Hegel und das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie [1 ed.] 9783428557400, 9783428157402

Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹, deren erste Version im Jahre 1817 erschien, hat noch immer mit

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Hegel und das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie [1 ed.]
 9783428557400, 9783428157402

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B EGRIFF UND K ONKRETION Beiträge zur Gegenwart der klassischen deutschen Philosophie

Band 8

Hegel und das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie Herausgegeben von Thomas Sören Hoffmann Hardy Neumann

Duncker & Humblot · Berlin

Hegel und das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie

Begriff und Konkretion Beiträge zur Gegenwart der klassischen deutschen Philosophie

Herausgegeben von Thomas Sören Hoffmann, Hagen Martín Zubiria, Mendoza Wissenschaftlicher Beirat: Mario Jorge de Carvalho (Lissabon), Héctor Alberto Ferreiro (Buenos Aires), Lore Hühn (Freiburg i. Br.), Marco Ivaldo (Neapel), Walter Jaeschke (Bochum), Wolfgang Kersting (Kiel), Jean-François Kervégan (Paris), Hiroshi Kimura (Kobe), Theodoros Penolidis (Thessaloniki), Violetta L. Waibel (Wien)

Band 8

Hegel und das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie

Herausgegeben von Thomas Sören Hoffmann Hardy Neumann

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fernuniversität Hagen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 2198-8099 ISBN 978-3-428-15740-2 (Print) ISBN 978-3-428-55740-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85740-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, deren 200-Jahr-Jubiläum im Jahre 2017 den äußeren Anlaß für das Entstehen des vorliegenden Bandes bildete, gehört, wiewohl zum Gebrauch in Vorlesungen bestimmt und also nicht „esoterisch“ gemeint, zu den oft als besonders sperrig empfundenen Texten des Vollenders des Deutschen Idealismus. Der Enzyklopädie fehlt die Frische und die immer wieder verblüffende Anschaulichkeit der Phänomenologie des Geistes, zugleich aber die spekulative Dichte und kaum sonst je erreichte Tiefe der Wissenschaft der Logik; sie entbehrt des leicht herzustellenden, immer auch provokativen Anwendungsbezugs, wie ihn Hegels Rechtsphilosophie besitzt, wie sie ebenso jener überreichen Fülle an in immer wieder neues Licht gerückten Details ermangelt, die Hegels Vorlesungen zu den Themen Natur und Kunst, Welt- und Philosophiegeschichte auszeichnen. Im Kontrast zu den genannten Werken wirkt die Enzyklopädie wie ein nur allzu dürres Denkskelett ohne Fleisch und Leben, allenfalls wie der Behelf eines Kompendiums, dem der Geist erst eingehaucht werden muß, wenn es denn sprechen soll. Hinzu tritt das „Ärgernis“, daß die Enzyklopädie entschieden an ein Postulat erinnert, das viele, die sich keineswegs als Anti-Hegelianer verstehen, doch nicht mit in Kauf nehmen wollen: die Erinnerung an Hegels Postulat nämlich, daß alle ernstzunehmende Philosophie auf einen Abschluß in der Form des Systems hin angelegt sei, wobei Hegels eigenes „System“, also das in der Enzyklopädie im Grundriß präsentierte, zugleich kein System unter beliebig vielen anderen sein will, sondern am Ende mit „dem“ System der Philosophie zusammenfallen soll. Wir wissen, daß unter anderem im Blick auf den System- und dann gar Superioritätsanspruch viele Kontroversen, die Hegel betreffen, entstanden sind und immer aufs neue entstehen, wissen aber auch, daß dabei oft von wenig reflektierten Vorurteilen, was ein „System“ denn sei und was der Gedanke eines „Abschlusses“ des Denkens im System in der Philosophie überhaupt bedeuten kann, ausgegangen wird – von Vorurteilen, die dann leicht die Chance verpassen, sich durch Hegel selbst aufklären und Hinweise darauf geben zu lassen, daß man „System“ auch anders denn als bloße möglichst vollständige Wissensablage und vielmehr im Sinne eines sich selbst den Leitfaden gebenden Vollzugs von Begreifen denken kann. Der beliebte Einwand gegen den Systemanspruch, daß wir doch alle „endliche Vernunftwesen“ seien und deshalb auch unser Wissen endlich sei und bleibe, trifft hier bei näherem Zusehen ganz und gar nicht. Denn das recht verstandene System überspringt nicht die Endlichkeit – im Gegenteil, es macht erst klar, was es heißt, „endlich“, d. h. einer bestimmten Stufe des Denkens gleichsam stationär verpflichtet zu sein und sich nicht selbst transzendieren zu können. Das System konfrontiert die Endlichkeit gerade mit sich selbst, insofern sie das Endliche daran hindert, sich in sich zu

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Vorwort

verkapseln und es vielmehr an das erinnert, was in ihm selbst schon an Überschüssen vorhanden ist, die auf größere Horizonte als die jeweils unmittelbar vertrauten führen. Systematische Philosophie im Sinne Hegels ist die Maieutik, die diese Überschüsse zu aktivieren und insoweit das Gehäuse der Endlichkeit immer wieder durchlässig zu machen versucht. Der Band gliedert sich in (I.) Beiträge zum Enzyklopädiebegriffs Hegels – eines Begriffs, der ja durchaus seine Vorgeschichte hat, der aber in der dialektischen Wendung, die Hegel ihm gibt, nicht mehr im Sinne der einfachen Antithese von „endlichem“ und „unendlichem“ Wissen genommen werden kann, sondern eher auf das Moment der Selbsterzeugung des Wissens zielt. Er wendet sich dann (II.) spezielleren Untersuchungen zur Logik und Naturphilosophie zu, von denen gerade die letztere ihre Darstellung primär in der Enzyklopädie und den auf sie gestützten Vorlesungen findet. Die dritte Gruppe von Texten (III.) schließlich ist der Geistphilosophie gewidmet, wobei ein gewisser Schwerpunkt auf der Lehre vom objektiven Geist, damit aber auf Fragen der Praktischen Philosophie bei Hegel liegt, ohne daß darum der subjektive und der absolute Geist nicht mehr zum Zuge käme. Alle Beiträge laden am Ende dazu ein, Hegel neu im Lichte eben der enzyklopädischen Perspektive zu lesen, die in letzter Instanz die Perspektive der eigentlich philosophischen Methode, der ihrer selbst bewußten absoluten Idee ist. * Der vorliegende Band versammelt – soweit vom Beirat der Reihe „Begriff und Konkretion“ approbiert – die deutschsprachigen Beiträge des 2. Deutsch-lateinamerikanischen Hegelkongresses, der vom 24. – 26. Oktober 2017 mit weit über 100 Teilnehmern an der Pontificia Universidad Católica de Valparaíso (PUCV) in Chile stattfand und dabei unter der Schirmherrschaft der deutschen Botschaft in Chile stand. Der gute Grund, aus dem der Kongreß an der genannten pazifischen Universität stattfand, lag nicht zuletzt darin, daß es an dieser Universität ein lebendiges, zu den großen Themen der Philosophie und Philosophiegeschichte engagiert arbeitendes Institut für Philosophie gibt, dessen Verantwortliche und Mitglieder sich dann auch als exzellente Gastgeber des Kongresses erwiesen. Die PUCV zählt dabei zu den Gründungsmitgliedern des Deutsch-lateinamerikanischen Forschungsnetzwerks FILORED, das (neben anderem) für die im Dreijahresrhythmus stattfindenden Deutsch-lateinamerikanischen Hegelkongresse verantwortlich zeichnet, das inzwischen elf Universitäten in sieben Ländern umfaßt und kontinuierlich weiter wächst. Auch die nicht-deutschsprachigen Beiträge zum Kongreß sind inzwischen publiziert worden1; der dabei entstandene und der hier vorliegende Band dokumentieren zusammen etwas von der Lebendigkeit, aber auch dem Fa1 Hardy Neumann / Óscar Cubo / Agemir Bavaresco (Hg.): Hegel y el proyecto de una Enciclopedia Filosófica: Comunicaciones del ,II Congreso Germano-Latinoamericano sobre la Filosofía de Hegel‘, Porto Alegre 2018, 887 S. (E-Book).

