Hegels Anthropologie 9783110501780, 9783110501391

In the Philosophy of Subjective Spirit, Georg Wilhelm Friedrich Hegel developed the foundations for an anthropology and

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Hegels Anthropologie
 9783110501780, 9783110501391

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Anthropologie und Personalität
Das unzureichend Notwendige der Selbstreferenz in Hegels subjektivem Geist
Von der Verleiblichung zur Sprache. Selbstmanifestation in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes
Die Idee des Lebens. Zu Hegels Verortung der Anthropologie in der Wissenschaft der Logik
Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes
Das Tierische und das Menschliche bei Hegel
Das entzweite Selbstgefühl im unsittlichen Staat. Zur Polemik gegen Kleists Prinz Friedrich von Homburg
„Degradierung“ der Anthropologie im Kontext von Hegels Romantikkritik?
Hegels Anthropologie, Epistemologie und Religion als Begründung der Welt ohne Gott?
Von Kronos zu Zeus: Zur Ermächtigung der Zeit durch den Geist
Selbsterzeugung des Menschen? Zur Dialektik der Gleichheit bei Hegel und Marx
Siglen
Personenregister

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Hegels Anthropologie

Hegel-Jahrbuch Sonderband

Herausgegeben von Andreas Arndt, Brady Bowman, Myriam Gerhard und Jure Zovko

Band 9

Hegels Anthropologie Herausgegeben von Andreas Arndt und Jure Zovko

ISBN 978-3-11-050139-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-050178-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049854-7 ISSN 2199-8167 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die anthropologische Frage danach, was der Mensch sei, ist in der gegenwärtigen Problemlage der Wissenschaften und der Philosophie von höchster Aktualität. Nach den von Sigmund Freud behaupteten „narzisstischen Kränkungen“ des Menschen – er stehe nicht im Zentrum des Weltalls (Kopernikus), er sei nicht „Krone der Schöpfung“ (Darwin) und aufgrund des Unbewussten auch nicht Herr im eigenen Hause (Freud) – ist es zu weiteren Angriffen auf das von der Aufklärung geprägte menschliche Selbstbild gekommen. In der Philosophie der Postmoderne ist der Tod des Subjekts verkündet worden und die Neurowissenschaften haben massive Zweifel an der menschlichen Freiheit vorgetragen, die in der Öffentlichkeit und auch philosophisch ein starkes Echo finden. In seiner Philosophie des subjektiven Geistes hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Grundlagen einer Anthropologie und Psychologie entwickelt, die den Menschen im Blick auf Vernunft und Freiheit bestimmt. Was auf den ersten Blick hoffnungslos antiquiert zu sein scheint, gewinnt Brisanz und Aktualität dadurch, dass Hegel seine Auffassung in eindringlichen Auseinandersetzungen mit scheinbar widersprechenden Phänomenen  – wie Geisteskrankheiten und auch paranormalen Phänomenen – begründet und zudem den subjektiven Geist im Zusammenhang seiner natürlichen, gesellschaftlichen sowie geschichtlichen Bestimmtheit reflektiert. Die jetzt in einer kritischen Edition zugänglichen Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, herausgegeben von Christoph Johannes Bauer (GW 25) bieten hierzu reichhaltiges Material. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine Tagung zurück, welche von der Hegel-Gesellschaft Zadar in Verbindung mit der Internationalen HegelGesellschaft e. V. vom 23. Bis 27. Februar 2011 an der Universität Zadar organisiert wurde. Auf der Grundlage einer historischen und systematischen Rekonstruktion der Hegelschen Anthropologie und Psychologie wird Hegels Konzept auch im Blick auf aktuelle philosophische Problematiken diskutiert, um Hegels Philosophie des subjektiven Geistes in ihrer thematischen Vielfalt für die gegenwärtigen Diskussionen zu erschließen. Berlin und Zadar, im Dezember 2016, Andreas Arndt und Jure Zovko

Inhalt Vorwort 

 V

Walter Jaeschke Anthropologie und Personalität 

 1

Lu De Vos Das unzureichend Notwendige der Selbstreferenz in Hegels subjektivem Geist   17 Lucia Ziglioli Von der Verleiblichung zur Sprache. Selbstmanifestation in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes 

 35

Marc Rölli Die Idee des Lebens. Zu Hegels Verortung der Anthropologie in der Wissenschaft der Logik   59 Andreas Arndt Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes  Leo Šešerko Das Tierische und das Menschliche bei Hegel 

 75

 89

Tomislav Zelić Das entzweite Selbstgefühl im unsittlichen Staat. Zur Polemik gegen Kleists Prinz Friedrich von Homburg 

 97

Jure Zovko „Degradierung“ der Anthropologie im Kontext von Hegels Romantikkritik?  Samir Arnautović Hegels Anthropologie, Epistemologie und Religion als Begründung der Welt ohne Gott?   131 Dimitris Karydas Von Kronos zu Zeus: Zur Ermächtigung der Zeit durch den Geist 

 141

 119

VIII 

 Inhalt

Christoph J. Bauer Selbsterzeugung des Menschen? Zur Dialektik der Gleichheit bei Hegel und Marx  Siglen 

 195

Personenregister 

 197

 179

Walter Jaeschke

Anthropologie und Personalität Ganz so schlecht, wie häufig behauptet wird, ist es dem neuzeitlichen Menschen nun doch nicht ergangen. Er wäre ja wirklich ein bedauernswürdiges Geschöpf – und genau genommen nicht einmal mehr ein ‚Geschöpf‘ –, wäre die Geschichte seiner Selbsterfahrung nichts als eine Reihe und sogar eine Aufgipfelung narzißtischer Kränkungen und Erniedrigungen. Doch davon kann ja gar keine Rede sein – und dies zeigt sich rasch, wenn man die sich mit empirisch-wissenschaftlichem Anspruch drapierenden und doch bloß im Dienste der Selbstüberschätzung entworfenen dogmatischen Behauptungen Siegmund Freuds1 etwas genauer betrachtet. Dann verraten sie nämlich, dass das Gegenteil dessen zutrifft, was sie aussagen. Natürlich bleibt es richtig, dass der Mensch des Mittelalters und der frühesten Neuzeit angenommen habe, dass „sich sein Wohnsitz, die Erde, ruhend im Mittelpunkte des Weltalls befinde, während Sonne, Mond und Planeten sich in kreisförmigen Bahnen um die Erde bewegen“. Doch was heißt hier „Mittelpunkt“? Der Wohnsitz „im Mittelpunkte des Weltalls“ ist für das Selbstverständnis dieses Menschen ebenso komfortabel und respektabel gewesen wie ein Wohnsitz im Mittelpunkte oder noch besser auf dem Boden einer Mülltonne – dort unten nämlich, in der finstersten Etage des Weltbaus. Und dass die Gestirne um ihn kreisen, besagt ja nur, dass er am weitesten entfernt ist von ihrer Lichtwelt. Sie kreisen ja nicht seiner Bedeutung wegen um den Menschen, wie der Hofstaat um einen absoluten Monarchen. Doch eben dies unterstellt Freuds pseudohistorische Sicht dem vorkopernikanischen Menschen: „Die zentrale Stellung der Erde war ihm aber eine Gewähr für ihre herrschende Rolle im Weltall und schien in guter Übereinstimmung mit seiner Neigung, sich als den Herrn dieser Welt zu fühlen.“ Doch die Lage der Erde im Mittelpunkt ist gerade nicht das Indiz ihrer herrschenden, sondern ihrer inferioren Rolle, und nichts hat diesem Menschen ferner gelegen, denn sich „als den Herrn dieser Welt zu fühlen“. Dies ist vielmehr eine unbewusste Retrojection des kopernikanischen und zudem modernen Menschen, dessen Selbstverständnis sich erst der vermeintlichen „kosmologischen Kränkung“ verdankt. – Nicht viel besser steht es um die zweite angebliche Kränkung. Man muss die Debatten um den Darwinismus schon sehr großzügig ignorieren

1 Sigmund Freud, „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“, in: Freud, Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 12, Werke aus den Jahren 1917–1920, Frankfurt/Main 31966, 7 f.

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und sein Wissen ausschließlich aus zeitgenössischen Karikaturen beziehen, um den Effekt des Darwinismus in einer „biologischen Kränkung“ zu sehen. Gekränkt wird durch den Darwinismus nicht der Mensch, der sich nun, selbst unter den Bedingungen des Freudschen Naturalismus, als die höchste Form der Evolution wissen darf, sondern vielmehr der Gott, der nun nicht mehr behaupten darf, dass er seine Schöpfung zweckmäßig entworfen habe, und somit vollends überflüssig wird. Dann aber bleibt allein der Mensch als ein zwecksetzendes Wesen übrig – und daraus erklärt sich, dass der Darwinismus vor allem in Deutschland mit einer Fortschrittsideologie amalgamiert wurde2  – von biologischer Kränkung keine Spur. – Und was schließlich die dritte und angeblich empfindlichste Kränkung betrifft, die psychologische, so scheint es mir allemal geraten, derartige Behauptungen über den epochalen Rang eigener wissenschaftlicher Einsichten nicht selbst zu treffen, sondern sie der Nachwelt zu überlassen – und dies umso mehr, als auch hier die historisch unzutreffende Prämisse im Spiel ist, man habe zuvor das häusliche Leben der menschlichen Seele allgemein als in das gleißende, alles durchdringende Licht des Ich als des Hausherrn getaucht gesehen.

1 Die sogenannte Anthropologie (1) Hierüber kann man aus unterschiedlichen Quellen Belehrung schöpfen – etwa aus der Romantik, aber eben auch aus Hegel, schon früher und insbesondere jetzt, aus der neuen Ausgabe von Hegels Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, und insbesondere aus deren erstem Teil, der „Anthropologie“. Doch so sehr mir an diesen Vorlesungen gelegen ist: Zunächst muss ich entwicklungsgeschichtlich hinter sie zurückgreifen. „Anthropologie“: In Hegels Werk tritt dieser damals durchaus verbreitete Titel erst vergleichsweise spät auf, im Kontext seiner späten Nürnberger Überarbeitung einer Diktatvorlage zum „System der besonderen Wissenschaften“, beim Übergang von der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes. Ihr erster Satz lautet: „Der Geist betrachtet erstens in seinem bloß natürlichen Daseyn und seiner unmittelbaren Verbindung mit dem organischen Körper, und seiner daher rührenden Abhängigkeit von dessen Affectionen und Zuständen, Astrologie, siderische terrestrische Einflüsse Krankheiten Klimatische Unterschiede ist Gegenstand der Anthropologie.“ (GW  10.339  f.) Nahezu

2 Siehe jetzt: Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Der Darwinismusstreit, hg. v. Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke, Hamburg 2007 (Referatband); Der Darwinismus-Streit, hg.  v. Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke, Hamburg 2012 (Quellenband; Philosophische Bibliothek 619).

Anthropologie und Personalität 

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dieselben Wendungen gebraucht Hegel wenig später auch im dritten Teil der Wissenschaft der Logik: In der Anthropologie sei der Begriff „in seinem Versenktseyn in die Aeusserlichkeit“ zu betrachten; ihr müsse „die dunkle Region überlassen werden, worin der Geist, unter, wie man es sonst nannte, siderischen und terrestrischen Einflüssen steht, als ein Naturgeist in der Sympathie mit der Natur lebt, und ihre Veränderungen in Träumen und Ahndungen gewahr wird“ (GW 12.197). Krankheiten, Astrologie, siderische und terrestrische Einflüsse  – wie man sieht, ist es keine sonderlich illustre Gesellschaft, in der dieser Geist in der Anthropologie erstmals erscheint – und er wird sich, dies sei gleich gesagt, später zwar über sie erheben, aber sich doch nie gänzlich von ihr verabschieden. Dennoch ist es, denke ich, eine wichtige Entscheidung Hegels gewesen, auch diesen Bereich in seine Geistesphilosophie einzubeziehen, und sie nicht bloß, wie noch zu Beginn seiner Nürnberger Jahre, mit der Abhandlung des auf innere oder äußere Gegenstände gerichteten Bewusstseins beginnen zu lassen (GW 10.99). Es handelt sich hier ja fraglos ebenfalls um ‚geistige‘ Vorgänge, und es macht diesen Bereich systematisch besonders interessant, dass diese Vorgänge auch eine Naturseite, auch Wirkungen auf die Natur haben. Hegels nachträglicher ‚Vorbau‘ der Betrachtung des noch natürlichen Geistes vor die Bewusstseins lehre erweist sich deshalb als in doppelter Hinsicht vorteilhaft: In systemarchitektonischer Hinsicht dient er der Glättung des systematischen Übergangs von der Natur zum Geist. Noch die frühen Nürnberger Entwürfe kennen hier eigentlich gar keinen ‚Übergang‘, sondern ein bloßes Nacheinander, als ob es sich um ein Verhältnis aufeinander aufruhender ontologischer Schichten handelte. Doch diese ‚Glättung‘ bleibt eben nicht ein Akt bloßer Systemkosmetik; sie verklammert ‚Natur‘ und ‚Geist‘, und zwar mit einer Intensität, die für ein Denken, das sich  – vielfach unbewusst  – immer noch im Horizont des cartesianischen Dualismus bewegt, uneinsichtig und anstößig genannt werden muss. Hegels Anthropologie setzt stillschweigend, zumindest ohne viel Aufhebens davon zu machen, eine Revision dieses Dualismus voraus. Und das Recht zu dieser Revision gibt ihm letztlich nicht der Begriff der Natur als des Anderen des Geistes, sondern die Erkenntnis der Natur des menschlichen Geistes. Denn ohne sie ließe sich ja gar kein Begriff des Verhältnisses von Natur und Geist gewinnen. (2) Die vorhin zitierten Texte aus den späten Nürnberger Jahren, in denen Hegel den Titel „Anthropologie“ einführt, lassen eines noch nicht erkennen: dass der Leitbegriff dieser neuen Disziplin gar nicht der Begriff des Menschen, sondern der Begriff der „Seele“ ist. Dies spricht erst die Heidelberger Enzyklopädie in § 307 aus: „der Gegenstand der gewöhnlich so genannten Anthropologie“ sei die Seele. Diese Wendung verrät ein Doppeltes – dass der Titel „Anthropologie“ eigentlich gar nicht Hegels eigene Option ist und dass er der Ansicht ist, dass die damals unter diesem Titel stehende Disziplin „gewöhnlich“ seelische Vorgänge

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behandle. Dem kann ich hier nicht nachgehen. Jedenfalls wäre der richtige Titel dann „Psychologie“ gewesen – doch dieser Titel ist damals bereits anderweitig reserviert: Die „sonst sogenannte Psychologie“, so Hegel, behandle den fürsichseienden Geist. Hegels zweimaliger Rückbezug auf eine ‚sonst so genannte‘ Wissenschaft zeigt: Er ist genötigt, für sein Vorhaben einen Ort und einen Titel in der bereits strukturierten Wissenschaftslandschaft seiner Zeit zu finden, stößt hierbei jedoch auf zwei Wissenschaften, deren Titel nicht mit ihrem Gegenstand kongruieren. In dieser Situation zieht Hegel in der Heidelberger Enzyklopädie eine naheliegende Konsequenz: Er lässt es bei der Erwähnung der „so genannten Anthropologie“ und der „sogenannten Psychologie“ bewenden und überschreibt diese beiden Disziplinen mit den Worten „Die Seele“ bzw. „Der Geist“. Mit dem Titel „Die Seele“ wird er dem eigentlichen Gegenstand der neu konzipierten Wissenschaft gerecht – hingegen erweist sich der Titel „Der Geist“ für die „sogenannte Psychologie“ als entschieden zu weit. Dies erhellt ja schon daraus, dass der gesamte Systemteil, „Der subjective Geist“, bereits eine Untergliederung von „Geist“ darstellt, so dass es nun wirklich unlogisch ist, einen Teilbereich dieses „subjektiven Geistes“ unter den Titel „Der Geist“ zu stellen. Dies könnte Hegel den Anstoß gegeben haben, in seinen uns überlieferten drei Berliner Vorlesungen wie auch in den beiden späteren Auflagen der Enzyklopädie zur Bezeichnung der drei Teildisziplinen des „Subjektiven Geistes“ doch zu den ungeliebten Namen der „so genannten“ Disziplinen Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie zu greifen und die früheren Haupttitel Sein, Bewusstsein und Geist nur noch im Untertitel mitzuführen. Einen weiteren Anstoß könnte die vom Orientierungsbedürfnis der Studenten geleitete Praxis der Ankündigung der Vorlesungen gegeben haben. Doch all diese Erwägungen ändern nichts an dem Umstand, dass dieser Teilbereich der Philosophie des subjektiven Geistes nun unter einem unangemessenen und irreführenden Titel steht: Hegels Berliner „Anthropologie“ ist nach wie vor „Seelenlehre“. Ihr Gegenstand ist nicht der Mensch, sondern die „Seele“.

2 Anthropologie als Seelenlehre (1) Doch damit sind die Schwierigkeiten ja keineswegs beseitigt. „Die Seele“, „Seelenlehre“: Auch diese Titel wecken damals unzutreffende Assoziationen, und darin mag ein weiteres Motiv für Hegel liegen, sie später zu vermeiden  – abgesehen davon, dass eine Doppelheit von „Seelenlehre“ für den ersten und „Psychologie“ für den dritten Teil der „Philosophie des subjektiven Geistes“ ebenfalls inakzeptabel gewesen wäre. Vor allem aber: Der Begriff ‚Seele‘ ist zu

Anthropologie und Personalität 

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Hegels Zeit nicht allein kein selbstverständlicher Begriff einer Anthropologie; er ist zudem ein durchaus problematischer und ortloser Begriff. Kants Kritik der „rationalen Psychologie“ hat die ‚Seele‘ im Sinne eines substantialen Seienden mitsamt der anderen Disziplinen der „speziellen Metaphysik“ destruiert, und er hat der „Seele“ nach dem Ende ihrer metaphysischen Unsterblichkeit auch kein Weiterleben in der Anthropologie verstattet: In seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798, AA VII) hat sie keine Aufnahme gefunden. Doch im Gegenzug hierzu zeichnet sich damals auf anderem Gebiet eine „Renaissance der Seele“ ab: In seinem Plädoyer für den „Übergang von der Philosophie in die Nichtphilosophie“3 – oder deutlicher: in seinem Plädoyer für die Überwindung der Philosophie zu Gunsten der Religion, für die Überwindung des Erkennens zu Gunsten des Glaubens – präsentiert Carl August Eschenmayer die Seele als das weit über die Vernunft wie auch über ihren Begriff des Absoluten hinausliegende Vermögen, durch das man in seiner Brust die Nähe Gottes fühlt und in stummer Anbetung niedersinkt. Und Schelling greift diesen Begriff der Seele von Eschenmayer auf: Die intellektuelle Anschauung sei eine Erkenntnis, „die das An-sich der Seele selbst ausmacht, und die nur darum Anschauung heißt, weil das Wesen der Seele, welches mit dem Absoluten eins und es selbst ist, zu diesem kein anderes als unmittelbares Verhältniß haben kann“; das Wesen der Seele bestehe „in Erkenntniß, welche mit dem schlechthin Realen, also mit Gott eins ist“.4 (2) In der Tat: Mit einer solchen Seele, die „mit dem Absoluten eins und es selbst“ ist, hat Hegel es hier nicht zu tun. Ihr gegenüber ist ‚Hegels Seele‘ geradezu ‚naturalistisch‘ zu nennen  – oder vielleicht angemessener: Sie ist weder eine christliche und noch eine neuplatonische, sondern eine aristotelische Seele. Und sie ist nicht einmal eine spezifisch menschliche Seele. Sie teilt ihre basalen Zustände, ihre Regungen und Erregungen mit den Tieren, zumindest mit den höheren Tieren. Dies scheint mir übrigens ein nicht geringer Vorzug der Hegelschen Geistesphilosophie: Wegen ihres Rückgangs auf die ersten ‚seelischen‘ Tätigkeiten, wegen ihres Rückgangs in einen Bereich, in dem Natürliches und Geistiges noch undifferenziert mit einander verbunden sind, erlaubt sie es, einen Bereich zu exponieren, in dem ‚tierische‘ und ‚menschliche‘ Geistigkeit noch nicht strikt voneinander geschieden sind  – dort nämlich, wo diese Geistigkeit noch unmittelbar mit dem Natürlichen verknüpft ist. Auch wenn Ludwig Feuerbach fraglos recht hat mit seiner Behauptung, dass das spezifisch Menschliche

3 Carl August Eschenmayer, Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie, Erlangen 1803. Siehe PLS 3/1, 55–99, bes. 68–70. 4 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie und Religion, Tübingen 1804, 16 (PLS 3/1, 108; SW 6, 26).

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nicht erst mit den höheren geistigen Tätigkeiten hervortrete, sondern auch die gesamte Sinnlichkeit, ja die Leiblichkeit des Menschen spezifisch menschlich tingiert sei, so ändert dies doch nichts daran, dass diese menschliche Färbung sich eben als spezifische Differenz auf einer gemeinsamen Basis erhebt (und dagegen hätte natürlich auch Feuerbach keine Einwände erhoben). Den Zusammenhang des Seelischen mit der Natur sieht Hegel insbesondere bei der ersten Form, die er ausdrücklich als „natürliche Seele“ bezeichnet: Hier lebt der Geist noch „ein Naturleben, das in ihm zum Theil nur zu trüben Stimmungen kommt“. Hegel listet eine Reihe von „Naturbestimmtheiten“ auf: Wechsel der Klimate, der Jahres- und Tageszeiten – doch gegenüber der damals verbreiteten Rede „vom kosmischen, siderischen, tellurischen Leben des Menschen“ ist Hegel sehr bestimmt. Das Tier lebt in dieser Sympathie, und auch in menschlichen Krankheitszuständen können sie eine Rolle spielen, doch insgesamt gilt: „Beim Menschen verlieren dergleichen Zusammenhänge um so mehr an Bedeutung, je gebildeter er und je mehr damit sein ganzer Zustand auf freie geistige Grundlage gestellt ist.“ Als weitere Formen der „Naturbestimmtheit“ behandelt Hegel Temperament, Talent, Charakter, Physiognomie, Geschlechtsdifferenz, Veränderungen wie die Lebensalter und wechselnde Zustände wie Wachen und Schlafen. Auch wenn Hegel von dieser „natürlichen Seele“ die „fühlende“ (bzw. die „träumende“, §  403) und die „wirkliche Seele“ unterscheidet, bleiben alle drei Formen der Seele auf „Natur“ bezogen. Es ist geradezu ihr Begriff, sich nie völlig von ihrem Bezug auf Natur, auf den Leib zu befreien: Seele ist nur dort, wo Leiblichkeit ist. Etwas provokativ formuliert: Die Seele ist Eins nicht mit dem Absoluten, sondern mit dem Leib – sie ist ja auch gar nichts anderes als die ideelle Einheit des Leibes. Sie steht aber für Hegel nie in ruhiger Harmonie mit ihrer Leiblichkeit, sondern ist insgesamt die Bewegung, diese Leiblichkeit in Richtung auf das Bewusstsein zu transzendieren. Schon den Schritt von der „natürlichen“ zur „fühlenden Seele“ sieht Hegel als einen Schritt in Richtung „innerliche Individualität“, „Fürsichseyn“ und letztlich zum „Ich“, als einem Einfachen, in dem doch die Mannigfaltigkeit von Eindrücken und Vorstellungen wie in einem „bestimmungslosen Schacht“ „aufbewahrt ist ohne zu existiren“ – aber doch so, dass „Vorstellungen, Kenntnisse wieder zum Vorschein kommen, die seit vielen Jahren vergessen heißen, weil sie in so langer Zeit nicht ins Bewußtseyn gebracht wurden.“ Die „fühlende Seele“ ist zwar „unmittelbar bestimmt, also natürlich und leiblich, aber das Außereinander und die sinnliche Mannichfaltigkeit dieses Leiblichen gilt der Seele eben so wenig als dem Begriffe als etwas Reales und darum nicht für eine Schranke; die Seele ist der existirende Begriff, die Existenz des Speculativen“. Damit schreibt Hegel bereits der „fühlenden“ als einer „individuellen“ Seele die Bestimmung zu, die er doch sonst für das „Ich“ reserviert, obschon er sie nicht schon als ein in sich reflektiertes Subjekt charakterisiert,

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sondern nur als etwas, das sich allererst auf den Weg zu ihm aufgemacht hat. Und auch das Verhältnis dieser Seele zu ihrem Inhalt bestimmt Hegel analog zum Ich, obschon mit einer spezifischen Differenz: Was sie von sich unterscheidet, „ist noch nicht ein äußeres Object wie im Bewußtseyn, sondern es sind die Bestimmungen ihrer empfindenden Totalität“. In diesem Prozess der Befreiung des Geistes von der Natürlichkeit wird die Leiblichkeit schließlich herabgesetzt zur „Aeußerlichkeit als Prädicat, in welchem das Subject sich nur auf sich bezieht“ – und diese Gestalt nennt Hegel die „wirkliche Seele“. Die „Leiblichkeit“ ist hier keineswegs als ein schlechthin ‚Widergeistiges‘, Verwerfliches gewertet; sie ist das Äußere, das mit dem Inneren in Identität steht, jedoch als diesem unterworfen. Und auch das Wort „unterworfen“ weckt eher falsche, martialische Assoziationen. Besser drückt Hegel seinen Gedanken aus, indem er von einem „über das Ganze ausgegossenen geistigen Ton“ spricht, „welcher den Körper unmittelbar als Aeußerlichkeit einer höhern Natur kund gibt“: im aufrechten Gang, in der Bildung der Hand zum „absoluten Werkzeug“ wie auch im Lachen und Weinen. Das Geistige steht für Hegel nicht abstrakt neben der Leiblichkeit, sondern es durchdringt sie. Allerdings: Obgleich die Leiblichkeit des Menschen eine vom Geist verwandelte ist, bleibt sie doch mit Zufälligkeit behaftet, und somit ist sie nur die „erste Erscheinung desselben und die Sprache sogleich sein vollkommenerer Ausdruck“, (§§ 411 f.) Es bleibt somit dabei: Der Gegenstand der „sogenannten Anthropologie“ ist für Hegel nicht der Mensch, sondern die Seele. Insofern ist seine „sogenannte Anthropologie“ gar keine Anthropologie. Zu revidieren ist allerdings die dann naheliegende Annahme, dass die Lehre von einer solchen Seele gar nichts mit Anthropologie zu tun habe. Denn diese Seelenlehre steht keineswegs beziehungslos neben einer Anthropologie, ja vielmehr: Sie gewährt überraschende Einsichten, auch im Blick auf den Begriff der Personalität, und sie ist sogar geeignet, einige gängige Annahmen in Frage zu stellen. Dies ist jüngst mit Nachdruck und mit Überzeugungskraft betont worden;5 ich greife dies wie auch einen früheren Beitrag von mir auf und suche das Problem in etwas anderer Weise weiterzuführen. Hierzu knüpfe ich nochmals an eben schon berührte Aussagen Hegels an. (3) In der Wissenschaft der Logik bezeichnet Hegel einmal die Negation der Negation als „Etwas“ als den „Anfang des Subjects“ (GW 21.103). Für die Philosophie des Geistes ist analog zu formulieren, die Seele sei ‚der Anfang des Subjects‘ – und anders als im Blick auf die Logik kann man diese Aussage über die Seele auch noch verlängern: Als ‚Anfang des Subjects‘ ist sie auch der ‚Anfang der

5 Birgit Sandkaulen, „Die Seele ist der existierende Begriff“. Herausforderungen philosophischer Anthropologie“, in: Hegel-Studien 45, Hamburg 2011, 35–50.

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Person‘. Dies kann verwundern, wenn man berücksichtigt, dass Hegel den Begriff der Seele zunächst mit „substantielle Identität“ konnotiert. Bliebe es dabei, wäre sie aber nicht einmal der ‚Anfang des Subjects‘. Doch schon in ihrer Identität mit der Leiblichkeit liegt das Moment der Negativität, und in dieser Identität mit der Leiblichkeit liegt ferner der Grund ihrer Individualisierung. Dass die Seele sich, wie Hegel schreibt, „zum individuellen Subject“ „vereinzelt“ (§ 314), ist nicht eine gleichsam willkürliche Tätigkeit, die sie auch unterlassen könnte, sondern diese Vereinzelung ist mit ihrer Leiblichkeit immer schon gegeben. Dies folgt auch schon aus Hegels Begriff des Lebens als „Idee“, denn auch im Begriff des Lebens ist die Seele ja als das Moment der Idealität gedacht. Den entscheidenden Schritt macht Hegel jedoch mit einem Begriff, zu dem er sonst ein eher gespanntes Verhältnis hat  – mit dem Begriff der „Empfindung“ (oder in den späteren Versionen mit dem Begriff des Fühlens). „Empfindung“ setzt die Struktur von Subjektivität voraus – wenn auch erst in rudimentärer, oder, wenn man den Superlativ bilden dürfte: in rudimentärster Form. Es gibt kein ‚Empfinden schlechthin‘, sondern Empfindung ist immer die Empfindung eines Subjekts (genitivus subjectivus)  – oder, wie Hegel in den Vorlesungen von der „empfindenden Seele“ sagt: „Die Empfindungen überhaupt sind die Bestimmungen des Seins eines Subjects.“ (GW  25.52) Oder der gleiche Gedanke, etwas komplexer ausgeführt, nochmals nach § 318 der Heidelberger Enzyklopädie: „Die wirkliche Einzelnheit als Reflexion der Seele in-sich ist ihr wachendes Fürsichseyn in abgeschlossener, organischer Leiblichkeit; das an und für [sich] bestimmte mit der Körperlichkeit noch identische Selbstgefühl, die äusserliche und innerliche Empfindung.“ Damit aber ist nichts anderes gesagt, als dass der ‚Anfang des Subjects‘ nur als Korrelat dieser „abgeschlossenen, organischen Leiblichkeit“ zu denken ist. Hegels Lehre von der Seele verankert somit das „Subject“ letztlich in der Leiblichkeit: in einer Leiblichkeit, die – als lebendige – eine beseelte Leiblichkeit ist. Freilich ist dieser ‚Anfang des Subjects‘ auch nur sein Anfang, und schon bei der letzten Gestalt der Seele, im Abschnitt über „Die Wirklichkeit der Seele“, geht Hegel über sie hinaus: Der Geist, der sich das Sein entgegensetze und es als das Seinige bestimme, habe „die Bedeutung der Seele verloren, und ist Ich“. (§  327) Er wäre nicht Ich, wenn er sich von dieser Leiblichkeit nicht befreite; er wäre aber auch nicht Ich, wenn er nicht diese Herkunft ‚im Rücken‘ hätte. Und während Hegel 1816 in der Wissenschaft der Logik notiert, der zu einer freien Existenz gekommene Begriff sei das „Ich oder das reine Selbstbewußtseyn“, so geht er in den beiden späteren Auflagen der Enzyklopädie gleichsam einen Schritt weiter zurück, vom Ich zur Seele: Die Seele ist „der existierende Begriff, die Existenz des Speculativen“ (§ 403) – aber sie ist diese „Existenz des Speculativen“ eben als die „in dem Leiblichen einfache allgegenwärtige Einheit“  – in diesem Widerspruch liegt das Spekulative. Sie hat sich dieser Leiblichkeit keineswegs zu schämen; sie verdankt

Anthropologie und Personalität 

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sich ihr zwar nicht, weil sie nichts Sekundäres, sondern immer schon diese Einheit des Leiblichen ist – sein ideelles Prinzip, könnte man sagen; aber sie wäre eben auch nicht ohne dieses Leibliche, ebenso wenig wie dieses ohne Seele sein könnte. Hegel verankert also Subjektivität und Personalität in der Natürlichkeit, in einer Natürlichkeit zwar, die – als Leiblichkeit – immer schon mit dem Geistigen vermittelt ist und die zudem als Natürlichkeit aufgehoben wird. Doch bleiben die späteren Gestalten des subjektiven Geistes  – Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Ich – gleichwohl an sie – als aufgehobene! – gebunden. Und schon deshalb gibt es für Hegel – anders als für Schelling, zumindest für den Schelling der mittleren Periode, keine Geister, die erst nach Ablegen ihrer Körperlichkeit so richtig zu sich selber kommen und nun unbeschwert ihr Wesen treiben. (4) Doch so wichtig dieser Ausgangspunkt ist: Von ihm aus, von der „fühlenden“ oder „empfindenden Seele“ aus, ist es noch ein weiter Weg bis zum Begriff der Person. In der Seele muss erst noch das Bewusstsein erwachen, der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität muss ausgebildet werden, das Bewusstsein muss sich noch als Vernunft setzen und diese muss sich durch ihre Tätigkeit zur Objektivität befreien  – also den „objectiven Geist“ aus sich heraussetzen. Bekanntlich hat erst dort, in der Philosophie des Rechts, der Begriff „Person“ für Hegel seinen systematischen Ort – und dazwischen liegen gleichsam „Welten“ – zumindest die Welt des subjektiven Geistes. Doch es ist ja nicht der Weltgeist, der sich hier mit seiner wohlbekannten Langsamkeit auf den Weg macht und dabei seine früheren Stationen nahezu aus dem Blick verliert. Hier geht es um Differenzierungen innerhalb des „subjectiven Geistes“. Dass dies zugleich eine evolutionäre Seite hat, ist Hegel zwar so gut bekannt, dass er als einer der ersten darauf hingewiesen hat, doch betrachtet er diese Verhältnisse in der Enzyklopädie und in den Vorlesungen nicht als zeitliche, sondern eben als Differenzierungen innerhalb des – wenn man so will – „geistigen Seins“. „Geistiges Sein“: Dieser Terminus erinnert an Nicolai Hartmann, und somit zugleich daran, dass Hartmann in seiner sehr Hegel-nahen Geistesphilosophie zumindest einen guten Teil der Phänomene, die Hegel unter den Titel „subjectiver Geist“ stellt, als „personalen Geist“ bezeichnet. Wir sind also vielleicht doch nicht so weit entfernt von der Personalität, wie es zunächst scheint. Und auch, wenn Hartmann diesem „personalen Geist“ das „psychische Sein“ vorordnet, so bleibt doch eine sehr enge Beziehung zwischen diesem und dem „personalen Geist“ bestehen. (An dieser Stelle ist Hartmanns Schichtenmodell ja besonders brüchig.)6

6 Siehe Walter Jaeschke, „Über Personalität. Das Problem des Geistigen Seins“, in: Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie – Nicolai Hartmann, hg. v. Gerald Hartung, Matthias Wunsch, Claudius Strube, Berlin und Boston 2012, 241–258.

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Aber auch nach anderen Ansätzen ist mit dieser unmittelbaren Selbstbeziehung – der Seele oder des Geistes – bereits der entscheidende Schritt zum Gedanken der Personalität gemacht. Um die hierin versteckten Probleme zu veranschaulichen und zugleich zu zeigen, dass sie keineswegs nur bei Hegel auftreten, gehe ich nun einen Schritt zurück, zu Friedrich Heinrich Jacobi – zu ihm, da er sich ja, wie kein anderer Denker der Klassischen Deutschen Philosophie, des Begriffs der Person annimmt. Doch was bedeutet ‚Person‘ oder ‚Personalität‘ für Jacobi? Besonders plakativ spricht Jacobi sich in einer Briefstelle aus, deren ersten Satz ich hier nur zitieren will: „Mir ist Personalität α und ω; und ein lebendiges Wesen ohne Personalität scheint mir das Unsinnigste, was man zu denken vorgeben kann.“7 Wörtlich genommen würde dies bedeuten, dass Jacobi allen ‚lebendigen Wesen‘ Personalität zuschriebe – was doch wohl erheblich zu weit ginge, wenn man das Wort „Person“ nicht völlig entleeren wollte. Ich verstehe sein Votum deshalb – entgegen seinem Wortlaut und gestützt auf seinen Kontext – so, dass Jacobi von Personalität dort spricht, wo ein Wesen zu sich ‚Ich‘ sagen kann. Aber auch dies ist eine gegenüber dem traditionellen Wortgebrauch des Natur- oder Vernunftrechts des 17. und 18. Jahrhunderts wichtige Verschiebung. Indem Jacobi ‚Personalität‘, ‚Persönlichkeit‘ an die Möglichkeit bindet, sich als ‚Ich‘ ansprechen zu können, führt er diese Begriffe nicht als Begriffe des sittlichen Seins ein, sondern er verbleibt, mit Hegel gesprochen, im Bereich des subjektiven Geistes. Allerdings ist mit dieser Verschiebung von der zuvor als sittlich gedachten zur subjektivitätsphilosophisch gedachten ‚Persönlichkeit‘ erst der eine, und der wohl weniger wichtige Schritt getan. Jacobi lässt jedoch den zweiten Schritt folgen: Er versteht dieses ‚Ich‘-Sagen gar nicht ‚subjektivitätsphilosophisch‘ im Sinne der Transzendentalphilosophie – nicht als Resultat eines Erkenntnisprozesses, einer Reflexion, durch die das Ich im Ausgang von sich wieder auf sich selbst zurückgeworfen würde und sich gleich einem Objekt erkennte, sondern als eine Artikulation ursprünglichen Selbstseins. Um es mit seinen Worten aus einem etwas späteren und Hegel vertrauten Kontext zu sagen: Der Mensch „findet sich als dieses Wesen durch ein unmittelbares, von Erinnerung vergangener Zustände unabhängiges Wesenheitsgefühl, nicht durch Erkenntniß; er weiß, er ist dieser Eine und derselbe, der kein anderer ist noch werden kann, weil unmittelbare Geistes-Gewißheit von dem Geiste, von der Selbstheit, von der Substantivität unzertrennlich ist.“8

7 Friedrich Heinrich Jacobi an Johann Kaspar Lavater, 14. November 1787, in: Friedrich Heinrich Jacobi, Briefwechsel. Hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Reihe I, Bd. 7, hg. von Jürgen Weyenschops, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 11. 8 Jacobi, „Über eine Weissagung Lichtenbergs“, in: Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, hg. v. Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Bd. 3, Schriften zum Streit um die Göttlichen Dinge, hg. v. Wal-

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Jacobi notiert diese Wendungen im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus insbesondere Fichtes, und nicht einer Seelenlehre. Gerade deshalb überrascht es, wie nahe sie den vorhin zitierten Wendungen Hegels kommen. Ich hebe deshalb aus dem Zitat noch einmal die Stichworte heraus. Zunächst: Es handelt sich hier, für Hegel wie für Jacobi, um ein Finden und Sichfinden; ferner: es handelt sich für beide nicht um einen Akt der Erkenntnis, sondern um ein Gefühl – und auch für Hegel ist das „Gefühl“ der „fühlenden Seele“ fraglos ein „von Erinnerung vergangener Zustände unabhängiges Wesenheitsgefühl“ – zwar kein „unmittelbares“, aber ein nur innerlich, durch das Verhältnis von Leib und Seele vermitteltes Selbstgefühl; und schließlich: es handelt sich für beide um eine – mit den Worten Jacobis – „unmittelbare Geistes-Gewißheit“, die „von der Selbstheit, von der Substantivität unzertrennlich ist“. Es liegt mir nichts daran zu behaupten, Hegel habe sich bei seinen Ausführungen über die ‚Genese von Subjektivität und Personalität‘, wenn ich dies einmal so nennen darf, durch diese Aussagen Jacobis inspirieren lassen – ebenso wenig wie daran, dies in Abrede zu stellen. Wichtig ist etwas anderes: Beide verankern Subjektivität und Personalität in diesem innersten, eigensten, von außen unzugänglichen Bereich des Menschen – ob man ihn nun mit Hegel unter den Titel „Seele“ stellt oder, wie Jacobi, darauf verzichtet, aber doch auch von „Substantivität“ spricht und damit Hegels Rede von der Substantialität der Seele recht nahekommt. Der Sache nach legen beide die Wurzeln von Subjekt und Person somit auf einer sehr viel tieferen Ebene frei, als dies im Gefolge Kants und Fichtes üblich ist – wobei es mir nicht darauf ankommt, ob dies nun auch bei Hegel in einem bewussten Gegenzug gegen die Transzendentalphilosophie erfolgt oder – was mir wahrscheinlicher ist – sich schlicht aus der systematischen Entwicklung des Übergangs vom Natur- zum Geistbegriff ergibt. In jedem Fall ist hier eine systematische Position formuliert, deren Vorzüge – oder auch Nachteile – gegenüber der transzendentalphilosophischen Begründung von Personalität zu diskutieren sind.

ter Jaeschke, Hamburg und Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, 26 f. – Zur Interpretation siehe Birgit Sandkaulen, „Daß, was oder wer?“, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, hg. v. Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen, Hamburg 2004, 217–237, hier 231: Es gehe Jacobi um „das existentielle Bewußtsein persönlicher Identität also, das Bewußtsein jeweiligen konkreten Selbstseins, das seinerseits nicht durch Identifikation entsteht, sondern das als ‚bleibendes und in sich seiendes‘ die wesentliche Voraussetzung dafür darstellt, daß ich eine Was-Identität reflexiv überhaupt ausbilden kann.“ – Ebd. 229: „Personsein meint dann, über das stabilisierende Bewußtsein einer Identität zu verfügen, die wir als endliche aber rationale Wesen im Kontext jeweiliger Umwelt und jeweiliger Erfahrungen ausbilden und an der wir dann auch unsere zukünftigen Handlungen orientieren.“

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(5) Nach dieser Übereinstimmung aber trennen sich die Wege Hegels und Jacobis jedoch wieder, oder genauer gesagt: Für Jacobi ist das Problem der Personalität dort gelöst, wo der Begriff eines Wesens erreicht ist, das auf Grund seines Selbstgefühls, seiner „unmittelbaren Geistes-Gewißheit“, zu sich „Ich“ sagen kann. Damit aber berücksichtigt er ein Moment des Personbegriffs nicht, das die Klassische Deutsche Philosophie von der vorangegangenen Naturrechtstradition ererbt und auch weitergegeben hat und das es ausschließt, den Personbegriff (mit Hegel gesprochen) in der Sphäre des subjektiven Geistes zu lokalisieren, geschweige denn in einer „so genannten Anthropologie“, die ohnehin in Wahrheit eine Seelenlehre ist. ‚Person‘ ist nicht schon derjenige, der auf Grund seines Selbstgefühls und seiner Geistes-Gewissheit zu sich ‚Ich‘ sagt, sondern Person, so Kant, „ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“. Man kann den Begriff des Handelns fraglos auch enger fassen, so dass er überhaupt nur solche Tätigkeiten unter sich begreift, die „einer Zurechnung fähig sind“: Nur Personen handeln, und nur Personen sind der Zurechnung fähig. Kants Formulierung hebt jedoch dieses  – für das Naturrecht fundamentale  – Moment der Imputation als konstitutive Bestimmung von ‚Person‘ eigens hervor. Imputation aber setzt Freiheit voraus  – auch wenn dies, wie Nietzsche uns eindringlich ins Bewusstsein gerückt hat, ein sehr spätes und erst unter spezifischen Bedingungen erreichtes Resultat in der langen und schmerzhaften Geschichte der „Genealogie der Moral“ ist.9 Man kann Handlungen auch zurechnen und mit Sanktionen belegen, ohne erst lange nach der Freiheit des Handelnden oder gar nach der Angemessenheit der Sanktion zu fragen. Unter den in der Aufklärung geltenden Bedingungen einer Lehre vom moralischen Sein hingegen setzt Imputation Freiheit voraus. Kants ausdrückliche Rede von ‚Zurechnung‘, von der Imputabilität einer Handlung, hebt allerdings ein Moment hervor, das in der Rede von ‚Freiheit‘ oder von ‚Handlung‘ nicht bzw. nur bei einer spezifischen Bestimmung des Freiheits- bzw. des Handlungsbegriffs in gleicher Weise explizit wäre: das Moment der interpersonalen Struktur des ‚moralischen Seins‘. Denn die ‚Zurechnung‘ wird ja nicht von der handelnden Person selbst vollzogen; vielmehr wird der Person ihre, aus Freiheit entsprungene Tat von anderen Personen zugerechnet. Insofern klingt in Kants Definition der ‚Person‘ bereits die interpersonale Struktur der sittlichen Welt an: Wenn ‚Person‘ nur dort ist, wo Zurechnung stattfindet, dann kann von ‚Person‘ nur innerhalb eines Personenverbandes, einer sittlichen Gemeinschaft die Rede sein: Die ‚Zurechnung‘ setzt bereits die Anerkennung eines Handelnden als Person voraus –

9 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 5, Berlin und New York 1980; vgl. besonders die „Zweite Abhandlung: ‚Schuld‘, ‚schlechtes Gewissen‘ und Verwandtes.“

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zumindest dann nämlich, wenn wir nicht mehr auf einer Bewusstseins geschichtlichen Stufe agieren, auf der wir zwischen Naturereignissen und dem Handeln von Personen noch nicht unterscheiden und deshalb  – wie von Perserkönig Xerxes berichtet wird – das Meer geißeln lassen, um eine ruhige Überfahrt zu erzwingen. (6) Im Begriff der Person sind also die Freiheit und die Imputabilität – und somit auch die Freiheit und Imputabilität anderer Personen – als mit einander unauflöslich verknüpft zu denken. Doch ist dies keine ‚natürliche‘ Verknüpfung, auch keine ‚logische‘. Sie wird erst im Zuge der Ausbildung einer moralischen, geistigen Welt hergestellt – ein Aspekt, der noch nicht für Kant, umso mehr aber für Hegel von zentraler Bedeutung ist. Ist jedoch diese geistige Welt, diese Sphäre des ‚moralischen Seins‘ erst einmal begrifflich ausgebildet, so legt sie sich wie ein normatives Netz über die physische Welt, und ihre Begriffe entfalten eine eigene, zwingende Dynamik, die nicht zur Disposition der Handelnden steht. Ein einmal gegebenes Versprechen etwa, eine eingegangene Verpflichtung hat eine eigene Form des ‚Seins‘, der ‚Realität‘. Man kann sie nicht selber wieder aufheben, sondern allenfalls ignorieren. Doch wer sie ignoriert, kann von anderen durch Zwang daran erinnert werden, dass sie ein eigentümliches Sein hat, das durch freie, sittliche, interpersonale Handlungen erzeugt worden ist und nun eine eigene Dynamik freisetzt: auch solche Konsequenzen nach sich zieht, von denen derjenige nichts mehr wissen will, der dieses ‚Sein‘ erzeugt hat. Und weil es die Person ist, die im Verband mit anderen Personen durch ihren freien Willen diese Welt konstituiert, wird ihr noch ein weiteres geistiges Sein zugeschrieben: die Würde. ‚Würde‘ kommt nicht dem ‚Subjekt‘ zu, zumindest nicht einem auf Objekte bezogenen, erkennenden oder einem mit Gründen differenzierenden Subjekt, sondern allein der ‚Person‘ als dem Zentrum der moralischen Akte, die die Welt des ‚sittlichen Seins‘ konstituieren. Deshalb kommt der Person die Würde unaufheblich zu – selbst da, wo sie gegen die von ihr selber mitgeschaffene rechtliche und sittliche Welt durch im engeren Sinne unrechtliche oder unmoralische Handlungen verstößt. Sie entspringt aus der Möglichkeit sittlichen Handelns, aus der Freiheit, die die Person zum Glied eines ‚Reiches der Freiheit‘ macht – auch wenn in dieser Freiheit ebenso die Möglichkeit der Schuld liegt. Nicht anders als Kant hat Hegel deshalb die Würde der Person ausdrücklich an den Gedanken ihrer Schuldfähigkeit geknüpft und sogar das Vorrecht der Person darin gesehen, dass sie schuldig werden kann: Es sei, schreibt Hegel, „das Siegel der hohen absoluten Bestimmung des Menschen, […] daß er Schuld haben kann“.10

10 Hegel, Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31, GW  18, 167.  – Zur weiteren Ausführung dieser Probleme siehe Britta Caspers: ‚Schuld‘ im Kontext der Handlungslehre Hegels, Hamburg 2012 (Hegel-Studien, Beiheft 58).

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Dieser Begriff von ‚Person‘ – ich betone es nochmals – ist bereits vom Naturrecht der frühen Neuzeit ausgebildet worden. Doch Kants Metaphysik der Sitten, Fichtes Grundlage des Naturrechts11 und Hegels Rechtsphilosophie – um nur diese drei zu nennen  – haben ihn auf dem Boden ihres Vernunftrechts nicht allein rekonstruiert, sondern dabei seine Kontur nochmals verschärft. Und sie haben diesen wie auch den Personbegriff überhaupt der Gegenwart vermittelt, deren Rechtsdenken er zu Grunde liegt – ob nun terminologisch weiter von der ‚Person‘ oder vom ‚Subjekt‘ oder vom ‚Menschen‘ die Rede ist. Wir sprechen auch wie selbstverständlich vom Staat als einer juristischen oder moralischen Person  – und dies nicht nur auf dem Wege der Analogie, sondern weil er dieselbe Charakteristik aufweist wie die individuelle Person: eine Einheit des freien Wollens und des Handelns, aber nicht zuletzt auch die Imputabilität: die Zurechnung und die Verantwortlichkeit für die in seinem Namen geschehenen Taten und Untaten. Die Bestimmungen hingegen, die der Sphäre des subjektiven Geistes angehören – das Selbstgefühl, die Selbstgewissheit – gehen nicht mehr in diesen Begriff ein.

3 Seelenlehre und rechtsphilosophischer Personenbegriff Dies mag ja alles richtig sein – doch was hat das eine mit dem anderen zu tun, die Seelenlehre mit dem rechtsphilosophischen Personbegriff? Zum einen sicherlich wenig – und doch sehr viel. Denn es wäre fatal, beide Begriffe voneinander zu trennen oder sie so neben einander stehen zu lassen, wie dies oft geschieht. Sie müssen mit einander verbunden, auf einander bezogen werden, und dafür bietet Hegels Philosophie des Geistes einen hervorragend geeigneten Rahmen. Es kommt ja darauf an, den Ansatz des Subjekt- und Personbegriffs in der Seelenlehre festzuhalten, aber nicht bei ihm stehenzubleiben, sondern ihn zu demjenigen Begriff der Person weiterzudenken, der erst in der Sphäre des objektiven Geistes angesiedelt sein kann, weil erst hier die für einen entwickelten Personbegriff unverzichtbaren interpersonalen Beziehungen thematisch werden. Aber es wäre ebenso verfehlt‚ die Wurzeln aller Personalität in der „sogenannten Anth-

11 Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), in: Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Abt. 1, Bde. 3 und 4, StuttgartBad Cannstatt 1966 bzw. 1970. – Die zentrale Bedeutung von Fichtes Grundlage des Naturrechts für die Einsicht in die interpersonale Konstitution der ‚Person‘ kann ich in dieser Skizze nicht ausführen.

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ropologie“ zu ignorieren. ‚Person‘ als ‚esse morale‘ oder als ‚sittliches Sein‘ setzt letztlich solche im Selbstgefühl verankerte Subjektivität voraus. Personalität im Sinne des ‚moralischen Seins‘ kann nur solchen ‚natürlichen Personen‘ zukommen, die ‚Persönlichkeit‘ im Sinne einer unmittelbaren Selbstgewissheit des Geistes sind – aber nicht umgekehrt: Moralische Imputation setzt solche Selbstgewissheit voraus; der Gedanke einer derartigen Selbstgewissheit hingegen lässt sich auch ohne denjenigen der Imputation widerspruchsfrei denken. Er bildet die Grundlage, aber – mit einer spezifisch Hegelschen Wendung – auch „nur die Grundlage“ des Begriffs der Person. Und deshalb ist letztlich der dem „objectiven Geist“ angehörende Begriff der ‚Person‘ vor dem der Seelenlehre angehörenden rudimentären Begriff des Subjekts auszuzeichnen: Die natur- und vernunftrechtliche Tradition schreibt der Person ‚Würde‘ zu – und diese ‚Würde‘ kommt nicht schon dem von seinem Selbstgefühl durchdrungenen Wesen zu, das zu sich „Ich“ sagen kann‚ nicht schon dem Menschen, der sich „durch ein unmittelbares, von Erinnerung vergangener Zustände unabhängiges Wesenheitsgefühl“ als sich selber findet, sondern allein dem Wesen, das handelt und dem seine Handlungen zugerechnet werden können.12 Und es scheint mir ein nicht geringer Vorzug der Hegelschen Philosophie zu sein, dass er diese beiden Extreme zusammendenkt, unter Einbeziehung all der systematisch zwischen ihnen beheimateten Begriffe.

12 Dies hat übrigens auch Jacobi an anderer Stelle sehr deutlich ausgesprochen; siehe seinen Roman Woldemar (1796): „Denn daß wir prüfen, wählen, beschließen, und auf unserm Entschluß beharren können: darin allein besteht die Würde des Menschen.“ Siehe Jacobi: Werke, a.  a.  O. (Anm.  8), Bd.  7: Romane II. Woldemar, hg.  v. Carmen Götz und Walter Jaeschke unter Mitarbeit von Dora Tsatoura, Hamburg und Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, 439.

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Das unzureichend Notwendige der Selbstreferenz in Hegels subjektivem Geist Seitdem der Mensch für sich selbst ein Problem geworden ist, ergibt sich die Frage nach dem Wesen dieses Menschen, die als Frage nach seinem eigenen Lebensprinzip, dies sei seine Seele oder sein Geist, formuliert worden ist, und die historisch später auch so lautet, ob er als Ich, das sich zu sich verhält, ein grundlegendes Letztes sei. Diese Frage hat damit zu tun, ob der Mensch sich von Etwas ausgezeichnet weiß, wodurch er wesentlich er selbst ist und deshalb als nicht von Anderem vollständig getrieben, vielleicht sogar frei ist. Diese Eigenart mag darin bestehen, dass er sich als Zentrum oder selbst als Herr der Erde versteht, oder auch, dass er seine Seele oder seinen Geist nicht auf die natürlichen oder kausaldeterminierten Vorgänge reduzieren lassen möchte. Wenn diese Annahme stimmt, und sie wird religiös so formuliert, dass der Mensch eine Unsterblichkeit habe, – was er nur seit zweieinhalb Millennien behauptet –, oder rechtlich und politisch grundsätzlich frei sei, – was ein noch viel jüngerer Gedanke ist –, dann hat sich diese Auffassung philosophisch zu erklären und sich auch in jetziger Zeit als doch wenigstens mit wissenschaftlichen Ergebnissen verträglich herauszustellen.1 Mit dieser Aufgabe wird nun die Frage nach dem Menschen, nach dessen Seele, Selbstreferenz oder Geist zu einem philosophischen Problem. Was ist notwendig und zureichend, um überhaupt vom Menschen reden zu können? Wird dies schon mit der Rede vom Ich geleistet, oder braucht der Mensch dazu eine eigene Unreduzierbarkeit oder Immaterialität, die an der Unsterblichkeit der ‚Seele‘ konkretisiert wird? Weil der ‚Mensch‘ eine geläufige Vorstellung ist, und diese seit dem 19. Jahrhundert in der Form eines eigenen Individuums ohne weiteres als grundlegendes einzelnes Subjekt gefasst wird, die Philosophie es dagegen mit (rekonstruierten) Begriffen zu tun hat, verwandelt Hegel die mit dem Menschen, dessen Seele und/

1 Solche Aufgabe kann nicht durch die dogmatischen Annahmen der positiven Wissenschaften, dass nur sie Wahrheit beanspruchen können, entschieden werden, denn das Problem ist es nicht, auszumachen und zu bestimmen, was – positiv-wissenschaftlich – notwendig ist, um bestimmte Vorgänge – wie das Händeheben – zu (re)konstruieren, sondern die Frage danach, was zureichend ist, um das, was nicht ohne Weiteres natürlich hervorgebracht wird, Freiheit, auch noch zu begreifen.

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oder Lebensprinzip zusammenhängenden Bestimmungen zu einer philosophischen Problematik des Geistes, der nicht auf eine individuelle Instanz angelegt wird; auf diese Weise wird die Begriffsproblematik selbst schon am Begriff des Geistes, der nicht als selbstverständlich gelten kann, deutlich.2 Aus diesem Grund gestaltet sich mein Beitrag vielleicht etwas weitläufiger, um doch ein Spezifikum des Menschen im Geist zu beleuchten, dass er ‚ich‘ zu sich sagt oder dass er vielleicht auf diese Weise als Ich lebendig und wirksam ist, und um zugleich diese spezifische Schnittstelle doch nicht als substantielle Entität falsch zu verstehen. Die Funktion und die Bedeutung der minimalen Eigenheit des Menschen oder des Individuums, sich als sich selbst oder als Ich aufzufassen oder möglicherweise (in der Sprache) zu bezeichnen, werden sich herausstellen. Ob und inwiefern dies die Aufgabe eines individuellen – oder genauer: subjektiven – Geistes ist, ist zu überprüfen; denn, wenn es eine Lehre vom Menschen gibt, dann ist sie doch für Hegel in dem subjektiven Geist zu finden.3 Auf diese Weise gliedert sich mein Beitrag folgendermaßen. Erstens werden das Programm und die Aufgabe des subjektiven Geistes innerhalb einer Geistesphilosophie darin bestimmt, die ‚spezifische‘ Differenz des Geistes herauszustellen (1). Die genaue Aufgabe der Darstellung der Differenz als Idealität der Natur in der Seele (2) und der Idealität des individuellen Subjekts selbst in seiner Selbstreferenz werden betrachtet (4). Die letzte, mit dem Ich-Begriff erreichte Idealität ist zwar notwendig zum erscheinenden Geist, aber, so meine These, nicht die eigene spezifische Differenz des Geistes selbst der Natur gegenüber. Zureichend ist nicht dieser Begriff der Selbstreferenz des Ich, sondern erst die Freiheit, die die Idealität der Natur und die abstrakte ideelle Form des Ich aus sich (als ‚absolute‘ Idealität) zustande bringt (5).

2 G.  W.  F. Hegel wird zitiert nach den Gesammenten Werken (Hamburg 1968 = GW) mit Titel, Band und Seite; die Fassungen der Enzyklopädie 1817, 1827 und 1830 mit E1, E2 und E3; die Vorlesungen aus den Gesammelten Werken mit Band: Seite – V[orlesung] Jahr; die Vorlesung über die Philosophie des Geistes 1827/28 (Hamburg 1994) mit der Sigle V 13 und Seite. 3 Vgl. F. Hespe, „System und Funktion der Philosophie des subjektiven Geistes“, in: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, hg. v. Franz Hespe und Burkhard Tuschling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 490–521.

Das unzureichend Notwendige der Selbstreferenz in Hegels subjektivem Geist 

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1 Das Programm der Philosophie des vorerst subjektiven Geistes Die Selbsterkenntnis des Menschen oder des Geistes nachzuspüren, ist die grundlegende Aufgabe der hegelschen Philosophie des Geistes. Diese Selbsterkenntnis muss bestimmt werden (vgl. E2 § 377). Solche Selbsterkenntnis ist eine Erkenntnis desjenigen, das sich selbst als Nicht-Natur versteht, oder, in Hegels systematischer Sprache, sie ist die Wiederherstellung der Selbsterkenntnis aus ihrem Anderssein, die mit der sich vollziehenden Entsprechung ihrer selbst im Anderen gleich ist. Mit diesem Gedanken realisiert jeder zwar den Begriff des Geistes, ohne ihn deshalb schon als einen solchen Begriff zu denken oder zu begreifen.4 Mit einem solchen Programm ist jedoch, dieser Vereinzelung ungeachtet, die inhaltliche Bestimmung der Selbsterkenntnis (in) der Philosophie des Geistes nicht wesentlich genauer beschrieben. Die genaue Fassung des Programms der Selbsterkenntnis kann negativ bestimmt werden. Mit dem Sichselbstverstehen ist ja keine Menschenkenntnis und genauso wenig Introspektion in Beziehung auf irgendeinen individuellen Menschen, sondern es ist eine philosophische Erkenntnis des substantiell zu nennende Geistes bezweckt: Das Selbsterkennen des Geistes in seiner Wesentlichkeit ist ein vernünftiges oder philosophisches Programm, denn mit zufälligen Besonderheiten sind nur subjektive oder willkürliche Merkmale vorhanden (Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes, 15: 207). Eine Verirrung der Philosophie als Introspektion oder zufällige Selbsterkenntnis ist nur dann nicht mehr möglich, wenn der Mensch und dessen Seele nicht mehr als Vorstellung, sondern als Begriff von einem Geist, der vorerst doch schon als menschlicher vorgezeigt werden kann, betrachtet wird. Abgewiesen wird damit eine sich auf solche individuellen und verallgemeinerten Kenntnisse stützende empirische Psychologie,5 die entweder eine mentale Entität als etwas Gesondertes vorzufinden vorgibt oder mentale Prädikate auf etwas Besonderes oder abstrakt Gesetztes hinweisen lässt, und auf diese fixierende Weise eine Verstandesmetaphysik des Geistes restauriert, die Prädikate einer ‚Seele‘ als eines vom Leib abzusondernden Dinges entwirft.

4 Mit der ersten Fassung ist der Gedanke für Alle zugänglich dargelegt; die zweite Fassung betont die vollständig systematische Ausarbeitung nach Hegels Methode, ausgehend von der logischen Grundlegung. 5 Vgl. Chr. J. Bauer, „Une perspective finie qui ne peut être élevée au rang de philosophie“, in: Logique et sciences concrètes (Nature et Esprit) dans le système hégélien, hg. v. Jean-Michel Buée, Emmanuel Renault et David Wittmann. Paris 2006, 235–264.

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Die rationale Psychologie als vormalige Metaphysik des seienden Geistes, die über die verschiedenen Stufen den Begriff einer Unsterblichkeit der gesonderten Seele sicheren wollte, kann bloß als Lehre vom abstrakten, d. h. nicht ausweisbar realisierten, Begriffs betrachtet werden. Besteht der Mensch aus Seele und Leib, so besteht die Seele aus einzelnen, fürsichseienden Vermögen, obwohl diese Kräfte nur besondere Momente des sich zeigenden Menschen sind. Zynisch bemerkt Hegel, dass der Mensch schon tot ist, wenn sein Leib und seine Seele geschieden werden können (Wissenschaft der Logik, 12: 175). Mit einem selbständigen, abgeschiedenen oder abstrakten Seele-Ding oder Geist-Ding erreicht man also begrifflich nichts. Das Programm der negativen Bestimmung hat doch wenigstens ein Resultat. Der Geistbegriff erkennt keine (positive) Psychologie als endgültig an. Mehr noch, die Geistesphilosophie lehnt im Prinzip jede Form der sich philosophisch vorgebenden Psychologie (als Lehre der menschlichen, gegebenenfalls freien Seele) ab, welche mehr als geregelte Vorstellungen, die als Kandidaten für den Begriff genügen, bereit zu stellen vorgibt. Damit ist der Geist selbst vielleicht auch von solchen ihn bloß als Individuum fassenden Betrachtungen befreit: Unzureichend ist also jedes spezifische Betrachten des menschlichen Geistes, als wäre diese Entität schon ‚der‘ Geist! Damit ist aber die Möglichkeit einer positiven Bestimmung vielleicht doch eröffnet. Die Philosophie des Geistes hat nun die Aufgabe, zu zeigen, was der Geist dem oder seinem Begriff nach leistet. Der Geist überhaupt zeigt sich in seinem Verhalten als Negativität oder Differenz zu seinem Anderen, zur Natur, und dadurch als ein Sich-rückkehrend-Beziehen-auf-sich. Begrifflich ist damit noch nicht festgelegt, welche Formen und gegebenenfalls welche Fälle als Geist auftreten können. Begrifflich ist damit jedoch behauptet, dass die Differenz zur Natur eine eigene Betätigung der Differenzierung selbst ist, wodurch sich gegebenenfalls Freiheit zeigen kann. Die begriffliche Konstitution ist die Selbstkonstitution des Geistes in jeder seiner aufzuzeigenden Formen und damit zugleich in jedem jener Fälle. Dieser Geist wird zum Thema der Philosophie, wodurch er in Begriffen gefasst wird. Trotz der Tatsache, dass der Geist zu den reichsten Gegenständen gehört, ist er zugleich in der einfachen Vorstellung (z. B. des Menschen) gegeben und damit dann doch noch begrifflos. Diese geläufige Vorstellung wird erst durch das auszuführende Programm der Selbsterkenntnis zum Begriff erhoben. Zu diesem positiven Programm gibt es einen doppelten Anlass. Obwohl Kant schon eine Kritik an der metaphysischen Seelenlehre geleistet hat, reicht diese Kritik nicht ohne weiteres für den Gedanken des Geistes aus, denn dieser ist keine ichhafte reine Substanz, sondern vielmehr die sich auf sich beziehende

Das unzureichend Notwendige der Selbstreferenz in Hegels subjektivem Geist 

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Tätigkeit.6 Zugleich bietet die romantische Auffassung eine Konzeption von Geist, in der die geistige Totalität auf Grund der Erfahrung des animalischen Magnetismus gegen jede Verachtung der Natur geltend gemacht wird. Dadurch unterscheidet der Geist sich einerseits zwar auch in der Vorstellung oder in der besonderen Selbsterkenntnis von der Natur, aber er kann andererseits nicht mehr als gesonderte, die Natur bloß beherrschende oder ganz unterdrückende Entität verstanden werden. Zu zeigen ist deshalb, wie der Geist, wenn er als die eigene Selbstkonstitution keine Natur mehr ist, sich selbst gestaltet oder formiert, ohne in einen einseitigen, bloß seienden Gegensatz zur Natur zu geraten. Aber wieso fängt Hegel dann mit dem ‚subjektiven‘ Geist an? Als subjektiver Geist zeigt der Geist sich in seinem geistigen Sich-Konstituieren; er zeigt, dass er eine Differenz hat, die nicht Natur ist oder die negativ auf die Natur bezogen ist, wodurch er die Natur ideell setzt. Diese Differenz hat minimal eine ‚Eigenheit‘, die sich in letzter Instanz als frei herausstellen wird. Die ideell zu setzende Notwendigkeit der Natur ist also von der eigenen Subjektivität für den Geist selbst in eine zureichende Freiheit umzugestalten, die eine zu leistende Form des sich als Subjektivität auf sich beziehenden Geistes aufzeigt. Die drei Formen der negativen Beziehung auf die Natur sind Formen einer durchgeführten Idealisierung derselben. Die Idealität meint das Nicht-Selbständigsein der Naturerscheinungen; diese werden durch Anderes gesetzt oder sie werden in das, was sie setzt, die Seele, aufgenommen und aufgehoben, worin sie dann als Momente unterschieden werden.7 Um seine zureichende Spezifizität am Leib selbst zu zeigen, integriert der Geist als Seele schon die Natur, die ihn subjektiv doch noch in seinem Lebensprozess beherrscht. Der subjektive Geist bedeutet dabei nicht, dass er bloß ein Individuum oder ein individuelles Subjekt ist, sondern vielmehr, dass er das aus der lebendigen Natur herkommende, wissende ‚Gattungswesen‘ Mensch ist. Die radikale Distanz zur Natur, Idealität als solche zu sein, wird dann von der Selbstreferenz des Ich-Bewusstseins aufgezeigt. Dies Aufzeigen deutet an, wie auch das ideell ist, was die Idealität an den Anderen vorführt. Gerade die doppelte Bedeutung zeigt, wie die Idealität der Natur in der Seele und ebenso die Idealität selbst an der Selbstreferenz des Ich von einer ‚absoluten‘ Idealität herausgestellt oder dargelegt werden. Dies führt zuletzt die spekulative Psychologie aus. Diese Herausstellung wird geleistet, sofern sowohl die Seele wie das Ich Formen der eigenen Betätigung des wissenden Erkennens sind. Damit wird die Idealität überhaupt als eine durchgängige eigene Wesenheit des Geistes,

6 Damit zeigt Hegel sich nicht nur als Erbe Kants, sondern auch als wirklichen Erbe Fichtes. 7 Vgl. A Arndt, „Idealismus”, in: Hegel- Lexikon, hg. v. Paul Cobben u. a., Darmstadt 2006, 262 f.

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nämlich als Freiheit, durchgeführt oder begründet.8 Wenn diese vorgeschlagenen oder programmatischen Formen sich herausstellen lassen, zeigt sich, dass und wie die Selbstbeziehung als Selbstreferenz zwar absolut notwendig zur Spezifizität des subjektiven Geistes, zugleich aber auch nicht hinreichend ist, sofern nur die Freiheit die zureichende Spezifizität des Geistes selbst darstellt. Diese doppelte Überlegung wird jetzt etwas eingehender ausgeführt.

2 Die Idealität der Natur an der Subjektivität selbst Für den Geist ist es begrifflich notwendig, dass die Natur sich ideell setzen lässt: Diese Idealisierung geschieht in der Seele.9 Mit dieser ersten Bestimmung ist zwar schon eine Notwendigkeit im Begriff des Geistes hergestellt, die aber weder das Spezifische des Geistes noch schon das wirklich Spezifische des subjektiven Geistes berührt. Dies heißt: Die Natur, die zum einzelnen Individuum (als Gattungsindividuum) gehört, wird auf solche Weise idealisiert, dass die einzelne Individualität  – die sich nicht als Individualität fixiert  –, sich als geistig zeigt, oder dass sie eine eigene Selbstbeziehung, ihre Seele, in der Natur als wirklich herausstellt. Diese erste Idealisierung, die die negative Beziehung zur Natur begreift, macht die größte Schwierigkeit für die Darstellung aus, weil dabei der sich vergeistigenden Natur gegen den Naturdeterminismus mitgedacht wird. A. Wenn aufzuzeigen ist, wie Etwas Nicht-Natur ist, verwendet die Seele erstens als natürliche Seele dasjenige, was gesetzt werden kann, also natürliche Bestimmungen. Zu solcher Bestimmung hat sie nur diese natürlichen Qualitäten, natürlichen Veränderungen und Empfindungen, ‚ein natürliches Individualisierungsmoment‘, das eine eigene Leiblichkeit im Leben der Erde verwirklicht.10 Außerdem gibt es natürliche Änderungen (des Alters z. B.) oder faktische Bestimmtheiten im Leben, z. B. dass der natürliche lebendige Geist immer sexuell bestimmt ist, entweder Mann oder Frau, aber kein Drittes neben diesen. Anschlie-

8 Zum voraus: Mit dieser Gestaltung um den Begriff der Idealität ist nicht das einfache Schema erneuert, das Hegel vielleicht selbst suggeriert, als ob die Seele, das Bewusstsein und der Geist die Begriffsstufen des Seins, der Reflexion und des Begriffs wiederholten (E1 § 307 ); vgl. auch Jens Rometsch, Hegels Theorie des erkennenden Subjekts, Würzburg 2007, 81–82, der die Analogie der Begriffsbewegung mit der Bewegung innerhalb des subjektiven Geistes betont. 9 Vgl. Bernard Bourgeois, „Les deux âmes: de la nature à l’esprit“, in: Ders, Hegel. Les actes de l’esprit. Paris 2001, 11–29. 10 Vgl. Paul Cruysberghs, „Het statuut van de lichamelijkheid in Hegels anthropologie”, in: Tijdschrift voor Filosofie 1983, 539–569; und ders., „Van substantialiteit tot subjectiviteit”, in: Ludwig Heyde (red.), Problematische Subjectiviteit, Tilburg 1991, 41–73.

