernünftig preisenden, sich nicht durchhalten läßt. Denn Michelet als Vorsitzender der Philosophischen Gesellschaft, die als Hort des Rechtshegelianismus gilt, zeigt offenkundig weder Berührungsängste zum

9 Vgl. Erster Teil B.I.

Α. Zur Person Michelets

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Linkshegelianismus, noch Voreingenommenheit gegen Modifikationen an Hegels Position. Das gleiche Bild zeigt sich bei der Betrachtung von Michelets Haltung gegenüber einem 1869 abgehaltenen Kongress der Freidenker. Die Philosophische Gesellschaft und mit ihr Michelet befürwortete und unterstützte diese Zusammenkunft. In der Einladung zu dieser Versammlung wird ausgeführt, sie sei absichtlich auf den Tag der Eröffnung des durch Pius IX. berufenen Konzils in die Rom nahegelegene Stadt Neapel gelegt, „so würde man am 8. December 1869 in den zwei wichtigsten Städten Italiens Altar gegen Altar errichtet sehen, - den Altar der Vernunft und der Wahrheit gegen den Altar der Verblendung und der Lüge." 10 Im Mai 1860 wurde endlich die längst überfällige Zeitschrift der Philosophischen Gesellschaft ins Leben gerufen, die auf Michelets Vorschlag hin Der Gedanke heißen sollte. Zusätzlich zu seinem Amt als Vorsitzender der Philosophischen Gesellschaft übernahm Michelet auch die Schriftleitung dieser Zeitschrift. Letztere mischte sich durchaus in das politische Leben ein, und zwar keineswegs immer wohlwollend gegenüber den aktuellen Entwicklungen. So wurde beispielsweise 1863 eine Ausgabe des Der Gedanke polizeilich beschlagnahmt. Überhaupt sah sich Michelet aufgrund seiner politischen und religiösen Haltung einigen Anfeindungen ausgesetzt, von denen hier zwei ausgeführt werden sollen. 1847 wurde er beschuldigt, er habe in einem Zeitungsartikel der Regierung vorgeworfen, die Glaubensfreiheit zu unterdrücken. Es folgte eine Disziplinaruntersuchung, und Michelet mußte sich auf seinen Amtsverlust gefaßt machen. Schließlich beschäftigte man sich an höchster Stelle mit dem Fall: „Indessen wurde mir unmittelbar darauf eine Cabinetsordre des Königs vorgelesen, dass Derselbe, obwohl den Grundsätzen des Ministers durchaus beistimmend, doch in Hoffnung, dass der Michelet zu einer richtigem Würdigung seiner Amtspflichten gelange, die Vollziehung dieses Beschlusses solange in Gnaden aussetzen wolle, als derselbe Anlass zu neuem Einschreiten vermeide. Wo nicht, solle dann die Entlassung aus dem Amte ohne weiteren Aufenthalt erfolgen; und daraufhin sei ihm eine Verwarnung zu ertheilen (S. 367)."

Eine originelle Folge dieser Disziplinaruntersuchung gegen Michelet war, daß daraufhin die Strafgesetzgebung um einen Paragraphen bereichert wurde, nämlich um die als § 171 ins Strafgesetzbuch des deutschen Reiches übergegangene Vorschrift: „Wer erdichtete oder entstellte Thatsachen, wissend, dass sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staats-Einrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu 200 Thalern oder mit Gefängniss bis zu zwei Jahren bestraft."

Ein zweites Mal wurde Michelet wegen „öffentlicher Verhöhnung einer Einrichtung des Staates" angeklagt. Beanstandet wurden zwei Passagen seiner 1866 io Zitiert nach: Michelet, 1884, S. 216.

Zweiter Teil: Michelet

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öffentlich gehaltenen und dann auch gedruckten Rede Über Preussens Bestimmung und Aufgabe. 11 Zum einen sagt er darin, das Herrenhaus stünde wie eine Ruine des Mittelalters da, zum andern, das Herrenhaus sei eine so feudale Einrichtung geworden, daß „der Fortschritt der Gesetzgebung im Sinne der freiheitlichen Entwickelung vollkommen zum Stillstand gebracht wurde." Michelet verteidigte sich selbst vor Gericht. Und obwohl er keine Silbe des Vorgeworfenen zurücknahm, erreichte er doch seinen Freispruch, indem er mit feiner Ironie seine Aussprüche kommentierte: Er legte dar, es sei verfassungsgemäß gerade die Aufgabe des Herrenhauses, das konservative, besonnene, den Fortschritt mäßigende Element der Gesetzgebung zu sein. Insofern also anerkennt man die pflichtgemäße Erfüllung seiner Aufgaben, wenn man dem Herrenhaus Fortschrittsverhinderung nachsagt. Zum anderen beherberge das Herrenhaus nur zwei Stände des Mittelalters, und nicht wie ehedem drei, indem der Geistlichkeit darin kein Platz gewährt wird: daher sei es eine Ruine des Mittelalters zu nennen und kein vollständig erhaltenes Relikt (S. 378 ff.). Michelets wissenschaftlicher Werdegang ist dadurch geprägt, daß er bereits seit den vierziger Jahren kein hohes Ansehen mehr beim Unterrichtsministerium genoß. Daher war er um so stärker auf den Rückhalt bei Kollegen und Studenten angewiesen, auf den er sich auch nachdrücklich verlassen konnte. So besuchte Ferdinand Benary 1847 Michelet, als diesem die Amtsenthebung drohte, und teilte ihm im Namen etlicher Amtskollegen mit, daß sie im Falle einer Entziehung des Gehalts ihm dasselbe zu ersetzen beabsichtigen würden. Die Beliebtheit bei seinen Studenten stand bei Michelet ebenso außer Zweifel. Er berichtet, seine Zuhörer hätten ihn einst gebeten, einem damals bekannten Portraitisten Modell zu sitzen. Das so entstandene Werk schenkten sie ihm, während sie für sich selbst davon Drucke anfertigen ließen (S. 401 -402). In religiöser Hinsicht war Michelet geprägt von dem Bestreben Hegels, Religion und Wissen in Einklang zu bringen, indem die Religion in die Philosophie aufgehoben wird. Und „seitdem habe ich die Glaubenslehren immer nur als Sinnbilder philosophischer Wahrheiten verstehen können" (S. 270). Zusätzlich stand Michelet unter dem Einfluß der Saint-Simonisten. Während seiner Reise nach Paris 1829 lernte er dort Jules Lechevalier kennen, welcher später auch förmlich Mitglied der saint-simonistischen Sekte wurde. Zwischen beiden entwickelte sich eine anhaltende Freundschaft, Lechevalier hielt Gastvorlesungen in Berlin, Michelet in Paris. Nach Michelets Auffassung zeichnet sich diese Sekte durch folgende Merkmale aus: „Sie verlangte die Brüderlichkeit des Menschengeschlechts, die Gleichheit aller Menschen unter Ausschluss jeder Bevorzugung des Geschlechts und der Geburt: und wollte, dass alle socialen Einrichtungen die Verbesserung der moralischen, der intellectuellen und der physischen Existenz der zahlreichsten und ärmsten Klasse zum Zweck haben. Sie gliederte die Gesellschaft in die drei Klassen der Priester, der Gelehrten und der Industriellen, sich h Michelet , 1866 b.

Α. Zur Person Michelets

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hierin etwas an die Platonische Republik anschliessend. Die pantheistische Immanenz des Göttlichen, welche ihre Philosophen dem Volke vortragen sollten, stimmte ganz mit den Principien vieler deutscher Philosophen überein. Indem die Arbeiter durch erhöhten Kunstfleiss die materielle Arbeit selbst, wie alles Andere, als Künstler, zur Darstellung des Göttlichen erheben sollten, erweiterten sie die Theorie ihrer Gelehrten zur Praxis, zur Philosophie der That: zu dem, auf friedlichem Wege, in der Zukunft der wiedergeborenen Menschheit, herbeizuführenden irdischen Fortschritt (S. 270)."

Die saint-simonistische Position läßt nach dieser Darstellung eine starke inhaltliche Nähe zur Philosophie der Tat erkennen. Doch ging sie Michelet in einem Punkt einen Schritt zu weit. Denn Mittel zu den genannten Zwecken war den Saint-Simonisten insbesondere auch die Gütergemeinschaft. Michelet blieb immer skeptisch gegenüber solchen Ansätzen, er betrachtete diese Vorstellungen als schwärmerische Utopie. Seine Kritik stützte er insbesondere auf die Uberzeugung, die SaintSimonisten begingen den gleichen Fehler wie die Kommunisten, nämlich fälschlicherweise davon auszugehen, daß die Motivation zur freien Initiative des einzelnen Individuums in der Gesellschaft entbehrlich sei. 12 Michelet begrüßte und unterstützte die Auflehnung der Freisinnigen aller Bekenntnisse gegen die Unbeweglichkeit der Kirchen in den vierziger Jahren. So prangerte er in mehreren Zeitungsartikeln im November 184613 den Ausschluß von Dr. Rupp, Stifter der freien Königsberger Gemeinde, aus der evangelischen Kirche an. Ebenso beklagte er sich öffentlich darüber, daß bei Austritt eines Gemeindemitgliedes aus der Kirche die kirchlichen Güter bei der Gemeinde verbleiben, der Austretende also enteignet wird. Charakteristisch für Michelets Religionsphilosophie ist, daß er ein Denkbekenntniss in Glaubenssachen entwickelt. Dabei greift er den Wortlaut des christlichen Glaubensbekenntnisses auf und löst den Inhalt vollständig philosophisch auf, so daß die christliche Dogmatik insgesamt zu Symbolen transformiert wird. Er lehnt die christliche Religion auch in organisierter Form durchaus nicht ab („in ihrer wahren Idee verehre ich die Kirche als edelste aller Associationen"14), ist jedoch davon überzeugt, daß an ihrem Inhalt nur dasjenige wahr sein kann, was auch der spekulativen philosophischen Erkenntnis zugänglich ist. Er geht davon aus, daß sich das endliche Bewußtsein der Menschheit allmählich bis zu dem Punkte steigert, an welchem es sich identisch mit dem absoluten Weltgeist weiß. Jegliche Transzendenz Gottes wird dann hinfällig. Die Besonderheit der Erscheinung Jesu Christi sieht Michelet lediglich in seiner Vorreiterrolle: er war der erste Mensch, der sich als identisch mit Gott wußte. Indem das Absolute durch Christus als Mensch im Endlichen erschienen ist, wurde die Endlichkeit der Menschheit negiert 12 Michelet thematisiert seine ablehnende Haltung gegenüber Gütergemeinschaft und Sozialismus insbesondere in: Die gesellschaftliche Frage in ihrem Verhältnisse zum freien Handel: Michelet, 1849 b. 13

Vossische Zeitung, 11., 24. und 28. November 1846. 14 Michelet, William Ellery Channing, in: Noacks Jahrbücher 1848, Heft 4, S. 332.

Zweiter Teil: Michelet

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und somit die Entgegensetzung von Immanenz und Transzendenz aufgehoben. Hinsichtlich seines Geistes steht der Mensch, in seiner Gesamtheit als Gattung, auf der Stufe der Absolutheit. Diese Zusammenhänge sind gemeint, wenn Michelet seine häufig wiederkehrende Formulierung „ewige Persönlichkeit des Geistes" verwendet.15 Doch ist es für ihn auch hier nicht mit der Erkenntnis getan. Vielmehr wird der Einzelne nach Michelet, ganz auf Linie der Philosophie der Tat, nur dann nachhaltig ein Mosaiksteinchen des Absoluten, wenn er das Erkannte durch Taten zum Fürsichsein bringt. „Des ewigen Lebens im Geisterreiche erfreuen sich aber nur die Thaten des Einzelnen, durch welche er ein Ausdruck des allgemeinen Geistes geworden ist, indem er die Eine oder die andere Seite des Absoluten an sich selber und für die anderen zur Wirklichkeit gebracht hat." 16

Angesichts der oben erwähnten Gefahr, seiner Professur verlustig zu gehen, war Michelet stets gehalten, sich politisch maßvoll zu äußern. 17 Darüber hinaus aber entspricht es auch seinem Temperament, pragmatisch und Schritt für Schritt vorzugehen. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich merklich von dem lautstarken und maßlosen Auftreten der radikalen Linkshegelianer. In seinen politischen Forderungen ist Michelet stets Realist, niemals Fundamentalist. „Denn ich gab mich nicht dem Wahne hin, dass meine oder anderer Individuen oder Körperschaften Anregungen etwas über das Maass hinaus erwirken würden, das der König sich eben selber gesetzt hatte (S. 292)."

Seine als Zeitungsartikel konzipierte Schrift Unsere ständischen Verhältnisse wurde gleichwohl zensiert und ihr Druck verboten. Doch betont Michelet, daß dieser Artikel ein solcher war,

18

„in welchem ich keineswegs die idealen Wünsche eines Philosophen für die vollkommenste Verfassung aussprach, sondern nur das vorbrachte, was ich als praktischer Staatsbürger unter den gegebenen Verhältnissen im gegenwärtigen Augenblicke für ausführbar hielt (S. 288)."

Im Mai 1848 veröffentlichte er seine Schrift Zur Verfassungsfrage 19. Auch hierin schlägt er ein behutsames und allmähliches Vorgehen vor. Er stellt beispielsweise eigens heraus, daß für den Moment in Europa eine erbmonarchische Staatsspitze 15

Vgl. zu Michelets Religionsphilosophie den Exkurs Zweiter Teil A. II. 1. Michelet, Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes, ohne genaueren Stellennachweis zitiert in: Michelet, 1884, S. 281. 17 Hierin liegt eine Parallele des persönlichen Schicksals Michelets mit demjenigen Hegels: auch Hegel mußte seit den Karlsbader Beschlüssen im Falle zu staatskritischer Äußerungen stets mit Zensur oder sonstigen Sanktionen rechnen. Die umstrittene Frage, ob Hegel staatskritischer und religionskritischer formuliert hätte, wenn ihm keine Sanktionen gedroht hätten, kann hier nicht thematisiert werden. 16

18

Unveröffentlicht. 19 Michelet, 1848 b.

Α. Zur Person Michelets

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noch nicht entbehrlich sei. In der genannten und einigen weiteren Schriften dieser Zeit unterbreitet er Vorschläge für die anzustrebende Verfassung. Darin gliedert sich der Staat in drei Gewalten, die gesetzgebende, die ausübende und die verwaltende. Die Jurisdiktion an die Stelle der Verwaltung zu setzen, wie heute üblich, hält er für unzureichend. Michelet argumentiert, die richterliche Tätigkeit sei lediglich ein Zweig der Verwaltung, es müsse jedoch sichergestellt werden, daß die gesamte Verwaltung unabhängig von den übrigen Gewalten agieren kann. Michelet kandidierte zweimal erfolglos für ein Abgeordnetenmandat auf lokaler Ebene. Seinen Mißerfolg führte er darauf zurück, daß seine Forderungen „wohl damals noch zu weit" gingen, „um sogleich durchdringen zu können" (S. 307). „Später", bekennt er etwas resignativ, „als ich einsah, dass ich durch öffentliches Reden und Schreiben doch nicht mehr den abschüssigen Lauf der Staatsbewegung zu hemmen vermochte, gab ich das vergebliche Bemühen meistentheils auf, verfolgte aber nichts destoweniger in der Stille meines denkenden Geistes die politische Bewegung bis auf den heutigen Tag mit der gespanntesten Aufmerksamkeit (S. 309)."

Festgehalten werden muß hier, daß Michelet sich von der nationalistischen Stimmung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts niemals anstecken ließ, wie es einigen Hegelianern dieser Zeit teils zurecht vorgeworfen wird. 20 So schreibt er beispielsweise, der Fürst 21 habe, nachdem er diesem den ersten Band seiner Philosophiegeschichte 1879 übersendet hatte, in seiner Antwort zu bedenken gegeben, er bedauere, daß deutsche Bücher in lateinischen Buchstaben gedruckt würden. Hierauf entgegnete Michelet brieflich, „es seien die Mönche gewesen, welche bei ihrem Abschreibe-Geschäfte die Lateinischen Buchstaben nur mit allerhand eckigen Schnörkeln verziert und entstellt hätten; und daraus seien allmälig die deutschen Buchstaben entstanden, die sonst keine Eigenthümlichkeiten besässen. Man könne also höchstens sagen, diese Schrift sei in der Folge national geworden; aber dazu sei der Ausdruck National überhaupt zu schade. Die Lateinischen Schriftzeichen seien dagegen international geworden (S. 321)."

Die Völkerverständigung, das Zusammenwachsen der gesamten Menschheit zu einer den Erdball umspannenden Familie, war für Michelet stets der übergeordnete Zweck, dem die Bildung selbständiger Nationen als Mittel dient. Bei einer Feierlichkeit anläßlich des Jahrestages der Februar-Revolution 22 erläutert Michelet in einem Trinkspruch, wie er sich das Verhältnis von Nation und Völkergemeinschaft vorstellt: „ [ . . . ] la première condition du bien-être d'un peuple est l'indépendance de sa nationalité. [ . . . ] Dès quelles auront conquise, elles devront se railler â la grande famille que forme 20 Vgl. Ottmann, S. 236. 21

Eine genauere Erklärung wird von Michelet nicht angegeben. Michelet gibt kein Jahresdatum an. Vermutlich fand die Feier etwa Mitte der fünfziger Jahre statt, denn er erwähnt, daß Napoleon III. bereits Kaiser war. 22

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Zweiter Teil: Michelet l'humanité. Je vous invite donc â boire un verre â la fraternité de tous les peuples de la terre (S. 348). "

Michelet geht davon aus, daß die Herausbildung einzelner Nationalitäten eine Notwendigkeit im Fortgang der geschichtlichen Entwicklung darstellt, jedoch nicht deren letztes Ziel sein kann. Die Zwistigkeiten, Eifersüchteleien und Kämpfe zwischen den Nationen müssen ausgetragen werden. Sie finden dann jedoch auch ihren Abschluß in einem allgemeinen weltweiten Frieden, der die dritte, nachgeschichtliche Epoche der Menschheit prägen wird. 23 Michelet setzte sich nicht nur theoretisch, sondern als Philosoph der Tat auch praktisch für das Wohl des gesamten Volkes, also gerade auch der niedrigeren Klassen, ein. So trat er beispielsweise dem 1848 gegründeten Berliner Localverein für das Wohl der arbeitenden Klassen bei, der sich insbesondere die gegenseitige Unterstützung bei sozialen Härtefällen sowie die Partizipation der Mitglieder aller Gesellschaftsschichten an den geistigen Gütern der Menschheit zum Ziel setzte. Der Verein stellt, nach heutigem Sprachgebrauch, ein typisches Beispiel subsidiärer Gesellschaftsstruktur und bürgernaher Politik dar. Er nahm sich vor, aus eigenen Kräften Spar- und Prämienkassen, Unterstützungs- und Altersversorgungskassen zu errichten, weiterhin Schulen zu gründen und Fortbildungsveranstaltungen für Erwachsene anzubieten sowie Kindertagesstätten einzurichten. Die hochgesteckten Ziele ließen sich nur teilweise verwirklichen. 1853 wurde der Verein von Seiten des Staates kurzerhand aufgelöst, nachdem die Mitglieder sich geweigert hatten zu erklären, daß sie keine Demokraten seien. Den Weg zur Lösung der sozialen Frage 24 sieht Michelet in der Ermöglichung und Förderung des freiwilligen Vereinslebens, worunter er sich eine Arbeit und Freizeit verbindende Genossenschaftsstruktur vorstellt. „Freiheit der Persönlichkeit im sittlichen Bunde, also das freiwillige Vereinsleben, muss an die Stelle des Autoritätsprincips treten, und bildet die richtige Mitte zwischen dem absoluten Gehenlassen der Völkswirthschaft der Manchesterschule, - und der polizeilichen Bevormundung des Staatssocialismus, oder der Social-Demokratie, die Beide auf Dasselbe hinauslaufen (S. 357-358)."

Den sozialistischen und sozialdemokratischen Ansätzen traut Michelet, wie diese Passage zeigt, nicht zu, die sozialen Probleme zu lösen. Er geht vielmehr davon aus, daß Politik stets die Freiheit und Bürgernähe in den Vordergrund zu stellen habe. Eine Mißachtung der persönlichen Freiheit, wie er sie den Sozialisten und Sozialdemokraten unterstellt, lehnt er selbst unter der Voraussetzung ehrenwerter Motive als ungerechtfertigt ab. In der erwähnten Schrift schlägt Michelet drei Schritte vor, welche die sozialen Probleme seines Erachtens lösen werden: Erstens ist die durch Arbeitsteilung ent23 Vgl.ZweiterTeilC.III. 3. 24 Vgl. insbesondere: Michelet, Die Lösung der gesellschaftlichen Frage, 1849 c.

Α. Zur Person Michelets

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standene Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt dadurch zu überwinden, daß einerseits alle Arbeitsbeschränkungen, Zunftzwang und Handelshindernisse aufgehoben und die Tüchtigen dadurch in die Lage versetzt werden, ihre individuellen Fähigkeiten marktgerecht zu verwerten; andererseits dadurch, daß die Partizipation des Arbeiters am Betrieb durch Förderung genossenschaftlicher Vereine ermöglicht wird. Für Michelet gehen die Ungerechtigkeiten im Verhältnis zwischen Arbeit und ihrem Wert insbesondere auf die bestehenden Beschränkungen zurück, die das Handels- und Erwerbsleben verzerren und behindern und dem Arbeiter die Möglichkeit nehmen, seine Arbeitskraft stets existenzsichernd einzusetzen. Zweitens müsse der Arbeiter abgesichert und chancengerecht behandelt werden durch Unterricht, Erziehung und Fortbildung, durch Darlehenskassen sowie durch Alters-, Kranken-, Unfall-, Witwen- und Waisenversicherungen. Drittens müsse der lokale Verein eine persönliche Einbindung bieten durch gemeinsame Geselligkeit und gemeinsamen Genuß. „Die auf diese Weise herbeigeführte Lösung der gesellschaftlichen Frage wird in jedem Einzelnen immer mehr und in immer schärfern Zügen die ewige Persönlichkeit des Geistes, die ich auch als das Ziel der religiösen und politischen Entwickelung betrachtete, erwachsen lassen. So stehen diese drei ausseramtlichen und der eigentlichen Wissenschaft ferner liegenden Bestrebungen meines praktischen Lebens [ . . . ] in inniger Beziehung zu einander, und dadurch wiederum zu meiner Berufswissenschaft, welche ja, wie Cicero sehr richtig bemerkte, alle Wissenschaften durch ein enges Band mit sich und untereinander verknüpft (S. 359)."

Im Abschlußkapitel seiner Autobiographie gibt Michelet eine Selbsteinschätzung seines eigenen Charakters. Bemerkenswert ist die formale Gestaltung, die er hier wählt: Das Denken in zu vermittelnden Gegensätzen ist ihm für sämtliche Gegenstände des Bewußtseins die einzig richtige Methode, so daß er auch seinen individuellen Charakter dialektisch entwickelt. Dies liest sich beispielsweise folgendermaßen: „Für ein sehr gutes Mittel, die Gesundheit zu erhalten, habe ich endlich von jeher die Arbeitsamkeit angesehen, jedoch auch bei ihr, besonders in den letzten Zeiten, die Mässigkeit inne gehalten, weil, wenn man sich auch in der Jugend und in der Kraft des Mannesalters etwas bieten kann, man im Alter doch haushälterischer verfahren muss, um durch Erholung und Unterbrechung die Erschöpfung zu vermeiden. [ . . . ] Indem die Arbeit aber vorzugsweise den Sieg des Geistes über das Natürliche darstellt, so bin ich durch ihre Betrachtung an dem Punkt angelangt, wo ich den Uebergang von meinem natürlichen Character zu meinem geistigen zu machen habe. Während die bereits geschilderten Eigenschaften meines Characters, wie Bescheidenheit, Zorn, Empfindlichkeit, wenn auch schon immer geistiger Natur, doch mehr auf der natürlichen Grundlage erbaut sind: so stammen diejenigen Eigenschaften, welche ich jetzt an mir zu beobachten und zu beschreiben Willens bin, mir aus allen den Umständen her, die im Leben auf mich eingewirkt haben, wenn auch bei ihnen wiederum die natürliche Seite, als ein mitwirkendes Moment, keineswegs ausgeschlossen ist (S. 531-532)."

Michelet ist sich des Umstandes, die ganze Welt durch die dialektische Brille zu sehen, durchaus bewußt. Er betrachtet diese Eigenart als Beleg dafür, daß er seine

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Zweiter Teil: Michelet

Wissenschaft nicht nur akademisch betreibt, sondern als ganzer Mensch davon ergriffen ist. Michelet beschreibt sich selbst als grüblerischen, zurückhaltenden, wißbegierigen Menschen, der zwar von einer „selbstquälerischen" (S. 536) inneren Dialektik geprägt ist, bei dem aber gleichwohl Leichtlebigkeit und der Optimismus, eine Versöhnung herbeiführen zu können, stets die Oberhand behielt. Der Auffassung Lübbes, Michelet sei seit dem Scheitern der Revolution ein verbitterter Mensch geworden, dem der ausbleibende Sieg der Vernunft alle Kraft geraubt habe,25 kann nicht zugestimmt werden. Michelet versank nicht in Resignation, sondern schöpfte immer wieder neuen Mut: „Die wiederholten Annäherungen der Geschichte an meine Ideen, von denen sie sich dann aber auch ebenso oft wiederum entfernte, [ . . . ] Hessen zwar zuweilen auch den melancholischen Zug in den Vordergrund treten. Ich war dann im Stande, Napoleon's Wort: Cette vieille Europe m'ennuie, noch bis zum Ausruf zu steigern: La vieille Europe me dégoûte, und [ . . . ] die Blicke über den Ocean nach einer neuen Welt zu senden. Doch bald gewann die sanguinische Hoffnung wieder das Uebergewicht (S. 533-534)."

Darüber hinaus ist Lübbe entgegenzuhalten, daß Michelet ein sehr langes aktives Leben beschieden war, welches er auch bis zum Alter von 85 Jahren für stetige und sehr umfangreiche Publikationen nutzte, und daß er im Alter von 66 Jahren eine zweite Ehe einging, aus welcher erneut Kinder hervorgingen. Er blieb bis zu seinem Lebensende wohlgemut. „So beschliesse ich die Schilderung meines Characters nicht mit jenen Missklängen, die ich wohl als nur augenblickliche und vorübergehende Auswüchse betrachten darf, sondern mit der Aussöhnung der Gegensätze, die ich nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Leben stets zur Richtschnur meines Handelns gemacht habe (S. 546)."

II. Werke Begünstigt durch sein langes Leben und motiviert durch seine der Arbeitsethik verpflichtete calvinistische Prägung hinterläßt Michelet ein sehr umfangreiches Werk. In formaler Hinsicht wählt er stets eine breite und detaillierte Darstellungsweise. Sein emphatischer Stil mag zwar nach heutigen Kriterien teils etwas unwissenschaftlich wirken, dient aber jedenfalls dem Verständnis. Insofern ist es zweifelsohne ein bleibendes Verdienst Michelets, den seinerzeitigen Wissensstand der Philosophie, aus hegelianischer Perspektive, sehr gut nachvollziehbar dargelegt und interpretiert zu haben. Seinem Urteil „Darin stimmen Freunde und Feinde überein, dass ich mit der Nettigkeit, dem Bilderreichthum, dem Gehobensein meines Styls auch inhaltlich die Wissenschaft zu allgemeinerem Verständniss gebracht habe, ohne darum ihrer Gründlichkeit zu schaden (S. 524)."

ist sicherlich beizupflichten. 25 Lübbe, 1963, S. 77-84.

Α. Zur Person Michelets

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Seine wichtigsten Werke werden hier in der Reihenfolge der von ihm selbst geplanten Gesamtausgabe vorgestellt. Die der vorangehenden Darstellung 26 zugrundeliegende, über 500 Seiten umfassende Autobiographie Wahrheit aus meinem Leben27 bietet, neben einer Überfülle persönlicher Erlebnisse, zugleich auch eine überblickartige Zusammenfassung seiner philosophischen Position. Michelet gelingt es hier in hohem Maße, hervorzuheben, auf welche Leistungen er stolz zurückblickt, ohne dabei selbstgerecht zu wirken. Sein vierbändiges System der Philosophie als exacter Wissenschaft 28 ist als Pendant zu Hegels Enzyklopädie zu verstehen. Dieses zusammenfassende Spätwerk hält er für das reifste all seiner Elaborate. „Das Werk ist ein Handbuch der gesammten Philosophie der Gegenwart" (S. 443). Er erhebt hierbei ausdrücklich nicht den Anspruch, ein wirklich neues System geliefert zu haben, denn seiner Überzeugung nach liegt nun die Gesamtheit aller denkbaren Systeme bereits vor und die Prinzipien der Wahrheit sind erschöpft: daher sei die Erfindung eines neuen Systems unmöglich geworden. „Wie die Helden in der Weltgeschichte aussterben, so bald die Masse des Volks selber die Fortbildung seines Staatslebens in die Hand nimmt: so ist jetzt in der Geschichte der Philosophie die Wendung eingetreten, dass wir keiner Helden mehr bedürfen, welche die Grundlagen der Wissenschaft immer neu gestalten wollen, und so immer wieder von Vorne anfangen müssen (S. 444)."

Michelets bescheidener Anspruch, in seinem System lediglich Bekanntes referiert zu haben, wird indes teilweise übertroffen. Zwar orientiert sich die Gliederung an Hegel, indem von der Logik über die Naturphilosophie zur Geistphilosophie fortgeschritten wird. In der Logik wird der Ausgang beim Gedanken genommen, woraus apriorisch die Kategorien entwickelt werden. Die Logik führt zur Verbindung der analytischen mit der synthetischen Methode, woraus sich die dialektische oder spekulative Methode ergibt. Mit dem Übergang in die Naturphilosophie legt sich der Gedanke in die Wirklichkeit aus, so daß die Gegensätze nicht bloß im Kopf, sondern auch in der Sinnenwelt vorkommen. Die Naturphilosophie mündet ihrerseits in die Erkenntnis, daß alles Seiende doch Gedanke ist. Die Geistphilosophie leistet die Versöhnung von Logik und Natur, indem der Gedanke hier ein bewußter, im Gegensatz zur Logik ein selbst gedachter, sich selbst wissender geworden ist. Geist ist somit seiender Gedanke oder sich selbst denkendes Sein. 26 Vgl. Zweiter Teil Α. I. 27 Michelet, 1884. 28 Michelet, 1876-1881. Bd. I: Des Systems der Philosophie erster Theil, enthaltend Logik, Dialektik, Metaphysik, 1876; Bd. II: Des Systems der Philosophie zweiter Theil, enthaltend die Naturphilosophie auf dem Grunde der Erfahrung, 1876; Bd. III: Des Systems der Philosophie dritter Theil, enthaltend die Philosophie des Geistes, 1878; Bd. IV: Des Systems der Philosophie vierter Theil, enthaltend die Philosophie der Geschichte. Erste Abtheilung: Die Urwelt, der Orient, Griechenland, 1879. Zweite Abtheilung: Rom, das christliche Europa, Amerika, die Nachwelt, 1881. 7 Moser

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Zweiter Teil: Michelet „Dieser Punkt des Geistes ist erst das geistige Atom, welches die Physiker ahneten: das wahrhaft Untheilbare, das Individuum, welches sich selbst aus seiner Abgeschlossenheit in die moralische Welt des Rechts und des Staats erhebt; um endlich in Kunst, Religion und Wissenschaft zum allgemeinen Ich, zum absoluten Geiste zu werden, der an jedem Einzelnen, als die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit, zum Durchbruch kommt (S. 448)."

Das wesentlich Neue in seiner Darstellung besteht nun darin, daß er diesem systematischen Durchlauf, anders als Hegel, eine Philosophie der Geschichte folgen läßt, welche er als empirisches Äquivalent zu den vorher entwickelten bloßen Gedankengängen ansieht, und durch welche erst die Versöhnung von Spekulation und Erfahrung, von Induktion und Deduktion, von Apriori und Aposteriori geleistet wird. Diese Vermittlung von Theorie und Praxis in der Geschichtsphilosophie, die bei Hegel nur unzureichend stattfindet, indem dieser die Geschichtsphilosophie zum Teilstück der Philosophie des objektiven Geistes macht, betrachtet Michelet als höchste Stufe der Philosophie und als endgültige Probe für die Wahrheit des ganzen Systems. Michelets Neubestimmung der Position und Bedeutung von Geschichte im philosophischen System ist es in erster Linie, wodurch er Hegels Theoretizismus überwindet und die Einwirkung der Philosophie auf den weiteren Verlauf der Welt ermöglicht. In dieser Öffnung der Philosophie Hegels zur wirklichkeitsgestaltenden Praxis, die auf nachtheoretische Weise bewußt die Vernunft in die objektive Welt hineinträgt, bekennt sich Michelet zur Philosophie der Tat. In seiner zweibändigen Monographie Naturrecht oder Rechtsphilosophie 29 sind die Differenzen gegenüber Hegel am deutlichsten zu beobachten. Dieses Werk wird unten im Kapitel über Rechtsphilosophie gesondert behandelt.30 Unter den philosophiegeschichtlichen Werken Michelets sind herauszuheben: erstens die zweibändige Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel, erschienen 1837 und 1838; sowie seine Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den gegenwärtigen Kampf Schelling s mit der Hegeischen Schule, erschienen 1843. Die letztgenannte Schrift setzt sich aus Vorlesungen zusammen, welche Michelet im Sommersemester 1842 an der Berliner Universität hielt. Die Geschichtsphilosophie stellt Michelet in seinem ebenfalls zweibändigen Werk Die Geschichte der Menschheit in ihrem Entwickelungsgange seit dem Jahre 1775 bis auf die neuesten Zeiten dar. Im Gegensatz zu Hegel behandelt Michelet hierbei gerade auch Amerika, das Land der Zukunft, wie das im Titel genannte Datum dem Leser bereits andeutet, „weil dies das Jahr war, in welchem die Amerikaner zum ersten Male seit ihrem Aufstande gegen das Mutterland eine Schlacht, nämlich die bei Lexington, gewannen" (S. 153). Die Studie entstand 1859/60, wobei Michelet darauf hinweist, daß seine Philosophie der Geschichte im Rahmen des Systems sowohl eine Kurzfassung als insbesondere auch eine Fortführung der 29

Michelet, 1866 a (beide Bände sind in diesem Jahr erschienen). 30 Vgl. Zweiter Teil Β. I.

Α. Zur Person Michelets

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Geschichte der Menschheit darstellt, da zwischen Fertigstellung der ausführlicheren Geschichte der Menschheit und Erscheinen des Systems ein Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren liegt. In den Sitzungen der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin vom 26. November 1859 und 31. März 1860 wurde die Geschichte der Menschheit zum Gegenstand einer ausgiebigen Diskussion gemacht. 3 1 In dieser umreißt Michelet sehr prägnant, wie er sich Geschichtlichkeit vorstellt und was Weltgeist für ihn bedeutet: „Schon in der Urzeit ist das Sichselbstwissen des absoluten Geistes, wenn auch nur im Allleben der Gattung als allgemeines Fühlen der Einzelnen und in den Priestern als einigen erleuchteten Sehern und Auslegern der Religionsbücher vorhanden. In der geschichtlichen Zeit tritt dies absolute Bewusstsein in wenigen Helden auf. Im Gegensatz zu der blinden, trägen, im alt Hergebrachten verharrenden Menge, bringen sie, durch die Neuheit ihrer Ideen und die Thatkraft ihres Willens, die in der vorgeschichtlichen Zeit noch gar nicht vorhandene Entwicklung der Weltgeschichte in Fluss. Erst in der Vollendung der nachgeschichtlichen Zeit wird dieser Unterschied der Einzelnen gegen einander fortfallen: der Pulsschlag des allgemeinen Lebens, der Hauch der Geisterwelt in allen Einzelnen, als die ewige Persönlichkeit des Absoluten, erscheinen. Dieser Fortschritt, der im Verhältnis der Einzelnen zu einander eintritt, ist jedoch nicht eine Veränderung des absoluten Selbstbewusstseins selber, das sich in allem Wechsel der Zeiten gleich bleibt, sondern nur ein Wechsel des individuellen Wissens. [ . . . ] Es ist mir nicht im Entferntesten eingefallen, den Weltgeist im Sinne einer transcendenten Einwirkung zu nehmen. Wenn den Thaten der Einzelnen die Zufälligkeit immer mehr oder weniger beigelegt werden muss, so bleibt doch das endliche Ergebniss aus dem Spiele aller dieser convergirenden Zufälligkeiten die mit Nothwendigkeit sich durchführende Vernunft der Sache, die allgemeine Vernunft. Unter den Thaten des Weltgeistes kann ich also schlechterdings nichts Anderes verstanden haben, als die Entwickelung des Menschengeistes selbst in der Geschichte, der durch die freien Handlungen der Einzelnen zum Ziele der vollendeten Darstellung der Gattung auch in ihnen gelangt." 32 Unter den religionsphilosophischen Werken Michelets ist hervorzuheben Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes mit ihren drei Bänden Ueber die Persönlichkeit des Absoluten, 1844; Der historische Christus und das neue Christenthum, 1847, sowie Die Zukunft der Menschheit und die Unsterblichkeit der Seele oder die Lehre von den letzten Dingen, 1852. Diese Trilogie stellt die Niederschrift von Unterhaltungen innerhalb der Philosophischen Gesellschaft dar, wobei zur Anonymisierung den Diskussionsteilnehmern griechische Namen gegeben werden. Höhepunkt der Epiphanie ist wohl das Denkbekenntnis, in welchem Michelet das christliche Glaubensbekenntnis philosophisch interpretiert. Eine ausführlichere Darlegung der religionsphilosophischen Position findet sich weiter unten. 3 3

31 Der Gedanke, Bd. I, Heft 3, S. 231 -237. 32 Der Gedanke, Bd. I, Heft 3, S. 236. 33 Vgl.ZweiterTeilA.II. 1. 7*

Zweiter Teil: Michelet

100

Die Verehrung Michelets für seinen Lehrer Hegel bringt er in einer Studie anläßlich Hegels hundertsten Geburtstages 1870 zum Ausdruck: Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph. Eine Jubelschrift. Zugleich läßt der Titel aber auch die Modifikation Michelets an Hegels System erkennen: Hegel wird nicht als der Nationalphilosoph apostrophiert, wie anderweitig zu beobachten,34 sondern als Weltphilosoph. Darin drückt sich nicht nur Michelets Ansicht aus, daß Hegel weltweit Bedeutung habe, sondern auch seine Auffassung, derzufolge nicht schon im Nationalstaat, sondern erst im Weltbürgertum die höchste Stufe gesellschaftlicher Organisation erreicht sei. Unter den Gelegenheitsschriften Michelets sind insbesondere die „populären", wie er sie selbst nennt (S. 494), hervorzuheben. Sie entstanden in zeitlicher Nähe zur Revolution 1848. Er verfolgt in diesen Vorträgen insbesondere das Ziel, die Philosophie ins Leben einzuführen, wie es ja auch als einer der Zwecke der Philosophischen Gesellschaft festgeschrieben wurde und den Zielen der Philosophie der Tat entspricht. 35 So erschienen Zur Unterrichts - Frage. Nebst Darstellung der vom Ministerium gegen den Verfasser geführten Disciplinar - Untersuchung. 36 Zur Verfassungsfrage. sammlungen gewidmet 37

Den Mitgliedern

Eichhorn

der beiden verfassungsgründenden

Ver-

Ueber Einrichtung der Bezirks - Vereine. Rede gehalten am 25. April 1849 im geselligen Verein der Stadt - Bezirke 28a und b.38 Die gesellschaftliche Frage in ihrem Verhältnisse zum freien Handel. Rede, gehalten in der Sitzung des Freihandelsvereins vom 12. Juni 1849.39 Die Lösung der gesellschaftlichen

Frage. 40

Vorschläge zur Umgestaltung der deutschen Universitäten.

41

Die selbständig erschienenen Schriften Michelets umfassen insgesamt ca. 11.000 Druckseiten. Hinzu kommen zahllose Veröffentlichungen in Zeitschriften, vor allem in Der Gedanke, dessen Schriftleiter Michelet war. Als Anhang zur vorliegenden Studie findet sich ein vollständiges Schriftenverzeichnis Michelets.

34

Rosenkranz, 1870: Hegel als deutscher Nationalphilosoph.