Vorwort

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cettenreichtum einer von den verschiedensten Ausgangspunkten aus geführten internationalen Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie, die sich von vordergründigen Vorurteilen über deren angeblich eingeschränkte Relevanz in keiner Weise irritieren läßt.2 Hagen und Valparaíso, im Frühjahr 2019

Thomas Sören Hoffmann Hardy Neumann

2 Für die redaktionelle Betreuung des vorliegenden Bandes danken die Herausgeber Herrn Bryan-Joseph Planhof (Hagen).

Inhaltsverzeichnis

I. Enzyklopädie Thomas Sören Hoffmann „Die Philosophie ist wie das Universum rund in sich“. Enzyklopädisches Wissen und Selbstbegründung der Philosophie bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Miguel Giusti Die Enzyklopädie: ein bacchantischer Taumel. Zum kritischen Potential des Freiheitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Konrad Utz Enzyklopädische Philosophie und der Zirkel des Selbstwissens. Zu einer kritischen Würdigung der Hegelschen Systemkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gregor Schäfer „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt“: Zu Hegels enzyklopädischem Konzept wissenschaftlicher Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Héctor Ferreiro Die Einheit von Geist und Welt im absoluten Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Logik und Naturphilosophie Joachim Ringleben Hegels sprachliche Logik. Ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Hernán Pringe Hegel und die idealistischen Auffassungen der Differentialrechnung . . . . . . . . . 131 Agemir Bavaresco Der Schluß der Notwendigkeit: Ein onto-epistemologischer Ansatz . . . . . . . . . . 143 Pedro Sepúlveda Zambrano Die schlußlogische Einheit der Philosophie. Zu Hegels spekulativ-enzyklopädischer Syllogistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Ettore Barbagallo Die Frage nach der Natur in Hegels Enzyklopädie. Natur als Schwelle, Natur als Verborgenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

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Inhaltsverzeichnis

III. Geistphilosophie Hardy Neumann Aristotelische und Kantische Anstöße in der subjektiven Konstituierung des Geistes bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Christian Hofmann Natur, Geist und Bildung. Zu den normativen Implikationen einer spekulativen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Luis Eduardo Gama Der Hegelsche Geist und das Problem der gesellschaftlichen Wirklichkeit . . . . 243 Jakub Kloc-Konkołowicz Ethos und Sittlichkeit. Hegels kleine Philosophie der Gewohnheit . . . . . . . . . . . 259 Markus Rothhaar Normativität und Moralitätskritik in Hegels Lehre vom objektiven Geist . . . . . . 271 Esteban Mizrahi Subjektive Wurzeln der Rechtsnormen. Die Matrix der institutionellen Welt bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Philipp Schaller Wenn der Geist zum Künstler wird. Politik und Kunst in Hegels konkretem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Friedemann Barniske Das doppelte Erhabene. Betrachtungen zum Verhältnis von Kunst und Religion in Hegels Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Michael Schulz Zur formalen Stimmigkeit der Christologie Hegels in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Annette Sell Hegel edieren. Die bewegte Geschichte der Hegel-Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

I. Enzyklopädie

„Die Philosophie ist wie das Universum rund in sich“. Enzyklopädisches Wissen und Selbstbegründung der Philosophie bei Hegel Thomas Sören Hoffmann (Hagen) Wer sich anschickt – und sei es im Jubiläumsjahr1 der Hegelschen Heidelberger Enzyklopädie – den Begriff eines enzyklopädischen philosophischen Wissens erneut ins Zentrum eines womöglich nicht nur historischen Nachdenkens zu rücken, mag sich nur allzu bald der Ambivalenz seiner Unternehmung konfrontiert sehen. Wir stehen nämlich auf der einen Seite ganz ohne Zweifel vor einer der imponierendsten Leistungen, mindestens aber Projekte der neueren Philosophie, die sich mit Hegel noch einmal anschickte, die Sachwalterin des alten „orbis doctrinae“, des Universums des Wissens überhaupt zu sein, ja die dabei – mit Hegels eigenen Worten zu reden – nicht weniger als „alle wahrhaften Wissenschaften“2 in sich zu vereinigen suchte, ohne doch darum aufzuhören, eben Philosophie zu sein. Die Philosophie erwies sich hier noch einmal als ungemein gastfrei, sie ließ keinen Zweifel daran, daß ihr, was immer als Wissen auftreten wollte und konnte, willkommen war und in ihrem Hause zu Ehren gebracht werden sollte3. Hegel vollendet 1 Hegels erste im Druck vorgelegte Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen kam im Jahre 1817 bei August Ostwald in Heidelberg heraus; die ersten der sukzessive erscheinenden Druckbögen konnte Hegel dabei den Hörern seiner Vorlesung über „Logik und Metaphysik“ im SS 1817 bereits aushändigen. Über „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ hatte Hegel freilich bereits in dem vorhergehenden ersten Heidelberger Semester (WS 1816/17) gelesen. – Zur Editionsgeschichte wie auch zu dem bis auf das Jahr 1803 zurückreichenden Hegelschen EnzyklopädieProjekt insgesamt cf. den „Editorischen Bericht“ der Akademieausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), unter Mitarbeit von Hans-Christian Lucas und Udo Rameil herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Klaus Grotsch (GW 13), Hamburg 2000, dort bes. 617 – 631; außerdem Friedhelm Nicolin: „Hegel als Professor in Heidelberg. Aus den Akten der Philosophischen Fakultät 1816 – 1818“, in: ders., Auf Hegels Spuren. Beiträge zur Hegel-Forschung, hg. von Lucia Sziborsky und Helmut Schneider, Hamburg 1996, 141 – 173; ferner die „Einführung“ von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler zu ihrer Ausgabe der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) in der „Philosophischen Bibliothek“, Hamburg 1975, IX-LII. 2 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817), §10 (GW 13, 20). 3 Von Richard Kroner, der Hegels Denken in der Enzyklopädie gipfeln sah und entsprechend einen nachgerade emphatischen Enzyklopädie-Begriff vertrat, stammt das Wort: „Die Enzyklopädie Hegels will das Haus sein, in dem der Geist wohnen kann“ (Kroner: Von Kant bis Hegel, Tübingen 19773, Bd. II, 503).