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ßend beginnt der seelische Geist zu fühlen. Als Sensibilität ist er das Zentrum der sensiblen Aktivität, in der er das Nicht-Sensible aufnimmt. So ist er erst Empfindung und dann fühlende Seele. Herausgestellt wird die Vereinzelung der Naturbestimmtheit, die an der individuellen Subjektivität erscheint. Die Seele dieses ‚geistigen‘ Individuums ist das einfache ideelle Leben der Natur (vgl. E1 § 314) oder die Natur, die zu einem Einfachen verschmolzen ist.11 Sie bleibt also Leben, wie in der Natur, aber sie zeigt dies Leben als ein Einfaches, wodurch das Leben von diesem Einfachen aus zentriert wird. Damit wiederholt diese Seelenhaftigkeit, wie die Gattung in den Individuen als eine vereinfachte erscheint (vgl. Fragment, 15: 227). Aber deshalb kann das individuell gestaltete Leben auch geistig zufällig sein, weil es sich am Leben herausstellt. Dies einfache Individuum (einer idealisierten Gattung) wird nun weiter entfaltet. Das Erwachen ist das Urteilen der individuellen, natürlichen Seele; in dieses Wachwerden fallen alles spätere Bewusstsein und ebenso alle weitere (geistige) Tätigkeit. Dies Erwachen zeigt ein erstes Fürsischseyn in einer abgeschlossenen, organischen Leiblichkeit, denn „im Aufwachen der Seele bin ich schon für mich die Totalität meiner ganzen Wirklichkeit” (25,1: 272 – Vorlesung 1825). Aber diese Seele ist selbst weder ein Bewusstsein noch ein geistiges Subjekt, sondern eine bloße Vorstufe dazu, und erst das Ich wird sich als die weiter entfaltete Totalität hervortun (vgl. 25,1: 60  – Vorlesung 1822). Deshalb wird das (später in der Darstellung erreichte) Ich als lebendiges Subjekt immer einen Körper haben; die lebendige Seele besteht ja genau darin, in ihrer Leiblichkeit und Materialität, in einem natürliches Dasein, die eigene Materialität und Leiblichkeit zu finden, die ohne die eigene (ichhafte) Seele nicht für sich ist, sondern die ideell zu einem notwendigen Moment für die Seele herabgesetzt wird, und in dieser Bedeutung dem (entstandenen) Ich unterworfen ist (vgl. 25,1: 295 – Vorlesung 1825). B In einem Zweiten Moment zeigt der Gegensatz der substantiellen Einfachheit und ihrer Ausprägung, wie die Spaltung der natürlichen Seele zwischen sich selbst einerseits und ihren empfundenen Inhalt andererseits in der Seele leiblich verarbeitet wird. Die fühlende Seele setzt eine Eigenheit oder das formelle Fürsichsein (aus sich) heraus, die oder das verschiedene Gegensätze (in ihrer Entgegensetzung) ausbildet. Hegel benennt nun die subjektiven Gestalten, in denen der Gegensatz noch in ihr eingeschlossen bleiben kann. Die verschiedenen Formen dieses die einfache Einheit und Idealität der Seele überprüfenden

11 Gerade dies Einfache hat in der vormaligen (neuzeitlichen) Metaphysik zu der Konzeption einer Seele als eines einheitlichen Dinges Anlass gegeben, weil auf diese Weise das bei Seite geschaffte Materielle untergeordnet vorgestellt werden konnte.

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Gegensatzes werden von Hegel in den verschiedenen Vorlesungen am meisten überarbeitet.12 Die Differenz der Seele, wodurch sie selbst die Allgemeinheit ihrer Gattung in ihrer Vereinzelung lebt, ordnet bestimmte natürliche Phänomene, die keine Krankheit andeuten, aber solche Krankheit doch als möglich erscheinen lassen. Zu diesen natürlichen Formen gehören das Träumen, das Kind im Mutterleib, das Verhalten des besonderen Bewusstseins zum inneren geistigen Leben sowie der Genius des Menschen. Die Verrücktheit oder Krankheit dagegen ist die Fixierung der Seele in ihrem Gegensatz, wodurch beide Setzungen als gesonderte Teile auftreten, oder sie bedeutet auch, dass die verrückte Seele einen Widerspruch bildet (vgl. 25,1: 92–93 – Vorlesung 1822). Der Mensch ist in diesem Zustand seiner nicht mächtig, weil es dann eine doppelte Persönlichkeit in einer Person gibt. In seiner Verrücktheit ist der kranke Mensch eine Person, die sich für seine eigene Person zugleich vielerlei vorstellen kann: Er oder sie sei Christus oder auch ein Regenwurm (vgl. 25,1: 376 – Vorlesung 1825). Aber es ist nur in der Sphäre des Leiblichen, dass sich solche Partikularität fixieren kann, solange der Mensch noch eine formelle Spitze in seiner Seele hat. – Und, so beobachtet Hegel, die Möglichkeit der Geisteskrankheit hat auch mit der fortschreitenden Geschichte zu tun: Das auf geistige Weise Kranksein tritt öfter beim Zustand des intensiver gewordenen, also neuzeitlichen, Selbstbewusstseins auf (vgl. 25,1: 316 – Vorlesung 1825). Die Krankheit zeigt symptomatisch den unaufgelösten Widerspruch der fixierten Partikularität, den der Mensch als konkrete Person je überwunden hat (vgl. 25,1: 378–9  – Vorlesung 1825). Denn der Geist an und für sich kann wohl irren, aber nur der Mensch als fühlende Seele kann verrückt sein. Die gegensätzlichen Elemente, die gegenseitig gesetzt werden können und als gegensätzliche beherrschbar sind, treten bloß am kranken Individuum verzerrt gegeneinander auf. Dagegen zeigt die Lebendigkeit des gesunden Individuums, dass es diese Gegensätze nicht als Spaltung, sondern als Trieb zur Überwindung derselben in sich gestaltet; so ist weder jede Seele und noch weniger der Geist als solcher

12 Man sollte hierbei zeigen, dass die Krankheiten nur eine Fixierung der Gegensätze sind, die nicht fixiert bleiben dürfen. Aber aus solchen Krankheiten auf eine Kränkung des Geistes zu schließen, setzt schon eine autarke oder substantielle Individualitätskonzeption voraus, die darüber hinaus noch unreflektiert eine empiristische Wissenschaftsauffassung als Fundament des Wissens bei sich führt. Vgl. dazu Michael J. Petry, „Systematik und Pragmatik in Hegels Behandlung von animalischem Magnetismus und Verrücktheit”, in: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, hg. v. Franz Hespe und Burkhard Tuschling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 250–268 und H.-Chr.Lucas, „Die ‚souveräne Undankbarkeit‘ des Geistes gegenüber der Natur“, in: ebd., 269–296.

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krank. Denn in dem Fall, wo das Innerliche zur bewussten, reflektierten Freiheit gebildet ist, ergibt diese Spaltung sich an der Seele nur als eine Mitstimmung. Wichtiger noch, der mit und an dem Gegensatz gefühlte Trieb treibt das Subjekt zum Aufheben der (ersten) Einseitigkeit, in der es nur substantiell oder bloß einfach ist (vgl. 25,1: 360–1 – Vorlesung 1825). In der Gewöhnung erfährt die reelle Seele das Ende dieses herausgestellten und dann aufgehobenen Gegensatzes. Der Leib wird die je realisierte Aufgabe der Überwindung und so die geleistete Übereinstimmung mit der Seele. Das Subjekt wird durch die Gewohnheit von der Abhängigkeit von dem jeweiligen Jetzt der Triebe, von der momentanen und zufälligen Partikularität befreit (vgl. 25,1: 366  – Vorlesung 1825). Zuletzt, und dies ist ganz wichtig, weist die Seele also in der Gewohnheit eine formierte Leiblichkeit auf, wobei die Form gerade ein nicht-natürliches Moment bildet. Die formierte Leiblichkeit als solche ist ‚Ausdruck‘ der Seele, die dann nicht mehr für sich (allein) aufgefasst wird und so auch nicht unabhängig von der Natur ausgewiesen ist. Solche schon idealisierte, unmittelbare Leiblichkeit bildet die Möglichkeit der Seele (und des weiteren Ich). Die Seele ist die Immaterialität als solche, die sich als solche weiß und betätigt. Jetzt behauptet das Individuum, dass es keinen Widerstand mehr (im Individuo) gibt, und deshalb erscheint der Leib als geistig: Die Leiblichkeit ist dem Geist ein absolut notwendiges Moment, ohne das er sich nicht als Geist herausstellen kann. Der individuelle Geist ist leiblich und er hat einen organischen Körper. Der Geist muss deshalb auch seine leiblichen Bedürfnisse insofern befriedigen, als er sich seinen Leib, obwohl dieser negativ gesetzt und deshalb idealisiert worden ist, gerade nicht zum Feind machen darf. Insgesamt zeigt die Seele, wie sie Herr im eigenen Haus werden kann und dies begrifflich auch muss. Sowohl in Beziehung auf psychiatrische als auch gleich nachher auf neurologische Formen führt sie eine Umgestaltung der Einflüsse durch, aber dabei ist sie weder das bewusste noch das sich als autark deutende Ich des Menschen.13 C Das Resultat der Entfaltung ist eine wirkliche Seele. Diese wirkliche Seele setzt ihre durch Gewohnheit geformte Leiblichkeit als das wirkliche Zeichen ihrer selbst. Die ‚menschlichen‘ Ausdrücke zeigen am Leib, wie der Mensch, die Seele (und weiter das Ich), sich fühlt, wie er tätig werden kann. Zuletzt findet die Seele die Inhaltsbestimmung der Natur so in sich, dass sie diese als ihr eigenes Für-Sich an- und aufnimmt. Die Seele beweist schon als individuelle und wirkli-

13 Weder die emprische Psychologie (noch weniger die Psychoanalyse als Zwitter- oder Pseudowissenschaft) noch die Neurologie werden als grundlegend für die Lehre des Geistes (oder des Menschen) betrachtet, weil sie zwar ihre seienden Inhalte verifizieren oder falsifizieren, aber nicht die Form des erkennenden Wissens selbst dabei rechtfertigen können.

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che die Immaterialität des Materiellen. Damit zeigt Hegel die Verirrung auf, die Materialität des Gehirns als Tätigkeit des wissenden und wollenden (unmittelbar subjektiven) Geistes verstehen zu wollen, denn nur die idealisierende Aktivität der Seele ist solche eigene Tätigkeit (E1 § 326A; E2 § 411). Die Seele muss sich in sich dieses Sein geschaffen haben, damit sie bei sich ist. Damit zeigt sich, dass die unmittelbare individuelle Gebundenheit für den Geist bzw. für seinen Begriff unzureichend ist. Die Seele reicht deshalb auch nicht aus, um das begriffliche Fürsichsein auszuschöpfen.

3 Exkurs: Eine kurze denkgeschichtliche Weiterführung14 Was in den ersten Vorlesungen argumentativ genauer ausgearbeitet worden ist, findet seinen Niederschlag in der E2, die die Konsequenzen der vorher gehaltenen Vorlesungen zieht. Nachher werden die erreichten Einsichten in der Vorlesung 1827/28 weiter ausgebaut. Dabei wird nicht so sehr die Gliederung der natürlichen und der wirklichen Seele berührt, als vielmehr die innere Gestaltung der ‚träumenden Seele‘, die in E3 dann als ‚fühlende Seele‘ mit Beibehaltung der abgehandelten Inhalte neu benannt wird. Die natürliche Seele erhält ihre erreichte Fassung. Sie ist eine Seele als Substanz (V 13: 27–28); aber nicht so sehr die Immaterialität der Seele wird betont, als vielmehr, dass die Seele allein das das Eigene und Ungetrennte ist, wodurch sie als das wahrhaft Wirkliche und Selbständige die reale Möglichkeit des zu entwickelnden Ich des Bewusstseins ist. Weil alles in der natürlichen Empfindung sein kann, ist die Seele als seiend dabei und ist sie so als Subjekt bestimmt. Die träumende Seele ist in ihrer einfachen Idealität das Subjekt des Empfindens (E2 § 403). Sie ist die individuelle Seele (E2 § 404), aber noch nicht in sich reflektiert als einzelne. In Beziehung auf ihre Leiblichkeit aber wird sie jetzt schon „der existierende Begriff“ genannt (E2 403A). Damit radikalisiert Hegel die Fassung des sich verwirklichenden Begriffs, sofern bis dann nur das (bewusste) Ich der Begriff in der Existenz genannt worden ist (vgl. Logik, 12: 17). Jetzt hat schon die unmittelbare idealisierende Aktivität der lebendigen Seele die Bedeutung und Macht des Begriffs, in dem Andern sich selbst zu fassen. Was die Begriffsstruktur der Seele bedeutet, wird dabei als folgt umschrieben: „Sie ist darum in dem

14 Vgl. zur Denkentwicklung Dirk Stederoth, Hegels Philosophie des subjektiven Geistes, Berlin 2001.

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Leiblichen allgegenwärtige Einheit, wie für die Vorstellung der Leib Eine Vorstellung ist, und das unendlich Mannichfaltige seiner Materiatur und Organisation zur Einfachheit eines bestimmten Begriffs durchdrungen ist, so ist die Leiblichkeit und damit alles das, was als in ihre Sphäre gehöriges Außereinander fällt, in der empfindenden Seele zur Idealität, der Wahrheit der natürlichen Mannichfaltigkeit, reducirt“ (E2 § 403 A). Genau zeigt sich diese Seele als die Wahrheit der Natur und sie ist die individuelle oder je in dieser Individualität bestimmte Einfachheit derselben, die in ihrem ausgezeichneten Moment gegenwärtig ist. Doch bleibt ein Unterschied: Im Ich ist der Begriff in seiner Existenz, wodurch die in sich reflektierte Gliederung betont wird, wo hingegen in der Seele die idealisierende oder zur Wahrheit erhebende Macht der Seele hervorgehoben wird. Wie genau diese Macht sich an der Seele zu zeigen oder hervorzutun hat, muss dennoch ausgearbeitet werden. Diese hat sich am schwierigsten Moment des Gegensatzes, an den wissenschaftlichen Befunden, zu bereichern oder abzuarbeiten, wodurch Hegel den wissenschaftlichen Verstand zur Vernunft führen kann. Dies zeigt sich als das dunkelste und schwerste Moment, weshalb es immer neu überprüft werden muss. Deshalb entsteht auch in der neuen Vorlesung eine Reihe von Gestalten und Bestimmungen, die als genauer Darstellungsprozess versucht werden. Im Traum kann das Individuum schon von der Unangemessenheit dessen, was ihm geschieht, und dessen, was er sonst ist, überwältigt werden. Gegen sein eigenes besonnenes und gesundes Selbstgefühl erscheint aber die in verschiedenen Gestalten auftretende Krankheit, die eine völlige Unangemessenheit aufweist. Die Angemessenheit seiner fremden Momente mit sich selbst findet der gebildete Geist, wenn die Leiblichkeit unterworfen bleibt, in der Gewohnheit. Dann ist die eigene Unmittelbarkeit oder die Leiblichkeit der Seele aufgehoben, so dass ein ‚Selbst‘ zustande kommt (E2 § 409), das noch kein Selbstbewusstsein ist, weil es bloß an sich die aktive Gattungsform der Leiblichkeit herstellt. Dann gehört zur eigenen Wirklichkeit, was in der äußerlichen Welt für das fassende Subjekt ist. Dies ist da in einem Inhalt versenkt, in dem es sich schon auf eine allgemeine Weise erhält. Es verleiblicht das Äußerliche unmittelbar, und diese Macht gehört an sich dem subjektiven Aneignen an, so dass es auf solche Weise gesetzt wird, dass das Subjekt seine Tätigkeit je ohne besonderen Willen zu vollbringen im Stande ist (vgl. V 13: 129). Dadurch ist eine wirkliche Seele entstanden, wobei der Leiblichkeit kein substantielles Sein mehr zukommt, sondern diese nur Moment in ihr ist. Die Seele ist dann bei sich selbst und zur völligen Einheit der Idealität mit sich selbst gelangt. In der Vorlesung 1827/28 wird, vermutlich unter dem Einfluss von aufbrechenden Diskussionen, verdeutlichend hinzugefügt, wie die Seele sich auf den ‚Menschen‘ als auf ein totales Individuum bezieht (V 13: 133); mit diesem Hinweis

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wird aber definitiv der Mensch als mit einem Leib ausgestattete Seele begrifflich rekonstruiert. Obwohl man ihm sein Menschsein am Körper ansieht, ist dasjenige, was das Menschliche ausmacht oder was die Seele in den Körper legt, dennoch Sache seines Willens. Grundlegend ist, dass die menschliche Tätigkeit sich nur leiblich offenbart (V 13: 134–5); der Mensch ist das, was seine gewollten Handlungen sind, wobei mit Wille und Handlungen nicht mehr auf die Seele, sondern schon auf den Geist selbst und noch mehr auf das sogenannte ‚moralische Subjekt‘ gezielt wird. Insgesamt integriert der einfache, unmittelbare ‚Geist‘ als Seele, die vorerst noch ein bloß mögliches Ich ist, schon die Natur, die ihn noch subjektiv beherrscht und in dieser Gestalt auch weiter beeinflussen wird. Die geistige Seele ist aber dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht vom Leib her als einfaches Subjekt gedacht wird, sondern dass sie die natürlichen Bestimmtheiten des Leibes als Formen ihrer eigenen Entwicklung und Darstellung, die sich am Leib gestalten, in Hinblick auf ihre Eigenheit und mögliche Tätigkeit zeigt, wodurch sie also die eigenen Momenten als verschiedene Momente ihrer selbst in ihrem Andern, wie sie auch am Begriff vorhanden sind, hervorhebt. Das Idealsetzen oder Idealisieren der Natur ist deshalb das Sich-zu-sich-Erheben der Seele als eines Geistes. Damit aber zeigt die Idealität der Natur noch immer nicht die eigene spezifische Differenz des Geistes, weil sie kein eigenes Fürsichsein als solches ausbildet. Das Fürsichsein erscheint nun erst im Ich. Gerade, wenn dieses Bei-sich-sein selbst als eigenes erreicht ist, wird die Seele Ich. Dann ist das Ich seiner gewiss, weil das Ich nicht mehr von seiner Leiblichkeit geschieden werden kann, sondern dieses Sein mit und in ihm selbst bewusst gesetzt wird. Ich zu sein meint nicht nur individuell zu sein, sondern es bedeutet, dass dasjenige, was für mich ist, ein Allgemeines ist, das ich selbst bin (vgl. 25,1: 100ff – Vorlesung 1822). Ich ist das Allgemeine, wobei es (als Ich) von allem weiteren abheben oder abstrahieren kann. Dieses Ich ist die negative Einheit mit sich selbst oder es ist diese Einzelheit, die nun die Idealität des Allgemeinen ist.15 Genauer: Wenn das Ich ‚Ich‘ sagt, hat es das höchste Bewusstsein von seinem Sein: das Ich bezieht sich auf sich, und sofern es unabhängig ist, entlässt es auch seine Bestimmungen unabhängig aus und von sich. Wenn das Ich sich so aufschließt, dann ist es Bewusstsein: Ich als solches ist nur dann Bewusstsein, sofern es sich unterscheidet. Dann ist die Seele zum Ich geworden und die erste wirkliche Idealität ist dieses Bewusstsein. Mit dieser Aufnahme der Seele als Grund und Vorlage des Ich gelingt es Hegel, die Ortung des Ich als Ortsbezeichnung

15 Das Ich ist das einfachste Beispiel um zu zeigen, dass und wie Allgemeinheit und Einzelheit vereinigt werden können; es ist ja darüberhinaus eine Einzelheit, die auftretende Besonderheit ist.

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einer ‚leeren‘ Referenz durchzuführen. Das Ich ortet zugleich sein Bewusstsein und distanziert sich im Bewusstsein doch von jedem vorgegebenen Inhalt. Gerade diese Distanz wird sich weiter als die eigene Idealität zeigen.

4 Die eigene Differenz des Ich als Idealität für sich Neues wird also, wenn die unmittelbare Reflexion des Ich sich gegen den Inhalt der Seele setzt: dann ist das Bewusstsein da. Damit findet sich das Selbst der Seele nicht mehr in sich, sondern es setzt sich die (dem Bewusstsein) äußere Bestimmtheit von sich aus entgegen. Das Ich als Idealität verhält sich in der Beziehung der Differenz an- und aufnehmend, denn die Bestimmungen des Objekts werden dem Ich gegeben und sind noch nicht seine Tätigkeiten, was erst im Geist geschieht (bei E1 § 332). Bewusstsein überhaupt heißt: im Bewusstsein gibt es ein Ich einerseits und die Beziehung auf einen Gegenstand andererseits. Im Bewusstsein selbst wird deshalb diejenige Natur, die nicht (mehr) zum einzelnen Individuum gehört, idealisiert und dies heißt jetzt: als vernünftig herausgestellt; und diese Idealität der Beziehung kommt als solche ins Bewusstsein. Mit dieser Bestimmung behauptet Hegel, dass es wirklich eine Differenz gibt einerseits zwischen bewussten Zuständen, welche die Tiere schon haben, und andererseits zwischen bewussten Wesen, die als Ich oder vom Ich her gedacht werden16. Das Bewusstsein zeigt also, wie etwas für mich ist, indem ich Ich bin (vgl. 25,1:103ff – Vorlesung 1822). Es ist eine unterschiedene doppelte Bestimmung im Ich gesetzt, dass das Ich einerseits das vollkommen Allgemeine für alle Fälle ist, und andererseits, wenn das Ich ‚Ich‘ sagt, es zugleich schlechthin nur dieses Ich mit Ausschließung aller anderen meint. Das Ich ist das Allgemeine in der unendlichen Einzelheit, es ist das Einfache, aber zugleich das absolut Einzelne. Das Ich selbst, und das wozu es sich verhalten kann, erscheinen bei der Transformierung des Objekts auch als Ich.

16 Wissenschaftlich und auch philosophisch ist nicht zu bestreiten, dass das Bewusstsein zugleich ein Produkt der vom Tierreich ausgehenden Evolution ist, wobei gewisse höhere Tiere dazu gekommen sind, sich mit dem Pronomen ‚Ich‘ auf sich zu beziehen. Das Ich ist also faktisch oder seinem genetischen Hervorgehen nach ein autonom verwendbares und geleistetes Produkt der in der Evolution entstehenden Systeme, die subjektiv bewusste Zustände verursachen und erhalten. Diese Zustände sind die vom Leben oder Gehirn zeitlich schon vollzogenen Bewusstseinsakte, die jetzt in dem Vollzug der erlebten Zeit in der eigenen Zeit-Perspektive um sich wissen. – Hegel geht es aber weder um Genetisches noch um Kriteriologisches, wann man Wesen schon Menschen nennen kann, sondern um die gültige Verwendung oder den (Selbst)Vollzug von philosophisch erkennbaren, konstituierten oder sich konstituierenden Begriffen.

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Die radikale Distanz zur Natur und zur Welt überhaupt wird vom Ich-Bewusstsein als eine solche distanzierende Idealität in seiner Selbstreferenz aufgezeigt. Die Bezeichnung ‚Ich‘ ist die eigene, und eigens betätigte Leerheit in Bezug auf jede natürliche, leibliche und selbst seelische Bestimmung, die deshalb eine radikale Negativität und Idealität von allem Gegebenen mit sich bringt. In dieser Idealität setzt sich das Ich als Subjekt gegen die ganze, als objektiv zu betrachtende Welt (‚Ich ist Ich‘ gegen alles andere). Damit ist das Ich als die Leerheit von Anderem in ihrer eigenen Aktivität des Sich-so-Zeigens zu einer abstrakt zu nennenden Form von Tätigkeit, sich absetzender oder abgelöster Freiheit, geworden. Gerade die Abstraktion in Beziehung auf Alles ist die Idealität, die sich zu sich in Beziehung setzt und als Selbsterziehung vorgeführt wird. Die Spezifizität des Ich besteht darin, eine leere Bezeichnung zu sein, die völlig allgemein ist (d. h. die von jedem, der zu dieser Form gelangt, zu leisten ist), obwohl sie zugleich doch bloß ein Einzelnes zu bezeichnen vorgibt. Gerade diese Diskrepanz deutet die Unmöglichkeit an, beim Ich-Bewusstsein als einem Letzten oder Zureichenden stehen zu bleiben. Diese Unmöglichkeit kann tatsächlich an der Ich-Behauptung vorgeführt werden. Die auf sich bezogene Selbstreferenz ist ja ein leerer Akt, nur für sich selbst in der eigenen Idealität zu sein und dennoch die inhaltliche Welt negativ zu betrachten. ‚Ich ist Ich‘ hat deshalb die Problematik zu lösen, wie die Leistung des Ich doch ein Ganzes integrieren kann, das, selbst wenn diese Inhalte auf das Ich als Bewusstsein bezogen werden, doch nicht bloß aus Ich-Gedanken besteht. Damit zeigt sich, weshalb das Ichbewusstsein nicht bei sich stehen bleibt. Es gelingt ihm nicht, das Bewusstsein, das zugleich auch als Lebendiges (oder als Seele) da ist, als sich gleich zu erklären, obwohl es die Nachfolge der Seele ist. Mit dem Ich als Selbstreferenz hat das Ich zwar die eigene Möglichkeit, sich als Idealität auf sich zu beziehen, aber damit ist die Verwendung des Ich in Beziehung auf den weiteren Inhalt noch nicht ausreichend garantiert. Damit zeigt die Selbstreferenz des Ich sich als notwendig, aber unzureichend, weil sie die Idealität als solche zwar ausdrückt, aber diese noch nicht selbst rechtfertigen kann. Gerade die bekannten Formen des Selbstbewusstseins, die den Dualismus (oder die Entgegensetzung) beseitigen möchten, ohne die Priorität des Ich herunter zu setzen, sind dazu geeignet, vom einzelnen Ich zum allgemeinen aufzusteigen. Die Selbstverständlichkeit, dass wir, Iche, spezifische auf die erfahrbare Welt bezogene, bewusste und gültige Erfahrungen haben, kann so erklärt und erkannt werden. Das allgemeine Selbstbewusstsein ist gerade deshalb wichtig, weil dort eine vom Bewusstseins-Gegensatz herstammende Differenz noch in der Form des Selbstbewusstseins vorkommt und diese zugleich endgültig erledigt wird, ohne aber schon eine positive Fassung zu erlauben. Erst dort gelingt die Integration, wo das Ich stufenweise zu einer Einheit seiner zusammenhängenden Momente

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gekommen ist, wo die Spezifizität der Leere zur Gliederung einer wirklich daseienden und umfassenden Gestalt kommt, zur Vernunft, aber um einen vielleicht für moderne Ohren außerordentlich kostspieligen Preis: Weder die Selbstbeziehung, noch die Selbsterkenntnis gehen verloren, sondern die beschränkte Individualität und deren Entgegensetzung wird aufgegeben, wodurch Ich als solches sich als das Zentrum der Welt betrachtet. Anders gesagt: Nicht die Selbstreferenz geht beim Erkennen oder Wollen verloren, sondern in Erkennen und Tätigsein ist die Selbstbeziehung des individuellen Ich nicht mehr das Ziel. Die Vernunft bleibt zwar dem Individuum, jedem Ich zugänglich, weil dies sich vernünftig gestaltet, aber sie ist weiterhin nie mehr dem Individuum oder den Individuen als Individuen gefügig. Deshalb ist auch das nicht mehr dem nicht herleitbaren und nicht korrigierbaren Ich zuzuschreiben, sondern der allgemein ausweisbaren Vernunft eines jeden, was jede spontane Erkenntnisweise (eines jeden) in jedem Satz von der Art ‚Ich sehe oder ich weiß einen Sachverhalt‘ ohne philosophische Theoriebildung immer schon geleistet hat,. Diese (subjektive) Erkenntnis ist dann bloß als das Resultat einer vereinzelten Bildung oder einer regelhaften Bildung eines selbstbewussten Einzelnen innerhalb eines sich wirklich als solchen vollziehenden subjektiven Geistes, der diese Vernunft je vereinzelt und verwirklicht, zu fassen.

5 Die zureichende Differenz des subjektiven Geistes In Beziehung auf solche gültigen Geist-Gedanken kann eine ausreichende Gliederung der internen Beziehungen des vernünftigen Ich geboten werden. Erst dieser Geistgedanke selbst sichert, dass der Begriff des Ich als das notwendige Spezifikum des Begriffs des subjektiven Geistes betrachtet wird, sofern von diesem aus eine eigene Aktivität begriffen wird, welche die erste Idealität und diejenige des Ich prägt und hervortreibt. Denn diese ermöglicht dem Subjekt nicht nur ein zuverlässig Ich-Sagen, sondern gerade erst dann ein Handeln als freies Ich. Damit ist die wirkliche Spezifizität des Geistes aufgezeigt. Die Idealisierung wird als spezifische Bestimmtheit des Geistes selbst insgesamt herausgestellt, wenn sie als Freiheit des subjektiven Geistes in Denken und Handeln (und dies heißt als solche) gefasst wird. Die Idealisierung und die Idealität sind Akte der Freiheit. Diese selbst ist so die abstrakte Allgemeinheit des Geistes.17

17 Diese bleibende Ermöglichung drückt der Geist als (nur) subjektiver aus, weil in jedem Erken-

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Diese Gestaltungsmöglichkeit zeigt, wie jedes sogenannte fremde Objekt (von der anschauenden bis zur denkenden Erkenntnis) doch ein eigenes Produkt des Geistes ist und als Tätigkeitsweise einer solchen, die Vernunft integrierenden Allgemeinheit auftreten kann, die Geist ist, weil wir alle zusammen auf gültige Art erkennen und handeln. Die Gestaltungsmöglichkeit wird dabei betont, insofern sie vom ‚subjektiven‘ Geist ausgesagt wird. Zuletzt ist mit diesem Geistbegriff und dessen Freiheit das Erkennen der darin schon betätigenden ‚idealisierenden‘ Freiheit ‚geleistet‘; dieses ist aber noch kein Letztes, denn der Geist ist sein eigenes Tun; er ist die Betätigung der erkannten Freiheit und stellt dar, wie die Betätigung selbst das Erkennen ist und umgekehrt.

6 Resultat Es geht Hegel in seiner Anthropologie nicht um den ‚Menschen‘, sondern um den Geist, weil der Mensch weder als Individuum noch als lebendiges Gattungswesen mehr als ein erscheinendes Zeichen oder eine wirkliche Vereinzelung des Geistes sein kann. Selbst wenn der subjektive Geist – der vornehmlich individuell ausgeprägt wird – die spezifische Differenz des Geistes in Beziehung auf die Natur ausdrückt, ist nicht der Mensch, sondern die geistige Freiheit das Thema der philosophischen begrifflichen Darstellung. Damit ist nicht so sehr aufgewiesen, wie der Mensch Herr im eigenen Haus seines Lebens und seiner Objektivität sein könnte, sondern begrifflich kann vielmehr der Geist sich durch seine spezifische Aktivität in seiner eigenen und eigens geprägten Welt her(aus)stellen. Insgesamt zeigt der Geist in jeder Form seiner selbst also seine gegliederte Freiheit, weil nur er aus seiner freien Perspektive hervorheben kann, dass sie, wenn sie möglich ist, auch realisiert wird. Das Ich als Seele löst das Problem, wie die Selbstreferenz zugleich als Referenz zum eigenen (nicht mit dem Ich zusammenfallenden) Leib verstanden werden kann, obwohl die Selbstreferenz nie den Leib, sondern den idealisierende Vollzug des Ich bezeichnet und eigentlich nur diesen darstellt. Zugleich deutet das Ich den wirklichen seelischen Ort an, wo

nen nicht die soziale Dimension, sondern die wirklich vollzogenen Gültigkeit selbst beansprucht wird und die implizite Gliederung auch immer da ist. Jede Erkenntnis sagt nicht nur aus : ‚der Tisch hier im Raum um diese Zeit ist grün‘, sondern sie sagt in ihrer vollständigen Gestalt: ‚ich behaupte, dass dieser Sachverhalt so ist, wie behauptet‘ und jede Ablehnung gliedert sich auch noch in die vollständigen Formen des (allgemeinen, aber subjektiv vollzogenen, vernünftigen) Ich, weil jedes andere vernünftige Ich (und dies heisst der subjektive Geist überhaupt) diese Tatsache des besonderen Urteils denkend negiert.

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das Erkennen und die Tätigkeit (in der empirischen erscheinenden Wirklichkeit) geschieht, weil die freie Tätigkeit selbst inhaltlich und formal geistige Aktivität ist, die nur von irgendeinem Ich sichtbar gemacht wird oder erscheint. Für ein geistiges, noch immer ichhaftes Leben in Freiheit ist aber nicht nur ein selbstbewusstes oder selbstbezügliches Individuum, sondern auch die eigene Organisation des Geistes selbst als solche zu denken. Davon zeigt das vollziehbare Ich nur die Minimalbedeutung oder die Erscheinung an, denn es ist weder in der Lage, die eigens bezweckte Freiheit aus sich als einzelnem Ichbewusstsein zu betätigen, noch dazu, in sich allein einen eigenen, vernünftigen Grund zu setzen. Auf diesen Grund, den Geist selbst, hinzuleiten und ihm einen erscheinenden Ort zu verschaffen, ist aber seine unhintergehbare und notwendige Leistung. Selbst am Rande des Universums und als zeitlich begrenztes Wesen ist nur das Ich als Repräsentant, als Erscheinung oder als Präsentationsform des Geistes dasjenige, das die raumzeitliche Welt durch ihre Erkenntnis (im Geiste) verorten kann, sofern das Ich die Seele als vorhergehende, idealisierende Konstitution integriert und zugleich die bloß erscheinende Idealität bleibt. Der Geist  – und er allein  – kann in seinem Betätigen, Denken und Begreifen Etwas anderes auch als sich und damit als frei begreifen. In dieser Freiheit des Selbstvollzugs entsteht die Einsicht, dass das eigene Ich als geistiges eine nicht mehr leere, aber dennoch formale Subjektivität des Geistes ist. Deshalb ist der Geist erst als subjektive Selbsterkenntnis solche Form, die handelt und tätig ist, und keine bloß seiende Geistigkeit, sondern eine eigene, sich vollziehende Freiheit, die diese Freiheit als sein spezifisches, begriffliches Merkmal herstellt. Wesentlich ist also, dass wir wissen, dass wir uns  – gegebenenfalls selbst am Rande des Universums – doch frei betätigen können, denn wer sonst weiß und kann dies noch auf gültige Weise als der Geist selbst?

Lucia Ziglioli

Von der Verleiblichung zur Sprache Selbstmanifestation in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes In der Einleitung zur Philosophie des Geistes findet sich Hegels Behauptung, dass „der Geist als solcher nur ist, insofern er sich selber sich offenbart“ (Enz. § 383, Z).1 Im Folgenden soll nachgewiesen werden, wie die Bewegung der Selbstoffenbarung die gesamte Tätigkeit des Geistes begleitet, sowohl als wesentliches Moment der Entwicklung seines Wissens als auch als wesentliches Moment der Entwicklung seiner Freiheit. Es wird dabei erläutert, inwiefern es sich beim „sich Offenbaren“, dem „sich Erkennen“ und dem „sich als frei Verwirklichen“ nicht um drei verschiedene Tätigkeiten des Geistes handelt. Stattdessen sind alle drei Teil derselben Bewegung der Selbstbestimmung des Geistes. Die vorliegende Erörterung will insbesondere den Ursprung dieser Verbindung zwischen Offenbarung des Geistes, dessen Wissen und Freiheit innerhalb des subjektiven Geistes freilegen. Die wesentliche Errungenschaft der Entwicklung des subjektiven Geistes und seiner Selbstoffenbarung ist das Wissen von sich als frei in einer Welt, die die eigene ist. Dieser Prozess der Selbstoffenbarung des subjektiven Geistes artikuliert sich in verschiedenen Stufen: ausgehend von der unmittelbaren Äußerung der Seele als Verleiblichung entwickelt der Geist die freiwillige körperliche Gebärde, um schließlich zum höchsten Ausdruck der psychologischen Intelligenz durch Sprache zu gelangen. Wie zu rekonstruieren sein wird, stellt jedes dieser Momente eine je unterschiedliche Beziehung des Geistes zum natürlichen Sein dar und ist folglich ebenso eine je unterschiedliche Stufe der Freiheit des Geistes. Ziel dieser Studie ist es darzulegen, in welcher Art und Weise die Manifestation des Geistes die Spaltung zwischen sich und seinem Anderen aufhebt. Gleichzeitig soll dadurch begreifbar werden, inwiefern diese Manifestation ein notwendiges Moment für die Entwicklung der Selbsterkenntnis des Geistes und der Verwirklichung seiner Freiheit konstituiert.

1 Hegels Werke werden hier zitiert nach GW. Mit ‚Enz.‘ wird zitiert: G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20. Die Zusätze sind zu finden in TWA 8–10.

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1 Natur, Geist und Selbsterkenntnis „Erkenne dich selbst!“ laut das delphische Gebot, mit dem Hegel die Philosophie des Geistes eröffnet.2 Ein Gebot, das jedoch keinen von außen gesetzten Befehl für den Geist darstellt, sondern dessen Wesen ausdrücken soll. Der Geist ist im Wesentlichen erkennend: „Alles Tun des Geistes ist deshalb nur ein Erfassen seiner selbst, und der Zweck aller wahrhaften Wissenschaft ist nur der, dass der Geist in allem, was im Himmel und auf Erden ist, sich selbst erkenne“ (Enz. § 377, Z). Die sich entwickelnde Beziehung zwischen Geist und Natur gründet genau in dieser Bestimmung des Geistes, sich selbst zu erkennen. Die Natur ist selbst die Idee oder das Vernünftige. Sie ist es aber in einer sich selbst unangemessenen Form. In der Natur ist nämlich jede Bestimmung als unabhängig von der anderen gesetzt.3 Aus diesem „Element des Außereinander“ (Enz. §  381, Z) muss aber die Idee, das Vernünftige, zu seiner Selbstidentität zurückkehren. Es muss sich in diesem Anderssein anerkennen. Dies ist der Zweck auf den die Tätigkeit des Geistes gerichtet ist: sich in seinem Anderen wiederzukennen. Stellt die Natur die Idee in der Form des Andersseins dar, ist der Geist dagegen die Idee, die dieses Anderssein als das Ihrige anerkennt. Deswegen bezeichnet Hegel den Geist als das „Zurückkommen aus der Natur“, oder auch als die Wahrheit der Natur (Enz. §  381). Natur und Geist sind daher einander nicht entgegengesetzt. Im Gegenteil, der Geist entsteht aus der Natur und beruht auf ihr als seiner Voraussetzung. Der Geist unterscheidet sich aber wesentlich von der Natur durch die Tatsache, dass er denkend und erkennend ist: „mit einem Worte: erst der Mensch ist der denkende Geist und dadurch, und zwar allein dadurch, wesentlich von der Natur unterschieden“ (Enz. §  381, Z, Hervorhebung kursiv). Das denkende Subjekt verfügt über einen Körper und ist durch seine Naturbestimmungen unmittelbar bedingt. Als denkendes Subjekt ist es aber in der Lage, diese Bestimmungen als notwendiges Moment der Verwirklichung des Geistes anzuerkennen, sie zu meistern und damit ihre Bedingtheit aufzuheben. Durch seine Denktätigkeit macht sich der Geist zum Herrn seiner Welt und von sich selbst. Der erkennende Geist

2 Für eine detaillierte systematische Untersuchung der gesamten Philosophie des subjektiven Geistes siehe: Iring Fetscher, Hegels Lehre vom Menschen. Kommentar zu den §§ 387 bis 482 der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970; Dirk Stederoth, Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Ein komparatorischer Kommentar, Berlin 2001; Jens Rometsch, Hegels Theorie des erkennenden Subjekts. Systematische Untersuchungen zur enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes, Würzburg 2007. 3 „So haben die Planeten, obgleich von der Sonne angezogen, trotz dieses Verhältnisses zu ihrem Zentrum den Schein der Selbständigkeit gegen dasselbe und gegeneinander“ (Enz. § 381, Z).

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gewinnt also seine Selbst-Identität nicht durch eine Flucht vor der Natur, vor dem, was anders ist, sondern der Geist gewinnt seine Identität und Freiheit – wie wir gleich näher erläutern werden  – durch die Aneignung des Anderen, durch die Aneignung der Natur. Es gibt keine Verwirklichung des Geistes außerhalb der Natur. Der Geist steht daher immer im Zusammenhang mit dem natürlichen Sein, aus dem er hervorgeht, und deswegen ist die sich entwickelnde Beziehung von Natur und Geist bzw. von Sein und Denken die Grundlage und der Gegenstand der gesamten Philosophie des Geistes: Alle Tätigkeiten des Geistes sind nichts als verschiedene Weisen der Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit, welche der Geist selbst ist, und nur durch diese Zurückführung, durch diese Idealisierung oder Assimilation des Äußerlichen wird und ist er Geist (Enz. § 381, Z).

Wie Hegel in der Einleitung zur Philosophie des Geistes und wieder im Zusatz zu § 389 deutlich macht,4 ist die Ablehnung des ontologischen Dualismus zwischen Denken und Sein, Geist und Natur Teil des Gesamtprozesses der Selbstbestimmung des Geistes. Auch die Tätigkeit des Geistes, sich selbst in einem äußerlichen Dasein zu manifestieren, kann im Lichte dieser Assimilation des Anderen erklärt werden. Je nachdem welche Beziehung zwischen dem Geist und seinem Anderen besteht, kann der Geist einen mehr oder weniger angemessenen Ausdruck von sich finden. So ist beispielsweise der Geist am Anfang seiner Entwicklung als Seele noch in der Natur gefangen. Sie findet nur unmittelbare und unbewusste Verleiblichungen ihrer Innerlichkeit im Leib vor, über die sie noch keine Kontrolle ausübt. Die Seele muss daher gegen ihre Leiblichkeit kämpfen, um sich als Geist zu affirmieren. Hier beginnt der lange und artikulierte Prozess der Selbstbestimmung des Geistes, innerhalb dessen er den Leib zum Zeichen seiner Selbst macht. Allerdings wird erst der sich selbst bewusste Geist nicht nur seinen Körper, sondern jedes äußerliche Dasein als Selbstoffenbarung begreifen können. In der Sprache, als System von äußeren Zeichen, wird der subjektive Geist seine höchste und angemessenste Äußerung finden. Diesen Prozess gilt es im Detail zu verstehen, wenn man begreifen will, welchen Anteil die Aneignung des Anderen an der

4 Wie Angelica Nuzzo gezeigt hat, ist das Problem der Geist-Natur Beziehung nicht mit der Entstehung der anthropologischen Seele aus der Natur aufgelöst, sondern bestimmt die Gesamtentwicklung des Geistes, indem der Geist werden kann, was er wirklich ist (A. Nuzzo, „Anthropology, Geist, and the Soul-Body Relation: The Systematic Beginning of Hegel’s Philosophy of Spirit“, in: Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, ed. David Stern, New York 2013, 1–18).

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Manifestation des Geistes und folglich an der Affirmation seiner Selbst-Identität hat. Es wäre aber falsch und irreführend, die Entwicklung der Selbstmanifestation als eine zeitliche zu denken. Tatsächlich stellt die gesamte Hegelsche Philosophie des Geistes keine zeitliche, sondern eine geistige Entwicklung dar. Der Geist ist eine Totalität, zu der nichts äußerlich hinzugefügt wird. Er selbst ist die Tätigkeit, sich zu verwirklichen und insofern selbst „ein Wahres, so ein Lebendiges Organisches, Systematisches“ (Enz. § 379, Z). Die verschiedenen Momente dieser Bewegung, von der unmittelbaren bis zur angemessenen, sind die verschiedenen Formen seiner Selbstbestätigung und Selbstoffenbarung. Dabei sind niedrigere Stufen abstrakte oder noch unmittelbare Bestimmungen der höheren Stufen. So ist Hegel auch im Rahmen dieser fortlaufenden Entwicklung der Selbstmanifestation nicht daran interessiert, den Ursprung der Sprache aus ihren anthropologischen Bestimmungen heraus zu rekonstruieren  – wie wir gleich näher untersuchen werden. Er will vielmehr zeigen, wie der Geist stufenweise dahin gelangt, sich angemessen zu äußern. Die verschiedenen Weisen des Geistes, sich zu manifestieren sind daher Momente dieses Prozesses der Selbsterkenntnis, denen unterschiedliche Stufen der Entwicklung der Freiheit und Selbsterkenntnis des Geistes entsprechen.5

2 Die anthropologischen Wurzeln der Manifestation des Geistes: „Der Sieg der Seele über ihre Leiblichkeit“ Zunächst bezieht sich der subjektive Geist auf die Natur und auf das Sein im Allgemeinen als etwas von ihm völlig Verschiedenes. In dieser Gestalt ist der Geist Seele, „als die Idealität alles Materiellen“, d.  h. als Negation des materiellen Daseins. Die Seele ist nach Hegels Verständnis nicht etwas Selbständiges, das der Materie entgegengesetzt wäre. Dies entspräche etwa einer intellektualistischen Auffassung des Verhältnisses von Körper und Seele, nach der beide als absolut selbständig zu betrachten wären.6 Stattdessen bestimmt sich die Seele immer in

5 „Die ganze Entwicklung des Geistes ist nichts anderes als sein Sichselbsterheben zu seiner Wahrheit, und die sogenannten Seelenkräfte haben keinen anderen Sinn als den, die Stufen dieser Erhebung zu sein“ (Enz. § 379, Z). 6 Dann aber ist der Intellekt nicht in der Lage, diesen Gegensatz zwischen Seele und Materie zu überwinden und sucht als Ausweg eine mögliche Lösung im Transzendenten, in einem Gott.

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Beziehung auf ihre Leiblichkeit.7 Hegel vergleicht die Seele mit dem Aristotelischen, passiven noûs, d. h. mit einem dynamischen Prinzip, das potenziell Alles ist: „Sie ist die Substanz, die absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes“ (Enz. § 389).8 In ihrem nur potenziellen Sein separiert sich die Seele von der seienden Materialität, in der sie sich gefangen fühlt. Die Seele besteht so immer in einer negativen Beziehung zu ihrem Dasein gegen das sie kämpfen muss, um sich affirmieren zu können: Diesem Kampfe folgt der Sieg der Seele über ihre Leiblichkeit, die Herabsetzung und das Herabgesetztsein dieser Leiblichkeit zu einem Zeichen, zur Darstellung der Seele. So tritt die Idealität der Seele in ihrer Leiblichkeit hervor, wird diese Realität des Geistes auf eine, selbst aber noch leibliche Weise ideell gesetzt (Enz. § 387, Z).

In dem in diesem Zitat beschriebenen Kampf befreit sich die Seele von dem Gegensatz, der ihr Verhältnis zu ihrer Leiblichkeit gekennzeichnet hatte. Genau dies bildet den Gegenstand von Hegels Anthropologie: nicht der Mensch, als selbstbewusstes Subjekt, sondern die Verleiblichung oder Verkörperung des Geistigen in der Natur.9 Innerhalb der Anthropologie hebt dann die Seele auf unterschiedlichen Ebenen ihre negative Beziehung auf die Natur auf und affirmiert sich als sich selbst seiend. Wir werden gleich näher rekonstruieren, wie die Seele aus der unmittelbaren und negativen Beziehung zwischen Seele und Natur schließlich die Leiblichkeit als Ausdruck ihrer selbst, als ihr Zeichen setzen kann. So wird die Seele vom passiven noûs, der einfachen Potenz, zum erschaffenden Geist.

Nach Hegel ist dies die Strategie, die Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz gewählt haben (Enz. § 389, A). 7 Wie Walter Jaeschke es formuliert: „Seele ist nur dort, wo Leiblichkeit ist. Sie steht aber für Hegel nie in ruhiger Harmonie mit ihrer Leiblichkeit, sonders ist insgesamt die Bewegung, diese Leiblichkeit in Richtung auf das Bewusstsein zu transzendieren“ (W. Jaeschke, Hegel Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart und Weimar 2003, 354). In Bezug auf die Seele-Körper Beziehung in Hegels Idealismus vgl. auch Italo Testa, „Hegel’s Naturalism or Soul and Body in the Encyclopaedia“, in: Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, a. a. O. (Anm. 4), 19–35. 8 In Bezug auf Hegels Verständnis der Aristotelischen Lehre von noûs und die Unterschiede beider Philosophen in dieser Hinsicht, siehe A. Ferrarin, Hegel and Aristotle, Cambridge 2001, insbesondere 308–325. 9 Zum Verhältnis von Seele und Welt als Bedingung der Selbsterfahrung des Menschen vgl. Rainer Wiehl, „Das Psychische System der Empfindung in Hegels ‚Anthropologie‘“, in: Hegels philosophische Psychologie, hg. v. Dieter Henrich, Bonn 1979, 81–139.

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2.1 Das Symbolische der Empfindung und die Verleiblichung Zu Beginn findet sich die Seele als von der Natur völlig bestimmt und bedingt vor. Auf dieser Ebene unterscheidet sie sich noch nicht von ihrem natürlichen Sein. Sie ist noch nicht in der Lage sich selbst zu bestimmen, sondern lässt sich von der Natur bestimmen. Zu den Naturbestimmungen, die die Seele affektieren, gehören verschiedene Faktoren, allgemeine und besondere: das „allgemeine planetarische Leben […], […] Unterschied[e] der Klimate, […] Wechsel der Jahreszeiten, der Tageszeiten u. dgl.“ (Enz. § 392), die „Rassenverschiedenheit“ (Enz. §  393)10 sowie Unterschiede der „körperliche[n] Bildung und Disposition, […] innere[n] Tendenz und Befähigung des intelligenten und sittlichen Charakters der Völker“ (Enz. §  394) oder auch die verschiedenen Temperamente, Talente und Charaktere der individuellen Subjekte (Enz. § 395). Jene werden von Hegel „natürliche Qualitäten“ (Enz. § 392) der Seele genannt, weil sie nicht durch die Seele frei gegeben sind, sondern die Seele sich durch sie bestimmt vorfindet. Allerdings lebt zwar das Tier in einem Verhältnis der „Sympathie“ (Enz. § 392, A) mit diesen Naturbestimmungen, dagegen verlieren sie beim Menschen an Bedeutung. Der denkende und gebildete Geist ist in der Tat in der Lage, diese Naturfaktoren aufzuheben und sich als frei und selbstbestimmt zu verwirklichen. Entscheidender als die Analyse verschiedener Naturbestimmungen ist demnach der Prozess, an dessen Beginn die natürliche Seele steht und der fortschreitet, indem sie sich von der Naturaffektion unterscheidet und sich von ihr nicht völlig bestimmen lässt. Dies ist der Übergang, den Hegel in seiner Anthropologie als höchste Form der natürlichen Seele beschreibt. Durch diesen Prozess bezieht sich die Seele auf ihre Bestimmungen nicht mehr als allgemeine Qualitäten, sondern als Besonders: als Empfindungen.11 Die Empfindung ist ihrer Natur nach als unterschieden vom empfindenden Subjekt bestimmt. Wäre das empfindende Subjekt unmittelbar identisch mit dem Inhalt der Affektion, dann wäre es für das Subjekt nicht

10 Hegel argumentiert keinesfalls für die Überlegenheit einzelner Völker aufgrund ihrer unterschiedlichen Rassen. Im Gegenteil kritisiert er eine solche Strategie heftig: „Der Mensch ist an sich vernünftig; darin liegt die Möglichkeit der Gleichheit des Rechtes aller Menschen,  – die Nichtigkeit einer starren Unterscheidung in berechtigte und rechtlose Menschengattungen“ (Enz. § 393, Z). Die Verschiedenheit der Rassen wird bei Hegel zudem als eine noch unmittelbare Beeinflussung oder Einwirkung der Natur auf den Geist verstanden. 11 Die Seele entwickelt sich in drei Hauptformen: der natürlichen Seele, der fühlenden Seele und der wirklichen Seele. Die Empfindung stellt die letzte Form der unmittelbaren Seele-Natur Beziehung der natürlichen Seele dar.

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möglich, überhaupt etwas Bestimmtes zu empfinden.12 Die mit der Empfindung eingeführte Unterscheidung ist somit die zwischen einem allgemeinen Subjekt und einer besonderen Empfindung. Sie ist wichtig, weil wir erst durch sie verstehen können, inwiefern im kontinuierlichen Verschwinden jeder besonderen Empfindung die empfindende Seele in ihrer Selbstidentität bestehen bleibt. Diese erste, nur formelle Unterscheidung zwischen dem Subjekt und seinem isolierten Inhalt ist eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Wissen. Die empfindende Seele findet sich unmittelbar durch eine Empfindung bestimmt, sei sie innerlich oder äußerlich gegeben. Das heißt, die Seele ist hier noch nicht in der Lage, irgendeine Kontrolle über die Empfindung auszuüben.13 Es wird jedoch eine Beziehung von gegenseitiger Abhängigkeit zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen aufgebaut – eine noch unmittelbare Beziehung, die Hegel als „das Symbolische“ (Enz. § 401, Z) der Empfindung bezeichnet. An dieser Stelle verbindet sich die äußere sinnliche Empfindung mit einer inneren Stimmung unmittelbar. Hegel nennt als Beispiele für diese Schnittstelle Farben: „was die Farben betrifft, so gibt es ernste, fröhliche, feurige, kalte, traurige und sanfte Farben“. Doch das gleiche gilt für Töne und für jede sinnliche Affektion überhaupt. Wir müssen uns hier vor Augen halten, dass an dieser Stelle von der Seele noch als einem „bewußtlose[n] Bezogenwerden der äußeren Empfindung auf das geistige Innere“ die Rede ist. Das heißt, es handelt sich um eine unmittelbare Verbindung der leiblichen Affektion zu einer inneren Bedeutung, ohne dass die bewusste Intelligenz darin bereits eine Rolle spielte. Wenn wir daher von einem symbolischen Charakter der äußeren Empfindung sprechen, dann dürfen wir laut Hegel dabei nicht außer Acht lassen, „dass hier noch nicht ein Symbol in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes vorhanden ist“. Das Symbol ist in der Tat „ein von uns unterschiedener äußerlicher Gegenstand, in welchem wir uns einer innerlichen Bestimmtheit bewusst werden oder den wir überhaupt auf eine solche Bestimmtheit beziehen“ (Enz. § 401, Z). Dies ist aber noch nicht der Fall bei

12 Wie Hegel in einem Zusatz erklärt: „Nur durch dies Fürsichwerden ist die Seele empfindend. Das Nichtanimalische empfindet eben deshalb nicht, weil in demselben das Allgemeine in die Bestimmtheit versenkt bleibt, in dieser nicht für sich wird. Das gefärbte Wasser zum Beispiel ist nur für uns unterschieden von seinem Gefärbtsein und von seiner Ungefärbtheit. Wäre ein und dasselbe Wasser zugleich allgemeines und gefärbtes Wasser, so würde diese unterscheidende Bestimmtheit für das Wasser selber sein, dieses somit Empfindung haben; denn Empfindung hat etwas dadurch, daß dasselbe in seiner Bestimmtheit sich als ein Allgemeines erhält“ (Enz. § 399, Z). 13 „Indem die Seele empfindet, hat sie es mit einer unmittelbaren, seienden, noch nicht durch sie hervorgebrachten, sondern von ihr nur vorgefundenen innerlich oder äußerlich gegebenen, also von ihr nicht abhängenden Bestimmung zu tun“ (Enz. § 399, Z).

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der durch eine äußerliche Empfindung erregten Stimmung. Und zwar deshalb, weil sie noch ein eigentümlich anthropologisches Phänomen ist, d. h. die Beziehung zwischen Geistigem und Leiblichkeit als Empfindung ist noch unmittelbar. Es geht daher um eine symbolische Beziehung von besonderer Art, der sich die Seele noch nicht bewusst ist und über die sie keine Kontrolle hat. Allerdings – und deswegen ist sie so wesentlich – verstehen wir hier zum ersten Mal die zentrale Bedeutung, die das natürliche Sein notwendigerweise für den Geist besitzt. Bereits innerhalb dieser Ebene der empfindenden Seele, die in einer noch unbewussten Beziehung mit dem Gegebenen ist, beginnt der Prozess der Verinnerlichung und Idealisierung des äußerlichen Seins, der die Gesamtentwicklung des Geistes begleiten wird. Obwohl Hegel also durchaus anerkennt, dass eine ähnliche Entwicklung auch bei Tieren vorkommen kann – etwa indem sie eine besondere Stimmung als Produkt einer sinnlichen Affektion fühlen können  – ist der symbolische Charakter der Empfindung ein spezifisch menschlicher. Denn erst hier beginnt der Prozess der Vermittlung der Innerlichkeit mit der Äußerlichkeit des Geistes. Diese Vermittlung als Teil der symbolischen Beziehung zwischen der Innerlichkeit und der Materialität des empfindenden Subjektes verwirklicht sich auch in der entgegengesetzten Richtung. Es ist nicht nur die äußerliche Affektion, die eine geistige Stimmung erregt, sondern ebenso äußert sich auch der innere Inhalt als Verleiblichung. Damit äußert sich das geistige Innere als eine erste Selbstoffenbarung. Hegels Beispiele für diese Art der Manifestation geistiger Innerlichkeit sind alles Pathognomische und Physiognomische. Die Träne, das Lachen, das Weinen, das Seufzen, usw.  – dies alles sind Manifestationen von inneren Stimmungen. Nach einer damals noch allgemein verbreiteten Auffassung, auf die sich Hegel hier wohl bezogen hat, finden alle stärkeren Emotionen, wie Zorn, Rache, Neid, Scham, Reue, ihre Verleiblichung in spezifischen Teilen des Körpers – z. B. „im Zorne schlägt das Herz, wird das Blut heißer, steigt dies ins Gesicht und spannen sich die Muskeln“ (Enz. § 401 Z). Das Äußern des Inneren als Entäußerung einer inneren Empfindung geschieht zudem im Weinen, im Lachen und in der Stimme. Nun stellt gerade die Stimme wegen ihrer „unkörperliche[n] Leiblichkeit“ die höchste Form der Verleiblichungen des Inneren dar. Weil sie ein Sein besitzt, das verschwindet, sobald es ausgesprochen wird, ist die Stimme ein äußerliches Dasein „in welchem die Innerlichkeit des Subjekts durchaus den Charakter der Innerlichkeit behält“ (Enz. §  401, Z).14 In der Stimme erweist sie

14 „Durch die Stimme erhält daher die Empfindung eine Verleiblichung, in welcher sie nicht weniger schnell dahinstirbt als sich äußert. Dies ist der Grund der in der Stimme vorhandenen höheren Kraft der Entäußerung des innerlich Empfundenen. Die mit dieser Kraft wohlbekann-

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sich daher am besten die Idealität der sinnlichen Realität, d. h. die Negation ihres unabhängigen Seins; und genau aus diesem Grund wird die Stimme das Hauptmittel der sprachlichen Vermittlung des Subjektes. In der so beschriebenen Verleiblichung manifestiert sich der Geist zum ersten Mal als Sein. Womöglich legt Hegel genau deswegen einen so großen Wert auf die eingehende Untersuchung dieses Phänomens innerhalb einer von ihm so genannten „eigentümlichen Wissenschaft, einer psychischen Physiologie“.15 Durch diesen Prozess der Verleiblichung des Inneren bestimmt die Seele ihren Körper als „Empfindungssphäre“, d. h. als Dasein das für sie ist: Die Lebendigkeit dieses meines Körpers besteht darin, dass seine Materialität nicht für sich zu sein vermag, mir keinen Widerstand leisten kann, sondern mir unterworfen, von meiner Seele überall durchdrungen und für dieselbe ein Ideelles ist, Durch diese Natur meines Körpers wird die Verleiblichung meiner Empfindungen möglich und notwendig, – werden die Bewegungen meiner Seele unmittelbar zu Bewegungen meiner Körperlichkeit (Enz. § 401, Z).

So wie die äußere Empfindung eine innere Stimmung bestimmt, so bestimmen die Bewegungen meiner Seele mein natürliches Dasein. In beiden Fällen zeigt sich die enge Beziehung der Seele mit ihrer Leiblichkeit. Nun nicht mehr in Gestalt einer negativen Beziehung, in der die Seele in ihrer Leiblichkeit gefangen ist, sondern in Gestalt einer Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit zwischen der Seele und ihrer Verleiblichung. Einerseits erhalten die Naturbestimmungen so eine geistige Bedeutung, andererseits erweist sich die Verleiblichung als notwendig für die Innerlichkeit. Denn nur durch ihre Verleiblichung kann sie ein äußeres Dasein gewinnen und sich als etwas Seiendes empfinden: Erst durch die Verleiblichung der inneren Bestimmungen kommt das Subjekt dahin, dieselben zu empfinden, denn zu ihrem Empfundenwerden ist notwendig, daß sie sowohl von dem Subjekt unterschieden als mit demselben identisch gesetzt werden; beides geschieht aber erst durch die Entäußerung, durch die Verleiblichung der inneren Bestimmungen des Empfindenden (Enz. § 401, Z).

ten Römer haben daher bei Leichenbegängnissen absichtlich von Weibern Klagegeschrei erheben lassen, um den in ihnen entstandenen Schmerz zu etwas ihnen Fremdem zu machen“ (Enz. § 401, Z). 15 Aufgabe dieser Wissenschaft wäre es, „die notwendige Beziehung zu zeigen, welche zwischen einer bestimmten innerlichen Empfindung und der physiologischen Bedeutung des Organes herrscht, in welchem dieselbe sich verleiblicht“ (Enz. § 401, Z).

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Wir begreifen erst durch diese Bewegung, inwiefern die Seele „zum Gefühl ihrer selbst oder zu dem noch nicht objektiven, sondern nur subjektiven Bewusstsein ihrer Totalität gelangt“ (Enz. § 402 Z) und sich als fühlende Seele bestimmt.

2.2 Die Wirklichkeit der Seele im Zeichen Mit der empfindenden Seele schließt der erste Teil der Anthropologie und es endet die erste Runde im Kampf der Seele gegen ihre Leiblichkeit. Im Ergebnis hat sich die Seele ihre Leiblichkeit angeeignet. Für sie stellt die Leiblichkeit kein Äußeres mehr dar, gegen das sie kämpfen muss, sondern einen Moment ihrer selbst. Dies ist die wirkliche Seele, d. h. die Seele, die sich auf den Körper als etwas Eigenes bezieht, als etwas, das für sich steht: ein Zeichen ihrer selbst. Diese Äußerlichkeit stellt nicht sich vor, sondern die Seele, und ist deren Zeichen. Die Seele ist als diese Identität des Inneren mit dem Äußeren, das jenem unterworfen ist, wirklich; sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt (Enz. § 411).

In ihrer Leiblichkeit ist die Seele jetzt in der Lage, sich selbst frei zu manifestieren. Denn es geht nun nicht mehr um die „unfreiwillige[n] Verleiblichung“ die über die Empfindung veranlasst wurde, sondern um die „mit Freiheit geschehenden Verleiblichungen“ (Enz. § 411, Z), durch die die Seele den Leib mit ihrer eigenen Geistigkeit prägt. So wird aus dem Leib „das Kunstwerk der Seele“, in dem sie sich ihren „menschlichen, pathognomischen und physiognomischen Ausdruck“ gibt (Enz. §  411). Die gesamte menschliche Leiblichkeit kann als Zeichen der Innerlichkeit angesehen werden: das Mienenspiel, die Bewegungen des Kopfes, wie das Kopfnicken oder das Kopfschütteln, die Gesichtsausdrücke und die Handgebärde – alle dies sind Mittel, durch die sich die Seele ausdrückt. Je nachdem wie sich die Seele auf sie bezieht, können auch Verleiblichungen wie das Lachen, das Seufzen und die Stimme als freiwillige Ausdrücke des Inneren gelten. Was jedoch die Verleiblichung des Geistigen von seinem Zeichenausdruck fundamental unterscheidet, ist der freiwillige Charakter des letzten. Zwar geht es hier noch um eine begrenzte Freiheit der Seele, insofern ihre Grenzen genau durch die leibliche Gestaltung des Körpers festgesetzt werden. Dies zeigt sich beispielsweise in der Bewegungsfähigkeit, der Form des Gesichts oder dem Ton der Stimme. Allerdings ist die Seele schon jetzt in der Lage, die ihr zur Verfügung stehende Materie zu prägen und sie sich zu unterwerfen.

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So entsteht eine durch die Trennung der Seele von ihrer Leiblichkeit und durch die Aufhebung dieser Trennung vermittelte Einheit jenes Inneren und jenes Äußeren. Diese aus einer hervorgebrachten zu einer unmittelbaren werdende Einheit nennen wir die Wirklichkeit der Seele (Enz. § 411, Z).

Das leibliche Dasein, in dem das Zeichen des Selbst besteht, hat eine ganz entscheidende Funktion für die Verwirklichung des Geistes als selbstbewusstes und freies Subjekt. Indem die Seele ihren Leib geistig prägt, übt sie ihre Herrschaft über dessen Sein aus und bezieht sie sich darauf als etwas, das zu meistern sie in der Lage ist. Hierin besteht der „Sieg“ der Seele über die Leiblichkeit, wodurch sie ein erstes Bewusstsein von sich selbst gewinnt. Genau dieser Übergang konstituiert den Schritt von der Anthropologie zur Phänomenologie. Die Seele ist nun nicht mehr in einer unmittelbaren Beziehung mit dem sinnlichen Dasein, gegen das sie kämpfen muss, um sich affirmieren zu können. Sondern sie weiß sich jetzt als dieses Dasein, als eine eigene, von ihr selbst hervorgebrachte Bestimmung, in der sie ihre Selbstoffenbarung findet. Solange die Seele in ihrer Innerlichkeit eingeschlossen ist, kann sie nur ein unmittelbares und dunkles Selbstgefühl entwickeln. Als selbstoffenbares Subjekt dagegen gewinnt die Seele die „Gewissheit seiner selbst“ (Enz. §  413). Hier wird einmal mehr der begriffliche Unterschied zwischen Mensch und Tier markiert: zwar schreibt Hegel die unfreiwilligen Verleiblichungen sowohl den Menschen als auch den Tieren zu, aber nur dem Menschen ist es eigentümlich, seinen Körper freiwillig zu einem Zeichen seiner selbst machen zu können.16 Allerdings ist die Selbstoffenbarung, die der Geist durch den pathognomischen Ausdruck und die körperliche Gestik gewinnt, der Komplexität des denkenden Geistes noch nicht völlig angemessen. Nach wie vor ist sie von der organischen Struktur des Leibes bedingt. Deshalb wäre es nach Hegel auch ganz irreführend, einen Menschen auf der Grundlage seines physiognomischen Ausdrucks beurteilen zu wollen. Ein solches Urteil hat „nur den Wert eines unmittelbaren Urteils, das ebensowohl unwahr wie wahr sein kann“ (Enz. § 411, Z). Damit wendet sich Hegel strikt gegen eine übertriebene Achtung vor der Physiogno-

16 Vgl. mit Enz. § 411, Z. Dazu siehe auch deVries, nach dem die wirkliche Seele die Stufe darstellt durch die sich die Menschen von den Tieren unterscheiden (Willem deVries, „Subjective Spirit: Soul, Consciousness, Intelligence and Will“, in: The Bloomsbury Companion to Hegel, ed. Allegra de Laurentiis and Jeffrey Edwards, London u. a. 2013, 133–156, 142. In Bezug auf die Verbindung zwischen Leiblichkeit und Person in Hegelschen Philosophie des subjektiven Geist sehe: Ludwig Siep, „Leiblichkeit, Selbstgefühl und Personalität in Hegels Philosophie des Geistes“, in: Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“, hg. v. Lothar Eley, Stuttgart-Bd Cannstatt 1990, 203–226.

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mik, die zu seiner Zeit noch sehr verbreitet war.17 Es ist für den Geist notwendig, dieses Element von Kontingenz aufzuheben. Und weil diese Aufhebung nicht darin bestehen kann, seinen Leib zu transzendieren oder darin, sich außerhalb des Leibs zu verwirklichen, muss er in der Lage sein, die Bedingtheit des natürlichen Seins zu meistern. Dies wird nur dadurch möglich, dass der Geist sich auf sein Anderes als etwas Eigenes bezieht  – was letztlich erst auf der Ebene der Psychologie verwirklicht wird. Den Ursprung dessen finden wir aber bereits in der Anthropologie. Wie wir gesehen haben, hat schon die anthropologische Seele eine notwendige Verbindung zwischen ihrer Selbstmanifestation, einem Bewusstsein von sich und der Vermittlung mit dem Anderen etabliert, aber eben noch nicht völlig entwickelt.

3 Von der Verleiblichung zur Versachlichung des Selbst: Die Aufhebung der natürlichen Bedingtheit in der Sprache Aus dem bisher Gesagten konnten wir begreifen, wie sich der Geist schon in seiner ersten Gestalt als Seele dazu bestimmt, sich in seinem Anderem zu finden, sich ein äußeres Sein zu geben und damit sich selbst offenbar zu werden. Die noch unbewusste Verleiblichung und der freiwillige Ausdruck des Inneren durch die körperliche Gestik sind für den Geist nur die ersten, noch unangemessenen Mittel, sich selbst zu manifestieren: die Verleiblichung ist als unbewusste noch außerhalb der Kontrolle des Subjektes und in der Gestik ist der Geist noch durch die organische Leiblichkeit bedingt. Erst in der Sprache findet der Geist eine ihm angemessene Selbstoffenbarung. Die Sprache ist die Selbstäußerung, die am wenigsten von der Leiblichkeit abhängt, weil sie eine Artikulation des am wenigsten körperlichen Elements ist: der Stimme.18 Sicherlich enthält auch die Stimme einen Moment von Kontingenz und bleibt mit ihrer sinnlichen Natur verbunden  – der Mensch wird nie ganz über den Ton seiner Stimme entscheiden können. Entscheidend aber ist die Art und Weise, durch die der Geist sich in

17 Hegel meint, dass wir einen Menschen nicht anhand seines Aussehens, sondern an seinen Handlungen beurteilen sollen (Enz. § 411, Z). Für eine ausführliche Kritik der Physiognomik und ihrer Grenzen für das Verständnis der Innerlichkeit eines Menschen siehe Hegels Behandlung in der Phänomenologie des Geistes, GW 9, 171–192. 18 Die Sprache ist nach Hegel zuerst als Tonsprache; die Schriftsprache „ist bloß eine weitere Fortbildung im besonderen Gebiete der Sprache“ (Enz. § 459, Z).

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der Sprache auf sein Dasein bezieht. Wie wir gleich genauer sehen werden, lässt sich der Geist nicht mehr von seinen anthropologischen Bestimmungen bedingen. Entsprechend wird er seine Herrschaft oder Kontrolle vom Leib über das äußere Sein im Allgemeinen ausdehnen. Um überhaupt einen sprachlichen Ausdruck zu haben, muss der Geist daher in einem umfassenderen Sinn Bewusstsein von sich haben, als es die Seele von sich hatte.19 Wir müssen uns an dieser Stelle daran erinnern, dass Hegel dabei keine zeitliche Entwicklung beschreibt. Daher sollten wir ihm auch nicht die These zuschreiben, dass der gebildete Mensch seine Emotionen nicht mehr verleiblicht, oder er seine körperliche Gestik nicht mehr zum Ausdruck seiner inneren Stimmungen gebraucht. Vielmehr ist Hegels These von der geistigen Entwicklung so zu lesen, dass der Geist, der über Sprache verfügt, die körperliche Gestik nicht mehr braucht.20 Die Sprache ist das Produkt des Geistes, der sich schließlich als die Einheit von Subjektivität und Objektivität, von Denken und Sein weiß. Wir haben es hierbei nicht mehr mit der unmittelbaren Einheit der Seele mit ihrem natürlichen Dasein (Anthropologie) zu tun und auch nicht mit dem selbst-identischen Bewusstsein, das sich auf den Gegenstand als unmittelbar, seiend und gegeben bezieht (Phänomenologie). Sondern wir sind auf der Ebene des eigentlichen Geistes (Psychologie), der sich auf seinen Gegenstand als etwas Eigenes bezieht. Innerhalb der Psychologie ist jeder Kampf, jede Opposition des Geistes mit seinem Anderen aufgehoben. Der Geist ist jetzt in einer vermittelnden Beziehung mit diesem Anderen. Hegel betrachtet Sprache daher genau als ein Moment innerhalb dieses Vermittlungsprozesses innerhalb der Psychologie.

19 Aus diesem Grund erwähnt Hegel auch im Zusammenhang der Anthropologie die Sprache als fortlaufende Entwicklung der Verleiblichung und erklärt dort auch: „Von der durch die artikulierte Sprache erfolgenden Äußerung und Entäußerung der innerlichen Empfindungen haben wir jedoch hier, in der Anthropologie, nur antizipierend sprechen können“ (Enz. § 401, Z). 20 „Der Gebildete hat nicht nötig, mit Mienen und Gebärden verschwenderisch zu sein; in der Rede besitzt er das würdigste und geeignetste Mittel, sich auszudrücken, denn die Sprache vermag alle Modifikationen der Vorstellung unmittelbar aufzunehmen und wiederzugeben, weshalb die Alten sogar zu dem Extreme fortgegangen sind, ihre Schauspieler mit Masken vor dem Gesicht auftreten zu lassen und so, mit dieser unbeweglichen Charakterphysiognomie sich begnügend, auf das lebendige Mienenspiel der Darsteller gänzlich zu verzichten“ (Enz. § 411, Z).