35

Vgl. Erster Teil C. sowie Zweiter Teil Α. I. 6 Michelet, 1848 a. 37 Michelet, 1848 b. 3 » Michelet, 1849 a. 39 Michelet, 1849 b. 40 Michelet, 1849 c. 3

41 Michelet, 1850.

Α. Zur Person Michelets

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1. Exkurs: Michelets „Denkbekenntniss" Michelets Denkbekenntniss in Glaubenssachen komprimiert seine Ansichten über das Verhältnis des Weltgeistes zum endlichen Geist. Diese Thematik entwickelt Michelet aus religionsphilosophischen Überlegungen heraus. Da der ursprüngliche Streitpunkt der Hegelianer, der auch zur Einteilung in die linke und rechte Schule führte, ein religionsphilosophischer war, und die weitergehenden Überlegungen der Hegelianer in der Religionsphilosophie ihren Ausgangspunkt haben, ist diese Thematik insbesondere zum Verständnis der Genese der Grundhaltung Michelets recht aufschlußreich. Eine zentrale These der Philosophie der Tat ist die Annahme einer sehr weitgehenden Einsichts- und Gestaltungskraft des menschlichen Geistes. Bis zu Zeiten Hegels hätte es als gotteslästerlich und daher als per se abwegig gegolten, die überlegene Allmacht Gottes gegenüber dem menschlichen Geist in Frage zu stellen. In der Zeit nach Hegels Tode, und durch dessen scheinbar alles erklärende Philosophie bedingt, war jedoch die Bewußtseinslage in Deutschland reif für die Debatte, welcher Art die Defizienz des Menschen im Vergleich zu Gott sei, oder ob sie eventuell gar nicht bestehe. Diese Debatte wurde auf eine für heutige Begriffe sehr unwissenschaftliche, vielmehr hitzige Weise geführt. Die Kontrahenten argumentierten sämtlich emotionsgeladen, die Ruhe zum Verfassen einer ausgewogenen Monographie nahm sich kaum ein Autor. Die Diskussion vollzog sich vorwiegend in Zeitschriften und Zeitungen, man verfaßte Artikel und Gegenartikel, die häufig eher den Charakter von Kampfschriften, von Bekenntnissen, von Anwürfen und Verteidigungen, als den einer sachlichen Studie hatten. Behandelt wurden meist Einzelfragen, wie sie sich gerade aus dem aktuellen Stand der Debatte heraus ergaben. Auch Michelet macht hier keine Ausnahme. Daher fallen seine religionsphilosophischen Beiträge stilistisch aus seinem sonstigen Werk heraus. Michelet erreicht bei weitem nicht die souveräne, deduzierende, systematische Darstellungskraft, die er bei anderen Themen, und vor allem bei später verfaßten Schriften, beweist. So überrascht es nicht, daß Michelets wichtigste religionsphilosophische Schriften, die Trilogie Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes, nichts weiter als überarbeitete Gedächtnisprotokolle von tatsächlich abgehaltenen Debatten innerhalb der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin darstellen. Die Redebeiträge der Diskutanten sind sehr pathetisch, teils von geradezu beschwörendem Charakter. Einem jeden der Beteiligten merkt man sein persönliches Ringen mit der Problematik an. Für die nachfolgende Darstellung der religionspilosophischen Position Michelets ergibt sich aus dem Gesagten einerseits die Folge, daß seine Gedanken nicht so systematisch erscheinen wie seine sonstigen Darstellungen. Andererseits bietet sich die Möglichkeit an, durch ein wörtliches Zitieren ein wenig von der Atmosphäre zu vermitteln, welche damals die religionsphilosophischen Debatten prägte. Michelets Denkbekenntnis, schon vom Titel her eine auf das Glaubensbekenntnis

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der Theisten gemünzte Programmschrift, wird zu diesem Zwecke hier in seinen eigenen Worten wiedergegeben. Michelet versucht, den Inhalt des Glaubensbekenntnisses, soweit es Gottes Sohn betrifft, philosophisch aufzuheben: „Ich glaube an Jesus Christus, Gottes des Vaters eingeborenen Sohn, unsern Herrn. D.h. ich weiß, daß die ewige Persönlichkeit des Absoluten, als der Vater, sich in dem Menschen Jesus zuerst für das Bewußtsein des Menschengeschlechts als Person gegenständlich gemacht hat, weil Christus zuerst in der Entwicklung der Weltgeschichte die absolute Gegenwart der göttlichen Person als das eigenste Wesen seiner eigenen Individualität erfaßte. Auch ist dadurch die Einzigkeit seiner Sohnschaft bedingt. Denn werden auch wir Söhne des Absoluten genannt, so stammt uns dies Recht doch nur daher, daß wir alle unsere Unterschiede ganz in diese Erscheinung der absoluten Persönlichkeit versenken: d. h. im Sohne Eins mit dem Vater werden. Ungeachtet der Mannigfaltigkeit der Glieder der Gemeinde, sind sie dennoch sammt und sonders nur der eingeborene Sohn Gottes, die einheitliche und darum adäquate Epiphanie seiner ewigen Persönlichkeit." Unser Herr ist Christus aber, theils insofern wir uns als endliche Person wissen, die der absoluten unterworfen ist, ohne sich schon in freier Einheit mit ihr gesetzt zu haben [ . . . ] theils insofern Christus eben unser Führer gewesen ist, der uns dazu angeleitet hat, die Einheit der absoluten und der endlichen Person zu begreifen. Der empfangen ist von dem heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria. Der Idee nach hat der Geist des Menschengeschlechts, der Weltgeist die historische Gestalt Christi als eine nothwendige gezeugt. Wenn eine Umwälzung in der Geschichte an der Zeit ist, dann ist es nie die That eines Individuums, solche Gestalten hervorzuzaubern. Die Individuen sind, unbeschadet ihrer individuellen Freiheit, dem absoluten Geiste gegenüber, blinde Werkzeuge. Der Geist schafft sich seine Mittel aus eigener Machtvollkommenheit, legt die Keime einer neuen Zeit in den jungfräulichen Schooß der Zukunft, um, nachdem sie den Samen empfangen, den vom Geiste gezeugten Sohn zu gebären. So ist Christi Geist dem Geiste nach vom allgemeinen Geiste empfangen. Da dies aber, wie wir früher sahen, die Mittelursachen nicht ausschließt: so ist mit der Behauptung, Joseph habe Christus dem Fleische nach gezeugt, die Zeugung durch den heiligen Geist nicht geläugnet. [ . . . ] Der Geist der Weltgeschichte bediente sich also vielmehr der leiblichen Zeugung als eines Mittels zum Zwecke. [ . . . ] Erhellt nun für sich, daß die Empfängnis des Geistes nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste zu nehmen ist, so wird dies auch beim zweiten Gliede unseres Artikels der Fall sein müssen. In seiner Endlichkeit selbst ist Christus als das Dasein der absoluten Persönlichkeit vorgestellt; die Tilgung der Sündhaftigkeit an dieser endlichen Person hat also, als bewußtlose Voraussetzung, die Gestalt des Entstehens derselben sogar ohne sinnliche Begierde annehmen müssen. [ . . . ] Hätte Christus zwei Naturen, wenn nicht zur Zeugung nach dem Geiste die Zeugung nach dem Fleische hinzukäme? Beide Naturen machen aber in ihm, wie in uns Allen, nur eine Person aus; denn dies Fürsichsein des Unendlichen im Endlichen bildet eben den Begriff der Person. Die göttliche Idee für sich, ohne ihre Verwirklichung im menschlichen Subjecte, ist eine bloße Allgemeinheit: wie die menschliche Natur ohne ihre Erhebung in den absoluten Geist nur die Abstraktion der Schranke, Negation und Sündhaftigkeit. Allein jene Einheit im Entgegengesetzten, allein diese untrennbare Gemeinschaft der Naturen, deren keine fehlen kann, ist die ewige Persönlichkeit des Absoluten. [ . . . ] Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ist. Hier tritt das rein Factische einer äußern Geschichte in das Gebiet des Geistes herein. Hier ist von keinem

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Wissen, sondern in der That von einem Glauben die Rede, insofern gar kein Grund vorhanden ist, diese auch von Profan-Scribenten, wie Tacitus, bestätigte Thatsache, an die sich die christliche Mythe lehnte, in Zweifel zu ziehen. Im religiösen Glauben erhält aber Christi Tod noch eine ganz andere Bedeutung: nämlich die einer der Gerechtigkeit Gottes genügenden Genugthuung für die Sünden des Menschengeschlechts. Dies soll nun freilich im wahren Sinne der Kirche nicht heißen, daß ohne Reue und Belehrung der Sünder gerechtfertigt sein könne. Die orthodoxe Lehre will auch wohl nicht, oder kann nicht wollen, daß ein Unschuldiger für die Sünden der Schuldigen büße. Die Erlösung von der Sünde durch Christi Opfer kann nur dies bedeuten, daß allerdings die beschränkte menschliche Natur als solche ungenügend ist, die vollkommene Ausgeburt des Absoluten an sich darzustellen, sondern das Thun des Absoluten selbst es ist, welches am Negativen das Negative zerbricht, und so das Endliche zur adäquaten Darstellung des Unendlichen macht. Denn wenn das Endliche das Absolute zu seinem innersten Wesen hat, so hat eben darum auch das Absolute das Endliche an ihm selbst, um sich in seinem Andern durch Negation desselben wahrhaft für sich zu setzen. [ . . . ] Gleichwie aber in Einem Menschen, nach dem Apostel, alle Menschen gerechtfertigt sind, so haben sie auch in Einem gesündigt, d. h. die allgemeine Schwäche des Fleisches ist vorgestellt als der Fehltritt eines Einzelnen. [ . . . ] Es versteht sich aber von selbst, daß die Allen zu Gute kommende Kreuzigung, als Gnade, oder objektives Thun des Absoluten, nur wirksam ist, wenn sie mit der subjektiven Kreuzigung zusammentrifft. [ . . . ] Zur Hölle gefahren, am dritten Tage auferstanden von den Todten, gen Himmel gefahren, sitzet zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters. Durch den Tod ist das Endliche negirt, verschwunden, in das Reich des Unsichtbaren, wie Piaton sagt, eingegangen. Als erste Negation wäre dies Versenken alles Endlichen ins Absolute nur Heidenthum; die Substanz besteht allein in allen Accidenzien. Der wahre Tod aber, um den es sich im Christentum handelt, ist der Tod des Todes, dessen Stachel die Sünde ist. Das Endliche verschwindet nur als Endliches, um in seinem eigenen Bestehen nur das Unendliche an sich zu zeigen; es ist also nur das Negative an ihm getilgt. Diese Negation des Negativen ist die Wiederherstellung des Positiven, das im Endlichen durchbrechende Absolute selbst; - die Apotheose des Endlichen, das durch sich hindurch, als ein geläutertes Gefäß, bis ins Herz der Gottheit schauen läßt. Dies, was Allen im Cultus begegnen soll als ihre eigene innere Erfahrung, ist an Christus vorgestellt als äußere Geschichte. Dieser Glaube selbst ist das Allgemeine und Bleibende; daß aber das sinnliche Geschehen ein sinnliches Geschehen in einem bestimmten Zeitmomente bleiben, und dennoch eine geistige Allgemeinheit sein soll, - das ist der Widerspruch, den die Vorstellung harmlos übersieht, und an dem die rechte Seite würgt, ohne ihn zwingen zu können. Christi Geist fährt also nicht empirisch zum sinnlichen Himmel auf, denn er ist nicht im Räume; sein Leib nicht, denn er dient dem Gesetz der Schwere. Hat Christus nur einen Scheinleib gehabt, wie Einige wollen, so wird er zum Gespenst. Uberhaupt läßt sich eine sinnliche Himmelfahrt nach dem Kopernicanischen Systeme gar nicht mehr construieren; denn der Himmel ist unten so gut wie oben, und was jetzt oben ist, ist bald wieder unten. Der conséquente Christianismus, um die leibliche Himmelfahrt zu retten, müßte also eigentlich alle künftigen Galilei ihre Kopernicanischen Ketzereien nochmals abschwören lassen; und wer weiß, ob man ihnen nicht binnen Kurzem vorwerfen wird, zur Untergrabung der Kirche zu tief auch in die Naturwissenschaften eingedrungen zu sein. Hat nicht bereits eine von hohen Gönnern geschützte „literarische Zeitung" ausgesprochen, auch die Naturwissenschaften müßten auf Offenbarung begründet werden, weil nur sie die Frage

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nach dem Ursprung der Menschen lösen könne? Würden unsere neulichen Reden über diesen Punkt vor solcher Zensur bestehen können? Das neue Christentum begnügt sich überall mit der symbolischen Bedeutung der Dogmen. In den Himmel des Geisterreichs also ist Christus gefahren, sein einzelnes Selbst zum Allgemeinen Selbst auferstanden: und so die Einseitigkeit der Vorstellung corrigirt, daß dies Individuum als ein sinnliches das Absolute sei; es ist es vielmehr nur als aufgehobenes Dieses, d. h. im Geiste. Daher hat sich Christus bei seinen Lebzeiten auch nicht anbeten lassen, und mußte, wie er selbst sagt, den Tod leiden, ehe denn er eingehen konnte in seine Herrlichkeit. Zur Rechten Gottes sitzt er für die Vorstellung, welche die Idee der ewigen Menschwerdung, als die absolute Persönlichkeit des Vaters, so lange von der erschienenen Persönlichkeit des Fleische gewordenen Logos trennen, und diese nur neben jene setzen mußte, bis, durch die wahre Bedeutung der Lehre vom Geiste, der historische Christus, mit der ewigen Menschwerdung verschmolzen, in jedem Individuum von Neuem stirbt und aufersteht, wie es im Symbol des Abendmahls vorgestellt ist: so daß nur Eine Person im Himmel und auf Erden lebe, der heilige Geist der Gemeinde, in welchem alle Menschen Ein Heiliger sind, - „das wahre und einzige Geisterreich, das es giebt", wie unser Meister spricht. Von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Todten. So lange die Vorstellung noch an der Person Christi, als an einer zeitlichen Menschwerdung festhält, die einmal vor bald 2000 Jahren in Palästina und nicht wieder Statt gefunden hat, so lange ist Christus noch nicht wiedergekommen. Nicht aber mit sinnlichen Geberden wird seine Wiederkunft begleitet sein, wie schon Lucas lehrt. Als allgemeiner Geist kommt Christus wieder, wenn das Bewußtsein erstarkt und unter den Menschen wird Wurzel geschlagen haben, daß die wahre Persönlichkeit des Menschen das adäquate Dasein des Absoluten ist. Er richtet die Todten; denn die Thaten der Ewigkeit, die sie vollbrachten, sind in der Muße der Erinnerung aufbewahrt, und führen im Urteil der Nachwelt, als dem Ausspruch des allgemeinen Weltgeistes, ein ewiges Leben. Aber auch die Lebendigen richtet Christus, denn der allgemeine Geist ist die Richtschnur alles Denkens und Handelns; und wer ihm nicht gemäß ist, ist dadurch schon gerichtet, da der allgemeine Geist dann in ihm nur erscheint als zertrümmernd das Negative. [ . . . ] Fassen wir aber die Zeit, in welcher wir leben, genauer ins Auge: so fragt sich, wie weit die Aufgabe derselben, die wir bereits angegeben, gelöst oder in ihrer Lösung begriffen ist. Als dritte Periode der mittlem historischen Zeit, soll sie daran arbeiten, die Geschichte aufzulösen, den Himmel auf Erden wiederherzustellen und das Reich des Geistes in einer allgemeinen Kirche für alle Ewigkeit zu gründen." 42

Die angefühlte Passage diente sowohl der Verdeutlichung von Michelets Ausgangsposition als auch seiner missionarischen Einstellung zu philosophischen Streitfragen. Die Kapitel über Rechtsphilosophie (B.) sowie über Geschichtsphilosophie (C.) stellen zwei Themengebiete dar, auf welche Michelet dieses von den Grundsätzen der Philosophie der Tat geprägte Philosophieverständnis in Detailarbeit angewendet hat.

42 Michelet, 1847, S. 45 ff.

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I I I . Rezeption Die Arbeiten Michelets wurden wenig zur Kenntnis genommen. Während seiner Lebzeiten fand sich zwar meist ein Rezensent, der die Neuerscheinungen ankündigte, doch handelt es sich dabei überwiegend nicht um Besprechungen, sondern um bloße Präsentationen. Es waren durchweg Gesinnungsgenossen, meist Mitglieder der Philosophischen Gesellschaft, die sich der Werke Michelets annahmen, und meist waren es auch deren eigene Publikationsorgane {Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Noacks Jahrbücher, später Der Gedanke), in welchen diese Artikel erschienen. Außerhalb der Hegelschen Schule oder über seine Lebzeiten hinaus fand keine nachhaltige Auseinandersetzung mit Michelet statt. Gleichwohl kamen und kommen immer wieder Autoren auf Michelet zu sprechen, in jüngster Zeit verstärkt, und heben diesen oder jenen Aspekt seiner Philosophie heraus, meist einen rechts- oder geschichtsphilosophischen. In Ermangelung einer systematischen Rezeption wird die nachfolgende Darstellung dieser Bezugnahmen auf Michelet schlicht chronologisch geordnet. Bemerkenswert ist vor allem, wie unentschieden die Fachwelt damals wie heute der Frage gegenübersteht, ob Michelet nun ein rechter, ein mittlerer oder ein linker Hegelianer war. Heinrich Leos Kampfschrift gegen den Linkshegelianismus stellt Michelet 1839, also in der heißen Phase der religionsphilosophischen Zwistigkeiten, als typischen Vertreter des Linkshegelianismus dar. Am Beispiel von Michelets Schriften zeigt Leo seine Anklagepunkte gegen dieses Lager auf. 43 Engels wählt in seinem bereits zitierten, im gleichen Jahr verfaßten szenischen Spottgedicht Michelet als typischen Vertreter der linken, Leo als Repräsentanten der rechten Hegelianer. 44 Michelets Schüler Pasquale D'Ercole blieb seinem Lehrer zeitlebens bewundernd verbunden. Von ihm stammen zwei Schriften, die zumindest dem Titel nach als weiterführende Literatur zu Michelet auftreten. Diese beiden Artikel fassen einige Bereiche des Werkes Michelets zusammen. Der 1870 erschienene Artikel 45 über Michelets Rechtsphilosophie rekonstruiert den allgemeinen Teil von Michelets Naturrecht, 46 welcher den Begriff der Rechtsphilosophie, ihr Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft, die Geschichte der Rechtsphilosophie sowie die Willenstheorie behandelt. Es handelt sich um eine Eloge des Schülers auf seinen Lehrer, eine nennenswerte Kommentierung oder gar Kritik bietet D'Ercole nicht. Diese Schrift kann eher nur als Exzerpt von Michelets Text aufgefaßt werden, da keine eigenständige Auseinandersetzung mit Michelet stattfindet. Der etwas umfangreichere, 1894 veröffentlichte Artikel Carlo Lodovico Michelet e l'Hegelianis« Leo, S. 4 - 2 4 ; vgl. Erster Teil Β. II. 1. 44 Engels, S. 124 f. 45 D'Ercole, 1870. 46 Michelet, 1866 a.

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mo bringt ebenfalls keine neuen Informationen zu Michelet. D'Ercole faßt darin Michelets damals schon erschienene Autobiographie 47 zusammen und ergänzt sie um einige persönliche Erlebnisse. Heraushebenswert ist allenfalls, daß Michelet hierin als capo della Sinistra bezeichnet wird. 48 1871 veröffentlicht Ludwig Boumann in Der Gedanke eine Studie zu Michelets Rechtsphilosophie. Diese als Rezension gedachte Schrift behandelt jedoch nicht die gesamte Rechtsphilosophie Michelets, sondern nur einen kleinen Ausschnitt davon. Die vom Autor angekündigte Fortsetzung dieser Rezension ist nie erschienen. Wie D'Ercole ist Boumann ein Freund und Bewunderer Michelets, entsprechend ist auch diese Veröffentlichung eher eine Anpreisung denn eine kritische Rezeption. Soweit darin Wertungen ausgesprochen werden, beschränkt sich Boumann darauf, einige Punkte herauszuheben, die Michelet besonders am Herzen liegen, und in welchen er sich von Hegel abhebt: „Wir empfangen in dem fraglichen Werke die reife Frucht eines vierzigjährigen, äusserst fleissigen und gründlichen Studiums. [ . . . ] Wenn Hegel von der Rechtsphilosophie sagt, sie „male ihr Grau in Grau": so wird man dagegen von Michelet's Rechtsphilosophie behaupten dürfen, dass in ihr alle Gestaltungen des Rechts, so zu sagen, mit saftigen, lebhaften Farben „gemalt" seien. Zugleich unterscheidet sich Michelet's Standpunkt von dem Hegels dadurch, dass, während der Letztgenannte es für „thöricht" erklärt, „zu wähnen, irgend eine Philosophie könne über ihre gegenwärtige Welt hinausgehen": Michelet dagegen, obgleich wir, wie er sich ausdrückt, „noch mitten in der Bewegung nach dem Endziel der Weltgeschichte, nach der Verwirklichung alles Vernünftigen, alles Rechten uns befinden", nichts destoweniger sich erkühnt, den Gipfel jenes zu erklimmenden Berges vollständig abzumessen, - mit andern Worten, sehr bestimmt zu lehren, wie die Welt sein soll; wogegen nach Hegel die Rechtsphilosophie keine andere Aufgabe hat, als, nach vollendetem Bildungsprocess einer staatlichen Wirklichkeit, diesen Process zu begreifen, also nicht weissagend vorwärts, sondern nur rückwärts zu blicken." 49

Boumann hält Michelet insoweit für einen bedeutsamen Vertreter der Philosophie der Tat, als er dessen geschichtsphilosophische Konzeption, die in aktive Gestaltung der Zukunft mündet, als wichtigsten Punkt herausstellt. Zur Frage, welchem Flügel des Hegelianismus Michelet zuzuordnen sei, äußert sich Boumann nicht. Johann Eduard Erdmann geht in seiner ausführlichen Behandlung der Hegelschen Schule ebenfalls mehrfach auf Michelet ein. 50 Er weist darauf hin, daß insbesondere Michelets Rechtsphilosophie sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrem Inhalt etliche Änderungen gegenüber der Rechtsphilosophie Hegels aufweise (§ 344). Weiterhin bemerkt er zu Michelet, dieser reihe sich in eine Gruppe von Hegelianern ein, die fast nur als Philosophiehistoriker zur Kenntnis genommen 47 48 49 50

Michelet, D'Ercole, Boumann, Erdmann,

1884. 1894, S. 50. S. 202 f. 1878.

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worden seien, obwohl sie doch auch als eigenständige Philosophen zu betrachten wären (§ 347). Aus dem Jahre 1893 stammt ein weiterer Artikel, der zumindest indirekt mit Michelet zu tun hat. Raffaele Mariano kommentiert hierin die Entstehungsgeschichte und den Inhalt eines aus Michelets Feder stammenden Artikels, den er auszugsweise ins Italienische übersetzt hat. Doch auch diese Schrift 51 bringt, wie diejenigen von D'Ercole und Boumann, keine kritische Auseinandersetzung mit Michelet. Friedrich Überweg charakterisiert Michelet als einen Hegelschüler, der sich in besonderem Maße durch ein orthodoxes Festhalten an Hegels Lehre ausgezeichnet habe: „Michelet gehörte zu den treuesten Schülern Hegels und ist bis zu seinem Tode stets auf das entschiedenste mit nie wankendem Mute für die Lehren seines Meisters eingetreten." 52 Willy Moogs Monographie 53 über die Hegelschule enthält eine Passage zu Leben und Wirken sowie einige weitere Erwähnungen Michelets. Hervorgehoben wird, daß er jahrzehntelang treu für die Hegeische Philosophie gestritten und durch sein langes Leben eine Kontinuität zwischen Hegels Lebzeiten und dem Ende des Jahrhunderts hergestellt habe. Er sei zum Zentrum der Schule zu rechnen, dürfe jedoch nicht als unselbständiger Nachbeter betrachtet werden. Seine hauptsächliche Neuerung gegenüber Hegel bestehe darin, die Geschichtsphilosophie anders, nämlich als Abschluß und Krönung des gesamten Systems angeordnet zu haben (S. 411 -413). Daß Michelet kein orthodoxer Hegelianer sei, sieht Moog dadurch bestätigt, daß Heinrich Leo gerade Michelets religionsphilosophische Position als mustergültig für den von ihm bekämpften Junghegelianismus hinstellt (S. 438). 54 Walter Kühne brachte 1938 eine Biographie und Anthologie Cieszkowskis heraus, die auch auf Michelet zu sprechen kommt. 55 Das Werk enthält eine zehnseitige, auszugsweise Biographie Michelets bis zum Jahre 1843, als die Philosophische Gesellschaft zu Berlin gegründet wurde. Im Vordergrund steht für Kühne die Religionsphilosophie Cieszkowskis, Michelet dagegen wird nur erwähnt, soweit er für die Entwicklung von Cieszkowskis diesbezüglichen Ansichten bedeutsam ist. Auch auf die Auseinandersetzung des rechten und linken Lagers der Hegelianer wird nur eingegangen, insoweit es sich um eine religionsphilosophische Debatte handelte. Einer Stellungnahme zu Michelet enthält sich Kühne. Die Schrift hat, indem sie Textpassage an Textpassage reiht sowie durch den umfangreichen Abdruck privater Briefwechsel zwischen Michelet und Cieszkowski, eher den Charakter einer Dokumentation als den einer Interpretation. 51

Mariano. 52 Überweg, 1923, S. 211. 53 Moog. 54 Vgl. Erster Teil Β. II. 1. 55 Kühne.

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Karl Löwith 5 6 beschäftigt sich eine knappe Seite lang mit Michelet. Dieser stehe, so das Fazit, auf der Grenze zwischen Alt- und Junghegelianismus, indem er durch sein Bild des einen neuen Morgen verkündenden Hahnes, das er der Eule der Minerva aus Hegels Rechtsphilosophie zur Seite stellt, sich selbst exakt zwischen Hegel und Marx positioniere. Hermann Lübbe bezeichnet Michelet als einen „linken Rechten'4.57 Einige der konkreten politischen Forderungen Michelets werden von Lübbe zusammengetragen, so die Forderung nach freien, geheimen Wahlen ohne Zensus und die Forderung nach Abschaffung des Geburtsadels (S. 72 f. ). In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts habe eine Verbitterung und Verspießerung eingesetzt, die Michelet als schwere Enttäuschung empfunden habe. Im kleinen Kreise der von ihm gepriesenen Bürgervereinshäuser habe sich Michelets Wirken fortgesetzt. „Der Sieg der Vernunft wurde zum Inhalt von Trinksprüchen. [ . . . ] Verbittert starb er, 92jährig, 1893 zu Berlin als letzter der alten Generation" (S. 81). Nach Jürgen Gebhardt nimmt Michelet eine Mittlerposition zwischen den beiden Generationen der Hegelschule ein. 58 Horst Stukes Studie zur Philosophie der Tat enthält eine etwas ausführlichere Beschäftigung mit Michelet. 59 Stuke hebt Michelets geschichtsphilosophischen Ansatz hervor, welcher der Philosophie die Fähigkeit zur Gestaltung der Zukunft zuspreche (S. 63-64). Im Gegensatz zu Hegel begnüge sich Michelet nicht mit einer nachträglichen Betrachtung der Weltgeschichte. Vielmehr deute er Hegels Lehre vom Zweck der Weltgeschichte als Verkündigung einer neuen Weltordnung. Er sehe eine neue Geschichtsepoche heraufziehen, in welcher die Menschheit all ihre Verhältnisse mit Bewußtsein selbst vernünftig gestalten wird. Es bestehe eine merkliche Parallele zu Hegels Interpretation der französischen Revolution, über die er sagt, daß „der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt, und die Wirklichkeit nach diesem erbaut." 60 Doch bei Hegel stehe dieser Ansatz in Widerspruch zu der rein rückblickenden Funktion der Geschichtsphilosophie, während Michelet der Geschichtsphilosophie auch eine Rolle in der aktiven Zukunftsgestaltung zuweise. Der Menschengeist habe den Weltgeist als das eigene Wesen und die wahre Person des Menschen erfaßt. Daher würden künftig „alle Einzelnen, ihres Zieles bewußt, diesen allgemeinen Geist in ihrem Denken und Handeln als ihren eigenen Geist zur Darstellung bringen. [ . . . ] Wir sind den Kinderschuhen der Weltgeschichte entwachsen, wo die Völker nur naturwüchsig in dunklem Drange einem unbewußten Ziele entgegenstrebten (S. 69-71)." 6 1

56 57 58 59 60

Löwith, 1950, S. 77 f. Lübbe, 1963, S. 71; vgl. auch Lübbe, 1962, S. 15. Gebhardt, 1963, S. 119. Stuke, 1963. Hegel, Bd. XI, S. 557.

61 Stuke zitiert hier: Michelet, 1859/60, S. 585 f. sowie S. VI.

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Stuke erwähnt auch die Differenzen Michelets gegenüber Hegel in der Religionsphilosophie. Während der Meister Philosophie und Religion als inhaltsgleich ansehe, behaupte Michelet einen nicht nur formalen, sondern auch einen materiellen Unterschied zwischen beiden. Die absolute Wahrheit werde nach Michelet durch die spekulative Philosophie nicht nur auf die adäquateste Weise begriffen, sondern überhaupt zum erstenmal ganz und als solche offenbar und evident. Der erste Schritt sei daher, die Vorstellungen der Religion in den denkenden Begriff der Philosophie zu erheben, der zweite Schritt müsse sein, aus diesem Begriff erneut eine Vorstellung zu erzeugen, also den vernünftig erkannten Gehalt erneut in eine religiöse Anschauungsweise umzusetzen. Dies sei die Aufgabe der künftigen Vernunftreligion, des neuen Christentums (S. 72-73). Stuke resümiert über Michelet, seine Auffassung stehe dem linkshegelianischen Radikalismus an Bedeutung nicht nach. „Im Gegenteil! Sie eigentlich ist es, die zur „Geburtsstätte" der Philosophie der Tat wird" (S. 74). „Seine Aufnahme und Weiterführung der Hegelschen Philosophie würde eine eigene Untersuchung lohnen" (S. 69). In einem von Stuke neun Jahre später verfaßten Wörterbuchartikel über Hegelianismus62 ist erneut vergleichsweise ausführlich von Michelet die Rede. „Michelet bezog eine entschieden liberale, mitunter radikale, gegenüber frühsozialistischen Gedankengängen aufgeschlossene und letztlich (1848) konsequent republikanische Position. [ . . . ] Aus dem Wirken der Philosophischen Gesellschaft ragt Michelet durch sein beharrliches Bemühen heraus, die spekulative Philosophie für die theoretische und praktische Bewältigung der Probleme und Bewegungen der Zeit fruchtbar zu machen und sie im produktiven Sinne als Gedankenform ihrer zur Zukunft gewandten Gegenwart zu bewähren (Sp. 1027 ff.)."

Bei Nicholas Lobkowicz findet Michelet als Gesinnungsgenosse Cieszkowskis Erwähnung. Beide seien sich einig gewesen über die Notwendigkeit, den Hegelianismus in eine weltverändernde Waffe zu verwandeln. 63 Johann Mader erwähnt Michelet im Rahmen einer Aufzählung von Rechtshegelianern, wobei er ihn Göschel, Gabler, Hinrichs und Rosenkranz zur Seite stellt. Ihre gemeinsame Uberzeugung habe in der Annahme bestanden, daß die Lehre Hegels unmittelbar praktisch werden könne. 64 Henning Ottmann beschäftigt sich über fünf Seiten mit der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin und im Rahmen dessen auch mit Michelet. 65 Michelets Standpunkt sei geprägt von einem Schwanken zwischen Kapitulation vor dem hegelfeindlichen Klima seiner Zeit einerseits, und einer Trotzhaltung gegen die neu aufkommenden Strömungen des Materialismus, Szientismus und Neukantianismus andererseits. In Michelets persönlicher Geschichte spiegelt sich nach 62 63 64 65

Stuke, 1974. Lobkowicz, S. 205. Mader, 1975, S. 13. Ottmann, S. 234-239.

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Ottmann der Niedergang seiner hochgesteckten Ziele und Erwartungen. Man müsse Michelet, wie der ganzen Autorenschaft von Der Gedanke, zugute halten, einer Ansteckung durch die nationalistischen und chauvinistischen Tendenzen der Zeit widerstanden zu haben. Da in Europa die geschichtliche Entwicklung nicht gemäß Michelets Hoffnung verlaufen sei, habe er seinen Blick resigniert von der Heimat abgewandt, und statt dessen in fernen Teilen der Erde nach Bestätigung für seine Theorie gesucht. Domenico D'Orsis 1986 erschienene, knapp kommentierte Anthologie zu Michelet und Sträter betont, daß Michelet ganz verschiedene Einordnungen innerhalb der Hegeischen Schule erfahren habe.66 So hätten ihn einige Autoren als links, andere als rechts, dritte als Vertreter des Zentrums bezeichnet. DOrsi selbst taxiert Michelet als halb Alt- und halb Junghegelianer, der den ursprünglichen Hegelianismus mit dem Neohegelianismus verband. Indem er Hegels Auffassung von der Nachträglichkeit der Philosophie gegenüber der Wirklichkeit dialektisch umschlagen lasse in ein Vorauseilen, befände er sich zwischen Hegel und Marx (S. 20). Man greife zu kurz, wenn man ihn auf eine rein apologetische und epigonale Rolle reduzieren würde (S. 23). Michelet und Cieszkowski vereine das Streben nach einer neuen Philosophie der Geschichte, zentriert um eine Philosophie der Tat, welche die hegelianische Perspektive korrigiere oder geradezu umkehre, indem sie sich einer radikalen Erneuerung der politischen Ordnung öffne. Michelet schaue ebenso sehr in die Zukunft wie Cieszkowski, ohne dabei aber die Erinnerung an die Vergangenheit zu verlieren. Die Philosophie der Tat sei genauso stark von Michelet wie von Cieszkowski geprägt (S. 28-31). Vittorio Hösles Monographie über Hegel geht recht spezifisch auf Michelet ein. 67 Gemeinsam mit Rosenkranz wird Michelet als der treueste Hegelschüler bezeichnet. Er sei zwar nicht als schöpferischer Philosoph zu betrachten, doch als Nachlaßverwalter habe er scharfsinnige und intelligente Kleinarbeit geleistet, die sehr wohl der Beachtung wert sei (S. 14). Auch Hösle erwähnt Michelets Vorschlag, die Eule der Minerva aus Hegels Rechtsphilosophie um den Morgenruf des Hahnes zu ergänzen (S. 437). Michelet habe in sehr systematischer Weise versucht, Hegels Philosophie dahingehend zu verändern, daß dessen Zukunftsblindheit und Theoretizismus vermieden werden könne. Diese Maßnahmen Michelets seien allerdings nicht logisch abgestützt, sondern nur auf die Realphilosophie beschränkt, und daher nur ad-hoc-Korrekturen (S. 453). In Hegels Konstruktion sei eine Einwirkung der Philosophie auf die Geschichte nicht möglich, da sie als Teil des absoluten Geistes oberhalb und außerhalb der im objektiven Geist angesiedelten Weltgeschichte stehe. Daher sei die Universalgeschichte Hegels in Wahrheit nur eine Teilgeschichte, unter Außerachtlassung des absoluten Geistes.68 Michelet erkenne und korrigiere diese Einseitigkeit. Er entwerfe richtigerweise eine neue Konstruk66 D'Orsi. 67 Hösle, 1987 a. 68 Vgl. Erster Teil A.

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tion, in welcher auch die drei Sphären des absoluten Geistes auf den Geschichtsverlauf Einfluß haben. Hierdurch sehe Michelet die Voraussetzungen geschaffen, die Zukunft vernünftig und den philosophischen Einsichten gemäß zu entwerfen (S. 455). „Allerdings ist Michelet von einem für das späte 19. Jahrhundert kennzeichnenden, geradezu naiven Optimismus beseelt - er hält den Sieg der Vernunft für ausgemacht, bewundert Amerika als das Land der Zukunft, das die Realisierung des Endzwecks der Vernunft entscheidend beschleunigen werde. [ . . . ] dennoch, scheint mir, kann eine kritische Prüfung von Hegels „Enzyklopädie" von Michelets systematischer Neuordnung der Geschichtsphilosophie nur lernen. Michelets Argument, daß Hegels Geschichtsphilosophie den objektiven wie den absoluten Geist voraussetze, ist zutreffend; und zutreffend ist auch seine Forderung, die Geschichtsphilosophie nach einer Theorie des objektiven wie desabsoluten Geistes zu behandeln (S. 456 f.)."

In einem im gleichen Jahr erschienenen Artikel über Hegels Rechtsphilosophie 69 stellt Hösle ebenfalls Michelets geschichtsphilosophische Korrekturen an Hegels Konstruktion vor. Sein Resümee lautet dort: „Michelets Kritik an Hegel besticht" (S. 226). In dieser Studie bezeichnet Hösle Carl Ludwig Michelet als „Hegels fortschrittlichsten Schüler" (S. 201, Anmerkung). Dies ist bemerkenswert, da er doch in seiner Monographie Michelet als den „treuesten" Hegelschüler anführt. 70 Offenbar ist auch ein Hegelkenner wie Hösle unentschieden, wie Michelet vor dem Hintergrund der herkömmlichen Auffassung der Schulteilung taxiert werden muß - ein weiteres Indiz für die Notwendigkeit einer Neuklassifizierung des gesamten Hegelianismus. Das von Christoph Jermann herausgegebene Werk über die Hegeische Rechtsphilosophie erwähnt Michelet im Kapitel über die bürgerliche Gesellschaft. Jermann erläutert knapp einige konkrete Gedanken Michelets zur Ausgestaltung des Staates aus dessen zu Revolutionszeiten veröffentlichten Schriften. Zusammenfassend lautet sein Urteil: „Kaum bekannt hingegen ist, daß Hegels direkter Schüler Michelet ebenfalls als einer der bedeutendsten Vertreter des Sozialstaatsgedankens angesehen werden muß." 71 Wolfgang Eßbachs soziologische Studie zum Hegelianismus sieht Michelets Verdienst vorrangig darin, daß er dem „Ende der Philosophie" eine gute Seite abzugewinnen vermöge. Indem nach Michelets Uberzeugung über Hegels System nicht hinauszukommen sei, sei nun endlich der Prinzipienstreit beigelegt und es müsse fortan nicht immer wieder von vorne angefangen werden, sondern vielmehr könne nun eine kontinuierliche Entwicklung und Ausformung des als vernünftig Erkannten stattfinden. 72 Eßbach zitiert Michelet: „Weit entfernt, daß es mit der Philosophie zu Ende geht, fängt sie, können wir sagen, erst jetzt recht an." 73 69 Hösle, 1987 b. 70 Hösle, 1987 a, S. 14. 71 Jermann, S. 179. 72 Eßbach, S. 116.

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Zweiter Teil: Michelet

Elisabeth Weisser-Lohmann schließt sich dem unentschiedenen Urteil Lübbes74 an, Michelet sei ein „linker Rechter", der den „Ubergang zwischen Alt- und Junghegelianern" repräsentiere. 75 Bei Domenico Losurdo finden Michelets Gedanken zur sozialen Frage sowie zur Wirtschaftsordnung Erwähnung. Er klassifiziert ihn als „Vertreter der Rechten" 76 , in einer früheren Schrift gar als „Hüter der Hegelschen Orthodoxie". 77 Die Hegelianismusstudie von Lawrence Stepelevich dagegen sieht Michelet wieder als Grenzgänger: „Karl Michelet [ . . . ] stood in the 1840s on the dividing line between old and young Hegelians." Michelet sei bestrebt gewesen, die „hostile brothers" der beiden Lager zu versöhnen, doch sei er dabei erfolglos geblieben.78 Olaf Brieses Untersuchung 79 zur politischen Philosophie während der Revolution von 1848 erkennt in Michelet den neben Karl Rosenkranz treuesten der bedeutenden Hegelianer (S. 104), „der, ohne die Verdienste des Meisters anzutasten, im Grunde dem Flügel der Junghegelianer zuneigte" (S. 109). Auch dieses Urteil Brieses belegt, wie schlecht Michelet sich in das Schema von Alt- und Junghegelianismus einordnen läßt, da ihm ja einerseits Treue zu Hegel und insoweit eine rechte Tendenz attestiert wird, er gleichzeitig aber als Sympathisant der linkenHegelkritiker bezeichnet wird. Der hiermit abgeschlossene historische Uberblick zur Rezeption Michelets zeigt zweierlei. Zum einen wurde Michelet eine sehr geringe Rezeption zuteil. Zum anderen herrscht nach wie vor große Unentschiedenheit, welche Stelle Michelet vor dem Hintergrund der traditionellen Spaltungstheorie des Hegelianismus einnimmt. Diese beiden Faktoren hängen zusammen und haben ihren Grund darin, daß die Spaltungstheorie ungeeignet ist, um die tatsächlichen Vorgänge unter den Hegelschülern nach Hegels Tode zu erfassen. Die Unmöglichkeit, Michelet in das traditionelle Schema einzuordnen, zeigt die Unstimmigkeit der Spaltungstheorie besonders eklatant auf. Dagegen gelingt die Einordnung Michelets sehr viel leichter, wenn man richtigerweise die Philosophie der Tat als die Hauptströmung des Hegelianismus erkennt und die Polarisierung der Schule als untergeordnetes Phänomen betrachtet. Michelet erscheint dann als geradezu mustergültiger Vertreter des neudefinierten Hegelianismus. Wäre er als solcher gesehen worden, so wäre ihm auch mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden. Dieser Erkenntnis entsprechend stellen die folgenden Kapitel einige Positionen Michelets als typische Positionen der Philosophie der Tat vor. Das sechste Kapitel 73 74 75 76 77

Michelet, 1838, S. 609. Vgl. Fn. 58. Weisser-Lohmann, S. 202. Losurdo, 1998, S. 279. Losurdo, 1993, S. 283.

78 Stepelevich, S. 4. 79 Briese.

Β. Rechtsphilosophie

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stellt Michelets Rechtsphilosophie und insbesondere seine Geschichte dieser Wissenschaft dar, ein Feld, dem sich Hegel nicht widmete und wo eine eigenständige Forschung Michelets zu erkennen ist. Das siebte Kapitel präsentiert die Geschichtsphilosophie Michelets. Er positioniert die Geschichte, anders als Hegel, nicht im objektiven Geist, als Teil der Rechtsphilosophie, sondern erst nach der Behandlung des absoluten Geistes. Zudem wagt er, eine Geschichte der Zukunft zu schreiben. Dieser Ansatz steht in deutlicher Differenz zu dem Hegels, stellt eine originäre Leistung Michelets dar und kennzeichnet ihn zugleich als typischen Vertreter der Philosophie der Tat.