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Thomas Sören Hoffmann

so in gewisser Weise ineins die Tradition der „Summen“ und der aufgeklärten „Dictionnaires raisonnés des sciences“, er betreibt Wissenschaftslehre und Darstellung der dem Wissen erschlossenen Gehalte in einem. Wobei das Neue ist: Hegel läßt sich – dem eigenen methodologischen Anspruch nach – das Wissen nur selbst entfalten und zur Gestalt bringen; er erlaubt ihm, sich in seiner genuinen Mannigfaltigkeit zu zeigen, was einschließt, daß seine Enzyklopädie trotz aller methodischen und auch terminologischen Homogeneität doch nicht die Merkmale jener Prokrustesbetten zeigt, die uns in Versuchen in Einheitswissenschaft sonst so häufig begegnen. Auf der anderen Seite betrachten wir diese Leistung Hegels doch nicht ohne Bewußtsein davon, daß die Philosophie unserer Tage sich längst, wenn nicht gar „unwiderruflich“ von allen enzyklopädischen Idealen verabschiedet hat; daß sie entschieden nicht mehr das Ganze, die Totalität des Wissens als solche zum Thema haben will und sich entsprechend viel eher in der Rolle des Kommentators dessen, was andere wissen oder gewußt haben, findet und gefällt denn mit eigenem Wissen zu prunken. Wir wissen, daß es gerade mit dem Zurücktreten der Philosophie des Deutschen Idealismus von der Mitte des 19. Jahrhunderts an mehrere Schübe von Selbstdegradationen der Philosophie gegeben hat, zu deren wichtigsten der Rückzug auf die Erkenntnislehre, dann die Wissenschaftstheorie und Hermeneutik, dann die Sprachanalyse und Semiotik gehörten. Der ganze „Stolz“ der Philosophie unserer Tage ist nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ihre Wissensaskese übende „Demut“, die sie auch reichlich ostentativ vor sich hertragen kann4, ist ihre Skepsis nicht nur gegenüber den „großen Erzählungen“, sondern noch mehr gegenüber den großen „Systemen“, und wenn Kierkegaard Hegel einmal den Vorwurf gemacht hat, sein System gleiche einem glänzenden Palast, neben dem sein Schöpfer leider nur in der Hundehütte wohne5, dann weiß unsere philosophische Zeitgenossenschaft heute, daß glänzende Denkpaläste zu allen Zeiten in Wahrheit nur elende Hütten waren und es deshalb an der Zeit sei, vielleicht auch auf die letzteren ganz zu verzichten und sich – sagen wir als Nomade – die Zeit zu vertreiben. Jürgen Mittelstraß hat in diesem Zusammenhang noch sehr freundlich davon gesprochen, daß sich heute „der Zweck ständiger Wissenserweiterung gegenüber dem einer syste4

Diese sich selbst als Tugend empfehlende Erkenntnisaskese kann freilich einiges sehr genau und mit nachgerade penetranter Bestimmtheit wissen – etwa dies, „daß das Wesen der Welt […] durch und durch irrational ist“ und entsprechend „Hegels System“ nur „ein intellektueller Traum“ gewesen sein könne, „aus dem die Philosophie erwachen mußte, als sie erwachsen wurde“ (Herbert Schnädelbach: Hegel zur Einführung, Hamburg 1999, 166). Bekenntnisse dieser Art gehen in der Regel mit einer verblüffenden Ignoranz bezüglich der systematisch-fundamentalphilosophischen Sachfragen einher, die Hegel bearbeitet, um ihn statt dessen als Weltanschauungsproduzenten zu lesen. Tatsächlich ist die Philosophie „erwachsen“, seit sie die genannten Sachfragen erörtert – was spätestens seit Platon der Fall ist, nach Hegels Tod aber keineswegs immer noch selbstverständlich war. 5 Cf. Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“ herausgegeben von Lieselotte Richter, Frankfurt am Main 19952, 42. – Zu den heute verbreiteten Vorbehalten gegen den enzyklopädischen Gedanken cf. im übrigen auch den Beitrag von Miguel Giusti in diesem Band.