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3.1 Die sprachliche Äußerung als „Rückkehr zum Sein“ des Geistigen Bereits seit den ersten Jenaer Systementwürfen fasst Hegel die Sprache als wesentliches Moment der selbstbestimmenden Bewegung auf, durch die der erkennende Geist wahres Wissen gewinnt.21 Nach wiederholten Änderungen und Ergänzungen innerhalb dieses Teils seines Systems, versteht Hegel den Erkenntnisprozess schließlich als eine Bewegung, die sich in verschiedenen Momenten artikuliert. Anschauung, Vorstellung und Denken sind die Hauptmomente wobei sich jeder seinerseits wiederum in drei Tätigkeiten unterteilt. Alle aber sind auf dasselbe Ziel gerichtet, das Wahre als Selbsterkenntnis des Geistes zu erkennen. Für Hegel ist es entscheidend, dass der Erkenntnisprozess als einheitliche Tätigkeit der Intelligenz begriffen wird, statt als Aggregat aus verschiedenen, voneinander unabhängigen Funktionen. Wäre letzteres der Fall, würde der Prozess die Notwendigkeit vermissen lassen, die laut Hegel jedoch ganz essentiell ist. Auch diejenigen Vermögen oder Kräfte, die normalerweise als verschiedene Fähigkeiten des Geistes bezeichnet werden (wie Anschauung, Erinnerung, Einbildungskraft, Gedächtnis usw.), sind nach Hegel nur als Momente derselben denkenden Tätigkeit der Intelligenz zu begreifen. Jeder Moment, also auch die Sprache, kann demnach nicht von diesem Prozess isoliert werden, weil dessen Funktion erst als Teil dieses Erkenntnisprozesses verstanden werden kann. Hegels Psychologie unterscheidet sich daher sowohl von der empirischen als auch von der rationalen Psychologie, wie sie innerhalb der Wolff-Schule begriffen wurde. Er unterscheidet sich von beiden, insofern er seine Psychologie als „philosophische“ bezeichnet, d. h. als eine Untersuchung, die sich nicht damit begnügt, Gegebenes zu beschreiben, sondern die eine „vernünftige“ oder „spekulative Betrachtungsweise“ der Tätigkeit des denkenden Geistes sein will.22

21 Bereits im ersten Jenaer Systementwurf (1803/04), als Hegel noch eine Auffassung des Geistes als Organisation von Mitteln oder Potenzen vertrat, hatte er die Sprache als „gebundene Existenz des Bewusstseins als Mitte“ bezeichnet (G.  W.  F. Hegel, Jenaer Systementwürfe I. Das System der spekulativen Philosophie. Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten zur Philosophie der Natur und des Geist. 1803/04, GW 6, 277). Zwei Jahre später, als Hegel seine Philosophie des Geistes als selbstbestimmende Bewegung des Geistes wiederformuliert, wird die Sprache als das Moment beschrieben, in dem die Innerlichkeit zum Sein kommt (G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Vorlesungsmanuskripte zur Realphilosophie. 1805/06, GW 8, 189). Zu Hegels Konzeption der Sprache in der Jenaer Zeit siehe Birgit Sandkaulen, „‚Esel ist ein Ton.‘ Das Bewusstsein und die Namen in Hegels Jenaer Systementwürfen von 1803/04 und 1805/06“, in: Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels, hg. v. Heinz Kimmerle, Berlin 2004, 149–163. 22 Zu Hegels Konzeption von einer „philosophischen Psychologie“ siehe: Leo Lugarini, „Die

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Die erkennende Tätigkeit der Intelligenz besteht im Wesentlichen darin „das Gefundene als ihr eigenes zu setzen“ (Enz. § 445). Begonnen wird mit den Anschauungsbestimmungen, die die Intelligenz als Gegebene vorfindet und auf deren Aneignung der Erkenntnisprozess schließlich zielt. Auf ganz ähnliche Weise wie wir es bereits bei der empfindenden Seele kennengelernt haben, wird dieses Ergebnis durch eine doppelte Bewegung erreicht: Auf der einen Seite gestaltet der Geist aus dem äußeren Dasein ein Inneres, Eigenes  – dies ist der Prozess, den Hegel als Innerlichmachung des Daseins definiert. Auf der anderen Seite muss sich der Geist als dieses Andere setzen, sich als äußere Sache bestimmen – ein Prozess, der sich durch die Sprache vollzieht und den Hegel Versachlichung des Inneren nennt. Um die Einheit von Subjektivität und Objektivität als Intelligenz zu verwirklichen und sich als freie in dieser Einheit zu offenbaren, ist es daher unzureichend, nur das äußere Sein innerlich zu machen. Die Intelligenz muss ebenso ihre Innerlichkeit als Seiende setzten. Diese doppelte Bewegung der Intelligenz kann verkürzt wie folgt beschreiben werden. Die Innerlichmachung des Gegebenen vollzieht sich vermittelt durch Erinnerung und Einbildungskraft. Die Intelligenz erschafft Bilder-Kopien des Äußerlichen und macht damit aus dem sinnlich Gegebenen ein Innerliches. Erst so steht es ihr zur Verfügung in dem Sinn, dass sie es frei bestimmen und bearbeiten kann. Eingeschlossen in ihrer Innerlichkeit, bewahrt die Intelligenz so eine Welt auf, die nur für sie ist. Gleichwohl kann diese aber nach Hegel nur eine subjektive Welt sein, die der Objektivität entbehrt. Durch diese Beschränkung ergibt sich für die Intelligenz die Notwendigkeit, ihren Inhalt auszudrücken, sich zu offenbaren und objektiv zu machen. Wir finden hier eine semiotische Tätigkeit der Intelligenz vor, die sie durch die „zeichenmachende“ Einbildungskraft und das Gedächtnis auszuführen in der Lage ist. Indem sie eine Verbindung zwischen ihrem inneren Inhalt und einem äußerlichen Zeichen herstellt, erhebt die Intelligenz ihre Innerlichkeit zu etwas Seiendem, zur Sache. Für diese erste konkrete Einheit von Sein und Denken gebraucht Hegel die Bezeichnung „Namen“. Indem Namen zur Sache geworden sind, erweist sich die Sache als allgemeines Denkprodukt der Intelligenz. An dieser Stelle finden wir die Hauptbedeutung der Sprache für Hegels Philosophie, die er ihr bereits in Jena zuschreibt: als System

‚vernünftige Betrachtungsweise‘ des Geistes“, in: Hegels philosophische Psychologie, hg. v. Dieter Henrich, 141–158; Ders., „La riforma hegeliana della psicologia“, in: Il Pensiero 19 (1974), 1–19; Klaus Düsing, „Endliche und absolute Subjektivität. Untersuchungen zu Hegels philosophischer Psychologie und zu ihrer spekulativen Grundlegung“, in: Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“, hg. v. Lothar Eley, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 33–58.

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von „als seyend aus dem Ich heraus gebohren[en]„ Gegenständen, ist die Sprache „die erste Schöpferkrafft, die der Geist ausübt“.23 Während also der Prozess des Innerlichmachens in einer Bestätigung der denkenden Subjektivität über das äußere Sein besteht, stellt die sprachliche Äußerung des Inneren eine „Rückkehr zum Seyn“ dar.24 Nur auf Grund dieser doppelten Richtung in der geschilderten Bewegung – das „Insichgehen“ und die Veräußerlichung – hebt der Geist durch seine Tätigkeit sowohl das Anderssein des sinnlich Gegebenen also auch die Subjektivität der Innerlichkeit auf und gewinnt schließlich das Wissen der Beziehung, die Sein und Denken vereint. Die Notwendigkeit dieser zweiten Äußerungsbewegung zur Erlangung wahren Wissens unterscheidet die Hegelsche Philosophie des subjektiven Geistes von anderen Erkenntnislehren und zeichnet sie ihnen gegenüber aus. Weder Aristotles noch Kant – um nur die Hauptfiguren zu nennen auf die sich Hegel hier bezieht – schreiben der Sprache und der Selbstoffenbarung im Allgemeinen eine so grundlegende Aufgabe im Erkenntnisprozess zu. Dagegen ist nach Hegel die Äußerung des inneren Inhalts nicht gleichgültig gegenüber diesem Inhalt. Im Gegenteil spielt die Selbstoffenbarung eine wesentliche Rolle im Erkenntnisprozess. Wie wir im Folgenden ausführlicher diskutieren werden, sind die zwei wesentlichen Ergebnisse dieser „Rückkehr zum Sein“ des Geistes i) die Negation der Unabhängigkeit des sinnlichen Seins von dem denkenden Geist und ii) die „Objektivierung“ des Gedankeninhalts. Beide tragen dazu bei, dass sich der Geist als Einheit des Seines und des Denkens wissen kann.

3.2 Die „Ertötung“ des unabhängigen sinnlichen Daseins und die Aufhebung der Mimesis Der sprachliche Ausdruck nimmt – so wie die anderen Formen der Selbstoffenbarung – verschiedene mögliche Gestaltungen an, in der sich der Geist mehr oder weniger angemessen selbst manifestiert. Eine noch recht simple Art des Subjekts,

23 GW 8, 190. 24 GW 8, 189. Für eine detaillierte Untersuchungen des Prozesses, der hier nur kurz beschrieben ist, siehe: Willem deVries, Hegel’s Theory of Mental Activity. An Introduction to Theoretical Spirit, Ithaca, NY 1988; Richard Dien Winfield, Hegel and Mind. Rethinking Philosophical Psychology, Houndmills 2010. Siehe auch Josef Simon, „Zeichenmachende Phantasie. Zum systematischen Zusammenhang von Zeichen und Denken bei Hegel“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), 254–270; Hans Friedrich Fulda, „Vom Gedächtnis zum Denken“, in: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, hg. v. Franz Hespe und Burghard Tuschling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 321–360.

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sich auszudrücken, besteht in der Etablierung einer mimetischen Beziehung zwischen dem Dasein des äußerlichen Zeichens und der inneren Vorstellung, die es ausdrücken soll. Dies ist der Fall bei Symbolen, die, im Gegensatz zu Zeichen, eine Ähnlichkeit mit ihrer Bedeutung besitzen – „So wird zum Beispiel die Stärke Jupiters durch den Adler dargestellt, weil dieser dafür gilt, stark zu sein“ (Enz. § 457, Z). Dieselbe mimetische Beziehung wird in den hieroglyphischen Sprachen eingesetzt. Anders als die alphabetischen basieren sie auf der Annahme, dass das Wissen wesentlich als Mimesis der äußeren Gegebenheit operiert und deswegen seine beste Äußerung in der mimetischen Darstellung von Symbolen, findet. Die Widerlegung genau dieser Annahme macht sich Hegels philosophische Psychologie zum Ziel. Hegel will zeigen, inwiefern Erkenntnis nicht das Ergebnis einer inneren, identischen Reproduktion des Gegebenen ist. Es geht vielmehr um einen Prozess, den wir als den schon genannten Prozess der Aneignung des Anderen verstehen können. Dabei bringt das Denken das Gegebene unter seine Gewalt, hebt seine Besonderheit auf und erkennt darin sein allgemeines Wesen. Bereits das Objekt der Vorstellung ist nicht eine einfache Bild-Kopie eines besonderen Daseins, sondern das Produkt der Subsumtion mehrerer Anschauungen unter eine allgemeine Vorstellung  – so ist z.  B. die Vorstellung der roten Farbe das „Gemeinsame“ von verschiedenen Gegenständen (die Rose, der Sonnenuntergang, usw.), das die Intelligenz frei erzeugt hat. Wie Hegel selbst sagt: obwohl „das dem Bilde angehörende Besondere ein Gegebenes“ sei, komme aber „die Zerlegung der konkreten Einzelheit des Bildes und die dadurch entstehende Form der Allgemeinheit […] von mir her“ (Enz. § 456, Z). Daher ist der Inhalt der Vorstellung nie die einfache Kopie des Gegebenen – auch wenn es die Vorstellung eines sinnlichen Gegenstandes ist –, sondern er ist das Gedankenobjekt, das durch die denkende Tätigkeit der Intelligenz erschaffen wurde. Die Vorstellung hebt daher die Bild-Kopie auf. Erst mit der Verwendung von Namen als willkürlichen und abstrakten Zeichen ist das Subjekt in der Lage, seine allgemeinen und bildlosen Vorstellungen am besten ausdrücken. Erst durch sie kann sich das Subjekt frei auf sein Gedankenobjekt beziehen, ohne dabei auf die Anschauung der Sache zurückgreifen zu müssen: „Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solchen Tieres noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung“ (Enz. § 462, A). Es ist „in Namen, dass wir denken“, und nicht in Bildern, wie eine schon bei Aristoteles zu findende These lautet.25 Durch seine Verbindung mit der Anschauung reproduziert

25 Vgl. Aristoteles: „Die Denkkraft denkt die Formen an Hand von Vorstellungsbildern“, oder auch: »wenn man etwas erfasst, muss man es zugleich mit einem Vorstellungsbild erfassen“ (De

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das Bild eine mimetische Beziehung mit dem Sinnlichen. Dagegen stellt das vom Ich willkürlich gesetzte Dasein des Zeichens keine unmittelbare Verbindung mit seiner Bedeutung her. Das „Reich der Namen“ ist im Gegensatz zum „Reich der Bilder“ keine innerliche Kopie der sensiblen Welt, sondern es ist eine Welt, in der das Subjekt der freie „Träger“ ist, eine Welt, die dem Menschen als seinige gehört.26 Aus diesem Grund hält Hegel das sprachliche Zeichen für eine höhere Manifestation als das mimetische Symbol.27 Je mehr der Geist Herrschaft über sein Wissen besitzt, umso weniger braucht er auf die sinnliche Bestimmung seines Objekts zu verweisen. Deswegen ist Hegel der Auffassung, dass dem mimetischen Element der Sprache eine zu große Bedeutung zugestanden wurde. Hegel leugnet zwar nicht, dass in jeder Sprache viele onomatopoetische Worte vorkommen, die die natürlichen Töne einer Sache imitieren (Rauschen, Sausen, Knarren usf.). Auch leugnet er nicht, dass eine Untersuchung im Rahmen einer Sprachgeschichte noch weitere mimetische Elemente identifizieren kann. Seiner Ansicht nach aber findet sich die konstitutive Bedeutung der Sprache für den Geist gerade nicht in diesen mimetischen Elementen. Die Stärke der Verwendung von Zeichen  – im Gegensatz zum Bild oder zum Symbol – besteht genau darin, dass sich durch die Zeichen eine „Ertötung“ des unabhängigen Daseins vollzieht.28 „Die Anschauung, als unmittelbar zunächst ein Gegebenes und Räumliches, erhält, insofern sie zu einem Zeichen gebraucht wird, die wesentliche Bestimmung, nur als aufgehobene zu sein“. Der Geist vermag dies durch seine „zeichenmachende Kraft“. Durch ihre Anwendung hat das sinnliche Dasein keine Bedeutung mehr als unabhängiges Sein, sondern es ist als Manifestation des Geistes gesetzt. So verlieren auch die anthropologischen Bestimmungen an Bedeutung – die Töne der Stimme, die Lippengebärde, Gaumen-, Zungengebärde  –, die das Lexikalische, das physiologische Material

Anima III 7, 431 b 2; 8, 432 a 10). Vgl. auch: De Anima I, 1, 403 a 8; III 7, 413 a 16–17; De memoria 450 a 1. Darüber: Alfredo Ferrarin, Hegel and Aristotle, Cambridge 2001, 287–308. Die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen Namen und Bildern im Hinblick auf das Wirken des Denkens wurde auch bei Humboldt betont (vgl. Wilhelm v. Humboldt, „Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classiche Alterthum“ (1806), in: Gesammelte Schriften, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin 1903 ff., Bd. 3, 166–170). 26 „Ich ist ganz allein der Träger, Raum, Substanz dieser Nahmen“ (GW 8, 191–192). 27 Das gleiche gilt für die Schriftsprache. Die alphabetischen Sprachen stellen nach Hegel eine höhere Stufe der geistigen Entwicklung eines Volks dar als die hieroglyphischen Sprachen. Die Hieroglyphenschrift bezeichnet die Vorstellungen durch räumliche Figuren, die Buchstabenschrift hingegen durch abstrakte Zeichen, die für Töne stehen (Enz. § 459, Z). 28 „Die Sprache ist Ertödtung der sinnlichen Welt in ihrem unmittelbaren Dasein, das Aufgehobenwerden derselben zu einem Dasein, welches ein Aufruf ist, der in allen vorstellenden Wesen wiederklingt“ (Nürnberger Schriften, GW 10.1, 437, § 159).

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der Sprache notwendigerweise betreffen. Der Geist, der sich in einer vermittelnden Einheit mit seiner Leiblichkeit weiß, lässt sich nicht von diesen anthropologischen Bestimmungen bedingen. Er ist jetzt in der Lage, von ihnen abzusehen. In der Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens sieht Hegel keine Abweichung von ihrer ursprünglichen Form, sondern den Geist in Ausübung seiner Freiheit.29 Gerade durch diese willkürliche Natur sprachlicher Zeichen kann der Geist seine Herrschaft über das Sein ausüben und es sich aneignen. Der Geist ist somit frei darin, die einzelnen Namen mit anderen zu verbinden, ohne anderen Regeln außerhalb der Logik seines Denkens zu folgen. Bei einer geschichtlichen Untersuchung der Entwicklung einer Sprache sei entsprechend statt auf das materielle eher auf das formelle Element einer Sprache zu achten, d. h. auf die logisch-grammatischen Verbindungen zwischen Namen, weil hier „das Werk des Verstandes, der seine Kategorien in sie einbildet“ zu finden ist. Insbesondere zeige sich der logische Instinkt eines Volkes in dem komplexeren und lebendigen Verhältnis der Sprache zum Denken, und nicht in der abstrakten Grammatik.30 In der Sprache findet der subjektive Geist seine höchste und angemessene Äußerung. Das sprachliche Zeichen stellt nämlich genau jenen Moment dar, in dem der erkennende Geist vollständig das äußere Sein in Besitz nimmt und in dem er den in der Anthropologie angefangen Kampf mit dem natürlichen Dasein gewinnt. Im Namen findet die Intelligenz zum ersten Mal ein von ihr nicht unabhängiges Dasein, das sie als ihr eigenes Produkt erschaffen hat: die allgemeine

29 In diesem Punkt unterscheidet sich Hegels Verständnis der Sprache deutlich von derjenigen einiger seiner Zeitgenossen. So war z. B. für Herder oder auch für Fichte das Studium der Geschichte einer Sprache ein wichtiges Moment ihrer philosophischen Untersuchung, weil es ihre ursprüngliche Natur zu erkennen erlaubt. Vgl. Johann Gottfried Herder, „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, in: Werke in zehn Bänden, hg. v. Martin Bollacher u. a., Bd. 1, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/Main 1985, 746; vgl. auch Johann Gottlieb Fichte, „Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache“, in: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Abt. 1, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, 93–127. Dagegen interessiert sich Hegel nicht für die Kontinuität zwischen mimetischen und willkürlichen oder abstrakten Zeichen. Was für Hegel philosophisch relevant ist, ist im Gegenteil deren Unterschied, weil sich hier die Freiheit des Geistes vom Sinnlichen erweist. 30 In Bezug auf die Verbindung zwischen Sprache und Denken bezieht sich Hegel auf Humboldts Studien, die gezeigt hatten, inwiefern die Überlegenheit einer Sprache nicht in der Grammatik allein gesehen werden sollte, sondern in dem Verhältnis der Sprache zum Denken, mit dem Geist eines Volks; vgl. Wilhelm von Humboldt, „Über das Entstehen der grammatischen Formen, und ihre Einfluss auf die Ideenentwicklung. Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 27. Januar 1822“, in: Gesammelte Schriften, a. a. O. (Anm. 24), Bd. 4, 285–313; W. v. Humboldt, „Über den Dualis“, in: Ebd., Bd. 6, 4–30. Zum Verhältnis von Sprache und Denken und zur Rolle der Sprache für die Aufhebung des naiven Realismus siehe: Lucia Ziglioli, „Linguaggio e oggettività in Hegel“, in: Rivista di filosofia (2014) 2, 223–246.

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Vorstellung der Sache. „Der Name ist so die Sache, wie sie im Reiche der Vorstellung vorhanden ist und Gültigkeit hat“ (Enz. § 462). Dies ist eine Weise des Geistes, die Äußerlichkeit der Natur aufzuheben, seine Herrschaft über sie auszuüben und darin mit sich identisch zu werden.

3.3 Die Objektivierung des Geistes Aus dem bisher Gesagten sollten wir nicht schließen, dass die Bedeutung der Selbstoffenbarung des Geistes nur darin bestehen würde, dass der Geist durch sie seine Opposition zum Sein aufheben kann. Das ist nur ein, gleichwohl sehr wichtiges, Ergebnis der Tätigkeit der Selbstoffenbarung des Geistes. Wenigstens genauso wichtig ist ein anderer Aspekt, den die Äußerung des Innerlichen impliziert: dass nämlich dadurch die innere Vorstellung der Intelligenz und ihre Innerlichkeit im Allgemeinen Objektivität gewinnen. Für das Subjekt stellt die Bewegung der Äußerung auch eine Befreiung von der eigenen Innerlichkeit dar: indem sie dem Subjekt seine unmittelbaren Stimmungen und inneren Vorstellungen gegenständlich zu machen erlaubt, übt sie auch eine Art befreiende Funktion aus. Das Singen, das Dichten, im Grunde jeder Ausdruck der Innerlichkeit, erlaubt es dem Subjekt, sich von seinem inneren Inhalt zu trennen und ihn zu einem Gegenstand zu machen.31 Dadurch setzt der Geist seine subjektive Innerlichkeit als allgemein und objektiv. Sie wird somit unabhängig von der Willkür des Einzelnen und kann genauso für Andere gelten („Nahmen ist befestigtes Zeichen; bleibende Beziehung, eine allgemeine  – Ich hat seine Willkühr in seinem Seyn aufgegeben; sich als allgemeines gesetzt“32). Indem der Geist aus seiner innerlichen Subjektivität tritt und sich zu seinem Gegenstand macht, gewinnt er das Wissen von sich im Sinne der Selbsterkenntnis, mit der Hegel seine Philosophie des Geistes einleitete. Und genau darin besteht die zweite wesentliche Funktion, die laut Hegel der Sprache im Erkenntnisprozess zukommt. In Jena bezeichnet Hegel den Übergang vom inneren Reich der Bilder zum mitteilbaren Reich der Namen als das „Erwachen“ des Geistes aus der Nacht seiner Innerlichkeit.33 Diese Bewegung kennen wir bereits aus unserer

31 In den Zusätzen betont Hegel die Befreiungsfähigkeit der Selbstäußerung, wie sie in der Dichtung und in der Schrift im Allgemeinen deutlich wird: „So wissen wir zum Beispiel, daß, wenn jemand imstande ist, die ihn überwältigenden Gefühle der Freude oder des Schmerzes etwa in einem Gedichte sich anschaulich zu machen, er das, was seinen Geist beengte, von sich abtrennt und sich dadurch Erleichterung oder völlige Freiheit verschafft“ (Enz. § 448, Z; vgl. Enz. § 401, Z). 32 GW 8, 193. 33 „Jenes Reich der Bilder ist der träumende Geist, der mit einem Inhalte zu thun hat, der keine

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Untersuchung der Verleiblichung der Seele. Auch dort wurde der Leib zum Zeichen der Innerlichkeit, durch das sich die Seele allererst ihrer Individualität bewusst werden konnte. Das Subjekt muss seine Innerlichkeit ausdrücken, um sich seiner selbst bewusst zu sein. Die Korrelation Selbstoffenbarung-Selbstbewusstsein, die hier die Form Sprache-Erkenntnis angenommen hat, verweist auf einen ganz zentralen Gedanken Hegels, der sich an mehreren Stellen innerhalb seines Systems findet: die These, dass es kein unmittelbares, privates oder unaussprechliches Wissen gibt, auch nicht von sich selbst. Wahres Wissen ist immer objektiv, allgemein und deswegen auch stets ausdrückbar. Das Subjekt muss sich notwendigerweise von seinem inneren Inhalt trennen und ihn zu seinem Gegenstand machen. Erst als Gegenstand ist der Inhalt nicht mehr nur vorgefunden, sondern zu etwas geworden, das eine eigene Subsistenz hat: Wir wissen von unseren Gedanken nur dann, haben nur dann bestimmte, wirkliche Gedanken, wenn wir ihnen die Form der Gegenständlichkeit, des Unterschiedenseins von unserer Innerlichkeit, also die Gestalt der Äußerlichkeit geben, und zwar einer solchen Äußerlichkeit, die zugleich das Gepräge der höchsten Innerlichkeit trägt. Ein so innerliches Äußerliches ist allein der artikulierte Ton, das Wort (Enz. § 462, Z).

In dem offenbaren, gedachten Gegenstand findet das Subjekt jetzt die Einheit von Sein und Denken, die es erkannt und in der Wirklichkeit gesetzt hat. Die erkennende Intelligenz wird zu einer wiedererkennenden (Enz. §  465), weil sie sich selbst im Gegenstand wieder findet. Sie hat sich zum Denken erhoben und weiß sich in ihrem Wissen frei von der Abhängigkeit vom Äußeren. Hegel sagt, sie habe sich als die Wahrheit der Natur bewiesen. „Ihr Produkt, der Gedanke ist die Sache; einfache Identität des Subjektiven und Objektiven. Sie weiß, daß, was gedacht ist, ist; und daß, was ist, nur ist, insofern es Gedanke ist“ (Enz. § 465).34 Für den denkenden Geist sind daher die Idealisierung des Seins und die Versachlichung des Denkens immer intrinsisch miteinander verwoben.

Realität, kein Daseyn [hat] – sein Erwachen ist das Reich der Nahmen; hier ist zugleich die Trennung, er ist als Bewußtseyn; itzt haben seine Bilder erst Wahrheit“ (GW 8, 190). 34 Hier schließt sich die Frage nach der Objektivität des Denkens an. Für Hegel ist die Wahrheit des Denkens nicht nur „subjektiv“ und gilt nicht nur für das denkende Subjekt, sondern wahr sind die Sachen, wie sie in-sich sind. Er bestreitet einen epistemischen Dualismus für das Denken, das weiß was wirklich ist. Dazu siehe den Vorbegriff zur Enzyklopädie (Enz. §§ 19–25). Zur Objektivität des Denkens siehe Walter Jaeschke, „Objektives Denken. Philosophiehistorische Erwägungen zur Konzeption und zur Aktualität der spekulativen Logik“, in: The Independent Journal of Philosophy, 3 (1979), 23–36; Christoph Halbig, Objektives Denken. Erkenntnistheorie und Philosophy of Mind in Hegels System, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002; Paolo Livieri, Il pensiero dell’oggetto. Il problema dell’oggettività nella Scienza della logica di Hegel, Trento 2012.

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4 Schlussbemerkungen: Der absolut geoffenbarte Geist Durch die hier vorgestellte Analyse sollte deutlich geworden sein, dass die Bestimmung des Geistes sich im Seienden zu manifestieren nicht einen isolierten Moment der Entwicklung des Geistes darstellt, sondern einen zentralen Aspekt der gesamten Geistestätigkeit. Wie Hegel selbst betont, ist der Geist nicht ein vor seinem Erscheinen schon fertiges, mit sich selber hinter dem Berge der Erscheinungen haltendes Wesen, sondern nur durch die bestimmten Formen seines notwendigen Sichoffenbarens in Wahrheit wirklich, – und nicht (wie jene Psychologie meinte) ein nur in äußerlicher Beziehung zum Körper stehendes Seelending, sondern mit dem Körper durch die Einheit des Begriffs innerlich verbunden (Enz. § 378, Z).

Der subjektive Geist ist die denkende Tätigkeit, die aus der Natur entsteht und die ihre höchste Verwirklichung darin findet, sich als die Wahrheit der Natur zu wissen und in ihr ihre Freiheit zu affirmieren. Der Geist erreicht das, wenn er weiß, dass das äußere Dasein eine besondere und doch notwendige Manifestation des Geistes selbst ist. Natürlich ist jede Manifestation des Geistes notwendigerweise ein bestimmtes und endliches Dasein, das dem allgemeinen und dynamischen Wesen des Geistes zu widersprechen scheint. Dies gilt  – in unterschiedlichem Maße  – für alle Manifestationen des Geistes: in seiner Leiblichkeit, in der Sprache, sogar noch in seinen Handlungen und Werken. Indem er sich offenbart, macht sich der Geist zur Sache, zu etwas Endlichem, das notwendigerweise dazu bestimmt ist, zu verschwinden. Dies ist die „Zweideutigkeit“ zwischen Offenbarung und Entfremdung, die jede Manifestation des Geistes mit sich brachte,35 eine Zweideutigkeit, die aber zum Geist selbst gehört: „Das Andere, das Negative, der Widerspruch, die Entzweiung gehört also zur Natur des Geistes“ (Enz. §  382, Z). Nur dadurch kann er sich als konkretes Allgemeines oder als Totalität verwirklichen und wissen. Wie Hegel schreibt: Der Geist verliert sich nicht in diesem Anderen, erhält und verwirklicht sich vielmehr darin, prägt darin sein Inneres aus, macht das Andere zu einem ihm entsprechenden Dasein,

35 In der Phänomenologie verweilt Hegel bei der Zweideutigkeit der Äußerung des Geistes. Er nennt die Beispiele der Sprache und der Arbeit: „Man kann darum ebensosehr sagen, daß diese Äußerungen das Innere zu sehr, als daß sie es zu wenig ausdrücken“. Zu sehr, weil sie unmittelbar das Innere darstellen, zu wenig, „weil das Innere in Sprache und Handlung sich zu einem Anderen macht, so gibt es sich damit dem Elemente der Verwandlung preis“ (GW 9, 173).

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kommt also durch diese Aufhebung des Anderen, des bestimmten wirklichen Unterschiedes, zum konkreten Fürsichsein, zum bestimmten Sichoffenbarwerden (Enz. § 383, Z).

Auf Grund der Endlichkeit jedes sinnlichen Seins gibt es keine einzelne Manifestation, in der der Geist seine volle Offenbarung finden kann; der Geist ist vielmehr die Tätigkeit, sich immer wieder zur Manifestation zu bringen, sich immer wieder in seiner Welt zu offenbaren. Wie wir zu zeigen versucht haben, ist sie gleichzeitig die Tätigkeit des Erkennens und der Befreiung des Geistes, der sich am Ende des gesamten Prozesses als frei in seiner Welt verwirklicht wissen wird. Aus einer weiteren Perspektive können wir das gesamte Hegelsche System als eine Bewegung der Selbstoffenbarung des Geistes oder der absoluten Idee verstehen. Das Wahre – alles was ist – ist nach Hegel „die ewige an und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt“ (Enz. § 577). Dies ist der Geist als der „absolut offenbar[e]“, der aus dem Anderssein der Natur als erkennender Geist zurückgekommen ist. Schließlich hat er als objektiver Geist die erkannte Einheit des Denkens und Seins als Realität gesetzt und in einem weiteren Schritt als absoluten Geist verwirklicht, d. h. als der Geist „in an und für sich seiender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes und seiner Idealität“ (Enz. § 385). Diese ist die „höchste Definition des Absoluten […], dass dasselbe nicht bloß überhaupt der Geist, sondern dass es der sich absolut offenbare, der selbstbewusste, unendlich schöpferische Geist ist“ (Enz. § 384, Z).

Marc Rölli

Die Idee des Lebens Zu Hegels Verortung der Anthropologie in der Wissenschaft der Logik1 Im 1816 erschienenen zweiten Teil der Wissenschaft der Logik, der sich mit der subjektiven Logik des Begriffs befasst, kommt Hegel nach den im engeren Sinne begriffslogischen Analysen auf die Objektivität zu sprechen, in deren Durchgang sich die Idee und absolute Idee vorbereitet, die als (absolute) Einheit von Begriff und Realität verstanden wird.2 Es hat verwundert und ist auf Kritik gestoßen, dass Hegel gegen Ende der Logik im Rahmen einer noch einmal zum Gegenstand gemachten ‚Objektivität‘ scheinbar naturphilosophische Themen (Mechanismus, Chemismus) abhandelt.3 Auch die im Anschluss an das Objektivitätskapitel diskutierte „Idee des Lebens“ scheint in den Bereich einer Philosophie der Natur zu gehören und daher fehl am Platze zu sein.4 Tatsächlich sind aber die Diskursgrenzen und ihre gegenständlichen Differenzen nicht kongruent: Vom ‚Leben‘ ist hier und dort die Rede, eine genuin logische Bestimmung kann seine Bedeutung in anderen, z. B. naturphilosophischen Zusammenhängen entfalten. Das Leben, das innerhalb der Logik zum Thema gemacht wird, unterscheidet sich nach Hegel von den anderen wissenschaftlichen Behandlungsarten des Lebens als „Naturleben“ und „Leben des Geistes“.5 Während das logische Leben

1 Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Kapitels aus Marc Rölli, Kritik der anthropologischen Vernunft, Berlin 2011, 174–185. 2 Vgl. TWA 6, 402 ff. 3 Vgl. Heinrich Christoph Wilhelm von Sigwart, Vermischte philosophische Abhandlungen. Bd. 2: Kritik von Hegel’s Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, nach der zweiten Ausgabe, Tübingen 1831, 133 ff.; Karl Rosenkranz, Epilegomena zu meiner Wissenschaft der logischen Idee. Als Replik gegen die Kritik der Herren Michelet und Lassalle, Königsberg 1862, 117 ff. 4 Vgl. Vittorio Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Darmstadt 1998, 239 ff., der die „Objektivität und Idee des Lebens“ in einem Kapitel zusammenstellt. Er betont, dass „[g]erade die ‚Idee des Lebens‘ […] nichts anderes [ist] als eine Kurzfassung der ‚Organik‘ […].“ Ebd., 247. Hegel hat das Anstößige seines Vorgehens im Voraus bezeichnet: „Die Idee des Lebens betrifft einen so konkreten und, wenn man will, reellen Gegenstand, daß mit derselben nach der gewöhnlichen Vorstellung der Logik ihr Gebiet überschritten zu werden scheinen kann.“ TWA 6, 469. 5 Vgl. Hans Friedrich Fulda, „Hegels Logik der Idee und ihre epistemologische Bedeutung“, in: Hegels Erbe, hg. v. Chr. Halbig, M. Quante und L. Siep, Frankfurt/Main 2004, 78–137, hier 87 ff.

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nur begriffliche Voraussetzungen kennt, bezieht der naturphilosophische Diskurs das Leben auf Voraussetzungen positiven Daseins einer unorganischen Natur „als Mannigfaltigkeit wirklicher Gestaltungen“.6 Erreicht die Natur die Bestimmung des Lebens, so kommt sie in die Nähe ihrer Wahrheit und damit gleichzeitig an ihre Grenzen. Dagegen findet der Begriff in der Logik mit der Idee des Lebens erstmals eine „ihm wahrhaft entsprechende Äußerlichkeit“. Ähnlich liegen die Dinge im Verhältnis der logischen Idee des Lebens zu ihren Bestimmungen in der Philosophie des Geistes. Auch in diesem Fall wird auf ein natürliches Leben Bezug genommen oder aber auf vorausgesetzte geistige Zwecke und Tätigkeiten –, und so enthält das Leben „eine Bestimmtheit seiner Äußerlichkeit“. Dagegen ist die „Idee des Lebens für sich […] frei von jener vorausgesetzten und bedingenden Objektivität sowie von der Beziehung auf diese Subjektivität“.7 Ein Grund für die eigentümliche logische Unmittelbarkeit des zu Beginn des Ideenkapitels verhandelten Lebens liegt in Hegels Ablehnung einer bloß formellen oder auch angewandten Logik. Sie ergibt sich aus dem Durchgang durch die Objektivität, die in der spekulativen Fassung des teleologischen Denkens terminiert. Hiermit führt Hegel mehrere Gedankenstränge in der Idee des Lebens zusammen. Zum einen vollendet sich in ihr die dialektische Transformation des von Kant aufgestellten Begriffs der Zweckmäßigkeit lebender Organisationen, die sich im Begriff des ausgeführten Zwecks realisiert, indem sie ihre endlich begrenzte, lediglich ‚als ob‘ geltende Bedeutung überschreitet. „Dieser realisierte Zweck ist die Idee.“8 Im Zuge dieser Transformation erweist sich Schellings identitätsphilosophischer Denkansatz als wegweisend. Zwar erfolgt die Versöhnung des Gegensatzes auf logischem Terrain, im Zeichen der absoluten Negativität, die in sich die spinozistische Differenz der Natur als wesenslogische aufhebt, gleichwohl bewahrt sich in der Einführung der Idee das von Schelling entwickelte und über Kant hinausgreifende Verständnis einer inneren und doch objektiven Zweckmäßigkeit des Lebens.9

6 „In der Idee des Lebens [erhalten] die Momente seiner Realität nicht die Gestalt äußerer Wirklichkeit, sondern bleiben in die Form des Begriffes eingeschlossen.“ TWA 6, 471. 7 Vgl. TWA 6, 471, 472. 8 GW 13, 95, § 155, Erläuterung: „Mit dem Begriff der innern Zweckmäßigkeit hat Kant die Idee überhaupt und insbesondere die des Lebens erweckt.“ Freilich bleibt der endliche Zweck ein Begriff des äußerlichen Verstandes, dennoch bahnt sich in der Kritik der teleologischen Urteilskraft eine restlose Vermittlung von Begriff und Dasein an, die sich in der Idee, so Hegel, vollendet. Vgl. Dieter Wandschneider, „Anfänge des Seelischen in der Natur in der Deutung der Hegelschen Naturphilosophie und in systemtheoretischer Rekonstruktion“, in: Hegel und die Naturwissenschaften, hg. v. M. J. Petry, Stuttgart 1987, 443–467, hier 443 ff. 9 Vgl. Marie-Luise Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, Berlin 1986.

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Zum anderen wird die Kritik an einem verstandeslogischen, in Vorstellungen befangenen Denken auf die Spitze getrieben. Demnach entzieht sich das Leben als Idee einer formell logischen Auffassung, die ihre Begriffe als subjektive Abstraktionen den wirklich existierenden Dingen entgegensetzt. „Am Leben […] gehen dem Denken, das sich an die Bestimmungen […] des formalen Begriffes hält, […] alle seine Gedanken aus.“10 Dem vorstellenden Denken des Verstandes erscheint die Allgemeinheit des Einfachen in der objektiven Mannigfaltigkeit als „absoluter Widerspruch“ und „unbegreifliches Geheimnis“, das es aber nicht leugnen kann, weil es in der Wahrnehmung des Lebendigen faktisch vorliegt.11 In der Idee des Lebens objektiviert sich die subjektive Zweckmäßigkeit, so dass das wirkliche Dasein vom Begriff als seine immanente Substanz durchdrungen ist. Als einfache Beziehung auf sich selbst ist das Leben allgemein beseelt, indem es die „Identität des Begriffes und der Objektivität“ behauptet. Es ist der Trieb, sich von sich zu unterscheiden, und das Unterschiedene „unter die Gewalt des Subjekts zurückzubringen“. In der ersten Phase dieses Prozesses, der mit der Identität der Idee zusammenfällt, ist die objektive Realität – die „unorganische Natur“ der Individualität – dem unmittelbaren Begreifen der Idee zwar angemessen, aber sie existiert nicht für sich als Begriff. In diesem Stadium ist der Begriff als Seele „in der Weise eines Unmittelbaren“: Hiermit hat sich der Begriff noch nicht in seiner ganzen Bestimmtheit erfasst.12 Man kann sagen, dass die Idee des Lebens nichts anderes ist als das unmittelbare Dasein der absoluten Negativität als geistige Tätigkeit. Deutlich wird, dass das Leben durch eine ebenso subjektive wie objektive Rationalität gekennzeichnet ist, die nur darum nicht ‚teleologisch‘ heißt, weil sie keinen Zweckbegriff außerhalb ihrer konkreten Existenz postuliert. Die Wissenschaft der Logik hat es nicht mit analytischen Sätzen a priori zu tun, die die empirische Realität für sich bestehen lassen, sie hat es auch nicht mit synthetischen Sätzen a priori zu tun, sofern diese bloß transzendentale Geltung beanspruchen. Vielmehr greift sie auf die Gesamtheit des Wirklichen zu, indem sie auf die ihr zukommende Wahrheit abhebt, die sich in der Selbstbestimmung des Geistes artikuliert. In der ersten Auflage der Enzyklopädie von 1817 schreibt Hegel zu seinem Begriff von einer Idee: Das Bewußtseyn, das in der Sphäre des Vorstellens verweilt, und nur solche Gedanken hat, die noch mit Vorstellungen durchflochten sind, ist gewohnt von existirenden Dingen anzufangen und wenn es zu dem Gedanken ihrer Ideen aufsteigt, das Verhältniß der Idee

10 TWA 6, 472. 11 Vgl. ebd., 472 f. 12 Vgl. ebd., 467, 468.

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und des Vorgestellten so [zu] nehmen, als ob das Existirende das Reale, die Idee desselben aber nur eine subjective Abstraction wäre, die ihren Inhalt von jenem hätte. Ferner wird die Idee als solche, welche keinen bestimmten Inhalt, und nicht eine Existenz zu ihrem Ausgangs- und Stützungs-Punkt hat, für ein bloß formelles logisches genommen. Hier kann nun nicht mehr von solchen Verhältnissen die Rede seyn; das existirende Ding und alle weitern Bestimmungen desselben haben sich als unwahr erwiesen und sind in die Idee als ihren letzten Grund zurückgegangen. Sie ist dadurch als das an und für sich Wahre und Reale erwiesen; und aller Inhalt, den sie weiter hat, kann ihr nur durch sie selbst gegeben werden.13

Mit der Behandlung des Lebens im Kapitel der Idee betont Hegel den Prozesscharakter des Wirklichen, die unüberschreitbare pulsierende Existenz des Geistes, die sich nicht aus der Welt der Erfahrung zurückzieht, sondern als Leben die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität ist.14 Logik wird auf die Darstellung der Realität begrifflicher Entwicklung verpflichtet, die dem unmittelbar Seienden in seiner scheinbar konkreten und reellen Gegebenheit keineswegs abstrakt, äußerlich und bloß theoretisch, sondern als dessen eigentliches, lebendiges und absolutes Wesen zugrunde liegt, das einzig und allein in einem eminenten Sinne überhaupt ist. Wenn daher die formelle Logik auf Gesetze des bloßen Denkens beschränkt bleibt, indem sie eine empirische Realität von sich ausschließt, so wundert es nicht, dass „man denn auch gewöhnlich […] der sogenannten reinen Logik […] eine angewandte Logik folgen zu lassen [pflegt]“. Diese hat es dann mit dem „konkreten Erkennen“ zu tun und entspricht damit dem „häufig für nötig erachteten“ Vorgehen, „Psychologie und Anthropologie […] in die Logik [einzuflechten]“.15 Beide Disziplinen hält Hegel als Teile der Philosophie des Geistes aus der Logik heraus, die ihrem Verständnis nach eine angewandte Logik als in sich widersprüchliches Unternehmen entlarvt. Anthropologie und Psychologie werden entgegen zeitgenössischer Tendenzen als nicht in der Logik situierte Wissenschaften charakterisiert, die sich mit dem (teils natürlichen) Leben des Geistes befassen, aber nicht mit dem Leben als unmittelbare Idee des Absoluten.16 „Die anthropologische und psychologische Seite des Erkennens aber betrifft dessen Erscheinung, in welcher der Begriff für sich selbst noch nicht

13 GW 13, 98 f., § 162, Erläuterung. 14 Vgl. GW 13, 99 f. (§ 163) und TWA 6, 470. 15 Vgl. TWA 6, 469. 16 „Der subjektive Begriff hat Voraussetzungen, die in psychologischer, anthropologischer und sonstiger Form sich darstellen. In die Logik aber gehören nur die Voraussetzungen des reinen Begriffs, insofern sie die Form von reinen Gedanken […] haben, die Bestimmungen des Seins und Wesens.“ TWA 6, 470.

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dieses ist, eine ihm gleiche Objektivität, d. i. sich selbst zum Objekte zu haben.“17 Mit der Ausgliederung aus der Logik findet eine systematische Verortung der Anthropologie statt: die Zuweisung zum Wissenschaftsbereich der Philosophie des Geistes. Die für den naturphilosophischen Diskurs charakteristische Rede vom Leben, das „an der unorganischen Natur seine Bedingung hat“, kehrt in bestimmter Weise in der dialektischen Einteilung der Idee des Lebens wieder.18 „Das Leben ist nur als diese negative Einheit seiner Objektivität und Besonderung sich auf sich beziehendes, für sich seiendes Leben, eine Seele. Es ist damit wesentlich Einzelnes, welches auf die Objektivität sich als auf ein Anderes, eine unlebendige Natur bezieht.“19 Als seelische und triebhafte Substanz, die sich als Einheit besondert und aus dieser Besonderung wieder zu sich zurückkehrt, setzt das Leben in seiner ersten Bestimmung eine unmittelbare Objektivität voraus. Allerdings – und darauf kommt es an – thematisiert die Logik einzig die begriffliche Seite dieser Voraussetzungen und hält sich nicht bei den natürlichen und geistigen „Realitäten“ (z. B. die anthropologischen Differenzen der Volksgeister o. ä.) auf. So ist nachvollziehbar, inwiefern in der logischen Darstellung des Lebens relevante Aussagen über das Leben überhaupt, d. h. seine natürlichen und geistigen Aspekte, getroffen und doch die diskursiven Disziplinengrenzen eingehalten werden können. Zum Beispiel beschreibt Hegel die absolute Allgemeinheit des Lebens als „allgegenwärtige Seele“, kommt aber dann im Zuge seiner Fortbestimmung als prozessuales Phänomen auf die wesentliche Einzelheit der Seele als für sich seiendes Leben zu sprechen.20 Die sich selbst differenzierende Begriffsbewegung macht den Unterschied: Sie bringt die drei Gestaltungen des Lebens als ihre unterschiedenen Momente hervor.21 Erstens ist das Leben als lebendiges Individuum anzusehen, das sich gegen eine unorganische Natur stellt; zweitens ist es als Lebensprozess bestimmt, der sich als negative Einheit manifestiert; drittens ist es als Gattungsleben an der Aufhebung der Vereinzelung tätig, indem es zu ihrem Begriff zurückkehrt und in dieser Bewegung auch den Übergang zur Idee des Erkennens vollbringt.22 Im Folgenden werde diese drei Schritte nacheinander

17 Vgl. TWA 6, 469 f. 18 Vgl. TWA 6, 471. 19 Ebd., 473. 20 Vgl. ebd., 472 f. Die von Hegel in der Anthropologie (1830) geübte Kritik an Schellings Weltseele zeichnet sich hier bereits ab. Vgl. TWA 10, 51 § 391. 21 „Das ursprüngliche Urteil des Lebens besteht daher darin, daß es sich als individuelles Subjekt gegen das Objektive abscheidet und, indem es sich als die negative Einheit des Begriffs konstituiert, die Voraussetzung einer unmittelbaren Objektivität macht.“ TWA 6, 473. 22 Ebd.

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rekonstruiert und zum Schluss viertens auf die logische Überleitung zum anthropologischen Naturgeist (Seele) zu Beginn der Idee des Erkennens eingegangen.

1 Das lebendige Individuum, das Hegel als erste Figur der Idee des Lebens diskutiert, etabliert den Organismus als eine der Idee angemessene Gestalt zweckmäßiger Objektivität, die sich in die drei begrifflichen Momente der Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion differenziert. Man kann annehmen, dass hier die Möglichkeit einer philosophischen Wissenschaft der Natur logisch begründet wird – im Kontrast zur weitgehenden Disqualifizierung eines solchen Unternehmens in der Phänomenologie. Ähnliches gilt für den Stellenwert der ‚Seele‘ als begriffliches Prinzip der Anthropologie, wenngleich sie mit Blick auf die Philosophie des Geistes erst im Kapitel über die Idee des Erkennens verhandelt wird. Zunächst stellt sich aber die Frage, wie sich das lebendige Individuum logisch konstituiert. Zwar hat die Idee als Einheit des Begriffs und der Realität die Objektivität hinter sich gelassen, sofern sich der Begriff nicht länger in die Objektivität als ihm gegenüber liegende Wirklichkeit verliert.23 Gleichwohl hält sich das vorausgesetzte Sein, das an sich nur ein Moment des sich selbst bestimmenden Begriffs ist, selbständig gegen die in sich reflektierte Einheit dieses Setzens überhaupt.24 Hiermit stehen sich subjektives und objektives Sein gegenüber, so dass jenes „die Idee in der Form der Einzelheit als einfache, aber negative Identität mit sich [ist]“: „das lebendige Individuum“. So gefasst, bestimmt Hegel das Leben als Seele, die in ihrer Leiblichkeit einerseits das objektive Sein an sich selbst hat und andererseits mit äußerlichem Dasein zusammenfällt.25 Eingefangen wird auf diese Weise die doppelte Zugehörigkeit des Leibes zur ideellen Wirklichkeit des Lebens und zur Objektivität der mechanischen und chemischen Verhältnisse. Wird das Lebendige aufgrund seiner leiblichen Existenz „als ein Ganzes, das aus Teilen besteht, […] als mechanisches oder chemisches Produkt […] oder auch durch einen äußerlichen Zweck bestimmtes“ genommen, „so wird der Begriff ihm als äußerlich, es wird als ein Totes genommen.“ Das lebendige Wesen kann mechanisch betrachtet werden, dann wird es aber nicht als lebendiges Wesen

23 Vgl. ebd., 474. 24 „Aus der Idee hervorgegangen ist also die selbständige Objektivität unmittelbares Sein nur als das Prädikat des Urteils der Selbstbestimmung des Begriffs,  – ein zwar vom Subjekte verschiedenes Sein, aber zugleich wesentlich gesetzt als Moment des Begriffs.“ Ebd., 475. 25 Vgl. ebd., 475.

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betrachtet, sondern als totes. Aufgrund seiner inneren Zweckmäßigkeit ist die Objektivität des Lebendigen ein Organismus: „Mittel und Werkzeug des Zwecks, vollkommen zweckmäßig, da der Begriff ihre Substanz ausmacht; aber eben deswegen ist dies Mittel und Werkzeug selbst der ausgeführte Zweck […].“26 Die organische Totalität eines lebendigen, leiblichen Wesens setzt sich daher nicht aus abtrennbaren „Teilen“, sondern aus „Gliedern“ einer Individualität zusammen. Werden die Glieder abgetrennt, so werden sie als äußerliche Teile gefasst, die „unter die mechanischen und chemischen Verhältnisse der gemeinen Objektivität zurück[kehren]“.27 In Übereinstimmung mit Schelling und im Gegenzug gegen die Grundannahmen der klassischen Naturgeschichte macht Hegel zwischen der Objektivität physikalisch-chemischer Bestimmungen und der lebendigen Idee des Organismus einen prinzipiellen Unterschied. Leben und Tod sind durch eine Kluft voneinander getrennt, Übergänge von der einen zur anderen Seite sind nicht zu entdecken.28 Nach Hegel ist der Leib die Manifestation der Seele, die als begriffliches Prinzip den materiellen Körper als lebendigen organisiert. Der individuelle Lebensprozess besteht in der „unmittelbaren Beziehung des Subjekts auf die Objektivität“, d. h. genauer darin, sich als negative begriffliche Einheit der (an sich nichtigen) Äußerlichkeit zu bemächtigen, indem sie zu einem Mittel gemacht wird, den subjektiven Zweck auszuführen. „Die Unruhe und Veränderlichkeit der äußerlichen Seite des Lebendigen ist die Manifestation des Begriffs an ihm, der als die Negativität an sich selbst nur Objektivität hat, insofern sich ihr gleichgültiges Bestehen als sich aufhebend zeigt.“29 Die Bestimmungen dieses Prozesses als begriffliche Momente der Idee des Lebens „sind die Seiten, aus welchen sich die Lebendigkeit konstituiert“ und nicht Momente einer vorgegebenen Realität des

26 Vgl. ebd., 476. 27 Vgl. ebd., 476. 28 Bemerkenswert ist, dass sich Hegel in der Heidelberger Enzyklopädie auf Cuviers Arbeiten zur vergleichenden Anatomie beruft, die eine im Unterschied zur klassifizierenden Logik „größere Ansicht eröffnet“ hätten. Vgl. GW  13, 171, §  293, Erläuterung. In der Sache folgt Hegel Cuviers einführenden Bemerkungen zur strikten Unterscheidung des Lebendigen vom Toten in seinen Vorlesungen über vergleichende Anatomie. Ein toter Leib hat den physikalisch-chemischen Prozessen seines Verfalls nichts entgegenzusetzen, während ein lebendiger Leib über Reproduktions- und Assimilationskräfte verfügt. Die berühmten Cuvier-Lektüren Foucaults thematisieren durchgängig und implizit Hegels Rezeption von Cuviers Anatomie mit. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/Main 1974, 322 ff. 29 TWA 6, 477. Ersichtlich wird, dass sich der Begriff stets nur so produziert, dass seine Produkte lebendige bzw. produzierende sind. Ausgelöscht wird das äußerliche Bestehen einer natura naturata.

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lebendigen Individuums. Hiermit schreitet Hegel zur logischen Explikation von Kategorien, die in der Naturphilosophie eine wichtige Rolle spielen. Die leibliche Gestalt der lebendigen Individualität ist erstens allgemein, weil sie die Unmittelbarkeit der einfachen, mit sich identischen absoluten Negativität darstellt. Diese Reflexion-in-sich ist die logische Fassung des Begriffs der Sensibilität als „unendlich bestimmbare Rezeptivität“, die sich nicht in die äußerliche Mannigfaltigkeit verliert. Bestimmt ist die Sensibilität als das „Dasein der in sich seienden Seele“, die jeden empirischen, äußerlich bestimmten Eindruck in die Einfachheit des Selbstgefühls zurückführt.30 Selbstgefühl und natürliche Seele sind als Themen in der Anthropologie situiert. Zweitens ist die individuelle Gestalt eines Lebewesens eine besondere, insofern es seinem Begriff nach „auf das Äußerliche als auf eine vorausgesetzte Objektivität“ bezogen ist und mit ihr in Wechselwirkung steht. Das lebendige Individuum ist durch Irritabilität bestimmt, d. h. reell und triebhaft auf ein äußerliches Moment des gesetzten Unterschiedes bezogen.31 Hegel differenziert die formale Reflexion des Klassifizierens besonderer Wesen nach Gesichtspunkten „gleichgültiger Verschiedenheit“ und die individuelle Reflexion, die bloß äußerliche Bestimmungen in die sich auf sich beziehende Negativität des Begriffs zurückführt.32 Drittens ist das Lebendige ein Einzelnes, das die Entzweiung mit sich selbst – im Sinne einer „Äußerlichkeit seiner gegen sich selbst, gegen die [in der Irritabilität äußerlich bestimmbare] Objektivität“ – aufhebt. Dies geschieht nicht nur theoretisch im Rekurs auf die mit sich identische Negativität der Sensibilität, sondern zudem in der reellen Reflexion, „indem sich die Einheit des Begriffes in seiner äußerlichen Objektivität als negative Einheit setzt, die Reproduktion.“33 Da die drei Momente jeweils ihre begriffliche Totalität auszudrücken imstande sind, kann die „konkrete Totalität des Ganzen […] als reelle Totalität jenen bestimmten Totalitäten entgegengesetzt“ werden.34 Mittels dieser logischen Operation zeichnet Hegel die Reproduktion vor den anderen als Moment der Einzelheit aus, die in ihrer „reellen Beziehung nach außen“ eine Objektivität als konkrete subjektive Totalität und wirkliche Individualität setzt.

30 Vgl. TWA 6, 478. 31 Vgl. ebd., 478 f. 32 Vgl. ebd., 479. An diesem Punkt zeigt Hegel, und dies ist typisch für seine Behandlung der logischen Voraussetzungen des Begriffs, en passant die Grenzen der naturgeschichtlichen Systematisierung auf (und stellt sich damit in die Argumentationslinie der Phänomenologie), allerdings erachtet er nun eine weiterführende Reflexion für möglich: Das zeigt sich in der von der Phänomenologie abweichenden Logik der natürlichen Lebensbegriffe (Sensibilität, Irritabilität, Reproduktion). Vgl. TWA 3, 206 ff. 33 TWA 6, 479. 34 Vgl. ebd., 479 f.

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2 Als zweite Figur der Idee des Lebens begreift Hegel den „Lebensprozess“, der zwischen dem individuellen Subjekt und seiner vorausgesetzten Objektivität vermittelt. Im lebendigen Selbstgefühl ist bereits die Gewissheit vorhanden, dass die gesetzte Äußerlichkeit des objektiven Andersseins kein substantielles Bestehen hat. „Sein Trieb [gemeint ist das lebendige Individuum; Vf.] ist das Bedürfnis, dies Anderssein aufzuheben und sich die Wahrheit jener Gewißheit zu geben.“35 Der Lebensprozess hebt mit diesem Bedürfnis eines Lebewesens an, sich zu bestimmen, d.  h. die unmittelbare Objektivität als natürliches Mittel seinem Begriff angemessen zu machen. Als „existierende Begriffe“ sind Lebewesen mit sich entzweit und fühlen das Widersprüchliche ihres Daseins als Schmerz.36 Im Bedürfnis artikuliert sich der Trieb, den Schmerz zu überwinden und sich mit der objektiven Welt zusammenzuschließen, die dem Lebendigen und seinem Identifizierungsstreben als gleichgültiges Anderssein nichts entgegenzusetzen hat. Zwar können äußerliche Gegenstände auf das Lebendige mechanisch einwirken, aber diese Form der Kausalität erreicht nicht das Lebendige als solches. Im Anschluss an Schelling bringt Hegel eine organisationslogische Kausalität ins Spiel: die Erregbarkeit. Verhält sich ein Körper mechanisch zu einem Lebendigen, so „wirkt es nicht als Ursache, sondern erregt es“.37 Der mechanische Anstoß degradiert zu einem äußerlichen Impuls einer Erregung, die das Subjekt im Wesentlichen selbst verursacht. In der sich selbst erhaltenden Beziehung des lebendigen Individuums auf äußerliches Dasein, das es sich zu eigen macht und so „in Innerlichkeit verwandelt“, erweist sich sein „besonderer Charakter“, nämlich im Verhältnis des Organismus zu seiner Umwelt. Der Lebensprozess zeigt sich hier in den Assimilationsvorgängen, die sich im Inneren der Organisationen abspielen. In ihnen geht der mechanische in den (immanent begrifflichen, die äußerliche Zweckmäßigkeit tilgenden) inneren Prozess des Lebens über, „durch welchen das Indivi-

35 Ebd., 480. 36 „Der Schmerz ist daher das Vorrecht lebendiger Naturen; weil sie der existierende Begriff sind, sind sie eine Wirklichkeit von der unendlichen Kraft, daß sie in sich die Negativität ihrer selbst sind, daß diese ihre Negativität für sie ist, daß sie sich in ihrem Anderssein erhalten.“ Ebd., 481. 37 Vgl. ebd., 482. Mit den Begriffen der Sensibilität und der Erregbarkeit rezipiert Hegel naturphilosophische Bestimmungen Schellings, die als theoretische Grundlagen im Diskurs der romantischen Anthropologie dienen. Bereits in der Heidelberger Enzyklopädie werden diese naturphilosophischen Begriffe in der Organik (mit und gegen Schelling) entwickelt und auch im Rahmen der Anthropologie aufgegriffen. Vgl. GW 13, 161, § 277 und 172, § 295. Ihre generelle Kritik (in der Phänomenologie) ist damit hinfällig geworden.

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duum sich das Objekt so aneignet, daß es ihm die eigentümliche Beschaffenheit benimmt […] und seine Subjektivität ihm zur Substanz gibt“.38 Assimilation und Reproduktion fallen zu einem Prozess zusammen, sofern zwar die mechanischen und chemischen Relationen mit äußerlichen Dingen ein objektives Moment ihrer selbst ausmachen, dieses Moment aber gerade nicht als wesentliches Merkmal des Lebens, sondern als dessen Auflösungserscheinung gelten muss. Die Transformation der objektiven Mechanismen in die lebendige Individualität entspricht der im Prozess des Lebens sich realisierenden Rückkehr des Lebendigen aus seiner Entäußerung zu sich, „so daß die Produktion […] zur Reproduktion wird“, d. h. zur permanenten Erhaltung seiner selbst.

3 In diesem Prozess eines sich reproduzierenden Lebens, das in der kontinuierlichen Anverwandlung einer vorausgesetzten Objektivität besteht, wird die individuelle Besonderheit im Namen der Allgemeinheit aufgehoben und eine „wirkliche Einzelheit“ des Lebens konstituiert: die Gattung als „reelles, allgemeines Leben“.39 Hegel betont, dass die Logik der Gattung die formale Auffassung naturgeschichtlicher Ordnung hinter sich lässt, die sich auf das artgemäß Besondere individueller Lebewesen in einer vorausgesetzten objektiven Welt bezieht. Resultierend aus dem Zusammengehen des lebendigen Individuums und der äußeren Natur bzw. der Aufhebung ihres Gegensatzes ist die Gattung als wesentliche Einheit zugleich die Besonderung ihrer selbst, d. h. „die Verdopplung des Individuums“. Der logische Gedanke dieser Verdopplung besteht darin, dass auf dieser Stufe eine Objektivität vorausgesetzt wird, die mit sich identisch ist, weil sich die Äußerlichkeit als immanentes Moment des Individuums erwiesen hat. „Diese Äußerlichkeit ist selbst als lebendige Totalität eine Objektivität, die für das Individuum es selbst ist, in der es nicht als aufgehobene, sondern als bestehende die Gewißheit seiner selbst hat.“40 Bereits in diesen Formulierungen ist greifbar, dass Hegel einerseits seine Überlegungen zur Reproduktion aufnimmt und weiterentwickelt, andererseits auf eine höhere Individualität des Geistes abzielt, die sich aus den natürlichen Zusammenhängen entfernt. In diesem Sinne spricht Hegel auch von der Hervorbringung des lebendigen Individuums, und zwar nicht aus

38 TWA 6, 483. 39 Vgl. ebd., 483 f. 40 Vgl. ebd., 484 f.

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dem (das Individuum nur voraussetzenden) Begriff, sondern aus der Wirklichkeit der Idee. Das gattungslogische Verhältnis gerät dabei in einen Widerspruch, nämlich „die Identität des individuellen Selbstgefühls in einem solchen [zu sein], welches zugleich ein anderes selbständiges Individuum ist […]“. Zum einen ist die Gattung als dritte und vollendete Figur der Idee des Lebens noch unmittelbare Idee, so dass sie nur in einzelnen lebendigen Individuen wirklich ist. Ihre begriffliche Realität hat so weiterhin die Form unmittelbarer Objektivität.41 Zum anderen ist sie dadurch bestimmt, ihre bislang nur subjektive Allgemeinheit zu realisieren, indem sie die Unmittelbarkeit der besonderen Individualitäten aufhebt. Dies geschieht zunächst „an sich“ in der Fortpflanzung der „lebenden Geschlechter“, indem sie den Trieb der Gattung als „die Spannung ihres Verlangens befriedigen und in ihre Gattungsallgemeinheit sich auflösen“.42 Auf diese Weise wird die Individualität des Lebens als realisierte Identität der in sich widersprüchlichen und mit sich entzweiten Gattung als der wirkliche Begriff aus der Idee hervorgebracht. Das ist der „Keim eines lebendigen Individuums“, objektive Wirklichkeit des subjektiven Begriffs, der in sich die ganze Bestimmtheit des Lebendigen als „immaterielle“ und unentwickelte subjektive Form enthält. „[D]er Keim ist so das ganze Lebendige in der innerlichen Form des Begriffes.“43 Mit diesem biologischen Reproduktionsprozess der Gattung hat Hegel ein Lebenskontinuum vor Augen, das aufgrund seiner unmittelbaren Form aus der Idee in die (wesenslogische) Wirklichkeit zurückfällt: „[I]hre Reflexion ist nur die Wiederholung und der unendliche Progreß, in welchem sie nicht aus der Endlichkeit ihrer Unmittelbarkeit heraustritt.“ Zwar kann von einer allgemeinen und quasi unsterblichen Substanz des Lebens gesprochen werden, diese benötigt aber zu ihrer Existenz individuelle und sterbliche Wesen, in denen sie sich vorübergehend aktualisiert. Logisch vorstrukturiert erscheinen von hier aus bestimmte Annahmen zum Begriff des Keimplasmas in der Weismannschen Vererbungslehre. Allerdings unterstreicht Hegel, dass der „Trieb der Gattung“, ihren immanenten logischen Widerspruch aufzuheben, noch eine andere „höhere Seite“ hat, indem er quasi für sich realisiert wird. Schließlich hat sich gezeigt, „daß die Idee nicht nur die Vermittlung ihrer Prozesse innerhalb der Unmittelbarkeit durchlaufen, sondern eben damit diese aufgehoben und sich dadurch in eine höhere Form ihres Daseins erhoben hat“.44 Im Prozess der Gattung verschwindet die unmittelbare Form des

41 Vgl. ebd., 485. 42 Vgl. ebd. 43 Ebd., 486. 44 Ebd.: „Der Prozeß der Gattung nämlich, in welchem die einzelnen Individuen ihre gleichgültige, unmittelbare Existenz ineinander aufheben und in dieser negativen Einheit ersterben,

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Lebens und erwacht der Geist. Die einzelnen individuellen Lebewesen gehen in diesem Prozess unter, indem sie in der für sich werdenden Allgemeinheit der Idee ihr Wesentliches haben. Die negative Einheit, in welcher die Gattung aus der Entzweiung zu sich findet, ist nicht nur „das Erzeugen der Einzelheit“, sondern „das Aufheben derselben“, die Gattung für sich oder die Idee des Erkennens. In bestimmter Analogie zum Übergang von der Natur zum Geist heißt es in der Logik zum Übergang von der Idee des Lebens zu der des Erkennens: „In der Begattung erstirbt die Unmittelbarkeit der lebendigen Individualität; der Tod dieses Lebens ist das Hervorgehen des Geistes.“45 Hiermit werden die Ausführungen, die sich auf die Wahrheit des Lebens beziehen, in ein weiteres, mit naturphilosophischen Begriffen kaum erschließbares Gebiet verwiesen. Außerdem riskiert Hegel einen rigorosen Absprung aus dem Bereich der Unmittelbarkeit und des vergänglichen Daseins, indem er voraussetzt, dass dieses schon in der allgemeinen und weltgeschichtlichen Vernunft der Gattung zu seiner wahren Identität und Selbsterkenntnis finden wird. Findet es sich in dieser Geschichte überraschend nicht wieder, so fällt es als Verworfenes dem Vergessen zu.

4 In den einführenden Seiten in die Idee des Erkennens kommt Hegel ein weiteres Mal auf die Parallelen und Unterschiede zu sprechen, die zwischen der logischen Behandlung (der Idee) des erkennenden Geistes und seiner andersartigen wissenschaftlichen Fassung (in der Philosophie des Geistes) bestehen.46 Wichtig ist dabei, dass bereits in der Logik eine kritische Zusammenführung der empirischen und rationalen Psychologie vorgenommen wird, die der Philosophie des Geistes ihren Ausgangspunkt liefert. Vor dem Hintergrund der Kantischen Überlegungen in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft, begründet Hegel die der metaphysischen Seelenlehre immanenten Widersprüche, indem er das Wesen des Selbstbewusstseins so bestimmt, dass es „die absolute Beziehung auf sich selbst ist, welche als trennendes Urteil sich zum Gegenstande macht und allein dies ist, sich dadurch zum Zirkel zu machen“.47 Der von Kant aufgestellte Gegensatz zwischen einem reinen und formalen (transzendentalen) Ich und

hat ferner zur andern Seite seines Produkts die realisierte Gattung, welche mit dem Begriffe sich identisch gesetzt hat.“ 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. ebd., 487–498. 47 Ebd., 490.

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empirischen Inhalten der Erscheinung, die zur Bestimmung der Existenz einer unvergänglichen Seele nicht beitragen können, wird von Hegel insofern unterlaufen, als er die wahre Natur des Selbstbewusstseins darin ausmacht, dass es sich negativ auf sich bezieht und in dieser dialektischen Bewegung allein wirklich ist – weshalb „das Empirische […] selbst auch nur durch und aus der Idee gefaßt werden [kann]“.48 Daraus folgt, dass die überlieferte Psychologie als Metaphysik des (endlichen) Geistes nach Hegel in drei Teile gegliedert ist, die allesamt die Idee als Vermittlung der empirischen und rationalen Momente des Seelenlebens zu ihrem Grunde liegen haben: Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie.49 Wie sich in der ersten Gestalt der Idee ergeben hat, begreift sich das Leben in der Logik der Gattung als begriffliches Selbstverhältnis. Der Geist stellt sich nicht als Widersacher, sondern als innere Wahrheit des Lebendigen heraus.50 Nicht länger ‚versunken‘ in die Objektivität, bestimmt sich die logische Form der begrifflichen Realität einzig durch den Begriff selbst. Somit verdoppelt sich die Idee „in den subjektiven Begriff, dessen Realität er selbst, und in den objektiven, der als Leben ist“. Die Idee bestimmt sich selbst als absolute, zunächst in die Natur, und die Natur in den Geist überzugehen. Nun sind die Vorstellungen, die sich mit dem Begriff des Geistes verbinden, z. B. Denken und Selbstbewusstsein, aber auch die Seele, in einer bestimmten philosophischen Tradition verankert.51 Hegel moniert das Wolffische Verfahren, auch in der Psychologie zu den empirischen Gegebenheiten allgemeine Gesetze zu suchen.52 Sofern Kant mit seiner Kritik der rationalen Seelenlehre diesen Gegensatz noch verschärft, wird auch von hier aus deutlich, dass im Sinne Kants die empirische Psychologie nur als empirische Wissenschaft betrieben werden kann, nämlich im Kontext einer pragmatischen Anthropologie.53 Hegel zieht andere Schlüsse. Die radikale und vermittlungslose Auftrennung reiner und empirischer Vermögen des Erkennens

48 Vgl. ebd., 494. 49 Ausdrücklich hält Hegel fest, dass in seiner ‚Psychologie‘ als dritter Teil der Philosophie des Geistes umfassend der „Gegenstand der gewöhnlich empirischen Psychologie“ behandelt wird, dass diese Behandlung aber, „um die Wissenschaft des Geistes zu sein, nicht empirisch zu Werke gehen, sondern wissenschaftlich gefaßt werden muß.“ Ebd., 496. 50 Die „Idee des Erkennens“ bezeichnet Hegel auch als „Idee des Geistes“. Vgl. ebd., 493 f. 51 Vgl. ebd., 487 ff. 52 Ebd., 488. 53 Bekanntlich wendet sich Kant gegen eine Konsolidierung der empirischen Psychologie mittels naturwissenschaftlicher Verfahren, sofern ihr Gegenstand nicht mathematisierbar, sondern instabilen Zeitverhältnissen unterworfen ist. Ihre Bearbeitung ist lediglich pragmatisch möglich, d. h. im Rahmen einer nicht streng systematischen Weltkenntnis. Vgl. Rölli, Kritik, a. a. O. (Anm. 1), 60 ff.

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erscheint ihm nicht plausibel. Daher kann er auch der Kantischen Kritik des Mendelssohnschen Beweises von der Beharrlichkeit der Seele, die mit quantitativen Bestimmungen zur Widerlegung der qualitativen Begriffseinheit operiert, nichts abgewinnen.54 Vielmehr wiederholt er, dass sich der Geist als die Wahrheit des Lebens bewiesen habe, so dass die empirischen Verhältnisse auf ihren konkreten Begriff gebracht wurden. „Diese Idee ist nun der Geist […], die Wahrheit des Lebens als absolute negative Einheit.“ Sie hat neben ihrer logischen Form noch andere Gestalten, „in welchen sie in den konkreten Wissenschaften des Geistes zu betrachten ist, nämlich als Seele, Bewußtsein und Geist als solcher“.55 Gemeint sind die Wissenschaften der Anthropologie, der Phänomenologie und der Psychologie im engeren Sinne. Verglichen mit Kant ergibt sich für Hegel eine völlig anders geartete Aufstellung der Anthropologie als philosophische Disziplin. Während die Idee des Geistes als logischer Gegenstand innerhalb der reinen Wissenschaft steht, wird in allen Disziplinen der Philosophie des Geistes der Weg durchmessen, den der endliche Geist bis zum Erfassen seiner unendlichen Wahrheit zurücklegen muss, d. i. „wie er mit der Natur, der unmittelbaren Bestimmtheit und dem Stoffe oder der Vorstellung verwickelt ist“.56 Wenn nun vom Geist als Seele die Rede ist, so steht die Naturverbundenheit an erster Stelle, wenngleich bereits das Niveau der organischen Physik als letzte Stufe einer Philosophie der Natur überschritten ist. Eine Natur ist im Spiel, die nicht als Inbegriff der (kausalgesetzlich verbundenen, raum-zeitlichen) Dinge, sondern als identitätsphilosophisch modelliertes unmittelbares Dasein bestimmt ist, das in sich, wenngleich noch unentwickelt und opak, vom Geist durchdrungen bzw. seiner Macht ausgeliefert ist. Mit „Seele“ wird der Geist bezeichnet, wie er in der Anthropologie zur Sprache kommt: „Der für sich selbst seiende Begriff [nämlich der Geist; Vf.] ist notwendig auch in unmittelbarem Dasein; in dieser substantiellen Identität mit dem Leben, in seinem Versenktsein in seine Äußerlichkeit ist er in der Anthropologie zu betrachten. Aber auch ihr muß jene Metaphysik fremd bleiben, worin diese Form der Unmittelbarkeit zu einem Seelending, zu einem Atom, den Atomen der Materie gleich wird.“57 Die Kantische Kritik macht es unmöglich, zur Metaphysik von Leibniz oder Wolff zurückzukehren. Vielmehr gilt es nach Hegel, das Absolute im Ausgang von der Subjektivität des begrifflich denkenden Geistes

54 Vgl. TWA 6, 492 f. 55 Vgl. ebd., 494. 56 Vgl. ebd., 496: „In der logischen Idee des Geistes ist Ich daher sogleich, wie es aus dem Begriffe der Natur als deren Wahrheit sich gezeigt hat, der freie Begriff, der in seinem Urteile sich selbst der Gegenstand ist, der Begriff als seine Idee.“ 57 Ebd., 494 f.