B. Rechtsphilosophie I . Übersicht Michelet legte seine Rechtsphilosophie in der zweibändigen Monographie Naturrecht oder Rechtsphilosophie im Jahre 1866 vor. 80 In ihrer Grundanlage deckt sie sich weitgehend mit der Rechtsphilosophie Hegels. Gleichwohl sind auf diesem Gebiet die spezifischen Differenzen gegenüber Hegel deutlich zu beobachten. Systematisch betrachtet ist die Rechtsphilosophie bei Hegel wie bei Michelet die Darstellung der Philosophie des objektiven Geistes, also die Ausfaltung des Geistes in die Welt, die Verobjektivierung des Geistes aus dem Subjekt in die Wirklichkeit oder der Ubergang aus dem Ansichsein des Geistes ins Fürsichsein. Michelets Kompetenz für diesen Themenbereich ist derjenigen Hegels überlegen, da Michelet im Gegensatz zu seinem Lehrer ausgebildeter Jurist war. Zudem aber wirkt sich gerade in diesem Bereich, im objektiven Geist, Michelets stärkere Betonung der Tat im Gegensatz zum nur kontemplativen Gedanken besonders deutlich aus. Das Bestreben der Philosophie der Tat, den Übergang vom bloßen Gedankenspiel zur Wirklichkeitsgestaltung zu schaffen, von der kontemplativen Erkenntnis des Weltgeistes zum Bewußtsein der Identität des endlichen Menschengeistes mit dem Weltgeist zu gelangen, und aus dieser Einsicht heraus die zukünftige Welt nach den Ideen der Vernunft selbst zu planen: es findet in der Philosophie des objektiven Geistes, als der Auslegung des Geistes in die Wirklichkeit, sein bevorzugtes Betätigungsfeld. Augenfällig ist bereits die formale Eigenständigkeit der Gliederung der Rechtsphilosophie Michelets gegenüber der seines Lehrers: Er läßt hier erstens juristische Systematik mit einfließen, indem er in einen allgemeinen und einen besonderen Teil untergliedert. Zweitens fällt der wichtige Unterschied auf, daß er Hegels Aufteilung zwar beibehält, sie jedoch in einen größeren Rahmen stellt, indem er sie um größere Kapitel sowohl vor dem Anfang als auch nach dem Ende ergänzt. so Michelet, 1866 a. 8 Moser

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Zweiter Teil: Michelet

Bei Michelet gliedert sich die Rechtsphilosophie demnach in einen Allgemeinen Teil (Band I, S. 1 -169), das Recht (Band I, S. 170-353; Band II, S. 1-269) sowie die Rechtsgeschichte (Band II, S. 270-444). Der mittlere Teil, das in Einzelrecht und Öffentliches Recht unterschiedene Recht, entspricht annähernd dem Inhalt von Hegels Rechtsphilosophie und behandelt die Themen strenges Recht, Moralität und Sittlichkeit. Der vorhergehende Allgemeine Teil sowie die nachfolgende Rechtsgeschichte dagegen finden kein Pendant im Werk von Michelets Lehrer. Der Allgemeine Teil beschäftigt sich mit dem Begriff und der Geschichte der Rechtsphilosophie. Insbesondere letztgenannter Punkt stellt eine originäre Leistung Michelets dar, nicht etwa nur eine Modifikation Hegels, weshalb sie unten ausführlicher behandelt wird. 81 Das Abschlußkapitel von Michelets Rechtsphilosophie, tituliert als Rechtsgeschichte, trägt seinen Namen nicht ganz zurecht: denn tatsächlich handelt es sich eher um eine Philosophie der Rechtsgeschichte, deren Inhalt sich ausführlicher in Michelets Darstellung der allgemeinen Philosophie der Geschichte behandelt findet. 82 Inhaltlich besteht die bedeutsamste Differenz Michelets gegenüber Hegel darin, daß die Darstellung des Staatsrechts nicht mit der Konstruktion des Nationalstaates, sondern mit dem Weltbürgerrecht endet, womit er die Tradition Kants und Fichtes aufgreift. 83 Hegel rechtfertigt die Vielheit der Staaten damit, daß andernfalls Krieg nicht möglich sei, welchen er für die permanente Verjüngung der Völker als notwendig erachtet. Michelet dagegen hat ein weit optimistischeres Menschenbild; er ist der Uberzeugung, daß der endliche Menschengeist allmählich mit dem Weltgeist identisch wird und dann kein leidvolles Lernen aus Fehlern mehr nötig sein wird, sondern die Völker ohne Krieg aus vernünftiger Einsicht richtig handeln werden. Hier verdeutlicht sich erneut der Charakter der Philosophie der Tat, die gegenüber Hegel von einer Planbarkeit der Zukunft durch den Menschen selber, statt von einer immer nur nachträglichen Erkennbarkeit der Vernünftigkeit des listig fortschreitenden Weltgeistes, ausgeht. Michelets Vision von der großen Familie der Menschheit, vom ewigen Frieden, vom Areopag der Menschheit im Sinne eines obersten Gerichtshofes mit Weltexekutionsarmee sowie vom Weltbürgerrecht mündet in ein durch die Menschen selbstgeschaffenes Paradies, das wiederum Ähnlichkeiten aufweist zur sozialistischen Vorstellung eines Endzustandes der internationalen Gesellschaft:

si Vgl. Zweiter Teil B.II. 82 Diese Zersplitterung der allgemeinen Geschichtsphilosophie in mehrere Fachgeschichtsphilosophien stellt eine Besonderheit - und man muß wohl sagen eine Schwäche - in Michelets Philosophie dar. Die vorliegende Bearbeitung hält eine zusammenfassende, abschließende Geschichtsphilosophie systematisch für stimmiger als das Einschieben von Einzeldarstellungen schon auf Ebene des objektiven Geistes. Daher wird diese Thematik nicht hier, sondern unten in Kapitel 7 behandelt. Zur Grundanlage von Michelets Rechtsphilosophie im Verhältnis zu Hegel vgl. Erdmann, 1878, § 344. Eine Rekonstruktion des Allgemeinen Teils von Michelets Rechtsphilosophie liegt vor durch D ' Ercole , 1870. 83 Vgl. Erster TeilC.

Β. Rechtsphilosophie

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„Damit erhebt sich die Menschheit vom inneren Staatsrechte, vom Bundesrechte, vom Volkerrechte zur vollen Gerechtigkeit des Weltbürgerrechts. Dies ist das Ziel der Geschichte, die Rückkehr in die göttliche Einheit, die aber keine abstrakte, sondern eine in den Organen der Menschheit gegliederte ist. [ . . . ] Erst in dieser Erfüllung der Zeiten wird positives Recht und philosophisches Recht gänzlich ausgeglichen sein, weil das Gerechte durchweg geltendes Recht geworden sein wird." 8 4

Ein weiterer Unterschied zwischen Michelet und seinem Lehrer findet sich in der unterschiedlichen Bedeutung, welche die beiden dem freien Willen des Subjekts hinsichtlich des Aufbaus des Staates (oder überhaupt des gesellschaftlichen Ganzen, vom Verein bis zur Weltbürgerschaft) beimessen. Michelet beweist hier eine weitaus liberalere Gesinnung. Hegel polemisiert in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie85 gegen die „Seichtigkeit" einer Theorie, welche den Willen des Einzelnen zum Ausgangspunkt nimmt, daraus einen von unten aus dem Volke herauswachsenden Gemeingeist sich bilden und die lebendigen Gesellschaften endlich „durch die heilige Kette der Freundschaft unverbrüchlich vereinigt" sieht. Michelet hierzu dezidiert: „Das ist eben das [ . . . ] Stichwort der Zukunft: Persönliche Freiheit im sittlichen Bunde, dem ich allerdings zu huldigen mich erkläre, da doch Hegel immer nur der Regierung die höhere unparteiische Einsicht, dem Volke dagegen nur den engen Gesichtspunkt seiner besondern Interessen - ich hätte bald gesagt: den „beschränkten Unterthanen-Verstand" zuschreibt (S. 453-454)."

Michelet anerkennt zwar Hegels Konstruktion, derzufolge das allgemeine sittliche Leben der Gipfel der praktischen Philosophie ist, betont jedoch, daß die Grundlage für diese im Staatsleben positivierte, objektive Sittlichkeit der subjektive, einzelne Geist sei. Dieser dürfe durch seine Aufhebung im objektiven Geist nie vergessen oder verschluckt werden, wie seines Erachtens bei Hegel die Gefahr besteht, sondern der subjektive Einzelgeist müsse auf objektiver Stufe im bewahrenden Sinne aufgehoben werden. Im Zusammenhang mit dem letztgenannten Punkt steht auch die Frage, inwieweit das Staatsleben durch Demokratie oder durch Monarchie geprägt sein soll. Insbesondere die von Hegel favorisierte Erbmonarchie, in welcher ein Herrscher nicht nur auf Lebzeiten, sondern über das individuelle Leben hinaus auch seine Nachfahren - unabhängig von ihrer persönlichen Leistung und Eignung - durch den natürlichen, ungeistigen Vorgang der Geburt zur Regierung berufen sein sollen, empfindet Michelet eindeutig als Verstoß sowohl gegen den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung als auch gegen die ansonsten vernunftbetonte Systematik Hegels.

84

Michelet , Diskussionsbeitrag zu: Kahle, S. 54. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, S. XI. Hegels Kritik richtet sich hier gegen Jakob Friedrich Fries. 85

8=

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Zweiter Teil: Michelet

„Ich strebe danach, dass es Ernst werde mit dem Willen der Menschheit, dass der Satz Stahls: „Autorität, nicht Majorität", umgekehrt werde. [ . . . ] Hegel geht eigentlich vom göttlichen Recht des Königthums aus, bemüht sich, aus den letzten Gründen der Philosophie die Legitimität und das Recht der Erstgeburt nachzuweisen. Der Fürst ist ihm die letzte Spitze der Entscheidung, in die alles Uebrige zurückläuft. So stülpt er die Pyramide des öffentlichen Rechts gewissermaassen um. Die Spitze ist ihm die Grundlage. [ . . . ] Ich gliedere eine Verfassung auf der breitesten Grundlage des allgemeinen Volkswillens, wie man nach der März-Revolution sprach. Durch den freiwilligen Verein der kleinsten Gemeinschaft im Bezirke, bis hinauf zu den Vereinen der Stände, Gemeinden, Kreise und Provinzen, will ich das grosse Ganze des Staatslebens gegründet wissen, damit es nicht auf einem schwankenden Punkte, sondern auf der sichern Grundfläche ruhe." 86

Vittorio Hösle bestätigt,87 die von Hegel hochgehaltene Erbmonarchie sei in seinem System völlig unhaltbar. Es sei auf keine Weise nachvollziehbar, wieso ausgerechnet an der Spitze des Staatswesens statt der Vernunft die bloße Physis entscheiden solle, wo Hegel doch eindeutig hervorhebt ( z. B. in der Enzyklopädie, § 248), daß selbst die schlechteste Einbildung des Geistes, das zufälligste Wort höher stehe als das Natürliche. Michelet erkenne und korrigiere diesen Fehler. Entsprechend seiner Tendenz, den freien Willen des einzelnen Individuums stärker zu betonen als Hegel, 88 setzt Michelet für die Entfaltung des öffentlichen Rechts wieder beim Einzelnen an. So wählt er als dessen ersten Gliederungspunkt den Wohlstand, indem er auf die damals aktuellen volkswirtschaftlichen Probleme eingeht89 - die Teilung der Arbeit, die Frage nach den menschlichen Bedürfnissen, die Organisation des Handels - , um letztlich zum freiwilligen Vereinsleben zu gelangen. Auf zweiter Stufe fassen sich diese Vereine in der bürgerlichen Gesellschaft zu Bezirken, Gemeinden und Kreisen auf immer höherer Ebene zusammen. Drittens, auf Stufe der Staatlichkeit, geht Michelet über den Staat und das Völkerrecht hinaus zum Weltbürgerrecht. Auf jeder dieser Stufen bleibt jedoch das einzelne Individuum stets im Zentrum des Interesses, die Institutionen sind seinetwegen da, der Gesellschaftsaufbau bleibt der Subsidiarität verpflichtet. Die größeren Einheiten bilden als Makrokosmos die Struktur der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, des Vereins, nach. Im einzelnen finden sich weitere Fortentwicklungen Michelets gegenüber der Rechtsphilosophie seines Lehrers. So unternimmt Michelet den Versuch, im Rahmen seiner Willenstheorie einen - nach heutiger Ansicht gleichwohl unzureichenden - Katalog von Grundrechten der Menschheit zusammenzutragen.90 Er kommt 86

Michelet , Diskussionsbeitrag zu: Kahle, S. 49. S7 Hösle, 1987 b, S. 208.

88

Vgl. hierzu Ottmann; die Studie steht unter dem Titel Individuum und Gemeinschaft bei

Hegel 89 Michelet ergänzt hierzu in ders., 1884, S. 140: „Indem in der Gesellschaftslehre die sogenannte sociale Frage enthalten war, so bemerkte der Berichterstatter einer volkswirthschaftlichen Zeitschrift, ich sei nicht blöde gewesen: sondern habe meiner Wissenschaft die ganze National-Oekonomie annectirt, auch mich mit voller Sachkenntniss darin bewegt."

Β. Rechtsphilosophie

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dabei auf Chancengleichheit, Leistungsgerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz, auf Versammlungsrecht, Recht zur Vereinsbildung sowie Recht auf gegenseitige Unterstützung. Weiterhin gibt Michelet eine erheblich detailliertere begriffsmäßige Deduktion der verschiedenen Vertragsarten. 91 Durch Variation des subjektiven Elementes des Vertragsschlusses, des objektiven Elementes des Vertragsgegenstandes sowie des die beiden Erstgenannten vermittelnden Elementes der Leistung leitet er in dialektischer Manier sämtliche Vertragsformen von der Schenkung über den Gesellschafts- bis zum Sicherungsvertrag her. Abgeschlossen wird die Rechtsphilosophie durch eine spezifische Rechtsgeschichte, in welcher sich die Entsprechung der - nach Michelets Meinung - apriorisch hergeleiteten Prinzipien mit der tatsächlichen, aposteriorischen Entwicklung der Wirklichkeit beweist und so die Stimmigkeit der Prinzipien aufgezeigt wird. Der eigenständige, auf eine tatorientierte Philosophie abzielende Grundcharakter in Michelets Rechtsphilosophie kommt bereits im Vorwort zu derselben deutlich zum Ausdruck, indem Michelet Hegels Identifikation von Vernunft und Wirklichkeit variiert: „ Alles wirklich Rechte ist vernünftig, vorausgesetzt, dass wir unter: Wirklich, nicht die durch den Verlauf und den Kampf der Geschichte stets abzustreifende Schaale der zufälligen Erscheinung und der äusserlichen Formen des Rechts und des Staats, wie sie ζ. B. in den geschichtlichen Bedingungen des Volkerlebens, in der Willkür der jeweiligen Machthaber u. s. w. auftreten, sondern die unaufhaltsam durchdringende und zur Geltung kommende Gestaltung des wahren Rechts und des wahren Staats verstehen. Die Wirklichkeit ist logisch nicht das bloss vorhandene Dasein, sondern eine Erscheinung, die aus dem Wesen fliesst und ihm entspricht. Dass solches Wirkliche und alle solche Wirklichkeit, im Rechte und im Staate, das Vernunftrecht und den Vernunftstaat wenigstens zum Theil in sich schliesse, ist ein identischer Satz. [...] Da die Vernunft hiermit nichts Unwirkliches, kein leeres Urbild ist, das im Jenseits unserer Hirngespinste zu verbleiben hätte: so muss die Weltgeschichte ihren Zweck, die Vollendung der Menschheit, erringen; und dann wird alles Vernünftige auch wirklich sein. Indem wir aber noch mitten im Stromthale dieser Bewegung nach Aufwärts uns befinden, und ich mich nichtsdestoweniger erkühnte, den Gipfel des zu erklimmenden Berges vollständig abzumessen, und [ . . . ] in diesem Werke zur Erkenntniss zu bringen, so ist die andere Hälfte meines Grundsatzes die: Alles vernünftige

Recht wird wirklich.

Während es der Gattung gleichgültig ist, wann dieses Ziel erreicht werden mag, so wird der Einzelne die Beschleunigung desselben sehnsüchtig herbeiwünschen. Wenn aber Herder sagt, dass die Wünsche edler Seelen die Zukunft heranführen: so dürfen wir doch nicht müssig, nach Heraklits Anleitung, dem Spiele des Weltgeistes nur zuschauen; sondern die

90 Michelet, 1866 a, Bd. I, S. 139 ff. 91 Ebd., S. 210 ff.

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Zweiter Teil: Michelet

Sache jedes Einzelnen ist es, an der Stelle, die er in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt, diesem Wunsche Ausdruck durch die That zu verschaffen. Durch die That der in dieser Arbeit niedergelegten Gedanken über eine Wissenschaft, welche ich kraft meines Amtes seit vierzig Jahren lehre, glaube ich meinerseits, so weit ich es im Stande bin, jener Pflicht genügt und meine Bestimmung erfüllt zu haben."92

Auch diese Passage illustriert die Aufbruchstimmung und den Veränderungswillen der Philosophie der Tat, wobei Hegel kritisch weiterentwickelt wird, ohne ihn einerseits zu überhöhen, oder andererseits mit ihm revolutionär zu brechen.

II. Geschichte der Rechtsphilosophie Michelets Geschichte der Rechtsphilosophie stellt eine eigenständige Studie dar, in welcher er sich nicht an seinen Lehrer anlehnt, sondern auf eigenen Füßen stehend über ihn hinausgeht. Seine an der Philosophie der Tat orientierte Haltung zeigt sich hier deutlich: Er will die in der Geschichte waltende Vernunft zunächst in der Vergangenheit nachweisen, um in einem weiteren Schritt diese Entwicklungslinie auch in die Zukunft hinein fortzeichnen zu können. Die aus dieser Untersuchung hervorgehenden Erkenntnisse will der Philosoph der Tat sodann durch bewußtes, geschichtsgestaltendes Handeln verwirklichen.

1. Darstellung Im Anschluß an die Bestimmung des Begriffs der Rechtsphilosophie gibt Michelet eine geschichtliche Darstellung dieser Wissenschaft. 93 Der hegelianischen Tradition gemäß wirkt sich die dialektische Systematik bei Michelet auch in der Darstellung der Historie aus, und so stellt der hier dargelegte geschichtliche Uberblick keine bloße Aneinanderreihung bedeutsamer rechtsphilosophischer Denker dar. Er beinhaltet vielmehr bereits eine Struktur, gemäß der Uberzeugung, daß die Geschichte zu verstehen ist als die Entfaltung des Weltgeistes, und dieser Fortschritt sich stufenweise historisch-dialektisch vollzieht. Die Darlegung der Geschichte der Rechtsphilosophie erlaubt es Michelet, seine eigene Konzeption begründet als bisherigen Höhepunkt der allmählichen dialektischen Entwicklung dieser Wissenschaft vorzustellen. Eine Neuerung gegenüber Hegel besteht nun darin, nicht nur die Philosophie insgesamt, sondern auch deren Teilgebiete, vorliegend die Rechtsphilosophie, in ihrer geschichtlichen Genese zu betrachten. Indem er die Rechtsphilosophie, als

92 Ebd., S. V - VI. 93 Michelet , 1866 a, Bd. I, S. 19-87. Vgl. zu Michelets Geschichte der Rechtsphilosophie auch Boumanns Rekonstruktion dieses Kapitels, S. 201 ff.

Β. Rechtsphilosophie

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den für die gesellschaftliche Wirklichkeit relevanten Part der Philosophie, um ihre historische Komponente ergänzt, trägt Michelet dem Anliegen der Philosophie der Tat Rechnung, aus dem verständigen Studium der Vergangenheit heraus die Richtung der geistigen Fortentwicklung zu erfassen und ihre objektive Verwirklichung voranzutreiben. In der Grobstruktur teilt Michelet die Geschichte der Rechtsphilosophie erstens in die griechische, zweitens in die römisch-mittelalterliche sowie drittens in die neuere Rechtsphilosophie ein. Dieser Einteilung korrespondiert auf erster Stufe das Vorherrschen des allgemeinen Lebens, somit des öffentlichen Rechts. Hier kommen das äußere und innere Recht des Einzelnen nur in substantieller Einheit mit dem Gesamt des Staatslebens zum Tragen und noch nicht für sich selbst. Dieser Standpunkt der griechischen Rechtsphilosophie kommt am reinsten bei Piaton zum Ausdruck. Auf der zweiten Stufe steigert sich die Bedeutung der einzelnen Person, sie wird letzter Zweck, gelangt zu unendlicher Berechtigung, und zwar sowohl im Einzelrecht wie auch im öffentlichen Recht. Dies ist der Standpunkt der römischen und mittelalterlichen Rechtsphilosophie. Die dritte Epoche dieser Wissenschaft ist gekennzeichnet durch den Versuch, beide Standpunkte zu vereinen, also die Freiheit des Einzelnen und das Alleben gleichermaßen zur Geltung zu bringen, indem die eine Seite auf die andere bezogen wird. Hier wird die Wahrheit der ersten, griechischen Auffassung mit der Wahrheit der zweiten, römisch - mittelalterlichen Auffassung vereint, also die Rechte der Gesellschaft und des Staates mit dem Recht des Einzelnen zur Übereinstimmung gebracht. Dies ist, nach Michelet, „der Standpunkt der Rechtsphilosophie seit dem Wiederaufleben der Wissenschaften bis auf unsere Zeiten" (S. 19).

a) Die griechische Rechtsphilosophie In der griechischen Rechtsphilosophie sind es nach Michelets Auffassung im wesentlichen drei Denkrichtungen, welche dem Geist der Rechtsphilosophie entscheidende Impulse gaben: die Pythagoreer, Piaton und Aristoteles. Die Erstgenannten haben den einfachen Begriff der Gerechtigkeit zuerst ausgesprochen, bei Piaton ist der griechische Standpunkt am deutlichsten ersichtlich, und Aristoteles steht bereits für den Übergang zur nächsten Epoche, indem er unterscheidet zwischen der Ethik als Wissenschaft des für den Einzelnen Guten einerseits und Politik als Wissenschaft von der Staatsgesellschaft andererseits.

aa) Die Pythagoreer Die Pythagoreer sehen eine Verknüpfung von der Idee des Guten mit der Einheit und Bestimmtheit, während für sie das Schlechte in Verbindung steht mit Vielheit und Unbestimmtheit. Denn gut könne man nur auf eine Weise sein, schlecht dage-

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Zweiter Teil: Michelet

gen auf viele Weisen. Sie vertreten daher eine Überordnung des einheitlichen gesellschaftlichen Allebens gegenüber der Mannigfaltigkeit der einzelnen Individuen. Sie etablieren damit eine Gleichheit, und sie erklären das Recht als das für alle Gleiche. Sie haben damit der bedeutsamen Idee Ausdruck verliehen, daß Recht jedenfalls die Gleichheit vor dem Gesetz erfordert. Der Grundüberzeugung, das Gute sei in der Einheit zu finden, entspricht diese Position insofern, als zur Beurteilung eines jeden Bürgers nur ein Maß gilt - die Ungleichbehandlung dagegen wäre Vielheit und Unbestimmtheit, und so das Böse. Auch für das Strafrecht leisten die Pythagoreer einen wichtigen Beitrag, indem sie den Strafzweck thematisieren und den wahren Grund für die Bestrafung in der Wiedervergeltung finden. Hierin drückt sich erneut das Prinzip aus, daß die Gerechtigkeit in der Gleichheit besteht: eine Ungerechtigkeit wird dadurch behoben, daß durch Vergeltung das Verbrechen beglichen wird, also die Vergeltung das Verbrechen ausgleicht.

bb) Piaton Auf die Pythagoreer läßt Michelet in der Geschichte der Rechtsphilosophie sogleich Piaton folgen, den ersten Menschen, „der über Recht und Staat ausführlich und systematisch philosophirt hat" (S. 21). In seinem Gespräch über den Staat wirft Piaton die Frage auf, was das Gerechte sei. Er fragt nicht nach dieser oder jener gerechten Handlungsweise, sondern generell nach dem Urbild der Gerechtigkeit. Bemerkenswert ist dabei, daß Piaton nach Ansicht Michelets noch nicht unterscheidet zwischen Rechts-, Sitten- und Staatslehre, sondern „das Alleben bei ihm das Einzelleben noch verschluckt" (S. 21). Daher stellt sich ihm die Vorgehensweise als legitim dar, zur Beantwortung der Frage nach der Gerechtigkeit ungezwungen zwischen der Ebene der Moral und derjenigen der Gesellschaftswissenschaft hin- und herzuwechseln. Ausdrücklich hält er es für nötig, zur Klärung des Begriffs der Gerechtigkeit sowohl den Bereich des Staatslebens als auch den der Psychologie vorab zu behandeln. Sein Rechtsbegriff ist - ein Charakteristikum der gesamten griechischen Rechtsphilosophie - noch nicht von der inneren Gesinnung des Guten gelöst, sondern er ergibt sich aus der Betrachtung der Tugend, gerade so wie sich die Tugend aus der Betrachtung des Staates ergibt. Weil also für Piaton die Gerechtigkeit eine Tugend ist, so untersucht er die Tugenden. Die Tugend der Vernunft, welche nach Piaton in der Kopfhöhle des Menschen angesiedelt ist, und die alle Tätigkeiten des Menschen leiten soll, ist die Weisheit. Übertragen auf den Staat, in welchem sich die Tugenden als Stände ausdrücken, entspricht der Tugend der Weisheit der Stand der Wissenden, welche ihre Aufgabe darin haben, über das Gemeinwohl zu beratschlagen und zu herrschen. Ein Staat besitzt demnach die Tugend der Weisheit, wenn in ihm der Stand der Wissenden, also die Philosophen, regieren.

Β. Rechtsphilosophie

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Das gerade Gegenteil der Vernunft ist die in der Bauchhöhle beheimatete, auf Befriedigung sinnlicher Lust gerichtete Begierde. Die zugehörige Tugend ist die Mäßigkeit, das Vermeiden maßloser Befriedigung der Begierde. Im Staatsleben entsprechen dieser Tugend die für die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse sorgenden Stände, die Handwerker und Ackerbauern. Sie haben sich den Philosophen unterzuordnen, weil sie die Weisheit nicht in sich selbst besitzen, sondern nur auf den Gelderwerb gerichtet sind. Die Mitte zwischen Vernunft und Begierde wie auch zwischen Kopf und Bauchhöhle hält der in der Brust beheimatete Eifer, auch Zornmütigkeit genannt. Die ihm entsprechende Tugend ist die Tapferkeit, welche sich dahingehend auswirkt, daß die Vernunft in ihrer Leitungstätigkeit unterstützt wird, indem die zuwiderlaufenden Triebe gebändigt werden. Im Staat wird diese Tugend durch den Stand der Krieger repräsentiert. Sie sind die Helfer des Philosophenstandes und zugleich Wächter des Staates. Zurückkommend zur Ausgangsfrage, was die Gerechtigkeit sei, gibt Piaton nun als vierte Tugend eben die Gerechtigkeit an. Sie spielt eine Sonderrolle unter den Tugenden, weil sie nicht unmittelbar verwirklicht werden kann, sondern vielmehr sich dann von selbst einstellt, wenn die drei anderen vorhanden sind. Denn sie besteht darin, daß jeder einzelne, und im Falle des Staates jeder Stand, dasjenige ausführt, was seine Bestimmung ist: daß also die Vernunft der Philosophen regiert, daß die Begierden und die für deren Befriedigung arbeitenden Klassen gehorchen, und daß die Tapferkeit und die Krieger zur Hilfe kommen, wenn die Vernunft und die Philosophen diesen Beistand benötigen. Schlecht sei ein Staat oder ein Mensch, bei dem die jeweiligen Bereiche nicht gemäß der angegebenen Kompetenzverteilung organisiert sind, sondern eine Einmischung in fremde Geschäfte stattfindet. Aus dieser Konzeption erhellt, daß Piaton den Einzelnen nur als in der Gemeinschaft versenkten Bürger, aber noch nicht als freies Einzelwesen sieht. Darin hat Piaton den griechischen Geist in Gedanken gefaßt. Doch Piaton will nicht alleine das Bestehende begreifen, sondern diese Zustände auch für die Zukunft fortschreiben. Als die Freiheit des Einzelnen sich allmählich in Gegensatz zum allgemeinen Leben zu stellen beginnt, da schlägt Piaton „drei Hirngespinste vor, die alle darin übereinkamen, dass die freie Bewegung der einzelnen Personen zu Gunsten des Allebens nicht nur eingeschränkt, sondern völlig vernichtet würde" (S. 25 f.). Erstens hebt er das Eigentum auf und setzt an dessen Stelle eine Gütergemeinschaft mit dem Argument, daß es sich für schöne und edle Menschen nicht zieme, über mein und dein zu streiten. Dabei sieht er, wie Michelet anmerkt, keine Gefahr durch einen eventuellen Motivationsmangel der Bürger, sondern ist davon überzeugt, daß die schönen und edlen Menschen seines Staates keines niedrigen Triebes bedürfen, um willig ihre Pflicht zu tun. Zweitens schließt Piaton die freie Wahl des Ehepartners aus und überträgt den Regierenden die Aufgabe, die zur Erzeugung der besten Kinder geeigneten Personen der jeweiligen Stände vorübergehend zusammenzuführen. Dabei sollte nie-

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Zweiter Teil: Michelet

mand seine Eltern kennen, sondern der ganze Staat sollte sich als Familie begreifen. Drittens schließlich verweigert Piaton den Bürgern seines Staates die freie Wahl des Standes. Denn durch die Heiratspolitik ist bereits sichergestellt, daß immer nur Kinder gezeugt werden, die von Abstammung her genau in einen Stand hineingehören. Die Gerechtigkeit im genannten Sinne verbietet es daher geradezu, den Bürgern eine andere als ihre standesgemäße Tätigkeit anzuvertrauen. Trotz der für Michelet offensichtlichen Unzulänglichkeiten der platonischen Rechtsphilosophie enthält sie drei bedeutsame Einsichten: „1) das Recht tritt nicht für den einsamen Menschen, sondern nur im geselligen Zusammenleben der Bürger ein; 2) die Vernunft, als die edelste Thätigkeit des Menschen, soll stets den Einzelnen, wie den ganzen Staat leiten; 3) um die Natur des Rechts entwickeln zu können müssen wir auch die übrigen Fähigkeiten und Thätigkeiten des Menschen, seine Triebe und Begierden, kennen" (S. 27).

cc) Aristoteles Als dritten und letzten Standpunkt der griechischen Epoche der Rechtsphilosophie erwähnt Michelet die Konzeption von Aristoteles. Gegenüber Piaton, der sein Augenmerk darauf richtet, einen Begriff der Tugend des Einzelnen und des Staates aufzustellen, geht es Aristoteles ebensosehr um die Verwirklichung des Urbildes des Guten. In der Tugend sieht er eine bloße Möglichkeit des Handelns, wohingegen erst in der Ausübung derselben der letzte Zweck der praktischen Philosophie erreicht wird, welchen er Glückseligkeit nennt. Die Ethik untersucht die Glückseligkeit des Einzelnen, die Politik diejenige der Vielen. Beide Wissenschaften hängen daher, wie bei Piaton, eng zusammen, wobei die Vermittlungsstelle zwischen beiden die Tugendlehre ist, welche die Gerechtigkeit zum Gegenstand hat. In der Ethik unterscheidet Aristoteles zwischen Tugendmitteln und Tugenden. Erstere sind die Stoffe und Güter körperlicher und äußerer Art, durch welche erst das Handeln überhaupt und speziell die Ausübung der Tugend ermöglicht wird. Letztere sind demgegenüber innere Güter und werden näherhin unterschieden in praktische und theoretische Tugenden. Praktisch sind die Tugenden, die in Bezug zu den ursprünglich maßlosen Trieben stehen und diese regulieren. Sie sorgen dafür, das richtige Maß zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig zu finden. Die Tapferkeit beispielsweise stellt die richtige Mitte dar hinsichtlich des Triebes, den Schmerz zu fliehen, während die Feigheit den Schmerz zu sehr, die Tollkühnheit ihn zu wenig flieht. Theoretisch sind solche Tugenden, die eine reine Vernunfttätigkeit darstellen und ihren Zweck nicht in der Einwirkung auf Anderes (die Triebe), sondern in der Ausübung selbst finden. Das Erstrebenswerte für den Menschen, die Glückseligkeit, sieht Aristoteles in der Ubereinstimmung des Inneren und Äußeren, also der Tugenden und der Tugendmittel.

Β. Rechtsphilosophie

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Wie bereits bemerkt, stellt die Gerechtigkeit für Aristoteles das Bindeglied zwischen Ethik und Politik dar. Sie ist einerseits eine praktische Tugend, indem sie die richtige Mitte hält in der Befriedigung des Triebes nach Rache. Doch steckt in ihr andererseits ein wesentlich auf andere Menschen bezogenes Element, da sie nur in Gesellschaft ausgeübt werden kann. Hinsichtlich des zweiten, gesellschaftsbezogenen Aspektes der Gerechtigkeit unterscheidet Aristoteles an ihr diejenige Seite, welche in der Ausübung der Tugend in einem gegebenen Staate besteht, von der Idee der Gerechtigkeit als solcher. Hierin liegt nach Michelet ein wichtiger Beitrag für die Rechtsphilosophie, indem erstmals der Unterschied zwischen geltendem Recht und Vernunftrecht 94 getroffen wird. Das von Natur aus Gerechte, also das Vernunftrecht, erblickt nun Aristoteles darin, daß jeder den anderen wie sich selbst behandelt, also in der Gleichheit. Im Unterschied zu den vorangegangenen Konzeptionen modifiziert jedoch Aristoteles diesen Begriff der Gleichheit dahingehend, daß er die wahre Gleichheit nicht als starre Größe, sondern als ein Verhältnis zwischen Verdienst und Lohn, also als Proportion faßt. Nicht jeder bekommt den gleichen Lohn, sondern das Verhältnis des erworbenen Anspruchs zum Erhaltenen ist nun das Gleichbleibende. So besteht für ihn die Gerechtigkeit darin, daß jedem das Seine zukommt. Näherhin unterscheidet Aristoteles noch zwischen austeilender, ausgleichender und legaler Gerechtigkeit, entsprechend den drei Relationen: Gesellschaft gegenüber Einzelnem, Einzelner gegenüber Einzelnem, und Einzelner gegenüber Gesellschaft. Die Politik faßt Aristoteles, entsprechend dem allgemeinen griechischen Standpunkt, noch in enger Wechselwirkung mit der Moral. Sein Staat fußt auf der Tugend der Bürger, wie auch umgekehrt die Bürger vom Staate, neben der häuslichen Erziehung und dem Unterricht, durch Strafen und Belohnungen zu tugendhaftem Handeln anzuhalten sind. Der Mensch wird hierbei verstanden als geselliges Wesen, welches des Staates zum Erreichen seiner Glückseligkeit bedarf. Der Staat ist hier explizit kein willkürlich, durch Vertrag, zur Sicherung der Rechte der Bürger geschaffenes Gebilde. Das Ganze des Staates ist auch bei Aristoteles noch der Würde nach höher angesiedelt als der Einzelne, der aber bereits etwas mehr Eigenständigkeit erreicht hat als bei Piaton. Bei der Staatsgewalt unterscheidet Aristoteles drei Seiten: Die Beratschlagung über allgemeine Angelegenheiten, worunter die Gesetzgebung, das Abschließen von Bündnissen, die Verurteilung zur Todesstrafe, zu Verbannung oder Vermögenseinziehung sowie das Rechenschaftsfordern von Beamten fällt, ist die erste Seite. Die zweite staatliche Tätigkeit besteht in der Ausführung und Durchsetzung der Beschlüsse durch Beamte. Die dritte Gewalt ist für Aristoteles die richterliche, die zwischen Beamten und Privatmann steht, indem die zuständigen Richter vom Volk 94

Naturrecht, Vernunftrecht und Rechtsphilosophie sind für Michelet Synonyme, vgl. Michelet 1866 a, Bd. I, S. 1 - 6 ; schon der Titel seiner zweibändigen Rechtsphilosophie ist ein dreifacher: Naturrecht oder Rechts-Philosophie als die praktische Philosophie. Des Vernunftrechts erster/zweiter Teil.

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per Los bestimmt werden. „Seit Aristoteles kommen diese drei Staatsgewalten in jeder Staatslehre vor, und diese Wissenschaft ist hierin bis auf die letzten Zeiten nicht wesentlich vorgeschritten" (S. 35-36). Die verschiedenen Arten von Staaten ergeben sich einerseits daraus, wie die angegebenen Staatstätigkeiten ausgeführt werden, andererseits aus der Zahl der Ausübenden. Hinsichtlich des ersten Einteilungsgrundes sind solche Staaten gut, in welchen der oder die Machthabenden das allgemeine Beste im Auge haben. Verfolgen sie dagegen ihr Privatinteresse, so sind die Staaten schlecht. Was den zweiten Einteilungsgrund anbelangt, so unterscheiden sich die Staaten, je nachdem ein Einzelner, Mehrere oder Viele herrschen. Herrscht Einer, so handelt es sich im günstigen Fall um eine Monarchie, in welcher tatsächlich der Beste im Staate die Geschäfte leitet, weshalb dies auch die beste Regierungsform wäre. Doch es ist selten, räumt Aristoteles ein, daß ein solch ausgezeichneter Mensch zur Verfügung steht. Wenn nun aber ein Einzelner herrscht und dabei nicht das Gemeinwohl anstrebt, sondern nach eigenem Interesse verfährt, so handelt es sich um die schlechteste aller Regierungsformen, die Tyrannei. Entsprechend gibt es eine gute und eine schlechte Variante der Herrschaft Mehrerer, wobei erstere Aristokratie als Verdienstadel, letztere Oligarchie genannt wird. Die dritte mögliche Staatsform, nach beteiligten Personen, ist die Herrschaft der Vielen, von Aristoteles „Politie" genannt. „Denn Demokratie nennt er gerade die Ausartung der Volksherrschaft, wie sie sich auch in den letzten Zeiten in Griechenland zeigte, und noch bestimmter als Ochlokratie bezeichnet wurde. Dieser Umstand veranlaßt Aristoteles und andere Philosophen, die demokratische Verfassung für eine schlechte anzusehen; sie ist aber, sagt er, die wenigst schlechte. Denn wenn auch das Volk nur auf seinen Vorteil sieht und die Angesehensten unterdrückt: so ist es immer das Interesse des grössten Theils, das im Auge behalten wird" (S. 37).

b) Die römische und mittelalterliche

Rechtsphilosophie

Die Rechtsphilosophie unter den Römern und im Mittelalter zerreißt die griechische Einheit des Einzelnen mit dem Ganzen. Einzelne große Persönlichkeiten treten auf, die aus dem Allgemeinen hervorragen und die Macht an sich reißen. Häufig wird dieser Personenkult noch dadurch überhöht, daß der Herrscher zusätzlich als Gottheit verehrt wird. So ist die Einzelheit zu unendlicher Bedeutung emporgestiegen. In reinster Form findet sich diese Anschauung im Christentum, wo in einer einzelnen Person die vollendete Darstellung des unendlichen Geistes verehrt wird. Im Unterschied zum römischen Kaiser, der die personifizierte Macht in der äußeren Welt darstellt, zeichnet sich jedoch der herausragende Eine des Christentums gerade durch sein von ewiger Wahrheit und Gutheit erfülltes inneres Gemüt aus. Es sind somit zwei bemerkenswerte Polarisierungen, die den Geist der Rechtsphilosophie zur Zeit der Römer und des Mittelalters prägen: Zum einen der Gegensatz zwischen innerer und äußerer Welt, zum zweiten, damit verbunden, der

Β. Rechtsphilosophie

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Gegensatz zwischen Moralität und strengem Recht. Infolge der faktischen Auflösung des allgemeinen Staatslebens verfolgt in objektiver Hinsicht eine Masse von Einzelnen die jeweiligen Privatinteressen, die zum höchsten Zweck erhoben werden, während zugleich in subjektiver Hinsicht die Überzeugung vorherrscht, daß die Idee des Guten nur im Rückzug in das Innere zu finden sei, was der Moral der Stoa entspricht. Als Reaktion darauf entwickelt sich ein neuer Modus des Zusammenlebens, welcher der Tatsache Rechnung trägt, daß die Moral sich ins Subjektive zurückgezogen hat: das strenge Recht, das durch die römischen Rechtswissenschaftler zu hoher Blüte gedeiht. Zum Mittelalter hin entwickeln sich beide Zweige, die innerliche Moralität ebenso wie das Einzelrecht der äußeren Welt, von der Betonung der persönlichen Besonderheit hin zu einer stärkeren Berücksichtigung der Allgemeinheit. Letztere äußert sich einerseits als das allgemeine Leben der Kirche, andererseits als eine gewaltsam und durch rohe Willkür die Gesellschaft zusammenhaltende Macht. Auf diese Weise tritt neben die stoische Moral und die römische Rechtswissenschaft als drittes die Politik in Form einer machterhaltenden Klugheitslehre: der Standpunkt Machiavellis.

aa) Die Moral der Stoiker Sokrates ist noch um Übereinstimmung zwischen den Gesetzen und der Einsicht des Einzelnen bemüht. Aristoteles erblickt demgegenüber bereits die höchste Seligkeit im philosophischen Erkennen und der dadurch zu erlangenden Freiheit. Die Stoiker nun messen der Einsicht des Einzelnen, soweit er ein Weiser ist, größte Wichtigkeit bei, so daß alle rechtlichen Verhältnisse gleichgültig werden. Das Recht muß der Einsicht entsprechen, oder es darf mißachtet werden. Nur was der Vernunft entspricht, ist geboten. Der stoische Weise schuldet niemandem Rechenschaft, er ist unbedingt frei. Es gibt nur diese eine Tugend, der Vernunft zu folgen. Armut oder Reichtum, Schmerz oder Lust, sind für die Glückseligkeit unerheblich. Ziel muß es sein, sich von den Leidenschaften zu befreien und den Zustand der ataraxia, der Unerschütterlichkeit der Seele, zu erlangen. Die Stoiker haben das Verdienst, den wahren Grundsatz der praktischen Philosophie aufgestellt zu haben, daß die Vernunft im Konfliktfalle auch gegen die Triebe durchzusetzen ist - wohingegen Piaton und Aristoteles noch Trieb und Vernunft in harmonischer Einheit faßten. Dagegen bleibt die von den Stoikern angestrebte Freiheit eine unbestimmte, leere und allgemeine, der es an Inhalt gänzlich mangelt.

bb) Die römischen Rechtslehrer Die römischen Rechtslehrer stellen, als Ersatz für das fortgefallene innere, sittliche Band der Gesellschaft, nun das äußere Band des Rechts auf. Es handelt sich um eine Anknüpfung an den Gerechtigkeitsbegriff des Aristoteles, wenn gefordert wird, einem jeden sein Recht zuteil werden zu lassen und den anderen nicht zu

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Zweiter Teil: Michelet

verletzen - aber zugleich um eine Veräußerlichung dieser Gesinnung. Die Rechtslehrer tragen zusammen, was geleistet werden muß, damit die menschliche Gesellschaft fortbestehen kann. Auch die Forderung, ehrbar zu leben, bezieht sich nur auf die äußere Darstellung der Sittlichkeit. Denn die Ehrbarkeit besteht eben darin, durch seine Taten keine Rechtsverletzung zu begehen, und sich so Ehre bei seinen Mitmenschen zu erhalten. Die Wirklichkeit wird ausschließlich unter dem Aspekt der Äußerlichkeit gesehen, die Person hat ihr freies Dasein alleine in einer äußerlichen Sache. Entsprechend wird das Recht auf ausschließliches Eigentum weit ausgedehnt, die Gütergemeinschaft zum allgemeinen Gebrauch dagegen beschränkt auf Luft, Wasser, Ufer und wilde Tiere. Anschaulich verdeutlicht wird der Geist dieses Standpunktes der Rechtsphilosophie auch durch den Rechtssatz, demzufolge eine herrenlose Sache Eigentum desjenigen wird, der sie zuerst in Besitz nimmt: der Einzelne in seiner unumschränkten Handlungsmacht ergreift Besitz, indem er seinen Willen in eine vormals nicht personenbezogene Sache hineinlegt. Die Gegenstände erlangen demnach nur Bedeutsamkeit, insoweit sie sich einer Eigentumssphäre zuordnen lassen. Dann gehören sie zur Person und definieren diese. Eine Verpflichtung gegenüber anderen kennt das römische Recht sehr wohl, doch es wird wiederum nur gefaßt unter der Rücksicht des äußerlichen Rechts des Einzelnen. So besteht eine zu erbringende Leistung entweder in einer Verpflichtung aus Vertrag oder einer solchen aus Delikt. Ebenso wird auch am Verbrechen weniger die innere Seite der Schuld und Sühne durch Wiedervergeltung, als vorrangig die äußere Seite des Schadens hervorgehoben. Als bleibendes Verdienst anzurechnen ist den römischen Rechtslehrern insbesondere, die Person als die wahre Grundlage des Rechts erkannt zu haben. Doch dieser Personbegriff ist noch nicht sachgerecht bestimmt, die Personen werden noch unterteilt in freie und unfreie. „Die Freiheit ist ihnen auf diese Weise nur ein gewisser Zustand der Person, nicht das innere Wesen derselben, wie es doch im Rechte sein sollte" (S. 41).

cc) Machiavellis Politik Machiavelli schließlich, als Vollender des zweiten, römisch-mittelalterlichen Standpunktes der Rechtsphilosophie, führt die beiden vorangegangenen Denktraditionen zusammen und radikalisiert sie. Er spricht damit aber nur aus, wie sich die Wirklichkeit zu seiner Zeit darstellt. Die christliche Kirche einerseits, nach Michelet die Erbin der stoischen Moral, und das äußere, diesseitige Leben andererseits, sind beide gleichermaßen verdorben. In beiden Bereichen herrscht die persönliche Willkür, einerseits in ihrer subjektiven, moralisierenden Form, andererseits in ihrer objektivierten, weltlichen Form. Dieser willkürlichen, uneinheitlichen Aufsplitterung entspricht auf staatlicher Seite das Zerfallen des römischen Kaiserreiches in zahllose kleine Einzelstaaten. Angesichts dieses subjektiv wie objektiv herrschenden Geistes der Vereinzelung besteht für den Fürsten die einzige Möglichkeit zur Herrschaft in der rücksichtslosen, unumschränkten Alleinherr-

Β. Rechtsphilosophie

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schaft. Nur auf diese Weise ist es ihm überhaupt möglich, Ordnung und Ruhe aufrecht zu erhalten. Zu dieser Zeit „stand in Italien ein Mann auf, welcher, so edlen Sinnes er selber war, den Muth hatte, dieser Schlechtigkeit unbefangenen Blickes in's Auge zu schauen, sich an die Erfahrung zu wenden, und rund heraus zu sagen, durch welche Mittel ein solcher von der Zwingherrschaft geleiteter Staat erhalten werden könne" (S. 44).