„Die Philosophie ist wie das Universum rund in sich“

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matischen Begründung“ durchzusetzen vermocht habe6; wir wissen, daß es daneben auch „postmoderne“ Theoretiker des Wissens gibt, die Zweifel genauso an der Erweiterung wie der Begründung von Wissen hegen und pflegen und denen man wohl schwerlich auch nur das Staunen vor der imponierenden enzyklopädischen Leistung Hegels abringen kann, von der schon die Rede war. Die Frage scheint dann die zu sein, was von dem großen enzyklopädischen Projekt Hegels am Ende bleibt und wie unter den gegebenen Umständen eine Anknüpfung bei ihm denn aussehen kann. Der folgende Beitrag will sich der Beantwortung dieser Frage stellen. Dafür wird es – wie so oft – unumgänglich sein, sich auf der einen Seite von nur schon allzu lange kolportierten Vorurteilen gegenüber Hegel und seinem enzyklopädischen Projekt zu befreien. Solche Vorurteile pendeln in der Regel zwischen einem Hypertrophievorwurf einerseits und dem Vorwurf mangelnder philosophischer Authentizität auf der anderen Seite; Hegel habe, so der eine Vorwurf, mit seiner enzyklopädischen Unternehmung aus erkenntnistheoretischen und methodologischen, wenn nicht gar „anthropologischen“ Gründen von vornherein das gesteckte Ziel nicht erreichen, das System nicht abschließen können, aber er habe, so der andere Vorwurf, des Guten doch auch wieder zu viel getan, denn in den Paragraphen der Enzyklopädie werde „echtes“ philosophisches Fragen ohnehin nur in Formeln erstickt. Vorurteile wie diese können zuletzt nur dann überwunden werden, wenn auf der anderen Seite klar gemacht werden kann, worum es Hegel in der Enzyklopädie überhaupt ging. Wir werden uns dazu nicht zuletzt mit Hegels Satz befassen, daß Philosophie wesentlich, also nicht nur akzessorisch, Enzyklopädie ist. Dieser Satz gibt uns Gelegenheit, über die philosophische Wissensform insgesamt erneut nachzudenken, die nach Hegel mit anderen Wissensformen nicht verwechselt werden darf und für die alleine auch gilt, was wir als Selbstaffirmativität und Selbstanfänglichkeit dieses Wissens kennenlernen werden. Allerdings wollen wir an dieser Stelle nicht zu sehr vorgreifen; lassen wir uns zunächst näher auf Hegels enzyklopädischen Grundgedanken ein! I. „Philosophie ist wesentlich Enzyklopädie“ An den Anfang unserer Überlegungen stellen wir den § 7 aus der Heidelberger Enzyklopädie, auf den wir bereits angespielt haben und der da lautet: „Die Philosophie ist […] wesentlich Encyklopädie, indem das Wahre nur als Totalität, und nur durch Unterscheidung und Bestimmung seiner Unterschiede die Nothwendigkeit derselben und die Freyheit des Ganzen sein kann; sie ist also nothwendig System“7.

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Jürgen Mittelstraß: Art. ,Enzyklopädie’, in: ders. (Hg.): Enzyklopädie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Stuttgart / Weimar 1995, 557 – 562, loc. cit. 561. 7 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), § 7, GW 13, 19.

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Thomas Sören Hoffmann

Wir betrachten diesen Satz, den man in drei Teile bzw. Argumente untergliedern kann, diesen drei Teilen nach – der erste Teil bzw. das erste Argument lautet: „Die Philosophie ist wesentlich Enzyklopädie“. Welchen Sinn kann man mit dieser Aussage verbinden, einer Aussage, die, wie erinnert, heute nicht gerade eine communis opinio unter Philosophen darstellt und auch zu Hegels Zeiten nicht einfach selbstverständlich war, so relativ populär um das Jahr 1800 herum und auch später noch das Abfassen von „Enzyklopädien“ gewesen ist?8 Betrachten wir zunächst eine Implikation von Hegels These: Wenn Philosophie „wesentlich“ Enzyklopädie ist, ist es jedenfalls keine Frage, ob sie als Enzyklopädie auftreten will oder nicht: sie muß es tun und sie wird es auch tun. Man kann unter Rückgang auf diese Implikation immerhin das philosophiegeschichtlich regelmäßig zu beobachtende Phänomen erklären, daß den großen Anfängern, den Neuerern im Denken, die vielleicht nur einen Gedanken hochkonzentriert und unmittelbar aussprechen, immer die Schulen, die professionellen Lehrer und durchsystematisierten Lehrgebäude folgen – in dem Sinne nämlich „erklären“, daß Philosophie eben wesentlich Enzyklopädie ist und sich so auch ein wirklich philosophischer Anfang immer als Keim erweist, der sich durch sich selbst seine enzyklopädische Extension geben wird. Wenn Sokrates der vielleicht größte philosophische Anfänger unserer Denkgeschichte war: was sind dann Platon und Aristoteles anderes als seine „Enzyklopädiker“ – was anderes also als diejenigen, die sein „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ in eine ausgebreitete philosophische Wissenschaft zu verwandeln vermochten, eine Wissenschaft, die sehr genaue Aufschlüsse über Prinzipien und Methoden, über verschiedene Wissenszweige und Wissensweisen geben konnte und zuletzt unsere gesamte Lebenswelt zu durchdringen in der Lage war? Man mag dabei durchaus ergänzen, daß der sokratische philosophische Impuls wohl kaum zu einer die Jahrhunderte prägenden Macht hätte werden können, wenn ihn Platon und Aristoteles eben nicht „enzyklopädisch“ aufgefaßt und kraft der „Architektonik der Vernunft“ (Kant) in „Denkgebäude“ verwandelt hätten: in „logische Bleiben“, die Generationen von Denkern Unterkunft gewähren und zu Wahrzeichen ganzer Epochen werden konnten. Nicht anders verhielt es sich mit Descartes, mit Leibniz, mit Kant, die alle jeweils ganz unbestreitbar wirkliche Anfänger des Denkens waren und an denen nicht ohne Grund auch je das wahrhaft Anfängliche, das aus dem Gewesenen Unableitbare, besonders geschätzt wurde. Auch auf sie folgte die „enzyklopädische Phase“, der Ausbau in die Länge und die Breite, für die wir uns hier als Beispiele nur etwa auf die Cartesianische Lexikographie, sagen wir bei Étienne Chauvin, für Leibniz dann auf die Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts, insbe8

Der Enzyklopädiegedanke ist bei Kant, Krug und anderen Autoren der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durchaus präsent. Für eine Übersicht dazu cf. Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Bonn 1977. – Kant bezeichnet übrigens an einer Stelle im Opus postumum, auf die Mittelstraß, a.a.O. 560 verweist, die „Transzendentalphilosophie“ als eine „Architectonische Encyclopädie welcher a priori ihr Formale zum Grunde liegt“ (AA 21, 109). Mutatis mutandis ist dieser Gedanke, der den späten Reflexionen Kants auf die formal wie inhaltlich unausweichliche Systemform der Philosophie entstammt, nicht sehr weit von Hegel entfernt.