Die Idee des Lebens 

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zu fassen und als substanzielles Moment in der Unmittelbarkeit aller Gegebenheiten aufzuweisen. Die anthropologische Gestalt, in welcher „der Geist in die Materiatur versenkt ist“, ist – als Seele, die noch vor dem (phänomenologischen) Bewusstsein lokalisiert ist – in der Philosophie des Geistes die unterste: Der Anthropologie muß nur die dunkle Region überlassen werden, worin der Geist unter, wie man es sonst nannte, siderischen und terrestrischen Einflüssen steht, als ein Naturgeist in der Sympathie mit der Natur lebt und ihre Veränderungen in Träumen und Ahnungen gewahr wird, dem Gehirn, dem Herzen, den Ganglien, der Leber usw. inwohnt, welcher letzteren nach Platon der Gott, damit auch der unvernünftige Teil von seiner Güte bedacht und des Höheren teilhaftig sei, die Gabe des Weissagens gegeben habe, über welche der selbstbewußte Mensch erhoben sei.58

Die philosophische Anthropologie erhält also von Hegel in der Wissenschaft der Logik schon klare Konturen, wonach ihr ureigenes Gebiet von einem Naturgeist beherrscht wird, der zum einen die ‚unvernünftige‘ Natur vergeistigt, zum anderen aber diesen Prozess vorzeitig abbricht, so dass er nicht zu sich selbst erwacht, sondern verschwommenen Bildern und abergläubischen Vorstellungen nachhängt. In ihnen machen sich insgesamt physiologische Bestimmungen geltend, die die von der Natur abhängige Verfassung des Geistes auf anthropologischem Niveau zum Ausdruck bringen.59

58 Ebd., 495. 59 Vgl. Ebd. Mit der systematischen Anlage der Anthropologie schafft Hegel ein psychologisches Pendant zu seinen historischen Ausführungen zur symbolischen Kunstform oder auch zur ‚fetischistischen‘ Geistesverfassung sog. „Naturvölker“ – mitsamt all den naheliegenden (eurozentrisch-kolonialgeschichtlichen) Schwierigkeiten. Vgl. TWA 16, 122 f.

Andreas Arndt

Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes Gefühle haben seit einiger Zeit Konjunktur in der Philosophie;1 dabei werden sie im Gegenzug zu einer langen Tradition in ihrer kognitiven Funktion thematisiert und als rational aufgewertet.2 Hegel ist in diesen Debatten nicht gerade eine erste Adresse, was vielleicht auch daran liegt, dass er mit seinem Insistieren auf dem Begriff gemeinhin als kopflastiger Rationalist gilt, der von einem Erkenntniswert der Gefühle überhaupt nichts wissen will. Seine Auseinandersetzung mit der sogenannten Gefühlsphilosophie Jacobis und der sogenannten Gefühlstheologie Schleiermachers scheint für sich zu sprechen. So etwa wunderte sich Paul Tillich in seiner Vorlesung über Hegel (1831/32) ernsthaft, dass der junge Hegel von der Liebe als Gefühl sprechen könne: „dies Wort hat, wenn wir Hegels Kampf gegen die Gefühlsphilosophie kennen, etwas Überraschendes. Hegel korrigiert sich hier sofort selbst, indem er sagt: die Liebe ist ein ‚Gefühl des Lebendigen‘ als Einheit der einzelnen Gefühle, dadurch hört sie auf ein Gefühl als solches zu sein“.3 In der Hegelschen Schule wurde das anders gesehen. So schreibt Karl Rosenkranz in seiner Psychologie (21843). „Nach meiner Meinung ist es nun Hegel mehr als anderen Psychologen gelungen, die verschiedenen Bestimmungen des Begriffs Gefühl mit den übrigen Tätigkeiten des Geistes in Zusammenhang zu bringen, so daß bei ihm erhellt, auf welche Weise das Fühlen des Geistes schon an sich Denken, das Denken aber das auch für sich seiende Fühlen ist.“4 Von dorther gehörte Hegel zu denjenigen Philosophen, die (entgegen dem ersten Anschein) für die Rationalität der Gefühle plädieren und könnte gerade für die gegenwärtigen Thematisierungen von „Gefühl“ einen Bezugspunkt darstellen. Dagegen stand und steht aber weiterhin eine Kritik, in der Hegel vorgeworfen wird, die Eigenbedeutung der Gefühle neben oder sogar über der Rationali-

1 Vgl. exemplarisch: Philosophie der Gefühle, hg. v. Sabine A. Döring, Frankfurt/Main 2009; EvaMaria Engelen, Gefühle, Stuttgart 2007. 2 Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt/Main 1997 (Auszug in: Philosophie der Gefühle, a. a. O., Anm. 1, 110–137). 3 Paul Tillich, Vorlesung über Hegel (Frankfurt 1831/32), hg. v. Erdmann Sturm, Berlin und New York 1995 (Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlassbände, Bd. 8), 208. 4 Karl Rosenkranz, Psychologie oder die Wissenschaft vom subjectiven Geist. Zweite sehr verbesserte Auflage. Nebst Widerlegung der vom Herrn Dr. Exner gegebenen vermeintlichen Widerlegung der Hegel’schen Psychologie, Königsberg 1843, 413.

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tät nicht erkannt zu haben. So schieb etwa Eschenmayer schon 1834: „Im Gefühl liegt die wahre Einheit des innern Lebens, in welcher alle Functionen der Seele ihren Mittelpunct haben, während das Denken nur eine einseitige Tätigkeit ist. Das Gefühl liegt höher, als der Begriff, so wie das Schöne höher, als das Wahre.“5 Es ist solche Aufwertung des Gefühls, gegen die Hegels Kritik sich wandte. Sie bedeutet indessen keine Abwertung des Gefühls als solchem sondern richtet sich dagegen, dass „Gefühl“, was immer es sei, zum Grund von Erkenntnis gemacht wird. Dabei wäre im Gegenzug zu fragen, ob solche Rede vom Gefühl nicht schon immer konstruiert ist, d.  h. an die Unmittelbarkeit bzw. Evidenz eines Gefühls zwar appelliert, dabei jedoch gar nicht das im Blick hat, was wir gewöhnlich unter „Gefühl“ verstehen. Ich werde auf diese Frage zum Schluss meiner Ausführungen zurückkommen. Zunächst jedoch möchte ich darauf eingehen, in welchen Kontexten Hegel Gefühle thematisiert und welche Grundlage sie in der Natur haben (1), um anschließend danach zu fragen, welche Bedeutung den Gefühlen für die Entwicklung des Geistes in seiner Selbsterfassung zukommt (2). Und schließlich möchte ich vom Standpunkt des absoluten Geistes aus rückblickend fragen, was von den Gefühlen der Subjekte denn bleibt; damit steht auch die abschließende Frage im Zusammenhang, ob bei den die Rationalität überbieten wollenden Gefühlen überhaupt vom „Gefühl“ die Rede ist (3).

1 Hegels Gefühlsbegriff ist vielschichtig; er bezeichnet Phänomene auf verschiedenen Stufen des geistigen Lebens, sowohl im Übergang von der Natur zum subjektiven Geist als auch im subjektiven und absoluten Geist selbst. In Stichworten: äußere Empfindung, z.  B. Tastsinn, innere Empfindung oder Innerlichkeit der Seele, Gefühl als Form des theoretischen Geistes, praktisches Gefühl und religiöses Gefühl.6 In diese Bestimmtheiten des Gefühls ist die Semantik des Gefühls eingeschrieben, welche die Geschichte der Philosophie bereithält, eine Gemengelage unterschiedlicher und nicht immer trennscharfer Bedeutungen.7 Auch

5 Carl August Eschenmayer, Die Hegel’sche Religions-Philosophie verglichen mit dem christlichen Princip, Tübingen 1834, 31, § 44. 6 Einen ersten Überblick gibt Dirk Stederoth, „Gefühl“, in: Hegel-Lexikon, hg. v. Paul Cobben, Paul Cruysberghs, Peter Jonkers und Lu de Vos, Darmstadt 2006, 220–222. 7 Zur Begriffsgeschichte vgl. den Artikel „Gefühl“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hg. v. J. Ritter, Darmstadt 1974, Sp. 82–96; auch „Gefühl, moralisches“, ebd.,f Sp. 96–98.

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hierzu seien einige Stichworte genannt. Seit der Antike ist die Rede von Pathos und passio, welche – und diese Abwertung reicht bis in die neuere Philosophie8 – den Verstand verwirren und daher von diesem beherrscht und ausgeschlossen werden müssen. In der Neuzeit treten weitere Bestimmungen hinzu: Gemütsbewegungen und -zustände (emotions), Leidenschaften (passions) sowie Empfindungen (sensations): Passio, emotio, Sinnlichkeit und Sinn (sensus) verbinden sich auf keineswegs immer eindeutige Weise unter den termini feeling bzw. Gefühl, wobei dann vielfach noch zwischen innerem und äußerem Gefühl bzw. zwischen innerer und äußerer Empfindung unterschieden wird. Gefühle sind nun nicht mehr notwendig verwirrend, aber in jedem Falle verworren, nämlich confusus (undeutlich).9 Eine weitere Aufwertung des Gefühlsbegriffs vollzieht sich in den Bereichen der Ästhetik und der Ethik: ästhetische und moralische Gefühle haben einen vernünftigen Gehalt, d.  h. sie beanspruchen bzw. konstituieren (im Falle moralischer Gefühle) allgemeine Verbindlichkeit. Bei Friedrich Heinrich Jacobi schließlich tritt dann das Gefühl an die Stelle einer diskursiv verfassten und auch der praktisch gerichteten Vernunft: Gefühl sei „Sinn für das Uebersinnliche. Diesen Sinn nenne ich Vernunft, zum Unterschiede von den Sinnen für die sichtbare Welt.“10 Quellen der Erkenntnis sind für Jacobi entweder „Sinnes-Empfindung“ oder „Geistes-Gefühl“, wobei das Gefühl „das Wissen im Glauben begründet“.11 Die Bestimmtheiten des Gefühls bei Hegel schreiten die überkommene Semantik des Gefühlsbegriffs aus – bis hin zum Gefühlskonzept Jacobis – und bringen sie in eine neue systematische Ordnung, was selbstverständlich auch eine Abwertung bestimmter Sorten „Gefühle“ bedeuten kann, wie es bei Jacobis Geistesgefühl der Fall ist, das dennoch ein Wahrheitsmoment behält. Auffällig ist vor allem, dass das ästhetische Gefühl fehlt, welches ansonsten in den Diskursen

8 „Der menschliche Verstand“, so schreibt Francis Bacon in seinem Novum Organon, „ist kein reines Licht, sondern er erleidet einen Einfluß vom Willen und von den Gefühlen; dieses erzeugt jene ‚Wissenschaft für das, was man will‘. […] Schließlich durchdringt das Gefühl den Verstand auf unzähligen und bisweilen kaum bemerkbaren Wegen und steckt ihn an.“ (Das neue Organon, hg. v. M. Buhr, Berlin 1962, 56 f.) 9 So unterscheidet Leibniz in seinen Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (1684) die cognitio clara et distincta – die intellektuelle Erkenntnis – von der fühlenden cognitio clara et confusa; vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften, hg. v. C. J. Gerhardt, Bd. 4, Berlin 1880 (Reprint Hildesheim und New York 1978), 422. 10 Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, hg.  v. K. Hammacher und W. Jaeschke, Bd. 1, 1, Hamburg und Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 341 (Vorbericht 1819). 11 Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, hg.  v. K. Hammacher und W. Jaeschke, Bd.  2, 1, Hamburg 2004, 402 f. (Vorrede zu Band II der Werke, 1815).

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seit dem 18 Jahrhundert einen festen Platz hatte. Hierzu heißt es in den Vorlesungen über die Ästhetik, da der „Inhalt in unterschiedenen Formen des Gefühls vorhanden ist, kommt noch seine wesentliche und bestimmte Natur nicht zum Vorschein, sondern bleibt eine bloß subjektive Affektion meiner […]. Deshalb bleibt die Untersuchung der Empfindungen, welche die Kunst erregt oder erregen soll, ganz im Unbestimmten stehen und ist eine Betrachtung, welche gerade vom eigentlichen Inhalt und dessen konkretem Wesen und Begriff abstrahiert.“12 Das Zitat macht deutlich, worum es Hegel überhaupt in Ansehung der Gefühle geht: sie eröffnen keinen privilegierten Zugang zu bestimmten Phänomenen des geistigen Lebens oder zu dem Grund des geistigen Lebens überhaupt, sondern vermitteln den Inhalt des Geistigen und sind durch ihn bestimmt. Eben deshalb lassen sich die Bestimmtheiten des Gefühls nur im Zusammenhang des Geistigen überhaupt feststellen; sie haben keine Eigenbedeutung, die nicht mit dem Geistigen überhaupt vermittelt wäre. Dem verbreiteten Argwohn, hierbei werde „Gefühl“ zur bloßen Vorstufe des Denkens erklärt und de facto aus der Philosophie eskamotiert, lässt sich durch eine Einsicht entgegentreten, die sich ebenfalls in Hegelschen der Ästhetik findet: „Die Tiere leben in Frieden mit sich und den Dingen um sie her, doch die geistige Natur des Menschen treibt die Zweiheit und Zerrissenheit hervor, in deren Widerspruch er sich herumschlägt. Denn in dem Innern als solchem, in dem reinen Denken, in der Welt der Gesetze und deren Allgemeinheit kann der Mensch nicht aushalten, sondern bedarf auch des sinnlichen Daseins, des Gefühls, Herzens, Gemüts usf.“13 Kunst als Scheinen der Idee im Sinnlichen ist daher dasjenige, worin „das Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt“.14 Auch hier gilt: das Gefühl konstituiert das Absolute ebenso wenig wie den Zugang zu ihm, wohl aber ist es eine notwendige Form seines Innewerdens. Wenn das Tier nach Hegel unmittelbar in Frieden mit sich und den Dingen lebt, dann bedarf der Mensch dazu dessen, was Hegel die Erhebung zum Absoluten nennt, die für das einzelne Subjekt nicht notwendig im philosophischen Begriff erfolgen muss, sondern auch im Kunstgenuss und der religiösen Andacht sich vollziehen kann. In jedem Falle aber hat das Innewerden oder Eingedenken der vermittelten Einheit des Menschen mit sich und den „Dingen“ subjektiv auch die Form des Gefühls. Diese Form – nicht aber ihr Inhalt – findet sich bereits beim tierischen Organismus, deren entwickelte und vermittelte Gestalt dann das menschliche Gefühl

12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, TWA 13, 64. 13 Ebd., 185. 14 Ebd., 193.

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darstellt. Das Tier, so heißt es im §  351 der 3. Auflage (1830) der Enzyklopädie, ist „vornehmlich […] Gefühl, als die in der Bestimmtheit sich unmittelbar allgemeine, einfach bei sich bleibende und erhaltende Individualität; die existirende Idealität des Bestimmtseyns“.15 Weil das Tier bereits „Selbst für das Selbst“ ist, ist für Hegel „die Bestimmung der Empfindung […] die differentia specifica“ und diese wesentlich „Selbstgefühl“.16 Sofern für Hegel jede Selbstbeziehung – auch die des Tieres  – nicht unmittelbar, sondern durch die Beziehung auf Anderes vermittelt ist, beruht das „Selbstgefühl der Einzelnheit“ (§ 357) beim Tier auf der ausschließenden (negativen) Beziehung auf die unorganische Natur. Das bezieht sich nicht nur auf das praktische Verhalten, in dem die Tiere – wie es in der Phänomenologie heißt – „nicht vor den sinnlichen Dingen als an sich seyenden“ stehen bleiben, sondern sie ohne weiteres zulangen und sie aufzehren.17 Es bezieht sich zunächst auf einen sinnlichen theoretischen Prozess, nämlich die Sensibilität „als bestimmtes Gefühl, welches sich in die Vielsinnigkeit der unorganischen Natur unterscheidet“. (§ 357) Das Tier bezieht sich theoretisch auf sich selbst, indem es sich von den „Dingen“ und die Dinge untereinander unterscheidet.18 Es ist dies zunächst der Tastsinn, der für Hegel der mechanischen Sphäre angehört, und den er auch als „das Gefühl als solches“ (§ 358) anspricht; sodann die Sinne des Gegensatzes (Geruch und Geschmack) und schließlich der „Sinn der Idealität“ (Sehen und Hören). Erst auf der Grundlage dieses theoretischen Prozesses, in dem die fünf Sinne ein Selbstgefühl vermitteln, erweist das Tier dann im praktischen Verhältnis die Nichtigkeit der Dinge an sich (§ 359). Halten wir fest: Das für den Prozess des Geistes grundlegende theoretische und praktische Selbst- und Weltverhältnis, die Beziehung auf sich durch die negative Beziehung auf Anderes, findet sich bereits im tierischen Organismus im Medium des Gefühls als Selbstgefühl, welches aus dem die Dinge untereinander und in eins damit die Dinge vom Selbst unterscheidenden Gefühl des Tastsinns erwächst. Im Berühren der Dinge spüre ich ihren Widerstand und zugleich mich selbst als fühlend. Es dürfte dabei kaum übertrieben sein, die Berührung der „Dinge“, das Ertasten mit der äußeren Sensibilität des Organismus, als Vorform des Begreifens zu verstehen, welches sprachlich den tierischen Ursprung des theoretischen Verhaltens zur Welt und damit zu sich bewahrt.

15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20; im folgenden mit § im Text zitiert. 16 § 351, Zusatz; in: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, TWA 9, 432. 17 GW 9, 69. 18 Hierin liegt in nuce die Hegelsche Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins.

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2 Als die gewordene Wahrheit der Natur ist der Geist zunächst Seele als einfache Allgemeinheit (§ 388), mit der die Anthropologie beginnt. Der Ausdruck „Anthropologie“ bezeichnet hier mehr als nur eine (noch relativ junge) philosophische Disziplin, er bezeichnet nämlich die Grundlage des Geistes in der Gleichheit der Menschen als denkender Wesen: „Der Mensch ist Mensch […] der Mensch ist denkend, und somit gleich.“19 Auf dem Boden des Geistes ist der Mensch das Maß aller Dinge, denn der Geist ist das menschliche Maß. Die scheinbare Tautologie „der Mensch ist Mensch“, die in den Grundlinien der Philosophie des Rechts in der Formulierung wiederkehrt, Menschsein sei nicht „eine flache, abstracte Qualität“,20 bezeichnet dieses Maß, worunter Hegel generell dasjenige versteht, worin „Fürsichsein und die Gleichgültigkeit der Bestimmtheit vereinigt sind“ (§  106). Als das ganz Abstrakte und Bestimmungslose (der Mensch ist Mensch ungeachtet seiner sonstigen Bestimmtheiten) ist das Maß gleichwohl „als eine Definition des Absoluten zu betrachten“.21 Nun gelten Definitionen im Kontext der Hegelschen Philosophie nicht allzu viel, und das Maß ist zwar die vollendete Bestimmtheit des Seins, aber eben nur des Seins. Gleichwohl ist damit eine nicht unerhebliche Festlegung getroffen: Die Frage, was der Mensch sei, wird aus der Entwicklung dessen beantwortet, was Menschsein in Wahrheit ist. Auch dies ist keine triviale Tautologie. Menschsein ist die entwickelte Selbstbeziehung des Menschen in seiner Sichselbstgleichheit und Gleichheit mit anderen Menschen, d. h. im Geist. Die Entwicklung des Geistes als dessen Selbsterfassung realisiert das anthropologische Maß (des Menschseins des Menschen) so, dass es die Natürlichkeit und damit die Anthropologie hinter sich lässt.22 So ist die Anthropologie im Hegelschen Verständnis als Abhandlung über die Seele zunächst noch in ihrer „unmittelbaren Naturbestimmtheit“ befangen als

19 GW 25, 1, 33 f. (Nachschrift Hotho 1822). Vgl. auch ebd., 236, Nachschrift Griesheim 1825: „Allein es ist nicht die Naturverschiedenheit wodurch sich Recht und Gerechtigkeit bestimmt, nur durch Vernunft geschieht dieß und sofern sie Menschen sind, sind sie vernünftig, darin haben sie absolut gleiche Rechte“. 20 GW 14, 1, 217, § 270, Erläuterung, Anm. 21 § 107, Zusatz; TWA 8, 224. 22 Dass damit keine Degradierung der Anthropologie verbunden ist, zeigt Christoph J. Bauer, „Eine ‚Degradierung der Anthropologie?‘“ , in: Hegel-Studien 43, 13–35. Zu Hegels Anthropologie vgl. auch Iring Fetscher, Hegels Lehre vom Menschen. Ein Kommentar zu den §§ 387–482 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Stuttgart 1970; Manfred Baum, „Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Geist und Seele in der Anthropologie“, in: Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, hg. v. Friedhelm Decher und Jochem Hennigfeld, Würzburg 1992, 51–66.

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„die nur seyende, natürliche Seele“ (§  390).23 Deren Erwachen zu sich tritt mit dem Fürsichsein der wachen Seele als Empfindung in Erscheinung. Empfindung ist für Hegel vom Gefühl, ungeachtet der sehr großen semantischen Schnittmengen, dadurch unterschieden, dass die Empfindung „mehr die Seite der Passivität, des Findens, d. i. der Unmittelbarkeit der Bestimmtheit im Fühlen, hervorhebt, das Gefühl zugleich mehr auf die Selbstischkeit [so Hegels Schwäbizismus, A.], die darin ist, geht“. (§ 402, Erl.) Das hier angesprochene „Finden“ der Empfindung hat, wie Hegel in dem Berliner Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes (ca. 1822–1825) ausführt, eine doppelte Bedeutung: sie findet „einer Welt von Bestimmtheiten sich gegenüber“ und sie findet „sich selbst bestimmt“, als Individualität.24 Auch hier liegt wieder der durch die Beziehung auf Anderes vermittelte Selbstbezug zugrunde. Indem die Seele die Totalität der wechselnden Bestimmtheiten ist, d. h. als die allgemeine Substanz der Veränderungen durch äußere Bestimmtheiten, ist sie zugleich bestimmt und allgemein und darin doch „eins und dasselbe“ und daher „in dieser Bestimmtheit bey sich selbst“.25 Der Inhalt der Empfindung ist jedoch ganz zufällig: Alles kann empfunden werden und ist dann Bestimmtheit in der Totalität der Seele als deren Eigenes. das heißt: die Empfindungen sind in ihren Bestimmtheiten gleichgültig im Sinne von gleich-geltend, austauschbar, und sie sind als in der individuellen Totalität der Seele bloß subjektiv, je meinige, ohne Klärung ihres objektiven Gehalts. Für Hegel ist daher bereits hier, auf der Stufe der Empfindung als „Form des dumpfen Webens des Geistes“ (§ 400) der Ort, darauf hinzuweisen, dass die Berufung auf Herz und Empfindung den Wahrheitsgehalt des Empfundenen nicht verbürgen kann. Als Form eines beliebigen Inhalts ist die Empfindung gleichgültig gegen Unterscheidungen wie gut und böse, wahr und falsch: „In solchen Zeiten, in welchen das Herz und die Empfindung zum Kriterium des Guten, Sittlichen und Religiösen von wissenschaftlicher Theologie und Philosophie gemacht wird,  – wird es nöthig an jene triviale Erfahrung zu erinnern“. (Ebd., Erl.)

23 Zu Hegels Seelenlehre vgl. Hermann Drüe, Psychologie aus dem Begriff, Berlin und New York 1976; Hegels philosophische Psychologie, hg.  v. Dieter Henrich, Bonn 1979; Hegels Theorie des subjektiven Geistes, hg. v. Lothar Eley, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, hg. v. Franz Hespe und Burghard Tuschling, Stuttgart 1991; Hermann Drüe: „Philosophie des Geistes“, in: Hegels ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830)‘. Ein Kommentar zum Systemgrundriß, hg. v. Hermann Drüe u. a., Frankfurt/Main 200, 206–289; Dirk Stederoth: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Ein komparatorischer Kommentar, Berlin 2001. 24 GW 15, 233. Vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart und Weimar 2003, 283–285. 25 GW 15, 233 f.

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Im Weiteren unterscheidet Hegel dann äußere und innere Empfindung dergestalt, dass die äußere von der Seele verinnerlicht oder erinnert wird, während die innere die Bestimmtheiten des Geistes verleiblicht (§ 401). Dies „wäre würdig“, wie Hegel konjunktivisch im Blick auf eine noch nicht vorhandene empirische Wissenschaft anmerkt, in „einer psychischen Physiologie, ausgeführt und abgehandelt zu werden“, die zu betrachten hätte, wie „von der Seele heraus […] Particularisationen sich bilden, die gegen das Pathognomische und Physiognomische zu liegen“ (ebd., Erl.). Mit der äußeren und inneren Empfindung ist gesetzt, dass die Empfindung tatsächlich Grundlage aller Erkenntnis ist, freilich nur in demjenigen Sinne, wie Hegel Grundlage immer als etwas erst zu Realisierendes versteht, das für sich genommen die Wahrheit (noch) nicht ist. Auf der Stufe der Empfindung kommt das Innere jedoch noch nicht in seiner eigenen, geistigen Natur zur Geltung, sondern nur als Verleiblichung des Inneren, in der es sich findet. Das Empfinden überhaupt ist an die Leiblichkeit gebunden; Hegel spricht von dem „gesunde[n] Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit“ (ebd.). Während in der Naturphilosophie, im theoretischen Prozess des Tieres, das Gefühl als bestimmtes Gefühl in den fünf Sinnen hervortritt, bildet in der Philosophie des Geistes das Gefühl den Abschluss des Durchgangs durch die fünf äußerlichen Sinne.26 Es ist das Gefühl als „Sinn der concreten individuellen Totalität“, wie es in der Nachschrift Hotho 1822 heißt,27 oder „ausschließlich Fühlen“, wie es Erdmann 1827/28 notiert: „Im Hören und Sehen empfinden wir uns nicht selbst, im Riechen und Schmecken fängt das an, und im Fühlen als solchen ist die Rückkehr vollendet, wenn ich einen Gegenstand fühle, fühle ich ihn mir Widerstand leistend.“28 Das Gefühl als solches ist hier identisch mit dem Tastsinn oder dem Sinn des Mechanischen, wie es in der Naturphilosophie heißt.29 Hierin ist das Fühlende „gegen das Materielle ein fühlendes für sich. […] Es ist der Sinn des für sich Beharrenden, Äußerlichen, Widerstandleistenden, ebenso wie das Fühlende für sich Seiende“; Hegel nennt das Gefühl als solches, den Tastsinn, nach Hotho

26 Vgl. Stederoth, „Gefühl“, a. a. O. (Anm. 6), 220. 27 GW 25, 1, 53. 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/1828, hg. v. Franz Hespe und Burkhard Tuschling, Hamburg 1994 (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte 13), 76; vgl. jetzt GW 25, 2, 636. 29 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Naturphilosophie, Bd. 1: Die Vorlesung von 1819/20, in Verb. mit Karl-Heinz Ilting hg. v. Manfred Gies, Napoli 1982, 135. Vgl. GA 24, 1, 164, Zeile 4. – Stederoth (vgl. Anm. 26) konturiert daher m. E. den Unterschied von Natur- und Geistesphilosophie in der Behandlung des Gefühls zu stark.

Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes 

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auch den „Sinn der irdischen Totalität“.30 Seine besondere Dignität besteht darin, dass er in der Totalität der Beziehung auf Anderes zugleich die Beziehung auf sich als das für sich Seiende oder das Andere als das Allgemeine (die Totalität) zum Anderen realisiert. Zwar ist dieses Allgemeine nur erst an sich oder formell Fürsichsein und noch nicht bewusstes Fürsichsein, jedoch liegt in ihm bereits die Möglichkeit des Übergangs von der natürlichen zur fühlenden Seele. Letztere ist ganz Fühlen, d. h. in die Unmittelbarkeit des Gefühls sind Unterschiede wie inneres und äußeres Gefühl und damit Subjektivität und Objektivität versenkt. Die Seele als empfindende Totalität oder sich empfindend „empfindet ihre Welt nur erst auf subjective Weise, und die Welt des Individuums ist es, welche die Seele empfindet“.31 Man könnte von einer Verrückung der Welt in die Seele sprechen, in der die Seele die Welt zwar schon immer als die ihrige – sei es auf dem Wege der Verinnerlichung oder der Verleiblichung – fühlt, dies aber noch nicht im Modus des entwickelten Selbstbewusstseins, in dem die negative Beziehung auf die „Welt“ ihr den Status eines Anderen zum Selbst gibt. Vielmehr: da die empfindende Seele in ihrer Unmittelbarkeit Selbst und Welt gar nicht unterscheidet, ist sie nur das Andere zum Anderen und nicht das Selbst. An dieser Stelle ist daher bei Hegel auch von allerlei „übernatürlichen“ und pathologischen Zuständen (Verrücktheit) die Rede, die in der ungeschiedenen Unmittelbarkeit von Selbst und Welt in der fühlenden Seele ihren Grund haben: von Ahnungen, Vorahnungen, Hellsehen usw. Sie sind übernatürlich in dem Sinne, dass die fühlende nicht mehr die natürliche Seele ist; alle diese Zustände kommen darin überein, dass in ihnen ein unmittelbares Wissen in der Form des Fühlens vorhanden ist, aber nicht die Mittelglieder, um Subjektives und Objektives zu unterscheiden und damit ein wirkliches Wissen zu begründen.32 In der ausführlichen Beschreibung solcher paranormalen Phänomene in den Vorlesungen wird deutlich, dass Hegel sie keineswegs von vornherein als irrational abwehrt, sondern sich auch hier um die dem Gefühl immanente Rationalität bemüht. Er erkennt hier zwar „viel Aberglauben, Täuschung, Märchen […], aber viele Geschichten die wahr sind gehören hierher, indem sie hierin ihre Möglichkeit, ihren Begriff haben“.33 Gleiches gilt für die Phänomene der Verrücktheit, die ja bei Hegel nun tatsächlich die Verrückung der Welt in die Seele im Modus der Ununterschiedenheit von Selbst und Welt zur Grundlage hat. Weil die fühlende Seele das Erwachen des vernünftigen Geistes aus der Natur bezeichnet, so „sind auch die Narren

30 GW 25, 1, 55. 31 Ebd., 60. 32 Vgl. ebd., 68. 33 Ebd., 336.

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immer noch Menschen und vernünftige Menschen, dieser gesunde Geist muß immer noch vorausgesetzt werden, und dieß ist der Grundsatz“.34 Das rationale und weiterführende Moment der Unmittelbarkeit der fühlenden Seele besteht nach Hegel darin, dass die Seele sich das Besondere oder Leibliche der Gefühlsbestimmungen „in das Sein der Seele“ einbildet, zuletzt in der Gewohnheit als einer „zweite[n] Natur“ (§ 410 und Erl.).35 In dieser „zu eigen gemachten Leiblichkeit“ (§ 411) liegt die Möglichkeit, das Andere – die Totalität der „Welt“ – zum Anderen der Seele selbst zu machen, für die der Leib dann als Äußerliches zum Inneren, der Seele, fungiert. Damit sind wir aus dem Bereich der fühlenden in den der wirklichen Seele eingetreten, die den Übergang zum Bewusstsein und damit der „Phänomenologie des Geistes“ bildet, welche die Anthropologie bereits hinter sich gelassen hat und die ihrerseits in die Psychologie als dritte und letzte Stufe des subjektiven Geistes mündet. Hier, in der Psychologie, tritt das Gefühl auf zweifache Weise wieder in den Hegelschen Diskurs ein: als Ausgangspunkt sowohl des theoretischen als auch des praktischen Geistes. Im theoretischen Gefühl hat der Geist sich nicht nur, wie in der fühlenden Seele, seine Leiblichkeit angeeignet, sondern der Stoff des Geistes überhaupt ist hier als dem Geist immanent gesetzt, allerdings wiederum in jenem Modus der Unmittelbarkeit, der es nicht erlaubt, die Zufälligkeit und Beliebigkeit des Inhalts nach objektiv gültigen Kriterien zu unterscheiden (§ 447). Auch hier warnt Hegel vor der Partikularität der Berufung auf Gefühle: wer sich auf das Gefühl beruft, das in seiner Unmittelbarkeit immer das jemeinige ist, verweigere sich dadurch „der Gemeinschaft der Vernünftigkeit“ – d. h. der Mitteilung statt der Unmittelbarkeit – und schließe sich „in seine isolirte Subjectivität“ ab (ebd., Erl.): Gefühle sind solipsistisch der Form nach, auch wenn ihr Inhalt an sich vernünftig ist, was nach Hegel schon für den theoretischen Geist gilt.36 Auch im praktischen Gefühl ist der Geist eine „an sich mit der Vernunft einfach identische Subjektivität“, hat aber ebenso wie der theoretische Geist einen zufälligen und subjektiven Inhalt, dessen Angemessenheit zur Vernunft in der Unmittelbarkeit des praktischen Gefühls nicht thematisch werden kann (§ 471). Auch hier ist es daher verdächtig, sich auf Herz und Gefühl zu berufen.

34 Ebd., 392. 35 Hieran hängt traditionell das Leib-Seele-Problem, das für Hegel nur ein Scheinproblem darstellt, wie Michael Wolff ausführlich gezeigt hat: Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389, Frankfurt/Main 1992. 36 Vgl. die „Notizen zum dritten Teil der Encyclopädie“, GW 13, 399.

Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes 

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3 Was bleibt vom Gefühl? Einerseits sehr viel: Im Gefühl vermittelt sich der erwachende Geist mit der Natur und tritt zugleich aus der Natürlichkeit heraus, aber so, dass ihm aller Stoff durch das Gefühl gegeben wird. Andererseits sehr wenig: Gerade weil jeder bestimmte Stoff zunächst im Gefühl gegeben ist, ist das Gefühl die bloße Form eines beliebigen Inhalts, und diese Form ist als bloß subjektiv und unmittelbar für sich genommen nicht wahrheitsfähig. In dieser Hinsicht – aber auch nur in dieser Hinsicht – bleibt das Gefühl das, als was es bei Hegel systematisch zuerst auftritt: eine grundlegende, aber darum eben die niedrigste Stufe in der Entwicklung des Geistes. Es eröffnet diese Entwicklung, aber es eröffnet keine privilegierten Zugänge zu Bereichen des geistigen Lebens. Hier gilt, was Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts schreibt: „Mit dem einfachen Hausmittel, auf das Gefühl das zu stellen, was die und zwar mehrtausendjährige Arbeit der Vernunft und ihres Verstandes ist, ist freylich alle die Mühe der von dem denkenden Begriffe geleiteten Vernunfteinsicht und Erkenntniß erspart.“37 Weil aber das Gefühl nur die Form eines (beliebigen) Inhalts ist, ist es – und dieser Aspekt wird oft übersehen – auch fähig, Form einer Wahrheit in dem Sinne zu werden, dass es Ausdruck der subjektiven Aneignung einer Vernunft-Wahrheit oder ihrer Verinnerlichung ist. Auf der Ebene des objektiven Geistes, also im Rahmen der Rechtsphilosophie, kann die Gesinnung als eine solche Form betrachtet werden. So hat der Staat als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ an dem „Selbstbewußtseyn des Einzelnen, dem Wissen und Thätigkeit desselbenseine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Thätigkeit, seine substantielle Freyheit hat“.38 Hierher gehört auch, dass der Staat nach Hegel eine religiöse Grundlage hat, welche zwar vom Staat als objektivem Geist autonom „zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt“ entfaltet werde,39 jedoch dürfe der Staat dennoch, „indem die Religion das ihn für das Tiefste der Gesinnung integrirende Moment ist, von allen seinen Angehörigen […] fordern, daß sie sich zu einer Kirchen-Gemeinde halten, – übrigens zu irgend einer“.40 In der Religionsphilosophie selbst erhält das Gefühl ein Wahrheitsmoment dadurch, dass in seiner Unmittelbarkeit der Gegensatz des endlichen Subjekts gegen das Unendliche oder Gott aufgehoben ist. Das religiöse Gefühl ist die

37 GW 14, 1, 10. 38 Ebd., 201, § 257. 39 Ebd., 214, § 270, Erläuterung. 40 Ebd., 216, § 270, Erläuterung.

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subjektive Gewissheit, dass mein Sein und das Sein Gottes nicht zweierlei sind, sondern Gott in meinem Sein selbst ist. Des bezeichnet einen Zustand, „wo Gott in diesem Sein ist, das mir bleibt, in dem ich bin – also eine Weise, wo in mir als Seiendem ungetrennt ist dies, was ich bisher Gegenstand, Gott, genannt habe. Dieser Ort, daß Gott in dem Sein ist, das ist nun das, was wir das Gefühl heißen“.41 Das Gefühl ist hier die Form einer Einheit, welche als vernünftige begrifflich explizierbar ist, aber es ist nicht der Grund dieser Einheit oder ein privilegierter Zugang zu ihr. Dennoch gilt, „daß auch der wahrhafte Inhalt in unserem Gefühl sei muß“,42 wie es dann religiös im Kultus auch praktiziert wird. Dies kommt mit dem überein, was eingangs aus der Ästhetik zitiert wurde: Gefühl und Herz sind notwendig, weil wir im Gedanken allein nicht leben können, aber sie sind nicht ursprünglich in dem Sinne, dass sie einen eigenen Bereich des geistigen Lebens begründen. Um diese Eigenbedeutung des Gefühls gegenüber der Rationalität und nicht um die rationale Bedeutung der Gefühle geht es denjenigen Kritikern, die Hegel vorwerfen, das Gefühl abzuqualifizieren. Hierzu sei zum Schluss meiner Ausführungen noch eine kurze Anmerkung gestattet. Hegel hat die ihm vorliegenden Bestimmungen und semantischen Differenzierungen im Bereich des Gefühls in eine systematische Ordnung gebracht, die dem Gefühl eine nicht unerhebliche Rolle in der Entwicklung des Geistes zuschreibt, auch wenn es keinen Inhalt zurückbehält, der nicht der begreifenden Vernunft angehörte. Die Eigenbedeutung des Gefühls liegt für Hegel ausschließlich in der Form, und diese Form ist als emotionale bzw. affektive Bindung des einzelnen Subjekts an die Wahrheit auch unverzichtbar. Das aber ist ja nicht das, was die Kritiker einfordern, und hier enttäuscht sie Hegel. Das Gefühl als Grundlage einer eigenen Wahrheit ist diejenige Bestimmung des Gefühls, die er in seine Systematik nicht übernimmt. Hier allerdings muss die kritische Frage an Hegels Kontrahenten gestattet sein, ob das, was sie in diesem Zusammenhang als Gefühl ausgeben, überhaupt – außer der Form der Subjektivität und Unmittelbarkeit – etwas mit dem zu tun hat, was wir als Gefühl bezeichnen. So sind bei Schleiermacher sowohl das religiöse Bewusstsein im dogmatischen Sinne als auch das unmittelbare Selbstbewusstsein als Gefühl im philosophischen Sinne verschieden von den Affektionen, die nur momentane Erregungen betreffen, obwohl religiöses Gefühl und unmittelbares Selbstbewusstsein nur im Zusammenhang mit solchen Affektionen vorkommen, während das Gefühl,

41 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1, Einleitung. der Begriff der Religion, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1983, 175. 42 Ebd., 179.

Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes 

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um das es Schleiermacher geht, alle Akte des Wissens und Wollens begleitet. Es ist ersichtlich ein theoretisch konstruiertes Gefühl und  – ungeachtet seiner Unmittelbarkeit – kaum eines, das sich uns unmittelbar aufdrängt. Mit ihm wird nicht das Gefühl in seiner Eigenbedeutung aufgewertet, sondern etwas Eigenes neben Gefühl und Rationalität gestellt.43 Hegel formuliert mit seiner Theorie des Gefühls eine Alternative hierzu, die gleichwohl auch über deren Funktion im geistigen Selbst- und Weltverhältnis nicht hinweggeht. Hierin liegt ihr systematisches Potential, das es für die gegenwärtigen Diskussionen erst zu entdecken gilt.

43 Vgl. dazu Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, 64 ff.

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Das Tierische und das Menschliche bei Hegel Dadurch, dass Hegel den Begriff in den Vordergrund stellt, entsteht oft der irreführende Eindruck, dass er die traditionelle, bis zur Aufklärung vorherrschende Trennung zwischen dem Tier (und der Pflanze) auf einer Seite und dem Menschen (der Vernunft) auf der anderen Seite übernimmt und als (ein) Element seiner Philosophie und der religiösen Tradition weiter entwickelt. Schon der erste Satz in der Phänomenologie des Geistes, der sich auf das Tierische bezieht, heißt, getrennt und isoliert genommen: „Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.“1 Damit klingt die Trennung zwischen den Menschen, dem Verstand, der Vernunft, auf einer Seite und den Tieren als nur in der Gefühlswahrnehmung stehen gebliebenen Lebewesen auf der anderen Seite an. Die traditionelle, voraufklärerische Auffassung von der Differenz und dem Widerspruch zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen hatte zwei Quellen: eine philosophische, mit Protagoras als Vordenker, der nach Platon den Menschen als Maß aller Dinge2 bestimmte, und eine religiöse,3 die durch Paulus von Tarsus4 eingeführt wurde. Beide Richtungen vereinen und radikalisieren sich in Bezug auf ihre Auffassung der menschlichen Seele, die den Menschen über alle anderen Lebewesen erhebt und einzig macht. Platon, in Anlehnung an Sok-

1 TWA 3, 65. 2 Platon, Theaitetos, 152; Sextus Empiricus, Pyrrhoniae hypotyposes I, 32, § 216. 3 Bibel, 1. Buch Mose, Kapitel 1, Verse 1 bis Kapitel 2, Vers 4a: „Und Gott sprach: ‚Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht‘. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ 4 Bibel, Röm 2, 12–16: „Wenn nämlich Heiden, die [das] Gesetz nicht haben, von Natur aus die [Forderungen] des Gesetzes tun, dann sind die, die [das] Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen ja, dass das Werk des Gesetzes in ihren Herzen aufgeschrieben ist, weil ihr Gewissen mit Zeugnis ablegt und die Gedanken sich gegenseitig anklagen und verteidigen, an jenem Tag, an dem (der) Gott das Verborgene der Menschen richten wird nach meinem Evangelium durch Christus Jesus.“

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rates, hat Gespräche mit seiner eigenen ‚inneren Stimme‘ vor schwierigen Entscheidungen und in bedrohlichen Situationen zu einer Philosophie entwickelt, in der die Seele zu einem Eckbegriff seiner ganzen Theorie der gesellschaftlichen Stabilität und ihrer Unveränderbarkeit wurde. Diese Auffassung war auch aus einer anderen – der jüdischen – Tradition durch die Bibel und durch die Zusammenfassung mit der Theorie Platons in der Patristik kanonisiert und wurde bis zur Aufklärung kaum in Frage gestellt. Wie positioniert sich Hegel dazu? Mit der Anspielung auf ‚das Widermenschliche, das Tierische‘ scheint Hegel an die traditionelle Trennung zwischen dem Menschlichen als Erhabenem und von einer Seele her definierten und dem Tierischen Tribut zu zollen und ihr treu zu sein. Tatsächlich aber wollte er auf zwei Niveaus gleichzeitig schreiben, um sich die öffentliche, traditionelle Legitimation zu sichern. Parallel dazu entwickelte er verdeckt einen Gegenstrom aufklärerischer Gedanken, bei welchem er sich im Klaren war, dass er ihn vor der Öffentlichkeit und vor den politischen Autoritäten suspekt machen könnte. Diese Parallelität, die auch ein Text-oder Versteckspiel im Text ist, hat sich bei Hegel allmählich entwickelt und kam erst in der Phänomenologie des Geistes voll zur Geltung. Wenn er in dem Satz vom ‚Widermenschlichen, dem Tierischen‘ spricht, meint er das Menschliche in seiner Entzweiung und das Tierische nur als Gleichnis, um eine Degradation auszudrücken – als ‚ein Schlagwort des gemeinen Menschenverstandes gegen die gebildete Vernunft‘. Es sind bei ihm nicht die Tiere als diejenigen gemeint, die ‚im Gefühle stehen bleiben‘, sondern diejenigen Menschen, die sich nicht die Mühe geben ‚gebildet zu denken‘, sie bleiben im Gefühl stehen, und bringen „letzte Wahrheiten jener Art vor […], diese Mühe konnte längst erspart werden, denn sie sind längst etwa im Katechismus, in den Sprichwörtern des Volks usw. zu finden.“5 Die Erhabenheit und Herrschaft des Menschlichen gegenüber dem Tierischen als Aufforderung ist in der Bibel zu finden und in den alltäglichen ‚Sprichwörtern‘ gesellschaftlicher Gemütlichkeit der Menschen. Aber statt offen gegen solche ‚Sprichwörter‘ aus der Bibel oder von Paulus von Tarsus zu reden, fand Hegel einen praktischen Umweg, um auf einem aufklärerischen Standpunkt zu räsonieren und richtete seine Kritik gegen dieselben Sprichwörter in der Version der ‚Rhetorik trivialer Wahrheiten‘. Dass diese Wahrheiten genauso in der Bibel zu finden sind und in der Philosophie der Patristik bis zu der Zeit, die mit der Aufklärung endete, hat er verschwiegen. Noch wichtiger ist aber sein Hinweis in Richtung der Alltagspraxis der Menschen, die in den Schlagwörtern des gemeinen Menschenverstandes versteinert ist. Seine Kritik der Alltagspraxis und ihrer Sprichwörter war somit eine der wichtig(st)en Quellen seiner Phi-

5 TWA 3, 64.

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losophie und ist gleichzeitig ein Lehrstück zum Schreiben unter der Gefahr der Repression und des Verlustes seiner beruflichen Position. Die Vorrede der Phänomenologie des Geistes schließt mit einer Überlegung, wodurch die damalige Wissenschaft existierte, die Hegel in die Selbstbewegung des Begriffs setzte. Hier thematisiert er nochmals die Spannung zwischen zwei Wegen: einem gemeinen Wege, der sich „im Hausrocke“ macht und einem, der „im hohepriesterlichen Gewande schreitet [als] Hochgefühl des Ewigen, Heiligen, Unendlichen“. Er spielt das Thema mehrmals durch, wobei er in den Mittelpunkt der Diskussion „die Vorstellungen unserer Zeit über die Natur und Gestalt der Wahrheit“ stellt,6 ganz im Einklang mit der Philosophie der Aufklärung. Hier wendet Hegel seine erprobte Strategie des Text- oder Versteckspiels an, er würdigt Platon wegen seiner höchsten Kunst des Dialoges bzw. der Dialektik, was wieder als Hinweis in eine bestimmte Richtung und als Aufforderung zu einer Gesellschaft des Dialoges verstanden werden kann, lehnt aber Platons ‚wissenschaftlich wertlose Mythen‘ ab, ohne dass er wissenschaftlich genauso wertlose Mythen der Monotheismen zu erwähnen braucht. Einen weiteren Schritt zur Bekräftigung seiner aufklärerischen Position am Ende der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes stellt seine Behandlung der Ekstase dar. Auch sie wird von Hegel in einer differenzierten Beurteilung von Platons Philosophie vorgeführt; auf einer Seite die schon erwähnten ‚wissenschaftlich wertlosen Mythen‘, auf der anderen ‚das Vortreffliche‘ seiner Theorie, womit er seinen ‚Dialog Parmenides‘ vor Augen hat, „das wohl größte Kunstwerk der alten Dialektik, der für die wahre Enthüllung und positiven Ausdruck des göttlichen Lebens gehalten wurde und sogar bei der vielen Trübheit dessen, was die Ekstase erzeugte, diese missverstandene Ekstase in der Tat nichts anderes als der reine Begriff sein sollte, – dass ferner das Vortreffliche der Philosophie unserer Zeit seinen Wert selbst in die Wissenschaftlichkeit setzt, und, wenn auch die anderen es anders nehmen, nur durch sie in der Tat geltend macht“.7 Was könnte Hegel mit dem Ausdruck ‚Platons wissenschaftlich wertlose Mythen‘ gemeint haben? Die Seelenhierarchie und die mit ihr verbundene unverrückbare gesellschaftliche Hierarchie, unvereinbar mit dem grundlegenden aufklärerischen Prinzip des gesellschaftlichen Dialogs und der Gleichheit und der Freiheit der Menschen. Damit hat er seine ablehnende Haltung zur Ekstase als Grundlage zum Ausdruck gebracht, bei der die Trübheit, die sie erzeugt, und bei den Missverständnissen, die sie erzeugt, wo sie in Wirklichkeit für Hegel ‚in der Tat nichts anderes als der reine Begriff sein sollte‘. Damit hat er als die einzig

6 Ebd., 66. 7 Ebd.

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wahrhafte Quelle der möglichen Ekstase den Dialog Parmenides von Platon statuiert und ist energisch gegen andere Formen der Ekstase  – der gesteigerten, schwärmerischen Freude, Bewunderung, Begeisterung und Entzückung  – als Grundlage der Philosophie, Religion, Ethik und Gesellschaftstheorie aufgetreten. Das ist bei aller Bedeutung, die er Kants Philosophie beimisst und wo er bestens über die Ereignisse um Kants ‚schädliche Schriften‘8 Bescheid wusste, nicht verwunderlich, weil dieselben Umstände, Zensur, Regentenwillkür, Rechtswege und Reaktionen der Öffentlichkeit, auch seine Situation und sein Schreiben bestimmten. Kants Text zur Religion war seine erste große Publikation nach den kritischen Schriften und eine ständige Provokation vom Anfang bis zum Ende. Er hat nach der Authentizität der Religionspraxis gefragt, wobei er Institutionen, Gefühle, Ideen, Mythen, Alltagspraxen, ihre öffentlichen Manifestationen und Kritiken untersucht hat. Als Hegel das gelesen hatte, dreiundzwanzigjährig, war der Text wegen der Zensuraffäre in aller Munde. Einerseits musste ihm das durch die Art der systematischen und historischen Beispiele imponieren, die Kant eine radikal aufklärerische Kritik, Humor und Ironie durch seine indirekte Sprache ermöglichte,9 vor allem aber durch die Art, Phänomene der Religion, der Institutionen und Begriffe der menschlichen Kreativität und Hilflosigkeit in Symbole zu verwandeln. Andererseits war ihm Kant auch ein Vorbild in Unnachgiebigkeit und Ausdauer im Rückgriff auf Mittel des Rechtsstaates bei der Übergabe seiner Schriften an die Zensur.10 So kann man Hegels Texte im Zusammenhang mit Kants Texten, vor allem mit dessen Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft als einen Dialog unter aufklärerischen philosophischen Kritikern deuten. Kant sah die innere Verbindung zwischen „einem tungusischen Schaman, bis zu dem Kirche und Staat zugleich regierenden europäischen Prälaten […] oder dem ganz sinnlichen Wogulitzen, der die Tatze von einem Bärenfell sich des Morgens auf sein Haupt legt, mit dem kurzen Gebet: ‚Schlag mich nicht todt!‘ bis zum sublimierten Puritaner

8 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). 9 Eines der zahllosen Beispiele: „Die Verehrung mächtiger unsichtbarer Wesen, welche dem hülflosen Menschen durch die natürliche auf dem Bewusstsein seines Unvermögens gegründete Furcht abgenöthigt wurde, fing nicht sogleich mit einer Religion, sondern von einem knechtischen Gottes- (oder Götzen-) Dienste an, welcher, wenn er eine gewisse öffentlich-gesetzliche Form bekommen hatte, ein Tempeldienst, und nur, nachdem mit diesen Gesetzen allmählich die moralische Bildung der Menschen verbunden worden, ein Kirchendienst wurde: denen beiden ein Geschichtsglaube zum Grunde liegt, bis man endlich diesen bloß für provisorisch, und in ihm die symbolische Darstellung und das Mittel der Beförderung eines Religionsglaubens zu sehen angefangen hat.“ (Kant, Die Religion, AA 6, 175 f.) 10 Die Zensur, die er nicht umgehen wollte, obwohl er es hätte machen können.

Das Tierische und das Menschliche bei Hegel 

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und Independenten in Connecticut“.11 Kant sieht zwar einen mächtigen Abstand zwischen ihnen in der Manier, aber nicht im Prinzip, zu glauben. Hier entwickelt Kant das Prinzip der Charakteristik des Glaubens als Opposition und Distanzierung gegenüber dem Denken und zeigt den inneren Zusammenhang desselben in historischen und globalen Dimensionen. Diese Art, zu verfahren, musste Hegel enthusiastisch stimmen. Obwohl Hegel immer wieder die Wichtigkeit der Philosophie Kants unterstreicht und hervorhebt gibt es auch Schlüsselstellen, wo er seinen Bezug auf ihn verschwiegen hat, und das mit gutem Grund. Ein solcher Fall ist seine Behandlung der Ekstase, die er nicht von der Patristik weiterentwickelt, als er auf die „Trübheit dessen, was die Ekstase erzeugte, diese missverstandene Ekstase [die] in der Tat nichts anderes als der reine Begriff sein sollte“,12 hinweist. Er leitet sie umgekehrt von Platons Parmenides her, um keine Überreaktion der Zensur zu provozieren, nicht von religiösen, herrschaftlichen, erotischen oder nationalen Schwärmereien, obwohl er diese in ihrer ganzen Buntheit vor Augen hatte. Er kannte auch Kants Auffassung von Ekstase, die in einen Bereich außerhalb der bloßen Vernunft fällt. Kant behandelt sie trotzdem innerhalb ihrer, stellt dabei aber die Frage: „wer ist alsdann hier wohl der Ungläubige?“13 Ich habe an anderer Stelle schon über die aussichtslose Situation der gefangenen bosnischen Muslime geschrieben, deren Eltern oder sie selbst im sozialistischen Jugoslawien oder bereits früher zu einem großen Teil zu Atheisten geworden waren, und die während der jugoslawischen Nachfolgekriege in serbische Gefangenschaft gerieten und laut Berichten unter verschiedensten Vorwänden ihren Peinigern vorzutäuschen versuchten, sie seien keine Muslime, sondern Serben. Als sie aber gemerkt hatten, ihre Erschießung stehe unmittelbar bevor, haben sie sogar in Anwesenheit ihrer Wachen moslemisch zu beten begonnen und nicht mehr versucht, ihre Identität zu verleugnen, selbst wenn sie nicht religiös erzogen worden waren. Das ist, wenn man ein tragisches Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit heranziehen möchte, eine der seltenen Situationen, wo Ekstase zu einer Quelle von Religiosität werden kann, und authentisch – in dem Sinne, wie Kant sie definiert hatte, nämlich als „Religionswahn“. Hegel konnte sich nicht erwehren, unter dem Einfluss von Kant und der Stimmung der damaligen Zeit sich von der Ekstase zu distanzieren und sie als authentisch ausschließlich im philosophischen Sinne der spekulativen Tiefe von Platons Parmenides zu interpretieren. Dabei kommt dem symbolischen

11 Kant; Die Religion, in: AA 6, 176. 12 TWA 3, 67. 13 Kant, ebd., 231.

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Niveau der Diskussion eine große Bedeutung zu. Beide, Kant und Hegel, haben, der Manier der Zeit und der englischen und französischen Aufklärung folgend, einen juristischen und ethischen Naturzustand vorausgesetzt. Der heimliche Sinn der philosophischen und juristischen Kategorie ‚Naturzustand‘ war die Idee der Gleicheit und Freiheit aller Menschen bei der Geburt und eine Verwunderung, dass man sie überall ‚in Ketten‘ sehen konnte. Die Kategorie des Naturzustands hatte von Anfang an schon bei Aristoteles und Paulus von Tarsus eine ethische und politische Bedeutung und auch mit ‚der Natur‘ des Menschen zu tun, mit einer Symbolik des Menschlichen und nicht des Tierischen. Den Ausgangspunkt der Aufklärung vor ihm, von Hobbes, Rousseau und anderen bis zu Kant, nämlich das Prinzip der Gleichheit der Menschen bei ihrer Geburt, interpretiert Hegel schon in der Phänomenologie des Geistes desillusioniert, als diese „ursprüngliche Bestimmtheit der Natur [des Menschen, L. S.] ist daher nur einfaches Prinzip, – ein durchsichtiges allgemeines Element [bloß der rechtlichen und philosophischen Auffassung des Menschen bei seiner Geburt, L. S.], worin die Individualität ebenso frei und sich selbst gleich bleibt, als sie darin ungehindert ihre Unterschiede entfaltet [zwischen arm und reich, zwischen Mann und Frau, zwischen Mensch und Natur/Tier usw., L. S.] und reine Wechselwirkung mit sich in ihrer Verwirklichung [im Leben des Individuums, L. S.] ist“.14 Hegel hat die Entfaltung dieser Unterschiede gemerkt, war durch sie aber angewidert, da sie die Wiederherstellung der alten voraufklärerischen Hierarchie bedeutete; die Aufklärung hat nur etwas gerüttelt an ihrer Verknöcherung, sie ironisiert und über sie gespottet, aber großteils sie auch selbst ungemerkt und unkritisch übernommen, sie weiter getragen und verherrlicht – ganz besonders in Bezug auf die Tiere und die Natur im Allgemeinen. Es ist Hegel zugefallen, dass er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte die Zusammenfassung dieser Projektionen der Vorstellungen über die Natur vor Darwin formuliert hatte: Die Veränderungen in der Natur, so unendlich mannichfaltig sie sind, zeigen nur einen Kreislauff, der sich immer wiederhohlt; in der Natur geschieht nichts Neues unter der Sonne; und insofern bringt das vielformige Spiel ihrer Gestaltungen eine Langeweile mit sich; nur in den Veränderungen, die auf dem geistigen Boden vorgehen, kommt Neues hervor. Diese Erscheinung am Geistigen ließ im Menschen überhaupt erst eine andere Bestimmung überhaupt sehen, als in den blos natürlichen Dingen, in welchen sich nur Eine und dieselbe Bestimmung, ein für immer stabiler Charakter kund gibt, in welchen alle Veränderung zurükgeht […], nemlich eine wirkliche Veränderungsfähigkeit und zwar […]

14 TWA 3, 294.

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zum Besseren, Vollkommenern, ein Trieb der Perfectibilität. Dieses Princip […] ist von den Religionen, wie der katholischen […] übel aufgenommen worden.15

Hier deckt Hegel auf, welches Bedürfnis es für ihn gegeben hat, sich nach dieser Auffassung der Unveränderbarkeit der Natur zu sehnen, was durchaus als aufklärerisch verstanden wurde und nichts mit Kreationismus zu tun hatte: das war der unverrückbare Boden der Natur als Ausgangspunkt der unaufhaltbaren Veränderungen und des geistigen Fortschritts, und hier stellt er sich derart entschlossen auf die Seite der Veränderungen und des geistigen Fortschritts, dass er seine instinktive Vorsicht vor der Zensur und die übliche Zuflucht in die Mehrdeutigkeit zurückstellt und sich demonstrativ aufklärerisch gegen Religion ausspricht. Gleichzeitig signalisiert er sein eigenes Unbehagen darüber, dass „das vielformige Spiel [der] Gestaltungen [der Natur, L. S.] eine Langeweile mit sich“ führe.16 In Wirklichkeit fand er dieses Spiel der Natur äußerst spannend, seine zahlreichen literarischen Quellen in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften zeugen davon, dass er mit großem Interesse darüber gelesen und geschrieben und nach dem Gegenteil des eben Angeführten gestrebt hat. So hat er auch, in Anlehnung an Aristoteles, ohne ihn hier zu erwähnen, die Geschichtlichkeit der Natur und der Gattungen geahnt: „Im vollkommenen Tier, im menschlichen Organismus, sind diese Prozesse am vollständigsten und deutlichsten ausgebildet; an diesem höchsten Organismus ist also überhaupt ein allgemeiner Typus vorhanden, in dem und aus dem die Bedeutung des unentwickelten Organismus erst erkennbar ist und an ihm entwickelt werden kann.“17 Diese Entwicklung eines Organismus aus dem anderen bzw. einer Spezies aus der anderen und damit den ‚Begriff‘ der geschichtlichen Entwicklung der Natur und in der Natur hat zwei Generationen später Charles Darwin konzipiert und dokumentiert. Es gibt Parallelen zwischen Darwins Buch über die Entstehung der Arten18 und seinen sonstigen Veröffentlichungen und den Schriften Hegels. Darwin hat scharfe Kritik und öffentliche Ablehnung seiner Theorie erwartet und versucht, sie im Voraus zu erahnen und zu widerlegen. Genauso ist Hegel verfahren und seine Schriften und ihre Systematik sind unter dem Gesichtspunkt verständlich, dass er möglichst versucht hat, angreifbare Textstellen zu vermeiden, mögliche Einwände vorwegzunehmen und im Voraus zu widerlegen und durch ihre zusammenhängenden Referenzen als ‚Schutzmauer‘ einzusetzen. Auch die oft ‚gewundene‘ Art des Formulierens war nicht nur ein Ausdruck der Komplexi-

15 GW 18, 181 f. (Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Einleitung 1830/31). 16 Ebd., 182. 17 TWA 9, 436 (Enzyklopädie, § 352, Zusatz). 18 Charles Darwin, On the Origin of Species, London 2009.

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tät der philosophischen Materie, sondern hatte unter anderem dieselbe Schutzfunktion für den Autor. Beide verbindet auch die vorsichtige Art und Weise, wie sie geforscht und öffentlich ihre Forschung dem Publikum vorgelegt haben. Darwin war dabei sehr akribisch und wollte ein großes, gewaltiges Buch herausgeben, bis er plötzlich von seinem Korrespondenten Alfred Russel Wallace, der weit weg von der imperialen Metropole in Südostasien sehr ähnliche Forschungen trieb und zu ähnlichen Ergebnissen gelangt war, im Jahre 1858 eine Handschrift über dieselbe Thematik19 erhielt, mit der Bitte, er möge, falls er sie als logisch erachte, weiter zur Veröffentlichung vermitteln. Darwin hat das tatsächlich getan. Aber seine Freunde merkten sofort, dass es jetzt darum ging, wer als Autor der Theorie proklamiert würde und schlugen vor, dass Darwin seinen ‚Auszug‘ der Handschriften schnell zusammenstellen und dann beide Texte gleichzeitig veröffentlichen sollte. Nachher hat Darwin gemeint, dass die beiden Abhandlungen, die historische Bedeutung erlangt hatten, kaum die Aufmerksamkeit des Publikums erregt hätten. Unzweifelhaft stimmte das für Wallace’s Werk. Hegel, der sich außerordentlich für die Entwicklung der Naturwissenschaften interessierte, würde über den Umstand lachen, von wem Darwin zu seiner Evolutionstheorie angeregt wurde: einer war der Geologe Charles Lyell. Sein noch zur Zeit Hegels veröffentlichtes Buch hieß Prinzipien der Geologie, der andere war der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Malthus, der behauptete, dass die Wachstumszahl der menschlichen Bevölkerung durch die Masse der verfügbaren Nahrung begrenzt würde.20 Diese Idee hat Darwin auf die Entwicklung der Spezies bezogen. Damit hat die Menschenfeindlichkeit der Theorie von Malthus methodologisch als Grundlage der Evolutionstheorie an derselben Rache genommen um für die Naturfeindlichkeit des Kreationismus heimzuzahlen.

19 Alfred Russel Wallace, On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely from the Original Type, 1858, in: Journal of the Proceedings of the Linnean Society: Zoology, vol. 3, Nr. 9, 53–62, London 20. August 1858. 20 Thomas R. Malthus, An Essay on the Principle of Population, vol. 1, Cambridge u. a. 1989, 10.

Tomislav Zelić

Das entzweite Selbstgefühl im unsittlichen Staat Zur Polemik gegen Kleists Prinz Friedrich von Homburg

Das poetische Geschichtsdrama Prinz Friedrich von Homburg von 1810, dem Autor Heinrich von Kleist zufolge „ein vaterländisches Schauspiel“,1 verbindet die klassische Form des symmetrisch arrangierten Fünfaktdramas in Blankversen mit romantischen Motiven. Darin finden sich eine Reihe zufälliger Kollisionen zwischen Liebe, Ehre und Treue dargestellt. Der unlösbare Dauerkonflikt zwischen individueller Subjektivität und substantieller Sittlichkeit besteht zwischen Gefühl und Gesetz im subjektiven Geist sowie zwischen der sittlichen Idee und Wirklichkeit des objektiven Geistes. Der Große Kurfürst Friedrich von Brandenburg-Preußen entdeckt in Begleitung seines Hofstaates den erschöpften Kavallerieoffizier Prinz Friedrich von Homburg nachts im Schlossgarten schlafwandelnd: „beschäftiget, / Sich träumend, seiner eigenen Nachwelt gleich, / Den prächtigen Kranz des Ruhmes einzuwinden.“2 Der Hauptgedanke, der Prinz leide offensichtlich unbewusst an dem außerordentlichen Gemütszustand der krankhaften Ruhmsucht, ließe sich bereits hieran ablesen. Bei dem Ruhmeskranz handelt es sich um Lorbeer, der nicht auf dem Märkischen Sand wächst. Diese Episode verbindet das anachronistische Ideal des antiken Tugendhelden mit einem ironischen Zitat der historischen Legende über Napoleons Selbstkrönung. Der Herrscher erlaubt sich einen folgenschweren Scherz mit seinem schlafwandelnden Untertanen, indem er den unbewussten Wunscherfüllungstraum des Prinzen als Spiel im Spiel inszeniert. Er windet seinen Halsschmuck, die Insignien der politischen Souveränität, um den Lorbeerkranz des Prinzen und übergibt sie der Prinzessin Natalie von Oranien, seiner verwaisten Nichte und Adoptivtochter. Ihr gesteht der Schlafwandler daraufhin seine Liebe, fasst nach ihr und ergreift ihren Handschuh. Am nächsten Tag verwirren ihn das rätsel-

1 Kleist, Brief an Friedrich de la Motte Fouqué vom 15. August 1811, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner. Zweibändige Ausgabe in einem Band, München 2001, 876. 2 Alle Zitate nach der Ausgabe in Anm. 1 unter Angabe von Akt/Szene, Versnr. und Seite: hier I/1, V. 27 f., 632.

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hafte Liebespfand und die Gegenwart der Prinzessin solchermaßen, dass ihm die Befehle für die bevorstehende Schlacht entgehen. Während der Schlacht bei Fehrbellin (1675) greift er mit seiner Kavallerie taktisch eigenmächtig und entgegen der kurfürstlichen Strategie verfrüht in die Kampfhandlungen ein. Nach der Schlacht lässt der Herrscher seinen Kavallerieoffizier trotz des errungenen Sieges verhaften und wegen Ungehorsam zum Tode verurteilen. Der Prinz verkennt zunächst den Ernst der Lage. Erst nachdem er in Erfahrung bringt, dass das Todesurteil des Kriegsgerichts unterschrieben und sein Grab bereits ausgehoben worden ist, fleht er in der umstrittenen Todesfurchtszene (III/5) bei der Kurfürstin und Prinzessin um sein nacktes Leben. Der Kurfürst zeigt sich erstaunt über dieses, einem Kriegshelden ungebührende Verhalten. Er erklärt zwar selbstironisch, er werde die Ansichten des Prinzen in Erwägung ziehen, er knüpft jedoch eine Bedingung an die in Aussicht gestellte Begnadigung: Der Prinz dürfe Gnade nur ersuchen, falls er der Überzeugung sei, die Verhängung der Todesstrafe sei ungerecht gewesen. Der schriftliche Aufruf des Kurfürsten zum Selbstdenken führt den Prinzen schließlich zur Schuldanerkennung und Todesbereitschaft. Unter dem politischen Druck des Heeres, das eine Petition zur Begnadigung des Prinzen eingereicht hat, gibt der Herrscher schließlich zwar nach, knüpft jedoch seine Amnestie abermals an eine Bedingung: das rebellische Heer solle sich dem Vorbild des lebensmüden und todesmutigen Kriegshelden folgend seiner souveränen Macht unterwerfen. Der Prinz tritt in Erwartung der Hinrichtung begeistert vor das versammelte Heer, erklärt seine Todesbereitschaft, legt ein Schuldbekenntnis ab und klagt seine Hinrichtung ein. Das Staatsoberhaupt und sein Heer legen daraufhin zwar ihren Streit bei, die Militärrebellion und der drohende Staatsstreich können abgewendet und der Vernichtungskrieg gegen Schweden kann mit gesteigerter Emotionalität wiederaufgenommen werden. Die Figuren berufen sich mehrmals ausdrücklich auf die objektive Geltung ihrer subjektiven Gefühle, um die politischen Staats-, Heeres- und Rechtsgrundsätze des aufgeklärten Absolutismus in Frage zu stellen. Inmitten der Schlacht zwischen Preußen und Schweden verweigert sich der Kavallerieoffizier Prinz von Homburg, die Parole des Kurfürsten, dem Kriegsgesetz zu folgen, und gibt stattdessen seine eigene „Order“ des „Herzen“3 aus. Er reformiert die Kommandostruktur der Kavallerie und erwartet dabei paradoxerweise, dass seine Untergebenen seine Befehle befolgen, obwohl er selbst die Befehle seiner Vorgesetzten nicht befolgt. Nach Amtsenthebung trotz gewonnener Schlacht, Verhaftung und Verhängung der Todesstrafe wegen Insubordination – dieses drakonische Strafmaß ist eine ebenso unhistorische wie poetische Erfindung des Autors –, glaubt

3 II/2, V. 474 f., 653.

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der Prinz auf dem dramatischen Höhepunkt im dritten Akt an die kurfürstliche Gnade und verlässt sich dabei auf die angeblich im Vergleich zu Gesetzmäßigkeit und Gehorsamspflicht höhere Macht des Gefühls: „Der Kurfürst hat getan, was Pflicht erheischte, / Und nun wird er dem Herzen auch gehorchen.“4 Der zum Tode Verurteilte erwartet, der Souverän werde das Urteil, das von den Richtern „herzlos“5 gesprochen wurde, mit einem „heiteren Herrscherspruch“6 aufheben. Als Hohenzollern, der innigste Vertraute und Freund des Prinzen nachfragt, worauf er sich dabei stütze, antwortet dieser lakonisch: „Auf mein Gefühl von ihm!“ und erläutert seine Zuversichtlichkeit mit den Worten: „Das Kriegsrecht mußte auf den Tod erkennen; / So lautet das Gesetz, nach dem es richtet, / Doch eh er solch ein Urteil läßt vollstrecken, / Eh er dies Herz hier, das getreu ihn liebt, / Auf eines Tuches Wink, der Kugel preis gibt, / Eh sieh, eh öffnet er die eigne Brust sich, / Und sprützt sein Blut selbst tropfenweis in Staub.“7 In einer ironischen Umkehrung des jüdisch-christlichen Opfermythos rechnet der Prinz mit dem Selbstopfer des Landesvaters zum Schutze seines geliebten Quasisohnes, womit das Machtgefälle zwischen Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht, Herrscher und Untertan, Richter und Angeklagten eingeebnet wird. Der Herrscher verhält sich zunächst als aufgeklärter Monarch und rigoroser Legalist mit stoischer Miene: „Wie die Antike starr.“8 Er gibt der sittlichen Substanz des Staates in Gestalt von Gesetz, Kriegsartikel, Satzung, Regel, Kriegszucht, Befehl, Pflicht und Gehorsam usw. Vorrang vor der individuellen Subjektivität und radikalen Kontingenz, unabhängig davon, ob es sich dabei um die Willkür und Eigenmacht, das Gefühl des Einzelnen oder Glück und Zufall handelt, die nicht in der Gewalt des Einzelnen stehen. Gesetzesbrüche bedrohten nicht nur die persönliche Macht des Herrschers, sondern auch die souveräne Staats-, Heeresund Rechtsordnung als solche, so die Überzeugung des aufgeklärten Monarchen, der sich dem Legalismus und Republikanismus verpflichtet sieht. Die Prinzessin fordert hingegen Freiheit, Selbständigkeit und Unabhängigkeit ebenso für den Staat Brandenburg-Preußen wie für das Individuum Prinz Friedrich von Homburg. Die Insubordination des Prinzen stelle in Wahrheit keine Majestätsbeleidigung (crimen laesis majestatis)9 dar und zersetze die Staats-, Heeres- und Rechtsordnung nicht, denn lediglich positiv besetzte Gefühle wie

4 III/1, V. 820 f., 668. 5 III/1, V. 853, 669 6 III/1, V. 855, ebd. 7 III/1, V. 868 ff., 670. 8 II/10, V. 788, 666. 9 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA 6, 336.