Die angesprochene Synthese und Radikalisierung der vorangegangenen Positionen, also der stoischen Moral und der römischen Rechtsgelehrtheit, besteht im Falle Machiavellis darin, daß er von der Stoa die Mißachtung der objektiven Welt, von den römischen Rechtslehrern dagegen die Mißachtung der Moral übernimmt. Machiavelli sagt ausdrücklich, er wolle weder das Rechte noch das Gute, sondern nur das Nützliche lehren, also reine Klugheitsregeln aufstellen. Während im Altertum Moral und Politik untrennbar miteinander verbunden waren, so stehen sie nunmehr in unvereinbarem Gegensatz. Im Kern ist diese politische Lehre eine Anwendung und Rechtfertigung des jesuitischen Grundsatzes, demzufolge der Zweck die Mittel heiligt (S. 45). Erlaubt ist, was dem Erfolg dienlich ist. Im einzelnen führt Machiavelli aus, ein Herrscher müsse harte Maßregeln mit einem Male verwirklichen, damit sie möglichst bald vergessen würden, dagegen solle er Wohltaten nach und nach erweisen, damit die Güte des Herrschers ständig aufs neue ins Gedächtnis gerufen werde. Der Herrscher solle sich, wenn es ihm nicht gelingt, zugleich geliebt und gefürchtet zu werden, vorzugsweise fürchten lassen, weil Dankbarkeit weniger bindend wirke als die Furcht vor Strafe. „Der Besitz und die Ausübung von Tugenden ist nachteilig, der Schein davon nützlich" (S. 47). 95

c) Die Rechtsphilosophie der neueren Zeit Nach dieser Überbetonung des Einzelmenschen in der römisch-mittelalterlichen Epoche der Rechtsphilosophie beginnt sich in der neueren Zeit gemäß Michelet der dritte Standpunkt dieser Wissenschaft zu entwickeln. Er ist geprägt durch den Versuch, das Alleben der ersten Periode und das Einzelleben der zweiten Periode zu einen. Die sich auf das Einzelleben beziehenden Wissenschaften, Moral und Rechtslehre, werden wieder in Beziehung gebracht zur Wissenschaft von der Gesellschaft, der Politik. Diese Beziehung wird zunächst derart konstruiert, daß vom Einzelleben ausgegangen wird und auf dieser Grundlage ein allgemeines Leben entwickelt wird: der Standpunkt der Naturrechtslehrer. Zweitens wird umgekehrt das gemeinschaftliche Leben zum Ausgangspunkt für die besonderen Zwecke des Einzelnen gemacht: der Standpunkt des Sozialismus und Kommunismus. Beide 95 Es fällt die nüchterne Betrachtungsweise auf, mit welcher Michelet den Italiener darstellt und in die dialektische Entwicklung der Rechtsphilosophie einreiht. Die Rezeption Machiavellis war lange Zeit geprägt von der Spaltung in ein ablehnendes Lager, das seine Inhumanität verteufelte, und ein verteidigendes Lager, das seine ungeschminkten, entlarvenden Gedanken als volksaufklärerisch bejubelte. Vgl. Kersting, S. 155-167.

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Zweiter Teil: Michelet

Standpunkte sind aber noch einseitig und finden erst in der gegenwärtigen, also in Michelets Rechtsphilosophie, ihre wahre Einheit.

aa) Die Naturrechtslehrer Die Naturrechtslehrer gehen vom Einzelleben aus, billigen der Person aber nicht mehr ein rücksichtsloses Verfolgen ihrer privaten Zwecke zu. Sie versuchen vielmehr, auf Basis einer Einsicht, die sich durchaus an die stoische Moralität anlehnt, die Innerlichkeit zu überwinden und ein Zusammenleben der Menschen zu begründen. Hierzu gehen sie erneut von der Seelenlehre aus, welche als Quelle für die Ableitung staatlicher Grund- und Rechtssätze dient. „Die Rechte in der Idee erscheinen dabei als das Sollen des Naturzustands, der Staat dagegen nur als das Mittel, so viel von diesen Rechten in dieser schlechten Welt zu verwirklichen, als möglich" (S. 48). Michelet untergliedert diesen naturrechtlichen Standpunkt danach, inwieweit die Natur des Menschen in seinen Trieben, in seiner Vernunft oder in der Verbindung beider gesehen wird. So ergibt sich als erste Stufe das eudaimonistische Naturrecht, als zweite das rationalistische Naturrecht, und als dritte das historische, welches im Gegensatz zum vorigen Standpunkt die Vernunft des ganzen Menschengeschlechts, und nicht mehr nur die Vernunft des Einzelnen, als Urgrund für Recht und Staat erkennt. (a) Das eudaimonistische Naturrecht Im eudaimonistischen Naturrecht wird zunächst, in Anknüpfung an Machiavelli, der selbstsüchtige Trieb der Willkür als Quelle des Staates angesehen. Sodann tritt ein edlerer Trieb, die Geselligkeit, in den Vordergrund, bis endlich versucht wird, den Staat aus der Gesamtheit der Triebe abzuleiten. (1) Das selbstsüchtige Naturrecht Im selbstsüchtigen Naturrecht erwähnt Michelet zwei Denker, Hobbes und Spinoza. (aa) Hobbes Hobbes hat, wie Machiavelli, eine verdorbene Wirklichkeit vor Augen, nämlich die Kriege und Wirren zur Zeit der Staatsumwälzung in England Mitte des 17. Jahrhunderts. Zugleich ist er geprägt durch die Erfahrung, daß erst durch Cromwells harte Hand Ordnung in den Staat eingekehrt war. Seine Rechtsphilosophie ist in inhaltlicher Hinsicht derjenigen Machiavellis sehr ähnlich, die Unterschiede liegen auf formaler Ebene. Während der Italiener aus der Sicht des Fürsten, einer mächtigen oder machtgierigen Einzelperson, den Staat konstruiert, tut Hobbes dasselbe

Β. Rechtsphilosophie

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unter der Rücksicht, was für die beteiligten Bürger der bestmögliche oder eher der am wenigsten schlechte Modus des Zusammenlebens sein kann. Er nimmt den Naturzustand als Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Dieser sei gekennzeichnet von Krieg aller gegen alle, und Furcht aller vor allen. Um Frieden und Sicherheit zu erlangen, letztlich also durchaus aus Selbstsucht, suchen die Bürger nach einer verläßlichen Ordnung. Diese wird hergestellt, indem man vom Naturzustand in eine Zwangsherrschaft übergeht, in welcher sich die Bürger dem Stärksten und Mächtigsten unterwerfen. Die Quelle des Rechts ist demnach die Gewalt, das Recht ist das Recht des Stärkeren. Doch die Unterworfenen genießen in dieser Situation den entscheidenden Vorteil der Sicherheit und akzeptieren daher um ihres eigenen Vorteils willen die Unterdrückung durch den Mächtigsten: für ihren Gehorsam erhalten sie Schutz. Es herrscht ein Recht, wenngleich es das Recht der Kanonen ist. Der Staat ist „die Unterwerfung der selbstsüchtigen Triebe Aller unter eine bevorzugte Willkür und Selbstsucht" (S. 51). Die so errichtete Zwangsherrschaft nennt Hobbes den allgemeinen Willen, den er für das Gesetz der Vernunft hält. Diese Konstruktion kann immerhin für sich beanspruchen, einen Staat und ein Sollen aus der Natur des Menschen abgeleitet zu haben. Doch der leitende Grundsatz ist nur die Selbstsucht, es herrscht daher weiterhin die Willkür, gleichwohl eine spezifische. Daher bleibt das hier dargelegte Sollen ein formelles, während inhaltlich, wie erwähnt, diese Konstruktion nicht über Machiavelli hinauskommt.

(bb) Spinoza Bei Spinoza findet sich eine Konzeption, die der Hobbes4 weitgehend entspricht. Doch vermeidet Spinoza eine wichtige Unstimmigkeit seines Vorläufers: Bei Hobbes wird der Naturzustand als ein rechtloser beschrieben, dann aber der gegründete Staat, in welchem ebenso die Willkür herrscht wie zuvor, als rechtlicher Zustand betrachtet. Dabei ist der einzige Unterschied doch der, daß ein höheres Maß von Frieden eingekehrt ist, während ansonsten die gleichen Prinzipien Geltung haben. Diese Unstimmigkeit bereinigt Spinoza, indem er sogleich Macht und Recht identisch setzt, also den Naturzustand als Zustand des Naturrechts betrachtet. Die höchste Macht ist für ihn die göttliche. Den geschaffenen Dingen kommt, seiner pantheistischen Vorstellung gemäß, soviel Macht und also Recht zu, wie sie an der göttlichen Substanz teilhaben. Da nun bei Spinoza das höchste Recht Gottes seine Selbsterhaltung ist, so strebt auch jedes Geschöpf nach der Erhaltung seiner selbst, was zugleich auch sein Recht ist. So ist auch hier, wie bei Hobbes, der Selbsterhaltungstrieb die Quelle des Rechts. Doch darüber hinaus gibt Spinoza die Geselligkeit als das Mittel der Menschen an, um den Zweck der Selbsterhaltung zu erreichen. Der Staat ist, wie auch bei Hobbes, nötig, um Sicherheit zu gewähren. Das tatsächlich ausübbare Recht entsteht durch Übereinstimmung und Einwilligung der Bürger. Das Recht des Einzelnen ist das, was die Macht der Menge ihm gibt. Neu sind an dieser Auffassung, wie Michelet anmerkt, auch die beiden Punkte, daß 9 Moser

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Zweiter Teil: Michelet

erstens hier im Vergleich zu Hobbes eine demokratischere Variante der Staatsentstehung gewählt wurde, indem der Staat nicht auf die Macht eines einzigen Individuums gegründet wird, sondern auf die Einwilligung vieler. Zweitens, damit in Zusammenhang stehend, führt Spinoza durch die angesprochene Einwilligung der Beteiligten auch das Element des Vertragschlusses als Entstehungsgrund des Staates an. (2) Das sozialistische Naturrecht Die nächste Entwicklungsstufe der Rechtsphilosophie bildet nach Michelet das sozialistische Naturrecht, in welchem der Trieb der Geselligkeit zur Grundlage der Versöhnung von Alleben und Einzelleben gemacht wird. Als Vertreter dieser Richtung werden Hugo Grotius und Pufendorf angeführt. (aa) Hugo Grotius Grotius erhebt die Veranlagung zur Geselligkeit, die für Spinoza nur Mittel der Selbstsucht war, zum Zweck. Gegen Hobbes gerichtet bestreitet er, daß jedes lebende Wesen von Natur aus nur auf seinen Vorteil bedacht sei, und behauptet dagegen, der Mensch sei von Natur aus darauf angelegt, das Wohlergehen seiner Mitmenschen zu befördern. „Das Mittel, um diesen Zweck zu erreichen, ist nach Grotius nun das Recht" (S. 54). Das Recht entsteht daher aus dem Verlangen, die Geselligkeit zu ermöglichen und zu schützen: Schadensersatz, die verpflichtende Wirkung von Verträgen und die Bestrafung von Verbrechen haben ihre Begründung im Aufrechterhalten der gesellschaftlichen Verbundenheit. Die natürlichen Rechte sind diejenigen, die notwendig sind, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Doch das Recht wird immer wieder gefährdet durch Menschen, die trotz des Geselligkeitstriebes ihrer Selbstsucht frönen. Daher bedarf das Recht eines institutionalisierten Schutzes, den es im Staate findet. Grotius bringt also, wie seine Vorgänger, ebenfalls den Trieb der Selbstsucht als treibende Kraft zur Staatsbildung in seine Theorie ein, aber nicht als das Gute, sondern als das die Rechte verhindernde, und daher zu überwindende, Böse. Doch hinsichtlich der friedenstiftenden Schutzfunktion des Staates deckt sich seine Konzeption mit den vorangegangenen. (bb) Pufendorf Pufendorf ist der zweite von Michelet erwähnte Vertreter des sozialistischen Naturrechts. Er versöhnt die von Hobbes in den Vordergrund gestellte Selbstsucht mit der von Grotius betonten Geselligkeit. Pufendorf anerkennt die Veranlagung des Menschen, sich mit anderen Menschen auszutauschen und bei ihnen Beistand zu suchen. Doch führt er diese Veranlagung letztlich auf die Selbstliebe zurück. „Aus Selbstliebe entspringt daher das Naturgesetz, Geselligkeit so viel als möglich zu erstreben und zu erhalten" (S. 56).

Β. Rechtsphilosophie

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(3) Das synkretistische Naturrecht Die dritte Form des die Triebe in den Vordergrund stellenden Naturrechts ist nach Michelet dessen synkretistische Ausformung, bei welcher nicht dieser oder jener Trieb, sondern deren Gesamtheit als Grundlage des Rechts angenommen wird. Als Vertreter dieser Richtung erwähnt er Thomasius, Wolf und Friedrich II., wobei ersterer nur als Wegbereiter dieser Richtung genannt und in zwölf Zeilen abgehandelt wird. (aa) Wolf Christian Wolfs Rechtsphilosophie gründet auf der Überlegung, daß die Natur des Menschen in der Allheit der Triebe, die er als den Trieb nach Glückseligkeit zusammenfaßt, zu sehen ist. Gut ist danach, was vollkommen macht, schlecht dagegen, was unvollkommen macht. Grundsatz der Sittlichkeit ist daher bei Wolf: Tue das, was Dich und andere vollkommener macht, und unterlasse das Gegenteil davon. Diese Konzeption enthält, wie Michelet hervorhebt, die Komponente der stetigen Fortentwicklung sowohl des einzelnen Menschen als auch der gesamten Menschengattung (S. 58). Betont wird auch Wolfs Einsicht in den Unterschied von Moral und Recht: Die Moral spricht ein Sollen aus, also die Aufforderung, sich selbst und andere zu vervollkommnen. Das Recht demgegenüber gibt eine Erlaubnis zu bestimmten Handlungen, die den Menschen vollkommener machen. (bb) Friedrich II. Der bei Wolf ausgesprochene Gedanke der Vervollkommnung der Gattung macht den Schritt zu einer Sichtweise, die sich von der überstarken Betonung des Einzelnen löst und ihn statt dessen wieder stärker als Glied eines organischen Vereins sieht. In dieser Richtung geht der philosophische König Friedrich II. weiter und konzipiert die höchste Ausformung des eudaimonistischen Naturrechts, indem er die gesamte Befriedigung aller Triebe aller Einzelnen auf den Staat überträgt. Völlig konträr zu Machiavellis Position ordnet er sämtliche Triebe aller Bürger, selbst des Fürsten, dem allgemeinen Wohl unter und bricht so mit der bis dahin üblichen Legitimierung willkürlicher Gewalt. Den Staat versteht Friedrich II. als stillschweigende Übereinkunft der Bürger, zum allgemeinen Wohl beizutragen. Er betont, die rechtverstandene Selbstliebe sei die vollkommene Hingabe. Auch billigt er den Königen kein göttliches Recht mehr zu, sondern betrachtet den Fürst oder König als Beamten und Diener seines Staates, dessen Souveränität sich gänzlich vom Volk ableitet. Damit setzt er die Allgemeinheit des Volksgeistes an die Stelle der Souveränität eines Einzelnen. Michelet hebt hervor, daß Friedrich in mancher Hinsicht doch noch auf gleichem Boden wie Machiavelli steht, so wenn er beispielsweise gestattet, Staatsverträge zu brechen, sofern das Interesse des Staates dies verlangt. 9*

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Zweiter Teil: Michelet

Hinsichtlich der Staatsverfassung favorisiert Friedrich ein gut verwaltetes Königreich, in welchem ein politischer Körper bestehen soll, der, falls kein Mißbrauch davon zu befürchten steht, dem König Vorschläge unterbreiten und mit ihm beratschlagen darf.

(b) Das rationalistische

Naturrecht

M i t der Rechtsphilosophie Friedrichs wird eine neue Stufe, die des rationalistischen Naturrechts, erreicht. Diese Uberleitung vom eudaimonistischen zum rationalistischen Naturrecht wird nachfolgend i m Original zitiert, da sie in vielfacher Hinsicht charakteristisch für Michelet als Autor ist: Es zeigen sich darin seine systematische Denkweise, sein eingängiger und eloquenter Stil, sein Einbezug der politischen Wirklichkeit in die Wissenschaft (wie es typisch ist für die Philosophie der Tat) sowie sein Optimismus, daß die dialektische Methode den Fortschritt des Menschengeschlechts garantiert: „Indem durch den Zweck des allgemeinen Staatswohls, den Friedrich aufstellte, nicht nur das Sonderinteresse der Bürger, sondern selbst das des Fürsten zum Schweigen gebracht wird, so sehen wir die höchste Umkehrung der Selbstsucht und der Befriedigung der Triebe überhaupt. Da also hier in dem Streben und Handeln jedes Einzelnen nur das Allgemeine herrschen soll, so heisst diess, die Vernunft, im Gegensatz zu den Trieben, nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach, zum Urgründe des Rechts zu machen; und das ist der Standpunkt des rationalistischen Naturrechts. Plato und Aristoteles, um den wahren Begriff des Rechts und der Gesellschaft zu finden, setzten die Natur des Menschen in der Übereinstimmung der Triebe mit der Vernunft. Nachdem diese Übereinstimmung von den Stoikern zerrissen worden war, beschränkten sich die bisherigen Naturrechtslehrer auf die Triebe, einen einzelnen oder ihre Gesammtheit. Weder dieser noch jener Trieb, nicht einmal die einstimmige Befriedigung aller bildet aber das innerste Wesen des Menschen. Nun wird aus der Vernunft allein das Recht abgeleitet; und das ist allerdings ein grosser Fortschritt. Denn während die Triebe nur die eine oder die andere Äusserung des menschlichen Geistes darstellen, bildet die Vernunft, die auch schon die Alten das Edelste im Menschen nannten, das alle diese Bestimmtheiten, und zwar nicht als eine Summe, zusammenhaltende Band. Die Vernunft ist das innere Wesen des Menschen, aber noch im Gegensatz gegen die Seite seiner Erscheinung, welche die Triebe sind. Wenn die bisherigen Naturrechtslehrer zwar ihrer Rechtsquelle auch Vernunft zuschrieben, so war diess doch darum nur ein Wort, weil in den Trieben der Geist, als zersplittert, nicht bei sich selbst, sondern bei einem Andern, nämlich abhängig von einer natürlichen Regung, ist. Vernunft aber in Wahrheit ist erst der Geist, der nur sich selbst als Geist zum Gegenstande hat, und diesen bei sich selbst seienden, nur sich auf sich beziehenden Geist nennen wir die Freiheit. Die auf das Handeln bezogene Freiheit ist aber der Wille; und so wurde jetzt der freie Wille zur Grundlage des Naturrechts gemacht, damit aber der wahre Boden des Rechts gewonnen, auf welchem das ganze Gebäude desselben aufgeführt werden muss. Das Recht beruht auf dem Willen, sein ganzer Stoff ist die Freiheit, weil es aus der Vernunft stammt. So wird von nun an diese Göttin der Freiheit unsere stete Begleiterin sein. Diese Grundlegung des Rechts haben Rousseau, Kant und Fichte vorgenommen, und auf diese Weise zur Gleichheit, welche die erste von den Alten

Β. Rechtsphilosophie

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aufgestellte Seite in der Begriffsbestimmung des Rechts ist, die zweite, die Freiheit, hinzugefügt; wie denn auch der von der ersten Französischen Staatsumwälzung angestrebte Rechtsstaat „Freiheit und Gleichheit" zu seinem Losungswort nahm. Wir werden bald sehen, welches das dritte Glied ist. Indem dasselbe aber noch fehlte, haben auch die genannten Männer den Standpunkt des Einzellebens zum Ausgangspunkt genommen; das ist ihr erster Mangel. Aus ihm folgt zweitens, dass auch bei ihnen der Staat nur ein Untergeordnetes ist, nur der Schutz der Person und des Eigenthums. Drittens aber irrten sie darin, die Vernunft mit Ausschluss der Triebe zur Grundlage gemacht, und so die Erscheinung vom Wesen getrennt zu haben" (S. 60-61).

(1) Rousseau Rousseaus Contrat social beginnt mit einer Gegenposition zu Hobbes: Zwang und Gewalt seien Mittel, aus deren Anwendung sich niemals Recht ergeben könne. Vielmehr basiere ein Staat auf freier, stillschweigender Ubereinkunft der Bürger. Rousseau bleibt so aber dem Kontraktualismus treu, der Einzelne steht immer noch über der Gesellschaft. Er nimmt genau den gleichen Ausgangspunkt wie Hobbes oder Spinoza, das Bedürfnis des Bürgers nach Sicherheit. Neu ist nach Michelets Ansicht hier nun vor allem der in die Rechtsphilosophie eingeführte Begriff der Freiheit. Die Bürger schließen den Staatsvertrag, um insgesamt mehr Freiheit zu genießen. Zur Aufgabe, die der bürgerliche Vertrag zu lösen hat, heißt es im Contrat social: „Eine Form der Verbindung zu finden, welche mit der ganzen gemeinsamen Macht die Person und das Eigenthum jedes Mitglieds beschütze und vertheidige, und durch welche jeder Einzelne, indem er sich mit Allen verbindet, doch nur sich selbst gehorche, und so frei bleibe wie vorher." 96

In klarer Abgrenzung zu Spinoza, der die Unterwerfung unter eine Staatsmacht als notwendiges Übel ansah, stellt Rousseau nun den Staatsvertrag als Ausfluß der Freiheit eines jeden Bürgers dar. Denn der Einzelne, indem er sich keinem spezifizierten Einzelnen unterwirft, bekommt den vollen Wert seiner Konzessionen wieder zurück, er tritt die Macht gewissermaßen an sich selber ab. Aus der Gesamtheit der Stimmen entsteht so ein moralischer Körper, ein gemeinsames Ich, welches das Wollen aller widerspiegelt: das ist der Souverän. Diesem allgemeinen Willen zu gehorchen bedeutet, wahrhaft frei zu sein. Denn der Naturzustand ist tatsächlich ein ganz unfreier, in welchem der Mensch nur seinen Trieben gehorcht. Im Staat dagegen gehorcht der Mensch dem Gesetz, welches aus seiner eigenen Vernunft fließt. Erst hier ist man sein eigener Herr, und handelt nach solchen Regeln, die man selbst aufgestellt hat, also autonom. Auch erlangen die Bürger, nach Rousseaus Ansicht, erst im Staat wahre Gleichheit. Die im Naturzustand herrschende Ungleichheit, hervorgerufen durch verschiedene Körperstärke und unterschiedliches Talent, weicht im Staat einer gesetzlichen Gleichheit. Einen Staat, dessen 96

Rousseau, Contrat social, ohne Nachweis zitiert (62).

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Zweiter Teil: Michelet

Verwaltung nur die Verwirklichung derjenigen Gesetze sicherstellt, die der allgemeine Wille festsetzt, nennt er Freistaat. Wenn er sagt, Demokratie passe für Menschen nicht, so ist zu beachten, daß damit die direkte Demokratie gemeint ist, in welcher Gesetzgebung und Verwaltung von denselben Personen, nämlich dem ganzen Volke, ausgeübt werden. Dagegen favorisiert er eine Regierungsform, welche er zwar Wahl-Aristokratie nennt, die in Wahrheit aber genau das ist, was heute repräsentative Demokratie genannt wird: das Volk wählt die Besten als Vertreter in die Staatsämter. Als Argument für diese Vorgehensweise wird genannt, die Tatkraft sei dort wirksamer, wo Wenige leiten. Der Souverän, merkt Rousseau an, ist der allgemeine Wille und mithin unteilbar. Von einer Gewaltenteilung zu sprechen kann daher nur bedeuten, von verschiedenen Seiten oder Tätigkeiten ein und desselben, allgemeinen Ich zu sprechen. Das Herrschen des allgemeinen Willens bedeutet freilich nicht, daß stets Einstimmigkeit herrscht, sondern es wird immer Streitigkeiten geben. Einstimmigkeit muß nur herrschen bei Abschluß des Bürgervertrages: diejenigen, die nicht zustimmen, sind eben keine Bürger dieses Staates. Bei allen sonstigen Gesetzen verpflichtet dann aber die Mehrheit auch die Übrigen. Die Mehrheit, wie Rousseau einräumt, ist zwar kein Garant für Wahrheit - aber die Wahrscheinlichkeit, daß eine Minderheit oder ein Einzelner irrt, ist größer. Michelet erblickt in dieser Äußerung die spekulative Einsicht, daß Quantität die Erscheinung der Qualität sei.

(2) Kant Immanuel Kant leistet gemäß Michelets Einschätzung zwei bedeutsame Beiträge zur Rechtsphilosophie: einerseits differenziert er Freiheit in die beiden Seiten des äußeren Rechts und der inneren Moralität, andererseits denkt er über die Staatsgrenzen hinaus an einen freiheitlichen Umgang der einzelnen Staaten untereinander. Das Recht ist für Kant die objektive und formale Seite der Freiheit. Die menschliche Triebfeder für eine rechtliche Handlung ist dabei gleichgültig, es kommt unter diesem Aspekt auf die Legalität an. Sie bezieht sich auf das Verhältnis zweier Willküren zueinander, unter Außerachtlassung von Wünschen oder Bedürfnissen. Danach ist eine solche Handlung recht, welche „die Freiheit der Willkür eines jeden mit Jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen lässt" (S. 64). Unter den Rechtsformen gliedert Kant zunächst in Einzelrecht und öffentliches Recht. Das Einzelrecht wiederum unterscheidet er in dingliches, persönliches und als Synthese in dinglich-persönliches Recht. Der Unterschied liegt darin, ob wie im Sachenrecht ein unmittelbares Verhältnis der Person zur Sache besteht und der Anspruch sich auf die ganze Substanz der Sache bezieht; oder dieses Verhältnis ein nur mittelbares ist, das sich nur auf eine einzelne Leistung des andern bezieht, wie im Vertrag; oder ob, wie im Familienrecht, eine

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Wechselwirkung und Gemeinschaft der Personen eintritt, so daß sich ein Anspruch auf eine Person in ihrer Gesamtheit ergibt. Im öffentlichen Recht betrachtet Kant zunächst das Staatsrecht „und kommt", wie Michelet kommentiert, „hier nicht wesentlich über Rousseau hinaus" (S. 66). Der Staat wird als eine auf Freiheit beruhende Schutzveranstaltung verstanden, in welcher das Volk nur seinem eigenen Willen gehorcht. Als die wahre Republik gilt Kant ein repräsentatives System. - Das Strafrecht, welches er als Teil des öffentlichen Rechtes betrachtet, ist durch den Vergeltungsgedanken gerechtfertigt. Der Einzelne verliert seine Freiheit nicht, denn er erleidet als Sinnenwesen nur solche Strafen, die er als freies Vernunftwesen und als Teilhaber der gesetzgebenden Gewalt selbst verhängt hat. In seinen Gedanken zum ewigen Frieden und zur Philosophie der Weltgeschichte fordert Kant, daß die Völker untereinander sich ebenso behandeln mögen wie die Personen innerhalb eines Staates dies tun. Jeder Staat muß als souveränes Rechtssubjekt behandelt werden. Sobald alle Staaten zu repräsentativen Verfassungen gelangt sein werden, und ein Völkerbund errichtet sein wird, fällt jeder Anlaß zum Krieg fort, und Streitigkeiten werden friedlich beigelegt. Auf diese Weise führt Kant, in völliger Abhebung von Machiavellis Konzeption, Moral und Politik wieder zusammen und etabliert den Gedanken eines weltweiten Bürgerrechtes.

(3) Fichte Als dritten Vertreter des rationalistischen Naturrechts gibt Michelet Fichte an. Fichte macht den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich zum Ausgangspunkt. Das Nicht-Ich, also das Andere, begrenzt die eigene Freiheit. Doch alles natürliche Andere schränkt die Freiheit des Ich nur faktisch ein. Eine inhaltliche Einschränkung der Freiheit des Ich kann nur von einem anderen Ich ausgehen. Diese Grenzziehung und Definition der Freiheit des Ich von einer unbegrenzten zu einer begrenzten geschieht durch den Akt der Aufforderung, den Fichte auch eine offene Bestimmung nennt. Eine Bestimmung ist die Aufforderung insofern, als ein Tun gefordert wird; offen ist sie, weil die Befolgung von der Freiheit des eigenen Ich abhängt. In der Aufforderung wird das Ich daher als freies angesprochen. Zu solch einer Aufforderung ist nur in der Lage, wer selbst den Begriff der Freiheit bilden kann, also selbst frei ist. In der Aufforderung wird also die zunächst unbegrenzte Freiheitssphäre zwischen dem Fordernden und dem Geforderten geteilt. Erst durch diesen Prozeß der Etablierung endlicher Freiheit wird es möglich, sich und andere als frei zu denken. Diesen Vorgang, der unerläßliche Voraussetzung dafür ist, daß ein Mensch überhaupt sich und andere als das begreifen kann, was sie sind, nennt Fichte das Recht. Das Recht drückt die gegenseitige Anerkennung als freie Wesen aus, und es beinhaltet die Einschränkung der eigenen Freiheit zur Ermöglichung der gemeinsamen Freiheit unter der Bedingung der Gegenseitigkeit dieser Beschränkung. Aus diesem Freiheitsbegriff leitet Fichte Urrechte ab, die sich aus der

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Zweiter Teil: Michelet

Vernunftnatur des Menschen ergeben: so das Urrecht, in der Sinnenwelt stets Ursache und nie nur Bewirktes zu sein, sowie das Urrecht auf Fortdauer der eigenen Freiheit und die Unantastbarkeit des Leibes. Da Recht ein wechselseitiges Verhältnis darstellt, führt die VerÜbung von Unrecht zum partiellen Rechtsverlust: Soweit Unrecht begangen wird, negiert der Täter die Freiheit und fällt zurück in den Zustand der Natürlichkeit, ist also nicht aufforderbar, sondern determiniert, gezwungen und unfrei. Um nun nicht auf die Moral des Rechtspartners angewiesen zu sein, ist es nötig, daß das Recht institutionalisiert und damit durchsetzbar gemacht wird. Dies geschieht im Staate. Dieser Staat muß genau das wollen, was alle wollen. Als Aufgabe der Philosophie bezüglich des Staatsrechts sieht es Fichte daher an, einen Willen zu finden, in dem Einzelwille und Gesamtwille synthetisch vereinigt sind. Die Antwort auf die Frage nach der Regierungsform macht er abhängig von der bereits erreichten Routine des Volkes im Umgang mit gesetzlicher Freiheit: während sich für junge Staaten eine starke, durchgreifende Regierung besser eignet, schlägt er für Völker, die bereits an die Freiheit gewöhnt sind, die Wahl der Regierenden vor. Bemerkenswert ist Fichtes sittliche Forderung, den Staatszweck nicht alleine in Schutz und Sicherung des Rechts, sondern ebenso in der Unterstützung der hilfsbedürftigen Bürger zu erblicken. Die Vernunft, welche alle Menschen eint, strebt nach der freiheitlichen und sittlichen Einigung der gesamten Menschengattung. Dies ist für Fichte das Ziel der Geschichte.

(c) Das geschichtliche Naturrecht Das geschichtliche Naturrecht, als dritte Ausprägung des Naturrechtsdenkens, erkennt die Verwirklichung von Vernunft, Glückseligkeit und Freiheit nicht mehr in der Verwirklichung eines Triebes, wie im eudämonistischen Naturrecht, noch in der als Urbild vorgestellten Vernunft, wie im rationalistischen Naturrecht: sondern in einem historischen, das ganze Menschengeschlecht umfassenden Prozeß. Die historische Schule um Savigny betont dabei die Vergangenheit, Thibaut dagegen die Gegenwart, die doch das Ergebnis der Geschichte ist, und Gans vereinigt beide Positionen, indem er das vernünftige Recht in der Zukunft sieht. (1) Savigny und die historische Schule Savigny und seine Schule behaupten, das sogenannte Naturrecht sei nicht als Ergebnis vernünftiger Einsicht vorzustellen, sondern als eine Auslese und Zusammenstellung bestehender Rechtssysteme verschiedener Völker und Zeiten, und somit auf Erfahrung, nicht auf Vernunft aufgebaut. Das Recht ist dieser Ansicht zufolge vorrangig gespeist aus der geschichtlich bedingten Gewohnheit der Völker. Es bildet sich nicht durch den Beschluß des Gesetzgebers, also von oben, sondern allmählich und von unten, aus dem Volke heraus, weiter, ähnlich wie die Sprache.

Β. Rechtsphilosophie

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Savigny sieht den Schlüssel zum Verständnis des Rechts im Studium der Quellen, die bis zur Wurzel zurück verfolgt werden müssen. Michelet merkt hierzu kritisch an, daß die Vertreter der historischen Rechtsschule ihren Weg nicht bis zu Ende gehen, sondern beim römischen Recht stehen bleiben, das sie als den Ursprung des Rechts ausgeben. Er steht der historischen Schule merklich ablehnend gegenüber und betont deutlich deren Unstimmigkeiten: „So ist der doppelte Fehler der historischen Schule: einmal das Römische Recht als das Urbild des Rechts anzusehen, und in dieser Vorliebe für die Vergangenheit sehr ungeschichtlich den Fortschritt und die Weiterbildung der Römischen Rechtsbegriffe oft für Verderben, Irrthum und Missverständniss zu behaupten; andererseits die Gegenwart über die Vergangenheit zu vergessen, und sich in einer alterthümelnden Vorliebe für das Römische Recht zu gefallen, damit aber bei der blossen Theorie des Rechts stehen zu bleiben, ohne zur Praxis kommen zu können" (S. 72).

(2) Thibauts praktische Rechtslehre Thibauts praktische Rechtslehre überwindet die bei Savigny konstatierte Vernachlässigung der Praxis und fordert, die Vielzahl der damals in den verschiedenen kleinen Staaten geltenden Gesetze zu einem für ganz Deutschland gültigen Gesetzbuch zu vereinigen. Zweitens verfolgt er konsequenter als Savigny selbst die Forderung, bis auf die Quellen des Rechts zurückzugehen, indem er einerseits nicht bei den Römern stehenbleibt, andererseits auch das Ubergewicht des römischen Rechts in der historischen Schule überwindet: „Zehn Vorlesungen über das Erbrecht der Griechen, Perser, Inder u.s.w. würden mehr Nutzen bringen, als das unendliche Detail über die Pfuschereien, in welches man in Bezug auf's Römische Erbrecht bis Justinian eingeht." 97

(3) Gans und die philosophische Rechtswissenschaft Gans knüpft an Thibauts Thesen an und stellt eine universelle Geschichte des Erbrechts auf, die mit dem morgenländischen Erbrecht beginnt. Zum Verständnis des Erbrechts scheint es ihm aber nötig, auch auf das Familienrecht einzugehen, das wiederum darzustellen ist vor dem Hintergrund des ganzen Geistes des jeweiligen Volkes. Durch diese Vorgehens weise ergänzt und vervollständigt Gans die historische Schule und bettet deren historische Erkenntnisse in die von der historischen Schule abgelehnte Vernunfterkenntnis der Philosophie ein. „Er ist so der Erfinder der allgemeinen Rechtsgeschichte, der philosophischen Geschichte des Rechts" (S. 73) und leitet die Versöhnung von Rechtswissenschaft und Philosophie ein. Sein Fortschritt gegenüber der historischen Schule besteht darin, daß er diese nach vorne und nach hinten erweitert: Erstens geht er bis zu den wahren Anfängen des Rechts zurück. Zweitens führt er die vergangenheitsbezogenen Erkenntnisse 97

Thibaut, ohne Nachweis zitiert (72).

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Zweiter Teil: Michelet

der Geschichte mit der von Erfahrung unabhängigen Quelle des Vernunftrechts zusammen und beansprucht, aus dieser Zusammenschau die Entwicklung des Rechts in der Zukunft vorhersagen zu können. „Und insofern steht er auf dem wahren Standpunkte der Rechtsphilosophie, den auch wir einnehmen [ . . . ] Die ganze geschichtliche Entwickelung des Rechtssystems verstehen wir erst aus der philosophischen Darstellung des Vernunftrechts, die also vielmehr der Maassstab des vergangenen und gegenwärtigen Rechtszustandes und das sichere Merkzeichen der sich in der Zukunft vollendenden Verwirklichung dieses Vernunftrechts ist" (S. 74).

Die Entwicklung des geschichtlichen Naturrechts führt zu dem Ergebnis, daß das Wohl und die Freiheit der gesamten menschlichen Gattung als das Ziel der Rechtsentwicklung zu gelten hat. Dadurch wird der Standpunkt des vom Einzelnen ausgehenden Rechtskonzepts überwunden und zur zweiten Seite des dritten Abschnitts der Rechtsphilosophie übergegangen. Hier wird das gesellschaftliche Leben zur Grundlage des Wohls des Einzelnen gemacht. Es ist bemerkenswert, daß Michelet seinen Freund, den Hegelianer Eduard Gans, hinsichtlich der Rechtsphilosophie sogar über den gemeinsamen Meister stellt. Denn Hegel findet erstaunlicherweise keine Erwähnung im vorliegenden Abriß der Geschichte der Rechtsphilosophie. Vielmehr sieht Michelet in Gans offenbar den herausstellenswertesten Vertreter hegelianischer Rechtsphilosophie.98 Dies zeigt zudem, daß Michelet seine eigene rechtsphilosophische Position nicht nur als eine Variante zu Hegel sieht, sondern als neue Theorie. Andernfalls wäre nicht erklärlich, weshalb er seiner eigenen Theorie überhaupt einen Platz in der Geschichte der Rechtsphilosophie anweist, da Gans bereits stellvertretend für die Hegelianer steht.

bb) Kommunismus und Sozialismus Auf diesem zweiten Standpunkt der dritten Epoche der Geschichte der Rechtsphilosophie wird wieder der Forderung Piatons Rechnung getragen, daß für alle Bürger Vorsorge und Gewährleistung sichergestellt sein muß. Im Gegensatz zum Naturrecht, welches den Staatswillen aus den Einzelwillen hervorgehen sieht, „geht jetzt erst aus der öffentlichen Thätigkeit des Ganzen der Zweck des Einzelnen hervor" (S. 75). Wobei jedoch der Zweck der Staatstätigkeit nicht im allgemeinen Leben als solchen erblickt wird, sondern im Wohl des Einzelnen und in der Befriedigung seiner Sonderinteressen. Daher tritt der Staat nicht als alles verschlingende Macht auf, sondern er erhält den Machtumfang, der es ihm gestattet, für die Befriedigung der Einzelinteressen zu sorgen.

98 Dies bemerkt auch Riedel, S. 12.

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In der ersten Ausprägung des Sozialismus, der Gemeinschaftslehre, ist der Freiheitsraum des Einzelnen stark eingeschränkt und sogar das Eigentum abgeschafft. Die Gesellschaftslehre von Fourier stellt das Privateigentum wieder her, zwingt den Einzelnen aber weiterhin in einen unfreiwilligen Verein. Louis Blanc und Proudhon schließlich plädieren für eine Staatsorganisation im Sinne eines freien Vereinslebens. Michelet betont, daß die Entwicklung der sozialistischen Rechtsphilosophie nicht im strengen Sinne als zeitliche Folge des Naturrechtsdenkens zu verstehen ist, sondern vielmehr beide Stränge sich zeitlich überlagern, obgleich die beiden Traditionen in systematischer Hinsicht nicht auf einer Stufe stehen. Daher werden nun Autoren angesprochen, deren Wirken zu einem früheren Zeitpunkt liegt als das von Eduard Gans.