„Die Philosophie ist wie das Universum rund in sich“

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sondere bei Wolff, oder dann, Kant betreffend, auf den systematischen Ausbau der Transzendentalphilosophie bei Fichte, Schelling oder auch den nachkantischen Kleinmeistern beziehen können: immer folgt hier auf den ersten, originären und unverwechselbaren Impuls die Ausfaltung und Darstellung dieses Impulses in seiner dem Umfang nach prinzipiell nicht begrenzten Anwendung und Ausbreitung, stets geleitet von dem Gedanken, diesen Impuls sich an jedem Thema bewähren zu lassen, das nur überhaupt die Philosophie betrifft. Nicht ohne eine gewisse Paradoxie finden übrigens auch diejenigen Denker, die sich viel lieber als gleichsam „prinzipiell originell“, als „Unterbrecher“ und darum auch unausweichlich als „Anti-Systematiker“ und noch mehr als „Anti-Enzyklopädiker“ sehen möchten, doch ihre gelehrten Enzyklopädisten, die sie in mehr oder weniger ordinäre Schulhäupter verwandeln – denken wir dafür nur an das prominente Beispiel Nietzsches, in dessen Fall es klar gelungen ist, aus einem logischen und moralischen „enfant terrible“ der Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts den Gegenstand eines wohlsituierten Forschungsbetriebs des 20. und 21. Jahrhunderts zu machen, der nicht nur seine Funktionäre ins Brot setzt, sondern das „enfant terrible“ auch systematisch in einen Weltanschauungskrämer verwandeln konnte, der zu eigentlich jeder die eigene Zeit beschäftigenden Frage die gewünschte Antwort im Angebot hat. Kurz und gut: Hegels These, daß Philosophie wesentlich Enzyklopädie sei, scheint auch auf der hier angesprochenen noch ganz schlichten, empirischen Ebene auch dann nicht der Evidenz zu entbehren, wenn sich heute viele als Einwohner eines nicht- oder nachenzyklopädischen Zeitalters wähnen, in dem angeblich „neue“, z. B. postmoderne Wissensformen, das alte enzyklopädische Bedürfnis abgelöst haben sollen – spätestens mit der Errichtung von Postmoderne-Lehrstühlen und allem, was zu ihnen gehört, ist der Zauber des vermeintlich schlechthin anarchischen Denkens gebrochen, es beginnt der Vergleich, die Anwendung, die Verteidigung, die Wiederholung des „Originellen“, kurz der Versuch, ihm eine enzyklopädische Form zu geben, wobei sich zeigen muß, wie weit dies jeweils gelingt. Was aber besagt Hegels These von der wesentlichen Enzyklopädizität der Philosophie jenseits dieser noch eher vordergründig-empirischen Dimension genauer? Um hier einen Schritt weiter zu kommen, beachten wir Hegels wie immer präzisen Sprachgebrauch: Hegel lehrt, daß Philosophie nicht einfach als solche, sondern „wesentlich“ Enzyklopädie sei – was mindestens zwei Aspekte inkludiert: - daß Philosophie nämlich einerseits nicht schon unmittelbar, nicht in ihrem Auftreten überhaupt auch schon Enzyklopädie ist, sondern sich als in sich enzyklopädisch verfaßt erst erweisen und zeigen muß; und - daß Philosophie andererseits auch nicht einfach ihrem Begriffe nach Enzyklopädie ist, so daß eine rein quantitativ konstatierbare enzyklopädische Ausdehnung des Denkens schon als solche die Gewähr für die Präsenz des Begriffs als solchen enthielte. Der erste Hinweis – daß Philosophie nicht dann schon, wenn sie überhaupt da ist, auch schon Enzyklopädie ist – ist wichtig, weil er es gestattet, eben auch im Frag-

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Thomas Sören Hoffmann

ment, in der noch unvermittelten Intuition, ja sogar im bestimmt artikulierten Nichtwissen (wie bei Sokrates) schon die Philosophie, d. h. den lebendigen, in sich wahren und freien Begriff zu sehen und nicht die faktisch bereits erreichte Extension zum entscheidenden Maßstab für philosophischen Gehalt machen zu müssen. Der zweite Hinweis wiederum – daß Philosophie nicht ihrem Begriff nach Enzyklopädie ist – ist bedeutsam, weil er davor warnt, in einen gelehrten „Alexandrinismus“ oder eine Scholastik zu verfallen, die beide das geputzte Lehrgebäude mit der Sache selbst, die positive Gestalt mit dem geforderten Gehalt verwechseln. Es kann vielmehr jederzeit so sein, daß das „Gebäude“ eben nicht (mehr) von philosophischem Geist bewohnt ist – auch dafür bieten die Philosophiegeschichte oder der Philosophiebetrieb zahlreiche Beispiele, und manche der verbreiteten Vorurteile gegen das „Systemdenken“, die philosophische Enzyklopädie oder überhaupt gegen die Philosophie als „Institution“, dürften sich eben auch von Erfahrungen mit gleichsam „leerstehenden“, vom Geist verlassenen Lehrgebäuden herschreiben. Wir halten an dieser Stelle als erstes Zwischenergebnis fest: Wenn Hegel sagt, daß Philosophie „wesentlich“ Enzyklopädie sei, dann heißt dies, daß Philosophie in der Spannung zwischen ihrem Gehalt und der Gestalt, in der sie je auftritt, zu denken ist. Philosophisches Begreifen existiert als sich vollziehender Ausgriff auf Welt, als Erschließung einer Extension, die in ihm „wesentlich“ schon enthalten und insofern nichts Fremdes ist. Der philosophische Begriff versteht sich so auch, wie wir noch etwas genauer sehen werden, niemals nur als reproduktive Darstellungsform im Sinne einer „Repräsentation“ gegebener äußerer Inhalte. Er versteht sich vielmehr vollzugshaft als entelechiale Bewegung auf Ausfüllung eines Darstellungsraumes, dessen Grenzen er selbst bestimmt und ausmißt. Da Philosophie immer das Leben des Geistes (nicht dessen „überlebte“ Gestaltungen) betrifft, besteht sie in der Spannung auf die Totalität hin, der sich ihre formale wie materiale „Enzyklopädizität“ einschreibt: fehlen darf weder die Spannung noch der Impuls auf die Totalität, wenn wir es mit Philosophie zu tun haben wollen. II. Autoveritatives Wissen Wir sind mit dieser letzten Überlegung bereits beim zweiten Teil oder Argument von § 7 der Heidelberger Enzyklopädie angekommen, d. h. bei dem Satz, daß „das Wahre nur als Totalität, und nur durch Unterscheidung und Bestimmung seiner Unterschiede die Nothwendigkeit derselben und die Freyheit des Ganzen sein kann“9. Der „wesentlich enzyklopädische“ Charakter der Philosophie wird hier in zweifacher Hinsicht erläutert: 1. einmal damit, daß es außerhalb der Totalität des Wissens keine Wahrheit geben kann bzw. daß Wahrheit immer über die Totalität vermittelt sein muß – es gibt (was methodologisch auch als Prinzip der Dialektik festgehalten werden kann) 9

Hegel: Enzyklopädie (1817), § 7, a.a.O. 19.