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Liebe, Ehre und Treue gegen den Landesvater sowie Eifer und Ehrgeiz im Kriegsdienst für das Vaterland hätten den Prinzen verleitet, die „Schranken des Gesetzes zu durchbrechen.“10 Sie lehnt die drakonische Strafe ab und formuliert stattdessen eine romantische Utopie, wo die sittliche Substanz der Staats-, Heeres- und Gesetzesordnung und individuelle Subjektivität durch die Idee der Freiheit und Vernunft miteinander versöhnt wären. Ihrem Wunsch nach sollte der Herrscher „die schönste Ordnung“ einrichten, in der „das Kriegsgesetz“ und „die lieblichen Gefühle“ gleichermaßen herrschen, ohne sich zu widersprechen.11 Der Staat als sittliche Idee würde sich damit nach dem Grundsatz der Einheit von Ästhetik und Ethik in der sinnlichen Anschauung der Schönheit darstellen. Der Kurfürst scheint von dieser Begründung überzeugt zu sein und es kündigt sich der chiasmische Positionswechsel zwischen Herrscher und Untertanen an. Hatte jener diesem zuvor der Order des Herzens die absolute Geltung der „Kriegsartikel“ entgegengehalten, so zollt er ihm nun ironisch Tribut: „Bei meinem Eid! Ich schwörs dir zu! Wo werd ich / Mich gegen solchen Kriegers Meinung setzen? / Die höchste Achtung, wie dir wohl bekannt, / Trag ich im Innersten für sein Gefühl: / Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten / Kassier ich die Artikel: er ist frei –“.12 Die Prinzessin folgt unterdessen am kurfürstlichen Hof, ebenso wie der Prinz in der Schlacht, ihrer eigenen Order des Herzens auf doppelte Art und Weise: erstens richtet sie ein Gnadengesuch an ihren Ersatzvater, womit sie die staatliche Souveränität des Kurfürstentums usurpiert, und zweitens begeht sie aus Zuneigung zu dem Prinzen einen Betrug durch Unterschriftenfälschung13 und macht sich des Macht- und Befehlsmissbrauchs schuldig. Im Namen des Kurfürsten befiehlt sie der preußisch-brandenburgischen Armee am Hof des Kurfürsten in Berlin aufzumarschieren,14 vermeintlich um der Vollstreckung des Todesurteils gegen den Prinzen beizuwohnen, in Wahrheit jedoch, um das Gnadengesuch durchzusetzen oder ihren geliebten und zum Tode verurteilten Verlobten notfalls mit Gewalt vor der Hinrichtung zu bewahren. Im vierten und fünften Akt vollzieht sich nach dem klassischen Muster der geschlossenen oder tektonischen Dramenform die Peripetie, wodurch „das öde

10 IV/1, V. 1104, 679. 11 IV/1, V. 1128 ff., 680. 12 IV/1, V. 1181 ff., 682. 13 V/5, V. 1492 ff., 695. 14 IV/2, V. 1265, 685.

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Schauspiel“15 der Hinrichtung, wie es der Prinz von Homburg an einer Stelle ironisch nennt, ausfallen wird. Als die schriftliche Petition des Heeres zur Begnadigung des Prinzen eintrifft (V/3) und damit für den Fall, dass der Kurfürst den Prinzen nicht begnadigen sollte, eine Militärrebellion oder ein Staatstreich droht, vollzieht der Kurfürst den chiasmischen Positionswechsel von der Seite des Gesetzes zu der des Gefühls. Über das Gnadengesuch des Heeres sagt er lakonisch und nicht frei von Ironie: „So ist mein Herz in ihrer Mitte.“16 Unter dem inzwischen entstandenen politischen Druck des Heeres lässt sich der Kurfürst auf eine politische Scheindebatte mit dem Oberst Kottwitz ein. In dem Gedankenexperiment über den, wie der Herrscher ironisch vermerkt, „spitzfindigen Lehrbegriff der Freiheit“17 vertritt er selbst in der dramatischen Rolle des advocatus diaboli noch einmal die Sache des Gesetzes. Der Untertan vertritt hingegen unbeirrt die Sache des Gefühls gegenüber dem Gesetz, indem er, ähnlich wie die Prinzessin zuvor, die ebenso sittliche wie schöne Versöhnung der souveränen Staats-, Heeres- und Rechtsordnung mit der subjektiven Order des Herzen fordert. Mit den Worten des Oberst Kottwitz heißt es: „Herr, das Gesetz, das höchste, oberste, / Das wirken soll, in deiner Feldherrn Brust, Das ist der Buchstab deines Willens nicht; / Das ist das Vaterland, das ist die Krone, / Das bist du selbst, dessen Haupt sie trägt. / Was kümmert dich, ich bitte dich, die Regel / Nach der der Feind sich schlägt: wenn er nur nieder / Vor dir, mit allen seinen Fahnen sinkt? / Die Regel, die ihn schlägt, das ist die höchste! / Willst du das Heer, das glühend an dir hängt, / Zu einem Werkzeug machen, gleich dem Schwerte, / Das tot in deinem goldnen Gürtel ruht? / Der ärmste Geist, der in deinen Sternen fremd, / Zuerst solch eine Lehre gab! Die Schlechte, / Kurzsichtige Staatskunst, die, um eines Falles, / Zehn andere vergißt, im Lauf der Dinge, / Da die Empfindung einzig retten kann!“18 Die Untertanen, allen voran Prinz von Homburg, Prinzessin von Oranien und Oberst Kottwitz, geben dem romantischen Diskurs über Empfindungen und Gefühle der Liebe, Ehre und Treue, Freiheit und Selbständigkeit, Ruhm und Herrlichkeit Vorrang vor dem militärischen, juridischen und politischen Diskurs über Macht, Recht und Strafe. Die Zuversicht des Prinzen auf die Begnadigung, das Gnadengesuch der Prinzessin von Oranien beim Kurfürsten im Namen des Prinzen, Kottwitz‘ Kritik an der mechanistischen Auffassung der Staats-, Heeres-

15 III/5, V. 988, 675. 16 V/3, V. 1442, 693. 17 V/5, V. 1619, 99. 18 V/5, V. 1570 ff., 698.

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und Rechtsordnung der Aufklärung, bringen die Grundsätze der politischen Romantik auf den Punkt, wie sie unter dem lebhaften Eindruck der Schreckensherrschaft auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution formuliert worden sind.19 Der Prinz ist zu einem Schuldbekenntnis bereit, ironischerweise jedoch nicht aus besserer Einsicht in die juristische und politische Bedeutung und die Folgen seiner Insubordination, sondern bloß aufgrund seiner krankhaften Ruhmsucht. Er scheint lediglich eingesehen zu haben, dass der wahre Kriegsheld nach dem antiken Verständnis des Ruhmes (cleos) auf dem Schlachtfeld fallen muss, bevor er der Unsterblichkeit des ruhmreichen Helden teilhaftig wird. Der ästhetische Genuss dieser Verklärung bleibt dem romantischen Subjekt verwehrt, ein logisches Paradox, das der Prinz erkennt und selbstironisch zur Sprache bringt: „nur schade, daß das Auge modert, / Das diese Herrlichkeit erblicken soll.“20 Der ästhetische Vorschein der posthumen Verherrlichung des Schlafwandlers zum unsterblichen und ruhmreichen Kriegshelden setzt paradoxerweise zugleich das Leben und den Tod des individuellen Subjekts voraus. Die Ruhmsucht gründet sich auf dem perversen Wunsch, bei seiner posthumen Verherrlichung anwesend zu sein. Der Tod ist die Bedingung der Möglichkeit für die Unsterblichkeit des ruhmreichen Helden. Das Leben ist die Bedingung der Möglichkeit zur sinnlichen Anschauung und Erfahrung der Herrlichkeit. Der Kurfürst verdammt den Prinzen dementsprechend zu einem unglücklichen Leben im falschen Schein der heroischen Herrlichkeit: „tot vor den Fahnen schreitend“ soll er seine Braut dem Feind „auf dem Gefild der Schlacht“ abkämpfen.21 Nachdem der Prinz sich schuldig bekennt und seine Todesbereitschaft verkündet, hat der Kurfürst einen unüberbietbaren Trumpf im Ärmel. Er ist nun imstande, dem rebellischen Heer den reumütigen und todesbereiten Prinzen als vermeintlich schönes Exempel der Sittlichkeit in sinnlicher Anschauung vorzuführen, wodurch sich das Gnadengesuch des Heeres im Namen des Prinzen von selbst erledigt und die spektakuläre Inszenierung des souveränen Begnadigungs-

19 Vgl. die Sammlung der eher ästhetischen als politischen Aphorismen unter dem Titel „Glauben und Liebe oder der König und die Königin“, die 1798 von dem Frühromantiker Friedrich von Hardenberg (Novalis) anlässlich der Thronbesteigung König Friedrich Wilhelms III. und seiner Frau veröffentlicht worden sind, oder die Vorlesungen über Die Elemente der Staatskunst, die von dem romantischem Staatstheoretiker Adam Müller von Nitterdorf (1779–1829) 1809 gehalten wurden und 1811 erschienen sind. 20 IV/3, V. 1295 f., 686. 21 V/8, V. 1792 f., 705.1

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aktes erst als reale Möglichkeit nach den politischen und ästhetischen Grundsätzen der absoluten Souveränität entsteht. Der Prinz nimmt sich der Verherrlichung der souveränen Staats-, Heeres- und Rechtsordnung an: „Ich will das heilige Gesetz des Kriegs, / Das ich verletzt, im Angesicht des Heeres, / Durch einen freien Tod verherrlichen!“22 Die Selbstaufopferungsbereitschaft des Prinzen ermöglicht die Widerherstellung der Sittlichkeit im Innern der Staatsgemeinschaft. Den reumütigen und todesbereiten Prinzen ereilt der als qualvolle Folter inszenierte Begnadigungsakt wie ein Alptraum. Brandenburg-Preußen mag nun innerlich versöhnt sein und der Staat als sittliche Idee mag in der Herrlichkeit und Schönheit der Begnadigung zur sinnlichen Anschauung gekommen sein. Der Prinz sieht sich durch die Begnadigung und innere Versöhnung der Staatsgemeinschaft um die Verwirklichung seines Traumes vom ewigen Ruhm des unsterblichen Kriegshelden betrogen. Die Begnadigung und zweite Siegerehrung stellt sich zugleich als Verdammung zu unendlicher Ruhelosigkeit und innere Dissonanz und als Aufschiebung der Verwirklichung seines Traumes (mise en abyme) heraus. Die Begnadigung und zweite Siegerehrung am Dramenschluss bilden lediglich den Auftakt zu einem emotional intensivierten und auf Dauer gestellten Vernichtungskrieg gegen den äußeren Feind, in dem sich der Prinz den erträumten Ruhm des unsterblichen Helden allererst noch erkämpfen müssen wird. Seine individuelle Subjektivität kann als ausgelöscht gelten, wie es die Inszenierung unter der Regie von Peter Stein und unter Mitarbeit des Dramaturgen Botho Strauß aus dem Jahre 1972 eindrucksvoll zum Ausdruck bringt, indem sie die dramatische Figur des Prinzen als Schauspieler und Puppe verdoppelt. Aus der Perspektive der Staatsmitglieder verkörpert der begnadigte und zum zweiten Mal als Sieger in der Schlacht von Fehrbellin geehrte Prinz von Homburg die schöne Erscheinung der Sittlichkeit. Aus der Perspektive des kritischen Publikums verkörpert er den falschen Schein der Sittlichkeit bzw. die ästhetische und politische Ideologie des friderizianischen Untertanengeistes. Wie auf der Seite des Subjekts das entzweite Selbstgefühl aufscheint, so steht auf der Seite der staatlichen Substanz ein strukturanaloges Paradox. Nach Kant ist das materiale Begnadigungsrecht zwar das „schlüpfrigste“23 der Rechtsvollmachten, über die das souveräne Staatsoberhaupt verfügt, denn der Begnadigungsakt selbst stellt, ob rein formal juristisch betrachtet oder nach dem Gerechtigkeitsgefühl des endlichen Verstandes beurteilt, einen äußert schweren

22 V/7, V. 1750 ff., 704. 23 Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA 6, 336.

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Rechtsbruch ebenso gegen den Grundsatz der Gleichheit wie gegen die Singularität und Unteilbarkeit der Souveränität dar. In der spektakulären Inszenierung des Begnadigungsaktes durch den Souverän verbreitet sich jedoch zugleich im Vergleich zu allen anderen Souveränitätsakten der erhabene „Glanz seiner Hoheit“24 in der sinnlichen Anschauung. Das dem Begnadigungsakt unterliegende Souveränitätsparadox entzweit nicht nur die sittliche Substanz und individuelle Subjektivität miteinander, sondern die individuelle Subjektivität und die sittliche Substanz und sind je in sich mit sich selbst entzweit. Der Kurfürst verstrickt den Staat Brandenburg-Preußen in einen potentiell unendlichen Vernichtungskrieg gegen Schweden bis zum ewigen Frieden, wodurch die sittliche Idee des Staates in Wirklichkeit zerstört wird. Für den Prinzen gilt, das entzweite Selbstgefühl der krankhaften Ruhmsucht schafft keine dauerhafte Gemeinschaft in der Staats- Heeres- und Rechtsordnung, denn als bloß fühlende Seele mit einem von der objektiven Wirklichkeit abgetrenntem und falschen Selbstbewusstsein vereinzelt er sich unmittelbar und vermittelt sich nicht mit dem allgemeinen Geist der Staatsgemeinschaft. In seiner Anthropologie bemerkt Hegel dazu, dass die Empfindung, ein „dumpfes Weben des Geistes in seiner bewusst- und verstandslosen Individualität“,25 weder ein bewusstes Ich noch freie und vernünftige Geistigkeit auszubilden im Stande ist. Denn Empfindungen und Gefühle sind für das individuelle Subjekt sein inneres Selbst, obwohl sie vereinzelt, zufällig, einseitig und unmittelbar vorkommen. Daher sei es vom Standpunkt des absoluten Geistes „unstatthaft, sich auf bloße Empfindungen zu berufen“.26 Dazu führt Hegel in der Religionsphilosophie weiter aus: „mit dem Appellieren an das eigene Gefühl ist die Gemeinschaft zwischen uns abgerissen. […] Das Gefühl ist ferner das, was die Menschen mit den Tieren gemein haben; es ist die tierische, sinnliche Form.“27 Der unlösbare Dauerkonflikt zwischen individueller Subjektivität und sittlicher Substanz, zwischen dem rigorosen Legalismus nach dem Vorbild des alten römischen und modernen französischen Republikanismus mit despotischen Tendenzen einerseits und dem emotionsgeladen Patriotismus der politischen Romantik mit tyrannischen Tendenzen andererseits, führt in eine Aporie. Einerseits ist der souveräne Herrscher im Recht, wenn er seinen Untertanen vorhält, Gesetzesbrüche nach Herzenslust seien in der republikanischen Monarchie

24 Ebd. 25 Hegel, Enzyklopädie (1830), TWA 10, 97, § 400. 26 Ebd., 100, § 400, Zusatz. 27 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Einleitung. Der Begriff der Religion, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1983, 178.

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unannehmbar. Andererseits sind die Untertanen im Recht, wenn sie dem Herrscher vorhalten, die mechanischen Strukturen des Staates und Heeres werden von ihren Gefühlen allererst zum Leben erweckt. * * * Heinrich Gustav Hotho (1802–1873), ein Rechtshegelianer, der von 1829 bis zu seinem Lebensende die Professur für Ästhetik und Kunstgeschichte an der Berliner Universität innehatte und sich später als Herausgeber der dreibändigen Druckfassung der Hegelschen Vorlesungen über die Ästhetik (1835–38) hervortun sollte, veröffentlicht 1827 eine Rezension der zweiten Auflage von Heinrich von Kleists Gesammelten Schriften, die Ludwig Tieck im Verlag Reimer in Berlin ein Jahr zuvor herausgeben hatte.28 Darin äußert er eine vernichtende Kritik an Kleists Einflechtung von romantischer Phantastik in das ansonsten realistisch gehaltene Geschichtsdrama über die historische Persönlichkeit des Prinzen Friedrich von Homburg. Der Dichter wolle, so Hotho, „die vorhandene Wirklichkeit mit seiner gespenstischen Geisterwelt und seinem gottbegeisterten Hellsehen ausgleichen“.29 Kleist vermenge, so Hotho weiter, „träumendes Hellsehen“ mit dem „wachen Bewusstseyn“. Darin sieht der polemische Rezensent den Grundwiderspruch sowohl in dem Werk als auch in dem Leben des Autors: einerseits „mit ganzer Kraft des Gemüthes und Verstandes sich der umgebenden Welt und ihren natürlichen und sittlichen Zuständen hinzugeben, mit tiefem Herzen das Wohl und Wehe des deutschen Vaterlandes zu empfinden“ und andererseits „sich […] in den verborgenen Schacht des innersten Gemüthes zurückzuziehen, und dort sich eine andere fremde Welt in dem Glauben zu bilden, daß diese eigene Welt die bessere und wahrhafte Wirklichkeit sein“.30 Im Ersten Artikel seiner 1827 in den Jahrbüchern für philosophische Kritik erschienenen Rezension „Solgers nachgelassene Werke und Briefwechsel“, schließt sich der Lehrer Hegel seinem Schüler Hotho in den wesentlichen Punkten der Polemik gegen Kleist an: „Der Charakter der Kleistschen Werke“ sei ebenso „gründlich wie geistreich in diesen Jahrbüchern früher auseinandergesetzt und nachgewiesen worden.“31 Hegel zeigt sich jedoch gleichzeitig, ebenso wie Hotho und Solger „frappiert“ darüber, dass Kleist trotz seines dichterischen Talents

28 Heinrich Gustav Hotho, „Heinrich von Kleist’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von L. Tieck“, in: Jahrbücher der wissenschaftlichen Kritik, Jahrgang I, Mai 1827, 686–724. 29 Ebd., 710. 30 Ebd., 711 f. 31 Hegel, Berliner Schriften 1818–1831, TWA 11, 217 f.

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„großen Wert […] auf gesuchte Situationen und Effekte legte, das absichtliche Streben, über das Gegebene und Wirkliche hinwegzugehen und die eigentliche Handlung in eine fremde geistige und wunderbare Welt zu versetzen, kurz ein gewisser Hang zu einem willkürlichen Mystizismus.“32 Das poetische Geschichtsdrama ist dem Rechtshegelianismus zufolge eher ein Charakter- und Situationsdrama als ein poetisches Drama im Sinne des absoluten Idealismus, in dem das Ideal der Kunstschönheit: die zugleich schöne und sittliche Tat im Mittelpunkt der Handlungsfügung stehen sollte. Aufgrund der Bestimmtheit des Charakterdramas durch die innere Zerrissenheit des Prinzen von Homburg „wird das Prinzip des Charakters wie der ganzen Situation und Verwicklung etwas Abgeschmacktes, wenn man will Gespenstig-Abgeschmacktes.“33 Im Zweiten Artikel seiner Solger-Rezension geht Hegel vom Standpunkt des absoluten Denkens im Anschluss an die Aristotelische Metaphysik auf das Verhältnis von Denken, Kunst und Leben bei Novalis und Kleist ein. In der Druckfassung der Vorlesungen über die Ästhetik werden ihm die griechische Kunstreligion und in deren Nachfolge beispielsweise die sittliche Schönheit der Iphigenie von Goethe oder der objektive Humor in Goethes West-östlicher Divan als gelungene und glückliche Lebensform des absoluten Geistes gelten, während die zeitgenössische Kunst und Literatur der romantischen Schule, namentlich Novalis, Friedrich und August Wilhelm Schlegel und Tieck sowie Heinrich von Kleist und E.  T.  A. Hoffmann als misslungene und unglückliche Lebensform sittlich getadelt und ästhetisch verworfen wird. In Kleists Homburg-Drama sei, so Hegel „nur ein durch reflektierendes Denken vielmehr in sich entzweit bleibendes, sich selbst störendes Leben gemeint“. Und weiter heißt es: „bei aller Lebendigkeit der Gestaltungen, der Charaktere und Situationen mangelt es in dem substantiellen Gehalt, der in letzter Instanz entscheidet, und die Lebendigkeit wird eine Energie der Zerrissenheit, und zwar einer absichtlich sich hervorbringenden, der das Leben zerstörenden und zerstören wollenden Ironie.“34 Es handle sich bei Kleists Werken um „in der Entzweiung bleibende Reflexion“.35 Im kultur- und geistesgeschichtlichen Rahmen der Polemik gegen die zeitgenössische romantische Schule bezieht sich die Druckfassung der Vorlesungen über die Ästhetik neben Solger, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann ausdrücklich auch auf Heinrich von Kleist und insbesondere dessen Dramen Das Kätchen von Heilbronn und Prinz Friedrich von

32 Ebd., 218. 33 Ebd., 218. 34 Ebd., 267 f. 35 Ebd.

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Homburg, um die Polemik gegen die „Miserabilität moderner Charaktere“36 und deren „Zweiheit, Zerrissenheit und innere Dissonanz“37 zu exemplifizieren; Hegel bedient sich zu diesem Zweck der antiromantischen Topoi des radikalen Subjektivismus und der sittlichen Substanzlosigkeit. Er richtet sich gegen die poetische Konstruktion eines Charakters, der sich vornehmlich durch seine sittliche Substanzlosigkeit bestimmt, „so daß sich jeder Charakter als Charakter zerstört“.38 Offensichtlich werden an dieser Stelle ästhetischer und ethischer Charakter zugleich deskriptiv differenziert und normativ identifiziert. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt die Beobachtung, „in neuerer Zeit“ sei „die innere haltlose Zerrissenheit, welche alle widrigsten Dissonanzen durchgeht, Mode geworden“.39 Das dramatische Werk Heinrich von Kleists verfällt scheinbar zunächst der Polemik gegen die romantische Ironie und Phantastik des animalischen oder magnetischen Somnambulismus, was noch genauer zu bestimmen sein wird. „In einer anderen Art ist dieser Mangel an innerer substantiellen Gediegenheit des Charakters dahin ausgebildet, daß jene sonderbaren höheren Herrlichkeiten des Gemüts auf eine verkehrte Weise sind hypostasiert und als selbständige Mächte aufgefaßt werden. Hierher gehört das Magische, Magnetische, Dämonische, die vornehme Gespenstigkeit des Hellesehens, die Krankheit des Schlafwandlers usf. Das lebendig sein sollenden Individuum wird in Rücksicht auf dunkle Mächte in Verhältnis zu etwas gesetzt, das einerseits ihm selber, andererseits seinem Innern ein fremdartiges Jenseits ist, von welchem es bestimmt und regiert wird.“40 Unter kritikloser Bewahrung des klassizistischen Paradigmas der Plastizität setzt Hegel ein philosophisches Dekret gegen die ästhetische Frühmoderne in Kraft: „Aus dem Bereich der Kunst sind die dunklen Möchte gerade zu verbannen, denn in ihr ist nichts dunkel, sondern alles klar und durchsichtig und mit jenen Übersichtigkeiten ist nichts als der Krankheit des Geistes das Wort geredet und die Poesie in das Nebulose, Eitle und Leere hinübergespielt, wovon Hoffmann und Heinrich von Kleist in seinem Prinzen von Homburg Beispiele liefern. Der wahrhaft ideale Charakter hat nichts Jenseitiges und Gespensterhaftes, sondern wirkliche Interessen, in welchen er bei sich selbst ist, zu seinem Gehalte und Pathos. Besonders das Hellsehen ist in der neueren Poesie trivial und gemein geworden. (…) Die Gesamtheit des Charakters aber mit der Krankheit des Geistes vertauschen zu müssen, um Kollisionen hervor-

36 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, TWA 14, 201. 37 Ebd., 202. 38 Ebd., 305. 39 Ebd., 289. 40 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, TWA 13, 314.

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zubringen und Interesse zu erwecken, ist immer unglücklich; deshalb ist auch die Verrücktheit nur mit großer Vorsicht anzuwenden.“41 Die dabei herangezogenen Vergleichspunkte der Polemik sind Homers Achilles und Sophokles‘ Philoktet sowie Shakespeares Macbeth, Othello oder Richard III. Diese klassischen und romantischen Charaktere seien durch Einheit mit sich, Kraft, Festigkeit, Entschiedenheit, Haltung und Härte gekennzeichnet. Ironie des Homburg-Dramas: krankhafte Ruhmsucht! Die Unterschiede zwischen der von Hotho herausgegebenen Druckfassung und den verschiedenen Mitschriften der gehaltenen Vorlesungen, die dem Herausgeber vorlagen, sind derart augenfällig, dass Hotho und nicht Hegel den maßgeblichen Beitrag zur Polemik gegen den Autor Kleist und sein Werk in der Druckfassung geleistet zu haben scheint, zumal die vorliegenden Mitschriften den Autor Kleist oder seine Werke an keiner einzigen Stelle erwähnen. Vom Standpunkt der Hegelschen Kunstphilosophie, von Hothos Eingriffen befreit und mit Hegel gegen Hegel gedacht, könnte man darin übereinkommen, dass die Ruhmsucht des Prinzen an sich einen unwesentlichen Gehalt darstellt und von seinem unfreien Willen und seiner Unwürdigkeit zeugt. Die Polemik gegen den radikalen Subjektivismus und die sittliche Substanzlosigkeit der romantischen Schule trifft auf Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg nicht ohne Einschränkungen zu. Dieses „moderne Schauspiel“42 ist der romantischen Kunstform zuzurechnen: es zeigt die formelle Selbständigkeit der individuellen Besonderheit an dem Charakter und handelt von der ebenso zufälligen wie leidenschaftlichen Abenteuerlichkeit der ritterlichen Liebe, Ehre und Treue. Das sind im Sinne der Hegelschen Kunstphilosophie die sittlichen Substanzen der romantischen Kunstform. Als subjektive Leidenschaften und zufällige Zwecke beleben und stören sie die objektiven Gestalten der Staats-, Heeres- und Rechtsordnung. Innere Empfindungen und Gefühle können „doppelter Art“ sein: auf der subjektiven Seite bestehen sie unmittelbar und einzeln, auf der objektiven Seite vermitteln sie sich jedoch mit allgemeinen Mächten von Macht, Gesetz und Sittlichkeit, Religion und Kunst, dem Schönen, Wahren und Guten.43 Im Wesentlichen geht es eben nicht darum, wie Kleist in einer seiner politischen Schriften aus dem Jahre 1809 unter der Überschrift „Was gilt es in diesem Kriege?“ mit einer rhetorischen Frage hervorhebt, die den Kern des HomburgDramas enthält: „Gilt es den Ruhm eines jungen und unternehmenden Fürsten,

41 Ebd., 314 f. 42 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, TWA 15, 520 ff. 43 Hegel, Enzyklopädie, TWA 10, 110.

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der, in dem Duft einer lieblichen Sommernacht, von Lorbeeren geträumt hat?“44 Es gilt vielmehr, so lautet die stillschweigende Antwort, den sittlichen Substanzen des objektiven Geistes in Gestalt von Staat und Heer. Ruhm ist eine der sittlichen Substanzen oder allgemeinen Mächte, die Hegel vorzüglich zur Darstellung in Kunst und Literatur empfiehlt.45 Die hegelianische Polemik richtet sich im engerem Sinne gegen die krankhafte Ruhmsucht, die den innerlich zerrissenen Charakter der Hauptfigur bestimmt. Was die Druckfassung der Vorlesungen über die Ästhetik „dunkle Mächte“ nennt, ist in Wahrheit die krankhafte Ruhmsucht in Gestalt des Traums vom ewigen Ruhm des unsterblichen Helden, was die fühlende Seele des Prinzen wie ein inneres Jenseits, oder nach dem Begriff aus der Hegelschen Anthropologie als der Philosophie des subjektiven Geistes, wie ein „Genius“ oder eine fixe Vorstellung, Marotte oder Grille in einem solchen Maße beherrscht, dass die Freiheit und Vernunft des Geistes bedroht ist. Dieser Genius und „nicht der wollende und denkende freie Geist“46 beherrscht die bloß fühlende Seele des Prinzen und raubt ihm die Freiheit und Vernunft des Denkens, Wollens und Handelns. Seine subjektive Selbstverherrlichung schließt die objektive Selbstverkennung in sich und äußerst sich darin, dass er nicht zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden vermag, was an weiteren anthropologischen Phänomenen des innerlich entzweiten Selbstgefühls des subjektiven Geistes, von der Zerstreutheit, dem Blödsinn und der Faselei über die Verrücktheit, Narrheit und den Wahnsinn bis zur Geisteskrankheit sich darstellt, die allesamt laut der Hegelschen Philosophie des subjektiven Geistes vom Standpunkt des absoluten Geistes aus der bloß fühlenden Seele zugehören. Die krankhafte Ruhmsucht des Prinzen ist „etwas dem freien Geiste Nichtentsprechendes, etwas bloß Anthropologisches“.47 Ob ihr die philosophische Dignität zukommt und verdient, sie zur sinnlichen Anschauung in der Kunst und Literatur zu bringen, ist eine andere Frage, die erst noch zu behandeln sein wird. Die krankhafte Ruhmsucht führt dazu, dass „der Geist, indem er die Herrschaft über das zu ihm gehörige Seelenhafte verliert, seiner selbst nicht mächtig bleibt, sondern selber zur Form des Seelenhaften herabsinkt und damit das dem gesunden Geiste wesentliche objektive, d.  h. durch Aufhebung des äußerlich Gesetzten vermittelte Verhältnis zur wirklichen Welt aufgibt.“48

44 Kleist, Was gilt es in diesem Krieg?, in: Ders., Sämtliche Werke, a. a. O. (Anm. 1), 377. 45 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, TWA 13, 286. 46 Hegel, Enzyklopädie, TWA 10, 134. 47 Ebd., 189. 48 Ebd., 139.

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Die bloß fühlende Seele hypostatiert sich über alles und jedes und verliert den subjektiven Bezug zur objektiven Wirklichkeit. Der Prinz hat ein falsches, von der Wirklichkeit abgetrenntes, in sich zerrissenes und unglückliches Selbstbewusstsein, das die objektive Wirklichkeit nicht als Prüfstein für subjektive Gefühle anerkennt. Dabei trägt sich ein „Widerspruch der Freiheit und Unfreiheit“49 aus. Homburgs Charakter ist einerseits durch die „formelle Selbständigkeit“, Individualität und Partikularität, Zufälligkeit und Abenteuerlichkeit seiner subjektiven Leidenschaften und Zwecke bestimmt, andererseits jedoch stürzt ihn seine krankhafte Ruhmsucht, Verzweiflung und Quälerei der Reflexion in Unfreiheit. Die Notwendigkeit des dialektischen Fortgangs der bloß fühlenden Seele zur Gewohnheit erinnert daran, dass „die Seele das Bestreben hat, sich aus dem zwischen ihrem objektiven Bewusstsein und ihre fixen Vorstellung vorhandenen Widerspruch zur vollkommenen inneren Harmonie des Geistes wiederherzustellen.“50 Daran scheitert der Prinz von Homburg aus subjektiven wie objektiven Gründen: das entzweite Selbstgefühl der krankhaften Ruhmsucht und die in sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit entzweite sittliche Idee: ein Staat, der den totalen Krieg gegen den absoluten Feind bis zum ewigen Frieden führt, obwohl er doch das Überleben und die Sicherheit seiner selbst und seiner Staatsmitglieder gewähren soll. Der subjektive Gemütszustand, die Krisensituation und der allgemeine Weltzustand rauben ihm die seelischen Kräfte zur Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit und stürzen ihn in krankhafte Selbstzweifel: „Träum ich? Wach ich? Leb ich? Bin ich bei Sinnen?“51 An den entscheidenden Wendepunkten des Dramas mangelt es der bloß fühlenden Seele des Schlafwandlers an geistiger Kraft frei und vernünftig zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Neben der Exposition, die ihn als Somnambulen (I/1) und Träumer (I/4) zeigt, sticht die Verhaftung bei der Übergabe der Siegestrophäen an den Kurfürsten nach dem Sieg in der Schlacht bei Fehrbellin (II/10) sowie Begnadigung und zweite Siegerehrung trotz Todessehnsucht (V/11) ins Auge. Anthropologisch bestimmt Hegel die Zerstreutheit zunächst im Allgemeinen als „Nichtwissen von der unmittelbaren Gegenwart“52 und dann im Besonderen: „Die eigentliche Zerstreutheit aber ist ein Versinken in ganz abstraktes Selbstgefühl, in eine Untätigkeit des besonnenen, objektiven Bewusstseins, in eine

49 Ebd., 118 50 Ebd., 187. 51 II/10, V. 765, 665. 52 Hegel, Enzyklopädie, TWA 10, 173.

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wissenlose Ungegenwart des Geistes bei solchen Dingen, bei welchen derselbe gegenwärtig sein sollte.“53 In Kleists Homburg-Drama kommt die mangelnde Urteilskraft des freien und vernünftigen Geistes in den anthropologischen Phänomenen von Zerstreutheit, Blödsinn und Faselei zum Ausdruck. „Der Prinz von Homburg ist der erbärmlichste General; beim Austeilen der Dispositionen zerstreut, schreibt er die Order schlecht auf, treibt in der Nacht vorher krankhaftes Zeug und am Tage in der Schlacht ungeschickte Dinge.“54 Außerdem verspätet er sich zur Schlacht. Der Kurfürst stellt ihm den älteren und erfahrenen Kottwitz als Berater und Aufsichtsperson an die Seite. Dieser bringt die Kavallerie auf dem Schlachtfeld anstelle des Prinzen in Position. Während der Schlacht ist der Schlafwandler desorientiert. Er verfolgt das Geschehen verständnislos und greift plötzlich in die Schlacht ein, als das Triumphgeschrei der Preußen bereits ausgebrochen ist. Anscheinend befürchtet er, die Gelegenheit zur Verwirklichung seines Traumes ansonsten auszulassen. Keinesfalls handelt er aus besserer Einsicht in die Situation. Genauer betrachtet, handelt es sich bei der krankhaften Ruhmsucht um die Verrückung sittlicher und substantieller Leidenschaften und Zwecke des objektiven und absoluten Geistes in die subjektive Innerlichkeit der fühlenden Seele. Im Zustand der Verrücktheit „findet […] kein objektives Bewußtsein, kein Wissen von der Welt als einer wirklich aus mir herausgesetzten statt. Die fühlende Seele verkehrt bloß mit ihren innerlichen Bestimmungen.“55 Sie hält an der bloß subjektiven Identität des Subjektiven und Objektiven fest, ohne dass dies in Entsprechung mit der objektiven Wirklichkeit steht. Die Eigentümlichkeit der bloß fühlenden Seele im Gemütszustand der zu der Narrheit und zu dem Wahnsinn gesteigerten Verrücktheit ist, „mit der Wirklichkeit nicht mehr in unmittelbaren Zusammenhange sich zu befinden, sondern sich von derselben entschieden abgetrennt zu haben.“56 Der Prinz von Homburg ist sich seiner Narrheit und seines Wahnsinns bewusst: „Helft Freunde, helft! Ich bin verrückt!“57 Die Ambivalenz in diesem ekstatischen Gemütszustand besteht darin, dass sich der subjektive Geist in abruptem Wechsel zwischen zwei Extremen hin- und herwirft; er ist einerseits in sich verschlossen und andererseits außer sich getreten. Er träumt nieder und braust auf. Er versinkt in sich und geht über sich selbst hinaus. Er wechselt zwischen Schlafwandeln und

53 Ebd. 54 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, TWA 14, 202. 55 Hegel, Enzyklopädie, TWA 10, 121. 56 Ebd., 171. 57 II/10, V. 771, 666.

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Hellsichtigkeit, introvertierten und ekstatischen emotionalen Exzessen. Beim „Insichverschlossensein“58 tritt „nur der Kreis der individuell bestimmten Welt, partikulären Interessen und beschränkte Verhältnisse ins Bewußtsein“. Das ist die krankhafte Ruhmsucht des Prinzen einerseits. Andererseits ist seine „religiöse und patriotische Exaltation“ vergleichbar mit derjenigen von Jeanne d’Arc, die sich, wie Hegel in seiner Anthropologie urteilt, in „eine Art von magnetischem Zustand“ versetzt findet.59 Der Gemütszustand des „magnetischen Somnambulismus“ und „animalischen Magnetismus“60 ist charakterisiert durch das „Insichsein des Geistes“, die Borniertheit, Verstocktheit und Melancholie einerseits und andererseits durch „Eitelkeit“ und „Hochmut“.61 Die bloß fühlende Seele steigert sich im Gemütszustand der Verrücktheit und Narrheit in den Wahnsinn und Größenwahn. So ist sich der Prinz von Homburg unter der falschen Erwartung, dass er zum Kriegshelden in der Schlacht zu Fehrbellin ernannt werden wird, sicher: „O Cäsar Divus! / Die Leiter setz ich an, an deinen Stern!“62 Bei solcher Selbstspaltung ist dem Charakter sein eigenes Seelenleben nicht klar und durchsichtig. Die Atemlosigkeit der Handlung und der Dialoge dominieren die Handlung vor dem Selbstbewusstsein in Kleists Dramen: „Denn der Gedrungenheit und des reflexionslosen Insichseyns wegen“, so urteilt Hotho darüber, „verbergen seine Charactere meistenteils ihren Zweck, von dem sie selber kaum klares Bewusstseyn haben; sie sprechen sich ihre Wünsche, ihre Ahnungen und Hoffnungen kaum aus“; so entstehe „Mangel des selbstbewußten Zwecks und dem Überwiegen des Geschehens, der äußeren Localität, und der mannigfachen Begebenheiten.“63 In dieselbe Richtung zielt Hegels Beobachtung, durch die „Bildungslosigkeit“ der „verschlossenen Gemüter“ müssten sie „in ihren Handlungen und Äußerungen vollkommen unsicher und widersprechend erscheinen“.64 Die innere Zerrissenheit des individuellen Subjekts und der sittlichen Substanz führt eine Tragödie im Sittlichen herbei: bei dem entzweiten Selbstgefühl des subjektiven Geistes und dem unlösbaren Dauerkonflikt zwischen individueller Subjektivität und sittlichen Substantialität in Gestalt des objektiven Geistes von Staat, Heer und Gesellschaft ist in der Tat „keine objektive Versöhnung möglich“:65 „In diesen Charakteren unseres Kreises, bei der Zufälligkeit dessen,

58 Hegel, Enzyklopädie, TWA 10, 174. 59 Ebd., 140. 60 Ebd., 133. 61 Ebd., 174. 62 II/8, V. 712 f., 662. 63 Hotho, „Kleist‘s Schriften“, a. a. 0. (Anm. 28), 693. 64 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, TWA 14, 208. 65 Ebd., 203, kursiv im Original.

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was sie als ihren Zweck ergreifen, und der Selbständigkeit ihrer Individualität, ist keine objektive Versöhnung möglich“.66 Der Charakter der Prinzen von Homburg ist bei Kleist nicht sittlich substanzlos, sondern innerlich zerrissen und daher objektiv unversöhnbar. Das liegt nicht nur an der Selbständigkeit, Zufälligkeit und Partikularität des individuellen Charakters, sondern auch an dem allgemeinen Zustand und der besonderen dramatischen Situation im Drama wie in der Welt. Der Autor Kleist scheitert in seinem Leben und Werk darin, den subjektiven und den objektiven Geist mit einander zu versöhnen. Stattdessen dramatisiert er den unlösbaren Dauerkonflikt zwischen dem in sich entzweiten Selbstgefühl der romantischen Subjektivität und den in sich und sich gegeneinander widersprechenden Ansprüchen der sittlichen Substanzen von Staat, Heer und Gesellschaft auf objektive Wirklichkeit. In der Kunst wie im Leben geht es nicht so sehr im Sinne Hegels um die freie Versöhnung der Entzweiungen des subjektiven und objektiven Geistes jeweils in sich sowie miteinander, als vielmehr im Sinne von Lukács und Adorno um die erpresste Versöhnung des absoluten Geistes mit den Entzweiungen zwischen dem subjektiven und objektiven Geist sowie jeweils in sich. Dazu bemerkt die Druckfassung der Vorlesungen über die Ästhetik lakonisch: „Denn der Mensch ist dies: den Widerspruch des Vielen nicht nur in sich tragen, sondern zu ertragen und darin sich selbst getreu und gleich zu bleiben.“67 Das philosophische System des absoluten Idealismus entfaltet die drei Gestalten des absoluten Geistes: Kunst, Religion und Philosophie. Die innere und äußere Versöhnung des subjektiven und objektiven Geistes erscheint in den sinnlichen Anschauungen der Kunst, in den Gefühlen und Vorstellungen der Religion und in den Begriffen des reinen Denkens der Philosophie. Das Ideal des Kunstschönen ist die Darstellung der sittlichen Idee von Freiheit und Vernunft in der sinnlichen Anschauung der Kunst. Es stellt sich die Frage, ob der sinnlichen Anschauung von Zerstreuung, Blödsinn und Faselei über Verrücktheit, Narrheit und Wahnsinn bis hin zur Geisteskrankheit – „etwas dem freien Geiste Nichtentsprechendes, etwas bloß Anthropologisches“68  – „Kunstwahrheit“69 zuzusprechen ist. Andernfalls wäre Kleists Werk keine Kunst. Was ist also dessen Wahrheitsgehalt? Mit Bezug auf die krankhafte Ruhmsucht des Prinzen von Homburg heißt es in der Druckfassung unmissverständlich: „In diesen unbekannten Gewalten soll

66 Ebd. 67 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, TWA 13, 311. 68 Hegel, Enzyklopädie, TWA 10, 189. 69 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, TWA 14, 239.

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eine unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen liegen, das sich nicht greifen und fassen lasse.“70 Der Kleist untergeschobene Wahrheitsanspruch ist für den absoluten Idealismus ein Skandalon. In seiner Solger-Rezension bezichtig Hegel Kleist der „Selbstfälschung, mit der das dichterische Talent sich versetzt. Kleist leidet an der gemeinsamen, unglücklichen Unfähigkeit, in Natur und Wahrheit das Hauptinteresse zu legen, und an dem Triebe, es in Verzerrungen zu suchen. Der willkürliche Mystizismus verdrängt die Wahrheit des menschlichen Gemüts durch Wunder des Gemüts, durch die Märchen eines höher sein sollenden inneren Geisteslebens.“71 Hegel unterschlägt dabei die hässliche Wahrheit über den Gemütszustand der krankhaften Ruhmsucht, wie sie Kleist im HomburgDrama zur sinnlichen Anschauung bringt. In Wahrheit ist Kleists Homburg-Drama ein Filigranwerk der objektiven Ironie im Sinne von Walter Benjamin.72 Sie herrscht dort sowohl über den Charakter des Prinzen von Homburg sowie die verschiedenen dramatischen Situationen, in denen dieser sich zeigt, und den inneren und äußeren, subjektiven und objektiven Konflikten, in die dieser sich verwickelt sieht. Das Charakterdrama über das entzweite Selbstgefühl des ruhmsüchtigen Somnambulisten hat seinen eigenen Wahrheitsgehalt im Sinne der romantischen Kunstform. Einerseits gefährdet der junge Kavallerieoffizier aus krankhafter Ruhmsucht das Staatsoberhaupt und die Heeresstrategie. Er nimmt dabei viele unnötige Opfer in Kauf, wie dem Botenbericht über den Schlachtverlauf zu entnehmen ist: „Zwei Linien hatt er, mit der Reuterei, / Durchbrochen schon, und auf der Flucht vernichtet / Als er auf eine Feldredoute stieß. / Hier schlug so mörderischer Eisenregen / Entgegen ihm, daß seine Reuterschar, / Wie eine Saat, sich knickend niederlegt: Halt mußt er machen zwischen Busch und Hügeln, / Um sein zerstreutes Reuterkorps zu sammeln.“73 Andererseits trägt er unter dem falschen Eindruck, der Herrscher sei gefallen, aus Wut und Rache und mit einer unkonventionellen Taktik maßgeblich zu dem Sieg in der Schlacht bei, wenn man dem Botenbericht des Augenzeugen Mörner Glauben schenken darf. „Drauf faßt, bei diesem schreckenvollen Anblick, / Schmerz, unermeßlicher, des Prinzen Herz; / Dem Bären gleich, von Wut gespornt und Rache, / Bricht er mit uns auf die Verschanzung los: Der Graben wird, der Erdwall, der sie deckt, / Im Anlauf überflogen, die Besatzung / Geworfen, auf das Feld zerstreut, vernichtet, / Kanonen, Fahne, Pauken und

70 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, TWA 13, 314. 71 Hegel, Solger-Rezension, Erster Artikel, in: Berliner Schriften, TWA 11, 217. 72 Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Frankfurt a. M. 1970, 81 ff. 73 Kleist, II/5, V. 528 ff., 655.

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Standarten, / Der Schweden ganzes Kriegsgepäck, erbeutet.“74 Hätte der Prinz den Angriff wie befohlen durchgeführt, dann hätte er dem Kurfürsten zufolge den totalen Sieg gegen Schweden für Brandenburg-Preußen erringen können. Hätte er nicht so tapfer gekämpft, hätte Brandenburg-Preußen Schweden in der Schlacht von Fehrbellin möglicherweise nicht besiegt. Diese kontrafaktischen Spekulationen zeigen, dass die romantische Emphase des Augenblicks radikal kontingent ist und der „Heterogenität der Zwecke“75 bzw. der „Inkommensurabilität zwischen Handlung und Ergebnis“ unterliegt.76 Das steht im Gegensatz zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, wo es heißt, die Geschäftsführer des Geistes erfüllen entgegen ihren subjektiven Absichten die objektiven Zwecke der Weltgeschichte.77 In Hegels Philosophie des subjektiven Geistes heißt es jedoch, dass Komödie und Tragödie an dem Charakter „die einfache Dialektik“ entwickeln, dass „das Entgegengesetzte dessen geschieht, was er bezweckte“78 oder, um dasselbe frei nach Wilhelm Busch auszudrücken, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Es ist eine objektive Ironie der Moderne, dass die Selbständigkeit und Zufälligkeit, Individualität und Partikularität des Charakters, dessen Leidenschaften und Zwecke das „Freiwerden“ der modernen Subjektivität „gegen die durchgreifende Substantialität“79 bedeuten, was nicht zuletzt in der ästhetischen Frühmoderne sich ausdrückt. Vor diesem Hintergrund verwundert die hegelianische Polemik gegen Person, Werk und Leben Heinrich von Kleists in ihrer Schärfe und Unerbittlichkeit, umso mehr in Anbetracht der Tatsache, dass die Hegelsche Ästhetik als philosophische Reflexionstheorie der Kunst im Sinne des geschichtsphilosophischen Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit und Vernunft die Autonomie der Kunst richtig erkennt und bedingungslos anerkennt: „In den Darstellungen der romantischen Kunst hat […] alles Platz, alle Lebenssphären und Erscheinungen, das Größte und Kleinste, Höchste und Geringste, das Sittliche, Unsittliche und Böse; und besonders haust sich die Kunst, je mehr sie sich verweltlicht, mehr und mehr in die Endlichkeiten der Welt ein, nimmt mit ihnen vorlieb, gewährt ihnen vollkommene Gültigkeit, und dem Künstler ist wohl in ihnen, wenn er sie darstellt wie sie sind.“80 In der „der neuesten Zeit“ gelte sogar, „daß die Subjektivität

74 Kleist, II/5, V. 550 ff., 656. 75 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 2000, 156 ff. 76 Ebd., 276. 77 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TWA 12, 45. 78 Hegel, Enzyklopädie, TWA 10, 114. 79 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, TWA 15, 537. 80 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, TWA 14, 221.

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des Künstlers über ihrem Stoffe und ihrer Produktion steht, indem sie nicht mehr von den gegeben Bedingungen eine an sich selbst schon bestimmten Kreises des Inhalt wie der Form beherrscht ist, sondern sowohl den Inhalt als die Gestaltungsweise desselben ganz in ihrer Gewalt und Wahl behält“.81 Die moderne Kunst und Literatur bedienen sich wie die Philosophie der „Freiheit des Gedankens“ und die „Kritik“ eignet sich die „Bildung der Reflexion“ an, so dass Kunst und Literatur zur „tabula rasa“ werden. „Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes.“82 Die Kunst ist dadurch einerseits „ein freies Instrument geworden“,83 andererseits ergibt sich daraus, dass sie „zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht, die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchen, das Allgemeinmenschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schicksalen. Hiermit erhält der Künstler seinen Inhalt an ihm selber und ist der wirklich sich selbst bestimmende, die Unendlichkeit seiner Gefühle und Situationen betrachtende, ersinnende und ausdrückende Menschengeist, dem nichts mehr fremd ist, was in der Menschenbrust lebendig werden kann.“84 Die Ausklammerung der krankhaften Ruhmsucht und deren anthropologischer Phänomenalität von Zerstreutheit, Blödsinn und Faselei über Verrücktheit, Narrheit und Wahnsinn bis zu Geisteskrankheit lässt sich nicht mit dem Bekenntnis zur Freiheit der Kunst und deren kultureller Relevanz im Anschluss an den altrömischen Humanismus frei nach Terenz vereinbaren. Außerdem widersprechen sich die Vorlesungen über die Ästhetik darin, dass sie der dramatischen Poesie vor allen anderen Kunstgattungen und insbesondere der Skulptur, Malerei und Musik wegen deren sprachlicher und bloß vorstellungsmäßiger Gestalt zunächst ein Sonderrecht zusprechen, um es ihr dann im Falle von Kleists dramatischem Werk wieder abzusprechen. „Die innere Vorstellung z. B. kann in Zerrissenheit weit mehr ertragen als die unmittelbare Anschauung. Die Poesie hat deshalb das Recht, nach innen fast bis zur äußersten Qual der Verzweiflung und im Äußeren bis zur Häßlichkeit als solcher fortzugehen. In den bildenden Künsten aber, in der Malerei und mehr noch in der Skulptur, steht die Außengestalt fest und bleibend da, ohne wieder zu verschwinden. Hier würde es ein Verstoß sein, das Häßliche, wenn es keine Auflösung findet, für sich festzuhalten. Den bildenden Künsten ist deshalb nicht alles das erlaubt, was der dra-

81 Ebd., 231. 82 Ebd., 235. 83 Ebd., 235. 84 Ebd., 237 f.

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matischen Poesie sehr wohl kann gestattet werden, da sie es nur augenblicklich erscheinen und sich wieder entfernen läßt.“ 85 Von den Gattungen der poetischen Kunst verträgt wiederum das Drama die konfliktträchtige Kollision von Handlung und Gegenhandlung, die eigentlich eine Verletzung des Ideals der Kunstschönheit darstellt, vorzüglich, da sie das Hässliche und Unsittliche im Medium der Sprache zur sinnlichen Anschauung und Vorstellung bringt. Die Sprache ist nach der rationalistischen Auffassung des absoluten Idealismus die dem Geist angemessenste Gestalt. „Die Rede allein ist das der Exposition des Geistes würdige Element.“86 Das poetische Kunstwerk ist jedoch zugleich absoluter und objektiver Geist. Sie wird zum absoluten Geist erst in dem Maße, in dem sie durch die philosophische Arbeit des Begriffs aus dem ästhetischen und affektiven Bereich der sinnlichen Anschauungen, Vorstellungen und Gefühle in den Bereich des reinen Denkens erhoben wird. Sie ist zunächst in dem Maße, in dem sie das Werk der Sprache ist, objektiver Geist. Die rechtshegelianische Polemik gegen die romantische Ironie als substanzloser, leerer und in sich zerrissener und unversöhnter Subjektivismus geht von der idealistischen Prämisse aus, das Kunstschöne, das sittlich Gute und die begriffliche Wahrheit bildeten eine metaphysische Einheit. Ästhetische Darstellungen des Hässlichen, Erhabenen und Schrecklichen werden lediglich unter dem Vorbehalt zugelassen, dass sie der sittlichen Bildung dienen. Und selbst in der Hegelschen Kunstphilosophie dient die Kunst als Magd der Sittlichkeit oder Religion, seinen ansonsten teils richtigen Einsichten in die Autonomie der romantischen Kunstform zum Trotz. Dem entgegen suspendiert Kleists romantische Phantastik die überkommene Sittlichkeit und bricht die metaphysische Einheit des Wahren, Guten und Schönen auf. Daher lassen sich das Schöne ebenso wie das Hässliche, Erhabene und Schreckliche vom Wahren und Guten isolieren, selbst wenn es sich als falsch und böse herausstellen sollte. Dadurch eröffnen sich ästhetische, affektive und kognitive Spielräume von der hässlichen Wahrheit über die Schönheit des Bösen bis zur Falschheit des Guten. Mit Hegel gegen Hegel gedacht weist sich die romantische Schule im historischen Rückblick vom Standpunkt unserer Gegenwart als Frühmoderne aus, die auf die ästhetische Moderne vorausweist. Die sinnliche Anschauung von Entzweiungen sowohl im subjektiven und objektiven Geist als auch zwischen ihnen im Medium der Kunst kommt auch ohne geistige Versöhnungen aus und ist dennoch kulturell relevant. „Die Kunst, ihrem Begriffe nach, hat nichts anderes zu ihrem Berufe, als das in sich selbst Gehaltvolle zu adäquater sinnlicher Gegenwart herauszustellen, und

85 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, TWA 13, 268. 86 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, TWA 15, 474.

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die Philosophie der Kunst muß es sich deshalb zu ihrem Hauptgeschäfte werden lassen, was dies Gehaltvolle und seine schöne Erscheinungsweise ist, denkend zu begreifen.“87 Im Falle von Kleists Homburg-Drama ist das die hässliche Wahrheit über das wegen krankhafter Ruhmsucht zwischen Traum und Wirklichkeit entzweiten Selbstgefühls der bloß fühlenden Seele sowie der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der sittlichen Idee im Staat Brandenburg-Preußen, der frei nach Hamlets Motto, etwas sei faul im Staate Brandenburg-Preußen, auf dem Weg zum ewigen Frieden den Vernichtungskrieg gegen Schweden zum Mittel und Zweck erklärt.

87 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, TWA 14, 235.

Jure Zovko

„Degradierung“ der Anthropologie im Kontext von Hegels Romantikkritik? Friedrich Schlegel hat 1827 in seinen Wiener Vorlesungen Philosophie des Lebens, die als Buch bereits ein Jahr später veröffentlicht wurden,1 Hegels dialektische Philosophie als „bösen Geist der Verneinung und des Widerspruchs“ gebrandmarkt, der sich völlig vom faktischen Leben entfernt hat. Hegels Intention, den Triumph des absoluten Selbstbewusstsein über das endliche Selbstbewusstsein zu vollziehen, hat nach Schlegels Urteil zur Folge, dass die Kreativität des Geistes „in den leeren Raum des absoluten Denkens“ verlegt wurde.2 Die so aufgefasste Philosophie hat jede Relevanz und Bedeutsamkeit für das faktische Leben verspielt. Die Intention der Schlegelschen Lebensphilosophie bestand darin, vom Standpunkt des faktischen Lebens den Hegelschen Geist der Verneinung und seinen wissenschaftlichen Atheismus zu bekämpfen. Seit der Konversion zum Katholizismus (1808) bleibt es das primäre Anliegen seiner Philosophie, sich in die bestehende sittliche Lebenswelt einzuleben und aus solcher Faktizität eine Lebensphilosophie auszuarbeiten. In den 1812 gehaltenen Wiener Vorlesungen behauptet Schlegel, dass es seine Intention sei, „der großen Kluft, welche immer noch die literarische Welt und das intellektuelle Leben der Menschen von der praktischen Wirklichkeit trennt“, entgegenzuwirken.3 Seine stark anthropologisch geprägte Lebensphilosophie hat Schlegel als Gegenposition zu Hegels System konzipiert, in welchem der „Geist der Verneinung“ dominiere. Aus dem Verzeichnis der von Hegel hinterlassenen Bücher ist ersichtlich, dass Hegel Schlegels Abhandlung Philosophie des Lebens angeschafft und bald darauf Schlegels Vorwurf in der Solger-Rezension in scharfer Form erwidert hat. Der eifrige Katholik Schlegel wurde darin noch einmal an „die keckste und blühendste Periode der Ironie, Lucinde, Athenäum“ erinnert,4 die er anscheinend aus dem Gedächtnis verloren und unterdessen sich eingebildet hat, „daß er auf dem höchsten Gipfel der Philosophie stehe, ohne jemals zu beweisen, daß er in

1 Philosophie des Lebens. In fünfzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1927 von Friedrich von Schlegel, Wien 1828. 2 KFSA 10, 16 f. 3 KFSA 6, 4. 4 TWA 11, 215.

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diese Wissenschaft eingedrungen sei“.5 Nach Hegels Urteil finde man in Schlegel kritischen Schriften, die darauf prätendieren, philosophisch zu sein, nichts anderes als eine paradigmatische „selbstbewußte Vereitelung des Objektiven“.6 Hegel betont, dass wir in unserem Handeln auf die „tragende Substantialität von Recht und Sitte”, die man sich durch Erziehung aneignet, nicht verzichten könnten. Die substantielle Sittlichkeit erweist sich als unentbehrliche Voraussetzung, den Entschluss des Handelnden bei der Wahl der Handlungsmöglichkeiten zu beeinflussen. „Die sittliche Substantialität“ beschreibt Hegel als den Zustand des Geistes, in dem der Eigenwille des Einzelnen verschwunden ist.7 Hegel hat sich bemüht, die verkehrte Genealogie des romantischen Denkens klarzulegen und zu kritisieren. Es handelt sich, so Hegel, um ein eindeutiges Missverständnis der Fichteschen Wissenschaftslehre, weil in der Schlegelschen poetischen Reflexion das spekulative Segment der Fichteschen Philosophie verkannt und direkt auf die Wirklichkeit bezogen wurde. Die verhängnisvolle Folge dieser einseitigen Umdeutung war, dass die romantische Ironie, als primäre Artikulationsform der romantischen Reflexion, „zum Verneinen der Lebendigkeit der Vernunft und Wahrheit und zur Herabsetzung derselben zum Schein im Subjekt und zum Scheinen für andere“ geworden war.8 Hegel behauptet, dass die romantische Vereitelung des Objektiven verschiedene Bereiche des Substantiellen desavouiert habe, nämlich alles, was in einer Gesellschaft als sachlich, sittlich, wahrhaftig und gehaltvoll gilt. Die substanzielle Sittlichkeit als Lebensform kennzeichneten die Romantiker nach Hegels Urteil als nichtig und eitel. Dagegen wurde ihre „geniale Individualität“ zum obersten Prinzip der Kreativität erhoben. Die „Virtuosität eines ironisch-künstlerischen Lebens“ fühlt sich an keine Substantialität bzw. an keine ethisch-ästhetische Normativität gebunden. Es handelt sich, nach Hegels Urteil, um eine verkehrte Form des kantischen Genie-Verständnisses, das als „göttliche Genialität“ alles kreieren und vernichten kann, wobei als einziges Ideal der Romantiker bleibe, „als Künstler zu leben und sein Leben künstlerisch zu gestalten“.9 Im Gegensatz zu den Frühromantikern meint Hegel, dass die Erfassung der wahren „Lebendigkeit“ nicht durch Empfindung, Gefühle, Affekte und Emotio-

5 Ebd., 234. 6 Ebd., 233. 7 Vgl. Hegel TWA 7, 302, § 152; ebd., 317 f.; vgl. auch Enzyklopädie, TWA 10, 318 f., § 515. Dabei kritisiert Hegel in seiner Rechtphilosophie Schlegels Ideen aus der Lucinde, dass die Ehe als institutionelle Erscheinung überflüssig ist. Hegel behauptet dagegen, dass es in der Ehe primär um das„wahrhaft vernünftiges Verhältnis“ der Partner untereinander gehe (TWA 7, 318). 8 TWA 11, 255. 9 TWA 13, 94.

„Degradierung“ der Anthropologie im Kontext von Hegels Romantikkritik? 

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nen stattfinden könne, sondern nur als Identität von Denken und Sein im Sinne der absoluten Idee. Die Quintessenz der Hegelschen Romantikkritik besteht, wie es in seiner Wissenschaft der Logik formuliert wurde, darin, nachzuweisen, dass „das Endliche nicht als ein wahrhaft es anzuerkennen“ ist.10 Es ist ein Paradox, dass sich Hegel im Zuge der Auseinandersetzung mit den Frühromantikern auf Aristoteles beruft, der „tief und innig“ im siebten Kapitel des Buches Lambda der Metaphysik erkannt und dargestellt habe, wie die wahre Lebendigkeit zu denken sei, nämlich aus der Perspektive des Absoluten. Will Hegel hiermit nachweisen, dass die Themen, mit denen sich Frühromantiker befasst haben, nur vom Standpunkt des absoluten Wissens aus erörtert werden sollten? Hegels freie Übertragung des berühmten Passus aus der Aristotelischen Metaphysik (XII, 7, 1072b 18–27), in dem das Leben des göttlichen Geistes erörtert wird, ist ein Hinweis, womit die Bildung des subjektiven Geistes ergänzt werden sollte: „Die Tätigkeit des Denkens ist Leben; Gott aber ist die Tätigkeit; die für sich selbst seiende Tätigkeit aber ist dessen vollkommenes und ewiges Leben“.11 Hegels Intention ist es, danach zu fragen, inwiefern ein Leben aus der Perspektive des Absoluten gedacht und im Bereich des institutionellen Lebens der Kunst explizit gemacht bzw. zur Sprache gebracht werden kann. Das „recht Lebendige“ soll nicht am künstlerischen Schaffen von Novalis und Kleist exemplifiziert werden, weil ihre Werke „ein in sich entzweit bleibendes, sich selbst störendes Leben“ artikulieren,12 sondern am Beispiel der Aristotelischen spekulativen Philosophie dargelegt werden. Hegels unerwartete Berufung auf die Aristotelische Bestimmung des Lebens in der Solger-Rezension sollte man im Kontext seiner Verurteilung der Schlegelschen Ironie, die zum „Verneinen der Lebendigkeit der Vernunft“ wesentlich beigetragen hat, verstehen. Dies hat zur Folge, dass durch die nicht versöhnte und abstrakt gebliebene Subjektivität eine eigenartige Lebensform proklamiert wird, die man nach Hegels Urteil wegen der Entfremdung von der gesellschaftlichen Formen der Sittlichkeit als misslungenes Paradigma bewerten muss.13 Durch die Aktualisierung der Aristotelischen Auffassung des Lebens möchte Hegel nachweisen, dass die eigentliche Lebendigkeit keineswegs die Freiheit des willkürlichen Individuums ist, das seine Existenz von jeder substantialen Sittlichkeit loslöst. Ein so gefasstes Leben vertrocknet nach Hegels Urteil in der hypertrophierten Subjektivität, die aus ihrem Grund herausgerissen worden ist. Deshalb

10 TWA, 5, 172; Vgl. auch Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, TWA 8, 200ff., § 95. 11 TWA 11, 267. 12 Ebd. 13 TWA 11, 255; 259.

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ist Hegels Begriff der Subjektivität dem „romantischen“ Begriff des individuellen und persönlichen Subjekts diametral entgegengesetzt. Das Einzelindividuum als „eine konkrete Gestalt“ bleibt nach Hegels Urteil in seiner individuellen Welterfahrung isoliert und es bedarf der weiteren Bestimmung.14 Hegels Rekurs auf die Aristotelische Konzeption des Lebens, die als göttliche energeia verstanden wird, ist ein Grund dafür, dass ihm die postidealistischen Denker wie Marx, Kierkegaard und Dilthey immer wieder vorgeworfen haben, dass er mit seiner spekulativen Philosophie aus dem Bereich des Endlichen herausgetreten sei und uns ans Ende der Geschichte bzw. in die Sphäre des absoluten Geistes gebracht habe, in welcher alles Endliche aufgehoben werde. Aber Hegel knüpft an Aristoteles nicht nur hinsichtlich der Aktualisierung seines Denkens des absoluten Geistes qua energeia an, sondern auch bei der Erörterung der Konzeption der Seele. Die Selbsterkenntnis des Geistes beginnt freilich mit der Tätigkeit der Seele, die mit der höchsten Definition des Absoluten abgeschlossen wird. Dementsprechend schreibt Hegel in seiner Enzyklopädie (1830, § 384): „Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie; auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen.“15 Den Weg der Aufhebung der individuellen Verschlossenheit kennzeichnet Hegel auch als Bildungsprozess. Das Sichbilden des Individuums bedeutet im Grunde genommen ein Sichheraufbilden zum allgemeinen Wesen des Geistes, wobei die „fixierte Endlichkeit“ und Beschränktheit des Individuums aufgehoben wird. Hegels Kritik der Jenenser Romantiker ist auch durch die Tatsache motiviert, dass sie sich als Avantgarde der Moderne betrachtet haben. Die Romantiker wollten im damaligen „kritischen Zeitalter“ nicht nur eine „neue Mythologie“, Religion und Kunst aus dem Geiste der Moderne schaffen, sondern auch das Bildungsniveau der Bürger verbessern; vor allem Frauen wurde das Recht auf wissenschaftliche, künstlerische und humanistische Bildung zugesprochen. Eine basale Gleichberechtigung der Geschlechter sollte durch die Reform des Eigentums- und Erbrecht zustande kommen. Die revolutionären Ideen der Frühromantiker fanden jedoch mitnichten solche Akzeptanz und Resonanz in der Gesellschaft, wie sie es ursprünglich erwartet hatten. Die Tatsache, dass Schlegel in der Zeit des Athenaeum seine kritische Reflexion primär auf das konkrete Leben fokussiert – mit der plausiblen Begründung,

14 Ebd, 238. 15 TWA 10, 29.

„Degradierung“ der Anthropologie im Kontext von Hegels Romantikkritik? 

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„daß der Mensch nur unter Menschen leben“ und sich verständigen könne,16 war auch ein Anlass für Hegel, die soziologisch fundierte deskriptive Anthropologie so scharf abzulehnen. Es ist ein Paradox, dass Hegel bei der Bestimmung der Anthropologie in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften wiederum auf Aristoteles als philosophische Autorität rekurriert: „Die Bücher des Aristoteles über die Seele mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben sind […] noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand. Der wesentliche Zweck einer Philosophie des Geistes kann nur der sein, den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen, damit auch den Sinn jener Aristotelischen Bücher wieder aufzuschließen.“17 Da Hegel nur in der dritten Auflage der Enzyklopädie auf das von Aristoteles thematisierte Verhältnis von Geist und Leib im § 389 ausführlicher eingeht, darf man dies als zusätzliche Fortsetzung der Kritik der Schlegelschen Konzeption der Lebensphilosophie betrachten. Das Paradox der Hegelschen Anthropologie besteht darin, dass in ihr nicht der Mensch mit seinen sämtlichen Bestimmungen thematisiert und analysiert wird, wie es beispielsweise bei Kant der Fall war. In Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht wird besprochen, was der Mensch „als frei handelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“.18 Im Unterschied zu Fichte, der das endliche Ich deduktiv aus der transzendentalen Tathandlung des Ichs ableitet, verfährt Hegel fast induktiv, indem er die Genese des Ichs im erinnernden Prozess des Selbstgefühls darlegt und dabei erörtert, wie die vorreflexiven Formen des Selbstgefühls zum subjektiven Geist transformiert werden.19 Hegel analysiert in seiner Anthropologie – analog dem Aristotelischen Verfahren  – menschliche mentale Fähigkeiten und Dispositionen, die der Mensch mit anderen Tieren gemeinsam hat, die sich immerhin von den tierischen Eigenschaften unterscheiden, weil sie sich auf die Ebene des subjektiven und objektiven Geistes erheben können.20 Mit anderen Worten, Hegels Anthropologie thematisiert die präintentionalen und vorreflexiven Formen des menschlichen Geistes, die als anthropologische Bestimmungen für die Erörterung des Verhältnisses von Geist und Natur unentbehrlich sind. Hegel besteht in seiner Enzyklopädie darauf, dass die „Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen, wie des Wahrhaften an und

16 KFSA 8, 58 17 TWA, 10, 11; § 378. 18 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: AA 7, 119. 19 Dazu ausführlicher Birgit Sandkaulen, „Die Seele ist der existierende Begriff“, in: HegelStudien 45 (2010), 35–50. 20 Vgl. Dazu Michael Wolff, Das Körper-Seele-Problem, Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389, Frankfurt/Main 1992, 29–30.

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für sich“21 auch die deskriptive Darlegung der psychophysischen Zustände, die er gemeinsam mit den Tieren hat, impliziert. Dementsprechend bietet uns Hegel paradoxerweise eine eigenartige Anthropologie, die nur ein Segment seiner Philosophie des subjektiven Geistes ist, wobei sich das Selbstverhältnis zur eigenen Leiblichkeit und die Relation zur bestehenden Umwelt als Grundlage für die basale Unterscheidung zwischen der menschlichen und der tierischen Animalität erweist. Tiere vermögen mithilfe ihrer Empfindungen sich in die Natur als ihre Umwelt einzuleben, aber ihr Verhältnis zu Natur bleibt ein äußerliches, instinktives Verhältnis, ein Selbsterhaltungstrieb, der teleologisch durch Reproduktion bestimmt und vollzogen wird.22 Im Unterschied zu den Tieren vermag es der Mensch, vermittels der Reflexion seine Umwelt zur Lebenswelt zu transformieren. Hegel unterstreicht dies mit der Behauptung, dass das „Tier seine Zwecke noch nicht als Zwecke“ kennt, sondern teleologisch „bewußtlos“ verfährt.23 Dies begründet Hegel unter anderem durch die Rede vom „Schlaf des Geistes“,24 der auch für Tiere charakteristisch sei. Hegels Anthropologie schließt in der Enzyklopädie an die Naturphilosophie an und zeigt auf, wiefern das menschliche Leben noch weitgehend der Natürlichkeit verhaftet ist. Die Seele als immaterielles Lebensprinzip ist vergleichbar dem passiven νοῦς des Aristoteles, sie ist körpergebunden, geschlechtlich differenziert und durch die einfachsten Formen des Erlebens, Empfindens und Fühlens charakterisiert. Das Empfinden wird als „das gesunde Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit“ gekennzeichnet.25 Das Fühlen der Seele ist einerseits auf die Außenwelt bezogen und fungiert somit als Anknüpfung an die Naturphilosophie, andererseits bezieht sich die Seele als Selbstgefühl auf das eigene Sein. Demgemäß deutet Hegel das Selbstgefühl als die erste Form des Wissens um sich selbst als ein Ich, das mit seinem Körper innig vereint ist. Hegel sagt: „Die Seele ist in ihrer durchgebildeten und sich zu eigen gemachten Leiblichkeit als einzelnes Subjekt für sich.“26 Der Mensch kann nach Hegels Einschätzung nicht auf dieser untersten Stufe des Geistes stehen bleiben, weil er als Vernunftwesen von der Empfindung zum Denken übergeht. Der Geist im Stadium seiner Gebundenheit mit dem Leib weiß um sich nur in und durch seine leibliche Befindlichkeit, er bleibt noch unentwickelt, weil er nicht um sich als reines Denken weiß.

21 TWA, 10, 9; § 377 22 Vgl. dazu Terry Pinkard, Hegel’s Naturalism: Mind, Nature, and the Final Ends of Life, Oxford 2012, 24. 23 TWA, Bd. 9, § 360. 24 TWA 10, 43, § 389. 25 Ebd., 101. 26 Ebd., 192, § 411.