(a) Die Gemeinschaftslehre In der Gemeinschaftslehre wird die Einseitigkeit des Naturrechts überwunden, das Einzelleben zum Ausgangspunkt der Rechtsphilosophie zu machen. Hier wird die Gleichheit der Bürger wieder stärker betont, während im Gegenzug die Freiheit noch zu wenig Achtung erfährt. Die rechtsphilosophische Bedeutung des Sozialismus liegt nach Michelet darin, zu den beiden Maximen Gleichheit und Freiheit noch die dritte, die Brüderlichkeit, hinzugefügt zu haben. (1) Die kirchliche Gemeinschaftslehre Thomas Münzer und Johann von Leyden konstruieren einen Staat, in welchem das Christentum in seiner Reinheit verwirklicht ist. Sie erheben daher die von Christus gelehrte Brüderlichkeit zur obersten Maxime und lassen nur gemeinsames Eigentum zu. Es soll keine Obrigkeit geben neben dem Wort Gottes. Jeder bekommt für seine Arbeit eine Besoldung, von der er leben kann. Die bürgerlichen Rechte sind hier völlig der kirchlichen Gemeinschaft geopfert. Von den Mormonen wird diese Vorstellung „in unseren Zeiten" in Amerika weiter verbreitet und praktiziert (S. 77). Die Menschheit kann sich dieser Uberzeugung zufolge nicht selbst regieren, sondern wird vom obersten Priester geführt. Damit wird die gesamte Weltlichkeit der Kirche unterworfen.

(2) Die weltliche Gemeinschaftslehre Als zweiten Standpunkt der sozialistischen Gemeinschaftslehre stellt Michelet deren weltliche Ausprägung vor, wie sie von Babeuf und Cabet vertreten wird. Im Gegensatz zur vorgenannten kirchlichen Lehre wird hier keine innerliche, sondern eine äußerliche Gleichheit der Bürger, die sich im Genüsse äußert, gefordert. Der Boden gehört Babeuf zufolge niemandem, seine Früchte dagegen gehören allen.

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Zweiter Teil: Michelet

Daher bedeutet es ein Verbrechen, wenn sich jemand Güter zum privaten Gebrauch aneignet und somit andere von deren Gebrauch ausschließt. Die Menschen sind von Natur aus gleich, weshalb nur das in der Gleichheit bestehende gemeinsame Glück den Menschen angemessen ist. Alle Erzeugnisse des Staates sind zu sammeln und gleichmäßig zu verteilen. Michelet kritisiert hieran insbesondere die mangelnde Motivation zur Tätigkeit: „Diese Lehre verwirft den Gedanken des Wetteifers, der eben die Talente der Einzelnen weckt. Solche Lehre muß den Ackerbau als den höchsten Beruf der Menschheit ansehen, weil dieser auch die Unterschiede der Menschen am wenigsten hervorhebt und dem paradiesischen Zustande näher zu sein scheint. [ . . . ] Ja, statt Gleichheit zu fördern, ist die Gemeinschaftslehre, wie Bastiat sehr gut sagt, die Ungleichheit der schlechtesten Art; denn man wird wetteifern, wer am Wenigsten und am Schlechtesten arbeitet, da doch Jeder ernährt werden muß" (S. 77-78).

Cabet konkretisiert diese weltliche Gemeinschaftslehre, indem er neben der Arbeit und den Genüssen auch die Erziehung, ja selbst die tägliche Hauptmahlzeit vergemeinschaftet. Er fordert einen Konformismus, will überall die gleiche Kleidung und die gleichen Gerätschaften einführen, den Luxus und jede Besonderheit abschaffen. Im Ideal tritt für ihn der Gesamt- bzw. Durchschnittsmensch an die Stelle des individuellen Einzelnen. Die Brüderlichkeit ist in dieser Konzeption in höchster Weise verwirklicht, die persönliche Freiheit dagegen wird nahezu unterbunden. (3) Die Saint-Simonisten Die Saint-Simonisten nehmen den dritten Standpunkt der sozialistischen Gemeinschaftslehre ein. Sie erkennen die Ungerechtigkeit, welche darin liegt, die ungleichen Bedürfnisse der Ungleiches leistenden Menschen gleichmäßig zu befriedigen. Sie fügen der verteilenden Gerechtigkeit als Bestimmungsgrund neben der formellen Gleichheit den Aspekt der Arbeit hinzu. Dadurch treten sie dem Konformismus und der Motivationslosigkeit des vorigen Standpunktes entgegen und begünstigen die Entfaltung unterschiedlicher Talente. Auch Eigentum wird wieder zugelassen, jedoch nur als zeitweiliges, streng auf die persönlichen Verdienste bezogen: vererbbar ist das Eigentum bei den Saint-Simonisten nicht. Der Gewerbefleiß und die Ausschöpfung der je verschiedenen Fähigkeiten rangieren in dieser Konzeption an höchster Stelle. Michelet bezeichnet sie daher als industrielle Gemeinschaftslehre. „Indem die Vereinigung und Vergesellschaftung aller Stände in der Arbeit als die wahre Religion, als die Gegenwart des lebendigen Gottes in der Menschheit galt, so verband Saint-Simon den kirchlichen und den weltlichen Communismus. Das neue Christentum, das er predigte, bestand nach ihm darin, dass die Menschen schon auf Erden glücklich gemacht würden, und zwar, wie sie es durch ihren Fleiss und durch ihre Fähigkeiten verdienten; - ein sehr richtiger Gedanke" (S. 79).

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(b) Fouriers Gesellschaftslehre In Fouriers Gesellschaftslehre erblickt Michelet die zweite Stufe der sozialistischen Rechtsphilosophie. Der Fortschritt dieser Position besteht darin, durch Anerkennung der Erbschaft das Eigentum, und damit die persönliche Freiheit, wiederhergestellt zu haben. Auch bei Fourier nimmt die Arbeit eine bedeutsame Stellung ein, da durch sie der Gegensatz von Natur und Geist wie auch derjenige zwischen Einzelleben und Alleben überwunden wird. Zudem wird nun wieder die freie Wahl der Arbeitstätigkeit gestattet, obgleich diese in einer gemeinschaftlichen Werkstätte stattfindet. Die Menschen sollen sich zu je zweitausend in Vereinen organisieren, in welchen gemeinsam gewohnt und gearbeitet wird. Die Mitgliedschaft in einem Verein ist aber nicht freiwillig, sondern verpflichtend. An die Stelle von einzelnen Staaten organisieren die Menschen sich weltweit einheitlich unter einem Omniarchen. Da der Anspruch des Einzelnen auf das gemeinsame Land infolge der gemeinschaftlichen Nutzung nicht mehr gewährt werden kann, so tritt als Ausgleich dafür ein Recht auf Arbeit an diese Stelle. Die überschüssigen Erzeugnisse eines Vereins werden vermarktet, der Uberschuß wird aufgeteilt nach den Faktoren Kapital, Arbeit und Talent jedes Einzelnen.

(c) Blanc und Proudhon Den Standpunkt Blancs und Proudhons, welche die dritte und höchste Stufe der sozialistischen Rechtsphilosophie repräsentieren, nennt Michelet „die Vorhalle des wahren Standpunkts" (S. 80). Von ihnen wird ebenfalls ein Vereinsleben vorgeschlagen, jedoch ein freiwilliges. Blancs Vorstellung geht dahin, zunächst gemeinschaftliche Vereins- und private Betriebe nebeneinander wetteifern zu lassen, bis sich jedermann von den Vorzügen gemeinschaftlicher Arbeit überzeugt haben würde. Es soll für jede Arbeitssphäre eine Hauptwerkstätte eingerichtet werden, von welcher die einzelnen Tochterwerkstätten abhängen. Der Gewinn der Werkstätten wird teils für den Unterhalt einer Versicherungsbank aufgewendet, welche die Gefahr von Handelsstockungen abfedert; teils wird er zur Finanzierung von Unterstützungskassen für Alte, Kranke und Schwache verwandt; teils werden davon neue Arbeitsgeräte angeschafft; und letztlich wird ein Teil des Gewinns gleichmäßig unter den Vereinsmitgliedern aufgeteilt. Das höher talentierte Vereinsmitglied soll keinen höheren Lohn erhalten, da es bereits von der Natur bevorzugt ist und kein Anlaß besteht, ihm zusätzlich auch noch mehr äußere Güter zuteil werden zu lassen. Proudhon geht noch einen Schritt weiter in der Verwirklichung der Freiheit des Einzelnen. Er gelangt zu der Einsicht, daß das Einzelleben die ursprüngliche Tatsache der Menschheit ist, das Vereinsleben jedoch ihre Vervollständigung. Um sicherzustellen, daß jeder Arbeiter seine Arbeit angemessen verwerten kann, schlägt er eine Organisation des Kredites vor und fordert die Vergabe zinsloser Darlehen von der Staatsbank. „Das ist das Hirngespinst, auf das auch er noch ver-

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Zweiter Teil: Michelet

sessen ist" (S. 82) urteilt Michelet über diese Auffassung. Da sich der französische Staat jedoch nicht die Ansichten Proudhons zu eigen machte, so gründet er eine eigene Kreditbank, mit welcher er jedoch, mangels Wirtschaftlichkeit, bald scheitert. Doch abgesehen von diesem Fehler hebt Michelet die Konzeption als sehr einsichtig und hochentwickelt hervor, da sie Freiheit und Gemeinleben in höchstem Maße vermittelt: „Alle Ichheiten bilden, ohne in einander zu fliessen, Eine grosse, zusammenklingende, mitfühlende Seele. [ . . . ] Diese durchgängige Gemeinschaft, welche, ohne die Charactere aufzuheben, sie vielmehr durch die Liebe bis zum Urbild erhebt, ist die Gesellschaft, wie sie sein soll. Wir arbeiten, ohne irgend etwas in uns zu empfinden, was einem Befehl oder Gehorsam gliche, mit merkwürdigem Einklang, als seien wir alle zugleich die ursprünglichen Glieder der Bewegung. [ . . . ] es ist die Freiheit, die nicht die Tochter der Ordnung, sondern ihre Mutter ist." 9 9

cc) Michelets eigener Standpunkt Als Resultat der gesamten geschichtlichen Entwicklung der Rechtsphilosophie gibt Michelet seinen eigenen Standpunkt an, den er auf die Kernformel „Freiheit der Persönlichkeit im sittlichen Bunde" (S. 86) bringt. Allerdings verzichtet Michelet darauf, diese Position zu umreißen, sondern er gibt an dieser Stelle nur an, welche historische Stellung und Aufgabe ihr zukommt und inwiefern sie einen Fortschritt gegenüber den vorigen Konzeptionen darstellt. Wenn Hegel diesen wahren Standpunkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts theoretisch vorbereitet habe, so „kommt es nun darauf an, ihn in der zweiten Hälfte, und zwar mit Bewusstsein aus den wissenschaftlichen Grundlagen heraus, zu verwirklichen" (S. 85). Inhalt der heutigen Rechtsphilosophie sei der vollständige Ausgleich der vorigen Gegensätze, so zwischen Einzelleben und Alleben, zwischen Recht und Moral, zwischen Freiheit und Ordnung. Das „Geheimniss des neuen sittlichen Lebens" ist der „freiwillige Verein" (S. 86), in welchem zwei Pole zusammengeführt werden: „Der eine Pol [ . . . ] ist die größte Ausbreitung der persönlichen Freiheit. Jeder darf für sich leben, schaffen, denken, arbeiten, wie er will, nur darf er die Freiheit des Andern dabei nicht verletzen. Er darf diess Alles allein ohne die Hülfe eines Andern thun, wenn er sich allein für stark genug dazu hält. [ . . . ] [Das M.M.] Vereinsleben ist der zweite Pol der neuen Gesellschaft, die im Entstehen begriffen ist. [ . . . ] Der allgemeine Wille des Vereins ist nur das Ergebniss aus den Einzelwillen aller Theilnehmer. Der Wille jedes einzelnen Theilnehmers spiegelt nur den allgemeinen Willen des Vereins ab; denn würde ein Mitglied den Willen der Mehrheit nicht hinterher als den seinigen anerkennen, der Verein ihm also nicht mehr zusagen, so würde es ausscheiden. [ . . . ] Durch den einen Pol drückt der Mensch sein Fürsichsein, seine Einzelnheit, seine persönliche Geltung aus: durch den anderen sein allgemeines Sein, sein Aufgehen in das Alleben vom Familienbunde bis zum 99 Proudhon, ohne Nachweis zitiert (82-83).

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Bunde des ganzen Menschengeschlechts, ohne dass er durch den leisen Zwang jenes streng sittlichen Staatsbegriffs als eines Zuchtmeisters dahin gebracht zu werden brauchte" (S. 86-87).

Diese Geschichte der Rechtsphilosophie mag an manchen Stellen als etwas zu stark in ein dialektisches Korsett gezwängt erscheinen. Dies mindert jedoch nicht ihren Neuigkeitswert. Sie stellt eine auf Hegelscher Grundlage aufgebaute Fortentwicklung dar, welche dem Programm der Philosophie der Tat verpflichtet ist, zunächst alle Wissensbereiche zu historisieren, um aus dem bisherigen Verlauf Rückschlüsse auf das Ziel der Entwicklung ziehen zu können, und alsdann direkt auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Dasselbe Anliegen verdeutlicht sich im folgenden Kapitel, in der Geschichtsphilosophie, noch stärker. Zuvor jedoch soll noch eine Einordnung von Michelets Geschichte der Rechtsphilosophie vorgenommen werden.

2. Einordnung Michelets spezifische Schwerpunkte in seiner Geschichte der Rechtsphilosophie werden verdeutlicht, wenn man seine Konzeption mit derjenigen von zeitgenössischen Autoren außerhalb der Hegelschule vergleicht. Zu diesem Zweck werden die Geschichten der Rechtsphilosophie von Friedrich Julius Stahl und Heinrich Ahrens herangezogen.

a) Stahl Friedrich Julius Stahl (1802-1861) entstammte einer jüdischen Familie. Er trat jedoch zum Luthertum über. Seine Position ist in erster Linie durch Schelling geprägt, doch auch von der historischen Rechtsschule fühlte er sich angezogen. Im Zentrum seiner Philosophie steht der Schöpfergott als freie Persönlichkeit. Dessen Fügung offenbart sich weiter in der Geschichte. Die zwei wichtigen objektiven Ordnungen der Menschheit, Staat und Kirche, beziehen ihre Legitimität aus Gottes Gebot. Staat und Kirche dienen somit dazu, Gottes Willen zur Geltung zu bringen, und haben daher unbedingten Anspruch auf Erhaltung. Philosophisch betrachtet handelt es sich bei Stahls Rechtsphilosophie um eine eklektizistische Lehre, die unter dem Vorherrschen mittelalterlich-theokratischer Ansätze verschiedene Elemente in dem Ziel vereint, sämtliche Einwände gegen seine Konzeption gottgewollter objektiver Ordnungen zu entkräften. 1840 wurde Stahl nach Berlin berufen, wo er seine starr-doktrinären Ansichten im Dienste der Reaktion verbreitete. 100 Stahls Geschichte der Rechtsphilosophie101 sieht in den griechischen Systemen Piatons und Aristoteles' einen unvereinten Gegensatz zwischen einer Vollkomloo Vgl. Landsberg, S. 392-396. ιοί Stahl, S. 21 -37.

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menheit, von welcher der Mensch aber nur eine Vorahnung hat (Piaton), mit einer empirischen Wirklichkeit, die aber zufällig erscheint (Aristoteles). Es scheint keine Verbindung zwischen Wirklichkeit und Vollkommenheit zu bestehen. Im Vergleich zu Michelet fällt auf, daß dieser gerade einen Aspekt der Einheit in der griechischen Rechtsphilosophie hervorhebt (von Einzelnem und Gemeinschaft), während für Stahl ein Aspekt der Entzweiung (zwischen Ideal und Wirklichkeit) im Vordergrund steht. Die römische Epoche hält Stahl rechtsphilosophisch für unbedeutend. Er widmet ihr lediglich zwei Druckseiten (S. 47-49). Michelet dagegen erkennt im Stoizismus einerseits und bei den römischen Rechtslehrern andererseits bereits eine sich abzeichnende Dialektik von erstens privater Welt gegenüber Außenwelt, und zweitens damit einhergehend von Moralität gegenüber strengem Recht. Erst Augustinus vermag, nach Stahls Ansicht, die in der griechischen Philosophie konträren Positionen in Einklang zu bringen, indem er die Menschheit als in einem historischen Prozeß stehend begreift: Aus der christlichen Offenbarung entnimmt Augustinus die Einsicht, daß die Bedingungen menschlichen Daseins durch eine göttliche Tat verändert wurden, und nach dem Zurücklegen eines gottgewollten Weges in der Zukunft wiederhergestellt werden. So wird bei Augustinus erstmals ein Zusammenleben der Menschen denkbar, das sich sowohl an einem Ideal der Vollkommenheit orientiert, als auch der unvollkommenen Wirklichkeit gerecht wird. Er erkennt das Göttliche im Menschen (S. 53 ff.). Michelet dagegen geht auf Augustinus nicht eigens ein. Unter den mittelalterlichen Schriftstellern hebt Stahl Thomas von Aquin, Dante und Occam heraus (S. 72 f.). Sie setzen seiner Ansicht nach die durch Augustinus eingeleitete Entwicklung fort, indem sie die Weltgeschichte als durch Gottes unmittelbaren und allgegenwärtigen Willen bestimmt ansehen. Michelet dagegen spricht von einer zusammengehörigen römisch-mittelalterlichen Epoche der Rechtsphilosophie.102 Deren Hauptzug erblickt er darin, daß sich der Konflikt zwischen innerer Moral, thematisiert duch die Stoa, und äußerlichem Recht, thematisiert durch die römischen Rechtslehrer, immer stärker zuspitzt, um in der reinen Nützlichkeitslehre Machiavellis zu gipfeln. Für Stahl bricht mit der Reformation die Epoche der naturrechtlichen Philosophie an, welche er als rationalistisch und abstrakt wertet (S. 74 ff.). Sie sei geprägt von Ablehnung jeglicher Autorität, Ablehnung von geschichtlicher Betrachtungsweise, Betonung des reinen Denkens, der Reflexion und des Selbstbewußtseins des Menschen. Sie gehe erfahrungsunabhängig vor und halte Vernunft nicht nur für ein Mittel, sondern für die Quelle der Erkenntnis. Diese Konzeption kennt nach Stahls Uberzeugung nur Ursache und Folge. Alle Phänomene werden als logisch zwingend aufgefaßt, es verbleibt kein Raum für Schöpfung, Freiheit, Veränderung oder Geschichte (S. 91-98). Michelet dagegen betrachtet das Naturrecht als einen Ver102 Vgl.ZweiterTeilB.il. l . b )

Β. Rechtsphilosophie

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such, die Aufgehobenheit des Einzelnen im Alleben (wie in der griechischen Philosophie) mit der Betonung des Einzellebens (wie in der römisch-mittelalterlichen Philosophie) zu versöhnen. Er sieht den Hauptkonflikt in dieser Epoche also zwischen Einzelleben und Alleben, während Stahl ihn als solchen zwischen rein apriorischem und geschichtlichem Denken sieht. Den nächsten großen Schritt erblickt Stahl in der Tendenz der nachrevolutionären Philosophie, welche wieder einen dem Staate innewohnenden, höheren, göttlichen Willen anerkennt (S. 375 ff.). Sie akzeptiert damit wieder eine außerhalb des Menschen liegende Ursache für das Recht. Die beiden wichtigsten Ausprägungen der nachrevolutionären Philosophie sind nach Stahl in der spekulativen Schule sowie in der historischen Juristenschule zu sehen. Sie erkennen wieder die Bedeutung des geschichtlichen Zusammenhangs und befolgen das Gebot: „Du sollst diesen Zusammenhang nicht grundlos unterbrechen, du sollst Pietät haben vor dem, das durch Gottes Fügung oder Zulassung in diesem Zustand geworden [ . . . ] " (S. 81). Die Verfahrensweise der spekulativen Philosophie erkennt, so Stahl, Natur und Geschichte wieder in ihrer Zusammengehörigkeit, wodurch die Welt nicht mehr als Gegensatz zur Vernunft erscheint. Sie betrachtet jede Einzelheit in ihrer Totalität und auf ihre absolute Ursache hin, während die reflexive Betrachtung des Naturrechts das Einzelne immer nur in Zusammenhang mit anderen Einzelnen und daher immer nur in seiner relativen Bedeutung innerhalb eines Kausal- und Finalzusammenhangs verstanden hat (S. 282 ff.). Den Höhepunkt der spekulativen Philosophie sieht Stahl durch Schelling erreicht, wohingegen Hegel von dieser Höhe wieder abfalle, indem er wieder stärker das rationalistische Element betone. Michelet sieht den weiteren Fortschritt der Rechtsphilosophie, im klaren Gegensatz zu Stahl, nicht darin, daß der Mensch wieder eine dem Staate innewohnende göttliche Macht anerkennt, welche sich seiner Einsicht entzieht. Er ist vielmehr der Auffassung, daß auf der nunmehr erreichten Stufe des endlichen menschlichen Bewußtseins ein Ausgleich aller Gegensätze, so zwischen Einzelleben und Alleben, zwischen Recht und Moral, zwischen Freiheit und Ordnung, möglich sei. Er sieht die Lösung der rechtsphilosophischen Aufgaben darin gewährleistet, daß der Mensch im Gange der Geschichte genügend Einsichtskraft erworben hat, um sein weiteres Schicksal selbst zu bestimmen - und nicht darin, daß er sich wieder einer fremden Macht unterstellt.

b) Ahrens Heinrich Ahrens (1808-1874) war Schüler und Anhänger Karl Christian Friedrich Krauses (1781-1832). Er grenzt Recht gegenüber Moral klar ab, indem er sich an Kants Rechtsdefinition anlehnt. Weiterhin ist seiner Lehre ein teleologischer Zug anzumerken, wobei er, ohne sie explizit zu nennen, bei Aristoteles und Thomas von Aquin anknüpft. Auch die Lehre von Saint-Simon hatte insofern erheblichen Einfluß auf Ahrens, als sie ihn zur Bearbeitung der Probleme der Gelo Moser

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Zweiter Teil: Michelet

sellschaftslehre führte. Als Mitglied der großdeutschen Partei war er Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. 103 Im Einleitungsteil zu seiner Geschichte der Rechtsphilosophie bezeichnet Ahrens das Recht und den Staat als historisches Produkt der religiösen, sittlichen und wirtschaftlichen Kräfte. Die Philosophie sei in der Lage, das wahre Wesen des Rechts zu begreifen, und dann auch prometheisch weiterzuzeichnen. 104 Michelet kann dieser Auffassung zustimmen, sie deckt sich mit der seinigen und entspricht völlig den Vorstellungen der Philosophie der Tat. Ahrens beschäftigt sich mit der vorchristlichen Rechtsphilosophie weniger eingehend als Michelet. Die Griechen haben nach Ahrens den Staat als Organismus betrachtet, als eine höhere, gleichwohl aber vom freien Willen getragene Ordnung, in welcher der Einzelne in einem größeren Ganzen gehalten wird. Die römische Staatvorstellung dagegen sei eher mechanistisch gewesen. Die Selbstherrlichkeit und Selbstsüchtigkeit des menschlichen Willens habe zu einem Streben nach endlichen und materiellen Gütern, nach Macht und Vermögen geführt (S. 29 ff.). Diese Auffassung deckt sich mit der Michelets, wonach ebenfalls bei den Griechen das allgemeine Leben vorherrscht, welches sich danach zugunsten der Bedeutung der Einzelperson mindert. Die Rechtsphilosophie seit dem Christentum unterteilt Ahrens in drei Epochen: Die Epoche der Kirchenväter bis Konstantin, geprägt von der Ausbreitung der christlichen Liebe, welche Gott und Mensch umfaßt, sowie von einer Tendenz zur Welt- und Staatsflucht hinein in die Innerlichkeit der Person. Als zweite Epoche sieht Ahrens die mittelalterliche, in welcher die christliche Religion einen weltlichen Charakter annimmt, Besitz von der Welt ergreift und schließlich versucht, sich den Staat zu unterwerfen. Die Kirche hat in dieser Epoche sämtliche Eigenarten eines Staates, insbesondere auch dessen Verderbtheit, übernommen. Als dritte Epoche sieht Ahrens die Zeit seit der Reformation an. Hier erstarkt der Staat wieder, die Philosophie jedoch kommt als dritte Lebensmacht hinzu und stellt sich über Staat und Kirche (S. 49 ff.). Demgegenüber haben für Michelet Kirche und Religion keinen derart namhaften Einfluß auf die Entwicklung der Rechtsphilosophie genommen. Er sieht die treibende Kraft der rechtsphilosophischen Entwicklung auch seit Auftreten des Christentums weiterhin in der Dialektik von Freiheit des Einzelnen und der Bedeutung der Gemeinschaft. Andererseits gibt es in seiner Konzeption keinen spezifischen Zeitpunkt, zu welchem die Philosophie als dominierende Lebensmacht etabliert worden wäre. Für die Epoche der Rechtsphilosophie seit der Reformation bemerkt Ahrens eine Parallele zwischen den das Alltagsleben betreffenden Entdeckungen von Kolumbus, Kopernikus, Kepler und Newton mit dem geistigen Umschwung, welcher sich in der Reformation sowie der zunehmenden Bedeutung der Philosophie ausdrückt. 103 Vgl. Welzel, S. 113. 104 Ahrens, S. 1-15.

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Die Entwicklung des eigentlichen Naturrechts - er verwendet diesen Begriff wie Michelet synonym für Rechtsphilosophie - betrachtet Ahrens als folgerichtigen und gesetzmäßigen Entwicklungsfortschritt, wobei die Rechts- und Staatsidee in zunehmend höherem Maße begriffen werde (S. 83; 89 ff.)· Michelet und Ahrens unterscheiden sich darin, wie weit sie die Grenzen des Naturrechts ziehen. So differenziert Michelet zwischen sozialistischem Naturrrecht, in welchem ausgehend vom Individuum dessen Geselligkeitstrieb zur Grundlage gemacht wird, und Sozialismus, bei welchem tatsächlich die Gemeinschaft das Grundlegende darstellt. Ahrens dagegen betrachtet die sozialistische Richtung insgesamt als eine eigenständige Entwicklungslinie, die er mit Thomas Morus beginnen läßt. Er rechnet sie nicht dem Naturrecht, also der Rechtsphilosophie zu, wobei er auf eine Binnenunterscheidung verzichtet. Die Rechtsphilosophie von Grotius bis Kant ist Ahrens zufolge von der Absicht getragen, den freien Willen des Menschen zur Grundlage der Staatsordnung zu machen, was sich in den Konzeptionen von Rousseau und Kant in Höchstform darbiete. Michelet sieht ebenfalls den Einzelwillen als Ausgangspunkt des naturrechtlichen Denkens an. Für ihn endet dieser Prozeß jedoch noch nicht mit Kant und Rousseau, sondern er faßt auch noch die historische Juristenschule als eine Ausprägung des Naturrechts auf, während für Ahrens diese Schule schon eindeutig der Gegenbewegung zugerechnet wird, welche die Tendenz verfolgt, das Subjekt wieder einer höheren Lebensordnung zu unterwerfen (S. 166-174). Hier zeigt sich erneut eine Meinungsverschiedenheit über die Frage, wie weit das Naturrecht zu fassen ist. Als die beiden anderen Auffassungen, welche ebenfalls darauf abzielen, einer Überbetonung des Individuums entgegenzuwirken, sieht Ahrens erstens die theologisierende Schule Stahls und zweitens die spekulative Schule Schellings und Hegels an. Die theologisierende Schule beurteilt Ahrens erheblich negativ. Er hält ihr vor, zu mittelalterlichen Anschauungen zurückgekehrt und die Staatsordnung wieder einer kirchlichen Macht untergeordnet zu haben (S. 166). Auch die Anschauungen der spekulativen Schule Hegels hält Ahrens für unzutreffend. Er kritisiert ihren pantheistischen Charakter, durch welchen der Mensch seines eigenständigen Wesens und damit auch seiner Persönlichkeit und Freiheit beraubt werde. Hegel setze der vorangegangenen, subjektiv-freiheitlichen Haltung des Naturrechts das andere Extrem der völligen Unfreiheit des Menschen entgegen (S. 178 ff.). Michelet hingegen sieht die Gegenbewegung zum (bei ihm sehr weit gefassten) individualistisch geprägten Naturrecht darin, daß zunächst im Sozialismus die Gemeinschaft anstelle des Individuums zum Ausgangspunkt der staatsrechtlichen Überlegungen gemacht wird. Als weitere Fortentwicklung sieht er dann seine eigene Position an, in welcher die wahren Aspekte des Naturrechts wie auch des Sozialismus vermittelnd aufgehoben seien.

10*

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Zweiter Teil: Michelet

C. Geschichtsphilosophie Michelet nimmt an Hegels Einordnung der Geschichtsphilosophie zwei bedeutende Korrekturen vor: Erstens mißt er ihr eine weit größere Bedeutung bei. Zweitens gibt er dieser Wissenschaft auch eine geänderte Position innerhalb des gesamten Systems. In obigen Ausführungen zur Philosophie der Tat 1 0 5 wurde bereits dargetan, wie Michelet zu Hegels rein kontemplativer Auffassung der Philosophie, speziell zu seiner Geschichtsphilosophie, steht. Die größere Bedeutung der Geschichtsphilosophie kommt bei Michelet darin zum Ausdruck, daß er sein System der Philosophie, also das Pendant zu Hegels Enzyklopädie, mit einer Philosophie der Geschichte abschließt, „krönt" 1 0 6 , wie er sagt. Im Gegensatz zu der zwiespältigen Stellung, die Hegel der Philosophie der Geschichte zuweist, fungiert die Geschichtsphilosophie bei Michelet eindeutig als oberste Stufe philosophischer Erkenntnis, es gibt kein Feld, das außerhalb der Historie stünde, wie dies bei Hegel hinsichtlich des absoluten Geistes der Fall zu sein scheint. Gemäß seiner theoretischen Zuversicht, das Selbstbewußtsein der Menschen könne sich soweit entwickeln, daß sie sich nicht mehr als Marionetten des Weltgeistes vorzukommen brauchten, sondern sich als in der Vernunft identisch mit diesem wüßten, läßt er sehr konkrete Aussagen über die Vernünftigkeit der Genese der Menschheit in ihren vielfältigen völkischen Ausgestaltungen folgen, verstanden als Rechtfertigung auch aller Irrwege, auf welche sich die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung begeben hat. Die behauptete Kenntnis der Entwicklung des Weltgeistes, also des Ablaufplanes der Menschheitsgeschichte, erlaubt es Michelet, die Geschichte nicht nur bis zur Gegenwart hin zu betrachten, sondern auch darüber hinaus die Grundlinien der künftigen Entwicklung anzugeben, eine Geschichte der Zukunft zu schreiben. Dies unterstreicht nochmals das handlungsbezogene Philosophie Verständnis Michelets: Philosophie der Tat als Abwendung von der rein kontemplativen Geistestätigkeit, aber unter weitgehender Beibehaltung der idealistischen Ansätze Hegels. Angesichts der Zielsetzung der vorliegenden Bearbeitung, Michelet als Anhänger der Philosophie der Tat herauszustellen sowie seine Eigenständigkeit gegenüber Hegel hervorzuheben, wird nicht die gesamte Geschichtsphilosophie Michelets dargestellt, sondern vorrangig ihre Grundkonzeption und speziell ihre Aussagen über die Gegenwart und Zukunft.

I. Konzeption Die Aufgabe der Geschichtsphilosophie besteht für Michelet darin, den in der philosophischen Stufenfolge errungenen Inhalt der Wahrheit auch als das durch Menschengeist hervorgebrachte Werk der Freiheit zu beweisen. 105 V g l . Erster T e i l C .

106 Michelet , 1879 (System, Bd. IV, erste Abteilung) § 1.

C. Geschichtsphilosophie

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„Wurde also die Welt der Erscheinungen zuerst nur in den philosophischen Gedanken erhoben, sodann in der Wechselwirkung von inductiver Erfahrung und wissenschaftlicher Deduction der systematische Bau der Wahrheit aufgeführt: so zeigt uns die den Schlussstein des Ganzen bildende Disciplin, wie, in dem a posteriori aufgerollten Rundgemälde der Weltgeschichte und in ihrer a priori entwickelten Nothwendigkeit, die Wirklichkeit und deren Erkenntniss sich in dem durch die Weltdialektik fortbewegten Inhalt der Wahrheit und Freiheit vollständig decken" (§2).

Die Philosophie der Geschichte leistet demnach die Vermittlung von Erkenntnis und Wirklichkeit. Zur Frage, wie die Geschichte als notwendige Abfolge gelten und doch zugleich als Ausdruck der freien Tat historischer Individuen erscheinen kann, findet Michelet nicht über Hegel hinaus. Die geschichtlichen Taten haben mit Notwendigkeit zu geschehen, willkürlich dagegen bleibt, wann und durch wen sie ausgeführt werden. Die Menschen sind beseelt von dem Drang, als erste die je aktuelle Idee zu verwirklichen, und „hat nur erst einer den neuen Gedanken klar hingestellt, das Wort des Räthsels gesprochen: so ergreift der erleuchtende, zündende Blitzstrahl bald alle Geister, und mit unwiderstehlicher Gewalt folgen sie, wie durch einen Zauberschlag, seiner begeisternden Leitung. Die Individuen sind aber um so freier, je reiner sie sich durch die innere Nothwendigkeit bestimmen lassen; um so unfreier, je mehr sie mit Willkür äussern Bestimmungsgründen nachgeben" (§ 2).

Der mit Ablauf und Entwicklung der Historie verfolgte Zweck, die genannte Notwendigkeit, ist jedoch weder einem außerhalb stehenden Geiste noch den Akteuren selbst zuvor bewußt, sondern erst durch konkrete geschichtliche Handlungen tritt er Stück für Stück ins menschliche Bewußtsein, wodurch er zuallererst für uns wie auch an sich wirklich wird.

1. Aufgabe Die philosophische Geschichtsschreibung setzt sich zur Aufgabe, die scheinbar zufälligen Seiten des Fortschritts der Geschichte als die immer reichere Entfaltung der menschlichen Vernunft und Freiheit darzustellen. Sie hat daher Michelet zufolge vier Antinomien zu lösen: Erstens ist Geschichte sowohl eine Entwicklung göttlichen Lebens als auch die Ausbildung menschlicher Freiheit. Hier ist zu zeigen, auf welche Weise der Weltgeist den endlichen Menschengeist zum adäquaten Ausdruck seiner selbst macht. Zweitens ist die Frage zu beantworten, ob die Gattung oder das Individuum Zweck der Geschichte ist. Zunächst merkt Michelet hierzu an, daß die Gattung ihre Objektivität nur im Individuum hat. Diese Argumentation setzt er unter Einbezug seiner religionsphilosophischen Position fort: „Das Ziel der Weltgeschichte ist mithin nicht nur die Vollendung der Gattung überhaupt, sondern ihre Vollendung im Individuum; so dass jeder Einzelne wo möglich, nicht ein nur

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Zweiter Teil: Michelet

verschwindender Punkt in der Entwickelung der Gattung sei, sondern das ewige Leben der Gattung in seiner vergänglichen Existenz selber darstelle. Dieses Zusammenfassen der Momente der Gattung zur Totalität in jedem einzelnen Menschen nenne ich eben die ewige Persönlichkeit des Geistes, in welcher alle Individuen Ein Geist, Ein Heiliger sind (§ 3)."

Drittens hat die Geschichtsphilosophie die Frage zu beantworten, ob nur das letzte Volk der Zweck, und all die vorherigen Völker nur Mittel dazu waren. Hier ist darzulegen, daß jede einzelne Stufe notwendig war in der Entwicklung und im gegebenen Moment selbst den Gipfel der Entwicklung verkörperte. Zudem ist zu zeigen, daß und inwiefern die historischen Völker, deren geschichtliche Bedeutsamkeit in der Vergangenheit liegt, von der anderswo stattgefundenen Weiterentwicklung profitieren, indem sie sich dem Bewußtsein des fortschrittlichsten Volkes anschließen. Die vierte Frage, nämlich ob das Bewußtsein oder die That der Zweck der Weltgeschichte sei, beantwortet Michelet dahingehend, „dass einerseits nur die bewusste, die aus dem höchsten Wissen entsprungene That das Ziel sein kann; und andererseits das Bewusstsein um die That kein vollendetes, ja überhaupt kein Bewusstsein sein würde, wenn die That nicht, als sein Gegenstand, aus dem wissenden Geiste hervorgegangen wäre" (§ 3).

2. Einteilung Die philosophische Betrachtung der Geschichte hat sich nach Michelet dadurch auszuzeichnen, daß sie nur eine solche Einteilung vornimmt, wie sie sich aus der Natur ihres Gegenstandes von selbst mit innerer Notwendigkeit ergibt. Die grobe Linie besteht dabei darin, den allgemeinen Geist als den durch die Individuen selber hervorgebrachten, als deren wahre und höhere Persönlichkeit, zu beweisen. Wenn das Ziel der Geschichte darin besteht, daß die Menschen ein Bewußtsein davon erlangen, daß der allgemeine Geist der freie und vernünftige Geist der Menschheit selber ist, und sich jeder Einzelne immer mehr zum adäquaten Ausdruck dieses Geistes machen kann: so muß als Anfangspunkt der Entwicklung von einem Zustand ausgegangen werden, in welchem diese Einsicht noch nicht herrschte, und also die Gestaltung der objektiven Lebens Verhältnisse noch nicht als Ausdruck der menschlichen Freiheit gefaßt wurde. Der Anfangszustand muß ein solcher sein, in welchem der Zweck der Entwicklung bereits gegeben oder veranlagt ist, jedoch auf unvermittelte Weise, also ohne eigenes Zutun, nicht als Resultat menschlicher Leistung, sondern fremder Initiative entsprungen. Dieses unvermittelt gegebene Ideal wird der Menschheit dann entrissen, damit sie es in langen Kämpfen allmählich aus eigenen Kräften wiedererlangt und als selbstgewirktes Resultat eigener Kraft, Vernunft und Freiheit dauerhaft behält. Nach dem Gesagten unterscheidet Michelet drei Weltzeiten: „In der ersten steht das Ideal, als allgemeiner Geist, unentstanden, gewissermaassen von Ewigkeit her in unaufgeschlossener, einfacher Gestaltung vor dem Menschengeiste als

C. Geschichtsphilosophie

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Thatsache da. Nachdem dasselbe in der zweiten Weltzeit verloren gegangen ist, schafft sich der Einzelne an den sittlichen Verhältnissen, die er nach und nach hervorbringt, als an so viel besondern Gütern, die Mittel, um die Ebenbildlichkeit mit der ewigen Persönlichkeit des Geistes wieder zu erlangen. Und dieser Zweck ist für den einzelnen Geist, in der dritten Weltzeit, nun ein durch seine Thathandlung wirklich erworbener" (§ 4).

a) Die vorgeschichtliche

Zeit

Merkmal der ersten, vorgeschichtlichen Weltzeit ist das Versenktsein des Einzelnen in der undifferenzierten Allgemeinheit. Das Alleben überwiegt, die Gattung scheint hier der alleinige Zweck der Weltgeschichte zu sein, das Individuum hat seine eigene Freiheit noch nicht entdeckt und lebt in einem instinktartigen Getriebensein durch den allgemeinen Geist. Die sittlichen Verhältnisse haben sich noch nicht in ihre Besonderheiten entfaltet, auch die Entstehung der Völker und Rassen hat noch nicht stattgefunden. Das Individuum geht völlig in der Allgemeinheit auf, der Konflikt zwischen Besonderheit und Allgemeinheit wird nicht als solcher empfunden, weil das Bewußtsein der individuellen Freiheit noch nicht zutage getreten ist. „Die Scene der ersten Weltzeit, der Wohnsitz der ursprünglichen Menschheit, kann nun kein anderer gewesen sein, als der, welchen wir in der Naturphilosophie [ . . . ] als die ursprüngliche Gestalt der Erde, nämlich als die über den ganzen Norden der Erde ausgedehnte breite Landbrust, beschrieben haben. Nachdem diesselbe untergegangen war, und einem ganz andern, zersplitterten Zustand der Erde Platz gemacht hatte [ . . . ] , findet die Ubergangszeit aus der Urwelt in die wirkliche Geschichte ihren Schauplatz zunächst auf der dort beschriebenen Atlantis, als wohin vom Norden aus südwestlich, südlich und südöstlich das Menschengeschlecht sich rettete. Nachdem dieser dreifache Strahl auf den Ueberresten dieses zum Theil wieder zertrümmerten Festlands, nämlich auf Süd-America, Südafrika und Polynesien, die durch's Meer getrennt wurden, sich in die drei wildesten Racen particularisirt hatte: da kehrte der Strom wieder rückwärts nach Norden um, indem die Rothhäute im Westen sich bis nach Nordamerica ausbreiteten, die braunen Malayen östlich nach Asien drangen, und die schwarzen Neger nördlich bis Aethiopien und Aegypten vorgingen" (§ 4).

b) Die geschichtliche Zeit Die zweite Weltzeit zeichnet sich durch den Verlust dieser Harmonie aus, die erst durch langen Kampf mühsam wieder als Produkt eigener Freiheit gewonnen werden muß. Diese zweite Weltzeit, in ihrer vergleichsweise kurzen Spanne von höchstens sechstausend Jahren, bildet die eigentlich historische Zeit, wohingegen die Vorgeschichte und die Nachgeschichte Epochen der Gleichmäßigkeit und Ewigkeit darstellen. Nur in dieser zweiten, geschichtlichen Zeit findet die historisch-dialektische Höherentwicklung des Weltgeistes statt, zuvor und danach

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Zweiter Teil: Michelet

herrscht harmonische Gleichförmigkeit und Einheit des Menschengeschlechts. Dieses zweite Weltzeitalter untergliedert sich in drei Perioden: In der ersten steht die Religion als ahnendes Erfassen des Geistes im Vordergrund; in der zweiten überwiegt das Moment der Verwirklichung des erahnten Geistes in Recht, Staat und Kunst; und in der dritten Periode beginnt ein inneres, geistiges Hinterfragen der saturierten Gewohnheit der objektivierten Verhältnisse, in welchem die Philosophie die Hauptrolle einnimmt, indem sie einerseits das Prinzip der jeweiligen Epoche auf den Begriff zu bringen sich bemüht, andererseits eben dadurch die Vergangenheit besiegelt und die Pforte zur nächsten Entwicklungsstufe öffnet. Der letztgenannte Aspekt, daß durch das Verständnis einer vergehenden Epoche auch die nachfolgende bewußt mitbeeinflußt oder gar vorausgeplant werden kann, stellt ein Charakteristikum der auf Verwirklichung gerichteten Philosophie Michelets dar. Die erste geschichtliche Periode reicht nach Michelet vom geschichtlichen Altertum bis Christus. Der zugehörige Ort dieser Entwicklung ist der Orient, Griechenland und schließlich Rom. Geprägt ist diese Epoche von der Herausbildung der individuellen Freiheit gegenüber den zunächst allmächtigen sittlichen Verhältnissen. Das Endliche und das Unendliche befinden sich hier noch in unvermittelter - und daher unfreier - Einheit. Die zweite geschichtliche Periode ist geprägt von der Entgegensetzung des Individuums gegenüber dem Allgemeinen. In einer Umkehrung der Entwicklung der vorigen Epoche wird nun gerade das Individuum zugrundegelegt, und die Entwicklung besteht darin, daß die sittlichen Verhältnisse aus dem Innern des Subjektes heraus, als getreue Abbildung der individuellen Freiheit, neugeschaffen werden. Resultat dieser Entwicklung ist die Versöhnung von Individualität und Allgemeinheit, indem das Unendliche ins Endliche aufgenommen wird. „Mit dieser Versöhnung, die im alten Europa jedoch bis in die Gegenwart hinein noch nicht vollständig gelungen ist, wird die dritte Periode der historischen Zeit eingeleitet, die in America verläuft und von den Germanischen Colonien daselbst getragen wird. Es fängt hier schon der „Ausgang" aus der Geschichte, wie Cieszkowski es nennt, an. Doch ist dieser geschichtliche Ausgang selbst noch eine That der Geschichte" (§ 4).