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keine „unvermittelte“, keine „punktuelle“ oder „unmittelbare“ Wahrheit10: Wahrheit ist eine Funktion der Totalität – was übrigens ein Satz ist, den man in keiner Weise skandalisieren sollte, wie es leider nicht zuletzt seit Adorno zum „guten Ton“ gehört; genauer besehen enthält dieser Satz vielmehr sehr präzise die Aufgabenstellung, der sich jede Wahrheitstheorie zu stellen hat und auf deren Lösung bei Hegel (auch im Sinne der philosophischen Wissensbegründung) wir gleich noch etwas näher eingehen werden11. Aber wie dem auch sei: Hegels These lautet, daß die Enzyklopädizität der Philosophie eben mit ihrem wirklichen und durchaus uneingeschränken Wahrheitsanspruch zusammenhängt, einem Anspruch, den die Philosophie nicht „auslagern“, nicht an eine andere Wissenschaft oder auch Wissensform abgeben kann, sondern den sie selbst zu vertreten und einzulösen hat. Philosophie ist nicht aus Übermut Totalitätswissenschaft; sie ist es, weil es wenigstens eine Wissenschaft geben muß, in der Wahrheit nicht nur unter gegebenen Bedingungen, sondern aus dem Grunde und unbedingt gedacht werden muß. 2. Zum anderen verweist das zweite Argument darauf, daß konkretes philosophisches Wissen auch notwendiges Wissen sein muß: es muß ein Wissen sein, das nicht nur in der Totalität des Wissens überhaupt steht und insofern wahr ist, sondern das aus dieser Totalität heraus auch systematisch dargestellt oder – eben mit Notwendigkeit – „abgeleitet“ werden können muß. Der Sache nach handelt es sich hier um keine andere Fragestellung als diejenige, die bereits der späte Platon als die eigentliche Grundlegungsfrage der philosophischen Wissenschaft erkannt und im Sinne der Ideendialektik zu beantworten versucht hat – entsprechend mag es denn auch nicht ganz abwegig scheinen, in Platons Lehre vor allem von der sulpkojµ t_m eQd_m den ersten Entwurf einer philosophischen Enzyklopädie und „Wissenschaftslehre“ zu sehen12. Daß philosophisches Wissen freilich sich einerseits als durch sich selbst in seiner Wahrheit gerechtfertigt, andererseits als sich notwendig entfaltendes Wissen wissen und darstellen kann – daß es also enzyklopädisch auftreten kann – ist für Hegel deshalb bedeutsam, weil es sich nur so als in sich gegründetes, als sich selbst bestimmendes, als im eigentlichen Sinne autonomes Wissen wissen und darstellen kann. Wenn Hegel davon spricht, daß es mit dem

10 Und entsprechend natürlich auch kein auf unmittelbare Wahrheitsansprüche unmittelbar anwendbares Wahrheitskriterium: aus dieser Einsicht heraus hat sich die Philosophie seit Platon als notwendig dialektisch verfaßt verstanden. 11 Alle geläufigen Wahrheitstheorien setzen voraus, daß es „Wahrheit“ nur im Sinne einer Reflexion über die Totalität geben kann: wer Wahrheit „konsenstheoretisch“ begründet, muß auf den consensus omnium hinaus; wer sie „evidenztheoretisch“ versteht, darf sich nicht auf Privatevidenzen beziehen, sondern die Evidenz für jedermann meinen; wer „konsistenztheoretisch“ denkt, muß eine ausnahmslose Konsistenz in den Blick nehmen usw. Der in der intellektuellen Bohème beliebte Satz, daß „das Ganze nicht das Wahre sein“ könne, ist als romantisches Aperçu ohne theoretische Bedeutung zu nehmen. 12 In der Spätphilosophie Platons würde insofern eingelöst, was in der Politeia nur erst behauptet worden war: daß das „synoptische“ Wissen der Dialektik (cf. Pol. VII, 537 c) die Begründung für den zu etablierenden Bildungsgang in den Wissenschaften enthält.

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Projekt einer Enzyklopädie um „die Freyheit des Ganzen“13 geht, dann heißt dies nichts anderes, als daß enzyklopädisches Wissen eben die Grundform eines in sich gegründeten, sich selbst bestimmenden, freien Wissens ist. Wir kommen auf diesen Punkt zurück, versuchen aber zunächst noch etwas genauer nachzuvollziehen, was mit dem Anspruch auf Wahrheit und Notwendigkeit philosophischen Wissens im Kontext unserer Frage nach der enzyklopädischen Form der Philosophie bei Hegel gemeint ist. a) Beginnen wir mit der Wahrheit: Anders als jede andere Wissenschaft erhebt die Philosophie, wie wir bereits gesagt haben, einen keineswegs nur konditionierten, sondern unbedingten Wahrheitsanspruch – Philosophie ist ihrer Idee nach nicht nur wesentlich wahr (das sind andere Wissenschaften als Wissenschaften im Unterschied zu Meinungen auch) – sie ist auch ihrem Begriffe nach wahr, d. h. sie existiert nur als sich auf begründete Weise (selbst) affirmierende Wahrheit und existiert, wo dies nicht erfüllt ist, wesentlich nicht. Der Gedanke, den Hegel hier vertritt, ist alles andere als neu, sondern im Grunde uralt – er steht seit Parmenides über dem Eingang zur Philosophie – und stand zu allen Zeiten auch mehr oder weniger deutlich im Zentrum der philosophischen Selbstvergewisserung. Es handelt sich näherhin um einen Gedanken, der nicht zuletzt angibt, worin sich die Philosophie nicht nur von anderen Wissenschaften und anderen Wissensformen, sondern auch von aller Art äußerer Reflexion und Sophistik unterscheidet. Philosophie ist nicht irgendein Sprechen, Denken oder Reflektieren, noch weniger nur ein Nachdenken oder nur eine Metareflexion dessen, was andernorts angeblich oder tatsächlich erkannt wird. Philosophie ist vielmehr ihrem Begriff nach ein Sich-Bewegen im Wahren, ist sich in sich gründendes Wahr-Sprechen und sich aussprechende Wahrheit und hat sich entsprechend in allem, was sie ausspricht, daran zu messen, ob sie den eigenen Anspruch des Wahr-Spruchs und Wahr-Seins erfüllt. Philosophie ohne logisch gutes Gewissen des durch sich selbst als wahr erweislichen Begriffs gibt es nicht. Nach Hegel entspricht diesem „autoveritativen“ Charakter der Philosophie, daß sich die Philosophie nicht wie andere Wissenschaften von einem anderweitig gemachten Anfang her verstehen kann: sie geht nicht – wie die empirischen Wissenschaften oder vormals die Theologie – von einem „Gegenstand“ aus, der „unmittelbar von der Vorstellung zugegeben“14 ist, und sie rechtfertigt ihre Wahrheit auch nicht über eine äußere Referenz (also „autoritativ“). „Wahrheit“ zielt philosophisch auf den Selbststand, die Souveränität des Gedankens, der seine Voraussetzungen als vollständig in ihm eingeholt wissen und (wie gesagt) auch darstellen kann15. Wenn so in gewisser Weise Wahrheit nichts anderes 13