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Hegel hebt gleichzeitig hervor, dass sich der Mensch nicht aufgrund des Empfindens vom Tier unterscheidet, sondern lediglich durch das urteilende Denken: „Die fühlende Totalität ist als Individualität wesentlich dies, sich in sich selbst zu unterscheiden und zum Urteil in sich zu erwachen, nach welchem sie besondere Gefühle hat und als Subjekt in Beziehung auf diese ihre Bestimmungen ist.“27 Solange das Ich als Seele im Verhältnis zum innerweltlichen Seienden thematisiert wird, wird die ontologische Differenz zwischen Mensch und Tier noch nicht plausibel. Deshalb besteht Hegel drauf, seine Anthropologie durch die Phänomenologie des Geistes zu ersetzen, in der das Bewusstsein als weitere Entwicklungsstufe der Seele bestimmt und erörtert wird. Auf dem Stadium des Selbstbewusstseins erreicht das Subjekt die Einsicht, „dass seine Bestimmungen ebensosoehr gegenständlich, Bestimmungen des Wesens der Dinge, als seine eigenen Gedanken sind“.28 Mit anderen Worten: Hegel möchte nachweisen, dass die Vereinigung von Ich und Welt durch die Tätigkeit der Vernunft vollzogen werden kann, wobei der Geist den Zustand der sich selbst wissenden Wahrheit erlangt. Diesen Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen kennzeichnet Hegel als einen lebendigen Prozess des Reifens und Bildens, in welchem der Mensch sich zur vernünftigen Person entwickelt. Diesen Prozess, in dem sich der Mensch den Gebilden zuwendet und Überlieferungsinhalte in sich aufnimmt, deutet Hegel als Bildung, die streng betrachtet die gegenseitige Beziehung vom sich voraussetzenden subjektiven und objektiven Geist ist. Der Mensch schreitet im Bildungsprozess fort, in dem er sich in den Überlieferungszusammenhang vom Kulturgut hineinversetzt, und zwar in der Weise, dass er das geschichtlich Tradierte auch kritisch überprüft und aneignet. Der menschliche Geist in seiner Endlichkeit ist offensichtlich ein geschichtliches Wesen, das von der Erinnerung und Vergegenwärtigung des ganzen Menschengeschlechts lebt und inspiriert bleibt und das seine Zukunft in der kritischen Auseinandersetzung mit seinem kulturellen Gedächtnis bzw. mit dem bestehenden „System der Kultur“ macht. Deshalb sollen anthropologische Bestimmungen wie „Selbsterkenntnis“ und „Selbstverhältnis“ zum Ausdruck bringen, dass der Mensch sich nicht durch reine Introspektion erkennt, sondern in seinem erkennenden Prozess auf den Dialog mit geschichtlich überlieferten Äußerungen und Objektivationen des Geistes angewiesen bleibt. Hegels Anthropologie ist besonders geeignet, das Verhältnis des Geistes zur Natur genealogisch zu erklären und dabei nachzuweisen, inwiefern sich der Geist „als die Wahrheit der Natur“ erweist.29 Es handelt sich um eine „lebensweltlich

27 Ebd., 160; § 407. 28 Ebd., 229; § 439. 29 Ebd., 43.

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verankerte Genese“ menschlicher Subjektivität,30 die Hegel metaphorisch als das Leben der Seele im Zustand des „Schlaf[es] des Geistes“ kennzeichnet.31 Das eigentliche Anliegen der Hegelschen Anthropologie stricto sensu ist es, plausibel zu machen, dass der Geist dasjenige ist „wodurch der Mensch Mensch ist“, weil sich nur mittels seiner „inneren Allgemeinheit“ alle äußerlichen Besonderheiten des Menschen erkennen lassen.32 Der Mensch erzielt die Erfüllung seines Wesens dadurch, dass er zum Vermittler des Allgemeinen wird und sich mit ihm vereint sieht. Diese Dimension der Hegelschen Philosophie ist besonders geeignet, um manche gravierende Lücken in der gegenwärtigen analytischen Philosophy of Mind bloßzustellen. Hegels Positionierung der Anthropologie in seinem System der philosophischen Enzyklopädie kann ergiebige Anregungen zur Korrektur der Versäumnisse bei der Thematisierung des Verhältnisses von Geist (Mind) und Welt (World) anbieten. Philosophische Positionen, in denen man Menschen auf den Status des „repräsentierenden Wesens“ (entia repraesentantia) reduziert, um ihn damit von nichtdenkenden Tieren unterscheiden zu können, seien insuffiziente Approachs, in welchen unsere gemeinsame Welt als Interpretandum zur bloßen res extensa heruntergesetzt wird. Ähnlich war es nach dem Ausklang des Deutschen Idealismus, als der sich etablierende Positivismus programmatisch das endgütige Ziel aufgestellt hatte, die spekulative Philosophie durch die systematische Ansammlung der empirischen Forschungen der positiven Wissenschaften vollständig zu ersetzen. Es war nämlich, wie Wilhelm Dilthey in der 1911 verfassten Vorrede zu den geplanten Abhandlungen über Grundlegung der Geisteswissenschaften schrieb, die Zeit, in welcher „der idealistische Monismus Hegels […] von der Herrschaft der Naturwissenschaft“ abgelöst und „der naturwissenschaftliche Geist Philosophie wurde“.33 In der Zeit des sich emporarbeitenden Positivismus hat sich vor allem Dilthey nachhaltig bemüht, die Würde der Geisteswissenschaften durch eine philosophische Grundlegung der „Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und Geschichte“ zu verteidigen und dementsprechend aufzuzeigen, dass „die Geisteswissenschaften ein selbständiges Ganzes neben den Naturwissenschaften“ sind34 und als solche besondere

30 B. Sandkaulen, „Die Seele“, a. a. O. (Anm. 19), 43. Sandkaulen deutet Hegels Anthropologie als „Bestimmung menschlicher Lebens-Welt in ihren ursprünglichsten Manifestationen.“ 31 TWA 10, 43. 32 Ebd., 9, § 377. 33 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Göttingen 1990, 3. 34 Wilhelm Dilthey, „Einleitung in die Geisteswissenschaften“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart und Göttingen 1959, 3–120; hier 4.

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Methodologie und eine spezifische Form des Verstehens beanspruchen und benötigen. Führende amerikanische Philosophen analytischer Provenienz (Wilfrid Sellars, Robert Brandom, John McDowell) haben inzwischen aufgezeigt, dass grundlegende Fragen des Verhältnisses von Geist und Welt in der gegenwärtigen analytischen Philosophie nicht ohne Rekurs auf das Erbe der Klassischen Deutschen Philosophie, namentlich Kant und Hegel, ergründet werden können. Gleichzeitig vertreten viele einflussreiche Philosophieprofessoren in Deutschland die Ansicht, dass heutzutage „die Philosophie des Geistes“ von der traditionellen Belastung zu befreien sei, bzw., dass man den Begriff „Geist“ von Standpunkt der kausalen Beziehungen zwischen geistigen und körperlichen Vorgängen erörtern müsste. Dabei sollte in der neu zu etablierenden „Philosophie des Geistes“ das bestehende Ressentiment gegenüber den empirischen und kognitiven Wissenschaften, vor allem der Hirn- und Nervenforschung, aufgehoben werden, um deren Errungenschaften bei der Explikation der mentalen Phänomene anzuwenden.35 Thomas Nagel behauptet in seinem wertvollen und inzwischen hart kritisierten Buch Mind and Cosmos, dass die moderne Philosophy of Mind, obgleich sie einige der klassischen Fragen aktualisiert hat, wie beispielsweise diejenigen nach den qualia, inzwischen zur ancilla der Neurowissenschaften geworden ist, wie sie einst treue Dienerin der Theologie war. Nagel wendet sich mit seinem radikalen Antireduktionismus gegen das materialistisch-neodarwinistische Paradigma des wissenschaftlichen Naturalismus und versucht, nachzuweisen, dass das Körper-Geist-Verhältnis viel komplexer ist, als die physikalistisch geprägten Kognitionswissenschaftler heutzutage beweisen. Man kann zu Recht mit Nagel fragen, ob die Dominanz des materialistischen Naturalismus durch eine innovative Konzeption der Naturordnung, welcher ‚Geist‘ als das fundamentale Prinzip inhärent ist, widerlegt werden kann. Nagel plädiert für einen objektiven Idealismus, der mit der Philosophie von Platon, Schelling und Hegel nahe verwandt wäre.36 Als Philosoph möchte Nagel darauf aufmerksam machen, dass vom Standpunkt des gegenwärtigen Wissens die Beziehung zwischen Geist und phy-

35 Vgl. Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, hg.  v. Thomas Metzinger, Paderborn 2005, 10 ff.; Thomas Metzinger, Subjekt und Selbstmodell. Die Perspektivität phänomenalen Bewußtseins vor dem Hintergrund einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation, Paderborn 1999, 13 f. 36 Thomas Nagel, Mind and Cosmos: Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature Is Almost Certainly False, Oxford 2012, 17. Es ist bemerkenswert, dass die Namen der genannten Philosophen weder in der englischen Ausgabe noch in der deutschen Übersetzung im Namensregister vorkommen.

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sikalischer Welt ergründet werden soll. Nagel behauptet, dass der Geist, „nicht bloß ein nachträglicher Einfall oder ein Zufall oder eine Zusatzausstattung […] sondern ein grundlegender Aspekt der Natur“ ist, der dem Universum inhärent sei.37 Eines der wichtigsten Argumente bei Nagel ist, dass das Bewusstsein nicht als eine bloße Erweiterung der physikalischen Evolution zu betrachten bzw. nicht bloß epiphänomenal und passiv ist, sondern auch eine aktive und kreative Dimension enthält. Das Auftreten der Vernunft und der Sprache (das traditionelle logon echon) im Laufe der biologischen Geschichte müsste als etwas radikal Emergentes erscheinen, das nicht bloß behavioristisch gedeutet werden kann. Die Einbeziehung des Geistes in die Naturordnung setzt eine Erklärung voraus, dass Bewusstsein nicht bloß in Wahrnehmung, Emotion, Verlangen und Abneigung eingeht, sondern auch mit allgemeingeltenden Prinzipien (notwendigen Wahrheiten der Logik und Mathematik) umgeht, den Wahrheits-und Wahrhaftigkeitscharakter der Aussagen überprüft. Das Bewusstsein ist auch unter anderem Freiheit, d. h. die Fähigkeit, von äußeren Einflüssen Abstand zu nehmen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Der freie Wille bleibt die Grundbestimmung des Menschen, weil der Wille eine Synthese unserer Rationalität und des Bewusstseins ist. Ferner können wir hinsichtlich der moralischen Wahrheiten unsere Vernunft auch kollektiv nutzen. Die vom Geist vollzogenen Prozesse der Entdeckung und Motivation lassen sich nicht vom physischen Prozess im Organismus trennen. Da Menschen der Reflexion und des Selbstbewusstseins fähig sind, ferner auch Wesen mit der Befähigung der praktischen Vernunft, Werte zu gründen, zu erkennen und nach ihnen zu handeln, kommt Nagel zu der Schlussfolgerung, dass man Bewusstsein nicht als ein biologisches Phänomen verstehen kann: „Menschliches Handeln erklärt sich nicht durch die Physiologie oder durch Wünsche, sondern durch Urteile. Wir sind […] die Subjekte urteilssensitiver Einstellungen, und diese Urteile haben einen Gegenstand, der über sie hinausweist. Wir leben in einer Welt der Werte und reagieren mit normativen Urteilen auf sie, die unsere Handlungen anleiten.“38 Die Tatsache, dass wir in einer Welt der selbstbegründeten Werte leben, ein selbstbewusstes Leben führen, in der Art und Weise, dass wir auf Geschehnisse in der Welt mit normativen Urteilen reagieren, bietet uns in der gegenwärtigen Situation, so Nagel, eine Alternative zur darwinistischen Anwendung des materialistischen Naturalismus in der Philosophie. Ähnlich wie Thomas Nagel hat bereit Arthur Danto überzeugend nachgewiesen, dass wir auch als entia repraesentantia innerhalb des Hegelschen „Reiches

37 Vgl. Thomas Nagel, Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Frankfurt/Main 2013, 30. 38 Ebd., 164.

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des Geistes“ leben und dabei unsere eigene Identität durch bestehende Sittlichkeit, Kultur, Religion, Gesetzgebung ausbilden. Somit bleibt der Weltbezug des Menschen stets durch die bestehende(n) Objektivationen des menschlichen Geistes bereits schon beeinflusst. Die gemeinsame Welt des Verstehbaren, in der wir leben, darf folglich mitnichten auf eine res extensa reduziert werden, weil die verstehende Argumentation immer im Kontext vom bestehenden Reich des Geistes vollzogen wird.39 Hegels Anthropologie wird in der Forschung unterschiedlich gedeutet. Nach dem Urteil von Walter Schulz dürfte man seine spekulative Philosophie als die eigentliche „Vollendung der metaphysischen Anthropologie“40 charakterisieren. In ihr wird plausibel gemacht, wie sich der Mensch als vernünftiges Wesen mit seiner Welt und Geschichte zu versöhnen bemüht. Hegels enzyklopädische Darstellung der Anthropologie hat trotz der vielen Überschneidungen mit der Phänomenologie des Geistes (187) wenig Aufmerksamkeit gefunden und ist fast ohne Wirkungsgeschichte geblieben. Andererseits wird Hegel vorgeworfen, dass er in seiner Auseinandersetzung mit der Romantik eine „Degradierung der Anthropologie“ vollzogen hat.41 Odo Marquard behauptet, dass Hegel versucht habe, die Anthropologie an die Geschichtsphilosophie anzupassen, wodurch freilich ihre Desavouierung stattgefunden hebe. Nach Marquards Ansicht hat Hegel den Menschen der Geschichte zugunsten der Phänomenologie des absoluten Geistes preisgegeben, die letztlich eine Betätigung der ewigen an und für sich seiende Idee sei. Marquard meint, dass Kant mit seiner epochalen Wende zur Lebenswelt in der Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die wichtigsten Weichen für die weitere Entwicklung der Philosophie gestellt habe, weil bei ihm die philosophische Anthropologie nicht nach der physiologischen Antwort „was die Natur aus dem Menschen macht?“ suche, sondern die pragmatische Frage thematisiere, „was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll?“ 42 Kants anthropologische Ideen haben bei den Romantikern eine fruchtbare Rezeption gefunden: Im Zeichen der Lebenswelt der Frühromantiker wird die Natur weder als abstrakte verdinglichende Essenz noch als matemathischnaturwissenschaftliche Experimentalnatur, sondern in erster Linie als Lebendigkeit konzipiert. In diesem Sinne gab es mehrere Versuche von Josef Görres

39 Arthur C. Danto, Wege zur Welt. Grundbegriffe der Philosophie, München 1999, 317. Danto gibt zu, dass er sich zuweilen gern als „wiedergeborenen Hegelianer“ bezeichnet; vgl. ebd., 21. 40 W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, 362. 41 Vgl. Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/Main 1973, 132. 42 Immanuel Kant, Werke. Akademieausgabe, Bd. 8, Berlin 1968, 3.

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(Aphorismen über die Kunst. Als Einleitung zu Aphorismen über […] Anthropologie; 1802) bis zu Johann Christian August Heinroth (Lehrbuch der Anthropologie; 1822), ein Konzept der Anthropologie auszuarbeiten. Hegel bemüht sich, nachzuweisen, dass in der romantischen Anthropologie nur eine Theorie des Geistes in seiner bloßen „Naturbestimmtheit“ präsentiert wird, bzw. eine Philosophie der dynamis des Menschen, soweit er „an sich“ ist, entworfen, die für die Probleme seiner geschichtlichen Verwirklichung nicht ausreicht, weil der Mensch nur hinsichtlich seiner Möglichkeit thematisiert wird. Hegels Kritik des romantischen Denkens in der Solger-Rezension wurde auch in der letzten Auflage der Enzyklopädie (1830) fortgesetzt. Die Tatsache, dass Hegel in der dritten Auflage der Enzyklopädie den Titel des §  403, der in der zweiten Auflage (1827) „Die träumende Seele“ lautete, zu „Die fühlende Seele“ geändert hat, ist ein Beleg dafür, dass er bei der Erörterung der Seele jede Anknüpfung an die romantische Sehnsucht abbrechen wollte. In der Solger-Rezension wurde nämlich Novalis vorgeworfen, dass er die „schöne Seele […] bis zur Sehnsucht getrieben und den abstrakten Verstand weder zu überwinden noch ihm auch zu entsagen vermocht hat“.43 Friedrich Schlegel hat in seinen Wiener Vorlesungen über die Philosophie des Lebens der Seele, die in der Mitte des „gevierteilten Bewußtseins“ steht, träumende Fähigkeiten zugeschrieben.44 Wenn Anthropologie bloß auf Analyse der menschlichen biologisch-soziologischen Dimensionen reduziert wird, wie dies nach Hegels Urteil die Romantiker getan haben, dann kommt es dagegen darauf an, die Anthropologie in einen Kontext des Verhältnisses von Geist und Natur zu stellen, wie es Hegel in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften getan hat.

43 Hegel, TWA 11, 267. Es ist nicht auszuschließen, dass Hegel dabei auch an Schleiermacher gedacht und sein Konzept der Gefühlsreligion kritisiert hat; vgl. Jeffrey Reid „How the Dreaming Soul Became the Feeling Soul, between the 1827 and 1830 Editions of Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit”, in: Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, ed. David Stern, New York 2013, 37–54, 48. 44 Vgl. Friedrich Schlegel, Philosophie des Lebens. In fünfzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1927 Von Friedrich von Schlegel, Wien 1828, 472 f.

Samir Arnautović

Hegels Anthropologie, Epistemologie und Religion als Begründung der Welt ohne Gott? Das Problem der Identität, das Kant im Rahmen der Untersuchung der Religion im Rahmen des Diskurses der Anthropologie als Ausgangspunkt der Handlung nimmt, ist entscheidend dafür, die Bedeutung der Religion im Leben der Menschen verstehen zu können. Im Blick aus der Perspektive der Identität als der entscheidenden Instanz der Handlung wird die Religion anthropologisch als wichtige Tatsache der menschlichen Existenz zum Ausdruck gebracht. Natürlich ist dies nicht eine Anthropologie im Sinne einer Betrachtung der „natürlichen Existenz des Menschen“, sondern eine eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Kulturanthropologie und des Verständnisses der lebendigen Welt. Die Bedeutung der Identität beleuchtet in diesem Zusammenhang klarer einige Unterschiede zur „reinen Ontologie“ auf der einen und der „reinen Soziologie“ auf der anderen Seite. In einer weiteren Bedeutung kann diese Konstitution der Identität auch kulturelle Identität genannt werden. Eine solche kulturelle Identität bestätigt sich objektiv in der Kunst und subjektiv in der Religion, und drückt sich auch durch die Weltanschaung aus, in welcher die geistige Substantialität enthalten ist, welche die Philosophie begrifflich erfassen kann. Die kulturelle Identität stellt sich also dann ein, wenn das Ich sich selbst in Werten außerhalb seiner selbst wiedererkennt. Das ist der Weg, in dem das Bewusstsein in das Selbstbewusstsein übergeht und sich selbst im Anderen erkennt. Die kulturelle Identität kann hier als eine relative Kategorie des Subjektiven und einer der Stützpunkte des objektiven Geistes aufgefasst werden. In diesem Sinne erscheint der Mensch als ein vieldeutiges Zeichen, dessen Verständnis zum Verstehen der Gesamtheit der Lebensverhältnisse beiträgt. Die Marxsche Auffassung der Geschichtlichkeit und das Verstehen der Gesamtheit der Lebensverhältnisse gründet auf diesem Ausgangspunkt und die Konsequenz ist das Denken der Realität, der Wirklichkeit als des entscheidenden Orts des philosophischen Denkens. Die Geschichtlichkeit erscheint hier als eine Form der Realität des Geistes, die auf dem Menschen im individuellen Sinne basiert. Seine wirkliche Realität zeigt sich in der geschichtlichen Allgemeinheit, die aus der Subjektivität heraus zu Grunde gelegt wird und einen Sinn und die Bedeutung der objektiven Gültig-

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 Samir Arnautović

keit hat. Hier bekommt man die Antwort auf Kants Frage „Was ist der Mensch?“ erst aus der Beantwortung der Frage nach der Geschichte und ihrem Sinn. Deswegen ist die Interpretation der Kultur, als Ergebnis der Tätigkeit des Geistes, letzlich auch die Interpretation des Menschen in seiner wesentlichen Bedeutung des objektiven, realen Geistes. Daher sollte auch die Frage der Revolution nicht im Kontext der sozialen Konstellationen oder irgend einer positiven Astrologie verstanden werden. Wenn man vom Menschen spricht, dann sollte er in seinem tätigen Sinne als realer Geist, der die Allgemeinheit der Geschichte bestimmt, verstanden werden. Der Mensch als reale Subjektivität ist die tätige Instanz, die den wirklichen Gehalt der Geschichte bestimmt und eine reale Möglichkeit der geistigen Kontextualisierung gibt. Deswegen kann die Bestimmung des Menschen keine Subjektivität an sich sein. Sie erweist sich als solche durch die Begründung der eigenen Subjektivität, die immer durch allgemeine Bedeutungen bestimmt wird. Hier werden Zufall und Vereinzelung, die die Negation der abstrakten Bestimmtheit darstellen, überwunden. Sie gehört als solche dem Geist der allgemeinen Identität an, aber sie können ihn nicht repräsentieren oder irgendwie legitimieren. Diese Identität legitmiert sich einzig in der Form des Staates, in dem sich das realgeschichtliches Geschen, aber in letzter Instanz auch Lebensläufe verwirklichen. Der Staat als eine Bestimmung der Wirklichkeit wird damit zur Bestimmung der Freiheit, die sich in der Wirklichkeit realisiert und damit ihren ontologischen Sinn legitimiert. Diese Legitimierung vollzieht sich im Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und Einzelnen, das sich auf eine fundamentale Weise in der Möglichkeit zeigt, dass sich die individuelle Subjektivität nur in der allgemeinen Subjektivität als haltbar erweist. Damit kommt es zur Frage der Identität, die eine formale, logische Frage ist, wie sich das auch bei Kant zeigt, die aber ihren grundlegenden ontologischen Sinn in wirklichen Relationen hat, sowie in dem Bestreben, einen tragfähigen Sinn des Verstehens der Wirkichkeit zu finden. Die wirkliche Grundlage der Weltkonstitution befindet sich gerade hier und ist ohne diese Voraussetzungen nicht möglich. Das wird im übrigen auch Husserl zeigen, ohne allerdings die Welt als eine Kategorie des Denkens genügend zu postulieren, womit er auch ihren wirklichen Charakter zu wenig betont. Die Frage nach dem Menschen ist daher in letzter Instanz auch eine Frage nach der Wirklichkeit, und die Anthropologie erscheint in diesem Kontext als eine Wissenschaft der Realität des Geistes. Andere Kontexte, in denen diese Frage gestellr werden könnte, würden aus dem Rahmen des Hegelschen philosophischen Systems herausführen. Die Metaphysik der Subjektivität ist in diesem Sinne die grundlegende Disziplin des Denkens der Wirklichkeit und kann nicht auf anthropologische Fragen reduziert werden, sondern muss auf die Ebene des Verstehens in seiner spekulativen Begründung gehoben werden.

Eine Begründung der Welt ohne Gott? 

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Die ontologische Frage nach der Bedeutung der Religion muss im Zusammenhang mit der Frage nach der Identität gestellt werden, wobei die Frage der Konstitution von Identität zu einer epistemologischen Frage wird. Aus der Perspektive der Errichtung einer gemeinsamen Identität erscheint Religion im Sinne Hegels dann als „Wahrheit für alle“, wodurch die Frage nach der Religion für das Verständnis der Konstitution der Lebenswelten wichtig wird. Es kommt auf die Grundlagen der realen Beziehungen an, die sich in verschiedenen anthropologischen Bedeutungen niederschlagen. Hegel zeigt in seinen Frühen Schriften, vor allem in dem Entwurf zur Positivität der christlichen Religion, dass Kultur als Dualismus zwischen dem einfachen Volk und den Gebildeten erscheinen kann. Wenn die Kultur in einer elitären Weise erscheint, wenn weder das Volk einen Bezug zur Kunst hat, noch die Kunst zum Volk, befindet sich der Geist im Zustand der Unmündigkeit gegenüber den Verhältnissen der Wirklichkeit, die er selbst produziert. Kultur erscheint hier als ein Symptoms, das in einer gewissen Weise die Realität des Geistes darstellt. Später wird Hegel in seinen Berliner Schriften, vor allem in der Schrift Über den Unterricht in der Philosophie auf Gymnasium, darauf verweisen, dass gerade die Erhobenheit der Kultur über die materiellen Dinge, die den Alltag bestimmen, die jungen Leute dazu veranlasst, besser zu sein und ihr Weltverhätlnis auf Sittlichkeit zu bauen und nicht auf das unmittelbar gegebene Materielle.1 Kultur stellt in diesem Sinne ein lebendiges Gewebe dar, das seine Lebendigkeit dem Geist verdankt. Deswegen kann die Bestimmung des Menschen keine Subjektivität an sich sein. Sie erweist sich als solche durch die Begründung der eigenen Subjektivität, die immer durch allgemeine Bedeutungen bestimmt wird. Hier werden Zufall und Vereinzelung, die die Negation der abstrakten Bestimmtheit darstellen, überwunden. Die Subjektivität gehört als solche dem Geist der allgemeinen Identität, aber sie kann ihn nicht repräsentieren oder irgendwie legitimieren. Diese Identität legitmiert sich einzig in der Form des Staates, in dem sich das realgeschichtliche Geschehen, aber in letzter Instanz auch Lebensläufe verwirklichen. Der Staat als eine Bestimmung der Wirklichkeit wird damit zur Bestimmung der Freiheit, die sich in der Wirklichkeit realisiert und damit ihren ontologischen Sinn legitimiert. Diese Legitimierung vollzieht sich im Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und Einzelnen, das sich auf eine fundamentale Weise in der Möglichkeit zeigt, dass sich die individuelle Subjektivität nur in der allgemeinen Subjektivität als haltbar erweist. Damit kommt es zur Frage der Identität, die eine formale, logi-

1 Siehe: G. W. F. Hegel, „Über den Unterricht in der Philosophie auf Gymnasien“, in: Berliner Schriften. TWA 11, Frankfurt am Main 1970, 33.

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sche Frage ist, wie sich das auch bei Kant zeigt, die aber ihren grundlegenden ontologischen Sinn in wirklichen Relationen hat, sowie in dem Bestreben, einen tragfähigen Sinn des Verstehens der Wirkichkeit zu finden. Die wirkliche Grundlage der Weltkonstitution befindet sich gerade hier und ist ohne diese Voraussetzungen nicht möglich. Das wird im übrigen auch Husserl zeigen, ohne allerdings die Welt als eine Kategorie des Denkens genügend zu postulieren, womit er auch zu wenig ihren wirklichen Charakter betont. Im Rahmen des phänomenologischen Verständnisses der Realität wird die Metaphysik der Subjektivität in die phänomenologische Erkenntnistheorie verwandelt. Das ist der Sinn der Phänomenologie, die, wie Waldenfels sagt, „Philosophie der Erfahrung, oder gar nichts“ ist.2 Waldenfels zeigt in einem breiteren Kontext, dass die „Philosophie der Erfahrung“ eine Form des Verständnisses der Artikulation der menschlichen Tätigkeit und der Entwicklung der Kultur ist. Das anthropologische Verständnis der menschlichen Tätigkeit stützt sich dabei auf erkenntnistheoretische Annahmen. Die Kultur kann sich dann äußern als die Substanz der allgemeinen Identität, die in Wirklichkeit die Objektivation des Geistes darstellt. Kants Kultur der menschlichen Vernunft erhebt Hegel auf die Ebene der Wertreferenzen der Lebensverhältnisse, wo die theoretische Identität sich in der Wirklichkeit realisiert. „Die Erfahrung des Anderen ist gemäß dieser gedoppelten Qualität der Ichheit, die als Einzelheit zugleich Allgemeinheit und Besonderheit ist, irritierend und befreiend zugleich: Das Subjekt erfährt, daß es nicht das einzige Absolute auf der Welt ist; es selbst ist außerhalb seiner geworfen. Gleichzeitig findet es erst in diesem Objekt sich selbst wieder.“3 Hegel zeigt damit, dass sich das Subjektive im Objektiven bestätigt, aber auch, dass nur jene Objektivität, die im Subjektiven bestätigt wird, verifizierbar und wirklich ist. In dieser Hinsicht kann die Religion als „Wahrheit für alle“ als epistemologische Grundlage einer Gesellschaft verstanden werden. Diese Religion ist unlösbar mit der Epistemologie und Anthropologie und den Fragen der Gesellschaft und des Staates als einer Form des menschlichen Lebens verbunden. Die Religion verweist auf die ganze Struktur der wirklichen Identität. Daher sind ihr Verständnis, ihre Interpretation und ihre gesellschaftliche Bedeutung untrennbar mit der Gesamtheit wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Trends und Entwicklungen verknüpft.

2 Bernhard Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt am Main 1980, 13. 3 Vittorio Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Bd. 2, Philosophie der Natur und des Geistes, Hamburg 1987, 372 f.

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Auf der andere Seite zeigt das Recht, wie die Identität von der Sphäre des Privaten bis zur Sphäre des Öffentlichen gebildet wird und eine staatliche Rahmung bekommt. Hegel will gerade mit dem Recht zeigen, dass die Identität nur dann gebildet wird wenn objektive Voraussetzungen für diese Bildung existieren, bzw. wenn eine Macht des Geistes existiert, die in der Lage ist, objektive Verhältnisse zu einer subjektiven Einheit zu bringen. Die Macht dieser Subjektivität wird durch die Existenz des Staates und dessen wirkliche Macht, und zwar nicht bloß als gesellschaftliche oder geographische Entität, sondern als geistige Instanz, bestätigt. Der Staat ist daher keine einfache, selbstgenügsame Struktur, und man sollte sie im gesamten Kontext der Hegelschen Philosophie betrachten, vor allem im Kontext der Geschichtsphilosophie. Alle Elemente der Lebensverhältnisse, die er umfasst, haben ihre Funktion in seiner Konstituierung. Daher sollten verschiedene Segmente der staatlichen Identität bei Hegel nicht vernachlässigt werden, weil sie unterschiedelich bewertet werden. Hier sollte jedoch Hegels Verständnis des Staates als einer Form der Lebensverhältnisse, unter welchen sich die Identität als Kennzeichen des geistigen Lebens konstituiert, betont werden. Vom Gesichtspunkt der Sozialphilosophie aus wäre es berechtigt, auch die Religion zu den epistemologischen Grundlagen eines Staates zu zählen. Die Religion bekäme hier einen ganz bestimmten gesellschaftlichen Charakter, durch den sie vom Standpunkt des Geistes eine allgemeine Wahrnehmung der Wirklichkeit und das Begreifen dieser in einer unmittelbaren Reflexion darstellen würde. Der Charakter und die ideologische Struktur einer staatlichen Einrichtung wären von dieser epistemologischen Voraussetzung mitgeprägt. Hierzu bietet Hegels Geschichtsverständnis eine zusätzliche Begründung, denn die Geschichte wird nicht lesbar an Staaten, sondern an der Struktur der staatlichen Einrichtungen, in denen der Geist der Zeit zum Ausdruck kommt. Der Zustand des Geistes reflektiert sich auch in der Religion, und zwar in einer Weise, die es ermöglicht, an ihr soziale Prozesse abzulesen. Gesellschaftliche Veränderungen, die einen historischen Charakter haben, werden immer von Änderungen in der Religion begleitet. Umgekehrt verweisen Transformationen der Religionen auf kleinere oder größere sozialen und politischen Veränderungen. Die Frage ist, inwieweit solche Transformationen noch immer auftreten? Anders gesagt: gibt es in der heutigen Zeit eine Überwindung traditioneller Religionen? Die Überwindung der traditionellen Religion führt zu einer neuen Sichtweise auf die Wirklichkeit. In letzter Instanz ist dies auch die Grundlage des kulturellen Wandels, auf dem der geschichtliche Wandel beruht. Daher kann die Religion eine epistemologische Rolle in der Identitätsbildung spielen und für Hegel ein entscheidendes Element im Fortschreiten des Freiheitsbewusstsein sein. Die religiöse Erkenntnis wird damit zur Vorbedingung der Möglichkeit für die Erkenntnis

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des Absoluten, und auf der Ebene der staatlichen Identität wird sie zur Grundlage der modernen Identität. Ohne einen Ort für das Subjekt in der Geschichte hat der Staat die Rolle einer vorläufigen Entität, die bestenfalls einer anderen Identität angehören kann. Er gehört zur Geschichte bzw. zur ewigen Bewegung des Geistes nur dann, wenn er selbst geistig ist und einen Grad im Fortschreiten des Freiheitsbewusstseins erreicht hat. In diesem Kontext wird die Konstitution der Identität des Staates als geistiger Ausdruck zur Möglichkeit seines Bestehens in der realen Welt. Die Identität des Staates ist, genau wie die der Religion als epistemologische Grundlage, von der Freiheit bestimmt. Das bedeutet, dass Hegels anthropologische Bemerkungen einer Ontologie angehören, die die Welt nicht als gegeben voraussetzt, sondern als Identität des Seins mit sich selbst fasst: „Das Sein der Welt ist aber nur das Sein der Macht, oder die positive Wirklichkeit und Selbstständigkeit der Welt ist nicht ihre eigene Selbstständigkeit, sondern die Selbstständigkeit der Macht. Die Welt muß daher in Beziehung auf die Macht als ein in sich Gebrochenes vorgestellt werden; die eine Seite ist die Mannigfaltigkeit der Unterschiede, der unendliche Reichtum des Daseins; die andere Seite ist dann die Substantialität der Welt; diese kommt aber nicht der Welt selber zu, sondern ist die Identität des Wesens mit sich selbst.“4 Menschliche Tätigkeit in diesem Sinne erscheint als die eigentliche Aktivität des Geistes, der seine Identität im Staat bekommt. Das grundlegende Potential dieser Identität findet sich in den epistemologischen Voraussetzungen. Diese Bestimmung ist von großer Bedeutung für das Verständnis des Staates als Identität und für die anthropologischen Aspekte der Hegelschen Philosophie. In der staatlichen Identität wird auf diese Weise geistiges und weltliches Leben versöhnt, was die Grundlage für das alte Ideal des besten Lebens bildet, welches in der Form der Freiheitsverwirklichung im Recht gegeben ist. Die Frage einer möglichen Aufhebung der Religion stellt sich im Blick darauf, ob der Geist sich in der Realität selbst vollenden kann. Das Verständnis der Welt, des menschlichen Handelns und der menschlichen Existenz im Zusammenhang mit der Entwicklung der technologischen Welt bringt dabei viele Fragen hervor, die von Hegel nicht gestellt wurden. Solche Fragen werden nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs gestellt, sondern auch in der täglichen Betrachtung der technologischen Trends in der Welt und der Entwicklungen der technischen Zivilisation. Neuere Filme, die sich mit Fragen der technologischen Welt befassen, relativieren die religiöse Vorstellung von Gott und die theologischen Überzeugungen, aus denen sie begründet ist. Das ist von Bedeutung für das Verständnis des sozialen Lebens in Hegels Philosophie.

4 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, TWA 17, 59.

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Die neuen sozialen Tendenzen, die durch die Globalisierung zum Ausdruck gebracht werden, werden mehr und mehr, zumindest in einzelnen theologischen Kreisen, als Marginalisierung der Religion charakterisiert. Zugleich führt die Notwendigkeit religiöser Toleranz in der modernen Welt auf eine interreligiöse Perspektive, welche auch die soziale Toleranz wesentlich beeinflussen kann. Der letzte Besuch des Papstes in Sarajevo zum Beispiel zeigt, wie eine im Wesentlichen religiöse Geste einen breiteren sozialen Kontext beeinflussen kann. Bei diesem Besuch geschah etwas wirklich Ungewöhnliches. Die Ankunft des Papstes war von einigen nicht-katholischen Bürgern sowie islamischen und orthodoxen Bevölkerungskreisen, die politisch und sozial aktiv sind, herzlicher begrüßt worden, als von orthodox-katholisch orientierten Kreisen. Dies ist nur möglich, wenn wir die Grenzen der traditionellen und orthodoxen religiösen Einstellungen überschreiten. Ist das ein Schritt auf dem Weg zur Überwindung des traditionellen Begriffs der Religion? Und hat nicht der Papst genau diesen Schritt unternommen, indem er eine interreligiöse Gesellschaft besuchte? Die Frage ist, ob wir nicht bereits in ein neues Verständnis der Religion eingetreten sind und ob dies auch ein neues Verständnis von Gott bewirkt? Daher stellt sich die Frage, ob das Konzept von Gott anthropologisch erklärt und aus der Existenz des Menschen begründet werden kann. Wenn wir die Auswirkungen des religiösen Fundamentalismus mit berücksichtigen, dann ist dieses Problem noch wichtiger. In der Tat: in der Daseinsweise fundamentalistischer religiöser Gemeinschaften ist der Begriff Gottes relativiert. Sie geben vor, im Namen Gottes zu handeln, geben aber jedes ökumenische und humanistische Verständnis von Religion auf. Alles ist auf die Verteidigung der Religion und des Glaubens gegen den modernen Atheismus reduziert. Können wir in diesem Sinn sagen, dass der religiöse Extremismus unter den heutigen Bedingungen ursprünglich mit dem Atheismus und der Negation Gottes verbunden ist? Wenn man berücksichtigt, dass die wissenschaftliche und technologische Entwicklung das traditionelle Denken Gottes außer Kurs setzt, dann kann man die Verneinung der Existenz Gottes im traditionellen religiösen Sinn nicht übersehen. Daher stellt sich die Frage, wie entbehrlich ist heute der Gottesbegriff? Die Säkularisierung ist in diesem Sinne die Voraussetzung der Modernisierung des religiösen Lebens, bzw. die Bedingung, die die Religion als ein Phänomen der Moderne legitimiert. Jener religiöse Kontext, der die Säkularisierung nicht akzeptiert, gehört nicht zur Moderne und hat keine Grundlage in der Gegenwart. Dieses Verständnis der Religion in der Moderne ist nicht logisch präjudiziert, sondern wird aus der ontologischen Struktur der modernen Welt abgeleitet. Natürlich ist mit dieser Struktur der sozialen Charakter und die phänomenale Objektivität mit gemeint.

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Die Religion legitimiert sich als modern in ihrer Selbstsäkularisierung und wird zu einer wichtigen Bestimmung der sozialen Epistemologie. Keine Art von religiösem Dialog ist ohne Säkularisierung denkbar. Der gegenwärtige Relativismus der grundlegenden Konzepte der Religion entspricht der Realität der Lebenswelten. Die Technologie hat das Bild der Welt verändert und dadurch auch Veränderungen im theologischen Verständnis der Wirklichkeit initiiert. Wieviel Raum in die neuen Gegebenheiten des menschlichen Lebens für Gott geblieben ist, ist eine Frage, die letztlich nur individuell beantwortet werden kann. Hierdurch wird die Religion als Lebenskonzept in dem moralischen Bereich situiert. Mit anderen Worten: Religion erhält eine Bestimmung in Richtung auf Kants Begriff einer Vernunftreligion. Nach Kant entspringt der Gottesbegriff aus dem Bewusstsein des Sittengesetzes „und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen den ganzen, in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effekt verschaffen kann. Der Begriff eines nach bloßen rein moralischen Gesetzen bestimmten göttlichen Willens läßt uns, wie nur einen Gott, also auch eine Religion denken, die rein moralisch ist“.5 Die Begründung des Gottesbegriffs wird damit durch transzendente Voraussetzungen des Denkens bestimmt und nicht durch irgendein seiendes Wesen. Hier handelt es sich um eine Potentialität und nicht um eine fertige Gedankenschöpfung. Es ist daher verständlich, dass eine Religion, die auf einem reinen Religionsglauben beruhen würde, ihre Grundlage nicht im Gehorsam, sondern in der Freiheit finden würde, was ihre Offenheit und Verschiedenheit auch in Bezug auf Ausgangsfragen des Glaubens voraussetzen würde. Aufgrund dieser Offenheit kann man verstehen, dass es nur eine (wahre) Religion geben kann, aber dafür mehrere Glaubensarten. Die Ablehnung einer solchen Identität steht in Verbindung mit der Ablehnung des Todes Gottes, da dieser für diese Kulturen als das Ende der Identität erlebt werden würde. Grundlage dieser Auffassung ist die identitätsstiftende Funktion der Religion. Es besteht die Gefahr, dass Identotät und Sinn an Surrogate gebunden werden: „Was wir Moralismus nennen, bedeutet ein Moral ohne Distanz zu sich selbst. Sie zerstört das Leben, das sie zu achten vorgibt.“6 Jede Identität, die nicht im Einklang mit diesen Surrogaten bzw. mit der Freiheitsverwirklichung im Zeichen des Kapitals ist, wird auf der globalen Ebene als nicht annehmbar erfahren. Die Idee einer Identität in der Totalität wird hier als entscheidend und als jeder anderen Möglichkeit und jedem anderen alternativen und autonomen Konzept überlegen dargestellt.

5 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin 1968, 95. 6 Bernhard Waldenfels, Verfremdung der Moderne, Göttingen 2001, 151.

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In der technologischen Welt zeigt sich deutlich, dass der Mensch ohne Gott leben kann. Darüber hinaus zeigt sich im Hinblick auf die Geschichte, dass in früheren Zeiten oft auch ein Leben ohne Gott gelebt wurde. Hegels Anthropologie und Philosophie des Geistes zeigt ein mögliches Leben mit dem Geist, ohne Gott. Fraglich bleibt nur die Aussicht auf ein solches Leben.

Dimitris Karydas

Von Kronos zu Zeus: Zur Ermächtigung der Zeit durch den Geist Hegel riet aus naheliegenden Gründen ausdrücklich davon ab, philosophische Gedanken bildlich darzustellen, obwohl er sich selbst, zum Glück möchte man sagen, nicht wenige Ausnahmen erlaubt hat. Eine der berühmtesten und wohl gelungensten Ausnahmen ist das Bild der mythischen Gottheit Kronos, der seine Kinder gebiert und verschlingt. Hegel hat diese Figur mehrmals herangezogen, um der Bestimmung der Zeit Prägnanz zu verleihen. Sie steht seit der Jenaer Zeit immer am Anfang von Hegels naturphilosophischen Erörterungen, die die Begriffe von Raum und Zeit betreffen, als „der Alles gebährende und seine Geburten zerstörende Chronos“ (GW 20, § 258 A, 248). Die durch die changierende Rechtschreibung pointierte Identifizierung des Gottes Kronos mit der Zeit suggeriert aber einen systematischen Sachverhalt, der über die bloße Verbildlichung eines Begriffs hinausweist, über dessen Stellenwert und Funktion in Hegels System die Interpretation kaum Konsens erzielen könnte. Er wird im naturphilosophischen Teil des zweiten Jenaer Systementwurfs angedeutet, um in den späteren religionsphilosophischen Vorlesungen eine Scharnierstelle einzunehmen und entwickelt zu werden. Im Manuskript von 1804/05 liest man: „Die Zeit ist deßwegen die absolute, nur blinde Macht der Natur, sie ist darum einer der ältern Götter, dem was der Natur angehört nichts widerstehen kann, aber der wo der Geist sich realisirt, selbst in die Gräntzen der Nacht zurückverwiesen wird“ (GW 7, 204–205). Die spätere religionsphilosophische Einbettung der Brechung von Kronos‘ blinder Macht ist aufschlussreich für Hegels Konzeption der Zeit. Denn in der Religion wird dem Selbstverständnis des menschlichen Geistes mittels Vorstellungen ein Ausdruck verliehen, den die Philosophie begrifflich aufschließt. Zum Wesen der griechischen Religion erhoben, wird der Krieg der geistigen Gottheiten mit den Naturgöttern nicht als Märchen gedeutet, sondern als das wesentliche Bewusstsein der Griechen vom geistigen Prinzip. Es wird zugleich ein Selbstverhältnis des Geistes darin kundgetan, dass „die Götter, Zeus an der Spitze durch einen Krieg, […] daß das geistige Prinzip, Titanen vom Thron gestürzt hat; die bloße Naturmacht ist vom Geistigen überwältigt worden“ (V 4a, 537, Vorl. 1827). Damit wird die Brechung der Herrschaft der Zeit durch den Geist angesprochen, wofür eine weitere mythische Figur herhält, in welcher sich zugleich die fundamentale Einsicht des Hegelschen Denkens in die geschichtliche Verfasstheit des Geistes dartut. „[I]n den Tempel der Mnemosyne“ wird das Vergangene „zu einem Ganzen componirt […] aufgestellt, und ihm so unsterbliche Dauer

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verschaft“ (GW 18, 123). Die rettende Funktion der Mnemosyne in diesem Berliner Manuskript zur Philosophie der Weltgeschichte kann aber abgerufen werden, gerade weil sie für das Wissen des menschlichen Geistes, dass er sich geschichtlich herausgebildet hat, steht. In der Mnemosyne sieht Hegel den wesentlichen Zusammenhang zwischen der geschichtlichen Entfaltung des Geistes und der Freiheit hineingebildet, da in ihr der Geist um sich als Ergebnis seiner Entfaltung weiß. „[I]n der freien, schönen Geschichtlichkeit, den Mnemosyne (daß was [die Griechen] sind, auch als Mnemosyne bei ihnen ist), liegt auch der Keim der denkenden Freiheit und so der Charakter, daß bei ihnen die Philosophie entstanden ist“ (GW  18, 175). Die religionsphilosophische Deutung enthält das philosophische Programm der Selbsterfassung des Geistes als Verständigung des Menschen über sich. Und sie kann nur erzielt werden, wenn der menschliche Geist ermittelt, wie er wurde, was er ist. Demnach sollte die Geschichtlichkeit des Geistes die Geschichte seiner Selbsterfassung, in der seine Freiheit besteht, auf der Grundlage seiner umfassenden Entfaltung in der Zeit verzeichnen. Um Geschichtlichkeit als Prinzip des Geistes darzulegen, muss der damit verbundene Anspruch erörtert werden, dass der Geist die Weltgeschichte einheitlich strukturiert, die die Partialgeschichten seiner absoluten Gestalten, Kunst, Religion, Philosophie und die Geschichte seiner objektiven kulturellen, politischen und rechtlichen Ausprägungen umgreift. Hier wird ein anderer Weg eingeschlagen, um die angedeutete Bewältigung der Zeit durch den Geist nachzuvollziehen, die im geistigen Prinzip und der damit zusammenhängenden geschichtlichen Struktur impliziert ist. Den Leitfaden ergibt die Ablösung von Kronos durch Zeus: Kronos ist das Gesetzte, schon Erzeugte, das sich setzt, indem er auch Zeus und die anderen Götter zeugt. Als Selbstwiderspruch hebt er an sich unmittelbar seine Unmittelbarkeit auf. Die Titanen werden vom Geist in die Schranke gewiesen, aber derart, dass sie „ihre Ehre und ihre Rechte behalten“ (V 4a, 537). Damit kommt die spezifische Einheit des Natürlichen mit dem Geistigen zum Ausdruck, in der jenes zwar diesem unterworfen ist, aber es doch noch bestimmt. Zeus‘ Sieg erweist sich jedoch als prekär, da das geistige Prinzip bei ihm noch mit Natürlichkeit behaftet ist. Deshalb wird er von Herakles abgelöst, der „die menschliche Geistigkeit […] diese freie, reine abstrakte Subjektivität, ohne Naturbestimmung“ (V 4a, 368, Vorl. 1824) verkörpert. Die Absetzung von Kronos durch Zeus ist Thema der Philosophie des subjektiven Geistes, dem sich die vorliegenden Ausführungen widmen. Der Sieg Zeus‘ wird erst damit komplett, dass das Prinzip des Geistes, wenn auch in der noch defizienten, subjektiven Gestalt, sich zur Geltung gebracht hat. Der in der Philosophie des subjektiven Geistes dargestellte Prozess signalisiert zugleich den Eintritt des Geistes in die Geschichte, denn Geschichtlichkeit ist dem Geist inhärent,

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während die Natürlichkeit des Kronos nach Hegel keine geschichtliche Struktur aufweisen könnte. Es wird noch zu sehen sein, dass Zeus‘ Ablösung durch Herakles die Reflexion von der Vergänglichkeit der objektiven geschichtlichen Gestalt ist, die sich als vom Zeus gegründet verstand. Die Eigentümlichkeit der Figur Kronos‘, der erzeugt wird und sich mächtig erweist, um aber als ohnmächtiger an der eigenen Widersprüchlichkeit unterzugehen, lässt sich ohne Bezugnahme auf die Entäußerung der Idee in die Natur und die Bestimmungen der Zeit als Form dieser Äußerlichkeit nicht nachvollziehen. Nach einer kurzen Skizze der logischen Verhältnisse hinter der Zeugung Kronos‘ wird ihnen im ersten Abschnitt nachgegangen, bevor im zweiten der Sieg Zeus‘ an der Entwicklung der Formen des subjektiven Geistes, Seele, Anschauung, Vorstellung, und deren Momenten dargelegt wird. Abschließend folgt eine Reflexion über das Verhältnis des Geistes zur Zeit in der geschichtlichen Welt, um die Ermächtigung der Zeit in die geschichtlich vermittelte Perspektive, die dem Geist einzig mögliche ist, zu setzen.

1 Das der Natur nach Erste: Zeugung und Herrschaft von Kronos Mit dem freien Entschluss der Idee, sich in die Natur zu entlassen, tritt sie in raum-zeitliche Verhältnisse ein. Die Zeugung von Kronos ist das Ergebnis dieser Entäußerung. Der Schritt ist zwar in den logischen Verhältnissen der Idee angelegt, fällt aber nicht als logischer Übergang aus. Die vollständig vermittelten Verhältnisse der Idee enthalten in ihrer Selbstbezüglichkeit, frei von allem Gegensatz, die reine Form aller Denkgehalte, die als vernünftig gelten können. Um dem Systemanspruch zu genügen, das Ganze in der „sich selbst bestimmende[n]“ und eben deshalb freien „Thätigkeit“ des Begriffs (GW12, 166) zu fassen, d. h. mittels der reinen Selbstbestimmungen des Denkens, die Idee, die als absolute Methode das Ganze gedanklich erhält, es aber nicht real ist, setzt sich „als absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität“ (GW 12, 253). Damit sollte der vermittelnde Schritt begreiflich werden, mit dem sich die Idee praktisch und nicht mehr logisch in einer freilich erörterungsbedürftigen, aber hier nicht weiter zu interessierenden Negation, zur ihrer weiteren freien Entfaltung bringt: „Die Natur hat sich als die Idee in der Form des Andersseins ergeben. Da die Idee so als das Negative ihrer selbst oder sich äußerlich ist, so ist die Natur nicht äußerlich nur relativ gegen diese Idee […], sondern die Äußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist“ (GW 20, § 247, 237). Damit der Begriff, der das Reich der Freiheit als das Reich des reinen Gedankens aufschießt, in dem sich die Idee frei entfal-

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tet, sich eine Realität geben kann, um vollständig zu werden (GW 12, 20), muss die Idee sich in der Realität ihrer Daseinsweisen, Natur und Geist veräußern. So bestimmt sich zunächst die Idee als einfaches Sein, in dem sich der Begriff nach dem Durchlaufen der Formen von Natur und Geist wiederfindet. In der Bestimmung der Äußerlichkeit erlangt die Idee eine „Form ihrer Bestimmtheit“, die „die Äußerlichkeit des Raums und der Zeit“ und nicht mehr die des reinen Begriffs ist (GW 12, 253). Dadurch wird die Idee zum Gegenstand einer anderen Wissenschaft als der logischen, die dennoch die Naturformen nur mittels der in der Wissenschaft der Logik entwickelten logischen Formen begreifen kann, da jene nur eine besondere Weise dieser darstellen. (vgl. TWA  8, 22Z2, 84–85) Die Natur nimmt eine ideal-reale Gestalt als Daseinsweise der Idee an, weil sie negativ die Form des Andersseins zur Idee erhält und zugleich positiv Idee ist. Dieses Verhältnis der Äußerlichkeit als Einheit von Identität und Differenz von Idee und Natur ist allerdings asymmetrisch. Denn die Idee ist sich in der Natur äußerlich, aufgrund der keine fremde Äußerlichkeit zulassenden „systematische[n] Totalität“ (GW 20, § 243, 231) der Idee, ist die Natur als Äußerlichkeit der Idee sich selbst äußerlich. So bestimmt sich die Idee als äußerlich, jedoch nur in der Form des Andersseins, die sich dem Inhalt entgegensteht. Deshalb kann die Natur als Äußerlichkeit nur nach äußeren Beziehungen bestimmt werden. Diese Grundbestimmung der Natur impliziert, dass sie ein Gefüge von Verhältnissen des raumzeitlichen Auseinander und der Vereinzelung gegenüber der Innerlichkeit des Begriffs ist (ebd., § 248). Es ist das einfache Sein, zu welchem sich die entäußerte Idee bestimmt, das deshalb zum Gegenstand einer anderen Wissenschaft wird, welches „als bloße Objektivität und äußerliches Leben“ sich dem Bewusstsein stellt. Es ist der Geist, zu welchem sich diese Objektivität fortbestimmt und dadurch Gegenstand einer weiteren Wissenschaft wird, der zu sich zurückkehrt, indem er seine Herkunft aus der Natur abarbeitet. Hegel hebt hervor, es wäre ein Missverständnis, dass „der Anfang, von dem in der natürlichen Entwicklung oder in der Geschichte des sich bildenden Individuums […], das Wahre und im Begriffe Erste sei“. Dieses „der Natur nach“ Erste sind wohl „Anschauung oder Seyn“, die „die Bedingung für den Begriff“ stellen (GW 12, 21 f.). Der Akt der Selbstbefreiung der Idee, vollzogen durch ihre Entäußerung in Raum und Zeit, wird als „Schöpfung“ bezeichnet. (GW 12, 25) Gewiss kommen Anschauung und Sein aus der Idee, sofern sie die erste Form ihrer Entäußerung darstellen, dennoch sind sie nicht Schöpfung eines göttlichen Subjekts, dem alle Wirklichkeit emaniert. Die Interpretation der Entäußerung der Idee als göttlicher Schöpfung wäre auch kaum mit der Kreisförmigkeit des Systems vereinbar. Gott als Gestalt des Geistes fasst sich im Wissen des Menschen, welches Gott „in seinem ewigen Wissen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes“ (GW 11, 21; GW 21, 34) darstellt. Es wird durch die logischen Verhältnisse

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der absoluten Idee strukturiert, in deren innerer Spannung der Zug zur Entäußerung der Idee angelegt ist. Diese sind nicht in irgendeiner vorgefertigten Konstruktion der Vernunft enthalten, sondern kommen durch die Selbstreflexion des Begriffs zustande, als welche sie sich darstellen. Sie ergibt sich nach dem Vollzug des Durchgangs durch Naturphilosophie und Philosophie des Geistes als die „in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit“. (GW 20, § 574, 569) Deshalb kann die theologische Vorstellung der Schöpfung als creatio ex nihilo nicht der Entäußerung der Idee als der resultativ erfolgten begrifflichen Erfassung des Göttlichen adäquat sein. Denn diese Entäußerung muss als die vom Geist gesetzte Natur begriffen werden, damit der Geist anschließend sich selbst erkennt und wieder zu sich kommt, um das in der Idee enthaltene Resultat in seinen realen Vermittlungen nachvollziehbar zu machen und zu bewähren. Die Entäußerung als Schöpfung kann auch nicht religiösen Vorstellungen entsprechen, da sie auf die logische Idee bezogen, obgleich sie auch religionsphilosophisch konnotiert ist. Sie kommt aus der der Natur logisch vorausliegenden Wirklichkeit und Vernünftigkeit oder dem absoluten Begriff, der die Natur begründet. Anschauung oder Sein sind als Natürlichkeit zwar „Bedingung für den Begriff, aber sie sind darum nicht das an und für sich Unbedingte, im Begriff hebt sich vielmehr ihre Realität und damit der Schein auf, den sie als das bedingende Reelle hatten“ (ebd.). Die Natur wäre demnach als raumzeitlich vorhandene reelle Bedingung anzusehen und ohne den Geist da, es könnte aber von ihr nur dann überhaupt sinnvoll die Rede sein, wenn der Geist sie in seinen endlichen und unendlichen Gestalten fasst. Damit wird ein begrifflicher Begründungszusammenhang angesprochen und nicht die Erzeugung eines schlechthinnigen Reellen,1 gerade weil es in der Betrachtung durch den Geist zugänglich wird und überhaupt erfasst werden kann. Der Geist, die andere Daseinsweise der Idee, hat die Natur zu seiner unmittelbar gegebenen Voraussetzung,2 entwickelt sich aber als die zu seiner „Wahrheit gelangte Idee“ und somit auch zur Wahrheit der Natur. Er hebt die Entäußerung der Idee in der Natur auf, um „sich identisch mit sich“ in der Idee zu werden (GW 20, § 381, 382). Man muss sich in der vorliegenden Absicht mit diesem formelhaften Ausdruck der Bewegung des Hegelschen Denkens begnügen, der dennoch zweierlei systematisch legitimierbar machen sollte:

1  Walter Jaeschke u. Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, München 2012, 626. 2  Vgl. Andreas Arndt, „Die Subjektivität des Begriffs“, in: Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss, hg. v. A. Arndt, C. Iber u. G. Kruck, Berlin 2006, 12 ff.

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(1) In Bezug auf den Geist ist die Natur „ebensowohl Sache des Geistes als Ungeistiges, dem Geist aufgegeben, aber nicht fremd [ist], sondern in diesem anderen besitzt er sich selbst“. (V 16, 5 f.). Dies bedeutet die Ordnung der Natur durch den Geist nach vernünftiger Strukturen, die aber insofern ein Begreifen darstellt, als die Strukturen empirisch gesättigt werden. Die Natur stellt sich demnach in ihrer empirischen Mannigfaltigkeit objektiv dem Bewusstsein gegenüber, aber als immer schon durch den Geist in ihrer Äußerlichkeit zu ihm strukturiert. (2) Es sollte der Vorwurf abgewehrt werden, dass das Hegelsche System so konstruiert wird, dass in seiner teleologischen kreisförmigen Bewegung immer nur das herauskommt, was die absolute Methode als alle Möglichkeit und Wirklichkeit umfassende Struktur der Vernünftigkeit hineingelegt hat. Denn die Rückkehr des Geistes zu sich erfolgt über seine Explikation in der Weltgeschichte bis zu seiner Erhebung zur konkreten Allgemeinheit in der Idee. Voraussetzung dafür ist das Herauskommen des Geistes aus der Natürlichkeit, das die Erfassung und vernünftiger Organisation ihrer Momente impliziert. Der Geist arbeitet sich an der Äußerlichkeit der Natur ab, indem er sie begrifflich aufschließt und in die Innerlichkeit des Begriffs transformiert, soweit jene diese angeht.3 Dass der Geist die Äußerlichkeit der Natur abstreift, kommt der begrifflichen Fassung ihrer Vorgänge gleich, die dennoch der in der Natur waltenden Zufälligkeit ihr Recht widerfahren lässt. Dies wäre nicht als Einschränkung des Anspruchs der Vernunft, natürliche Phänomene zu erfassen, zu verstehen; im Gegenteil kommt darin, die „Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten“ zum Ausdruck, wenn sie zufällig sind und deshalb „außereinander und […] gleichgültig gegeneinander“ bleiben (GW  20, §  250, 240). Der mächtige Kronos wird durch diese Ohnmacht gekennzeichnet, deshalb muss er Zeus weichen. Die Naturmächte, unter welchen Kronos die höchste ist, sind die aus der abstrakten Notwendigkeit gesetzten besonderen Momente, die sich selbst setzen. Dieser Prozess wird in der Naturphilosophie erfasst, deren Gliederung aber nicht unerhebliche Wandlungen erfährt, während sich auch die interne Zuordnung einzelner Abschnitte sowie die Ausarbeitung einzelner Formen verändert. Davon besonders betroffen sind Raum und Zeit, die in der Jenaer Zeit untereinander anders zugeordnet4 sowie in den in unterschiedlicher Perspektive zugeschnitte-

3  Myriam Gerhard, Hegel und die logische Frage, Berlin 2015, 20 f., 156 f. 4  Zur Entwicklung von Hegels Konzept von Raum und Zeit in der Jenaer Zeit siehe den Aufriss von Violetta L. Waibel, „Raum und Zeit in Hegels Jenaer Systementwürfen“, in: Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeption Hegels, hg. v. H. Kimmerle, Berlin 2004, 99–116, Stefan Majetschak, Die Logik des Absoluten, Berlin 1992, 268–275, sowie die Erörterung zu den Vorlesungs-

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nen ersten Abschnitt der Naturphilosophie (als System der Sonne, Mathematik oder Mechanik)5 eingebettet werden. Trotz einer stellenweise anders nuancierter Darlegung der Bestimmungen von Raum und Zeit bleibt die Konzeption in der Berliner Zeit in den Fassungen der Enzyklopädie6 und den Vorlesungen über Naturphilosophie im Wesentlichen unverändert. Raum und Zeit sind das abstrakteste, naturhafte Außereinander, das die erste Form der Idee in der Entäußerung darstellt. Aus der Negativität dieses Außereinanderseins entwickelt sich die Dialektik, die Naturgebilde als Einheiten bestimmen und als höhere, komplexere Einheiten fort bestimmen lässt. Ihre Bestimmung erhalten sie dadurch, dass sie auf sich selbst und auf Anderes bezogen sind. Die „Mechanik“ setzt mit Raum und Zeit an, die am Unterschied zwischen Auseinandersein und Kontinuierlichsein bestimmt werden. In der anfänglichen Bestimmung der Enzyklopädie von 1830 enthält der Raum als die abstrakte Allgemeinheit des Außersichseins seinen Unterschied in sich (ebd., §  254). Denn der Raum als das „vollkommene Außersich“ setzt uns alles in ihm „unmittelbar identisch“ (GW 24.1, 14, Vorl. 19/20). Hegel erklärt die Selbstunterscheidung des Raumes in die drei Dimensionen Höhe, Länge, Breite, dadurch, dass sie den Momenten des Begriffs Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit entsprechen. Nur weil „der Prozess des Identischen in seiner Erscheinung als Raum paralysirt“ ist, kommen die Momente des Begriffs als „abstrakte Verschiedenheit, Dimension“ (ebd., 16, Variante Bernhardy) vor. Weil die räumlichen Dimensionen zu einander gleichgültig sind, kann der Raum freilich nicht der in sich zurückkehrenden Selbstunterscheidung des Begriffs entsprechen. Als anschauliches Koordinatensystem bleiben Höhe, Länge und Breite weiter bestimmungslos, denn als Bestimmtheit kann nur die Dimensionierung des Raumes in Punkt, Linie und Fläche aus seiner Widersprüchlichkeit entwickelt werden. Diese Momente stehen in einem negativen, nicht mehr gleichgültigen Verhältnis zu einander, bleiben dennoch nur Möglichkeiten der Unterscheidung des Raumes und sind noch „nicht das Gesetztseyn des Außersichseyns und Negativen“ (GW  20, § 254, 244). Die Negativität des Raumes, aus welcher der Punkt bestimmt wird, bezieht sich auch auf sich, so dass der Punkt als Negation des Raumes auch „und vielmehr die und zwar in ihm gesetzte Negation des Raums“ ist (ebd.). An dieser

nachschriften darin 250 f. und Wilfried Grießer, Geist zu seiner Zeit. Mit Hegel die Zeit denken, Würzburg 2005, 2, 3–303. 5  Vgl. Wolfgang Bonsiepen, „Hegels Raum-Zeit Lehre“, in: Hegel-Studien 20 (1985), 9–38, hier 12 ff. 6  Siehe dazu den Überblick von Toru Kashima, Die konkrete Gegenwart, Das Problem der Zeit in der Philosophie Hegels mit besonderer Berücksichtigung der ‚Phänomenologie des Geistes‘, Diss. Univ. Tübingen 1991, 55 f.

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Bestimmtheit des Punktes findet nun der Umschlag zur Zeit statt. Seine Seite des Fürsichseins ist das bestimmte Andere des Raumes, in dem die Negativität für sich gesetzt ist: Die Negativität, die sich als Punkt auf den Raum bezieht […] ist aber in der Sphäre des Außersichseins eben sowohl für sich und ihre Bestimmungen darin aber zugleich als in der Sphäre des Außersichseins setzend […]. So für sich gesetzt ist sie die Zeit (ebd., § 257, 247).

Die reine Negativität des Raumes kann sich nur in der Negation der Ausdehnung und der Kontinuität realisieren. Indem der Raum sich selbst auseinandersetzt und in anderes übergeht, erhält die Zeit ihre Grundbestimmung als die für sich gesetzte Negativität. Sie ist “die negative Einheit des Außersichseins“, in der die Unterschiede restlos aufgehoben werden (ebd., § 258, 247).7 Mit der Fortbestimmung der gesetzten Negativität wird zum Einen das Verhältnis von Zeit und Begriff angelegt und zum Anderen ihr eine elementare Struktur verliehen. Als „negative Einheit des Außersichseins“ hat die Zeit die einfache Form der negativen Einheit des Begriffs, die nicht in sich ist, sondern noch in der „gänzlichen Äußerlichkeit und Abstraktion“ (ebd., § 258, Anmerkung, 247) ist. Insofern ist die Zeit „dasselbe Princip, als das Ich=Ich des reinen Selbstbewußtseyns“ (ebd.). Diese Einheit unterschiedener Bestimmungen ist eine insichseiende, weil sie „ideell, als aufgehoben gesetzt sind“ und nicht, wie die des Raumes, gleichgültig untereinander bleiben (GW 24.1, 236, Vorl. 21/22, Variante Anonymus). In der dadurch zustande kommenden Struktur ist jedoch der Zusammenhang ein äußerlicher, weil die Bestimmungen „zugleich als äußerlich sich ausschließende“ gesetzt sind, sofern sie in der Sphäre des Außersichseins liegen, die die Natur ist. Die Zeit stellt sich als progredierende Einheit her, indem sich ihre Momente einander dadurch ablösen, dass sie gesetzt und negiert werden, ohne in irgendeiner Beziehung zu einander zu stehen. Aus den sich selbst äußerlichen Unterschieden besteht die Aufeinanderfolge der Zeit: „Sie ist das Sein, das, in dem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist: das angeschaute Werden“ (GW 20, § 258, 247). Angeschaut wird die Zeit, insofern sich ihre Momente unmittelbar vereinzeln, ohne Bezug zu einander darstellen und Werden ist sie als Einheit von Sein und Nichts. So ist sie „reine Form der Sinnlichkeit […], das unsinnliche Sinnliche“, als solche reine ideelle Form

7  Raum und Zeit sind beide die Einheit ihrer selbst und des jeweils anderen. Der Geist erkennt in der Betrachtung des Raumes seinen Umschlag in die Zeit, insofern er sich in der elementaren Struktur der Zeit wieder erkennt bzw. in dieser Struktur die Voraussetzung seiner Entwicklung bis zu seiner Selbsterfassung reflektiert. Über Identität und Auseinanderfallen von Raum und Zeit siehe Thomas Kalenberg, Die Befreiung der Natur. Natur und Selbstbewusstsein in der Philosophie Hegels, Hamburg 1997, 120–122.

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geht sie „der Unterschied der Objektivität und eines gegen dieselbe subjektive Bewußtseyns nichts an“ (ebd., § 258A, 247). Damit wird zum Einen die Idealität der Zeit als Form mit Kant affirmiert und zum Anderen die objektive Selbständigkeit der Natur gegenüber dem Subjekt hervorgehoben. Wenn man bedenkt, dass Zeit und Raum „Abstraktionen der Aeußerlichkeit gesetzt und vorgestellt, als ob sie für sich wären“ sind (ebd., 248), erhält Hegels Konzeption eine deutlichere Kontur. Hegel setzt sich damit nicht nur von Kant ab, sondern erteilt auch jeglicher dualer Auffassung der Zeit als transzendentaler Idealität und/oder empirischer Realität der Zeit eine Absage. Denn die Abstraktion, von der die Rede war, ist ein „seyendes Abtrahieren“, das durch Kronos verbildlicht wird. Die als ein Außen gesetzte Natur hat Zeit als die Form ihrer Äußerlichkeit, deren Bestimmungen aber auch real sind. Ihre Realität wird im Durchgang durch die Naturphilosophie und durch die Philosophien des endlichen Geistes eingeholt, bis sie sich als Bestimmungen der Realität des Geistes erweisen. Aufgrund dessen kann Hegel in der Anmerkung zum § 258 der Enzyklopädie feststellen: „[d]as Reele ist wohl von der Zeit verschieden aber ebenso wesentlich identisch mit ihr“ (ebd.). Wenn die Zeit demnach die Abstraktion einer Bestimmtheit darstellt, die sich selbst äußerlich und real ist, umspannt sie Idealität und Realität als die vom Geist erkannte eigene Äußerlichkeit. Deshalb ist die Idealität der Zeit als Form der Anschauung nicht die transzendentale Kants.8 Die Bestimmung der Zeit, wie des Raumes, als Form der Anschauung wird beibehalten, aber nicht auf das Gemüt bezogen als Form der Sinnlichkeit des Subjekts. Zudem wird mit der Bestimmung der Zeit als negativer Einheit des Außersichseins, die reine Anschauung der eigenen Widersprüchlichkeit ist, das lineare Bild der Zeit als Abfolge bzw. als Beziehung des Aufeinanderfolgens aufgehoben. Das Jetzt ist ein daseiender Widerspruch, da das Sein selbst ist, das, indem es ist, sich aufhebt. Beim Umschlag von Sein ins Nichts handelt es sich nicht um die Abwechslung von Momenten, die „aufeinander folgten“ (GW 24.2, 794, Vorl. 1828), sondern die Abfolge entsteht in der Anschauung der vereinzelten Momente. Die Bewegung der Negativität fordert die Aufhebung der äußerlich sich ausschließenden Momente, weil sie als einander ablösende eine bloße Aufein-

8  I. Kant, KrV A 23 f., B 38 f. Zur Einbettung der Zeit als reiner Form der Anschauung a priori in die Architektonik der reinen Vernunft siehe Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit, StuttgartBad Cannstatt 2002, 35–88. Die Auseinandersetzung von Hegels Zeittheorie mit der Kants, deren Facettenreichtum hier nicht Rechnung getragen werden kann, führt zum Kern von Hegels Kritik an der Transzendentalphilosophie: Brigitte Falkenburg, Die Form der Materie. Zur Metaphysik der Natur bei Kant und Hegel, Frankfurt/Main 1987, 208 f., 222–230, Andreas Luckner, Genealogie der Zeit, Berlin 1994, 146–150, Detlef Söffler, Auf dem Weg zu Kants Theorie der Zeit, Frankfurt/ Main 1994, 32 ff.