Durch die Loslösung vom Mutterland und den dortigen objektiven sittlichen Verhältnissen einerseits und die im einzelnen Individuum dennoch veranlagte, europäische Sittlichkeit andererseits wird sich in Amerika in kurzer Entwicklung eine höchste Stufe der Versöhnung von Individualität und Allgemeinheit herausbilden. Über den geographischen Ort der zweiten Weltzeit bemerkt Michelet: „In der nordöstlichen Ecke Asiens beginnt darauf mit Japan eigentlich erst die Weltgeschichte, deren Bewegung von Osten nach Westen, in ununterbrochener Richtung, China, Indien, Persien in Asien, den Norden Africa's, ferner Europa, endlich America ergreift, indem die Sonne des Geistes, wie die natürliche, von Osten nach Westen wandert. Unähnlich aber der natürlichen, die im Westen nur untergeht, um im Osten das ewige Einerlei ihrer Fahrt zu wiederholen, ist dieser geistige Niedergang zugleich selbst der höchste Aufgang

C. Geschichtsphilosophie

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des Geistes; und es steht zu erwarten, dass der Weltgeist, nachdem er den einen Halbkreis seines Laufes durchschritten hat, nunmehr vom Norden America's durch dessen Süden und über die Inseln des stillen Oceans nach Australien, als dem Zielpunkt seiner Reise, gelangen werde, um so auch den andern Halbkreis zurückzulegen" (§4).

c) Die nachgeschichtliche Zeit Die dritte Weltzeit, die nachgeschichtliche, ist wie die erste, vorgeschichtliche, nicht durch den Kampf um das Erringen der sittlichen Verhältnisse bestimmt, sondern es tritt nun wieder die Ruhe des Genusses ein, jedoch auf reflektierter Stufe, durch die Individualität vermittelt. Auf dieser Stufe, die Michelet geographisch wie zitiert in Australien ansiedelt, wird dann der von Kant formulierte ewige Frieden einkehren. „Denn auf dem Boden der vollendeten sittlichen Verhältnisse, die aber ihrerseits wieder im freien Geiste der Individuen wurzeln, entfalten diese zuletzt die Reinheit der menschlichen Natur im Genüsse der ihnen dargebotenen natürlichen und geistigen Schätze, ohne mehr der Weiterbildung des substantiellen Geistes, wie diese in der Urzeit noch gar nicht vorhanden war, obzuliegen" (§ 4).

Diese Konzeption Michelets für eine Geschichtsphilosophie weist angesichts der hier zu untersuchenden Fragen einige beachtenswerte Merkmale auf: Sie ist einerseits nicht streng hegelianisch, indem sie über den kontemplativen Rückblick hinaus den Blick nach vorn wagt und eine neue, künftige Wirklichkeit entwirft; weiterhin, indem sie Hegels Grundmotiv, die Dialektik, relativiert und nur als Wirkmechanismus der mittleren, eigentlich geschichtlichen Weltzeit anerkennt; letztlich, indem sie die These des historischen Materialismus aufgreift, demzufolge die Geschichte irgendwann in einen Zustand dauerhaften Glücks mündet, sobald die Entwicklung des Menschengeschlechts ihren Höhepunkt erreicht hat. Andererseits unterscheidet sich Michelets Konzeption von den linkshegelianischen dadurch, daß hier eindeutig am Idealismus festgehalten wird, und die geistige Entwicklung weiterhin unangefochten als Triebfeder der Gesamtentwicklung der Geschichte fungiert; sowie dadurch, daß jüdisch-christliche Überzeugungen, wie beispielsweise diejenige vom verlorenen Paradies, mit der Philosophie zur Deckung gebracht werden, anstatt sie zu verwerfen.

II. Die Geschichte der Gegenwart 1. Ausgangslage Die Entwicklung der Menschheitsgeschichte ist für Michelet immer auch auf einen bestimmten Raum bezogen. Der Raum für die nächste Epoche der Entwick-

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Zweiter Teil: Michelet

lung wird mit Amerika angegeben, wie es einer damals verbreiteten Auffassung entspricht. Die Notwendigkeit für den Übergang zu dieser nächsten Stufe erkennt Michelet darin, daß die zweite, europäische Periode der geschichtlichen Zeit ihre höchste Ausprägung erreicht hat und nun über sich hinaus drängt, was einen dialektischen Umschlag mit sich bringt. Die einer Lösung bedürftigen Spannungen der seinerzeitigen geschichtlichen Situation sieht er erstens im völkerrechtlichen bzw. außenpolitischen Konflikt von kolonialistischer Zwangszivilisierung gegenüber dem Grundsatz der Achtung nationaler Integrität und dem daraus abgeleiteten Interventionsverbot; zweitens, innenpolitisch, im noch immer streitigen Konflikt zwischen monarchischem Prinzip als Ausdruck besonderer Persönlichkeit gegenüber demokratischer Selbstregierung als Ausdruck allgemeiner Persönlichkeit. Drittens hält er den Wahrheitsanspruch und die daraus abgeleitete, angemaßte Weisungsbefugnis der Religion sowie ihre Verquickung mit der Staatsmacht für einen Widerspruch zur individuellen Freiheit, wobei er zwischen katholischer und protestantischer Konfession keinen Unterschied macht: „Ehe aber nicht Staat und Kirche vollständig von einander getrennt sein werden, ehe nicht die Kirche, lediglich als ein sich selbst regierender Verein, in den Rahmen des Staatsorganismus eingetreten sein wird, ist die religiöse Freiheit in Europa nicht erreichbar. Denn die am Ruder des Staatsschiffs Stehenden werden, so lange sie die Geistlichkeit besolden, missliebigen Geistlichen die Anstellung verweigern, oder ihre Beförderung hindern, und sie maassregeln, um die Gemeinde in die Richtung des Glaubens zu zwängen, die sie wünschen; und den Gemeinden wird das heilige Recht verkümmert, sich ihre Prediger nach ihres Herzens Trieben zu erkiesen. Die Kirche aber wird, so lange sie durch ihre Besoldung mit einem Fusse in der Staatsregierung steht, umgekehrt Diese in das Fahrwasser mittelaltriger Priesterherrschaft zu leiten versuchen." 107

Letztlich sieht Michelet auch auf dem sozialen Gebiet einen sich zuspitzenden Widerspruch der Lösung bedürftig, wobei festzustellen ist, daß er „social" im weiteren Sinne versteht, nach heutiger Terminologie etwa die Wirtschafts-, Innen- und Sozialpolitik zusammenfassend. Hier sieht er eine Kontroverse zwischen polizeilicher Bevormundung und staatlicher Oberaufsicht gegenüber dem freien Assoziationsrecht. Da ihn als Hochschullehrer dies persönlich betrifft, thematisiert er auch die staatliche Einmischung in das Hochschulwesen, wodurch die verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wissenschaft und Lehre untergraben wird ( „ [ . . . ] werden öffentliche Lehrer, die z. B. der verpönten Hegel'schen Richtung angehören, bei jeder Vacanz unberücksichtigt gelassen" (§ 246)). Auch den Umgang der Regierung mit den Sozialdemokraten hält er für einen Ausdruck rückwärtsgewandter Politik, da durch die Sozialistengesetze nur die Symptome des Leidens bekämpft würden, „statt das Uebel durch Aufnahme der Volksvereine in den Staatsorganismus mit der Wurzel auszurotten" (§ 246). Michelet teilt die Meinung, daß politisch manches im Argen liegt, lehnt jedoch die sozialistischen - und teils von Staatsseite aufgegriffenen - Hoffnungen auf Verstaatlichung wesentlicher Lebensbereiche als

io? Michelet, 1881 (,System, Bd. IV, zweite Abteilung) § 246.

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untaugliche Lösungsversuche ab, da die von oben herab angeordnete Vergesellschaftung der Freiheit der Person nicht Rechnung trägt. Der Konflikt sei vielmehr nur derart zu lösen, daß sich Interessen- und Schutzgemeinschaften aus dem freien Vereinsleben heraus und aus eigener Initiative von selbst bilden. Diese drei in Europa noch ungelösten Konflikte, nämlich auf politischem, religiösem und sozialem Gebiet, sieht Michelet in den Vereinigten Staaten ihrer Versöhnung entgegengehen. „Amerika aber hat die Frage, wie Gleichheit und Freiheit der Bürger mit der Organisation des Staats zu verbinden sei, bereits zu Gunsten der Demokratie gelöst: die ideale Vollendung Europa's, die besonders nur in Deutschlands Dichtern und Philosophen lebt, verwirklicht. Lichten wir daher die Anker, um über den Ocean kühn die neue Welt zu erreichen! stossen wir von den alten Küsten ab, um an der Darstellung der Americanischen Zustände zu sehen, wie an neuen Ufern die Weltgeschichte ihren höhern Zielen entgegengeht" (§ 246).

2. Die Geschichte Amerikas Seine philosophische Darstellung der Geschichte Amerikas teilt Michelet derart ein, daß er unterscheidet zwischen erstens dem Prinzip der amerikanischen Gesellschaftsorganisation, zweitens den ethnographischen und geographischen Gegebenheiten, und drittens der Objektivierung des Prinzips in den Gegebenheiten. Die Gedanken zum zweiten Punkt, der Ethnographie und Geographie, erscheinen teils etwas gewagt und weit hergeholt und bieten keinen nennenswerten Erkenntnisgewinn. Daher legt die vorliegende Darstellung, auch rücksichtlich der gewählten Aufgabenstellung, ihren Schwerpunkt auf die unter erstens und drittens genannten Zusammenhänge. Michelet ist sich darüber im klaren, mit seiner Thematisierung der amerikanischen Verhältnisse, und insbesondere mit seiner Prognose der zukünftigen geschichtlichen Entwicklung, von Hegel abzuweichen, oder jedenfalls über ihn hinauszugehen. Da er sich jedoch als getreuen Hegelanhänger sieht, rechtfertigt er sich für sein Vorgehen: „Wenn Hegel America von seiner Betrachtung ausschloss, weil es ein Land der Zukunft sei, so ist diese Zukunft jetzt Gegenwart geworden; und darum habe ich dessen Geschichte in den Kreis meiner Erörterung gezogen. Aber es ist zugleich der Ausgang der Geschichte, das Ende der zweiten Weltzeit, und der Uebergang in die dritte, in die nachgeschichtliche Zeit. 1 0 8 Denn der Standpunkt America's ist die Wiedergewinnung des substantiellen Alllebens der Vorzeit, das in der mittlem Zeit verloren gegangen war, nunmehr aber mit der im höchsten Grade erstarkten sittlichen Persönlichkeit verknüpft werden soll: und zwar so, dass jede Seite aus der andern zu entspringen scheint. Diese Ineinanderbewegung ist in America noch eine historische Entwickelung, während sie in der dritten Weltzeit eine voli-

lo« Michelet, 1879, § 4.

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Zweiter Teil: Michelet

endete Thatsache sein wird. Jeder Einzelne will sich in America zum Bilde der ewigen Persönlichkeit machen, in einem Jeden soll die ganze Idee der Menschheit leben" (§ 247).

a) Das Prinzip Amerikas Als Charakteristikum der geschichtlichen Situation Amerikas sieht es Michelet an, daß auf sämtliche historische Entwicklungen der Vorzeit, insbesondere auf die konfliktreiche Ausbildung des Verhältnisses zwischen Allgemeinheit und Besonderheit, zurückgegriffen werden kann, ohne daß andererseits eine traditionell bedingte Verstrickung oder Abhängigkeit von einer der vorherigen Entwicklungsstufen die Gegenwart beeinträchtigen würde: „Indem der einzelnen Persönlichkeit in America, vermöge der ganzen ihr vorausgegangenen Entwickelung der Weltgeschichte, die Mittel der Bildung aus viel reicherer Quelle zufliessen: so ist sie nicht mehr, wie im Orient, selbstlos dem substantiellen Leben hingegeben. [ . . . ] Sondern jeder Einzelne saugt den allgemeinen Geist mit der Muttermilch als seine eigene Substanz schon ein, und gewinnt um so leichter das volle Bewusstsein des Alllebens als seines eigenen Selbsts. Da das Selbstbewusstsein der Person also dem Allleben nicht mehr, als einem Aeusserlichen, gegenüber steht: so wird dieses aus dem Geiste der Persönlichkeit, aus allen Geistern selbst erzeugt" (§ 248).

Das Prinzip Amerikas untergliedert Michelet in folgende drei Unterpunkte: erstens die Apriorität der Entstehung der amerikanischen Verhältnisse. Zweitens die Herrschaft der Majorität. Drittens das Prinzip der Selbstregierung. Die vorliegende Darstellung verzichtet jedoch auf eine Unterscheidung der beiden letztgenannten Punkte und faßt diese beiden unter dem Thema Demokratie zusammen.

aa) Die Apriorität der Zustände Michelet unterscheidet zwischen apriorischer und aposteriorischer Entwicklung eines Zustandes. Der bisher alleinig mögliche Modus, um einen geschichtlichen Standpunkt zu erringen, ist der aposteriorische. Er zeichnet sich dadurch aus, daß sich die Zustände allmählich, und erst durch bittere Erfahrungen, herausbilden. Amerika dagegen befindet sich in der einmaligen Lage, unter Rückgriff auf sämtliche bisherigen Erfahrungen der Vergangenheit, seinen Standpunkt als vollendetes Ganzes mit einem Male festzulegen. Amerika benötigt keinen eigenen historischen Vorlauf, sondern positioniert sich in der Weltgeschichte unmittelbar und plötzlich, unter bloßem Rückgriff auf den Gedanken. Die Objektivierung der Zustände folgt hier den Gedanken, während zuvor immer der objektive Zustand vorausging und erst rückblickend gedanklich gefaßt wurde. Diese Möglichkeit, daß der Mensch die Wirklichkeit aus der Theorie heraus neu gestaltet, bezeichnet Michelet als apriorische Geschichtsentwicklung. Und genau darin, eine apriorische Geschichtsentwicklung für möglich zu halten, liegt eine bedeutsame Differenz zwischen

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Hegel und Michelet. Hegel hält nur den aposteriorischen Geschichtsgang für möglich, basierend auf seiner Überzeugung, daß die gedankliche Bewältigung einer geschichtlichen Situation durch die Philosophie immer erst nachträglich stattfinden kann, versinnbildlicht in der immer erst nachts fliegenden Eule der Minerva. 109 Michelet demgegenüber ist zuversichtlich, daß der philosophisch gefaßte Gedanke auch Wegweiser bei der Entwicklung des künftigen Zustands sein kann, versinnbildlicht in seinem Wort vom Hahnenschrei des neu anbrechenden Tages,110 wie er die Hegeische Eule dialektisch uminterpretiert. Hier stehen sich die retrospektive, kontemplative und die zukunftsgerichtete, neue Wirklichkeiten generierende Geschichtsphilosophie gegenüber. Michelet teilt als Vertreter der Philosophie der Tat die Auffassung, es sei nunmehr der Moment eingetreten, ab welchem die Menschheit ihren Selbsterkenntnisprozeß vollendet hat. Sie habe dadurch die Einsicht errungen, daß der Weltgeist nichts Äußerliches, sondern der eigene Geist der Menschheit selber sei. Da ab diesem Moment die vorherige Kluft zwischen ansich seiendem Weltgeist und fürsich seiendem Menschengeist ausgeglichen wurde, ist es der Menschheit ab sofort möglich, all die Irrungen und Übertreibungen des dialektischen Prozesses zu vermeiden, und statt dessen aus eigener Einsicht heraus, und ohne Umschweife, rein aus dem Gedanken heraus, das Vernünftige zu verwirklichen. Der Menschengeist hat also den Weltgeist eingeholt, indem er ihn als Ausdruck seiner selbst begriffen hat. Mit dem Erreichen dieses Zustandes geht nach Michelet die eigentlich geschichtliche, zweite Weltzeit zu Ende, es bricht erneut eine Epoche der Harmonie an, das Leben ist fortan nicht mehr durch den dialektischen Kampf der Gegensätze geprägt.

bb) Das Demokratieprinzip In Amerika, faßt Michelet die dortigen Verhältnisse zunächst negativ zusammen, gibt es keinerlei geburtbedingten Vorrechte, keinen Adel, keine Erbmonarchie, keine Orden, keine stehenden Heere und keine Staatskirche. Die einzig bestehende Autorität ist dort die Majorität. Es herrscht somit die allgemeine Vernunft des Volkes, Meinungsverschiedenheiten zwischen Volk und Regierung sind dagegen ausgeschlossen, weil Volk und Regierung identisch sind. Der Politiker ist fortan nicht mehr Befehlsgeber, sondern Befehlsempfänger, er leitet nicht, sondern er führt den allgemeinen Willen aus. Die Selbstregierung bringt es mit sich, daß der Staat gegenüber dem Volk kein Eigenleben mehr entfaltet, sondern die Eigeninitiative jedes einzelnen Mitgliedes des Volkes in vollem Maße gefördert und nutzbar gemacht wird. Vom Staate wird nichts erwartet, ebensowenig befürchtet, sondern man begreift sich als des eigenen Glückes Schmied. Die Selbstregierung gestattet es, daß sich die Vernunft und Fähigkeit jedes Einzelnen in vollem Maße entfalten kann. Die so ermöglichte freie Entfaltung jedes einzelnen Geistes führt zu einer i09 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, XXIV; vgl. Erster Teil B. II. no Vgl. Erster Teil C.I.

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enormen Steigerung der Effizienz, da jede gute Idee sich sofort verwirklichen und ihre Tauglichkeit beweisen kann. „Das ist der Grundcharakter des americanischen Lebens, der den edlen und freien Sinn erweckt. Die americanischen Zustände zeigen uns also das Bild des Organismus, wo eben in der kleinsten Zelle das grosse Ganze enthalten ist [ . . . ]" (§ 251).

b) Materiale Gegebenheiten Amerikas aa) Geographie Michelet hebt hier die günstige geographische Situation Amerikas hervor, welche er darin erblickt, daß es nach allen Seiten hin zum Meer offen ist, und zudem durch innere Wasserstraßen der Verkehr sehr erleichtert wird. Weiterhin behandelt er - merkwürdigerweise in Zusammenhang mit der amerikanischen Geographie die durch Menschen geschaffene Infrastruktur des Landes. „Canäle, Eisenbahnen, Dampfschiffe vervollständigen, nach allen Seiten hin, dieses Netz des Verkehrs: diesen frischen, ungehinderten Blutumlauf des Americanischen Organismus" (§ 253). Den höchsten Ausdruck der Herrschaft menschlichen Geistes über die Natur erblickt Michelet in der Ermöglichung von Telekommunikation. Und die Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als Neuigkeit empfundene Globalisierung, in Zusammenhang mit der Nutzung des Internet öfters thematisiert, bemerkte Michelet schon 1881. „Die Oberhäupter von England und Nordamerica konnten innerhalb weniger Stunden Grüsse gegeneinander austauschen. Ja, die Nachricht einer Begebenheit kommt, der Sonnenzeit nach, in America an, bevor sie sich in Europa ereignet hat, weil die Electricität eiliger, als das Tagesgestirn, ihren Weg vollbringt. America ist uns durch die Zeit im Räume ganz nahe gerückt; es hat Raum und Zeit und ihre Entfernungen getilgt" [ . . . ] (§ 253).

bb) Ethnographie Die ethnologischen Gegebenheiten Amerikas sind für Michelet ein besonders anschaulicher Beleg für die Stimmigkeit seines philosophiegeschichtlichen Konzeptes: „America versammelt alle Racen auf seinem Boden, um sie zu verschmelzen, und an dem Ausgang der Geschichte für die dritte Weltperiode die Einheit des Menschengeschlechts, die ursprünglich in einer Mittel-Race vorhanden war, wiederherzustellen. [ . . . ] Der americanische Wandelungsprocess der Rückbildung zur Einheit ist eine der grossartigsten Erscheinungen der Weltgeschichte, die wir bisher gesehen haben" (§ 254).

Michelet wirft die Frage auf, wie sich die in Amerika praktizierte Sklaverei mit dem dort besonders hochgehaltenen Freiheitsgedanken vertrage. Seine Antwort

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stützt er auf Hegels Dialektik von Herr und Knecht, indem er argumentiert, die schwarze Rasse habe zunächst durch die Zucht der Arbeit gebildet werden müssen, um die notwendige Reife zu erreichen, integrierendes Element des sich nun wieder einenden Menschengeschlechtes zu werden (§ 254).

c) Die Einrichtungen Amerikas In diesem Kapitel legt Michelet dar, in welcher Weise sich das angegebene Prinzip Amerikas in dem dort vorgefundenen Stoffe, womit Ethnographie und Geographie gemeint sind, verwirklicht. Er behandelt hierbei zunächst das gesellschaftliche Leben Amerikas, sodann das religiöse Leben, und letztlich die synthetische Objektivierung dieser beiden Pole im dortigen Rechtssystem.

aa) Das gesellschaftliche Leben Die bereits mehrfach angesprochene Harmonie des Einzellebens mit dem Alleben wirkt sich nach Michelet in Amerika auf die Gesellschaftlichkeit dahingehend aus, daß der Einzelne sich nicht mehr als Mitglied einer bestimmten Nationalität empfindet. Der Amerikaner hat vielmehr das Bewußtsein, Teil der ganzen Menschheit zu sein, weshalb sein Selbstbewußtsein sich nicht mehr aus der Mitgliedschaft eines natürlichen Stammes, wie es die Nationalitäten sind, speist. Gleichermaßen hat es in Amerika keine Bedeutung mehr, welchem Stande man angehört, sondern alleine die Leistung der einzelnen Person, wie sie sich in der Arbeit ausdrückt, ist Quelle für Ungleichheit. Die Unterschiede im Ansehen der Gesellschaftsmitglieder sind einzig selbstgewirkte, die Amerikaner sind insofern selfmade - Personen. Abgesehen von diesem verschiedenen Verdienst in der Arbeit sind die Menschen sämtlich gleich. Und auch die Wohlhabenden fühlen sich weiterhin dem öffentlichen Wohl verpflichtet: sie legen ihr Geld in gemeinnütziger Weise an. Es herrscht eine weitestgehende Freiheit auf allen Gebieten des Lebens, polizeiliche Aufsicht oder einschränkende Zunft- oder Gewerbeordnungen entfallen in Amerika. Arbeitgeber und Arbeitnehmer handeln selbständig ihre Arbeitsverträge aus. Es wird in höchstem Maße nach dem Prinzip verfahren, daß alles möglichst volksnah und basisorientiert entschieden wird, und nicht von oben herab. Amerika befindet sich weiterhin in der glücklichen Situation, keine Schwierigkeiten mit dem Proletariat zu haben, weil durch die stetige Erweiterung des Landes nach Westen immer genug Betätigungsmöglichkeiten gegeben sind. Die Besteuerung in Amerika ist leistungsgerecht, so daß der Wohlhabendste auch am meisten Steuern zu entrichten hat. Die Bundesfinanzen befinden sich in einem besonders gesunden Zustand, da lediglich ein bescheidenes Heer von 25. 000 Mann in Waffen gehalten wird. Der Geist der Freiheit wirkt sich auch im Familienleben aus, insofern die Kinder früh zur Selbständigkeit erzogen werden. Sie werden praktisch

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Zweiter Teil: Michelet

unterrichtet, so daß sie Ackerbau und Gewerbetreiben lernen. Zudem ist die Erziehung zwar öffentlich geregelt, sie wird jedoch nicht staatlich bevormundend, sondern durch freie Assoziationen ausgeführt. Der starke Gegenwartsbezug der Amerikaner bringt jedoch mit sich, daß Geschichtsunterricht nur in geringem Maße stattfindet. „Mit einem Worte, die Erziehung ist so allgemein und für Jeden gleich, dass Alle zu Menschen, zu Bürgern gebildet werden sollen, damit der Staat die allgemeine Sache Aller sei. Die Erziehung soll den ganzen Menschen ausbilden; und sie bezweckt so, dass der Americaner die Zähigkeit und Festigkeit des Engländers mit der ganzen Lebhaftigkeit und Beweglichkeit des Südländers zu verbinden weiss" (§ 257).

bb) Das religiöse Leben „Nachdem die Erziehung den allgemeinen Geist, der in jedem Einzelnen lebt, zum Bewusstsein gebracht hat, muss, dem Charakter des erstarkten Bewusstseins gemäss, dieses Allleben dem Einzelnen auch objektiv werden: d. h. er selbst sein innerstes Wesen als ein ihm anderes, als ein höheres Wesen sich gegenüber wissen, in welchem er wurzelt, und dem er sich, abbr mit vollkommener Freiheit, hingiebt" (§ 258).

Hier wird deutlich, daß Michelet die Religion nicht als eine zu überwindende betrachtet, sondern er strebt an, ihre Wahrheit in der Vernunft aufzuheben. Die Grundvoraussetzung hierzu, die in Amerika auch verwirklicht ist, besteht darin, daß Kirche und Staat voneinander unabhängig sind. In Amerika ist es in das Belieben jedes Einzelnen gestellt, sich zu einer beliebigen Religion oder Sekte zu bekennen, solange diese Organisation die Gesetze befolgt und nicht dem Staate entgegenwirkt. Das Bekenntnis wird nicht von außen angeordnet, sondern entspringt dem freien Entschluß jeder einzelnen Person. Daher auch trifft in Amerika erst der Erwachsene, der mündige Bürger seine Entscheidung, ob er einer bestimmten Kirche angehören möchte, oder ob er zum Atheismus hält. Für die persönliche Karriere ist es gleichgültig, ob und gegebenenfalls welcher Kirche man angehört. Man handelt sich durch seinen Entschluß weder Vor- noch Nachteile ein. Die Kirche ist eine sich selbst vorstehende, auch sich selbst finanzierende freie Assoziation. Mit Genugtuung stellt Michelet fest, daß diese theoretische Trennung von Staat und Kirche auch tatsächlich stattfindet: „So ist es erfreulich, zu sehen, wie bei den Staatswahlen von 1875, in Newyork und Ohio z. B., die clerikalen Wahlagitationen zu Gunsten der Demokraten das gerade entgegengesetzte Resultat, nämlich ganz republicanische Wahlen, zur Folge gehabt haben" (§ 258).

cc) Das öffentliche Recht In diesem Abschnitt legt Michelet im wesentlichen die Staatsorganisation bzw. Verfassung der Vereinigten Staaten dar. Er hebt besonders hervor, daß von der

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Gemeinde über die Grafschaft, 111 das Territorium und den Staat bis hin zum Bund sich immer wieder das gleiche, an der persönlichen Freiheit orientierte Organisationsprinzip wiederholt. Auf diese Weise stellt die jeweils kleinere Einheit wie ein Mikrokosmos die Gesamtheit der Union dar. Auf jeder Stufe wird das Prinzip der Selbstregierung angewendet, Regierende und Regierte sind identisch. Die Möglichkeit der Teilhabe an der Regierung wird von den Amerikanern mit Begeisterung wahrgenommen: „Jede Präsidentenwahl erweckt in ganz Nordamerica ein allgemeines Nationalgefühl, und ein Bestreben, Denjenigen an die Spitze des Staats zu bringen, welcher in Wahrheit die tüchtigste Persönlichkeit mit den richtigsten Ansichten und Ueberzeugungen verbindet" (§ 259). Doch auch die amerikanische Verfassung hält Michelet noch nicht für vollkommen: er bemängelt, daß die Verwaltung noch in zu starker Abhängigkeit von der Exekutive steht. Seines Erachtens wäre es nötig, die Verwaltung als eigene Gewalt zu etablieren, und vom Volke wählen zu lassen. Die Aufgabe des obersten Bundesgerichtshofes hebt Michelet besonders deutlich hervor. Dieser nämlich kann angerufen werden für Streitigkeiten sowohl einzelner Staaten gegeneinander, als auch für Streitigkeiten zwischen einem Staat und dem gesamten Bund. In dieser Funktion erblickt Michelet ein taugliches Konzept, um auch weltweit Streitigkeiten eines Staates mit dem Rest der Welt auf friedliche Weise beizulegen: „So sieht Nordamerica seine offenbare Bestimmung (manifest destiny) nicht nur in der innern Mission, seine eignen Bürger: sondern auch in einer äussern Mission, das ganze Geschlecht zum Menschenthum zu erheben. America will also aus diesem Kerne seines Bundesgerichts einen Areopag der Menschheit herauswachsen lassen, indem es [ . . . ] die Welt durch seine Ideen geistig erobert. [ . . . ] Solcher Gestalt sind die Americaner bestimmt, eine neue Erlösung des Menschengeschlechts anzubahnen, das verlorene Paradies wiederzugewinnen, um alle Volker der Erde Ein Band der Liebe zu schlingen, und die schwankenden Bestimmungen des Völkerrechts in das feste Gesetzbuch des Weltbürgerthums umzuwandeln. [ . . . ] Dazu gehört eine neue Zeit und ein verjüngter Boden des Erdenlebens. Diese neue Zeit ist die Zukunft, als deren jungen Boden wir vornehmlich Australien anzusehen haben" (§ 259).

I I I . Die Geschichte der Zukunft In der dritten Weltzeit wird nach Michelet der Zustand der ersten Weltzeit wiederhergestellt, nun allerdings als ein bewußter, wobei die einzelne Person zu voller Geltung gelangt. Der Übergang wird kein plötzlicher sein, sondern ein allmählicher. Kennzeichnend für dieses neue Zeitalter wird sein, daß der Zwiespalt zwischen öffentlicher Moral und Moral des Einzelnen überwunden wird. Der von Kant herausgestellte Gegensatz von Politik und Moral wird demnach fortfallen, da die 111

11 Moser

So Michelets Übersetzung für county.

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Zweiter Teil: Michelet

bestehenden sittlichen Mächte dem Gewissen aller einzelnen Rechnung tragen. Denn im Falle der Selbstregierung besteht keine Verschiedenheit mehr zwischen dem Wollen der einzelnen Individuen und der Staatsmacht, da jenes in dieser aufgehoben ist. Ein weiteres Merkmal des neuen Zeitalters besteht darin, daß es keiner Helden mehr bedarf, durch welche ein neues Prinzip ins Bewußtsein gebracht werden müßte. Denn nach Abschluß der zweiten Weltzeit steht die menschliche Gattung sowohl ansich als auch fürsich fertig da. Jedes zu verwirklichende Prinzip wurde durch diejenige Nation, welche der Weltgeist dazu bestimmt hat, bis zur Vollendung ausgebildet und ist nun aufgehoben im Zustand der dritten Weltzeit. Sobald sich die dem Menschen angemessenen sittlichen Mächte voll ausgebildet haben, besteht die künftige Aufgabe darin, daß jeder einzelne Weltbürger sich zunehmend als Mikrokosmos der gesamten menschlichen Vernunft begreift. „Nach Vollendung des Menschengeschlechts im Allgemeinen, nach Vollendung jedes besondern Volkes, das sich in einigen grossen Individuen, gewissermaassen als in seinem Verdienstadel, verkörperte, kann es sich jetzt nur noch um die Vollendung des Einzelnen handeln. Es sollen nicht mehr einige hervorragende Geister, es sollen immer mehr und mehr Einzelne dem Begriff der Gattung adäquat werden, und die ewige Persönlichkeit des Geistes in ihrem eigenen Selbst ausprägen, bis sie Alle dazu gelangt sein werden" (§ 261). Da nun das Ziel der Weltgeschichte im großen und ganzen erreicht zu sein scheint, und lediglich noch die Perfektionierung jedes einzelnen Bürgers Gegenstand der weiteren Geschichte sein wird, wirft Michelet selbst die Frage auf, ob die anbrechende nachhistorische Zeit eine langweilige sein werde, weil sich nichts Neues mehr in der Geschichte zutragen wird. Es gibt nun keine spannenden Konflikte mehr, die einer Lösung harren, es wird keine Kriege und Revolutionen mehr geben, einzig die Aus- und Fortbildung des Menschen ist zum Inhalt und Zweck der Weltgeschichte geworden. Die Frage also, ob dies nun ein langweiliger Zustand sein werde, beantwortet Michelet etwas unbefriedigend, indem er die dritte Weltzeit vergleicht mit dem gesegneten Greisenalter des einzelnen Individuums. 112 „Wie im Greisenalter des Einzelnen der Geist aus der Praxis in die Theorie zurückkehrt, so thun Dies jetzt Alle im Greisenalter der Welt, das aber das geistige, mit der Frische der Jugend verbundene ist. [ . . . ] Die höchsten Sphären der menschlichen Thätigkeit, eine Weltkunst, eine Weltphilosophie, werden der Boden sein, auf welchem das Individuum sich bildet und geniesst; das gesellige, staatliche und religiöse Leben in ihrer Vollendung sind nur die materiellen und geistigen Mittel, um ungestört jenem Zwecke obzuliegen. In der ganzen Erinnerung der Vergangenheit lebend, wird das Individuum der Genüsse theilhaftig, welche die mehrtausendjährige Arbeit des Menschengeschlechts in immer grösserer Menge und unter immer erhöhter Leichtigkeit bereitet hat und darbietet. Das ist keineswegs langweilig, sondern dieser Selbstgenuss im höchsten Grade kurzweilig" (§ 260).

112 Michelet veröffentlichte die beiden Geschichtsphilosophiebände des Systems im Alter von 78 und 80 Jahren.

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Die Einteilung der Zukunftsgeschichte ist, wie bei Michelet üblich, eine dreifache: Erstens die Bedingungen für ihren Eintritt, welche Michelet vorrangig in der Wiederherstellung eines einheitlichen Menschengeschlechtes sieht. Zum zweiten werden die materialen Voraussetzungen besprochen, in welchen sich das Prinzip verwirklichen wird: der Ort der Zukunftsgeschichte. Drittens schließlich wird behandelt, wie sich das Prinzip in seinem gegebenen Stoff verobjektiviert: hier thematisiert Michelet die tatsächlichen rechtlichen Verhältnisse künftigen menschlichen Lebens.

1. Die Bedingungen der Nachzeit Die Nachzeit beginnt nach Michelets Auffassung, sobald der endliche, menschliche Geist sich vollends als mit dem absoluten Geist identisch begriffen hat. Es herrscht dann wieder, wie schon in der Vorzeit, die Absolutheit vor, jedoch als mit der Endlichkeit vermittelt. Die drei Bedingungen, welche noch zu erfüllen sind, um die Unangemessenheit des endlichen Geistes gegenüber dem absoluten zu überwinden, sind: erstens die Überwindung der Natur, indem sie dem Geist unterworfen wird; zweitens die Aneignung der geschichtlichen Entwicklung in den einzelnen Geist „wodurch dieser sein natürliches Sein zur geistigen Allgemeinheit erhebt" (§ 261); drittens schließlich die Wiederherstellung der einheitlichen menschlichen Gattung, indem die besonderen Völkergeister wieder zur Allgemeinheit des Menschtums zurückfinden.

a) Die Überwindung der Natur Michelet preist hier die Errungenschaften der modernen Technik. Sein Vertrauen, daß es sich bei all diesen Erfindungen um Segnungen handelt, ist ein völlig ungetrübtes. Die philosophische Interpretation der technischen Neuerungen als stufenweises Fortschreiten des Weltgeistes auf seinem Wege zum Ende der Geschichte gelingt Michelet hier besonders anschaulich. Das tägliche Leben des dritten Weltalters wird sich dadurch auszeichnen, daß einerseits wieder eine schlaraffenlandgleiche Leichtlebigkeit einkehrt, andererseits jedoch die von den Menschen im zweiten Weltalter erlernte Arbeitsamkeit weiterhin anhält, sich aber nicht mehr mit Fragen der Existenzsicherung zu beschäftigen braucht, sondern sich ganz auf Bildung, Kultur und Genuß konzentrieren kann. Durch künstliche Bewässerung und Düngung sowie durch maschinelle Landbearbeitung ist die Ernährung der Menschheit zuverlässig gesichert. „Das Eisen, welches früher grossen Theils zur blutigen Umarmung der Völker, in der die sich befeindenden Menschen einander erdrückten, diente, - das Eisen ist jetzt nicht mehr nur als Pflugschar, und zu nützlichen Werkzeugen der Handwerker verwendet; es ist auch als Schienenweg das hauptsächlichste Mittel des Verkehrs, Erwerbs, Genusses und der 11*

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Verbrüderung der Nationen mit einander durch Eisenbahnen geworden. Der Dampf, die Auflösung der starren Materialität, ist in den Maschinen hauptsächliche Erwerbsquelle, im Schiff schnelles Beförderungsmittel der Personen und der Güter: der Luftdruck in der Rohrpost, - des Gedankens. Die Elektricität fördert durch den Telegraphen die geistige Gemeinschaft der Menschen in's Unglaubliche; Gedanken fliegen in Minuten hunderte von Meilen hin und her. Das Reisen wird der Menschheit immer mehr erleichtert, das Umkreisen des ganzen Erdballs bald zu einer Spazierfahrt werden: und so der Genuss, den die Kenntniss unseres Wohnsitzes gewährt, mehr und mehr allen Einzelnen zugänglich sein; was sich als eine praktische Erlernung der Geographie bezeichnen lässt. Statt an der Scholle gebunden zu sein, wie jetzt noch die Aermsten, werden nicht blos die Wohlhabenderen als Touristen schöne Gegenden besuchen können, sondern endlich eine Erdumsegelung Allen ermöglicht werden. Die Natur wird den Menschen wieder verständlich werden, wie in der Urzeit: bleibt nicht länger ein Buch, das nur mit schwerer Mühe lesbar ist" (§ 262).

b) Die Erinnerung der Geschichte M i t dem Abschluß der Geschichte ändert sich nach Michelet auch deren Bedeutung für die Menschheit. Denn der nachgeschichtliche Mensch steht nicht mehr selbst innerhalb des geschichtlichen Geschehens, sondern kann es als Ganzes betrachten und seine Rückschlüsse daraus ziehen. Während die Amerikaner, wie erwähnt, aufgrund ihres starken Gegenwartsbezuges wenig Interesse an der Geschichte hatten, wird in der nachgeschichtlichen Zeit mit großem Eifer Geschichte gelehrt werden. „Nur wer das Ganze übersieht, wer wahrnimmt, wie aus den zarten, einfachen, kindlichen Gefühlen der Urzeit dann allmälig die rauhe Selbstsucht, Willkür und Egoität entsprang, die zuletzt durch den Lauf der Geschichte immer mehr der sittlichen Persönlichkeit angebildet und unterworfen wurde, - Der wird diese Beispiele der so lang währenden Geschichte der Menschheit auch in der kurzen Spanne seines Lebens für die mannigfach sich darbietenden Lagen, Zustände und Verhältnisse demselben auszunutzen trachten, um sich zum getroffenen Abbilde dieses Urbildes zu machen. Indem er so seine Einzelnheit selbst in die Allgemeinheit des Menschengeistes zu erheben sucht, was eben das Resultat der Erziehung sein soll: so wird damit zugleich das Princip der Urzeit, welches in der Einheit des Menschengeschlechts besteht, wiederhergestellt werden" (§ 263).

c) Die wiederhergestellte

Einheit des Menschengeschlechts

Die Überwindung natürlicher Hemmnisse sowie die Verinnerlichung der gesamten Menschheitsgeschichte ermöglichen die Wiederherstellung einer einheitlichen menschlichen Rasse. Damit jedoch findet nicht eine einfache Rückkehr zum früheren Zustand statt, vielmehr betont Michelet, „dass diese Einheit nicht die erste, unmittelbare, an sich seiende, bewusstlose, die Unterschiede noch ausschliessende Einheit ist, sondern dass sie nur eine Rückkehr aus den

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Unterschieden zur Identität, in welcher dieselben auch erhalten bleiben, sein kann. Die Einheit wird also eine concrete, und damit erst die wahre und dauernde sein" (§ 264).