Hegel: Enzyklopädie (1817), § 7, a.a.O. 19. Hegel: Enzyklopädie (1817) § 1, a.a.O. 15. 15 Zur Notwendigkeit des Moments der Darstellung des Denkens durch dieses selbst nicht zuletzt bei Hegel cf. Thomas Sören Hoffmann: „,Darstellung des Begriffs‘. Zu einem Grundmotiv neueren Philosophierens im Ausgang von Kant“, in: Hubertus Busche/Anton Schmitt (Hg.): Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens. Festschrift für Peter Baumanns zum 75. Geburtstag, Würzburg 2010, 101 – 118. 14

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ist als die Bewegung des Begriffs aus seiner wissenschaftlichen, alle seinen Voraussetzungen einholenden Darstellung zu sich zurück, dann zielt das enzyklopädische Moment der Philosophie auf nichts anderes als darauf, den konkreten Darstellungsraum bzw. zu unterscheidende Darstellungsräume16 des philosophischen Begriffs im ganzen selbst begrifflich zu umreißen. Der Unterschied zwischen der Philosophie und anderen Wissenschaften besteht so gesehen darin, daß alle anderen Wissenschaften auf einen Darstellungsraum rekurrieren, der außerhalb des Umfangs der Entwicklung ihres Wissens liegt und der von ihnen insofern ohne ihr eigenes Zutun vorausgesetzt werden kann. Dies ist sichtlich bei den empirischen Wissenschaften der Fall, die sich in allen ihren Aussagen auf eine äußere Welt und Wirklichkeit beziehen, die sie nicht erst erschaffen haben – was für Naturwissenschaften nicht anders als für alle philologischen Disziplinen gilt, für anwendungsbezogene praktische Wissenschaften nicht anders als für hermeneutisch orientierte Fächer. Es ist jedoch auch bei nicht-empirischen Wissenschaften wie etwa der Mathematik der Fall, deren Darstellungsraum sich aus der Logik der Quantität ergibt, die die Mathematik voraussetzt, nicht etwa „deduziert“. In allen außerphilosophischen Wissenschaften stellt sich so die Frage nach der Wahrheit entsprechend nicht als immanentes Problem, sondern als Frage einer jeweiligen dritten Instanz, die über das Verhältnis von wissenschaftlicher Aussage und ihrer Erfüllung oder Reproduzierbarkeit entscheidet. Nicht so in der Philosophie: hier ist der Wahrheitsanspruch zugleich der Anspruch auf eine immanente Erfüllung des philosophischen Begriffs, eines Begriffs, der alle Rückfragen, die man an ihn richten mag, aus sich selbst heraus zu beantworten in der Lage sein muß und der in diesem Sinne auch den jeweiligen Kontext seiner (Selbst-)Darstellung definiert. Wenn wir uns dabei daran erinnern, daß Hegel mit dem Theorem des „spekulativen Satzes“, das er in der frühen Phase seines Denkens vorgetragen hat, nicht zuletzt auch die Frage des von uns so genannten autoveritativen Charakters der Philosophie adressiert hat, dann können wir jetzt sagen: das enzyklopädische Denken ist in gewisser Weise nichts anderes als die Durchführung dieses Theorems, insofern eine „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ im Sinne Hegels als eine allgemeine Grammatik spekulativer Sätze, in denen sich der Begriff entfaltet, angesprochen werden kann. Im Lichte dieser Grammatik wird deutlich, wie philosophische Sätze begründet sind, in welchem Darstellungsraum sie sich entfalten und wie beides, der Grund und die Ausrichtung auf Erfüllung des Darstellungsraumes, methodisch zusammenhängen. Wenn dies so ist, sind wir gut beraten, die Enzyklopädie eben nicht mehr als jenes leblose Paragraphen-Skelett anzusehen, das sie für das verbreitete

16 Man kann so etwa die Sphären der Logik, der Natur oder des Geistes als (auch strukturell) zu unterscheidende „Darstellungsräume“ des sich entfaltenden Logos bei Hegel verstehen, ebenso auch die Sphären von Sein, Wesen und Begriff innerhalb der Logik. Eine dialektische Grunderkenntnis ist dabei, daß der jeweilige Darstellungsraum eines gegebenen Gehalts nicht einer anderen Logik gemäß gebaut ist als das in ihm Darzustellende, sondern das Darzustellende jeweils die Logik des Darstellungsraums exekutiert und realisiert. Ein Darstellungsraum ist logisch dann erfüllt, wenn er einen anderen zu denken nötigt.