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anderfolge von Jetztpunkten darstellen und keinen Bestand haben.9 Um das zu leisten, müssen diese undifferenzierten negativen Momente als unterscheidbare zusammenkommen. Sie, die „Seiende[n], die ebensogut nicht Nichtseiende[n] sind“ (ebd., 795), werden in die „Dimensionen der Zeit, die Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit“ organisiert.10 Die Gegenwart ist „Werden der Äußerlichkeit als solches“, während es sich „in die Unterschiede des Seyns als des Uebergehens in Nichts, und des Nichts als des Übergehens in Seyn“ resp. Vergangenheit und Zukunft auflöst (GW 20, § 259, 249). In der damit wiederhergestellten Kontinuität der Zeitmomente fallen sie wieder „in die Indifferenz“ oder den Raum zusammen. Durch die Dimensionierung der Zeit geht jedoch ihre Wahrheit verloren, denn sie besteht nur „im Ineinssein, welches das Jetzt ist“ (GW 24.1, 19, Vorl. 1819/20). Auf die Unwahrheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft macht ihrerseits der unterschiedlich wiederholte Hinweis der enzyklopädischen Ausführungen aufmerksam, dass es zu ihnen in der Natur nicht kommt. Sie haben in ihr kein Bestehen, denn die Aufhebung, durch welche ihnen Bestand zugesprochen wird,

9 Heideggers Kritik in Sein und Zeit (Tübingen 1979, 42) verkennt schon den Ansatz Hegels, wenn er ihm vorwirft, er setze metaphysisch ein Zusammenfallen von Natur und Geist voraus. Seine Interpretation des Hegelschen Zeitbegriffs liegt aber insgesamt im Kern seiner Haltung gegenüber Hegels Philosophie überhaupt. Die ideologisch gefärbte Apostrophierung des Zeitverständnisses Hegels als parates Beispiel der an Aristoteles angelehnten vulgären Zeit rührt vom fundamentalontologisch angelegten Konzept von Zeit als dem Wesen des Seins das in deren Horizont auszulegen sei. Der Vorwurf, der weite Verbreitung gefunden hat, dass Hegel im Grunde die Zeitdimensionen nivelliert, indem er die Zeit als ein lineares Bild von auf einander folgenden Punkten versteht (ebd. 432 ff.), zeigt schon, dass Heideggers Deutung auf die Problematik der Negativität zurückzuführen ist. Denn, wenn die Negativität, die für sich gesetzt die Zeit ist, außer Acht gelassen wird, bleibt es beim gleichgültigen Bestehen der räumlichen Punkte, im dem die Negativität sistiert wird. Erst aus ihrer Selbstsetzung ergibt sich das Jetzt als zeitlicher Punkt. Der Vorwurf Heideggers, dass Hegel die Zeit verräumlicht und nivelliert hat, lässt sich in diesem Lichte auf die Zurückweisung der Negativität zurückführen. Eine solche Kritik an Hegels Zeitbegriff lässt sich in kaum ein inneres Verhältnis zu ihm setzen (vgl. A. Sell, Martin Heideggers Gang durch Hegels „Phänomenologiue des Geistes“, Bonn 1998); sie ist nur in der Perspektive von Heideggers eigener Auffassung von Zeitlichkeit angemessen nachvollziehbar. Hier sei nur auf die Haltung Heideggers gegenüber der Negativität und insbesondere der Negativität der Zeit hingewiesen, weil der Nerv von seinem Verständnis der Zeitkonzeption Hegels daran erkennen und auch dessen Grundproblem benennen lässt. Vgl. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik, in: GA 9, 120 ff. Heidegger interpretiert, dass „Hegels „Negativität gerade nicht aus dem Nichts und dessen Selbigkeit mit dem „Sein“ zu begreifen“ wäre, „weil hier kein „Unterschied“ vorläge (des. Die Negativität, GA 68, 14; ähnlich 47 und öfter). Siehe u. a. den Überblick der Schriften Heideggers zur Negativität im Vergleich zur Negativitätsbegriff Hegels von Christoph Bouton, „Die Helle Nacht des Nichts. Zeit und Negativität bei Hegel und Heidegger“, in: Hegel-Studien 45, Hamburg 2010, 103–124. 10  Vgl. Stefan Majetschak, Die Logik des Absoluten, a. a. O. (Anm. 4), 267–269.

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ist eine Leistung unserer Vorstellung: „[S]ie sind nothwendig nur in der subjectiven Vorstellung, in der Erinnerung und in der Furcht oder Hoffnung“. Damit wird die als Mangel der Zeit in der Natur, „wo die Zeit Jetzt ist“ (GW 20, § 259 A, 249) herausgestellte bestandlose Aufeinanderfolge von Jetztpunkten dem Geist überantwortet. Die vorangestellten Überlegungen zur Natur als Äußerlichkeitsform der Idee sollen auch diesbezüglich keinen Platz dafür lassen, dass dieser Mangel eines minderen Seins, das dem Verzehren durch die Zeit ausgesetzt wäre, gegenüber einem unvordenklichen, oder einer pleromatischen Funktion des Geistes implizieren würde, der diesen Mangel der Zeit auffüllt. Die knappen Formulierungen der Enzyklopädie von 1830 präzisieren doch, dass das Seiende „nicht in der Zeit entsteht und vergeht […] sondern die Zeit selbst diß Werden Entstehen und Vergehen“ ist, sofern es angeschaut wird, möchte man erinnern. Indem die Gegenwart als die negative Einheit bestimmt wird, die im Gegensatz zur Vergangenheit und Zukunft einen, wenn auch flüchtigen, elementaren, Bestand hat, wird die basale zeitliche Struktur des Geistes in der Form seiner Andersheit kenntlich. Insofern sie die Naturseite des Geistes ist, gilt ihm deren Zeitstruktur zu verinnerlichen, wenn er seine Naturseite abstreift. Die Zeit als Form der Äußerlichkeit ist die Zeit der Natur, deren Bestimmung in Bezug auf Anschauung und Vorstellung ihre Inhärenz im Geist deutlich macht; davon handelt die „Psychologie“, der letzte Abschnitt der Philosophie des subjektiven Geistes. Als Inbegriff der Veränderung ist die Zeit ununterbrochener, unaufhaltsamer Übergang, dessen Struktur die des stetigen Umschlags von Sein in Nichts ist.11 Freilich ist die Dauer vom Bestehen in der Zeit zu unterscheiden. Wenn dieses sich auf das Aufbewahren des Vergangenen bezieht, kommt jene dadurch zustande, dass der Prozess der Aufhebung der Unterschiede ausgesetzt wird, indem gerade die Unterschiede von Vergangenheit und Zukunft als „das nicht daseiende Jetzt“ (GW 18, 17) gesetzt sind. In der Dauer wird demnach die Vergangenheit nicht vom Jetzt abgelöst und es vergeht nicht mehr unmittelbar in die Zukunft, sondern beide, Vergangenheit und Zukunft, erhalten eine bestimmte Stelle im Bezugssystem, das als Dauer durch ihre jeweilige Zuordnung strukturiert wird. Eine endlose

11 Unter den affinen Bestimmtheiten der Wissenschaft der Logik, auf welche die Erläuterung der naturphilosophischen Bestimmungen der Zeit rekurrieren mag der Umschlag von Sein in Nichts die nahe liegende sein, die wichtigste ist aber wohl die der Grenze, denn an dessen Begriff wird die Kontinuität von Raum und Zeit im Auseinandersein resp. Ausschließen ersichtlich. Ein Zeitpunkt (der in Raumpunkt umschlägt) ist die Grenze, denn „[e]twas ist also als unmittelbares Dasein die Grenze gegen anderes Etwas, aber es hat sie an ihm selbst und ist Etwas durch die Vermittlung derselben, die ebensosehr sein Nichtseyn ist. Sie ist die Vermittlung, wodurch Etwas und Anderes sowohl ist, als nicht ist.“ (GW 21, 114) Durch den Begriff der Grenze wird der Verlauf der Zeit nach Vor und Nach dimensioniert, da „[d]ie Dimension […] die Gräntze“ ist. (GW 8, 9).

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Dauer oder eine sich endlos ausstreckende Zeit wäre schlecht unendlich, eine „unendliche, nach schlechter Unendlichkeit vorgestellte Zeit“ (GW 11, 145; GW 17, 232). Dass die Unendlichkeit in der Zeit als eine im Grunde verständige Vorstellung abgelehnt wird, hängt einerseits mit der Aufhebung der Linearität der Zeit zusammen und führt andererseits in den Kern der Hegelschen Zeittheorie hinein. Denn von der, wie immer, vorgestellten unendlichen Zeit ist die Ewigkeit scharf zu unterscheiden. Sie kann nicht vor oder nach der Zeit kommen, denn dadurch wäre sie verendlicht und zum Moment der Zeit gemacht. Deshalb kann sie nicht als grenzenlose Dauer oder unendliche Verlängerung der Zeit gedacht werden, während sie auch nicht von der Zeit gänzlich abgekoppelt werden darf als Negation von Zeitlichkeit überhaupt. Ewigkeit kann nur im Zusammenhang mit dem Begriff gedacht werden, in dem die Struktur des Geistes, die seine Entäußerung in der Zeit und die Rückkehr zu sich umspannt, gefasst wird. „Der Begriff der Ewigkeit muß aber nicht negativ so gefaßt werden, als die Abstraktion von der Zeit, daß sie außerhalb derselben gleichsam existiere“ (GW 20, § 258, 248). Als wahre Unendlichkeit ist die Zeit nur in ihrem Begriff ewig, deren abstrakte naturphilosophische Bestimmungen durch den Geist mittels des Begriffs einzuholen ist. Endlichkeit bedeutete Bestimmtheit und insofern in der Zeit zu sein bedeutet, endlichen Bestimmungen unterworfen zu sein. Endlich zu sein bedeutet zeitlich zu sein und nicht umgekehrt, während nur der Begriff unendlich ist. So ist die Gestalt der Zeit die Grundbestimmung des Begriffs, der sich zwar auch unterscheidet, sich aber nicht darin verliert. In seinen Unterschieden schließt sich der Begriff „in seiner frei für sich existierenden Identität mit sich“ zusammen. Deshalb ist er „als absolute Negativität und Freiheit“ nicht der Zeit untertan, wie jedes Endliche, noch ist er zeitlich, sondern er „ist vielmehr die Macht der Zeit, als welche nur diese Negativität als Äußerlichkeit ist“12 (ebd., § 258A, 248). Der im

12  Die Parallelität der Bestimmungen wird oft zum Anlass genommen, eine zeitliche Struktur in die Wissenschaft der Logik hineinzulesen. Dass die realphilosophische Entwicklung nur in Bezug auf logische Bestimmungen nachvollzogen werden kann, gerechtfertigt aber nicht, ihnen anhand etwa der Dialektik von Sein und Werden Zeitlichkeit zu unterstellen. Die Bestimmungen der Zeit in der „Mechanik“werden zwar der Seinslogik entnommen; dies bedeutet aber nicht, sie in ontologischer Entsprechung realphilosophisch zu interpretieren. Die Negativität des Begriffs ist die Macht der Negativität des Endlichen, die sich „zu derselben als zu seiner Macht“ verhält. (GW 20, § 258 A, 248) Dessen begrifflicher Auflösung entspricht jedoch nicht der Vergänglichkeit in der Zeit, da diese von der Einseitigkeit des Endlichen gekennzeichnet ist, das fortrückt, ohne mit sich schließen zu können. Seine Aufhebung kann nicht als zeitlicher Vorgang vollzogen werden, sondern nur im begrifflichen Denken, das als rein selbstbezügliche Struktur die Zeit tilgt. Siehe auch den letzten Abschnitt des vorliegenden Beitrags; vgl. aber dagegen mit vielen Anderen: Max Winter, Hegels formale Geschichtsphilosophie, Tübingen 2015, 123–132. Wenn ferner ausgewiesen werden sollte, dass Geschichte die begriffene Zeit sei (ebd., 140–147, 149–154), fragt

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Begriff implizierte Zusammenschluss der Unterschiede ergibt die Ewigkeit, „das ist der Begriff im Ewigen und in der Zeit […], der Geist ist frei“ (GW 24. 2, 1000, Vorl. 1828).13 Nur der Geist ist das wahrhaft Ewige und er stellt in seiner Tätigkeit, die Natur abzustreifen, sich zu setzen und zu sich zurückzukehren den Begriff der Zeit. Damit wird aber die prozessuale Entwicklung des Begriffs angezeigt, die zwar ein Prozess in der Zeit ist, während weder der Begriff zeitlich noch die Zeit prozessual ist. Der Geist ist dieser Prozess selbst, der von seinem Prinzip geleitet wird, und „ist ewig – wird nicht in der Zukunft ewig seyn, sondern ist jetzt ewig“ (ebd.). Wenn Hegel in den naturphilosophischen Vorlesungen, sowie in den entsprechenden Partien der Enzyklopädien um eine präzise Fassung der Ewigkeit gerungen hat,14 dürfte es darauf zurückzuführen sein, dass die entsprechenden Bestimmungen in der Naturphilosophie noch abstrakt bleiben und erst im Lichte der entwickelten Begrifflichkeit in den Philosophien des Geistes ihre volle Konkretion erreichen. Die Bestimmung der Gegenwart, des Jetzt, die jedenfalls mit der Ewigkeit unauflöslich verklammert ist und von welcher Hegels Verständnis

es sich aus dem genannten Grund, weshalb der Prozess der Entfaltung des Geistes, seine Geschichtlichkeit als Freiheit, in der Logik des Wesens verortet und ihr eine wesenslogische Struktur als Voraussetzung nachgewiesen werden sollte, obwohl Geschichte nur als begriffene, nach dem Programm der Phänomenologie des Geistes, zu ihrem Recht kommt. 13 Die für diesen Zusammenhang lehrreichen Formulierungen des in der TWA  aufgenommenen, der Freundesvereins-Ausgabe entstammenden Zusatzes vom § 258 der Enzyklopädie, dürfen bis ins Wortlaut aus Mitschriften der Vorlesungen über Naturphilosophie von 1823/24 und 1828 entnommen sein. 14 In der ersten Fassung der Enzyklopädie 1817 wird die Ewigkeit als „ruhige Identität“ (GW 13, § 202 A) bestimmt; die Bestimmung widerspricht jedoch der Konzeption der Ewigkeit der Idee, insofern die Einheit des Begriffs, die die Ewigkeit ausmacht, nicht eine in sich ruhende, sondern eine negative, ist, in der die vermittelte Prozessualität der Zeitdimensionen erfasst wird. Es wäre darauf zurückzuführen, dass die Ewigkeit in den Fassungen von 1827 und 1830 von der schlechten Unendlichkeit abgegrenzt aber nicht weiter erörtert wird. Siehe Toru Kashima, Das Problem der Zeit in der Philosophie Hegels mit besonderer Berücksichtigung der „Phänomenologie des Geistes“, a. a. O. (Anm. 6), 121–122 und ferner Günter Wohlfahrt, „Über Zeit und Ewigkeit in der Philosophie Hegels“, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 13 (1980), 141–165, hier 142–144. Ewigkeit kommt nur der Idee und dem Geist zu und ist, genau so wenig wie sie, zeitlichen Verhältnissen intern. Geschichtlichkeit als Prinzip des Geistes kann auch nur ewig sein; deshalb verwendet Hegel, abgesehen von den Andeutungen in den zitierten Stellen der Vorlesungsnachschriften, den Begriff der Ewigkeit v. a. in Bezug auf die logischen Verhältnisse des Absoluten im religionsphilosophischen Zusammenhang mit der Geschichte des christlichen Gottes, die ja den Inhalt dieser Verhältnisse vorstellig abbildet und insofern ewig ist, ohne zeitlich zu sein. Wenn ferner sich das Unendliche in der Wissenschaft der Logik durch die Selbstvermittlung des Endlichen ergibt, wäre wieder anzumerken, dass die Zeit diese Selbstvermittlung zu leisten nicht vermag; sie ist nur einer schlechten (vorstelligen oder verständigen) Unendlichkeit fähig.

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der Zeit ohne Zweifel zu entwickeln wäre, da nur an ihr das nicht mehr und das noch nicht, das Vergangene und das Kommende in Beziehung kommen können, gibt weiteren Aufschluss über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit. Die endliche Gegenwart, in der „das Jetzt als seiend fixiert ist“ (GW 20, § 259, 249), muss sich selbst weichen und wird wieder Jetzt, sofern aber in diesem sich der Geist als der gesamte Prozess fasst, ist die Gegenwart ewig: „[D]ie Ewigkeit ist schlechthin die ewige Gegenwart – das allgemeine Itzt –“ (GW 24.2, 1000). Im naturphilosophischen Kontext wären sie als Vorgriffe auf die Aufhebung der Zeit im Begriff, die unterschiedlich variiert werden, um die Unselbstständigkeit der Zeit selbst auf die Leistung des Geistes zurückzuführen und gegenüber der metaphysischen Tradition Anschauung und Sein, die der Natur nach Ersten, sind als Bedingungen für den Begriff zu klären: Das Ewige ist gegenwärtig, […], der Geist der Idee ist an und für sich, ist, ist nicht vergangen und wird nicht sein. [ ] Die konkrete Gegenwart ist das Resultat der Vergangenheit und sie ist schwanger mit der Zukunft, das Itzt ist also diese sinnliche Gegenwart (GW  24.1, 542, Vorl. 1823/24).

In der ewigen Gegenwart fallen die Dimensionen in negativer Einheit zusammen, in der das Vergangene und das Zukünftige in der immerwährenden Präsenz des Jetzt gegenwärtig sind. Eine solche Einheit, die die Einheit des Begriffs und deshalb in den selbstbezüglichen Verhältnissen des absoluten Geistes zu verorten wäre, würde eine Vermittlungsstruktur voraussetzen, mittels welcher das Werden erfasst werden kann. Der Zusatz in der zitierten Stelle zur konkreten Gegenwart wäre als ein Hinweis darauf zu deuten, dass im bestimmten Jetzt dem Geist die notwendige Organisation der Momente der Zeit als die eigene Tat ersichtlich wird. Als Vergangenheit, die erkannt, und als Zukunft, die als objektive Möglichkeit bestimmt wird, „das Concrete worin beide zusammenkommen ist das Itzt.“ (GW 24.2, 1001) Die Bezüge auf Anschauung und Vorstellung, Erinnerung, Furcht und Hoffnung, deren anstehende Bestimmung die Naturphilosophie auf die Erörterung der Formen des subjektiven Geistes verweist, lassen keinen Zweifel daran, dass der Macht der Zeit, als welcher der Begriff herausgestellt wird, sich nur im Geiste zu stellen ist. Die Ablösung des Kronos durch Zeus erweist sich deshalb als Thema der Philosophie des subjektiven Geistes, weil die Aufhebung der Zeit im Subjekt in ihr eingeholt wird, oder anders gesagt, weil die Formen in ihr entwickelt werden, durch welche es sich als sich wissende Subjektivität im Endlichen konstituiert, indem es die Bestimmungen der Äußerlichkeit als die eigenen erkennt, sie verinnerlicht und als geistige formiert. Es geht freilich um eine Aufhebung, die dem Geist nur mehr als objektiven ermöglicht, sich zeitlich, aber im Bewusstsein der

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eigenen Zeitlichkeit, weiter zu entfalten, bis er sich in den Gestalten des Absoluten vollendet. Nach dem Übergang des schlechthinnigen Außereinanderseins des Raums in die Zeit weist diese ihre Affinität mit dem Begriff auf. Aufgrund dieser Affinität kann sich der Geist, angefangen mit der Zeit, in der Natur erkennen. Die Wiedererkennung hat in der basalen Struktur der Subjektivität statt: „Die Zeit ist die reine Subjektivität angeschaut, ich bin mir Gegenstand und bin im Gegenstand aufgehoben, so bin ich bei mir selbst“ (GW  24.1, 19, Vorl. 1819/20). Das Selbstbewusstsein ist nach der negativen Selbstbezogenheit der Zeit modelliert, insofern Selbstaufhebung und Selbstsetzung auch in ihm zusammenfallen. Denn das Bewusstsein konstituiert sich als Selbstbewusstsein an seinem Gegenstand, dessen objektive Bestimmungen es als die seinigen erkennt. Dem Ich wird dadurch die Beständigkeit gewährleistet, das als Ich durchhält, wie sich das Jetzt als Jetzt erhält, indem es sich ständig negiert und neu setzt. Das Selbstbewusstsein ringt sich der Zeit ab,15 es erhält seine Selbigkeit gerade im Fluss der negativen Selbstbeziehung, in der sich aufhebt und setzt. Die elementare Struktur der Subjektivität, die auch die Form des Selbstbewusstseins ergibt, ist jedoch nicht Geist. Der muss sich erst etablieren, indem er sich bei der Ablegung seiner Naturseite als solchen tätig erkennt. Wenn die Zeit nur mit Bezug auf Anschauung und Vorstellung gedacht werden kann, ist das Verhältnis von Geist und Zeit bzw. der Begriff der Zeit nur in der gegenseitigen Erhellung der Zeitlehre in der Naturphilosophie und in der Philosophie des subjektiven Geistes zu gewinnen. Der Verweis auf die Verspannung der Dimensionen der Zeit dadurch untereinander, dass sie mit zeitlich indizierten Formen des subjektiven Geistes besetzt werden, deutet aber auf eine

15  Wenn Hegel das Prinzip des Selbstbewusstseins mit dem der Zeit, das auch den Begriff anspricht, gleichsetzt, deutet er schon einen Ausweg aus der Kantschen Aporie des inneren Sinnes an. Vor dem Hintergrund der Erörterungen der Zeit in der transzendentalen Ästhetik werden deren Bestimmungen in der transzendentalen Deduktion und dem Schematismus mit Blick auf den Begründungszusammenhang der Zeit als Form des inneren Sinnes untersucht. Es liegt aber eine Zirkularität in der darin implizierten Selbstaffektion des Subjekts vor, wenn das Subjekt, um sich überhaupt konstituieren zu können, sich schon als vorausgesetzt annehmen muss. Denn ein Gegenstand wird nach dem Programm der Transzendentalphilosophie erst im Bezug der Kategorien des Verstandes auf die Sinnlichkeit erzeugt, im Fall der Zeit aber als Form des inneren Sinnes oder des Ich muss der Gegenstand gleichsam schon vorausgesetzt bzw. es muss diese Form als Produkt einer subjektiven Synthesis angesehen werden. Vgl. Andreas Luckner, Genealogie der Zeit, a. a. O. (Anm. 8), 79 ff. Ein Überblick der Modelle von Selbstbewusstsein, v. a. Kants und Fichtes, im Zusammenhang mit der Form der Zeit, von welchen Hegel durch die Grundlegung der Philosophie des Geistes loslöst, gibt Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit, a. a. O. (Anm. 8), 89–140.

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weitere Vermittlung hin. Denn Erinnerung, Furcht und Hoffnung bringen zwar subjektive Bildungen zum Ausdruck, welche aber zwangsläufig nur aus konkreten geschichtlichen Verhältnissen bezogen werden können, die bestimmten Bildungen des objektiven Geistes entsprechen. Dies würde die Geltung des geistigen Prinzips voraussetzen, das sich in der Naturphilosophie nur ankündigt. Deren Gang kann auch als Entwicklung von der mechanistischen zur lebendigen Zeitlichkeit hin angesehen werden. Die Zeit schlägt sich an dem ihr innewohnenden Widerspruch der Negativität in den Raum zurück. Als der gesetzte Widerspruch ergibt sich der Ort, in dem der räumliche Punkt als Zeit und der zeitliche Punkt, das Jetzt, gesetzt sind. Vom weiteren Umschlag des Ortes als dem gesetzten Widerspruch seinerseits bestimmt sich die Bewegung als Veränderung der Örtlichkeit. Aus der sich stetig zusammenfallenden widersprüchlichen Einheit von Raum und Zeit bestimmt sich weiter die Materie.16 Der Gang der Entwicklung führt vom Ideellen, der sich in sich bestimmt, zum Reellen, der sich fortbestimmt und kehrt auf höherer Stufe zum Ideellen zurück. Bis zum Übergang in den Geist wird die Zeit weiter begrifflich bestimmt, ja dieser Übergang selbst wird nur möglich aufgrund der elementaren, noch nicht selbstbewussten Ermächtigung der Zeit in der Natur, die im tierischen Organismus vollzogen wird. Hier können die für die Zeitbestimmung Aufschluss gebenden Stufen der Naturphilosophie skizziert werden, die zur Schwelle der Freiheit, d. h. des Geistes, führen, womit auch die zunehmende Beziehung der Naturgestalten auf sich, wenn auch im Zustand des natürlichen Auseinander, impliziert ist. Deshalb ist es berechtigt, wenn die naturphilosophische Betrachtung nicht nur als Befreiung des Geistes von seiner Natürlichkeit, sondern auch als Befreiung der Natur angesehen wird, die zu ihrem Recht als selbstbestimmtes Gebilde ohne Zutat des Geistes kommt. Die „Mechanik“ stellt das abstrakte Auseinandersein in der Form von Raum und Zeit, Materie und Bewegung und absolute Mechanik dar. In der darauf folgenden „Physik“ wird diese Abstraktion reflektiert, um zur Bestimmung konkreter Seiende in der Natur zu kommen. Die Materie wird in der „Mechanik“ noch durch die Schwere als die zunächst äußere Kraft vermittelt, die sie zusammenhält und ihr Einheit verleiht. Diese ist eine abstrakte, noch nicht an der Materie gesetzte. Die Bewegung stellt die vermittelte Einheit von Raum und Zeit dar, während die Materie zunächst die unvermittelte ist, welcher Raum und Zeit noch nur Formen sind. (GW  20, §  271, 275) Den Übergang zur „Physik“, in der die Individualität der Gestalten, Systeme und Prozesse der Natur als Besonderung der Allgemeinheit bestimmt wird, bietet der Aufweis der Individualität der Materie, die an der

16  Vgl. Thomas Kalenberg, Die Befreiung der Natur, a. a. O. (Anm. 7), 126 ff.

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Wechselwirkung der Körper im Sonnensystem gewonnen wird. Wenn die Planeten sich in ihm auf einander beziehen, beziehen sie sich auch auf sich selbst, da sie sich untereinander nicht unterscheiden. Aus der Beziehung auf Anderes, die sich auch als Selbstbeziehung erweist, erfolgt die Individualisierung der physikalischen Körper, zunächst nur als Form der allgemeinen Individualität. Das Außereinander ist von der Materie „als ein schlechthin von ihr bestimmtes gesetzt, und die Materie ist nichts außerhalb dieses ihres Außereinaderseyns.“ (ebd.) Dass die Materie sich als „materialisierte Form“ manifestiert und nicht von außen gesetzt wird, bedeutet ihre Befreiung von der Betrachtung von außen, insofern sie sich „an ihr selbst bestimmt.“ (ebd., § 272, 276) In ihrer Manifestation zeigen sich die physikalischen Systeme und Gestalten als konkrete Seiende und erhalten ihre besondere Bestimmungen. Gerade ihre Individualisierung offenbart der Betrachtung, dass die Form ihnen nicht von außen zukommt, sondern sie sich als ihre eigene Selbstbestimmung ergibt. Die Individualisierung entfaltet sich an der wesenslogischen Bestimmung weiter, nach welcher das Seiende in seiner Erscheinung sich sein Wesen als „das vergangene, aber zeitlos vergangene Sein“ (GW 11, 241) manifestieren lässt. Die individualisierte Materie wird demnach zur Totalität der eigenen Gewesenheit bestimmt, die das Ding ausmacht. Mit dieser logischen Bestimmung des individuellen physikalischen Körpers wird besonders deutlich, dass die am Anfang der Naturphilosophie realphilosophisch bestimmte Zeit nicht nur Form ist, sondern an den Dingen mit gesetzt; sie ist, wie der Raum, in den Dingen als ein Moment deren Selbstbestimmung. Raum und Zeit werden an den Dingen reflektiert, während ihre Bestimmtheit von ihnen mit gegeben ist. Es ist gerade eine Konsequenz der Selbstbestimmung der Materie, dass die Zeit als Form der Äußerlichkeit freilich immer noch im Rahmen des natürlichen Auseinander verinnerlicht wird. Die Materie gewinnt dadurch selbst ihre Form, sie formiert sich selbst, indem sie Raum, Zeit und Bewegung zusammenschließt. Die Zeit selbst erlangt dadurch Materialität, wenn im weiteren Verlauf der Individualisierung, in der „Physik der besonderen Individualität“, wenn sich die Struktur der Subjektivität zum Verhältnis materieller Teile zu einander konkretisiert.17 Die Kohäsion gewährleistet die Beständigkeit der Materie im Raum, die sie als dingliche Wesenseinheit ausweist. Damit wird der Raum am Ding gesetzt und erlangt

17 In der Behandlung der Kohäsion spricht Hegel die Zenonische Antinomie an, da die raumzeitliche Bestimmung materieller Teile den Rekurs auf die nur vorstellige Betrachtung von Raum- und Zeitpunkten als voneinander isoliert, während die Auflösung der Antinomie darin besteht, „daß Raum und Zeit in sich continuirlich ist, und der sich bewegende Körper in demselben Orte zugleich ist und nicht […] ist.“ (ebd., 298, 296) Vgl. auch den Quantitätsabschnitt der Seinslogik. (GW 21, 186 ff.)

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„materielle Räumlichkeit“, die die eigene, konkrete Räumlichkeit des Dinges ist. Sie geht auch dem Übergang des Raums in die Zeit entsprechend in „materielle Zeitlichkeit“ über, wenn sich die kohärente Räumlichkeit eines Körpers seiner äußeren Deformation widersetzt bzw. nach ihr wiederherstellt. „Damit daß diese Form so im Erzittern, d. i. durch die momentane ebenso Negation der Theile wie Negation dieser ihrer Negation, […] am materiellen als dessen Idealität ist, ist die einfache Form für sich existierend.“ (ebd., § 300, 297) Auf der Stufe der organischen Natur kommt die Idee zur Existenz „zunächst zur unmittelbaren, zum Leben.“ (ebd., §  337, 344) Im Gegensatz zu den früher abgehandelten Formen wird in der Organik das natürliche Dasein zur Allgemeinheit erhoben. Organisch ist nicht mehr das Individuum, sondern die Gattung, die das Organische umgreift und seine Einheit herstellt. Die Gattung bleibt mit sich identisch, aber nur als die unmittelbare Einheit von Begriff und Individuum. Die Einheit der Gattung fällt in die Individuen, die sich noch nicht als Gattung wissen, auseinander. (ebd., § 376–368) Dabei wird aber die Zeit als objektiv gesetzt, die als „unvergängliches Feuer, das Feuer des Lebens“ apostrophiert wird. (TWA 8, § 336 Z, 336) Als Leben terminieren die Formen des Natürlichen in der höchsten Form des Organismus, dem Tier. Das Tier hat zufällige Selbstbewegung, weil seine Subjektivität, wie das Licht die der Schwere entrissene Idealität, eine freie Zeit ist, die, als der reellen Äußerlichkeit entnommen, sich nach innerem Zufall aus sich selbst zum Orte bestimmt. Damit verbunden ist, daß das Tier Stimme hat, indem seine Subjektivität als wirkliche Idealität (Seele) die Herrschaft über die abstrakte Idealität von Zeit und Raum ist und seine Selbstbewegung als ein freies Erzittern in sich selbst darstellt (GW 20, § 351, 352–353).

Alle Momente, die in der Naturphilosophie auseinanderliegen, versammeln sich im Tier darin, dass es über Selbstbewegung, d. h. Selbstbestimmung von Raum und Zeit und Stimme18 verfügt. Da es dies aber nur „nach innerem Zufall“ tut, tritt in ihm zwar Subjektivität hervor, die sich aber nicht als solche, nämlich als Selbstverhältnis des Bewusstseins, wissen kann. Es bleibt dem Geist vorbehalten, die Formbestimmtheit der Subjektivität zu entwickeln, in dem er allmählich die Natürlichkeit abstreift. Gerade an dieser Schnittstelle zwischen Natur und Geist, ist das Verhältnis zu verorten, zu dem die vorhin auseinander gelegte Zeitlichkeit der Natur zu geistigen Prozessen tritt, die sich im Bereich des end-

18  In der Verlautbarung der tierischen Stimme kommt in der Möglichkeit ihrer Ausbreitung über Raum und Zeit die noch nicht bewusste Verfügung darüber voll zur Geltung. Vgl. Josef Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart 1966, 55 ff. und auch GW 8, 170 betreffend die Stimme des Tieres beim gewaltsamen Tod, in der die Natur ihre Endlichkeit abklingen lässt.

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lichen bzw. subjektiven Geistes vollziehen. Das als „freie Zeit“ bestimmte Tier deutet schon die Konkretisierung der Zeit als eines der Geistigkeit wesentlichen Moments an, in der die Wahrheit der Natur angelegt ist. Die Seele, mit welcher die Philosophie des subjektiven Geistes anfängt, ist in ihrer Natürlichkeit der Allgemeinheit nicht angemessen, da sie sich nicht fassen kann und in sich bleibt. Am Tier zeigt sich diese als die „abstrakte Macht“ (ebd., § 375, 374), unter welcher es seine Bestimmung als freie Zeit hat. Er verfügt über diese Zeit nur als eine leerlaufende, über ein Leben, das „zur proceßlosen Gewohnheit geworden ist“. (ebd.) Obwohl die Zeit im § 375 der Enzyklopädie nicht unmittelbar thematisch ist, wäre dessen Schlussfolgerung auf die Prozesslosigkeit der Zeit der tierischen Individualität zurückzuführen. Denn die Bestimmung des Tieres, die die in der Natur mögliche Wahrheit darstellt, führt zur notwendigen Selbstaufhebung, „so daß es sich so aus sich selbst tödtet“ (ebd., 375). Die freie Zeit in Naturform wäre dann die Umschlagstelle, an welcher ersichtlich wird, weshalb Kronos, diese blinde Macht der Natur, zu seiner Selbstaufhebung kommt. Diese als gewaltsamer Akt (der zugleich einen Akt der Freiheit darstellt), in der aus den religionsphilosophischen Vorlesungen eingangs zitierten Stelle bezeichnete Figur, wäre als der logische Übergriff des Geistes zu deuten, den er sich vornimmt, wenn er in der Gestalt der griechischen Religion zu sich gekommen ist und seine Werdung fasst. Der Prozess der Ablösung des Kronos ist nicht geschichtlich, da die Natur keine Geschichte hat. Er stellt die Vorgeschichte des Geistes dar, die er aber als die eigene nur im Modus der Äußerlichkeit fassen kann. Die damit in Anspruch genommene Darstellung der Natur zielt auch auf deren objektive Erkenntnis ab, die aber nur in der übergreifenden Perspektive der Einheit der praktischen und theoretischen Handlung des Geistes zustande kommt. Wie er sich konstituiert, indem er sich über diese Handlung verständigt und sich darin erkennt, wird in der Philosophie des subjektiven Geistes entwickelt, die die Etablierung von Zeus, der geistigen Macht, begrifflich aufschließt.

2 Der Sieg Zeus’ In der Geistphilosophie schafft der Geist selbst die Übergänge, während er sich formiert, bis er sich dadurch am Ende des Gangs der Philosophie des subjektiven Geistes durch Anthropologie, Phänomenologie des Geistes und Psychologie als solcher weiß. Dies ist die realphilosophische Entwicklung, von der sich anreichernden Struktur der Subjektivität, die der Geist der Natur abgewonnen hat, indem er sich als Natur, das Andere seiner selbst, setzt: „ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbstständige Natur ist“ (GW 20, § 384,

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382). Die Selbstständigkeit der Natur ist der vom Geist gesetzte Schein, damit er durch dessen Aufhebung Wirklichkeit erlangt. Dafür muss er sich manifestieren: „Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die Manifestation. […] Seine Möglichkeit ist daher unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit“ (ebd., § 383, 382). Die Explikation des subjektiven Geistes prozessiert weiter als setzende Reflexion bis es seine Naturseite als die seinige erkennt.19 Mit der Verinnerlichung ihrer Äußerlichkeit weiß sich der Geist als formal freier Geist und kann sich nur mehr geschichtlich fassen, indem er die vom ihm hervorgebrachte Objektivierung an kulturellen, politischen und sozialen Formen als seine Tat weiß: Dafür muss er seine Selbstbezüglichkeit herstellen, „daß das, was sein Begriff ist, für ihn wird, und ihm sein seyn diß ist, bei sich, d. i. frey zu seyn, – subjectiver Geist“ (ebd., § 385, 383). Er ist die erste der „verschiedenen Stufen dieser Thätigkeit auf welchen als dem Scheine zu verweilen und welche zu durchlaufen die Bestimmung des endlichen Geistes ist“ (ebd., § 386, 384). In der „Anthropologie“ als den ersten Abschnitt der Philosophie des subjektiven Geistes wird die Grundlage der Betrachtung des Menschen als solchen, der noch ganz in der unmittelbaren Naturbedingtheit versenkt ist, in seiner Differenz zum Tier erarbeitet. Es geht um das Erwachen der noch als Naturgeist sich im „Schlaff des Geistes“ befindenden Seele (ebd., § 389, 388), die aber als „einfache Allgemeinheit“ Voraussetzung des Erwachens ist, damit sich der Geist als solcher bestimmt. Den Übergang zu dieser basalen Form von Geistigkeit stellt die Seele des Tieres her, in der das durch das praktische und theoretische Verhältnis20 zur Natur vermittelte Selbstgefühl angesiedelt ist. Das sich durch das Selbstgefühl auszeichnet. Wenn es durch die Beziehung auf Anderes vermittelt wird, so bleibt es auch als freie Zeit bestimmt. Die darin zum Ausdruck kommende Subjektivität ist nur für sich „ganz abstrakt, der reine Prozeß der Zeit, der im konkreten Körper, als die sich realisierende Zeit“ (TWA 9, § 351 Z). In der dreistufigen Entwicklung der Seele von der natürlichen über die fühlende bis zur wirklichen Seele ändert sich ihr Zeitbezug im Vergleich zu dem der Tiere kaum. Seelische Zustände sind der Selbstrealisierung der Zeit völlig ausgeliefert, soweit sie nicht selbstbestimmt sind. Hegel geht ausdrücklich auf die Zeitformen ein, die das Leben der Seele prägen und ihr natürliche Formbestimmtheit verleihen. Die in der „unmittelbaren Naturbestimmtheit“ (GW 20, § 390, 390) befangene Seele wird von den drei

19  Vgl. zur ausführlichen Darstellung des Prozesses Jens Rometsch, Hegels Theorie des erkennenden Subjekts. Systematische Untersuchungen zur enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes, Würzburg 2007, 78 f. 20 Wenn Tiere sich und äußere Gegenstände in ihrer Vereinzelung auseinander halten, liegt eine theoretische Selbstbeziehung vor. (ebd., § 357, 357)

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natürlichen, ineinander eingebetteten Lebenszyklen, die in ihr den Widerschein des Naturverlaufs darstellen, gekennzeichnet.21 Entscheidend an dieser Stelle ist, dass die Bestimmungen, die die natürliche Seele als „natürliche Qualitäten“ (ebd., §  391, 390) an sich hat, bloß „das Mitleben mit der Natur“ (ebd., §  392, 391) bedingen. Er streicht hervor, dass die natürlichen Qualitäten in der Seele unmittelbar eingebettet sind. Hegel führt die drei Zyklen im Anklang mit den Vorstellungen seiner Zeit an: 1. „das allgemeine planetarische Leben“ mit den dazugehörigen kreisförmigen Ablauf von Tages- und Jahreszeiten (ebd.); 2. „der natürliche Verlauf der Lebensalter“ vom Kind zum Jüngling und Mann bis zum Greis (ebd., §  396, 393); 3. „[d]er Unterschied von Schlaf und Wachen“ (ebd., §  398, 394). Diesen Formen, in welchen die Zeit selbst die Unterschiede hervorbringt, betreffen jedes „physikalisch Individuelle“, sind ihm aber untergeordnet: „das Individuelle überhaupt macht sich selber seinen Raum und seine Zeit“ (TWA 10, §  392 Z). Freilich spielt die Einbildung der natürlichen Zeitabläufe eine erhebliche Rolle bei menschlichen seelischen, sowie körperlichen Zuständen. Darauf zurückzuführende psychische Einstellungen, Effekte und dergleichen werden auch von Hegel in den genannten Paragraphen kürzer oder länger kommentiert. Dazu finden sich etwa im langen Zusatz zum § 396 Bemerkungen, die spezifisch geistige Konsequenzen im Zusammenhang mit den Lebensaltern in Bezug auf die unterschiedliche Haltung zur Welt betreffen, die sich aus dem Lebensalter des Menschen ergeben. Solche Effekte auf den seelischen Zustand sind jedoch nicht von der Seele reflektiert, sie macht sie nur mit; nur der Geist aus dem Standpunkt seiner höheren Entwicklungsstufen kann sie feststellen und verarbeiten. Die Empfindung ist der Ort, an dem sich das ausgestaltete Fürsichsein als Selbstgefühl zuerst formt. In dieser „Form des dumpfen Webens des Geistes“ (ebd., § 400A, 396) fängt er an zu sich zu kommen, insoweit sich die „bewußt- und verstandlose Individualität“ zwar durch Empfindungen unmittelbar und vorübergehend bestimmt, aber sich dadurch als eine besondere solche setzt22 (ebd., § 400, 396–397). Das empfindende Individuum bemächtigt sich, indem „es seine Substantialität, die nur an sich seyende Erfüllung als Subjektivität setzt“ (ebd., § 403, 401). Es weist deshalb auf die Geistigkeit hin, weil es sich als das Andere zum Anderen setzt, welches noch als Selbst realisiert werden muss.

21  Vgl. Hermann Drüe in: Hegels ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, hg. v. H. Schnädelbach, Frankfurt/Main 2000, Kap. IV. 2.1, 218. 22 Vgl. „Das Empfundene überhaupt ist das gesunde Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit“ (ebd., § 401 A, 399). Dazu ferner Hans-Christian Lucas, „Die „souveräne Undankbarkeit des Geistes gegenüber der Natur“, in: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, hg. v. F. Hespe u. B. Tuschling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 269–296, hier 278 f.

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Die als „monadisches Individuum“ bestimmte, fühlende Seele gibt dennoch einen Hinweis darauf, dass die in ihr vorgezeichnete Subjektivität, die eine unendliche Vielfalt von Vorstellungen einschließt, von einer spezifisch geistig strukturierten Zeitlichkeit, wenn auch unreflektiert, gekennzeichnet ist. So wird im Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes auf die aufbewahrende Bestimmung der Seele hingewiesen: „Die bloße Abstraktion des Seienden wird in der Seele zu einem Aufgehobenem als aufbewahrten“, das sich nicht bloß auf das unqualifiziert Vergangene bezieht. „[D]ie ganze, zunächst noch zukünftige Welt des Individuums liegt in seiner Seele“ (GW  15, 241  f.). Ein struktureller Zusammenhang von Zeitdimensionen wird hier angedeutet, in welchem sie zwar mitgetragen, dabei aber zugleich umgeformt werden, so dass die Vergangenheit und Zukunft kennzeichnende Negativität beibehalten wird und sich in ihnen dennoch ein elementarer Bestand sichern kann. Gleichwohl expliziert Hegel weder die sich abzeichnende Differenz der zeitlichen Dimensionierung der fühlenden Seele zu der der natürlichen Zeit noch gibt er weitere Hinweise zum zeitlichen Moment des Seelenlebens. Dafür wäre hier auch nicht der Ort, denn die in der Seele enthaltenen Bilder bergen zwar den Stoff der Welt in sich, der kann aber erst „durch das Bewußtseyn und die Tätigkeit des Geistes als seine Welt vorgeführt werden“ (ebd., 243). Die Seele lebt die Natur nur mit, sie vermag sie nicht aufzuschließen; dies bleibt dem Bewusstsein vorbehalten, das die in der Seele aufgeprägten Verhältnisse reflektiert. Damit wird in den mittleren Abschnitt der „Phänomenologie des Geistes“ übergegangen, der die Entwicklung des Bewusstseins zum Selbstbewusstsein und zur Vernunft nachvollzieht. Sie enthält zwar keine unmittelbar auf die Zeit bezogenen Erörterungen,23 doch sie leistet einen systematisch entscheidenden Schritt für die vorliegende Fragestellung, der, ohne ausgeführt werden zu können, festgehalten werden muss. Ausgehend von Hegels Einsicht, dass sich das Ich als reine Beziehung auf sich gar nicht denken lässt und nur durch die Beziehung auf anderes vermittelt werden kann,24 nimmt die phänomenologische

23  Im Bewusstsein, der ersten Form der Phänomenologie des Geistes, wird das „Naturleben der Seele“, das alle Bestimmtheiten beinhaltet, herausgesetzt, so dass die formelle Identität der Selbstbeziehung als Ich sich auf sie als selbstständige bezieht. Das „Ich […] ist so Bewußtseyn“ (ebd., § 413, 421–422). Die erste Handlung des Bewusstseins besteht gemäß dem Werk von 1807 darin, sich auf das Hier und Jetzt zu richten Ihre Behandlung wird hier ausgespart, stattdessen verweist Hegel ihre Behandlung auf die Anschauung (GW 20, § 418, 424–425). Siehe zu den Differenzen zwischen der Behandlung der sinnlichen Gewissheit in der Phänomenologie des Geistes und den Fassungen der Enzyklopädie Brady Bowman, Sinnliche Gewißheit. Zur systematischen Vorgeschichte eines Problems des deutschen Idealismus, Berlin 2003, 90–94. 24  Vgl. Andreas Arndt, Unmittelbarkeit, Bielefeld 2004, 22, 27.

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Betrachtung in Anspruch die Konstitution der Subjektivität zu ermitteln. Wenn der Selbstbezug des Ich durch einen Fremdbezug zu äußeren Gegenständen und anderem Selbstbewusstsein vermittelt wird, bildet sich das Ich als ein selbstständig Daseiendes, dessen Struktur die des allgemeinen Selbstbewusstseins ist.25 Indem sich das Ich mit der Welt außer ihm zusammenschließt, realisiert es sich, während die abstrakte Struktur des Ich=Ich im allgemeinem Selbstbewusstsein aufgeht. Diese objektive und zugleich allgemeine Struktur ist die Vernunft als „[d] as Selbstbewusstsein so die Gewißheit, daß seine Bestimmungen eben so sehr gegenständlich, Bestimmungen des Wesens der Dinge, als seine eigenen Gedanken sind, ist“ (GW 20, § 439, 434). Die thetischen Wendungen der letzten Paragraphen der „Phänomenologie“ wollen festhalten, dass dem Geist als Vernünftigkeit nichts ihm Fremdes gegenübersteht, da er die Bestimmungen der Welt als die eigenen erkannt hat. Wenn alle Äußerlichkeit zurückgelassen wurde, sofern sich der Geist in ihr wiedererkannt hat, „fängt [er] daher nur von seinem eigenen Seyn an und verhält sich nur zu seinen eigenen Bestimmungen“ (ebd., 440, 434), die im letzten Teil der Philosophie des subjektiven Geistes, der „Psychologie“ reflektiert werden. In der Reflexion von sich, in der sich der Geist als freier am Ende setzt, entwickelt er Formen, die die durch Seele und das Bewusstsein hergestellten Beziehungen als seine eigenen Verhältnisse systematisieren. Diese Formen sind keine natürlichen, sondern „nach der Vernunftbestimmung, daß der Inhalt sowohl der an sich seyende, als nach der Freyheit der seinige seye“ (ebd., §  443, 437). Dementsprechend verhält sich der Geist als theoretischer (in der Hinsicht des Ansichseins)und praktischer (in der Hinsicht der Freiheit) zu sich selbst, bis er sich als frei in der Form weiß, die in der „Freiheit seines Wissens [sich] hervorzubringen“ (ebd., § 442, 436) das theoretische und praktische Verhältnis des Geistes zu sich zusammenschließt. Um ein freies Verhältnis zu sich zu konstituieren, muss sich der Geist auch der Zeit ermächtigen. Die in der „Psychologie“ entwickelten Formen werden in die mitgehende Selbstbestimmung des Bewusstseins als formale Zeitstruktur transformiert, indem er die Vermittlungen, die zu dieser Selbstbestimmung führen, als die eigenen setzt und den Inhalt der Welt als die eigene Setzung erkennt. Raum und Zeit, die nicht mehr als äußerlich zu behandeln sind, da auf dieser Stufe dem Geist nichts mehr äußerlich ist, werden her-

25 Zur Bestimmung der endlichen Subjektivität durch die absolute und deren Vermittlung im subjektiven Geist siehe ferner Klaus Düsing, „Endliche und absolute Subjektivität. Untersuchungen zu Hegels philosophischer Psychologie und zu ihrer spekulativen Grundlegung“, in: Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse‘, hg. v. L. Eley, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 33–59; hier v. a. 40–42.

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angezogen, um die Formen von Anschauung und Vorstellung über Erinnerung, Einbildungskraft, Gedächtnis und zeichenbildende Intelligenz zu entwickeln. Es wird der durch den Geist hergestellte Zusammenhang der Zeitdimensionen erörtert, wodurch Zeit und Raum eine durch den Geist verliehene Formbestimmtheit erhalten. Sie erweist sich zwar als gleich mit der der natürlichen Zeit – und dennoch wird sie so angelegt, dass sie als eine andere Daseinsweise der Idee entsprechend durch die Verbindungsleistung der Intelligenz, die das Gefühl inhaltlich aufschließt, schrittweise abgestreift werden kann. Der Gang setzt am theoretischen Gefühl an, indem die Inhalte des Geistes unmittelbar gesetzt sind; sie sind zwar vernünftig, da sie aber in der Subjektivität eingeschlossen sind, lassen sie sich in keine allgemein zugängliche Form bringen. Erst mit der Aufmerksamkeit lässt sich der Geist von der Passivität, um das, was die Inhalte der Anschauung sind als die seinigen zu bestimmen. Dies lässt sich nur durch Achtsamkeit erzielen, denn ohne die Ausrichtung des Geistes auf etwas wäre es „nichts für ihn“ (ebd., § 448, 444). Deshalb weicht das Gefühl in seiner setzenden Funktion der Vermittlungsleistung der Aufmerksamkeit, die „die thätige Erinnerung, […], als die noch formale Bestimmung der Intelligenz“ ist26 (ebd., §  448, 444). In der Aufmerksamkeit richte sich der Geist nun auf den Inhalt seines Gefühls, während er ihn „als außer sich seyendes“ objektiviert. Sie bestimmt „den Inhalt der Empfindung als außer sich seyendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist“ (GW 20, § 448, 444). Der Inhalt des Gefühls als sich selbst äußerlich erhält dadurch die Form von Raum und Zeit. Dies ist freilich keine inhaltliche Bestimmung, denn damit wird nur gesagt, dass das, was sie an sich hat, das Andere seiner selbst ist und als abstrakte Äußerlichkeit der Intelligenz zunächst einmal gegenübersteht. Damit wird der Befund des Unterschieds des Bewusstseins in der sinnlichen Gewissheit in der Phänomenologie des Geistes bestätigt, dass das Hier und Jetzt nicht halten kann, dadurch aber zum abstrakt Allgemeinen kommt. Es ist das abstrakte raumzeitliche Gefüge, das erlaubt, Inhalte als Individualitäten zu verorten, damit sich die Aufmerksamkeit auf sie richten kann, die sich dann als werdende und vergehende Seiende formgebend erweisen, d. h. selber räumlich und zeitlich sind.: „jene doppelte Form des Außereinander wird ihnen nicht einseitigerweise von unserer Anschauung angetan, sondern ist ihnen von dem an sich seienden Geiste, […] angeschaffen“27

26 Vgl. auch den gesamten Gang resümierend GW 25.2, 813 f., Vorl. 1828. 27  Nach einer ausdrücklichen Absetzung von Kants reine Subjektivierung von Raum und Zeit findet sich die Zusammenführung der Begriffsbewegung, die dem raumzeitlichen Außereinander und der anschauenden Intelligenz innewohnt. Wie in der äußeren Natur Raum und Zeit durch die ihnen immanente Dialektik des Begriffs sich zur Materie, die „die unmittelbar identi-

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(TWA  10, §  448 Z, 253). Als tätige Erinnerung bezieht sich die Aufmerksamkeit nicht auf Vergangenes, um es aus der Versenkung herauszuholen. In den Vorlesungen über den subjektiven Geist kommentiert Hegel den Sachverhalt ausführlich und bezieht sich dabei stets auf die naturphilosophische Bestimmung von Raum und Zeit und macht erneut deutlich, dass Raum und Zeit Formen sind, die Gegenständen nicht von außen zustoßen: Raum und Zeit unterschieden, der Form entgegengesetzt dem Inhalt als solches. Das Reelle also und das Ideelle ist in der Anschauung zu unterscheiden, daß diese Unterscheidung da ist, eine ideelle und reelle Individualität liegt darin, daß die Intelligenz als anschauend sich nur zuerst sich verhält.[…] Aber die Intelligenz ist auch in ihr erst Action auf ihr bestimmtsein, bestimmend, sie formiert zugleich diesen Inhalt und das ist wie gesagt die Räumlichkeit und Zeitlichkeit (GW 25.2, 816).

Damit wird aber klar gemacht, dass Raum und Zeit für die Anschauung eine konstitutive Rolle zukommt, die, wie oben angeführt, der Seele oder dem Bewusstsein nicht zugesprochen werden kann. Es ist das angeschaute Werden als das Außersichsein, des eben in der Aufmerksamkeit angeschaut wird, das von ihr konfiguriert wird. Dies kann allerdings nur nach seinen eigenen Bestimmungen des unmittelbaren Außereinanderseins, welche die der Objektivität der Natur auch sind, geschehen. Damit wird durch die Anschauung ein wesentlicher Schritt getan, da durch die Anschauung die Form der Innerlichkeit veräußert wird.28 Die Aufmerksamkeit der Intelligenz macht das Außersichsein zu eigen, wenn sie sich auf sich selbst richtet. Deshalb braucht sie keinen Inhalt außer der Intelligenz zu finden; sie hat „ihre Erinnerung in sich“ (GW 20, § 450, 445). Wenn der Geist dadurch das „Ihrige der Intelligenz“ zu sein erreicht, geht er zum zweiten Moment des Verhältnisses zu sich als theoretischer Geist in der Form der Vorstellung über. Die damit bezeichnete Verinnerlichung ist allerdings „noch mit einseitiger Subjektivität“ behaftet, „indem diß Ihrige noch bedingt durch die Unmittelbarkeit, nicht an ihm selbst das Seyn ist“ (ebd., §  451, 445). Die drei Momente der Vorstellung, Erinnerung, Einbildungskraft und Gedächtnis, stellen die Befreiung von dem durch die Intelligenz verinnerlichten Inhalt dar. Er wird in den „eigenen Raum und [die] eigene Zeit“ der Intelligenz (ebd., § 452, 446) von ihr gesetzt, wenn er nicht mehr anschaulich vorhanden ist, d.  h. wenn er nicht mehr im eigenen raumzeitlichen

sche daseyende einheit beider“ darstellt, (GW 20, § 261, 252) als ihrer Wahrheit aufheben, so ist die freie Intelligenz die für sich seiende Dialektik jener Formen des unmittelbaren Außereinander. (ebd., § 448) 28  Vgl. „Was somit durch die Anschauung zustandekommt, ist bloß die Umwandlung der Form der Innerlichkeit in die Form der Äußerlichkeit.“ (TWA 10, § 448 Z, 252).

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Gefüge steht. Als Bild bezeichnet hat er sein Dasein nur in der Intelligenz, soweit sie es festgehalten hat. In die Intelligenz versetzte Bilder werden für sie disponibel – die Intelligenz stellt den „nächtlichen Schacht, in welchem eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen aufbewahrt ist“ dar (ebd., § 453, 446). Worauf es hier ankommt ist, dass das Bild von seinem angeschauten Dasein entbunden wird, um in der Vorstellung aufbewahrt zu werden. In der Erinnerung, die in dieser Funktion die „eigentliche“ genannt wird, wird dann das unmittelbar Angeschaute „unter das der Form nach Allgemeine“ subsumiert. Wenn es aus der Aufbewahrung wieder in die Aufmerksamkeit gerückt wird, kommt es zur „Synthese des innerlichen Bildes mit dem erinnerten Daseyn“ als Vorstellung (ebd., § 454 A, 446). Die dadurch in den Besitz29 des Ich genommenen Bilder können durch die Einbildungskraft zunächst in reproduktiver Form aktualisiert werden. In der Aufbewahrung haben allerdings die Bilder ihre „zunächst nur räumliche und zeitliche Concretion“ verloren, denn sie erhalten ihre raumzeitliche Einbettung nur mehr „im Subjekte“ (ebd., § 455, 448). Freilich ist der „Allgemeine Schacht“, in welchem die Bilder im Subjekte aufbewahrt sind, auch nach den Bestimmungen von Raum und Zeit konfiguriert und die Bilder werden daran angebunden. Dass die erinnerten Bilder „in einer freien Zeit in freiem Raum“ (GW 25.1, 128) lokalisiert werden können, bedeutet aber nicht ihre willkürliche Verortung. Es deutet eine Formveränderung der Äußerlichkeit des Raumes und der Zeit bei der Verinnerlichung des sich verändernden Seienden an, das ihre Form ist. Sie wäre in der „Assoziation der Vorstellungen“ zu suchen, die die einzelnen Bilder unter ein Allgemeines subsumiert. Nach der „noch formellen[n] Allgemeinheit“ der Intelligenz als „gedankenlose[m] Vorstellen“ (GW  20, §  455, 449) geschieht es noch gemäß der unmittelbaren Bezüge der Bilder zu ihrer Herkunft. Deshalb lassen die reproduktiven Verknüpfungen sich auf die objektive Realität beziehen, als dessen Begriff die subjektive, individuelle Intelligenz entwickelt wurde.30 Erst in der reproduktiven Einbildungskraft kommt die Intelligenz als „Phantasie“31 zu ihrer Vollendung, weil sie „das in ihr zur concreten Selbstan-

29  Zum Besitz wird das bloß Erinnerte, indem es aus dem Schacht, wo es als Eigentum aufbewahrt war, herausgeholt und vorgestellt: „Haben ist ganz richtig hierfür […] Diß drückt aus, daß diß in meinem Besitz ist, und das Vergangensein ist erst eine Nebenbestimmung“ (GW 25.1, 127). 30  Vgl. Jens Rometsch, Hegels Theorie des erkennenden Subjekts, a. a. O. (Anm. 19), 188. 31 Die innere Systematik der Vorstellung weist nicht unerhebliche Differenzen besonders zwischen der ersten Auflage der Enzyklopädie und den späteren sowie unter den Vorlesungsmitschriften auf. Sie betreffen v. a. die Zuordnung des Zeichens zunächst dem Gedächtnis (1817) und später der Einbildungskraft, die auch den Zusammenhang des Gedächtnisses mit dem Denken anbelangt. Siehe zum ersten Komplex die eingehende Diskussion von Dirk Stederoth, Hegels Philosophie des subjektiven Geistes, Berlin 2001, 355–368 und zum zweiten 368–372.

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schauung Vollendete als Seiendes“ bestimmt und dadurch „sich selbst zum Sein, zur Sache“ (ebd., §  457, 451) macht. In dieser Selbstbezüglichkeit gewinnt sie Einzelheit und wird „in sich bestimmte, concrete Subjectivität“32 (ebd., § 456, 450). Den Erzeugungen der Einbildungskraft33 werden Zeichen verliehen, die als anschaulich seiende Allgemeinheit beanspruchen, weil sie anschaulich sind. In der Produktion von Zeichen erlangt aber das Anschauliche wieder seine Macht, insofern die geistigen Inhalte durch die Vorstellung bestimmt werden, aber im Zeichen zur anschaulichen Darstellung kommen. So wird die Äußerlichkeit der Natur durch Intelligenz als die eigene Äußerlichkeit des Geistes gesetzt. Raum und Zeit werden aus der Äußerlichkeit in den Geist zurückgenommen und als seine eigene Äußerlichkeit hergestellt. Die Loslösung von der Anschauung wird erst vollzogen, wenn die Bilder die Form von Zeichen annehmen. Denn die Erstarrung von Vorstellungen in Zeichen legt den Bezug auf die Anschauung ab, insofern der durch sie aufgenommener Stoff den im Zeichen angezeigten nicht mehr bedarf. Diese am Material der Anschauung nicht mehr gebundene Besetzung der Zeichen wird von der Intelligenz geleistet, weil sie sich „frei […] das Zeichen wählt, nur sich die gleichgültige Form der Äußerlichkeit giebt“ (GW  25.1, 132). Durch diese Wiederherstellung der Äußerlichkeit in der Form von Zeichen wird die Stellung eines Objektiven dem Subjektiven gegenüber aufgehoben, da das Subjekt das Objektive als eigene Setzung erkennt und somit dem Zeichen durch die Ablösung von äußeren Bezügen ein Gehalt zugewiesen wird, der dem in ihm sinnlich implizierten fremd ist. Die Leistung der produktiven Einbildungskraft kann den Zusammenhang geistiger Gehalte dadurch herstellen, dass sie den in der Vergangenheit versunkenen Zeichen ihre Idealität abzieht und die Idealität mehrerer Zeichen untereinander verbindet. Wenn die Intelligenz die Äußerlichkeit des

32  In der Vorstellung wird die Struktur des Allgemeinen bzw. der Subjektivität im einzelnen Subjekt konkret, insofern es sich von ihr geprägt weiß: „[S]chon daß die bestimmung in mich gesetzt wird ist ein Auswischen […] des Einzelnen und ein Ausfließen ins Allgemeine“ (GW 25.2, 826), denn „[d]ie Intelligenz als solche ist gleich infiziert mit der Allgemeinheit, mit dem Denken.“ (ebd., 822) 33 Auch wenn Hegels Konzeption der Einbildungskraft noch weiterer Klärung hinsichtlich v. a. der Vermittlung des Gefühls und der Weisen der Beziehung der Bilder zum konkreten Allgemeinen bedarf, das im Denken begriffen wird, kann nicht geleugnet werden, dass sie metaphysikkritisch gegenüber dem Verständnis der Einbildungskraft als Realisierungsinstanz eines metaphysischen Prinzips ausgerichtet ist. Denn sie stellt eine spezifische Vermittlungsleistung des menschlichen endlichen Geistes als Bestimmtheit der endlichen Subjektivität im Unterschied zum Vermögen oder Kraft des Ich, wie bei Kant, Fichte oder dem jungen Schelling, oder dar. Siehe dazu: Klaus Düsing, „Hegels Theorie der Einbildungskraft“, in: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, a. a. O. (Anm. 22), 297–320; hier 315 f., 319 (vgl. auch die Skizze der Auseinandersetzung des Jenaer Hegel mit den Selbstbewusstseinstheorien der Philosophien der Subjektivität in 304–309).

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Sinnlichen im Zeichen als Innerliches setzt, wird es als Ideeles aufbewahrt. Wenn diese Idealität aus der Innerlichkeit wieder nach außen gewendet wird, dann wird sie, so Hegels Argument, zur Bezeichnung von etwas, das dem Zeichen äußerlich ist, ohne dass die Verknüpfung vom Zeichen zu einer bestimmten Bedeutung der Notwendigkeit folgt.34 Zeichen und Bedeutung stehen in einem rein äußerlichen Reflexionsverhältnis zueinander, dessen Unmittelbarkeitscharakter nicht auf Konvention o.  ä. zurückzuführen ist, auch wenn es oft dadurch festgelegt wird. Sie sind durch die Leistung der produktiven Einbildungskraft verbunden, die das Sinnliche zu sich vermittelt und es als das ihrige setzt. Die Vermittlung entsteht auf der nächsten Stufe der Abstraktion, wenn die Zeichen zu Systemen organisiert werden und dadurch entsprechende Bereiche der natürlichen oder der geistigen Welt erschließen. Unter diesen diskutiert Hegel nur die Sprache, weil das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung in ihr voll zum Tragen kommt. Der Ertrag dieser Leistung der setzenden Reflexion des Geistes ist für die angesprochene Formveränderung von Raum und Zeit von außerordentlicher Bedeutung, weil damit der entscheidende Schritt zur Ermächtigung der Zeit getan wird. Hegel präzisiert in Bezug auf die vermittelnde Stelle des Zeichens, dass die Intelligenz, welche als anschauend, die Form der Zeit und des Raums erzeugt, […] nun ihre selbstständigen Vorstellungen ein bestimmtes Daseyn aus sich gibt, den erfüllten Raum und Zeit, die Anschauung als die ihrige gebraucht, deren eigenthümlichen Inhalt tilgt, und ihr einen andern Inhalt zur Bedeutung und Seele gibt. – Diese Zeichen erschaffende Thätigkeit kann das produktive Gedächtnis (die zunächst abstrakte Mnemosyne) vornemlich genannt werden (ebd., § 458A, 452).35

Diese Entwicklung ist für die angesprochenen Formveränderungen von Raum und Zeit in ihrem Ertrag wichtig, denn im Gedächtnis wird das unmittelbar, sinn-

34 Die Darstellung der Selbständigkeit der Zeichen muss freilich differenzierter erfolgen, als es hier geleistet werden kann. Die Verweisungszusammenhänge zwischen Zeichensetzung und Sprachbildung (dazu Jens Rometsch, Hegels Theorie des erkennenden Subjekts, a. a. O., Anm. 19, 198–203), die weiter geklärt werden müssen, ändern jedoch kaum die hier abgehandelte Ermächtigung der Zeit, wie partiell sie auch sein mag, in der Sprache. 35  M. Winter (Hegels formale Geschichtsphilosophie, a. a. O., Anm. 12, 58–74) weist darauf hin, dass der Zusammenhang von Gedächtnis und der Mnemosyne umakzentuiert wird, während das Gedächtnis zur Einbildungskraft anders zugeordnet wird. In der Fassung von 1817 wurde die Mnemosyne unmittelbar mit dem Gedächtnis gleichgesetzt: „Das Gedächtniß (Mnemosyne, Muse) ist die Einheit selbständiger Vorstellung und der Anschauung“ (GW  13, §  379) Er bietet einen vergleichenden Aufriss der Handhabung der Zeit durch die Momente des theoretischen Geistes, die er aufschlussreich auf die Arten der Geschichtsschreibung bezieht (zur reflektierenden Geschichte 81–93 und zur philosophischen 95–109).

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lich Angeschaute als ein vermitteltes, geistig erzeugtes wieder restituiert. Die höchste Vermittlung, da sie die vernünftigste ist, stellt die Sprache bereit, die die „That der theoretischen Intelligenz im eigentlichen Sinne“ ist. (GW  18, 195) In der Sprache werden Worte als „Namen […], nämlich für sich sinnlose Aeußerlichkeiten, die erst als Zeichen eine Bedeutung haben“, erzeugt. (GW 20, § 459, 455) Dem Wort als Zeichen wird zunächst Beständigkeit in der Zeit verliehen, das aber nur gewusst werden kann, wenn es aus der Innerlichkeit ausgesetzt wird. Denn die in der Setzung von Zeichen implizierte Verräumlichung geht erneut in Zeitlichkeit über, sobald aus dem Bild ein tonales Zeichen entsteht. Es artikuliert sich zunächst in „Rede, und ihr System, die Sprache.“ (ebd., §  459, 453) Deren Dasein ist ein zeitliches, da es die Verbindung zwischen den Zeichen, die nicht mehr da sind, sobald sie ausgesprochen werden, und dem ihnen zugeschriebenen Gehalt herstellt. Die in der Natürlichkeit der menschlichen Verlautbarung vernehmbaren, tonalen Zeichen als Wortfolge einer bestimmten Sprache werden von ihrer Natürlichkeit abgelöst und gesetzt. Gerade durch das Verschwinden der Worte in der Zeit, die die abstrakte, vernichtende Negativität ist, macht es möglich, dass sie der Äußerlichkeit entrissen werden. Denn sie werden in der Intelligent in abgewandelter Form, da die Intelligenz die konkrete Negativität der von ihrem ursprünglichen anschaulichen Bezug abgelösten Wortzeichen ist, als aufbewahrte gesetzt. Durch die Negation der Versenkung in der Zeit wird die Bedeutung zu einem Innerlichen des Subjekts, da es in der Bedeutung, die ihm als Allgemeines vermittelt ist, das eigene Produkt erkennt. Und wie gleich zu sehen sein wird, wird dieses Innerliche im Denken zugleich als Äußeres – als Seiendes  – durch die Herstellung von geregelten Zusammenhängen erkannt. Festzuhalten ist, dass die Tätigkeit des Geistes durch die doppelte Negation des tönenden Wortes (es geht vorüber und wird als vergangenes erhalten) es zum verinnerlichten Äußeren macht. In der Schriftsprache verhält sich in Bezug auf die Zeitlichkeit nichts anders als in der mündlichen Rede, wenn der schriftlich festgehaltenen Sprache durch Negation. Dieser Teil des Prozesses, in dem sich der Geist aneignet, lässt sich folgendermaßen resümieren: Vom Anschauen, in dem die Äußerlichkeit als Form der Zeit gesetzt wird, über dessen Rücknahme in der Vorstellung, in welcher der Name als geistiger Gehalt aufbewahrt wird, erfolgt die Setzung durch seine Entbindung vom zeitlich bedingten sinnlichen Bezug als die eigene Äußerlichkeit des Geistes, die sein Inneres ist. Damit wird dem Wort bzw. dem Namen Beständigkeit in der Zeit verliehen; sie können nur gewusst werden, wenn sie aus der Innerlichkeit wieder ausgesetzt und nun als äußerliches Dasein erhalten und zum Gegenstand des Denkens werden. In Bezug auf die Formveränderung der Zeit ist zu unterstreichen, dass ihre Momente nur dann einen Bestand gewinnen können, wenn sie als vorgestellte festgehalten werden:

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[A]lles, was geschieht, erst durch seine Aufnahme in die vorstellende Intelligenz für uns Dauer erhält, – daß dagegen Begebenheiten, die von der Intelligenz dieser Aufnahme nicht gewürdigt worden sind, zu etwas völlig Vergangenem werden (TWA 10, § 452Z, 259)

Es kommt hier hinsichtlich der Frage nach der zeitlichen Bedingtheit der Momente des Geistes auf die spezifische Leistung des Gedächtnisses bezüglich der Zeit an. Sie besteht im die Allgemeinheit herstellenden Sprachsystem, in dem sich Namen als Bezeichnung von Sachen bewähren. Die Veränderung der Sachen wird als angeschautes Werden über die Leistung der Vorstellung verinnerlicht, in der der Geist bei sich selber ist, indem er in sich selbst entäußert. Die zunächst sinnlos anmutende verwunderliche Leistung des mechanischen Gedächtnisses, Namen beliebig aneinanderreihen zu können, bringt den Ertrag, dass die Intelligenz ganz abstrakt über Namen verfügt, ohne dabei von irgendeiner vorfindlichen Objektivität gebunden zu sein. So belässt die Intelligenz die Namen in „der gänzlichen Aeußerlichkeit“, und dadurch „das Seyn, den allgemeinen Raum der Namen als solcher“ setzt. (GW  20 §  463, 461) Seiendes als Name braucht aber mit Bedeutung versehen zu werden, um einer Sache zu entsprechen. Deshalb schlussfolgert Hegel, „[d]ie Intelligenz ist als mechanisches Gedächtnis in einem jene äußerliche Objektivität selbst und die Bedeutung“. (GW  20, §  464, 462) In der Konsequenz werden im mechanischen Gedächtnis sowohl die subjektive Bestimmtheit als auch die der Namen äußerliche Objektivität gewonnen. Das mechanische Gedächtnis setzt sich demzufolge nach der Bestimmung des Raums als ein Außersichsein, das die Anschauungsform konstituiert, während sich die Intelligenz für sich als das Andere ihrer selbst erweist. Dies ist die „Thätigkeit des Gedankens, der keine Bedeutung mehr hat“, weil das Subjektive zum Objektiven anverwandelt wurde und sich von ihm fremden Bedeutungszuweisungen frei gemacht hat. (ebd., § 464, 462) Diese Tätigkeit besteht in der Verbindung von Namen untereinander als „einseitige[s] Moment der Existenz des Denkens“ (ebd., § 464 A, 463). In dieser Existenz ist das im Gedächtnis Festgehaltene bei sich in der Äußerlichkeit. Da diese Äußerlichkeit zwar für uns oder an sich ist, aber zugleich identisch mit der objektiven Vernunft, wird die Tätigkeit des Gedankens als Denken bezeichnet, das die Tätigkeit darstellt, das vom Subjekt gesetzte als seine eigene Setzung und als die Sache zu fassen.36 Hegel erörtert nicht mehr das Verhältnis der Sprache zur Zeitlichkeit, sie wäre aber gerade in der skizzierten Leistung des Gedächtnisses zu suchen, das Gedanken als Subjekt-Objekt Einheit

36  Vgl. Hans Friedrich Fulda, „Anthropologie und Psychologie in Hegels ‚Philosophie des subjektiven Geistes‘“, in: Idealismus als Theorie der Repräsentation?, hg.  v. R. Schumacher u. O. Scholz Paderborn 2001, 101–125, hier 117–118.