Michelet geht davon aus, daß auch die physikalischen Unterschiede zwischen verschiedenen Lebensräumen der Erde allmählich überwunden werden. Er zitiert frühere Geschichtsschreiber, stellt fest, daß in deren Darstellungen beispielsweise das Klima erheblich rauher war als zu seinen Lebzeiten, und extrapoliert diese Entwicklungslinie als zunehmende Angleichung der Lebenssituationen auf der ganzen Welt. Einhergehend mit dem Ausgleich klimatischer Unterschiede vermutet Michelet auch eine Änderung der menschlichen Charaktere. Er geht davon aus, daß ebenso wie die Temperatur auch das Temperament der Menschen sich langsam angleicht, indem jedes Volk die günstigen Eigenschaften anderer Völker lernt und annimmt. Als Beleg für die leibliche Angleichung der Menschheit nennt Michelet die infolge von Kolonisation und Migration weltweit festzustellende Vermischung verschiedener Völker und Rassen. Gleichwohl betont Michelet, daß die sich anbahnende Einheit des Menschengeschlechts sich vorrangig auf geistiger, und nicht auf leiblicher Ebene abspielen wird. Wenn sich hinsichtlich der Nahrung, der Kleidung und der Wohnung übereinstimmende Gewohnheiten herausbilden werden, so ist dies nur Ausdruck dessen, daß ein gleiches Denken, Fühlen und Streben bei der gesamten Menschheit Einkehr hält. Einhergehend mit der geistigen Verschmelzung der Menschheit erwartet Michelet eine Harmonisierung der Sprachdifferenzen 113, die auch biblisch als Strafe und als Ausdruck der Zwietracht der Menschheit gelten. In dem herannahenden Ziel, daß alle Menschen wieder eine Sprache sprechen, erblickt Michelet einen augenscheinlichen Ausdruck für das wachsende Verständnis und die zunehmende Versöhnung der gesamten Menschheit. Die schon heute vielgesprochenen Sprachen werden noch weiter an Bedeutung zunehmen, und die kleineren, nicht lebensfähigen Sprachen und Mundarten verdrängen. Die größte Chance, Weltsprache zu werden, sieht er für das Englische, aufgrund seiner schon damals weiten Verbreitung und wegen der besonders einfachen Grammatik.

2. Der Ort der Zukunftsgeschichte Michelet räumt ein, daß schwierig zu bestimmen ist, innerhalb welcher Zeitspanne sich das Näherrücken zum Ausgangspunkt der Geschichte abspielen wird. „Der Ort der Geschichte lässt sich dagegen mit der grössten Leichtigkeit und Bestimmtheit angeben" (§ 265). Wie in § 4 ausgeführt, teilte sich nach Michelets Ansicht die Menschheit am Anfang der Geschichte in drei Rassen, welche die drei verschiedenen Weltteile bevölkerten. Diese drei Weltteile sind Europa mit Afrika, Asien mit Australien und Nord- mit Südamerika, „von denen jedesmal die nördli113 Michelet stützt seine Erkenntnisse auf Ausführungen eines Herrn Stamm, Vortrag bei der Sitzung der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, am 3. Februar 1822.

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che Seite compacter, die südliche spitzer erscheint" (§ 265). Während in der mittleren, geschichtlichen Weltzeit die Entwicklung auf den jeweils nördlichen Weltteilen von Osten nach Westen ablief, so wird die künftige Entwicklung nun umgekehrt auf den jeweils südlichen Teilen von Westen nach Osten verlaufen. Der Ort der Geschichte der Zukunft beginnt daher in Mittelamerika, dem Übergang nämlich zwischen Nord- und Südamerika, und geht über die Inseln des Südmeers und das Kap der guten Hoffnung weiter nach Australien und Polynesien. „So ist es eben die Aufgabe der Geschichte der Zukunft, die ganze, die volle, die erstarkte Individualität wieder mit der Substantialität der Urzeit zu tränken, indem sie mit dem ganzen Reichthum der erinnerten Geschichte erfüllt an ihre Quelle zurückkehrt, - nach dem Osten [ . . . ] " (§ 266).

Der Geist der Freiheit nahm in der geschichtlichen Epoche seinen Ausgang im Osten, und steigerte sich immer mehr nach Westen. „Schritt für Schritt nimmt von China bis San-Francisco die individuelle Freiheit zu. Der Westen stellt auf diese Weise immer die neueste, die jüngste Entwickelungsform der Cultur dar. Und die verwegene und jugendlich übermüthige Gesellschaft am stillen Meere, in Californien, in Oregon sieht schon mit Geringschätzung auf die Bewohner von NewYork, Philadelphia oder Boston, als auf ein zurückgebliebenes altmodisches Volk, herab"

(§ 266).

a) Mittel- und Südamerika Mit Südamerika beginnt nun die Umkehr des bisherigen geschichtlichen Laufes, indem er sich zurückwendet nach Osten. Am geographischen Übergang zwischen Nord- und Südamerika, also in Mittelamerika, wird die bisherige Geschichte ihren Fortgang finden. Von hier aus wird Nordamerika geistig auf den Süden einwirken. Hier werden zunächst die Gegensätze der amerikanischen Welt zusammentreffen und sich verschmelzen. Den Einwand, die Hitze dieser Region könne ein Hindernis für die Entwicklung höherer Kultur darstellen, weist Michelet als Vorurteil zurück. Denn zum einen sei ohnehin, wie oben ausgeführt, mit einer allmählichen Angleichung der klimatischen Bedingungen auf der ganzen Welt zu rechnen. Zweitens und vor allem werden die Menschen in der Zukunft nicht mehr genötigt sein, so hart und rastlos wie in der geschichtlichen Zeit zu arbeiten. In der nachgeschichtlichen Zeit, in welcher die Menschheit nicht mehr gegen die Natur zu kämpfen oder ihre sittlichen Mächte zu errichten braucht, sondern sich auf die Perfektionierung des innerlichen Lebens und des Genusses konzentrieren kann, eignet sich aufgrund der geringeren eigenen Anstrengung ein milderes Klima besser für das Fortgedeihen des Menschentums. Michelet hebt hervor, daß er sich mit dieser Ansicht nicht im Widerspruch zu Hegel befindet. Hegels Feststellung, daß die Länder der kalten und der heißen Zone niemals eine bedeutsame historische Rolle spielen würden, wird Rechnung getragen, indem bei Michelet die heißen Länder erst in der Nachgeschichte bedeutsam werden.

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Unter den Staaten Mittel- und Südamerikas hält Michelet, ohne dies ausführlich zu begründen, Brasilien für das europäischste und daher überlegene. Diesem Staat komme daher die Aufgabe zu, die umliegenden Staaten, die in Nachahmung Nordamerikas schon fast alle als Bundesstaaten organisiert sind, auf nochmals höherer Ebene zu einem Bund zusammenzuschließen.

b) Südafrika Der Boden, welchen der fortschreitende Weltgeist im Anschluß an Südamerika als nächstes fokussieren wird, ist nach Michelets Überzeugung Südafrika. In geographischer Hinsicht liegt diese Gebiet auf dem Wege von Südamerika nach Australien, dem östlichen Endpunkt (und auch Ausgangspunkt) der Geschichte. Für besonders erfreulich und bestätigend hält es Michelet, daß seitens der englischen Regierung bereits damals der Vorschlag gemacht wurde, sämtliche Kolonien Südafrikas zu einem Bundesstaat zusammenzuschließen.

c) Australien Australien bietet in noch perfekterer Weise als Amerika die Gelegenheit, eine völlig neue Kultur zu etablieren. Denn die wenigen Ureinwohner dort stellen kein Kulturvolk im engeren Sinne dar, weil sie von den übrigen Völkern der Erde abgeschlossen leben. Die Bodengestalt Australiens begünstigt die Entwicklung einer hochstehenden Kultur in starkem Maße, jedenfalls an den Küsten, „das Innere nimmt ein Kern steiniger, sandiger, gebirgiger Länder ein, wo die Natur nach den Erdrevolutionen noch nicht Zeit gehabt hat, ihre Zeugungskraft zu bethätigen [ . . . ] Und das Land ist, durch seine Lagerung im Windsystem, der Gesundheit im höchsten Grade förderlich. Alle Naturerzeugnisse sind reichlich vorhanden, und eine primitive Thierwelt, wie die der Urzeit, ohne Raubthiere, macht den Menschen den Boden nicht streitig. [ . . . ] Mit einem Worte, Australien stellt im Südosten der Erde die sehr umfangreiche Oase dar, auf welcher die Menschheit von den Stürmen der Weltgeschichte, wie in einem wiedergewonnenen Paradiese, ausruhen wird, nachdem sie von Japan, als der nordöstlichen Oase, ihren Ausgangspunkt genommen hat, um sich in den Wellenschlag ihrer Bewegung zu stürzen, der da endet, wo diese beiden Oasen der Cultur vermittelst der zwischen liegenden Inselgruppen sich die Hände reichen" (§ 268).

Australien setzte sich (zu Lebzeiten Michelets) aus acht Kolonien zusammen: Neu-Südwales, Victoria, Tasmanien, Südaustralien, Neuseeland, Queensland, Westaustralien und Nordaustralien. Seit dem Ausbruch des Goldfiebers verzeichnete Australien einen starken Zustrom von Einwanderern. Besonders bemerkenswert scheint Michelet die Friedfertigkeit, mit welcher die Etablierung der neuen Kultur auf diesem Erdteil vor sich gehe. Denn sowohl im Verhältnis zu den Mut-

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Zweiter Teil: Michelet

terländern entwickeln die Kolonien auf friedlichem Wege ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit, während auch das Verhältnis zu den Ureinwohnern sich durch starkes gegenseitiges Wohlwollen auszeichnet: so daß gar der König der FidschiInseln zum Christentum übertrat und 1875 sein Land freiwillig an England abtrat. Die Verfassungen sind vollkommen frei und parlamentarisch mit reinen Majoritätsregierungen. Die Minister werden vom Parlament gewählt und sind Diener der Volksgewalt. In Victoria haben Frauen bereits Wahlrecht. In Neuseeland obliegt sogar die Entscheidung der Frage, ob Krieg geführt werden soll, dem Parlament, was Michelet jedoch ohnehin in Australien für äußerst nebensächlich hält: „Von einem stehenden Heere ist hier aber selbstverständlich noch weniger, als in America, die Rede, weil nicht einmal Grenzen zu beschützen sind. Der ewige Friede scheint hier schon thatsächlich eingebürgert, da jeder Grund des Krieges fortgefallen ist" (§ 268). Als einzig unbefriedigend an den australischen Verfassungen empfindet es Michelet, daß weiterhin am Zweikammersystem festgehalten wird. Auf Unterricht und Bildung wird in höchstem Maße Wert gelegt. In Victoria besteht bereits Schulpflicht, der Unterricht ist vollständig verweltlicht und wird kostenlos erteilt. Religionsunterricht ist von staatlicher Seite her nicht vorgesehen, es ist nicht einmal gestattet, ihn vor oder nach den Unterrichtsstunden im Schulgebäude abzuhalten. Neuseeland bietet ebenfalls unentgeltlichen Schulunterricht an, ebenso wie Südaustralien, wo eigens ein Minister für Erziehung eingesetzt worden ist. Volksschulen, Gymnasien und Gewerbeakademien sind bereits in sämtlichen Kolonien verbreitet. In drei Hauptstädten wurden inzwischen Universitäten errichtet. Darüber hinaus sind hervorragende Bibliotheken, Museen und Observatorien entstanden. Die Kolonien sind sehr wohlhabend, die Städte sind überwiegend aus Stein gebaut und durch prächtige Parkanlagen verziert. Auch wurden, begünstigt durch die klimatischen Bedingungen, etliche Pflanzen und Tiere mit großem Erfolg heimisch gemacht.

3. Die Einrichtungen der Zukunft In seinem Bestreben, sämtliche Polaritäten zu versöhnen, ist Michelet bemüht, auch die Einheit von Theorie und Praxis herzustellen. Demgemäß mündet die philosophische Darstellung der Geschichte, als der menschlichen Praxis, letztlich wieder in die Theorie, die ihrerseits wiederum, nach idealistischer Auffassung, der Praxis vorausging. „Wenn die Bedingungen der Geschichte der Zukunft ganz und gar den Stoff derselben durchdrungen und bezwungen: wenn die natürlichen und die geschichtlichen Principien die ganze Menschheit zu Einer Familie, zum Ich des Erdballs geleitet haben werden; dann sind auch die Einrichtungen im Grossen und Ganzen dem Ideale, das ich in meiner Rechtsphilosophie entwickelt habe, gemäß gemacht worden. Die praktische Verwirklichung der allgemeinen Vernunft, die ich im ganzen Verlauf dieser Philosophie der Geschichte nach-

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gewiesen habe, wird wieder zur Theorie zurückkehren. Denn dies Ideal haben wir ja in immer klarern Zügen aus den schäumenden Wogen der Geschichte hervorgehen, und immer deutlichere Gestalt annehmen sehen; so dass es zuletzt als ein abgerundetes Ganzes wissenschaftlich dargestellt werden kann. Ich brauche also hier am Schluss der Philosophie der Geschichte nur an die Grundzüge dieses Ideals zu erinnern, - sicher, keine Chimäre aufgestellt zu haben, wenn ich dessen Verwirklichung in der Geschichte der Zukunft behaupte, da die Errungenschaften der geschichtlichen Zeit bis zum heutigen Tage ja diesen Fortschritt der Weltgeschichte zu jenem Ziele in unverkennbarer Weise von Japan bis Australien bereits thatsächlich nachweisen" (§ 269).

Auf die Streitfrage kontemplative Philosophie versus Tatphilosophie114 bezogen zeigt sich hier: Michelet lehnt Hegels Auffassung, die Philosophie komme immer erst nachträglich und mache immer erst eine sich im Abschluß befindende Epoche begreiflich, nicht ab. Er strebt jedoch an, dieses Zuspätkommen der Philosophie auf höherer Stufe zu versöhnen mit dem unter den Philosophen der Tat herausgestellten Aspekt, die Philosophie gehe der Tat voraus und könne neue Wirklichkeiten generieren. Diese dialektische Vermittlung von nachträglich erfassender mit Zukunft gestaltender Philosophie gelingt Michelet, indem er eine kreisförmige Entwicklungsbewegung annimmt, in welcher das Vorhergehende zugleich immer auch das Nachfolgende ist. „Sind alle Sphären der menschlichen Thätigkeit zum getroffenen Ebenbilde der ewigen Vernunft geworden, so ist die Vernunfterkenntniss selbst in's Leben getreten. Wenn die Geschichte diese Verwirklichung aller Vernunftideen bis zum Ende durchgefühlt hat, ist sie daher selbst Vernunfterkenntniss geworden. Die Praxis der Geschichte, wie sie aus der Theorie der ewigen Denkkraft hervorgegangen war, ist nunmehr wieder in den Schooss ihrer Mutter zurückgekehrt. [ . . . ] Indem auf diese Weise Anfang und Ende innig in einander geschlungen sind, müssen wir auch die beiden Seiten des Menschengeistes, Theorie und Praxis, in Eins verschmelzen. Sie bilden ein Ganzes, dessen Glieder wir nicht, wie der Dichter thut, einander entgegensetzen dürfen: Grau, theurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum. Nein! Wir haben jetzt aus dem goldnen Lebensbaum der Praxis die Theorie selbst als die höchste Blüte und Frucht desselben hervorspriessen sehen, wie sie vorher der Keim war, aus dem er grossgezogen wurde" (§ 272). 115

Michelets Versuch, Theorie und Praxis, System und Geschichte, Anfang und Ende zu versöhnen, stellt sicherlich eine Fortführung der Position Hegels dar. Michelet bleibt einerseits allen Hegelschen Prinzipien wie Dialektik, Versöhnung, Panlogismus, Holismus, Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit und Immanentwerdung des Weltgeistes treu. Er perfektioniert jedoch Hegel, indem er auch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Geschichte und Gedanke den dialektischen Ausgleich herstellt, dessen Fehlen bei Hegel als Mangel erscheint. 114 Vgl. Erster Teil C.III. h 5 Schlußzeilen des gesamten Systems.

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Zweiter Teil: Michelet

Anhand der drei Aspekte, daß der Einzelne Mitglied der Gesellschaft, des Staates und der gesamten Menschheitsfamilie ist, gliedert Michelet dieses finale Kapitel seiner Geschichtsphilosophie Die Einrichtungen der Zukunft in Einzelrecht, Staatsrecht und Weltbürgerrecht. Erstaunlich ist an dieser Anordnung, daß Michelet in der Binnengliederung des Weltbürgerrechts die drei Stufen des absoluten Geistes, nämlich Kunst, Religion und Philosophie, durchläuft. Dies stört die Stimmigkeit des Konzeptes, es wäre näherliegend, diesen Stufen ein eigenes Kapitel innerhalb der Geschichtsphilosophie zu widmen, als sie im Rahmen des Weltbürgerrechts, das doch zum objektiven, nicht zum absoluten Geist gehört, zu behandeln. Denn auf diese Weise endigt Michelets Geschichtsphilosophie formal mit der Darstellung der historischen Verwirklichung des objektiven Geistes, während die höchste Stufe der theoretischen Darlegung, die des absoluten Geistes, innerhalb der Geschichtsphilosophie kein Pendant findet. An dieser Stelle wird eine Unsicherheit Michelets hinsichtlich des Verhältnisses von objektivem Geist zum absoluten Geist sichtbar. Einerseits ist er noch stark an Hegel orientiert, der die Weltgeschichte, unterhalb des absoluten Geistes, in der Rechtsphilosophie piaziert - andererseits ist er bemüht, für die Geschichte einen neuen systematischen Standort oberhalb bzw. nach aller Theorie zu finden. Michelet hat Schwierigkeiten, seinen Anspruch einzulösen, daß in der Geschichtsphilosophie der gesamte theoretische Apparat einer praktischen Prüfung unterzogen wird. 1 1 6

a) Einzelrecht und Gesellschaft Die Achtung vor der Freiheit des Einzelnen erfordert zunächst Freiheit des Eigentums und der Arbeit. Daher werden die letzten Überreste von Sklaverei, Leibeigenschaft, Frondienst und Lehnsrecht ebenso verschwinden wie Zunftzwang und Monopole. Wenn sich die gesamte Menschheit als eine Familie fühlt, so wird jede partikulare Abschottung hinfällig, Verkehr und Handel können ungehindert weltweit zirkulieren. Die Mautlinie wird „an die Peripherie des Erdballs gelegt" (§ 270). Schuldhaft ist nur noch als zeitlich begrenzte möglich, sie tilgt die Schuld, sobald die Freiheitsberaubung dem Wert der Forderung entspricht. Michelet fordert nicht ausdrücklich die Abschaffung der Todesstrafe, geht jedoch davon aus, daß sie hinfällig wird, indem die unter den Menschen Einzug haltende Harmonie und Verbrüderung das Delikt einer vorsätzlichen Tötung immer seltener werden läßt. Da die Religion nurmehr als freiwilliger Verein fortlebt, so wird allein der standesamtliche Eheschluß verbindlich sein. Im Erbrecht wird die Sonderstellung des Erstgeborenen zugunsten einer Gleichbehandlung aller Verwandten gleichnaher Linien fortfallen. Das freie Vereinsleben und die sich selbst steuernde Wirtschaft stellen sicher, daß die Bedürfnisse der Menschen unbürokratisch, effizient und zügig erkannt und ohne staatliches Zutun sogleich befriedigt werden können. Für Π6 Michelet 1879, § 2.

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sämtliche Zwecke, die den Menschen verfolgenswert erscheinen, können und werden sich selbstregierende Assoziationen, Hilfswerke und Vereine zusammenfinden. Auf diese Weise wird auch die soziale Absicherung der Bürger bei Krankheit, Erwerbsunfähigkeit und Alter sichergestellt. Die Kirchengemeinschaft ist auch nichts weiter als ein Verein derjenigen, die ein bestimmtes religiöses Bedürfnis haben und befriedigen wollen. Die Gesamtheit all der freiwilligen Vereine auf unterster Ebene ist die Gemeinde, sei es als Dorf oder als Stadt. „Jede Gemeinde ist eine Republik im Kleinen, die sich selbst regiert" (§ 270). Bereits hier finden sich sämtliche Merkmale, durch welche sich auch die größeren Einheiten auszeichnen, insbesondere die Gewaltenteilung in Gemeinderat als gesetzgebende Gewalt; von den Vereinen beschickter Magistrat als Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten mit dem Gemeindegericht als eine seiner Unterabteilungen; und drittens Bürgermeister als ausführende Gewalt, gewählt aus den beiden vorgenannten Gremien. Charakteristisch für Michelets Verfassung ist, die Verwaltung als eine eigenständige Gewalt zu betrachten. Er begründet dies so: „ [ . . . ] denn das Gericht ist nur Eine Art Verwaltungsbehörde, nämlich für die Verwaltung des gemeinen Rechts, während umgekehrt alle Zweige der Verwaltung der gesellschaftlichen Interessen nur Weisen der Rechtsgemeinschaft selber sind. Die Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung war gut, um nur wenigstens einen Theil der Verwaltung, nämlich die Verwaltung des strengen Rechts, von der Willkür der übrigen Verwaltungszweige zu befreien. Die Trennung fällt in der Idee fort, wenn diese Willkür in der Praxis zu bestehen aufhört" (§ 270).

b) Staatsrecht und Nationalität Ebenso wie die Individuen in ihrer Besonderheit sich zu Vereinen zusammenschließen, so bilden die den gleichen Dialekt sprechenden Gemeinden Stämme, welche wiederum die Einzelglieder einer Nationalität darstellen. Der Kreis stellt das Bindeglied zwischen Gemeinde und Staat dar, entsprechend der amerikanischen Grafschaft. In seine Kompetenz fällt insbesondere der mittlere und höhere Unterricht. Die Verfassung des Staates, der idealerweise ein Bundesstaat sein sollte, unterscheidet drei Gewalten:

aa) Die gesetzgebende Gewalt Die gesetzgebende Gewalt darf durch kein Veto an ihren Aufgaben gehindert werden. Sie verabschiedet Gesetze, die in einem dreistufigen Prozeß ausgearbeitet wurden: „In der ersten [Lesung M.M.] wird die Annahme des Princips entschieden, in der zweiten die Berathung der Details vorgenommen; und die dritte dient als Revision dazu, die einzelnen Punkte dem Principe gemäss zu machen" (§ 271).

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- Es ist bemerkenswert, mit welcher Beharrlichkeit Michelet bis in die kleinsten Verästelungen der Wirklichkeit hinein dem dialektischen Dreischritt treu bleibt. Zu den Rechten der gesetzgebenden Gewalt gehört auch, Steuergesetze zu erlassen, wobei jedoch nach Michelets Ansicht die einzig gerechte Form der Besteuerung darin besteht, die Bürger nach ihrer individuellen Leistungsfähigkeit einzustufen, also eine in progressiven Stufen verlaufende Einkommenssteuer zu erheben. Das Parlament ist während der Legislaturperiode unauflöslich. Die Kontrolle dieser Gewalt ist dadurch gegeben, daß die Verhandlungen mündlich und öffentlich abzulaufen haben, sowie durch die Pressefreiheit. Das Parlament geht aus allgemeiner Wahl hervor, wahlberechtigt sind Bürger mit Vollendung des 21. Lebensjahres. Wahlberechtigt ist nicht nur der Familienvater, sondern jeder Bürger der das vorgeschriebene Alter erreicht hat: „Da indessen auch über Frauen und Unverheiratete Gesetze gegeben werden, so müssen sie, Kraft des Rechts der Selbstregierung, auch mit ihren Stimmen an der Gesetzgebung Theil haben. Diese Emancipation des Weibes hindert nicht ihren Beruf für die Häuslichkeit. Denn der bürgerliche Act des Stimmabgebens dauert nur Einen Augenblick, nach welchem Jeder wieder seinen besondern Berufsgeschäften nachgeht. [ . . . ] Und hat das Weib keine Familie gefunden, warum soll es nicht auch Handwerkerin, Kaufmännin, Telegraphistin, Setzerin u. s. w. werden können, da es in Ländern, wo das Salische Gesetz nicht gilt, oft sogar Staatsoberhaupt wird" (§ 271). Michelet betont, daß die gesetzgebende Gewalt das demokratische Element der Verfassung darstellt, insofern die Mitglieder des Parlamentes aus allgemeiner, freier Wahl hervorgehen. Er ist jedoch der Ansicht, daß auch das aristokratische und das monarchische Prinzip spezifische Vorzüge aufzuweisen haben, die in der idealen Verfassung ebenfalls zum Zuge kommen müssen. Wichtig ist hierbei zu bemerken, daß auch das aristokratische und das monarchische Prinzip der Forderung nach Selbstregierung der Bürger keinen Abbruch tut. Ihr Unterschied zum demokratischen Prinzip besteht nicht darin, daß etwa nur ein Teil der Bürger über die Politik zu bestimmen hätte; sondern darin, daß die Bürger unter jeweils verschiedenen Gesichtspunkten repräsentiert werden: in der Demokratie als Staatsbürger, in der Aristokratie unter dem Aspekt der Vereins- und Standeszugehörigkeit, in der Monarchie schließlich, die beiden ersten Prinzipien vermittelnd, als Staatsbürger und Standesmitglied.

bb) Die Verwaltung Die Verwaltung, welche, wie oben dargelegt, die Rechtsprechung beinhaltet, stellt die zweite Staatsgewalt und das aristokratische Element der Verfassung dar. A n ihrer Spitze steht eine Versammlung von Repräsentanten der besonderen, partikularen Lebensbereiche, wohingegen das Abgeordnetenhaus das Volk unter dem Aspekt der Allgemeinheit repräsentierte. Diese zweite Kammer, die Michelet als Staatsrat, Senat oder Oberhaus titulieren möchte, setzt sich zusammen aus den

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Besten eines jeden Standes bzw. Vereins. Die Funktion des Staatsrates besteht einerseits in der Beratung der Legislative sowohl als auch der Exekutive, andererseits darin, gemeinsam mit dem Parlament das Staatsoberhaupt zu wählen. Er hat das Recht, Gesetzesvorschläge einzubringen. Der Staatsrat ist ebenfalls in regelmäßigen Abständen neu zu wählen.

cc) Die ausübende Gewalt An dieser Stelle kommt in Michelets idealer Verfassung die Wahrheit des monarchischen Prinzips zum Tragen. In ihrem Staatsoberhaupt wird die gesamte Nation in einem einzelnen Individuum personifiziert. - Die gedankliche Parallele zur Menschwerdung Gottes in einem einzigen Individuum ist von Michelet durchaus beabsichtigt. - Das Staatsoberhaupt ist somit Repräsentant der gesamten Nation. Es geht hervor aus der Wahl der beiden Kammern, also indirekt aus dem Willen aller Bürger. Die Aufgabe des Staatsoberhauptes besteht darin, die von der Legislative erlassenen Gesetze zu veröffentlichen und die Beschlüsse der Verwaltung auszuführen. Das Staatsoberhaupt wählt sich zur Ausführung seiner verschiedenen Aufgabenbereiche Minister. Er kann der Legislative Gesetze vorschlagen und vom Staatsrat Stellungnahmen einfordern.

c) Völkerrecht

und Weltbürgerrecht

In der Entwicklung des Weltgeistes stellen für Michelet die Staaten und ihr jeweiliger Volksgeist den Aspekt der Besonderung dar. Das ursprünglich einheitliche Menschengeschlecht legte sich in viele verschiedene partikulare Staaten aus, die nun, am Ende der eigentlich geschichtlichen Epoche, wieder zusammengeführt werden 117 . Da die Staaten nun ihren weltgeschichtlichen Auftrag verwirklicht haben, tritt die Bedeutung der nationalen Verfassung zurück gegenüber einem wieder für die gesamte Menschheit geltenden rechtlichen Rahmen. Das Völkerrecht der Zukunft regelt die Verhältnisse zwischen den Staaten nach den gleichen Prinzipien der Selbstregierung, wie sie auch für den Verein bis hoch zum Staat Anwendung finden. „Handelsverträge fallen fort, weil der Freihandel absolut ist. Kriege werden nicht mehr geführt, da jeder Grund für dieselben unerfindlich ist. Stehende Heere, die den Wohlstand der Nationen jetzt noch durch unproductive Arbeit untergraben, sind selbstverständlich abgeschafft. Damit hört auch die allgemeine Wehrpflicht auf: und selbst der noch nöthige Rest eines Soldatenstandes kann, wie für alle übrigen Stände, bei der geringen Höhe der Militärmacht, durch eine freiwillige Entschliessung Waffenlustiger completirt werden. Schutz- und Trutzbündnisse sind dann ebenso überflüssig. Das Völkerrecht ist nur ein Bruderbund der Nationen untereinander. Die Idee eines ewigen Friedens, die zuerst der i n Vgl. Zweiter Teil C. I. 2.

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Zweiter Teil: Michelet

Abt Etienne de Saint-Pierre angeregt hat, und welche nach ihm von vielen Andern, Fürsten und Philosophen bis auf Kant, aufgestellt worden ist, wird dann nicht länger eine Utopie sein. Sollten sich aber dennoch hin und wieder Streitigkeiten zwischen verschiedenen Völkern ergeben, so wird doch, da das Faustrecht im neuen Völkerrecht nicht mehr gilt, ein oberstes Bundesgericht des Staatenbundes, das wie im Bundesstaate bestellt ist, als internationales Schiedsgericht, die etwa noch auftauchenden Differenzen durch eine AusträgalInstanz zu schlichten wissen" (§ 272).

Michelet gelingt es hier, die Hegeische Rechtsphilosophie aufzugreifen und mit den Ideen aus Kants großer Friedensschrift zu kombinieren. Es ist in der Tat nicht einzusehen, weshalb Hegels Rechtsphilosophie in einem Nationalstaat preußischer Prägung gipfeln soll. Ein Aufheben der staatlichen Besonderheit in der Allgemeinheit einer völkerverbindenden Menschheitsfamilie läßt sich nahtlos auf Hegels Rechtsphilosophie aufsetzen. Fast möchte man sagen, es drängt sich dem Leser diese Fortführung auf. Die Frage, ob und inwieweit sich Hegels Rechtsphilosophie nur aufgrund der repressiven politischen Umstände der damaligen Zeit einer solchen Weiterführung enthielt, kann hier zwar nicht entschieden werden. Jedenfalls aber stellen Michelets Gedanken zum Völkerrecht eine schlüssige Fortführung der Rechtsphilosophie seines Lehrers dar, in welcher er zugleich sein auf Zukunft und Verwirklichung gerichtetes Philosophieverständnis zum Ausdruck bringt. Michelet erwartet, daß sich die einzelnen Staaten eines jeden Erdteils zu Staatenbünden zusammenschließen werden, so daß die Erde sich politisch in fünf Bünde gliedert. Diese fünf Bünde bilden ihrerseits den einen allgemeinen Bund der Menschheit, dessen Gericht als Weltareopag in Konstantinopel seinen Sitz hat. „Jeder der fünf Bünde der Erde sendet so viel Delegirte aus seinen Parlamenten nach Constantinopel, als er unabhängige Staaten oder Bundesstaaten besitzt. [ . . . ] Die einzelnen Staaten schicken als Amphiktyonen auch eine Kriegsmacht nach dem Bundessitze, als Executions-Heer des Bundes der Menschheit, wenn ein Glied dem Urtheilsspruche Widerstand zu leisten Miene machen sollte. [ . . . ] Im Areopag der Menschheit fasst sich das ich des Erdballs nun in Wahrheit zur Einen ewigen Persönlichkeit des Geistes zusammen, welche das Urbild aller Individuen sein soll. [ . . . ] So unterliegen namentlich wissenschaftliche Unternehmungen, wie Nordpol-Expeditionen, Erforschungen der noch unbekannten Länder der Erde, astronomische und meteorologische Beobachtungen, Welt-Industrie-Ausstellungen, ökumenische Synoden, je nach dem Umfang einer jeden solchen Angelegenheit, der Competenz entweder des Areopags der Menschheit oder des Staatenbundes eines Welttheils. An der Spitze des Bundesgerichts der Menschheit steht, als ausübende Gewalt, ein Omniarch, wie Fourier ihn nennt, den alle Mitglieder des Areopags sich wählen" (§ 272).

Wenn sich im Rahmen der allgemeinen Vereinheitlichung des Menschengeschlechtes weltweit eine einheitliche Sittlichkeit und einheitliche Institutionen herausgebildet haben werden, so bietet sich auch für die Stufen des absoluten Geistes ein weltweit gespanntes Betätigungsfeld. Der dann erreichte Zustand der ewigen Persönlichkeit des Geistes, in welchem jede einzelne Person eine getreue und selbstbewußte Verwirklichung des Urbildes der Vernunft darstellt, äußert sich in

C. Geschichtsphilosophie

175

den (bei Hegel außergeschichtlichen) Formen der Kunst, der Religion und der Wissenschaft. In der Weltkunst stellt sich das Urbild der Vernunft als unmittelbares Werk des handelnden Menschen dar. In der Weltreligion, die den „Sankt Humanus" verehrt, negiert der einzelne seine unmittelbare Eingebundenheit in die Vernunft, und stellt sich dieser vielmehr gegenüber, wodurch sie als etwas jenseitiges, vorgestelltes erscheint. Die Wissenschaft schließlich verbindet die in Kunst und Religion vereinseitigten Aspekte: „Das höchste Erfassen, die innigste Durchdringung beider Geister findet erst in der denkenden Betrachtung, im vernünftigen Erkennen der Philosophie statt. Das vollendetste Ziel der Geschichte der Menschheit ist also der Selbstgenuss, der dem Einzelnen dadurch gewährt wird, dass er den allgemeinen Geist in der Wissenschaft der Philosophie erfasst. Das ist die Weltphilosophie, die alle übrigen Wissenschaften unter sich begreift, indem sie sämmtlich zu Seiten, Momenten, Disciplinen der Philosophie werden. Weil sie allen die Absolutheit des Wissens mittheilt, so ist der Gegensatz der speculativen und der empirischen Wissenschaft fortgefallen. Das höchste Product der Geschichte der Zukunft wird also das „System der Philosophie, als exacter Wissenschaft" sein, das ich, in den vorliegenden fünf Bänden, in den allgemeinsten Zügen zu entwerfen versucht habe. Es ist die sich selbst beweisende Wissenschaft, die in ihrer Vollendung nicht das Product einzelner Denker, sondern die von der ganzen Menschheit erfasste Wahrheit ist" (§ 272).

Diese hiermit abgeschlossene geschichtsphilosophische Betrachtung kann als dasjenige philosophische Feld gelten, in welchem sich Michelets Abweichungen von Hegel gemäß den Forderungen der Philosophie der Tat am deutlichsten manifestieren. Soweit angebracht, wurden die Spezifika Michelets, gerade gegenüber Hegel, bereits an gegebener Stelle innerhalb der Darstellung herausgearbeitet, so daß diese Frage keiner erneuten Darstellung im Rahmen einer abschließenden Würdigung bedarf. Heraushebenswert scheint an dieser Stelle eine andere Frage, nämlich ob es bei Hegel systemimmanent notwendig ist, an der Dialektik für sämtliche Philosophiebereiche festzuhalten - oder ob der Weg Michelets, auf die hegelianisch konzipierte Rechtsphilosophie eine nachgeschichtliche Zeit der Harmonie, also der ausgeglichenen Gegensätze, folgen zu lassen, die in einem Weltbürgerrecht kantianischer Prägung gipfelt, auch einen gangbaren Weg ohne logische Brüche darstellt. Hösle hält Michelets Modifikationen für ad-hoc-Maßnahmen ohne logische Abstützung, Ottmanns Ansicht zufolge muß Michelet seinen Lehrer zum Kantianer verbiegen, um seine Auffassungen halten zu können. 118 Zu fragen wäre, ob ein stimmiges Zusammenführen einer ewig harmonischen Friedensordnung im Sinne Kants mit einer dialektischen, stets weiterdrängenden Philosophie im Sinne Hegels überhaupt möglich ist; und falls dies bejaht werden kann, inwiefern Michelet diese Zusammenführung gelungen ist. Die Frage lautet also, ob es eine hegelianische Geschichtsphilosophie ohne Dialektik geben kann.

us Hösle, 1987 b, S. 453; Ottmann, S. 225 und 237; vgl. 5.3.

176

Zweiter Teil: Michelet

D. Schlußbetrachtung I. Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil untersucht das historische Umfeld Carl Ludwig Michelets, eines direkten Schülers Hegels. Die traditionelle philosophiehistorische Auffassung zur Struktur des Hegelianismus wird hierbei kritisch hinterfragt. Dabei stellt sich heraus, daß die gängige Einteilung der Hegelschüler bzw. Hegelanhänger in sogenannte „Rechte" und „Linke" den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht wird. Daher wird eine neue Interpretation des Hegelianismus vorgestellt, welche die aufgezeigten Schwächen des herkömmlichen Modells vermeidet. Die wichtigste Neuerung besteht darin, die Spaltung der Schule in zwei entgegengesetzte Lager nicht länger als das Hauptmerkmal des Hegelianismus anzusehen. Die neue Theorie des Hegelianismus trägt dem Umstand Rechnung, daß der ganz überwiegende Teil aller Hegelschüler bzw. -anhänger sich durch einige bedeutsame Gemeinsamkeiten auszeichnet, die zugleich eine Modifikation an der Philosophie Hegels darstellen. Dieses verbindende Merkmal der allermeisten Hegelianer besteht in ihrer Befürwortung der Philosophie der Tat. Sie steht Hegel affirmativ gegenüber. Doch sie hält im Gegensatz zu Hegel den geschichtlichen Prozeß für noch nicht beendet. Die Philosophen der Tat sehen es als die große Aufgabe der Zukunft an, die von Hegel nur gedanklich vollzogene Versöhnung in die Praxis umzusetzen. Sie sind der Überzeugung, daß die Philosophie nicht nur eine rückblickende, kontemplative, sondern auch eine progressive, die künftige Wirklichkeit gestaltende Funktion hat. Diese Überzeugungen der Philosophen der Tat werden als das zentrale Merkmal der Hegelschen Schule aufgezeigt, demgegenüber eine etwaige Spaltung der Hegelanhänger eine allenfalls untergeordnete Rolle spielt. Vor dem Hintergrund dieser neuen Theorie des Hegelianismus wird im zweiten Teil der weithin unbekannt gebliebene, direkte Hegelschüler Michelet hinsichtlich seiner rechts- und geschichtsphilosophischen Thesen betrachtet. Die geringe Rezeption, die Michelet zuteil wurde, gründet sicherlich auch darin, daß er als ein gemäßigter Hegelianer nach der herkömmlichen Spaltungstheorie schwer in das Schema rechts/links einzuordnen war. Nach der neuen Hegelianismustheorie, welche die Einigkeit der Hegelianer in ihrer Forderung nach einer Philosophie der Tat in den Vordergrund stellt, erscheint Michelet dagegen nachgerade als ein besonders typischer Vertreter des Hegelianismus. In seinen religionsphilosophischen Einlassungen zeigt sich deutlich Michelets aufklärerische Grundhaltung, welche von der Einsichts- und Gestaltungskraft des menschlichen Geistes derart überzeugt ist, daß kein Raum mehr verbleibt für einen als transzendent vorgestellten Gott. Von den in den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts heftig debattierten religionsphilosophischen Über-

D. Schlußbetrachtung

177

legungen ausgehend, modifiziert und ergänzt Michelet die Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels nach den Uberzeugungen der Philosophie der Tat. In der Rechtsphilosophie unternimmt es Michelet, eine Geschichte dieser Wissenschaft zu schreiben, welche die allmähliche dialektische Entwicklung des Gedankens in diesem Wissenschaftszweig aufzeigt. Hierdurch gelingt es ihm, aufzuweisen, inwiefern seine eigene rechtsphilosophische Position den derzeitigen Gipfel der Wissenschaft darstellt, indem sämtliche vorherigen Erkenntnisse hierin aufgehoben sind. Zudem entspricht sein Vorgehen dem Anliegen der Philosophie der Tat, welche bestrebt ist, sämtliche Bereiche des Wissens zu historisieren, um aus der bisherigen Entwicklung die künftige Weiterentwicklung prognostizieren und dieses aus eigener Erkenntnis eingesehene Ziel der Entwicklung aktiv verwirklichen zu können. Noch deutlicher geht Michelet in seiner Geschichtsphilosophie über Hegel hinaus. Bereits ihre Plazierung im Gesamtsystem ist eine andere als bei Hegel. Während für Hegel die Weltgeschichte als Unterpunkt innerhalb der Darstellung der Rechtsphilosophie, und also auf der Stufe des objektiven Geistes ihren Platz findet, positioniert Michelet die Weltgeschichte als Abschluß des gesamten Systems, also erst nach dem kompletten Durchgang auch durch die drei Stufen des absoluten Geistes. Hierdurch wird auf systematischer Ebene ermöglicht, daß auch die Philosophie, als eine Stufe des absoluten Geistes, auf den Verlauf der Geschichte Einfluß ausübt. Michelet sieht zu seinen Lebzeiten den Zeitpunkt erreicht, da der endliche Menschengeist sich seiner Identität mit dem Weltgeist vollends bewußt geworden ist. Hierdurch beginnt ein neues Zeitalter, die nachgeschichtliche Zeit. Sie ist davon geprägt, daß fortan eine apriorische Gestaltung der Wirklichkeit möglich ist, so daß aus menschlicher Einsicht heraus die Zukunft vernünftig gestaltet werden kann, ohne all den Irrungen und Übertreibungen der bisherigen, „blinden" dialektischen Entwicklung ausgesetzt zu sein. In den amerikanischen Verhältnissen erkennt Michelet bereits die Ansätze dieser neuen Epoche, in welcher die ursprüngliche Harmonie des Menschengeschlechtes wiederhergestellt ist: Die Sprachdifferenzen werden überwunden, die Nationalität wird bedeutungslos, das Temperament der Menschen sowie ihre Rassenzugehörigkeit gleichen sich durch Vermischung an, räumliche Trennung wird dank moderner Technologie überwunden. Letztlich wird auch die Staatlichkeit überwunden. Die Einheit der Menschheitsfamilie, wie sie im vorgeschichtlichen Zustand unbewußt herrschte, und die in der geschichtlichen Epoche in lauter Partikularitäten zerfallen war, formiert sich nun erneut, als bewußte Einheit, durch des Menschen eigene Tat.

II. Ausblick Infolge der in der vorliegenden Studie gewonnenen Erkenntnisse drängen sich in mehrerlei Hinsicht neue Fragen auf. Einige der meines Erachtens vielverspre12 Moser

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Zweiter Teil: Michelet

chenden Ansätze für weitere Untersuchungen werden zum Abschluß kurz skizziert. Im ersten Teil konnte nachgewiesen werden, daß das gängige Bild vom Hegelianismus, wie es die Philosophiegeschichten seit nunmehr gut 150 Jahren vermitteln, der Revision bedarf. Gefordert wäre eine philosophiehistorische Behandlung des Hegelianismus, in welcher diese Schule unter dem Aspekt der Einheit, orientiert an den Forderungen der Philosophie der Tat, dargestellt wird. Eine solche Darstellung hätte die bislang nicht vorhandene Möglichkeit, von der zwischenzeitlichen politischen Entwicklung zu profitieren: Da inzwischen die Klassifizierungen „rechts" und „links" als politische Koordinaten ihre Orientierungsfunktion weitgehend verloren haben, wäre der Blick auf den Hegelianismus mit seinen rechten und linken Formen erstmals befreit von der politischen Konnotation der Begriffe, befreit vor allem von der darin liegenden Polarisierung. Eine solche Geschichte könnte den Hegelianismus als einheitliche Strömung darstellen, indem sie nicht mehr genötigt wäre, sich zwischen den beiden Varianten entscheiden zu müssen, Hegel entweder als Prämarxisten oder als Präfaschisten zu deuten. 119 Was die Ergebnisse des zweiten Teils anbelangt, so ergeben sich zunächst interessante Ansatzpunkte für eine weitergehende Forschung, wenn man Michelets Rechts- und Geschichtsphilosophie mit der Konzeption seines Zeitgenossen Rudolph von Jhering (1818-1892) vergleicht. Die Ausgangsposition der beiden scheinen zunächst soweit auseinander zu liegen, daß kaum ein verfolgenswerter Berührungspunkt vermutet würde. Jhering ist Vertreter der historischen Rechtsschule, gegen die bereits Hegel 120 entscheidende systematische Einwände vorbringt. Den Positivismus dieser Schule hält Hegel für einen Relativismus, wobei die zufällige geschichtliche Erscheinung der Phänomene an die Stelle der Natur der Sache trete. So sei die Frage, was Recht und was vernünftig sei, überhaupt nicht beantwortbar. Michelet schließt sich dieser ablehnenden Haltung gegenüber der historischen Schule an, bringt jedoch ein anderes Argument: Er wirft ihr erstens eine Übersteigerung der Bedeutung des römischen Rechts vor, welches diese Schule als Urbild allen Rechts ansehe. Zweitens hält er, als Folge hiervon, die Schule für rückwärtsgewandt, in der Vergangenheit schwelgend, und folglich der Gegenwart und der Praxis gegenüber für verschlossen. 121 Bei genauerer Betrachtung der Schriften Jherings fällt jedoch auf, daß er in einigen Punkten signifikant von den Positionen der historischen Schule abweicht, und insofern Michelets oben genannte Kritik an der historischen Rechtsschule ihn nicht trifft. Zwar verwahrt sich Jhering gegen eine teleologische Deutung der historischen Befunde, wie sie Michelet als Hegelianer vornimmt, doch er zeichnet sich gleichwohl durch einen unverwüstlichen Fortschrittsglauben aus. So steht Jhering einerseits auf einem eindeutig relativistischen Standpunkt, ist aber gleichwohl vom Walten 119 So die Formulierung bei Lübbe 1962, S. 11. 120 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 3. 121 Vgl. Zweiter Teil B. II. 1. c).

D. Schlußbetrachtung

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eines Entwicklungsgesetzes überzeugt. 122 Nach dieser von Optimismus und Fortschrittsglauben geprägten Auffassung kommt im Zuge der Evolution allmählich ein immer höher entwickeltes, dem Menschen besser entsprechendes Recht zustande. Hierin geht er mit der ebenfalls äußerst optimistischen, jedoch historisch-dialektisch konzipierten Rechtsevolution bei Michelet konform. Jhering kennt im Gegensatz zu Michelet keinen Weltgeist, kein vorbestimmtes Ziel der Rechtsentwicklung, keinen absoluten Geist, an welchen sich der endliche Geist annähern könnte, ja vielleicht nicht einmal eine Vernunft, mit welcher die Wirklichkeit identisch sein oder werden könnte. Trotz dieser immensen Differenzen gegenüber dem hegelianisch geprägten Idealismus Michelets kommt dieser doch mit Jhering darin überein, daß die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung des Rechts notwendige Voraussetzung zum Verständnis des heutigen Rechts ist. Auch noch auf einer anderen Ebene finden sich bemerkenswerte Parallelen Michelets mit Jhering. Die Evolution des Rechts stellen sich beide Autoren als durch den Kampf der Gegensätze geprägt vor. Bei Michelet ist die Dialektik der Motor der Entwicklung, während bei Jhering ein stellenweise etwas darwinistisch anmutender Mechanismus, die Macht des Stärkeren, die treibende Kraft darstellt. 123 Doch sehen beide in diesem permanenten Kräftemessen den Garant für eine allmähliche Entwicklung zum besseren Recht. Bemerkenswert ist nun, daß Jhering, genau wie Michelet, einen in der Zukunft liegenden Zustand annimmt, ab welchem dieses ständige Negieren, Verbessern und In-Frage-Stellen sein Ende haben wird. Michelet schwebt ein Weltfrieden und ein Weltbürgerrecht vor. Ganz ähnlich stellt Jhering gleich auf der ersten Seite seines Hauptwerkes 124 heraus, daß die Bedeutung und Mission des römischen Rechts sich zusammenfassen lasse in: Überwindung des Nationalitätsprinzips durch den Gedanken der Universalität. Die Völker leben nach seiner Ansicht nicht isoliert nebeneinander, sondern es bestehe ein kontinuierlicher Prozeß der Aufnahme von außen, der Rezeption, Aneignung und Assimilation. Die Ungleichheit der geographischen, natürlichen und geistigen Ausstattung der Völker werde in der Geschichte durch den permanenten gegenseitigen Austausch der Kulturen untereinander aufgehoben. Abgesehen von der zentralen Bedeutung des Begriffs Auflieben für die hegelianische Philosophie korrespondiert auch das bei Jhering genannte Ziel der Entwicklung, die Universalität, genau mit Michelets dargestellter Position, 125 nach welcher ebenfalls die Bedeutung der Nationen allmählich in den Hintergrund treten wird, indem die Partikularitäten der Völker in einem Weltbürgerrecht aufgehoben sein werden. Der Kampf ums Recht kommt demnach irgendwann zum Ziel, und „Das Ziel des Rechts ist der Friede. 4 ' 126 Michelet wie Jhering sehen also die Zeit des Kamp122 Vgl. WolfiS.

627-635.

ι 2 3 Vgl. v. Jhering, Der Kampf ums Recht. 124 Vgl. v. Jhering, Der Geist des Römischen Rechts. 125 Vgl. Zweiter Teil C., v.a. C. III. 126 Vgl. v. Jhering 1965 (1872), S. 188. 12*

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Zweiter Teil: Michelet

fes und der Entwicklung als eine vorübergehende an, welche dann in einen alle Partikularitäten überwindenden Eine genauere Betrachtung Jherings könnte daher eventuell auch einen Beitrag zu der oben 127 aufgeworfenen Frage leisten, ob bzw. wie ein Übergang von einer dialektischen, vom Kampf der Gegensätze geprägten Phase, wie sie im Zeitalter der Nationalitäten herrscht, zu einer solchen des Ausgleichs und des Friedens, wie sie nach Aufhebung aller nationalen Einseitigkeiten durch das Weltbürgerrecht herrschen wird, möglich ist. Anknüpfend an Jherings Kampf ums Recht könnte die Bedeutung der Tat für die Philosophie auch noch in anderer Weise zum Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen gemacht werden: In dieser Schrift wird aufgezeigt, wie sehr das faktisch geltende Recht von dessen Anwendung lebt. Nur durch permanent geübte Praxis behält das Recht seine Gültigkeit - ein nicht angewandtes Recht verliert seine Geltung mit der Zeit. Jhering schließt daraus sogar, es sei die Pflicht des Rechtsgenossen, ein ihm zustehendes Recht durchzusetzen, da er andernfalls dem schleichenden Verfall des Rechtssystems Vorschub leiste. Die Partizipation am Rechtsleben durch Wahrnehmung der eigenen Rechte, die ständige Bestätigung des Rechts durch ihre Anwendung, wird hier als Voraussetzung seines Fortbestands angesehen. Diese Einsicht faßt er in einer Formel zusammen, die Michelet ohne Zögern affirmieren würde: „Das Wesen des Rechts ist praktische Verwirklichung." 128 Was die Bedeutung der Tat für das Recht anbelangt, so geht Peter Landau noch einen Schritt weiter als Jhering. Er sieht nicht nur wie dieser den Fortbestand des bestehenden Rechts als von der Anwendung abhängig an, sondern er sieht darüber hinaus auch in der Generierung neuen Rechts einen Prozeß, der stets durch eine sich in der Außenwelt manifestierende Tat eingeleitet wird. Anhand des konkreten Beispiels von Fichtes Appellationsschrift weist er nach, daß der Streit um die Grundrechte in der deutschen Geistesgeschichte darin seinen Ausgangspunkt hatte, daß die Grundfreiheiten durch Fichte zunächst vor dem Forum der öffentlichen Meinung in Anspruch genommen wurden, bevor sie dann, am Ende der dadurch angestoßenen Entwicklung, rechtlichen Rang erhielten. Landau zeigt hiermit, daß positives Recht nicht einfach zwanglos aus dem Gedanken hervorgeht, sondern als dessen Verwirklichung aktiv und bewußt eingefordert werden muß, um tatsächlich Geltung zu erlangen. Erst die Anwendung des Gedankens in Form der Tat schafft das Recht. 129 Der hier bezüglich des Rechts ausgearbeitete Gedanke korrespondiert völlig mit Fichtes Betonung der Bedeutsamkeit der Tathandlung} 30 Zugleich deckt er sich aber auch mit dem Credo der Philosophie der Tat, welche über Hegels kontemplative Auffassung der Philosophie hinauszukommen versucht, indem sie

127

Am Ende des Kapitels über Geschichtsphilosophie (Zweiter Teil C. III. 3.). 128 Vgl. v. Jhering 1965 (1872), S. 225. 129 Vgl. Landau 1999, S. 28-30. 130 Zu Fichte vgl. Erster Teil C. III. sowie Zweiter Teil B. II. 1. c).

D. Schlußbetrachtung

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in der bewußten Objektivierung des vernünftigen Gedankens das Ziel der Philosophie sieht, nicht in stets nur nachträglicher Erklärung. Zu fragen wäre an dieser Stelle, welche Verbindungen zwischen Jherings historisch-relativistischer, Fichtes subjektiv-idealistischer und Michelets absolut-idealistischer Tatphilosophie bestehen. Untersucht werden müßte, inwieweit sich diese Ansätze, vielleicht speziell hinsichtlich des sich darin äußernden optimistischen evolutionären Fortschrittsdenkens, decken oder ergänzen, bedingen oder ausschließen, inwieweit das Verständnis eines jeden dieser Systeme von der Beschäftigung mit den jeweils anderen profitieren kann. Weiteren Aufschluß über das Verhältnis von hegelianischer Rechtsphilosophie zur historischen Schule könnte sicherlich auch ein Vergleich von Michelet mit Eduard Gans bieten. Gans bemühte sich wie Michelet um eine Vergeschichtlichung des Rechts. 131 Er bekämpft einerseits die historische Schule, da sie seines Erachtens nicht hinreichend historisch sei, sondern einseitig historisch, indem sie einem bestimmten Volk und einer bestimmten Zeit, der Epoche Roms, überragende Wichtigkeit einräume. Zugleich aber eint ihn mit der historische Schule die Abneigung gegen dogmatisches Naturrecht, gegen die Deduktion von Recht aus der geschichtslosen Begrifflichkeit. Für ihn gibt es nur Naturrecht, das sich geschichtlich entwickelt hat. In dieser historischen Ergänzung zu Hegels Philosophie sieht er keinen Verstoß gegen die Konzeption seines Lehrers, sondern eine stimmige Fortführung. Denn bei Hegel mündet die in der Rechtsphilosophie entwickelte Idee des Staates auf dem Gipfel ihrer Ausgestaltung ebenfalls in die Geschichte. Daher sei der Staat, so Gans, auch für Hegel nicht das Vollendetste, sondern über ihn erhebe sich, als neue und höhere Instanz, die Geschichte. Sie ist die Dialektik der endlichen, partikularen Staaten. Gans erblickt hierin Hegels Bruch mit dem bisherigen Naturrecht. Die Rechtsphilosophie sei schon bei Hegel nicht mehr die abgeschlossene Wissenschaft, die in der perfekten Verfassung gipfele, sondern sie dränge über sich hinaus, in die Geschichte hinein. Gans sieht sich daher als Aus- und Fortführer einer Entwicklung, die Hegel bereits selbst angestoßen habe: die Geschichte als Bestandteil der Rechtsphilosophie zu verstehen, deren Erforschung wiederum rechtsphilosophische Ergebnisse zutage fördere. 132 Durch seine Öffnung der hegelianischen Rechtsphilosophie für die Erkenntnisse der historischen Schule vollzieht er eine Dynamisierung des statischen zum historischen Naturrecht. Zu untersuchen wäre in diesem Zusammenhang, wie gut ihm, verglichen mit Michelet, diese Adaption des historischen Elements in die hegelianische Rechtsphilosophie hinein gelingt, welche der beiden Konzeptionen also diese Synthese sauberer vollzieht.

131 Erst vor zweiundzwanzig Jahren gab Manfred Riedel Gans' Vorlesungen zur Geschichte des Naturrechts sowie zur Universalrechtsgeschichte heraus, ohne dadurch jedoch eine nachhaltige Debatte angestoßen zu haben: Riedel, 1981. 132 Vgl .Riedel, v.a. S. 14-18.

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Zweiter Teil: Michelet

Ein zeitgenössischer Anknüpfungspunkt schließlich ergibt sich bei einem Vergleich der Theorie Michelets mit den geschichtsphilosophischen Überlegungen von Francis Fukuyama. Dessen These, das „Ende der Geschichte" deute sich an, stellt den wohl bedeutsamsten geschichtsphilosophischen Entwurf der vergangenen Jahre dar. 133 Fukuyama, US-Amerikaner japanischer Herkunft und ehemaliger Berater des State Department, vertritt die Auffassung, daß die liberale Demokratie sich weltweit durchsetzen werde. Sie stelle den Endpunkt und das Ziel der Evolution von Gesellschaftstypen dar, über das hinaus kein qualitativer Fortschritt mehr denkbar sei. Sie sei das einzige klar umrissene politische Ziel, das den unterschiedlichen Regionen und Kulturen rund um die Welt gemeinsam vor Augen stehe. Es herrsche inzwischen ein weltweiter Konsens über die Legitimität der liberalen Demokratie als Regierungssystem, während sich die Unterlegenheit sämtlicher konkurrierenden Herrschaftsformen endgültig herausgestellt habe. Die Bedeutsamkeit von Fukuyamas Entwurf liegt darin, daß er seit langer Zeit erstmals wieder einen kohärenten und zielgerichteten Verlauf der Menschheitsgeschichte annimmt. Er unternimmt eine Weiterführung und Popularisierung der Hegelschen Geschichtsphilosophie, wobei er das Ziel gesellschaftlicher Entwicklung nicht im Nationalstaat, sondern wie Kant in einer weltweiten Akzeptanz des freiheitlichdemokratischen Modells erblickt. Indem er nunmehr wieder die Existenz einer Universalgeschichte der Menschheit unterstellt, greift er auf eine Diskussion zurück, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts begann, jedoch wegen der geschichtlichen Katastrophen, die der Menschheit danach widerfuhren, zwischenzeitlich mehr oder weniger versandet ist. 1 3 4 Die Frage, ob und inwieweit es angemessen ist, heute wieder von einem Fortschrittsmodell der Menschheitsgeschichte auszugehen, kann hier nicht entschieden werden. Falls man sie aber bejaht, so wird die Diskussion durch den Einbezug Michelets sicherlich bereichert. Denn Michelet stellt, genau wie Fukuyama, ein hegelianisch ausgerichtetes, optimistisches Evolutionsmodell vor, das als Zielpunkt - in Anlehnung an Kants Friedensschrift - eine globale, liberale Demokratie heraufziehen sieht. Es liegt daher ein Vergleich von Fukuyamas These mit Michelets Rechts- und Geschichtsphilosophie nahe. Reizvoll wäre daran einerseits die Untersuchung, ob ein Autor aus der Zeit vor dem Grauen des 20. Jahrhunderts einen brauchbaren Beitrag zur heutigen geschichtsphilosophischen Debatte leisten kann. Andererseits gäbe diese Untersuchung auch Aufschluß über die Frage, ob eventuell zentrale Gedanken Fukuyamas bereits vor 150 Jahren durch Michelet grundgelegt wurden.

133 Fukuyama, 1992. 134 Zur Geschichte der Geschichtsphilosophie vgl. Hösle, 2000.

Schriftenverzeichnis Michelets 1 Selbständig erschienene Schriften De doli et culpae in jure criminali notionibus. Dissertatio inauguralis philosophica, Berlin 1824 Die Ethik des Aristoteles in ihrem Verhältnis zum Systeme der Moral, Berlin 1828, (1828a) Das System der philosophischen Moral mit Rücksicht auf die juridische Imputation, die Geschichte der Moral und das christliche Moralprinzip dargestellt, Berlin 1828 (1828b) Aristotelis ethicorum Nicomacheorum libri decern, Berlin 1829 Einleitung in Hegels philosophische Abhandlungen, Berlin 1832 Examen critique de Γ ouvrage d' Aristote intitulé Métaphysique, Paris 1835 Geschichte der letzten Systeme der Philosopie in Deutschland von Kant bis Hegel, 2 Bände, Berlin 1837 u. 1838 Schelling und Hegel oder Beweis der Aechtheit der Abhandlung: Ueber das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, Berlin 1839 Anthropologie und Psychologie oder die Philosophie des subjectiven Geistes, Berlin 1840 Vorlesungen über die Persönlichkeit Gottes und Unsterblichkeit der Seele oder die ewige Persönlichkeit des Geistes, Berlin 1841 Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den gegenwärtigen Kampf Schellings mit der Hegel'schen Schule, Berlin 1843 Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes. Eine philosophische Trilogie: Erstes Gespräch: Ueber die Persönlichkeit des Absoluten, Nürnberg 1844 Zweites Gespräch: Der historische Christus und das neue Christenthum, Darmstadt 1847 Drittes Gespräch: Die Zukunft der Menschheit und die Unsterblichkeit der Seele oder die Lehre von den letzten Dingen, Berlin 1852 Zur Unterrichts-Frage. Nebst Darstellung der vom Ministerium Eichhorn gegen den Verfasser geführten Disciplinar-Untersuchung, Frankfurt a. O./Berlin 1848 (1848 a) Zur Verfassungsfrage. Den Mitgliedern der beiden verfassungsgründenden Versammlungen gewidmet, Frankfurt a. O./Berlin 1848 (1848 b) Ueber Einrichtung der Bezirks-Vereine. Rede, gehalten am 25. April 1849 im geselligen Verein der Stadt-Bezirke 48a und b, Berlin 1849 (1849 a)

1

Nach Ascherson.

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Schriftenverzeichnis Michelets

Die gesellschaftliche Frage in ihrem Verhältnisse zum freien Handel. Rede, gehalten in der Sitzung des Freihandels-Vereins vom 12. Juni 1849, Berlin 1849 (1849 b) Die Lösung der gesellschaftlichen Frage, Berlin 1849 (1849 c) Vorschläge zur Umgestaltung der deutschen Universitäten, Berlin 1850 Eine italienische Reise in Briefen. Dem Freunde der Natur, der Kunst und des Alterthums gewidmet, Berlin 1856 Die Geschichte der Menschheit in ihrem Entwicklungsgänge seit dem Jahre 1775 bis auf die neuesten Zeiten, 2 Bände, Berlin 1859 u. 1860 Naturrecht oder Rechtsphilosophie als die praktische Philosophie, enthaltende Rechts-, Sitten- und Gesellschaftslehre, 2 Bände, Berlin 1866 (1866 a) Ueber Preussens Bestimmung und Aufgabe. Rede, gehalten in mehreren Bezirksvereinen, Berlin 1866 (1866 b) Hegel der unwiderlegte Weltphilosoph. Eine Jubelschrift, Leipzig 1870 Hegel und der Empirismus, Berlin 1873 Das System der Philosophie als exacter Wissenschaft, enthaltend Logik, Naturphilosophie und Geistphilosophie: Bd. I: Des Systems der Philosophie erster Teil, enthaltend Logik, Dialektik, Metaphysik, Berlin 1876 Bd. II: Des Systems der Philosophie zweiter Teil, enthaltend die Naturphilosophie auf dem Grunde der Erfahrung, Berlin 1876 Bd. III: Des Systems der Philosophie dritter Teil, enthaltend die Philosophie des Geistes, Berlin 1878 Bd. IV: Des Systems der Philosophie vierter Teil, enthaltend die Philosophie der Geschichte, 2 Abteile: 1. Abteil, Die Urwelt, der Orient, Griechenland, Berlin 1879. 2. Abteil: Rom, das christliche Europa, Amerika, die Nachwelt, Berlin 1881 Das Forum Romanum oder die achte Region des alten Rom. eine historisch-antiquarische Streitfrage zwischen Italien und Deutschland, Berlin 1877 Wahrheit aus meinem Leben, Berlin 1884 Historisch-kritische Darstellung der dialektischen Methode Hegel's (mit G. H. Haring), Leipzig 1888

Publikationen in Zeitschriften und Werken anderer In den Jahrbüchern für wissenschaftliche

Kritik:

1829 I, S. 63-80: Anzeige von Β. H. Blasche: Das Böse im Einklänge mit der Weltordnung dargestellt S. 265-278: Anzeigen von C. G. Schubarth: Ueber das Streben der Menschheit zur Einheit

Schriftenverzeichnis Michelets S. 945-956: Anzeige von F. Delbrück: Erörterung einiger Hauptstücke in Schleiermachers Christlicher Glaubenslehre 1829 II, S. 481-496, 505-527: Anzeige von Piatons Werken von F. Schleiermacher, 3. Teiles erster Band: Der Staat 1830 I, S. 148-160: Anzeige von Aristotelis Ethicorum Nicomacheorum libri X recognovit E. Cardwell und von Aristotelis Ethicorum Nicomacheorum libri ree. Michelet, Vol. Ι. S. 707-728: Anzeige von I. H. Fichte: Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie 1830 II, S. 559-568: Anzeige von H. Azais: Explication universelle 18311, S. 680-700: Anzeige von Troxlers Logik S. 833-840: Anzeige von A. Stahr: Aristotelia, Erster Teil 1831 II, S. 782-792: Anzeige von Aristotelis Ethica Nicomachea ex. ree. I. Bekkeri 18321, S. 46-74: Anzeige von J. G. Fichtes Leben und Briefwechsel, hrsg. v. I. H. Fichte 1833 I, S. 710-727: Anzeige von G. Hartenstein über die neuesten Darstellungen und Beurteilungen der Herbartschen Philosophie S. 785-798: Anzeige von A. v. Cieszkowski: Prolegomena zur Historiosophie 1839 II, S. 177-223: Anzeige von F. J. Stahl: Die Philosophie des Rechts, 2. Band, 2. Abteilung S. 854-886: Anzeige von E. Zeller: Platonische Studien 1841 II, S. 641-675: Anzeige von J. C. Glaser: Die Metaphysik des Aristoteles 1842 I, S. 225 - 244: Anzeige von J. W. Snellmann: Versuch einer speciellen Entwickelung der Persönlichkeit F. G. Afzelius: Aristotelis de imputatione doctrina In den Programmen des Collège royal français de Berlin: De Sophoclei ingenii principio, Berlin 1830 Über die Sixtinische Madonna, Berlin 1837 In Hegels Werken: Mitherausgeber der vollständigen Ausgabe der Werke G. W. F. Hegels, herausgegeben durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Berlin 1832 ff. Daraus separat erschienen: Einleitung in Hegels philosophische Abhandlungen, (Bd. I, S. I - L I ) , Berlin 1832 In den Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst: 1838, S. 2433-2456: Zugeständnisse der neuesten Physik in Bezug auf Goethes Farbenlehre In den Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst: 1842, S. 61 -63: Schellings erste Vorlesung in Berlin

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Schriftenverzeichnis Michelets

In den Jahrbüchern für speculative Philosophie, hrsg. von L. Noack: 1846, Heft 1, S. 231-233: Anzeige zu L. George: System der Metaphysik 1846, Heft 2, S. 32 f. : Anhang zu: K. H. Schultz-Schultzenstein: Zur Philosophie der organischen Natur S. 90-101: Die Frage des Jahrhunderts S. 201-210: Kritische Miscellen zur Politik S. 211 -213: Herr v. Drieberg und die Physiker. Kritische Miscelle 1846, Heft 3, S. 236 f.: Kritische Miscelle zur Politik 1846, Heft 4, S. 104-107: Debatte der philosophischen Gesellschaft zu Berlin über die erste These des Prof. Gabler: Uber das Verhältnis der geschichtlichen Entwicklung zum Absoluten S. 208-210: Anzeige von: Le peuple par J. Michelet, 2ième édition, Paris 1846 1847, Heft 5, S. 113 -126: Über das Verhältnis der Stände zu einander S. 151-280: Debatte der philosophischen Gesellschaft zu Berlin über die zweite, dritte und vierte These des Professor Gabler: Über das Verhältnis der geschichtlichen Entwickelung zum Absoluten S. 786-847: Debatte der philosophischen Gesellschaft zu Berlin über das Gesetz des Fortschritts in der Geschichte. Thesen des Dr. Schmidt In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik Bd. XXII, 1853, S. 39-82: Drei Briefe über Transcendenz und Immanenz Bd. XXVI, 1855, S. 34-59 u. 227-249: Arthur Schopenhauer (Vortrag vom 30. Dezember 1854) Bd. XXXI, 1857, S. 275-279: E. F. Apelt, Metaphysik In: Der Gedanke. Organ der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin Bd. 1,

S. 1 - 8: Unser Programm S. 20-58: Logik und Metaphysik. Rosenkranz und Hegel S. 66-68: Geschichte der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin S. 72-75: Anmerkung zu einem Briefe von Rosenkranz über das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt S. 81 -111: Rosenkranz und Hegel (Schluss) S. 111-126: Die dialektische Methode. In Sachen Trendelenburgs gegen Hegel S. 146-171: Diskussion über: Der Materialismus und die Lebenslehren S. 172-175: Geschichte der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin (Fortsetzung) S. 175 -176: Der Stein der Weisen S. 176-178: Notizblatt S. 181-183: Persönliches

Schriftenverzeichnis Michelets S. 185-201: Die dialektische Methode und der Empirismus. Zweiter Brief an Trendelenburg S. 231-237: Diskussion über Michelets Geschichte der Menschheit S. 237-240: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 240-241: Sitzungsfeier der Philosophischen Gesellschaft S. 241-244: Geschichte der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin (Schluss) S. 247-251: Notizblatt S. 252-253: Brief an Boreliu S. 253: Anmerkung zu einem Briefe von G. v. Vincke S. 254-256: Persönliches Bd. 2,

S. 13-26: Ableitung der Grundprinzipien der Repräsentativ-Verfassung aus den drei logischen Schlussformen S. 26-27: Fragmenta philosophorum Graecorum von Mullach. Vol I S. 28-33: Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von F. Lassalle S. 33-44: Uber die Gottesidee des Anaxagoras, des Sokrates und des Plato im Zusammenhange ihrer Lehren von der Welt und dem Menschen S. 44-46: Die philonische Philosophie. Von M. Wojff S. 46-51: De vi logicae rationis in describenda philosophiae historia S. 51-55: Über Bacos von Verulam wissenschaftliche Principien S. 55-63: Medizinische Miscelle: a. Die wissenschaftlichen Principien der neueren Heilkunde, b. Die medizinische Doctrin des Dr. med. Garms S. 63-64: Was uns noch retten kann S. 65-70: Notizblatt S. 70: Brief von Michelet an Lassalle S. 72-73: Brief von Michelet an Prof. Hoffmann in Würzburg S. 73-75: Persönliches S. 75-78: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 78-80: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 81 -85: Zeitschrift für exacte Philosophie, herausgegeben von Allihn und Ziller S. 85-90: Kirchner, Die speculativen Systeme seit Kant und die philosophische Aufgabe der Gegenwart S. 90-96: Zur Aesthetik: Hotho gegen Vischer. Über Metaphysik des Schönen S. 114-119: Die altfranzösische Tragödie und die Wagnersche Musik S. 119-123: Marselli. La Ragione della Musica moderna S. 150-155: Wie alt ist das Menschengeschlecht? S. 155-160: Notizblatt

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Schriftenverzeichnis Michelets S. 166-168: Bemerkungen zu einem Briefe von Borelius S. 172: Brief von Michelet an Mullach S. 173: Neueste Entdeckung über die Hegeische Philosophie S. 173-174: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 174-176: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 222-230: Dialektik und Anschauung: Die Verschmelzung der einseitigen Methoden S. 241, 250-253: Über den Begriff der Nationalität in der Rechtsphilosophie S. 255-256: Übersetzung einer Hymne von Jos. Montanelli S. 256-259: Notizblatt S. 262-268: Brief von Michelet an Prof. Hoffmann in Würzburg S. 268-270: Persönliches S. 270-273: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 274: Sitzungsberichte der philosophischen Gesellschaft

Bd. 3,

S. 16-17: Über den Charakter des König Odipus in der gleichnamigen Sophokleischen Tragödie S. 34-39: Lassalle, Das System der erworbenen Rechte, Erster Artikel S. 43-44: Zwei neue Religionen des freudigen Rechtthuns: a) Comtes Vorrede zum positivistischen Katechismus, b) Stamm, Die Religion der That S. 46-49: Die Herren Saling und Hoffmann reclamiren S. 49-51: Notizblatt S. 54: Brief an Borelius S. 58-60: Anmerkung der Redaction S. 60-61: Persönliches S. 61 -63: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 64: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 65-88: Lassalle, Das System der erworbenen Rechte, 2. Artikel S. 88-103: Stamms Nosophthorie: Die Lehre vom Vernichten der Krankheiten S. 120-124: Herr Rosenkranz reclamirt S. 124-126: Wie man in Russland über Hegel urteilt S. 126-129: Notizblatt S. 136-137: Brief an Hess in Bonn S. 137-139: Persönliches S. 139-143: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 143: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft

Schriftenverzeichnis Michelets S. 145-168: Zur Rechtsphilosophie: Zu Lassalles, Fr. v. Raumers, C. v. Rabenaus, Trendelenburgs, Röders und Heids Werken S. 197-199: Die Fichtefeier S. 203-216: Herr Trendelenburg und Herr Lassalle reclamiren S. 216-218: Notizblatt S. 222-223: Brief an Borelius S. 224-225: Persönliches S. 225-228: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 228: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 229-237: Über die Gesamtausgabe der Schellingschen Werke S. 237-243: Hat Kant seine Ansichten geändert? S. 266-270: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 270-271: Wie ein Franzose die deutsche Philosophie ansieht S. 277-283: Notizblatt S. 283: Brief an Monrad S. 285-286: Brief an Borelius S. 287-292: Persönliches S. 292: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft Bd. 4,

S. 37-54: Zur Rechtsphilosophie: Zu Lassalles, Fr. v. Raumers, C. v. Rabenaus, Trendelenburgs, Heids und Röders Werken S. 54-65: Stiftungsfest der philosophischen Gesellschaft. Darin: Das Ziel der philosophischen Gesellschaft S. 65-68: Ein Programm über Aristoteles Tugendlehre S. 68-73: Notizblatt S. 74-78: Brief an Rosenkranz S. 80-81: Persönliches S. 81 -83: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 83-84: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 109-120: Kritik über M Hess: Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage S. 120-124: Discussion über die Entdeckung der Nilquelle S. 124-135: Über die Gruppe des Laokoon S. 139: Persönliches S. 139-146: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 146: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft

Schriftenverzeichnis Michelets

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S. 176-191: Vergleichung der Kassandra im Agamemnon des Aeschylos mit der Margarethe in Shakespeares Richard III. S. 191-194: Nachtrag zur Rechtsphilosophie: Dimitri de Glinka: La philosophie du droit, une explication des rapports sociaux S. 197-202: Notizblatt S. 206-208: Anmerkung der Redaction zu einem Briefe aus Kiew S. 208-209: Persönliches S. 209-212: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 213: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 248-260: Zur Anthropologie und Psychologie S. 267-273: Herr Häcker reclamirt S. 274-277: Notizblatt. Über Hess' Flugschrift: Das Recht der Arbeit S. 281-284: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 285: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft Bd. 5,

S. 25 - 30: Der Unterschied der Confessionen S. 60-62: Notizblatt S. 63-66: Persönliches S. 66-67: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 68: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 95 -109: Über das Böse. Vortrag Märckers nebst Discussion S. 114-117: Spaventa über Hegel in der Academie zu Neapel S. 117-119: Pietraszewskis deutsche Übersetzung der Zendbücher S. 119-123: Notizblatt S. 124-128: Persönliches S. 128-131: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 131-132: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 145-154: Anmerkungen der Redaction zu Schellwiens Sendschreiben an Lassalle S. 154-158: Märckers Bericht und Discussion über Jovanovitsch, The Serbian Nation and the Eastern Question S. 194-195: Notizblatt S. 195-200: Persönliches S. 200 - 204: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 204: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 242-249: Discussion der philosophischen Gesellschaft über Tapans Werk: Über den Willen

Schriftenverzeichnis Michelets S. 261-263: Notizblatt S. 267-269: Persönliches S. 269-272: Geschichtsphilosophische Übersicht Bd. 6,

S. 1 -14: Aus Michelets Naturrecht S. 25-49: Zur Anthropologie und Psychologie. Vortrag von Schultz-Schultzenstein nebst Discussion S. 49-70: Zur Psychologie S. 77-80: Notizblatt S. 80-82: Persönliches S. 82-84: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 100-116: Tappans Thesen über die Freiheit des Willens S. 117-123: David Friedrich Strauss: Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte S. 143-147: Notizblatt S. 149-151: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 151 -152: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 174-202: L' histoire de Jules César. Par Α. Rogeard S. 208-211: Notizblatt S. 212-213: Persönliches S. 213-216: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 216: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft S. 243-258: Engel: Die dialektische Methode und die mathematische Naturanschauung. Bericht nebst Discussion S. 262-264: Notizblatt S. 265-266: Persönliches S. 266-269: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 269-270: Sitzungsbericht der philosophischen Gesellschaft

Bd. 7

S. 1-23: Wo stehen wir jetzt in der Philosophie? S. 75-81: Nekrologe: 1. Leopold v. Henning. 2. Ernst v. Pfuel. 3. Victor Cousin S. 83-87: Geschichtsphilosophische Übersicht S. 87-90: Sitzungsberichte der philosophischen Gesellschaft S. 133-147: Friedrich Heinrich Jacobis Leben, Dichten und Denken. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur und Philosophie von Eberhard Zirngiebl S. 148-151: Kirchmanns populär-philosophische Vorträge S. 173 -178: Brief an Drossbach

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Schriftenverzeichnis Michelets S. 179-181: Brief an Dr. Starke in Neu-Ruppin S. 182-183: Brief an Krauth S. 183-189: Notizblatt S. 265 -270: Notizblatt S. 344-351: Notizblatt

Bd. 8,

S. 1-18: Die Epigonen und die Heroen der Wissenschaft. Eine Beleuchtung von Bergmanns kritischer Grundlegung zur Metaphysik S. 18-24: H. G. Hotho: Die Geschichte der christlichen Malerei in ihrem Entwicklungsgange S. 24-41: Die Dialektik und der Satz des Widerspruchs. Kritik der Schrift: Über die dialektische Methode von E. v. Hartmann S. 41 -42: Fragmenta philosophorum Graecorum S. 42-44: La Solidarité, Journal des Principes S. 44-48: La Religion et la société moderne, par Frederic Herrenschneider S. 49-58: Die bisher erschienenen Beurteilungen des Werks: Naturrecht oder Rechtsphilosophie von C. L. Michelet S. 58: Notizblatt: Rosenkranz, Hegels Naturphilosophie und die Bearbeitung derselben durch Vera S. 59-71: Der Standpunkt Schleiermachers S. 93-95: Erwiderung auf R. Schellwiens Abhandlung: Der Satz des Widerspruchs und die Dialektik S. 95-107: Hegels Naturphilosophie und die Bearbeitung derselben durch Vera S. 108-111: Über Erkenntnis, von M. Drossbach S. 112-119: Die Principien der Politik, von Prof. Dr. v. Holtzendorff S. 119-122: Notizblatt S. 122-124: Einladung zur Subscription für Hegels Denkmal, Verzeichnis der Beiträge dazu, Stand des Unternehmens S. 125-173: Hegels Sääcularfeier: Reden zu Hegels hundertjährigem Geburtstag S. 173-198: Eduard von Hartmann: 1. Über die notwendige Umbildung der Hegelschen Philosophie aus ihrem Grundprincip heraus. 2. Das Ding an sich und seine Beschaffenheit. Kantische Studien zur Erkenntnistheorie und Metaphysik S. 198-199: Des Einzelnen Recht und Pflicht. Ein philosophischer Versuch auf naturalistischer Grundlage. Von Alfred Friedmann S. 201-202: Einige Worte über Boumann S. 241-254: Ob der Staat das Recht der Volkserziehung erhalten hat S. 254-260: Ein idealistischer Theosoph und ein theosophischer Materialist: Blekings Philosophie des Bewusstseins in Bezug auf das Böse. Spiller, Das Naturerkennen nach seinen angeblichen und wirklichen Grenzen

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S. 260-262: Georg Kuhlmanns grossartig angelegter Weltverbesserungsplan S. 262: Ein Wort über die neuesten Kirchenordnungen S. 262-289: Geschichte der philosophischen Gesellschaft zu Berlin S. 290-292: Sitzungsberichte der philosophischen Gesellschaft Bd. 9

S. 1 -17: Schluss der Geschichte der philosophischen Gesellschaft zu Berlin S. 18-28: Schluss-Korrespondenz über die Elektrolyse des Wassers S. 28-44: Michelets gesammelte Werke S. 44-58: Briefwechsel mit Alexander v. Humboldt

In: Verhandlungen der philosophischen Gesellschaft zu Berlin Heft 2, S. 1 - 2 0 u. 39-45: Über Idealismus und Realismus Heft 3, S. 53-55: Diskussion über A. Lassons Vortrag über Friedrich Harms: Die Philosophie seit Kant Heft 7, S. 72-74: Diskussion über Frederichs Vortrag über den Begriff der Religion und über die Hauptstufen der religiösen Entwickelung Heft 9, S. 33-35: Diskussion über v. Kirchmanns Vortrag über die Wahrscheinlichkeit Heft 10 u. 11, S. 1-114: Geschichte der philosophischen Gesellschaft zu Berlin Heft 13 u. 14, S. 47-49: Diskussion über J. H. v. Kirchmanns Vortrag über die neueste Schrift Ε. v. Hartmanns: Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins Heft 15, S. 48-52: Diskussion über den Pessimismus Heft 16 u. 17, S. 38-44: Diskussion über J. H. v. Kirchmanns Vortrag über die Gegenständlichkeit der in den Sinneswahrnehmungen enthaltenen Eigenschaften S. 107-113: Erwiderung auf die Ansprache des Vorsitzenden der philosophischen Gesellschaft in der Versammlung am 29. November 1879 zur Feier des fünfzigjährigen Jubiläums des Professor Michelet als akademischen Professors Heft 20, S. 1-20: Uber einige Einwände gegen Michelets System der Philosophie als exacter Wissenschaft, besonders hinsichtlich der Wasserzersetzung durch den Galvanismus Heft 21, S. 71 - 73: Diskussion über P. Gauers Vortrag über Entstehung der Moral

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Literaturverzeichnis Ahrens, Heinrich: Naturrecht, Bd. I, 6. Auflage, Wien 1870, Neudruck Aalen 1968 Ascherson, Ferdinand: Zur Bibliographie der Schriften Carl Ludwig Michelets, in: Philosophische Gesellschaft (Hrsg.), Acht Abhandlungen Herrn Professor Dr. Karl Ludwig Michelet zum 90. Geburtstag als Festgruss dargereicht, Leipzig 1892 Avineri, Shlomo: Hegels Theorie des modernen Staates, Frankfurt am Main 1976, (Originalausgabe englisch 1972) Baur, Ferdinand Christian: Christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1835 Beyer, Wilhelm Raimund: Hegel-Bilder, 2. Auflage, Berlin 1967 - Der „alte Politikus" Hegel, Frankfurt am Main 1980 Boumann, Ludwig: Michelets Rechtsphilosophie, in: Der Gedanke, Heft 4, Bd. VIII (1871), S. 201 ff. Brazill, William: The Young Hegelians, New Haven/London 1970 Briese, Olaf: Konkurrenzen. Philosophische Kultur in Deutschland 1830-1850, Würzburg 1998 Cesa, Claudion (Hrsg.): Gli Hegeliani liberali, Rom-Bari 1974 Cieszkowski, August Graf von. Prolegomena zur Historiosophie, Berlin 1838; Neudruck Hamburg, 1981 Coreth, Emerich (u. a.): Philosophie des 19. Jahrhunderts, 2. Auflage, Stuttgart 1989 - Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, 2. Auflage, Stuttgart 1990 Cornu, Auguste: Karl Marx und Friedrich Engels, Berlin 1954 Engels, Friedrich: Der gehörnte Siegfried. Fragmente einer Tragikomödie, enthalten in Brief vom 1. Mai 1839 an Friedrich Graeber, in: Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 3. Abteilung, Bd. I, Berlin 1975 D'Ercole, Pasquale: La filosofia del diritto del Prof. Carlo Lodovico Michelet e la pena die morte nella dottrina hegeliana, in: Archivio giuridico V, Heft 3 (1870), Bologna/Vienna, S. 262-282 - Carlo Lodovico Michelet e Thegelianismo, in: Rivista italiana di filosofia, 9. Jg. Heft 1 (1894), S. 303-328 und Heft 2 (1894), S. 48-88 Erdmann, Johann Eduard: Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. II, 3. Auflage, Berlin 1878

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Johannes: Geschichte der Philosophie, Bd. II, 11. Auflage, Freiburg Basel

Hösle, Vittorio: Hegels System, 2 Bände, Hamburg 1987 (1987 a) - Die Stellung von Hegels Philosophie des objektiven Geistes in seinem System und ihre Aporie, in: C. Jermann (Hrsg.), Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1987 (1987 b) - Der Staat, in: C. Jermann (Hrsg.), Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1987 (1987c) - Der Ort von Kants Geschichtsphilosophie in der Geschichte der Geschichtsphilosophie, in: R. Helmholz u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, Bd. II. Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag, Paderborn 2000 Hübscher, Artur: Die Nachfolge Hegels, in: Das goldene Tor, Heft 8/9 (1947), S. 708 ff. 13*

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