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hervorbringt, in deren „Haben“ die Intelligenz zum Denken übergeht. Das Objekt tritt dem Subjekt nicht gegenüber, sondern wird vom ihm erst im Prozess, der zum Denken führt, konstituiert. Deshalb kann Hegel behaupten, dass Gedanken nicht zufällige oder willkürliche sind, sondern dass sie sich im Denkprozess von der Diremtion des Urteils zur Schlussform der Vernunft unter der Notwendigkeit eines Zusammenhangs herausbilden (ebd., § 467). Hier wäre wohl auch ein Anhaltspunkt dafür zu finden, dass Hegel dem Denken mit einem normativen Anspruch verbinden will, dessen Grund aber gerade in der freien Bildungen der Vorstellung zu suchen wäre. Der durch Raum-Zeit imprägnierte Geist stellt sich wieder als Geist her, indem er das äußerlich, anschaulich gegebene Seiende als eigene Setzung erzeugt, welches „vorher ein Seyende[]“ war – „nun Geistiges, Vorgestelltes“ wird. (GW 18, 122) Die in der Intelligenz verschaffte Dauer stellt freilich eine Vermittlung der Zeitdimensionen im Endlichen dar, denn was dauert ist immer noch endlich.37 Der Umgang mit der Endlichkeit ist freilich dem Denken überantwortet. Der Geist hebt erst in begrifflicher Form aufgrund der etablierten Identität des Selbstbewusstseins „seine Zeitform auf, begreift das Anschauen und ist begriffnes und begreifendes Anschauen“. (GW 9, 429) An dieser Stelle der Philosophie des Geistes ist noch nicht soweit, aber die Dispositive des Geistes dazu hat er sich in der „Psychologie“ gesetzt, mittels deren er die Zeit aufheben kann. Im Denken können Dauer und Vergänglichkeit anhand einer Konfiguration von Zeitverhältnissen, die ihre inhaltlich konkrete Gestaltungen durch die Reflexion der Zeitlichkeit gewinnen können, deren Stufen die „Psychologie“ darstellt. Die Dimensionierung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Naturphilosophie wird damit zum einen als Struktur der Äußerlichkeit des Geistes deutlich., während ihre vermittelte Verspannung der Verinnerlichung dieser Äußerlichkeit entspricht. Die Natur wird darin objektiv, wie sie dargestellt wird, aber nur als die Form eben dieser Äußerlichkeit. Zum anderen wird der Ort klar, an dem der entscheidende Schritt zur Verinnerlichung der Äußerlichkeit von Raum und Zeit im Geist vollzogen wird. Zum ersten: Die Einlösung dessen, dass die Momente der Zeit resp. mit Erinnerung, Furcht oder Hoffnung in der Naturphilosophie (GW 20, § 259, 249) besetzt

37  Dass Bedeutungszusammenhänge wie Sprachsysteme auch endlich sind, verweist zunächst auf die für ihre Erschließung nötige Hermeneutik. Die Vermittlungen jedoch, die in ihrer Durchführung eingehen, und wären in den allgemeinen Strukturen zu suchen, in welchen die Endlichkeit aufgehoben wird. Und sie lägen in der Strukturen der Vernunft, die die Philosophie ermittelt (vgl. Andreas Arndt, „Fortschritt im Begriff. Hegels Aufhebung der Hermeneutik in der Geschichte der Philosophie“, in: Hegel-Jahrbuch 1997, Berlin 1998, 108–115).

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wurden, in der subjektiven Vorstellung zieht nach sich, dass die darin implizierte Fülle eine Wandlung der Form herbeiführt. Die qualitative Bestimmung von Erinnerung, Furcht und Hoffnung setzt sie zu einem innigen Verhältnis zu einander, das den Momenten in der Äußerlichkeit gar nicht möglich ist. Es ist durchaus berechtigt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Natur zu sprechen, sofern ihre Erfassung als Einheit des praktischen und theoretischen Verhältnisses zu ihr erfolgt. Eine Vergangenheit oder ein Gedächtnis im übertragenen Sinne können auch elementare Naturphänomene haben, wenn ihr Zustand von einem früheren bedingt ist. Das sind aber Bestimmungen, die vom Geist als solchen in seine Naturseite hineingelegten werden, wenn er sie betrachtet, d. h. sich an ihr abarbeitet. Zum zweiten: Es wäre trivial zu konstatieren, dass Raum und Zeit in ihrer Idealrealität durch den Geist anhand der ihm äußerlichen Natur so angesetzt wurden.38 Die naturphilosophischen Bestimmungen verweisen auf die Vorstellung, die die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie die von Raum und Zeit trifft. Ihr kann das nur in der Prägung von Zeichen, Namen und in der Versprachlichung gelingen, die diese Unterscheidung festhalten können. Wenn in der Sprache der Geist sich vergegenständlicht, ist aber der Übergang zum Denken vollzogen, das den Abschluss des Gangs vom theoretischen Geist darstellt. Die Zeitlichkeit, deren Struktur von der Vorstellung entwickelt wird, wie die Natürlichkeit überhaupt wird im Denken aufgehoben, das sich nur auf sich selbst bezieht und von allen Inhalten frei ist, da er ihn in die Bestimmungen verinnerlicht hat. Wenn der Geist nun „das Bestimmende des Inhalts“ weiß (GW 20, § 468, 465), versteht er sich auch als praktischer und gelangt dadurch zu seiner subjektiven Identität in der Form des freien Geistes, der „Wissen jener seiner Bestimmung, die seinen Inhalt und Zweck ausmacht und deren nur formelle Thätigkeit er ist“ (ebd., §  482, 476). Diese letzte Stufe des subjektiven Geistes kann hier nicht weiter entwickelt werden; ihre formelhafte Verdichtung sollte aber deutlich machen, dass darin die Struktur der Idee in endlicher Form schon enthalten ist, es fehlt ihr nur die Wirklichkeit: „Die Idee erscheint so nur im Willen, der ein endlicher, aber die Thätigkeit ist, sie zu entwickeln und ihren sich entfaltenden Inhalt als Daseyn, welches als Daseyn der Idee Wirklichkeit ist, zu setzen, – objektiver Geist“ (ebd.).

38 Diese Implikation sollte von vornherein klar sein, Hegel wird aber nicht müde sie zu wiederholen: „Der Geist tut dieß den Dingen an, und dieß ist kein subjectives Tun des Geistes, wie bei Fichte, sondern es ist die Natur der dinge selbst, sie sind nichts als eben zeitlich und räumlich“ (GW 25.1, 127)

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Wenn der freie Geist über alle Formen seiner Manifestation weiß, die als setzende Reflexion „Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbstständiger Natur ist“ (ebd., § 384, 382), ist die Entwicklung der setzenden Reflexion durch die Natur und den subjektiven Geist die Voraussetzung dafür, dass er sich eine Wirklichkeit gibt, in der sich als objektiver in den Verhältnissen der Freiheit wiederfinden kann. Denn das wissende und wollende Selbstbestimmen des freien Geistes muss sich auch in der Wirklichkeit bewähren, indem er in ihr tätig wird. Und seine daseiende Freiheit, ihre objektive Form, erlangt er im Recht. In der Darstellung des Prozesses, durch welchen der Geist seine Beziehung auf ein Anderes, in welcher noch „unfrei oder nur an sich frei ist“,39 hinweg arbeitet, kommt er als subjektiver, kommt er als subjektiver, seine unmittelbare Realität als ideal herauszustellen. Die Selbsterfassung des Geistes schlägt den entgegengesetzten Kurs ein, um diese Idealität zur „volle[n] Verwirklichung“ zu bringen. Sie wird im Staate erreicht, in dem der Geist die in seiner subjektiven Gestalt erlangte „formellen Freiheit“ im Begriff seiner objektiven als Recht realisiert. Damit wird dieses Fürsichsein oder Objektivität des Geistes als äußere Realität gesetzt, in der sich das Subjekt frei weiß. Der Geist wird in dem Verhältnis objektiv, in dem er sich auf die „Form der Realität als etwas von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt“ bezieht, „in welcher die Freiheit als vorhandene Nothwendigkeit ist“ (GW 20, § 385, 383). Der Geist erzeugt sich nun als Natur, die insofern eine zweite ist, als er als objektiver nicht im Verhältnis der Äußerlichkeit zur Natur steht, sondern sich ins Verhältnis zu dem setzt, was er selbst hervorbrachte, während er die Natur darin außer sich setzte. In dieser Welt des objektiven Geistes tritt er in die Selbstreflexion ein, da er sich anhand seiner Realisierung als tätiger fasst. Indes wird aber auch deutlich, dass das Individuum als Rechtssubjekt in seiner daseienden Freiheit im Gefüge des gesellschaftlichen Verhältnisses zu anderen und zur Natur eingebettet wird, das als Verhältnis des Geistes in der Form freier Subjektivität zu fassen ist (GW 20, § 539, 509–513). Im Antagonismus der Staaten untereinander, sowie auch schon in den Spannungen, die die Staatsgebilde intern kennzeichnen, erhält sich die Form, in der sich der Geist sich selbst auslegen kann: „Die Weltgeschichte ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie sich im Raume die Idee als Natur auslegt.“40 Der Übergang vom Kronos zum Zeus und den Olympischen Göttern führt dennoch nur bis zur Schwelle der Weltgeschichte, zu deren Über-

39  Die Entsprechung zum Ansich der Götter, das von Herakles verwirklicht wird, ist hier offenbar. 40  G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, 154.

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schreitung es nicht kommen kann, solange „das Natürliche mit dem Geistigen vermengt“ ist. Natürlichkeit bleibt auch im „sittlichen Recht“ (V 4a, 539, Vorl. 1827) verklärt, das erst durch den Eingriff von Zeus‘ eigener Geburt Athene walten kann, die die von ihm vertretene abstrakte Gesetzlichkeit mit dem Moment des objektiven, vom Staat anzuerkennendes Gewissens komplettiert, wenn sie die Erinnyen in die Schranken weist. Voll zum Tragen kann die mit Natürlichkeit behaftete geistige Subjektivität nicht kommen,41 wie ihr Reflexion in der Gestalt der olympischen Götter zeigt, deren Geist „zersplittert in seine Besonderheiten“ ist (V4a, 551, Vorl. 1827: 637, Vorl. 1831). Nur wenn die Subjektivität „sich nach Zwecken“ bestimmt inhaltsvoll etablieren kann, kann sie jeden „Nachklang der Naturelemente“ (V 4a, 367, Vorl. 1824) in sich verschwinden lassen. Bezogen auf die Entwicklung des subjektiven Geistes würde dies der Konstitution des Willens als freier Selbstbestimmtheit entsprechen, der aber aus der Zerstreuung in den Besonderheiten kommt, erst wenn er in der Einheit des praktischen mit dem theoretischen Geist die Freiheit selbst zu seinem Zweck setzt. In Hegels Deutung der griechischen Religion ist doch die damit eröffnete Perspektive in der Figur der Heroen oder Halbgötter, insbesondere Herakles‘ chiffriert. Darin kommt ein höheres, und deshalb mächtigeres, geistiges Prinzip als das im Zeus verkörpertes zur Geltung, das völlig frei von Natürlichkeit zur Verwirklichung dessen führt, „was die Götter an sich sind“ (ebd.). Es ist „die menschliche Geistigkeit […] diese freie, reine, abstrakte Subjektivität, ohne Naturbestimmung“ (ebd., 368). Herakles kann als menschliches Individuum durch mühevolle Arbeit und Tugend das verwirklichen, was die Götter an sich sind. Denn das tugendhafte, sittliche Handeln kann die physische Arbeit aus der schlechten Unendlichkeit des stummen, immerwährenden unmittelbaren Umgangs mit Naturzwängen herausführen. Indem Herakles Zeus die Politik als Gestaltungskraft auf dem freien Willen basierenden rechtlich-sittlicher Verhältnisse entlockt, schafft er die Möglichkeit, die in der Geistigkeit Zeus‘ verklärten Naturmacht restlos zu beseitigen. Der bloß als Dauer bestimmte Zeus (ebd.) kann kein Bestand mehr haben, während die geistige menschliche Individualität zwar von der Natur bedingt ist, aber in ihrer Endlichkeit „allen Naturinhalt in sich gefaßt hat“ (ebd.).42 Mit der Absetzung Zeus‘ durch die geistige Arbeit des Menschen, die sich in der physi-

41  Die mit Natürlichkeit behaftete Subjektivität ist „noch nicht die absolut freie, nicht die Idee die sich als Geist wahrhaft realisiert hätte“, während ihr Inhalt „noch ein besonderer“ bleibt. (TWA 17, 105) 42 Bezeichnenderweise beruft sich Hegels Deutung der Überwindung der Herrschaft Zeus‘ durch Herakles auf die Zeugnisse Platons, Aeschylus‘ und Aristophanes‘, also der Kunst und der Philosophie, weil darin das Selbstbewusstsein der Prinzipien des Volksgeistes zu ermitteln wäre (V4a, 386, 542)

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schen erkennt,43 wird das Gebiet von Weltgeschichte betreten, auf dem der Geist nun mehr das selbstbewusste Wissen von sich in seinen Hervorbringungen erlangen kann. Wenn dieser Übergang die Tat der freien, geistigen Subjektivität, und geistig kann nur frei bedeuten, ist, dann kann die Philosophie des subjektiven Geistes als Explikation des Siegs Zeus‘ und seiner Ablösung dienen. Sie bietet keine Rekonstruktion der Gattungsgeschichte, sondern die begriffliche Aufschließung der endlichen Subjektivität. Deshalb lässt Hegel die Weltgeschichte mit der antiken Polis anfangen, da sie nicht nur die Form der Staatlichkeit geboten hat, die, wenn auch defizitäre, sittliche Verhältnisse ermöglichte, sondern auch die Geburt der Philosophie.44 In den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte wird der Untergang Zeus durch den Geist hervorgebracht, in dem die Ablösung einer sittlich-politischen Gestalt als Geschichtlichkeit philosophisch reflektiert wird. „So kam es, daß nachdem Zeus dem Verschlingen des Kronos Einhalt that, daß er selbst und sein ganzes Geschlecht von dem Erzeugenden verschlungen wurde, nehmlich von dem Prinzip des denkens.“ (GW 27.1, 44, Vorl. 1822/23) Der Nachvollzug der Konstitution des Geistes als freien handelt von der Zeit, stellt aber keine Entwicklung in der Zeit dar. Wenn Hegel das Bewusstsein der Griechen mit seiner Deutung gedanklich fasst, bietet er keine Ursprungsgeschichte an, sondert deutet an der religiösen Vorstellungswelt die Erhebung zum geistigen Prinzip, die die Genese geistiger Subjektivität signalisiert. Die alten Götter bleiben allerdings in der Nacht gebannt, sie sind nicht verschwunden. So begleitet die Natürlichkeit den Geist auch in seiner objektiven Form, zu welcher sie als Grundlage fungiert. Sie wurde zwar aufgehoben, aber nur insofern der Geist die Anlage des praktischen und theoretischen Umgangs mit ihr begriffen hat.

43 An der Figur Herakles macht A. Arndt die Doppeldeutigkeit des Hegelschen Arbeitsbegriffs sichtbar. Einmal auf den Geist als sittlich-substantielle Tätigkeit und einmal auf die Bewältigung der „physischen Not“ bezogen, in der sich die Arbeit des Geistes wiedererkennt, stellt Arbeit die wesentliche Tätigkeit des Geistes dar. Hegel schätzt Herakles deshalb höher als Prometheus, weil er den Menschen die Politik als Arbeit an den sittlichen Verhältnissen bringt, während die Gabe des Feuers zwar unentbehrlich ist, aber nur zum Überleben beitragen kann. In: A. Arndt, Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003, 25–45, hier 44–45. 44 Wenn die Philosophie die Strukturen des Allgemeinen erfasst, tritt sie am Ort auf, wo Verhältnisse der Freiheit, wenn auch in defizitärer Form, herrschten, aber an der Besonderung, die sie kennzeichnete, zugrunde gingen. Die Philosophie kommt immer post festum, um ihre Zeit in Gedanken zu fassen.

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3 Der Geist in der Zeit Der Geist kommt aus der Gestalt des Objektiven heraus, in der er für sich ist, indem er seine Realität, seine Erzeugnisse als das tätige Wissen von sich begreift und in Beziehung zu seinem Begriff setzt: „in an und für sich seyender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes und seiner Idealität oder seines Begriffs, der Geist in seiner absoluten Wahrheit“ (GW 20, § 385, 383). An den Gestalten des absoluten Geistes, in welchen er sich nur auf sich selbst bezieht, wird die Entwicklung seines Selbstbewusstseins als Freiheit abgelesen. Hegel behält den Begriff des Fortschritts ausschließlich dieser Entwicklung vor, an deren Abschluss in der Moderne der Geist sich selbst als absolut frei fasst. Die Weltgeschichte erweist sich dadurch als umfassende Geschichte der Freiheit, als die Form, in der sich die fortrückende Selbsterfassung des Geistes nachvollzieht. Indes greifen die geschichtlichen Ausprägungen der jeweiligen absoluten Gestalt, Kunst, Religion und Philosophie, in die Realisierung der Freiheit ein, da sie auch Objektivation des Geistes sind. Deshalb kann eine Beziehung zwischen dem Bewusstsein der Freiheit, das sich darin geltend macht und dem jeweiligen Stand ihrer Realisierung hergestellt, der in den objektiven Gestalten erreicht wird. Geschichte im von Hegel intendierten Sinn ist umfassende Weltgeschichte aller seiner objektiven wie absoluten Gestalten, nämlich „die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Aeußerlichkeit“ (GW 14.1, 274). Die Durchführung des Programms bereitet jedoch erhebliche Schwierigkeiten: Zum Einen aufgrund der systematischen Verortung der Weltgeschichte am Ende der Philosophie des objektiven Geistes. Sie kann ihre Funktion nicht erfüllen, da sie doch auch die Partialgeschichten des Absoluten mit einbeziehen sollte. Zum Anderen ist zwar die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Geistes grundlegend für die Rekonstruktion seiner Selbsterfassung, aber aus dem Begriff seiner Gestalten, des Rechts, des Staates, der Kunst, der Religion, der Philosophie, können ihre jeweiligen geschichtlichen Ausprägungen aus einander nicht notwendig folgen.45 Die Geschichtlichkeit des Geistes als sein Prinzip und Wesen kann nichts Zeitliches an sich haben. Sie sollte dagegen die Bestimmungen der Form anbieten, in der sich der Geist in seiner zeitlichen Entfaltung expliziert, d. h. zeitlich indizierte geistige Wirklichkeiten begrifflich so in Beziehung zu einander setzt, dass ein zeitenthobenes Gefüge entsteht.46 Auch

45  Vgl. Walter Jaeschke, Die Vernunft in der Religion, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 288 ff. 46  Siehe die Erwägungen dazu von Walter Jaeschke, „Die Geschichtlichkeit der Geschichte“, in: Hegel-Jahrbuch 1995. Berlin 1996, 363–373. Aus systematischer Sicht wäre zu erwarten, dass die Bestimmungen der Weltgeschichte als formales Gebilde in den knappen Paragraphen §§ 381–386 zur Grundlegung des Geistes dargelegt werden.

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wenn die Verklammerung des Bewusstseins der Freiheit mit deren Realisierung im von Hegel in Anspruch genommenen systematischen Umfang nicht durchführbar oder gar wünschenswert wäre, erhält gerade die Forderung danach die Perspektive offen, in der Hegels Theorie der Zeit als Grundlage einer einheitlichen Fassung zeitlicher Verhältnisse dienen kann. Und nur wenn die Zeitigung von Phänomenen in Natur und Gesellschaft einheitlich erfasst werden kann, könnte von der Ermächtigung der Zeit durch endliche Subjekte sinnvoll die Rede sein. Der Endlichkeit nicht ausgeliefert sein, würde den, theoretisch wie praktisch, vernünftig gestalteten Umgang mit den Zwängen der ersten Natur und den objektiven Möglichkeiten der zweiten implizieren. Das Programm einer logischen Anordnung der Objektivationen des Geistes in der Zeit, die begrifflich organisiert ihre historische Abfolge aufhebt, hat Hegel jedoch nicht eingelöst, obwohl sein Konzept des Geistes im innersten Kern geschichtlich angelegt ist. Denn er hat die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Geistes hat er aus der Entwicklung der Vernunft zu ihrer absoluten, philosophischen Gestalt gewonnen und macht sie zum Programm seiner Philosophie, als er versucht Vernunft und Geschichte ineinander greifen zu lassen. In die Vernunft wäre eine Geschichte hineinzudenken, die nicht bloß rational konstruiert wird, sondern ihr der Zeitbezug nicht äußerlich bleibt. Umgekehrt sollte auch Geschichte nicht historistisch dem Relativismus der Zeiterscheinungen, die unterschiedlich ausfallen können, verfallen, sondern anhand von vernünftigen Strukturen gefasst werden. Wenn der Geist im Wissen von sich in seiner absoluten, vollendeten Gestalten seine Freiheit erlangt, ist es im Ergebnis einer sich in der Zeit vollziehenden Verwirklichung, welcher diese vernünftigen Strukturen zugrunde liegen. So würden die Bildung seiner Formen und Gestalten in der Zeit mit ihrer Erfassung, dem Bewusstsein des Geistes von sich ineinander fallen. Die Bildung des Geistes in der Zeit in eins mit ihrer Erfassung zu denken, verlangt eine allgemeine Geschichte des Geistes anzulegen, die die Geschichte der absoluten Gestalten, Kunst, Religion, Philosophie, und die der objektiven kulturellen, politischen und rechtlichen Ausprägungen umgreift. Im Satz, die „Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit“ (GW 18, 153), verdichtet sich das Programm, geistige Wirklichkeiten im angedeuteten prägnanten Sinn geschichtlich gefasst zur Darstellung zu bringen. Seine Durchführung wird erst dadurch ermöglicht, dass die „Formen in der langen Ausdehnung der Zeit“ und die „ungeheure Arbeit der Weltgeschichte“ (GW 9, 25) die Entwicklung vollbracht haben, an deren Ende der Geist sich in der allgemeinen Form fassen kann, in der er sich als frei weiß. Völlig zu Recht würde die Klärung der Verhältnisse der Freiheit und des Wissen um sie, die sich in der Weltgeschichte ausbilden, mit der Erörterung des geschichtlichen Wesens des Geistes ansetzen, das Hegel zwar entwirft aber nicht hinreichend expliziert. Denn Weltgeschichte sollte sowohl die Partialgeschichte

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der absoluten Gestalten als auch die Realisierungen der Freiheit umgreifen und deren jeweiligen Erscheinungen in der Zeit in Beziehung setzen. Wenn der Geist sich manifestiert, gibt er sich nicht irgendeine Bestimmtheit oder Inhalt, dessen Äußerung oder Äußerlichkeit nur davon unterschiedene Form wäre: „so daß er nicht etwas offenbart, sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst“ (GW § 383, 382). Deshalb wäre die Zeit in der zweiten Natur als Bestimmtheit und Inhalt die von den unterschiedlichen Formen, Anschauung und Vorstellung, erfasste und formierte, aber dann nur als aufgehobenes Sediment des Gewesenen in Form-Inhalt Identität begriffen. In der fortrückenden Realisierung des Geistes in der Weltgeschichte wird die Zeit konkret in der jeweiligen Gegenwart als die realisierte Freiheit und diese Gegenwart wird erst in den absoluten Gestalten als Ewigkeit insofern erfasst, als sie das Bewusstsein des Geistes über sich zum Ausdruck bringen. In seiner wissenden Selbstbeziehung hebt der Geist die Zeitlichkeit auf und ist insofern ewig, als er die Zeit umgreift, d. h. sie in der negativen Einheit des Begriffs aufhebt. Damit ist freilich keine Transzendierung der Zeit gemeint, auch wenn er zeitlos ist. Der Geist entäußert sich zwar in der Zeit, ist aber kein Moment zeitlichen Prozesses, sondern die Totalität des Prozesses selbst (GW 20, § 258). Dies zu begreifen würde für das endliche Subjekt bedeuten, dass es in der eigenen Zeit verorten kann, indem es des Gewesenen innewird und handelnd ihr nicht ausgeliefert ist, sondern in seiner Zwecksetzung die Notwendigkeiten der ersten und zweiten Natur mit einbezieht. Wenn der Geist die Zeit als seine eigene Negativität zu sich zurückführt, ist er Herr der Zeit geworden. In der Form des Denkens hat er schon als endlicher die Voraussetzung dafür geschaffen, dass er sich weltgeschichtlich fasst. Sich der Zeit zu ermächtigen bedeutet in der jeweiligen Gegenwart, sich zum Jetzt theoretisch wie praktisch so zu verhalten, dass es konkret wird als das Resultat der Vergangenheit und trächtig von der Zukunft. Die Ewigkeit ist die Wahrheit dieser konkreten Gegenwart, die sich in den selbstbezüglichen Verhältnissen des absoluten Geistes artikuliert. Sie wäre die dadurch erfüllte Gegenwart, dass alle Vermittlung darin eingeholt und die Zeit getilgt wird, die der begriffenen Geschichte nach dem Programm der Phänomenologie des Geistes entsprechen würde. Eine solche erfüllte Zeit wäre die mit Vernunft gesättigte Zeit, in der der Begriff der Freiheit im Bewusstsein gewonnen wird. Hegels geistphilosophisches Modell der Zeit macht deutlich, dass die Ermächtigung der Zeit nur anhand von begrifflichen Verhältnissen, die ihrerseits durch die selbstbezügliche Struktur des Geistes vermittelt werden können, möglich ist. Wenn die menschliche Subjektivität ihre freie Entfaltung in Anspruch nimmt, zeigen die Dispositive des subjektiven Geistes, dass sie ihre Erfahrung von und mit der Zeit als dem daseienden Begriff – der eigenen Endlichkeit – durch die Aneignung der Voraussetzungen, die die Freiheit möglich gemacht oder gehemmt haben, zu begreifen hat.

Christoph J. Bauer

Selbsterzeugung des Menschen? Zur Dialektik der Gleichheit bei Hegel und Marx

Marx wurde gelegentlich vorgeworfen, er habe sich in seinen Frühschriften  – insbesondere aber in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten  – und zwar unter dem Einfluss von Feuerbach  – an ‚Anthropologie‘ orientiert. ‚Anthropologie‘ wird hier als Maß dafür verstanden, was den Menschen als ‚Gattungswesen‘ zwar an sich ausmache, was er dann durch die Prozesse der Entfremdung verloren habe, und was es nun zurückzugewinnen gelte. Die Bestimmungen der ‚Anthropologie‘ werden in dieser Lesart zu Bestimmungen einer Substanz, die  – durch den Gang der Geschichte von Zerstörung bedroht  – nur durch eine revolutionäre ‚Negation der Negation‘ in ihrer Ursprünglichkeit wiederhergestellt werden kann. Auf der anderen Seite findet sich in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten jedoch eine Formulierung, die in Bezug auf Anthropologie ein anderes Programm vermuten lässt: Es ist dies die Formulierung von der „Selbsterzeugung des Menschen“1 – und diese Formulierung impliziert, dass es zwar durchaus Sinn macht, in Bezug auf den Menschen von einem Ansich zu sprechen, dass dieses Ansich aber nicht etwas ist, das es zurückzugewinnen gilt. Es stellt vielmehr lediglich den Ausgangspunkt und Möglichkeitsraum dar für etwas, das künftig erst zu verwirklichen ist – nämlich den Menschen: und dieses Programm gilt es dann als optimistisches Programm des Fortschritts durch die Prozesse der Entfremdung hindurch zu verwirklichen. An dieser Stelle soll nun behauptet werden: 1. Dass es hinsichtlich des im zuletzt genannten Sinne verstandenen Programms einer ‚Selbsterzeugung des

1 Karl Marx, Schriften und Briefe November 1837–August 1844, MEW 40, 574: „Das Große an der Hegelschen ‚Phänomenologie‘ und ihrem Endresultate  – der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip  – ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung und Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die Betätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d. h. als menschlichen Wesens, ist nur möglich dadurch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte – was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte – herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist.“

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 Christoph J. Bauer

Menschen‘ eine eindeutige Parallele zwischen der Marxschen und der Hegelschen Auffassung gibt. 2. Dass es beiden Denkern um einen allgemeinen ‚Begriff des Menschen‘ zu tun ist, der in der je individuellen Ausformulierung jedoch einseitig bleibt, und der daher  – soll ein solcher ‚Begriff des Menschen‘ heute noch sinnvoll diskutiert werden  – wechselseitig durch die Position des jeweils anderen Denkers ergänzt werden muss. 3. Dass die Bemühungen einer wie auch immer verstandenen Anthropologie nicht hinreichen, den Begriff des Menschen vollständig zu bestimmen. 4. Dass für Hegel explizit und für Marx implizit der Maßstab für einen solchen ‚Begriff des Menschen‘ nur aufgrund der Voraussetzung entwickelt werden kann, dass das, was der Mensch sein soll, schon in dessen Sein angelegt sein muss. Orientierungspunkt für beide Denker hinsichtlich des hier zur Bestimmung anstehenden Begriffs des Menschen bleibt  – was ja auch nicht verwunderlich ist – die Deklaration der Menschenrechte durch die Französische Revolution, die Orientierung an ‚Freiheit‘, Gleichheit‘, ,Brüderlichkeit‘. Beide Denker erkennen, jeder auf seine Weise, recht schnell, dass es mit der Deklaration dieser Begriffe nicht getan ist, dass alle drei Begriffe vielmehr in sich dialektisch verfasst sind, und diese dialektische Struktur einer näheren Bestimmung bedarf. Geschieht dies nicht, so lässt sich beispielsweise der Begriff der Freiheit – wie Hegel feststellt – aus interessierter Perspektive ohne weiteres auf Willkür oder – wie Marx bemerkt  – auf Vertragsfreiheit reduzieren. Beide Formen von Freiheit schlagen aber im Falle solcher Vereinseitigung potentiell in Unfreiheit um  – die Willkür (nach Hegel), weil sie letztlich auf Natur gründet, die Vertragsfreiheit (nach Marx), weil sie aus der Notwendigkeit des Kapitalverhältnisses erwächst. Sowohl Hegel als auch Marx leisten somit gegenüber der einfachen Proklamation der genannten Begriffe etwas, das später – wiederum im Anschluss an Marx – Ideologiekritik genannt wurde; ein Mittel, das aber in der Tat unerlässlich ist, der auch aktuell wieder vernehmbaren leeren Beschwörung dieser Begriffe oder ihrer ebenso unbegründeten Zurückweisung entgegenzutreten. Um die Dialektik dieser Begriffe und ihre Bedeutung in der Geschichte – verstanden als ‚Selbsterzeugung des Menschen‘  – deutlich zu machen, soll in der Folge nur vom Begriff der Gleichheit die Rede sein, der meiner Ansicht nach allerdings heute deshalb von größerer Bedeutung ist als derjenige der Freiheit, weil er erneut zu einem der primären Gegenstände politischer Auseinandersetzungen geworden ist.

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1 Die Behauptung, es gäbe eine Parallele zwischen dem Marxschen Programm einer ‚Selbsterzeugung des Menschen‘ und Hegels diesbezüglicher Auffassung, kann kaum überraschen, weil Marx seine Auffassung ja unter ausdrücklichem Bezug auf Hegels Phänomenologie des Geistes gewinnt. Dergleichen zu behaupten scheint aber auch deshalb nicht sehr gewagt, weil Hegels Gedanke eines ‚Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit‘ durchaus mit guten Gründen im Sinne einer solchen ‚Selbsterzeugung des Menschen‘ interpretiert werden kann. Jedoch lässt sich diese Behauptung auch durch den Verweis auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes untermauern, in denen er auf die Frage, „was ist die Bestimmung des Menschen? d. h. was soll er sein?“, den Nachschriften zufolge geantwortet hat: „er soll sich zu dem machen wie er an und für sich bestimmt ist“. Bestimmt ist der Mensch aus Hegels Sicht aber in der Hauptsache als Geistwesen und die „That, das Werk, die Bestimmung des Geistes ist dann: sich zu befreien.“ Die „Stufenfolge der Thätigkeit wodurch der Mensch sich befreit“, ist es, was Hegel dann in seiner Anthropologie zu betrachten gedenkt.2 Hinsichtlich dieser Formulierungen ist folgendes festzuhalten: 1. Hegel bezieht hier die Tätigkeit des Menschen und diejenige des Geistes in einer Weise aufeinander, die offensichtlich werden lässt, dass auch aus Hegels Sicht die Menschen ihre Geschichte selbst machen.3 2. ist mit der Bezeichnung „der Mensch“ durch Hegel ein allgemeiner Begriff des Menschen gesetzt. Der ‚Mensch‘ in seiner Allgemeinheit ist dann mit der Grundbestimmung des Geistes, der Freiheit, zu identifizieren (er ist ansich immer schon frei) und ‚der Mensch‘ ist, was seine Geschichte betrifft, mit einer Mission, mit einem ‚Sollen‘ ausgestattet: er soll sich zu dem machen, was er an sich immer schon ist. 3. Indem durch Hegel auf diese Weise ein Allgemeinbegriff Mensch4 eingeführt wird, ist bereits – vor jeder möglichen Einschränkung – der Begriff der Gleichheit gesetzt: Sofern ein Wesen zur Gattung Mensch gehört, kommt ihm an sich die Freiheit als erste Bestimmung

2 G.  W.  F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Subjektiven Geistes, hg.  v. Christoph J. Bauer, Nachschriften zu dem Kolleg des Wintersemesters 1827/28 und Sekundäre Überlieferung, Hamburg 2011 (GW 25, 2), 559 f. Vgl. dazu die Variante aus der Nachschrift Erdmann: „Der Mensch soll sich hervorbringen aber er kann sich zu nichts anderm machen, kann keinen anderen Zweck haben, als was er ursprünglich an sich ist. das was er an sich ist ist was man Anlage heißt; die Natur des Geistes ist was er ist hervorzubringen zur Manifestation, Offenbarung, zum Bewußtsein zu bringen. So ist seine Bestimmung sich zu dem zu machen was er an sich ist.“ (Ebd.) 3 Vgl. das Zitat in der Anm. 1. 4 Vom „Allgemeinbegriff Mensch“ spricht Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, Frankfurt/Main u. a. 2000, 375–403

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und die Teilhabe an jenem Prozess der Verwirklichung des Ansich wesentlich, d. h. in gleicher Weise, zu: Sind alle Menschen immer schon an sich frei, so sind sie in dieser Hinsicht auch immer schon an sich gleich. 4. Indem Hegel das Programm seiner Wissenschaft des subjektiven Geistes mit dem Programm seiner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte verbindet, widerspricht er jenen Tendenzen des 19. und 20. Jahrhundert, die darauf ausgerichtet waren, die Anthropologie „mit Einschluß der Physiologie[,] zu Universalwissenschaft“5 zu erheben, sowie jener Auffassung von Anthropologie, die die Natur des Menschen als immer gleiche versteht.6 5. Indem Hegel – an die oben zitierte Formulierung seines Programms für den subjektiven Geist unmittelbar anschließend – behauptet, dass in dem Augenblick, in dem der Mensch „frei geworden“ ist, „der objective Geist, der Begriff des Rechts, der Sittlichkeit“ beginnt, macht er eine spezifische Voraussetzung  – nämlich die, dass sich die Sphäre des objektiven Geistes – zumindest in der von Hegel entwickelten Gestalt – erst dann herausbilden kann, wenn der Mensch seine Geschichte soweit durchlaufen hat, dass er zum Bewusstsein seiner Freiheit gekommen ist, der Mensch sich also bereits zu dem gemacht hat, was er an sich immer schon war. Die eingeforderte Tätigkeit des Menschen zumindest in dieser Hinsicht ist dann nicht mehr notwendig – was insofern auch auf den Begriff der Gleichheit zutreffen müsste, da dieser ja als Implikation jenes Befreiungsprozesses zu verstehen ist. Und in der Tat lässt sich die These vertreten, daß Hegel mit seinem hauptsächlich in der Anthropologie entwickelten Programm jene Aspekte herausarbeitet, die notwendig sind, um die Gleichheit  – zumindest im soeben genannten Sinne  – als eine wesentliche Bestimmung des Menschen herauszustellen. Neben der schon genannten Bestimmung ‚Freiheit‘, die allen Menschen zukommt, kommt ihnen auch die Bestimmung ‚Gleichheit‘ zu. ‚Gleichheit‘ ist wie ‚Freiheit‘ eine Kategorie, die dem Geist zukommt, nicht aber der Natur. Von daher lässt sich folgern, dass der Umstand, dass die Menschen auch eine Seite an sich haben, nach der sie ungleich sind, nur von deren Naturseite herrühren kann, die aber – jedenfalls nach dem Verständnis Hegels – der Geistseite nachgeordnet ist. Der Geist unterscheidet sich demnach also auch dadurch wesentlich von der Natur, dass ihm die Bestimmungen Einheit und Gleichheit zukommen, wohingegen das Merkmal der Natur das „Aussereinander“ ist. Mit der Einsicht, dass alle Menschen – selbst wenn sie aufgrund von

5 Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. Werner Schuffenhauer. Bd 9. Kleinere Schriften II (1839–1846). § 55. 337. 6 Vgl. Christoph J. Bauer, „Eine ‚Degradierung der Anthropologie‘? Zur Begründung der Herabsetzung der Anthropologie zu einem Moment des subjektiven Geistes bei Hegel“, in: HegelStudien 43, Hamburg 2009, 34 f.

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Krankheit schwere Defizite erleiden – geistige Wesen sind, ist darüber hinaus verbunden, dass alle Menschen denkende Wesen sind und Anteil an der Vernunft haben, wobei ‚Vernunft‘ hier zunächst als das Vermögen gefasst wird, von der blinden Notwendigkeit der Natur zu abstrahieren. Die ‚Macht des Geistes‘ besteht also darin, die durch das sinnliche Bewusstsein zunächst nahegelegte ‚Substantiierung‘ der natürlichen Unterschiede zu überwinden.7 Obwohl Hegel dies – soweit mir bekannt ist – nirgends auf diese Weise formuliert, ist nach dem Gesagten offenkundig, dass für ihn nach dem Durchgang durch den subjektiven Geist mit dem Aufweis der wesentlichen Bestimmungen des Menschen auch das Wesentliche zum Thema ‚Gleichheit‘ gesagt ist. Mit Hegels hier skizzierter Bestimmung des Menschen ist mit Blick auf die demgegenüber reaktionären Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und 20. Jahrhunderts ein Standpunkt erreicht, von dem aus sich eine wirkungsvolle Kritik an der verhängnisvollen Orientierung an den natürlichen Differenzen des Menschen formulieren lässt – und dieses Verdienst der Hegelschen Anthropologie ist gar nicht genug hervorzuheben.8 Für die Sphäre des objektiven Geistes kann nun vorausgesetzt werden, dass die im subjektiven Geist entwickelte universelle Gleichheit aller Menschen als Geistwesen historisch auch zur allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz führen musste. Jeder weiteren Orientierung an Gleichheit in der Sphäre des objektiven Geistes erteilt Hegel – wie gleich näher ausgeführt wird – jedoch eine eindeutige Absage. An dieser Stelle scheint sich dann – nach landläufiger Vorstellung – aber genau jene Differenz aufzutun, welche die Hegelsche Philosophie von derjenigen von Marx trennt. Denn, indem Marx den Bereich des objektiven Geistes als denjenigen erkennt, in welchem die Gründe für die eklatante Ungleichheit zwischen den Menschen zu suchen sind, die sich in der Hauptsache in der Zugehörigkeit zu verschiedenen gesellschaftlichen Klassen artikuliert, wird sein Programm ja zumeist als eines der Überwindung dieser gesellschaftlichen Ungleichheiten verstanden. Und so wundert es zunächst nicht, wenn Marx die bürgerliche Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hinsichtlich ihrer Wirklichkeitsformen recht zynisch kommentiert: „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warentausches [ist] in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und

7 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Subjektiven Geistes, hg. v. Christoph J. Bauer, Bd. 25,1, Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1822 und 1825, Hamburg 2008 (GW 25, 1), 11. 8 Zu diesem Verdienst hinzuzuzählen ist noch der Begriff der ‚Bildung‘, die Hegel zufolge ebenfalls nicht an den natürlichen Unterschieden der Menschen ausgerichtet sein darf, sondern dazu dienen muss, zunächst die allgemeinen Möglichkeiten jedes Menschen zu entwickeln, bevor es um die Ausbildung der individuellen Besonderheiten zu tun ist.

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Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z. B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. […] Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen“9, also – so lässt sich hinzufügen – die Macht ihrer Unterschiede. Die Sphäre des objektiven Geistes ist es demnach, in der sich die Natur mit ihren Besonderheiten letztlich doch durchzusetzen scheint.

2 Obwohl soeben behauptet wurde, Marx werde gemeinhin als ein Kritiker der gesellschaftlichen Ungleichheit verstanden, geht jedoch aus der soeben zitierten bitter realistischen Beurteilung der gesellschaftlichen Situation in Bezug auf die Leitbegriffe der Französischen Revolution hervor, dass es aus seiner Sicht im Gegenteil durchaus richtig sei, wenn man sagt, diese Prinzipien hätten sich allgemein durchgesetzt – wenn auch auf eine Weise, die nicht begrüßenswert ist. Der Gleichheit kommt in der Aussage von Marx allerdings eine primäre Bedeutung zu, weil nur die Gleichheit vor dem Gesetz die Möglichkeit eröffnet, Verträge (d.  h. auch Arbeitsverträge) abzuschließen; darüber hinaus ist der Begriff des Äquivalententausches von entscheidender Bedeutung für die Stabilität der sich allgemein durchsetzenden Wirtschaftsweise. Alle Marktteilnehmer, gleichgültig welche Ware sie handeln, haben sich an die im Vertrag geschlossenen Vereinbarungen zu halten – d. h. sie erkennen implizit oder explizit die Gleichwertigkeit der getauschten Waren an. Was Marx in seinem Statement zum Ausdruck bringt ist aber auch, dass aus seiner Sicht die Proklamation der Menschenrechte in der Rückschau letztendlich keinem anderen Ziel diente, als dem, Ermöglichungsbedingung der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu sein. Das gleiche Recht muss überall und für jeden gelten  – ansonsten müssen die Produzenten bzw. die Händler von Waren damit rechnen, dass ihnen dieselben geraubt werden  – was nicht in ihrem Interesse sein kann. Die Menschenrechte sind so gesehen kein Selbstzweck, sie dienen vielmehr den Interessen derjenigen, die von den Verhältnissen profitieren. Aus diesem Grunde muss ihr Geltungsbereich aber auf den aus der Perspektive der an den genannten Verhältnissen Interessier-

9 Karl Marx, Das Kapital, Bd 1, MEW 23, 189 ff.

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ten notwendigen Bereich eingeschränkt werden – und Hegel scheint ja, wie wir gleich sehen werden, in der Tat für eine solche Einschränkung in Bezug auf den Geltungsbereich des Begriffs der Gleichheit zu plädieren. Ob und inwiefern Marx dann das Gegenprogramm einer neuerlichen Ausweitung dieses Geltungsbereiches vorträgt, soll im Anschluss an die Darstellung des Hegelschen Einschränkungsprogramms erörtert werden. Sowohl in § 49 als auch in § 200 der Grundlinien der Philosophie des Rechts10 sowie in der Anmerkung zum §  539 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830)11 kritisiert Hegel die zeitgenössischen Forderungen, den Geltungsbereich von Gleichheit über die Gleichheit vor dem Gesetz hinaus auszuweiten. Die oben angesprochene ‚Macht des Geistes‘ artikuliert sich in der Fähigkeit, die Herrschaft der Gesetze zu etablieren, die jeden Bürger in gleicher Weise auf deren Geltung verpflichtet, jedoch erfordert aus Hegels Sicht schon die Aufrechterhaltung des Rechtszustandes eine notwendige Ungleichheit von „regierenden Gewalten und von Regierten.“12 Wichtig ist ihm auch, deutlich zu machen, dass die Naturrechtstradition von falschen Voraussetzungen ausgeht: Die Menschen sind nicht von Natur aus gleich, gleich sind sie nur, weil der Geist in der Lage ist, begrifflich zu fassen, in welcher Hinsicht sie gleich sind. Während Menschen aufgrund ihrer naturgegebenen Unterschiede in den Kampf auf Leben und Tod geraten, zeigen sie sich aufgrund der ihnen gemeinsamen Vernunft in der Lage, diesen Kampf in Anerkennungsverhältnissen aufzuheben, die sich wiederum als Staat manifestieren: Erst durch die Herausbildung dieser zweiten Natur wird es möglich, die verschiedenen Menschen jenem Allgemeinen zu subsumieren, in Bezug auf das einzig der Rückfall in den Naturzustand – d. h. den Zustand der Ungleichheit – verhindert werden kann. Hegel versteht die Durchsetzung staatlicher Strukturen von daher nicht – wie es in der liberalen und der anarchistischen Tradition der Fall ist  – als Mittel der Beschränkung von Freiheit, sondern als notwendige Bedingung zur Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit. Resultat des gerade genannten Kampfes um Anerkennung ist jedoch nicht nur der Staat, sondern auch der Begriff der Person: „die abstrakte Bestimmung der Persönlichkeit“ macht ihm zufolge „die wirkliche Gleichheit der Menschen aus.“13 Bedenkt

10 G. W. F. Hegel, Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann Berlin, Hamburg 2009 (GW 14, 1), 60, 169 f. 11 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), unter Mitarbeit von Udo Rameil hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992 (GW 20), 509–513. 12 GW 20, 509. 13 GW 20, 510

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man, dass der Begriff der Person bei Hegel wesentlich verknüpft wird mit dem Begriff des (Privat-)Eigentums, so erscheint diese Behauptung zunächst als eine Provokation angesichts der jeweils realen Eigentumsverhältnisse. Jedoch ist es Hegel wichtig, darauf zu verweisen, dass es auf dieser Ebene zunächst nicht darum geht, wie das jeweilige Eigentum quantitativ bemessen ist, sondern um den historisch gesehen qualitativen Fortschritt, demzufolge jeder Mensch über Eigentum verfügen muss, soll er Person sein – so dass auch diesbezüglich eine gewisse ‚Gleichheit‘ vorherrschen muss. Kritik an den Verhältnissen innerhalb eines Staates wäre demnach erst dann zu üben, wenn nicht jeder Mensch über (Privat-)Eigentum verfügen würde.14

14 Es wäre zu diskutieren, ob aufgrund der starken Bindung des Begriffs der Person an den Begriff des Eigentums in der Hegelschen Eigentumstheorie geschlossen werden kann, dass „derjenige, der kein Eigentum hätte, auch nicht Person sein könnte“ (Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart und Weimar 2003, 378), Hegel somit den Eigentumslosen den Status der Person im vollen Sinne abgesprochen habe, wie auch Kant das im § 46 der Metaphysik der Sitten getan hat. Zwar ist zunächst gegenüber einer solchen Auffassung der Hinweis sachlich richtig, dass die Person bei Hegel nicht erst durch das Eigentum konstituiert ist, sondern „durch diejenige Selbstbeziehung, die aus der Abstraktion von aller Bestimmtheit resultiert: daß Persönlichkeit Freiheit ist, und aus dieser Freiheit erst die Notwendigkeit der Objektivierung in einer äußeren Sphäre folgt  – und nicht etwa umgekehrt aus dem Eigentum die Persönlichkeit“ (ebd.), jedoch lässt Hegels Bestimmung, dass das Eigentum aus der „Notwendigkeit der Objektivierung“ der Persönlichkeit in einer „äußeren Sphäre“ resultiere (Hegel: „Die Person muß sich eine äußre Sphäre ihrer Freyheit geben, um als Idee zu seyn“; GW  14,1. 55, §  41), sehr wohl auch einen anderen Schluss zu. Dieser läuft darauf hinaus, dass diejenigen, die daran gehindert werden, Eigentum zu erwerben (bzw. deren Eigentum von anderen geraubt oder auf andere Weise weggenommen wird), auch dran gehindert werden, dieser Notwendigkeit der Objektivierung nachzukommen, da ihr Wille auf diese Weise „kein Dasein seiner Freiheit“ hat, seine Freiheit ‚unwirklich‘ bleibe, so dass die von einer solchen Situation Betroffenen letztlich eine Form von Gewalt erleiden und darüber hinaus aufgrund ihrer Eigentumslosigkeit gezwungen sind, ihren Körper (bzw., nach Marx, die aus ihren körperlichen Fähigkeiten resultierende „Ware Arbeitskraft“) zu verkaufen, d. h., sich dem Willen anderer zu unterwerfen – und somit selbst zur Sache zu werden. In diesem Zusammenhange wäre zu hinterfragen, welche Bedeutung jener Ausweg der Reduktion der Bestimmung der Person auf die „Selbstbeziehung, die aus der Abstraktion von aller Bestimmtheit resultiert“ hinsichtlich einer solchen prekären Situation der eigentumslosen ‚Person‘ noch hat, ob demgegenüber nicht unter Betonung der Bestimmung der „Notwendigkeit der Objektivierung“ der Person vielmehr der in dieser Bestimmung liegende kritische Impetus des Hegelschen Eigentumsbegriffs hervorzuheben wäre. Deutlich uasgesprochen findet sich die Konsequenz aus Hegels Eigentumstheorie in der Nachschrift Griesheim zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie des Rechts: „Insofern sie [die Person] dieß [Privateigentum] nicht besitzt, ist ihre Freiheit als Person nicht realisirt.“ (Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, hg. v. Klaus Grotsch, Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1824/25 und 1831, Hamburg 2015 (GW 26, 3), 1146.

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Nachdem Hegel bis hierher die allgemeinen Aspekte hinsichtlich der Gleichheit in einem modernen Staate geklärt hat, scheint er tatsächlich an einem Punkt angekommen, über den hinaus die weitergehende Ausdehnung der Gleichheit zurückzuweisen ist: „Aber in Rücksicht auf das Concrete sind die Bürger außer der Persönlichkeit vor dem Gesetze nur in dem gleich, worin sie sonst außerhalb desselben gleich sind. Nur die sonst, auf welche Weise es sey, zufällig vorhandene Gleichheit des Vermögens, des Alters, der physischen Stärke, des Talents, der Geschicklichkeit usf. oder auch der Verbrechen usf. kann und soll eine gleiche Behandlung derselben vor dem Gesetz – in Rücksicht auf Abgaben, Militärpflichtigkeit, Zulassung zu Staatsdiensten usf. – Bestrafung usf. – im Concreten rechtfertigen. Die Gesetze selbst, außer insofern sie jenen engen Kreis der Persönlichkeit betreffen, setzen die ungleichen Zustände voraus und bestimmen die daraus hervorgehenden ungleichen rechtlichen Zuständigkeiten und Pflichten.“15 Indem der Rechtszustand die ungleichen Zustände Hegel zufolge voraussetzt, sanktioniert er implizit auch die soziale Ungleichheit – zumindest bis zu der schon genannten Grenze, wo sie zum Verlust des Person-seins führt. Hegel folgt hier offensichtlich dem seit der Antike relevanten relativen Gleichheitsbegriff, demzufolge Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll. Von der ausgleichenden Gerechtigkeit moderner Sozialstaatlichkeit ist zumindest an dieser Stelle nicht die Rede. Obwohl Hegel doch die Gleichheit auf das Gebiet der Rechtsgleichheit beschränkt und bezüglich der Anwendung der Gesetze dem relativen Gleichheitsgrundsatz folgt, verschließt er nicht die Augen vor den Ergebnissen der historischen Entwicklung; er sieht, dass das Prinzip der Rechtsgleichheit offensichtlich in soziale Ungleichheit umschlägt: „Im Gegenteil ist zu sagen, daß eben die hohe Entwicklung der modernen Staaten die höchste konkrete Ungleichheit der Individuen in der Wirklichkeit hervorbringt“16  – und er sieht, daß die bürgerliche Gesellschaft „bei allem Reichtum nicht reich genug“ ist, die Entstehung von Armut zu verhindern.17 Gleichwohl scheint folgende Bemerkung aus dem §  49 der Grundlinien auszuschließen, dass gegen die soziale Ungleichheit vorgegangen wird. Hegel bezeichnet ‚Gleichheit‘ hier plakativ als die „abstracte Identität des Verstandes“, auf welche „das reflectirende Denken und damit die Mittelmäßigkeit des Geistes überhaupt, zunächst verfällt, wenn ihm die Beziehung der Einheit auf einen Unterschied vorkommt“.18  – Allerdings muss man

15 GW 20, 510. 16 GW 20, 511. 17 GW 14, 1, 194 (§ 245). 18 GW 14, 1, 60 (§ 49 Anm.).

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zunächst sehen, welche Begründung er für die Sichtweise der Grundlinien liefert und worauf sie sich bezieht: Für Hegel bleibt entscheidend, dass die im abstrakten Recht verhandelte Gestalt der ‚Gleichheit‘ allein auf die Gleichheit „abstrakter Personen“ gerichtet ist. Der „Boden der Ungleichheit“ sei dagegen die „Natur in ihrer unendlichen Besonderheit und Verschiedenheit“, von der im hier verhandelten Zusammenhang jedoch abstrahiert wird: „Von einer Ungerechtigkeit der Natur über ungleiches Austheilen des Besitzes und Vermögens“ kann daher für Hegel schon deshalb nicht gesprochen werden, weil die Natur „nicht frey, und darum weder gerecht, noch ungerecht“ ist.19 Insofern lässt sich an dieser Stelle durchaus folgern: ‚Der Geist aber sehr wohl!‘ – und so zeigt ja auch der weitere Durchgang durch die Grundlinien und die Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, dass Hegel sich in der Tat Gedanken macht, wie dem Auseinanderfallen der Gesellschaft unter den Bedingungen der neuen bürgerlichen Wirtschaftsordnung entgegenzuwirken sei20 – nur ist für ihn das abstrakte Recht der falsche Ort für dieses Thema: Er bleibt dabei, dass das Recht sich eben dadurch auszeichne, dass es „gleichgültig gegen die Besonderheit“ bleiben müsse – also auch gegenüber der Besonderheit eines zufälligen Besitzes. Im § 200 der Grundlinien kritisiert Hegel die Forderung nach Gleichheit hinsichtlich des individuellen Anteils am Vermögen einer Volkswirtschaft jedoch abermals – und hier befinden wir uns ja nicht mehr in der Sphäre des abstrakten Rechts. Diesmal verweist er allerdings auf die Unhintergehbarkeit der Gesetze der zu seiner Zeit vorherrschenden Gesellschaftsformation „bürgerliche Gesellschaft“ und bezeichnet die Forderung nach ‚Gleichheit‘ deshalb als „abstrakt“, weil die „von der Natur“ gesetzte Ungleichheit konstitutives Moment dieser Gesellschaftsformation sei. Hegel betont, dass in der bürgerlichen Gesellschaft das „in der Idee enthaltene[] objective[] Recht[] der Besonderheit des Geistes, […] die von der Natur […] gesetzte Ungleichheit der Menschen“ nicht nur nicht aufgehoben hat, sondern dass sie vielmehr im Gegenteil „aus dem Geiste producirt [wird], sie zu einer Ungleichheit der Geschicklichkeit, des Vermögens und selbst der intellektuellen und moralischen Bildung“ zu erheben. Für Hegel behält diese „Sphäre der Besonderheit, die sich das Allgemeine einbildet, […] in dieser nur relativen Identität mit demselben eben so sehr die natürliche als willkürliche Besonderheit, damit

19 Ebd. 20 Im ‚Zusatz‘ zum Paragraphen 49 findet sich erneut die Bemerkung, zwar sei es gemäß der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft illusorisch, Gleichheit hinsichtlich der Verteilung der Güter einzuführen, jedoch erfordere das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft gleichwohl, dass „jeder Eigentum haben solle“. Sofern dies gewährleistet sei, habe das Recht keinen Grund einzuschreiten. Siehe TWA 7, 114.

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den Rest des Naturzustandes in sich“ – und soll ihn offensichtlich auch behalten.21 Hegels Verhältnis zu diesem „Rest des Naturzustandes“ bleibt allerdings ambivalent: zum einen hofft er, dass die im „Systeme menschlicher Bedürfnisse und ihrer Bewegung immanente Vernunft“ dafür sorgt, das System der Bedürfnisse „zu einem organischen Ganzen von Unterschieden“ zu gliedern. Indem er aber darauf verweist, dass die hier herrschende Ungleichheit durch „zufällige Umstände bedingt“ sei  – etwa die „unmittelbare eigene Grundlage, (Kapital)“ oder die „ungleichen natürlichen körperlichen und geistigen Anlagen“22  – und damit auf „Willkühr“ beruhe, ‚Willkür‘ jedoch bekanntlich nach Hegel in einen umfassenderen Begriff von ‚vernünftiger‘ Freiheit aufzuheben ist, bleibt der Weg für die ‚Macht des Geistes‘ prinzipiell offen, auch dem hier angesprochenen „Rest des Naturzustandes“ gegebenenfalls Beschränkungen entgegenzusetzen. Eins ist immerhin klar: Hegels Programm in den Grundlinien ist darauf ausgerichtet, der bürgerlichen Gesellschaftsordnung inklusive ihrer immanenten Ungleichheit zu Stabilität zu verhelfen, jedoch ist es ihm nicht darum zu tun, diese Gesellschaftsordnung bzw. den ‚Rechtszustand‘ zu überwinden. An dieser Stelle setzt nun die Marxsche Kritik ein – und diese Kritik ist, ohne dass dessen Position hier explizit genannt wird, grundsätzlich auf den bürgerlichen Eigentumsbegriff gerichtet, wie er auch bei Hegel entwickelt wird. Marx formuliert seine Kritik am bürgerlichen Eigentumsbegriff jedoch gerade nicht auf der Basis der von Hegel zurückgewiesenen Forderung nach mehr (sozialer, ökonomischer) Gleichheit. Vielmehr behauptet Marx, dass dieser Eigentumsbegriff sich – anders als Hegel glaubt – gar nicht in dem Sinne durchgesetzt hat, dass nun jeder Mensch Person sei und über Eigentum verfüge, das er sich durch eigene Arbeit angeeignet hat, weshalb aber auch die Voraussetzung der formellen Rechtsgleichheit nach Marx gar nicht gegeben ist: Die wesentliche Grundlage der neuen Gesellschaftsformation ist für ihn von daher nicht das formal gleiche Recht und der Begriff der Person, sondern vielmehr die reale Spaltung der Gesellschaft in Kapital und Arbeit – d. h. in Kapitalbesitzer und Menschen, die allein über eine einzige Ware verfügen, die noch dazu mit ihrem eigenen Körper identisch ist, nämlich die Ware ‚Arbeitskraft‘. Diesen „dialektischen Umschlag“ des bürgerlichen Eigentumsbegriffs beschreibt Marx folgendermaßen: „Ursprünglich erschien uns das Eigentumsrecht gegründet auf eigne Arbeit. Wenigstens mußte diese Annahme gelten, da sich nur gleichberechtigte Warenbesitzer gegenüberstehen, das Mittel zur Aneignung fremder Ware aber nur die Veräußerung der eignen Ware, und letztere nur durch Arbeit herstellbar ist. Eigentum erscheint jetzt [d. h. im Unterschied zu der Annahme,

21 GW 14, 1. 170 (§ 200, Anm.). 22 Ebd. 169 f (§ 200).

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das Eigentumsrecht gründe auf eigener Arbeit [C. J. B]] auf Seite des Kapitalisten als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite des Arbeiters als Unmöglichkeit, sich sein eignes Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging.“23 Diese grundsätzliche Spaltung der Gesellschaft in Kapital und Arbeit ist aber aus der Sicht von Marx weder durch das Recht noch durch sozialstaatliche Maßnahmen zu überwinden, da sie konstitutiv für diese Gesellschaftsordnung – ja der Garant ihres wachsenden Reichtums ist, der vom Begriff her notwendig nur auf der Seite des Kapitals angehäuft wird. Für Marx handelt es sich beim bürgerlichen, nur auf die Sphäre des Rechts ausgerichteten, Gleichheitsanspruch aus diesem Grund um eine Form der Ideologie, die  – bewusst oder unbewusst – dazu dient, die genannte fundamentale Spaltung der Gesellschaft zu überdecken. Für Marx ist die Forderung nach Gleichheit von daher aber – wenn auch aus anderen Gründen – ebenfalls keine Option für diejenigen, die für eine neue Gesellschaftsordnung streiten – was aus seiner Sicht gefordert ist, ist vielmehr ein neuer Eigentumsbegriff, der nicht mehr am ‚Privateigentum‘, sondern an einem „individuellen Eigentum“ orientiert ist, das „auf der Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel“ gegründet sein soll.24 Dass die Orientierung an ‚Gleichheit‘ aus seiner Sicht falsch ist, wird insbesondere in seiner Kritik des Gothaer Programms deutlich, wo er der sich konstituierenden deutschen Sozialdemokratie vorwirft, sie bleibe dem unangemessenen bürgerlichen Gleichheitsbegriff verhaftet und begreife nicht dessen dialektische Tücken. Aus Marx’ Sicht ist das gleiche Recht der bürgerlichen Gesellschaft letztlich nur ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder Arbeiter nur ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher die Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedene Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z. B. im gegebenen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts an ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfond

23 MEW 23, 610 f. (Hervorhebungen C. J. B.). 24 Ebd., 791.

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erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.25

Für Marx kann eine Gesellschaftsformation, die geeignet ist, die Mängel der bürgerlichen zu überwinden, also nur eine solche sein, welche die Menschen entsprechend ihrer natürlichen und sozialen Ungleichheit behandelt, wo – wie im Zitat ausdrücklich gefordert  – den Einzelnen entsprechend ihrer individuellen Verhältnisse der jeweilige Anteil am gesellschaftlichen „Konsumtionsfond“ zuteil wird.

3 Vom Standpunkt der Hegelschen Logik des Begriffs aus betrachtet, kann ein Gegenstand in seinem Wesen nur anhand eines apodiktischen Urteils gemessen werden. Alle übrigen Urteilsformen weisen den Gegenständen nur äußerliche Prädikate zu. Aus einem apodiktischen Urteil leitet sich jedoch mit Notwendigkeit jenes Sollen ab, das auf die Verwirklichung des Ansich des jeweiligen Gegenstandes gerichtet ist. Für Hegel trifft das Urteil: ‚Der Mensch als Mensch ist frei‘ in diesem Sinne das Wesen des Menschen, weshalb in dieser Hinsicht auch alle Menschen als gleich zu bezeichnen sind: „Der Mensch ist Mensch, für seinen Begriff ist die Abstammung gleich. Man glaubt nun aber ein Unterschied der Vernünftigkeit habe von jeher stattgefunden und daher ein Unterschied von Rechten. Der Mensch sei vernünftig, das Thier nicht, deshalb herrsche der Mensch über sie, und so gäbe es auch untergeordnete Menschenracen. Aber der Mensch ist denkend, und somit gleich. Diese Frage lassen wir liegen, und sprechen nur von den natürlichen Verschiedenheiten des anthropologischen Menschen. Diese Verschiedenheit ist nothwendig durch die Verschiedenheit des Aufenthalts gegeben“, also auf die Zufälligkeit der natürlichen und sozialen Herkunft zurückzuführen.26 In dieser Aussage kommt die grundlegende Bedeutung des Urteils „Der Mensch als Mensch ist frei“ zum Ausdruck. Und dieses Urteil, dessen Wahrheit im Durchgang durch den subjektiven Geist bewiesen wurde, bildet – so wurde anfangs gesagt – die Grundlage für alle weiteren Auseinandersetzungen in Bezug auf den objektiven Geist, denn dieses Urteil verurteilt – wie Herbert Marcuse sehr

25 Karl Marx, „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer Programms)“, MEW 19, 21. 26 GW 25, 1. 33 f. (Hervorhebungen C. J. B).

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richtig festgestellt hat – jeden Zustand, in dem der Mensch nicht frei ist.27 Aus diesem Grunde darf hinter dieses Urteil und die sich daraus ableitenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zurückgegangen werden. In der soeben zitierten Passage aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes kommt aber zugleich der Grund für die sich nun anschließenden Probleme hinsichtlich des Gleichheitsbegriffs zum Ausdruck. Denn neben der Geistseite, der zufolge alle Menschen gleich sind, hat der Mensch, wie deutlich geworden sein sollte, auch eine Naturseite, der zufolge die Menschen ungleich sind: Von daher sind aber die Bestimmungen der Anthropologie, mit deren Hilfe die Menschen als in bestimmter Hinsicht gleiche – im Unterschied zu dieser Naturseite – erkannt werden können, durch die Bestimmungen des objektiven Geist zu ergänzen, die darüber entscheiden, in welcher Hinsicht Menschen  – unter Berücksichtigung dieser Naturseite – entsprechend ungleich behandelt werden müssen. Mit Hegels Philosophie ist ein Standpunkt erreicht, der diese Spannung zwischen der Gleichheit im Sinne einer philosophischen Anthropologie und der natürlichen und gesellschaftlichen Ungleichheit als unhintergehbar und damit als künftige Aufgabe für die weitere philosophische Auseinandersetzung definiert. Dass der Mensch in dieser Hinsicht durch die Differenz Gleichheit/Ungleichheit bestimmt ist, ist sozusagen der Motor der Bewegung für die philosophisch-politische Auseinandersetzung seit der Proklamation der drei Begriffe während der französischen Revolution – und dieses Problem ist auch heute weit davon entfernt, im Hegelschen Sinne aufgehoben zu sein. In diesem Kontext sind diejenigen Aspekte, die Marx bezüglich der Gleichheitsproblematik ins Spiel bringt, durchaus bedenkenswert: 1. die mit Blick auf die realen gesellschaftlichen Verhältnisse formulierte Kritik der formalen Rechtsgleichheit und des über das Privateigentum begründeten Begriffs der Person sowie seine, sich aus dieser Kritik ableitende Forderung nach einem neuen Eigentumsbegriff – dem ‚individuellen Eigentum‘, das den mannigfaltigen individuellen Bedürfnissen Rechnung trägt. Damit verbunden ist 2. die Frage nach der Richtigkeit seiner These, Grundlage der bürgerlichen Gesellschaftsordnung sei nicht, dass alle Bürger Personen sind und über Eigentum verfügen, sondern die Spaltung der Gesellschaft in Kapital und Arbeit, der gegenüber das gleiche Recht nur eine – wenn auch notwendige – Gestalt des „Überbaus“, damit aber auch eine  – die wahren Verhältnisse verschleiernde  –

27 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Springe 2004 (Schriften 7), 148 f. Vgl. Christoph J. Bauer, „Mit Hegel gegen den ‚Positivismus‘ – mit Hegel zum ‚Wesen des Menschen‘. Herbert Marcuses Interpretation der Hegelschen Urteilslehre“, in: Hegel in der neueren Philosophie, hg. v. Thomas Wyrwich, Hamburg 2011, 317–345, hier 320.

Selbsterzeugung des Menschen? 

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Form der Ideologie sei; 3. die Frage nach der Richtigkeit seiner These, in der bürgerlichen Gesellschaft werde nicht, wie Hegel behauptet, der Besonderheit zu ihrem Recht verholfen, vielmehr würden die Beziehungen der Menschen auf die Gleichheit, nämlich den Tausch von Äquivalenten reduziert, und 4. die entscheidende Frage, ob es möglich sei, den Markt als Instanz der Verteilung der Güter nach dem Zufallsprinzip durch Formen der Distribution zu ersetzen, die Rücksicht nehmen auf die jeweilige Individualität der Menschen d. h. ihre jeweiligen Bedürfnisse. Kann diese Frage mit ‚ja‘ beantwortet werden, wäre die von Hegel betonte ‚Macht des Geistes‘ auf die Fähigkeit des Menschen zur Planung seiner gesellschaftlichen Verhältnisse auszudehnen. Meiner Einschätzung nach muss die Erörterung dieser Fragen in die Überlegungen zur Weiterentwicklung des Programms der ‚Selbsterzeugung des Menschen‘ aufgenommen werden, das aus dieser Sicht als durchaus noch nicht beendet zu betrachten ist.

Siglen Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Berlin 1900 ff. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Frankfurt/Main 1977 ff. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Hamburg 1986 ff. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 11781 (KrV A), 21787 (KrV B) Friedrich Schlegel, Werke. Kritische Ausgabe, Paderborn u. a. 1968 ff. Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Berlin 1956 ff. Philosophisch-literarische Streitsachen, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1990–1995 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/Main 1970 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1983 ff. V 4a Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2, Die bestimmte Religion, Textband, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1985 V 13 Vorlesungen über die Philosophie des Geistes Berlin 1827/1828, Hg. v. Franz Hespe und Burkhard Tuschling, Hamburg 1994 V 16 Vorlesungen über Die Philosophie der Natur Berlin 1819/20, hg. v. Martin Bondeli und Hoo Nam Seelmann, Hamburg 2002

AA GA GW KrV KFSA MEW PLS TWA V

Personenregister Aufgeführt sind historische Personen mit Ausnahme von Hegel, zitierten Dichtungen, Buch- und Aufsatztiteln sowie Herausgebernamen bei Literaturangaben zu anderen Autoren und Verfasser von Vorlesungsnachschriften Aischylos 174 Aristophanes 174 Aristoteles 39, 50–52, 94, 106, 121–124 Arndt, A. 21, 87, 145, 162, 171, 175 Bacon, F. 77 Bauer, Ch. J. V, 19, 80, 182, 192 Baum, M. 80 Bayertz, K. 2 Benjamin, W. 114 Bentham, J. 184 Bonsiepen, W. 147 Bourgeois, B. 22 Bowman, B. 162 Brandom, R. 127 Buton, Ch. 150 Caspers, B. 13 Cruysberghs, P. 22 Cuvier, G. 65 Danto, A. 128 f. Darwin, Ch. 95 f. Descartes, R. 39 deVries, W. 45, 50 Dilthey, W. 126 f. Döring, S. A. 75 Drüe, H. 81, 161 Düsing, K. 49, 149, 155, 163, 167 Eley, L. 81 Eschemayer, K. A. 5, 76 Falkenburg, B. 149 Ferrarin, A. 39, 52 Fetscher, I. 36, 80 Feuerbach, L. 179, 182 Fichte, J. G. 11, 14, 21, 53, 120, 123, 155, 167, 172

Foucault, M. 65 Freud, S. 1 Fulda, H. F. 50, 59, 170 Gerhard, M. 2, 146 Goethe, J. W. v. 106 Görres, J. 129 f. Grießer, W. 147 Halbig, Ch. 55 Hardenberg, F. v. 102, 106, 121, 130 Heidegger, M. 150 Heinroth, J. Ch. A. 130 Henrich, D. 81 Herder, J.G. 53 Hespe, F. 18, 81 Heuser-Keßler, M.-L. 60 Hobbes, Th. 94 Hoffmann, E. T. A. 106 Homer 108 Hösle, V. 59, 134 Hotho, H. G. 105, 108, 112 Humboldt, W. v. 52 f. Jacobi, F. H. 10–12, 15, 77 Jaeschke, W. 2, 9, 11, 39, 55, 81, 145, 176 Kalenberg, Th. 148, 156 Kant, I. 5, 11 f., 14, 21, 50, 70–72, 92–94, 99, 103, 123, 127, 129, 131, 134, 138, 149, 155, 164, 167, 186 Kashima, T. 147, 153 Kleist, H. v. 97–118, 121 Koselleck, R. 115 Leibniz, G. W. 39, 77 Livieri, P. 55 Losurdo, d. 181 Lucas, H.-Ch. 24, 161

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 Personenregister

Luckner, A. 149, 155 Lugarini, L. 48 f. Lyell, Ch. 96 Majetschak, S. 146 f., 150 Malebranche, N. 39 Malthus, Th. 96 Marcuse, H. 192 Marquard, O. 129 Marx, K. 179–193 McDowell, J. 127 Metziger, Th. 127 Müller, A. 102 Nagel, Th. 127 f. Nietzsche, F. 12 Novalis -> Hardenberg Nuzzo, A. 37 Paulus 89, 94 Petry, M. J. 24 Pinkard, T. 124 Platon 89–93, 174 Protagoras 89 Reid, J. 130 Ritter, J. 76 Rölli, M. 59, 71 Rometsch, J. 22, 36, 160, 166, 168 Rosenkranz, K. 75 Rousseau, J.-J. 94 Sandkaulen, B. 7, 11, 48, 123, 126 Schelling, F. W. J. 5, 63, 65, 67, 167 Schlegel, A. W. 106

Schlegel, F. 106, 119–123, 130 Schleiermacher, F. 86 f. Schulz, W. 129 Sell, A. 150 Sellars, W. 127 Shakespeare, W. 108 Siep, L. 45 Sigwart, H. Ch. W. v. 59 Simon, J. 50, 158 Söffler, D. 149 Sokrates 89 f. Solger, K. F. 106 Sophokles 108 Sousa, R. de 75 Spinoza, B. 39 Stederoth, D. 26, 36, 76, 81 f., 166 Testa, I. 39 Tieck, L. 105 Tillich, P. 75 Tuschling, B. 81 Waibel, V. 146 Waldenfels, B. 134, 138 Wallace, A. R. 96 Wandschneider, D. 60 Wiehl, R. 39 Winfield, R. D. 50 Winter, M. 152, 168 Wohlfart, G. 153 Wolff, Ch. 71 Wolff, M. 84, 123 Zenon von Elea 157 Ziglioli, L. 53