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Vorurteil ist. Viel eher hat sie es mit der Anzeige einer Beziehungsfülle zu tun, die philosophischem Wissen erst sein Leben einhaucht17. b) Sodann die Notwendigkeit: Wenn Hegel festhält, daß das „wesentlich enzyklopädische“ philosophische Wissen darin besteht, notwendiges Wissen zu sein, dann geht es damit nicht nur darum, daß sich das philosophische Wissen um seiner Glaubwürdigkeit willen auf seine Darstellung bezieht, ihr korrespondiert und in dieser Korrespondenz auch wahr ist. Es geht vielmehr darüber hinaus auch darum, daß das Wissen der Philosophie sich „wesentlich“ in sich entwickelt, sich konkretisiert und diese Bewegung als Selbstbestimmung des philosophischen Wissens verstanden werden kann. Wenn Philosophie notwendiges Wissen ist, dann heißt dies, daß sie zu ihren bestimmten Inhalten auf dem Wege dessen, was Hegel die „Selbstbewegung des Begriffs“ nennt, kommt und ihre Inhalte wesentlich auch dann nicht nur äußerlich induziert sind, wenn sie, wie in den Realphilosophien der Fall, immer auch eine Referenz auf die gegebene Unmittelbarkeit implizieren. Ein durch äußeren „Anstoß“ produziertes Wissen würde niemals das Moment der Kontingenz ablegen, das in dem Faktum des Anstoßes liegt und das insoweit uneingeholte Voraussetzung des nur „angestoßenen“ Wissens bliebe18. Das weist grundsätzlich noch einmal darauf hin, daß bei Hegel das Problem der Genese und Begründung eigentlich philosophischen Wissens gerade nicht nach der Logik des Impulses oder der Kausation gestellt werden kann, wie sie in anderen (vor allem eben empirischen) Wissenschaften durchaus am Platze sein mag. Die Logik des philosophischen Wissens ist vielmehr die Logik der Selbstdisjunktion, d. h. der Selbstbestimmung des Begriffs angesichts seines „Darstellungsraums“, seines enzyklopädisch je schon eingeholten begrifflichen „Ambientes“, in dem er sich ebenso findet wie er sich von ihm in seiner spezifischen Bestimmtheit (in seinem konkreten Selbstvollzug) unterscheidet. Machen wir das, worum es hier geht, uns an einem schlichten Beispiel, dem bei Hegel immer besonders dankbaren Beispiel der Sprache, klar: Ein konkreter sprachlicher Ausdruck, ein sprachlich entfaltetes Urteil, ein zur sprachlichen Dar17 Man kann auch sagen: die Wahrheitsfrage ist bei Hegel nur als die Frage des „Triebes“ der Darstellung des Einzelnen in der Totalität sinnvoll formulierbar, mit der eine dialektische Fassung des Verhältnisses von Einzelnem und Allgemeinem bereits vorausgesetzt ist. Die Unterscheidung zwischen Wahrheitsbesitz und Wahrheitssuche, wie sie insbesondere Lessing populär gemacht hat, kann nach Hegel nur als unzulässige Abstraktion angesehen werden. Für den logischen Zusammenhang cf. Wissenschaft der Logik III, GW 12, 199 ff. 18 Wir wissen, wie sehr zum Beispiel Fichte darum gerungen hat, philosophisches Wissen als sich rein selbst bestimmendes Wissen auffassen und damit zugleich die reine Apriorizität und Notwendigkeit des Wissens dartun zu können. Was bei Fichte bis in die spätesten Versionen der Wissenschaftslehre hinein dabei durchgehend scheitert – man darf sagen: auf allerdings grandiose Weise scheitert –, weil Fichte die Frage nach dem Wissen, seiner Wahrheit und Notwendigkeit letztlich immer noch nach dem Kantischen Modell als erkenntnistheoretische Frage stellt, ist bei Hegel dadurch gelöst, daß Hegel nicht (erkenntnistheoretisch) den Weg des Subjekts zum Wissen, sondern umgekehrt die Form des Wissens in ihrer Selbstentfaltung auf ihrem Weg – unter anderem auch zum Subjekt – zum Thema macht.

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stellung gebrachtes Theorem besitzen sprachliche Notwendigkeit im Sinne nicht nur von Sprachrichtigkeit und semantisch-stilistischer Prägnanz, sondern auch im Sinne von begründeter Überzeugungskraft stets in dem Maße, wie wir den Eindruck gewinnen, daß sich in diesem Ausdruck, jenem Urteil oder Theorem die Sprache selbst ihre konkrete Bestimmtheit gibt (und diese nicht etwa den Dingen „ablauscht“). Das schließt den Bezug auf den sprachlichen Kontext, den „Darstellungsraum“ des Ausdrucks, des Urteils oder auch Theorems, ein, d. h. wir verstehen das in der Selbstbestimmung der Sprache konkret Ersprochene schon in seiner responsiv-korresponsiven Bezogenheit auf konkret anderes Sprechen und dessen Logik hin. Das konkrete Sprechen, das zugleich die Antwort auf die sprachlichen Alternativen ist, ist das notwendige Sprechen, das in seiner Notwendigkeit freilich mit seiner Freiheit, seiner Autonomie zusammenfällt. Das notwendige Wort ist immer das freie Wort, in dem zugleich die anderen Wörter anklingen, zu denen es sich ins Verhältnis setzt. Aber es ist zugleich im Grund der Wörter überhaupt verwurzelt – was dann ganz analog für das philosophische Wissen gilt, das sich als „notwendiges“ erweist, insofern es sich in seinem epistemischen Ambiente, seinem „Darstellungsraum“ frei und antwortend in Beziehung auf das andere Gewußte und im Wissen Dargestellte bewegt, zugleich aber den Grund alles Wissens in der Beziehung auf sein Anderes zur Geltung bringt. Philosophie ist unter diesem Anspruch überhaupt responsiv-korresponsives Wissen, das sich zugleich darauf verpflichtet, in allen seinen Artikulationen die epistemische Genealogie dieses Wissens ausdrücklich zur Geltung zu bringen und sich darin als „notwendig“ zu zeigen. Philosophie „deduziert“: nicht zwangsläufig in jenem vordergründig-formallogischen Sinne, der mit dem Begriff der Deduktion in der Regel verbunden ist, wohl aber in einem umfassenden bzw. dialektischen Sinne, durch den sichergestellt ist, daß keine philosophische Stellungnahme als Ausdruck nur unmittelbaren Wissens erscheint. An die Stelle der Unmittelbarkeit des Wissens tritt hier vielmehr die philosophische Methodologie, d. h. die Ermächtigung zur gehaltvollen freien Stellungnahme zu allem nur Gegebenen, mit der sich nicht nur der kritische Impuls der Kantischen Philosophie vollendet. Vielmehr wird hier nochmals deutlich, was es heißt, daß Philosophie „wesentlich Enzyklopädie“ sei: alles unmittelbare Wissen ist erinnertes Wissen, Moment geworden, bleibt aber aufrufbar im Vermittlungsganzen des philosophischen Wissens. – Betrachten wir, ehe wir auf das mit dieser methodischen Emanzipation verbundene Freiheitsmotiv nochmals zurückkommen, zuvor noch den dritten Hauptaspekt, unter den Hegel in § 7 der Heidelberger Enzyklopädie die enzyklopädische Grundform philosophischen Wissens stellt! III. Allgemeine Topik der Prinzipienbegriffe Dieser dritte Aspekt lautet kurz, bündig und auch gar nicht überraschend: „sie – sc. die Philosophie – ist also nothwendig System“19. Die Tatsache, daß relativ bald 19

Hegel: Enzyklopädie (1817), § 7, a.a.O. 19.

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nach dem Vorliegen der Hegelschen Enzyklopädien der Systemgedanke problematisiert, wenn nicht gar perhorresziert worden ist, wurde bereits angesprochen; Namen wie Kierkegaard, Nietzsche oder dann auch Adorno stehen gemeinsam mit einer Versicherung wie derjenigen Heideggers, daß die Epoche der „Systemphilosophie“ „seinsgeschichtlich“ abgelaufen sei, für eine bewußte Selbstpositionierung außerhalb des von Hegel skizzierten philosophischen Anspruchs. Untersucht man freilich diese „neuen“ Selbstpositionierungen näher, stößt man bald auf den Umstand, daß der Systemgedanke bei seinen Kritikern primär im Sinne seiner positivierten Gestalt begegnet: problematisiert und perhorresziert werden philosophiegeschichtliche Altlasten im Sinne von Kompendien des Wißbaren, in die man sich nicht wirklich vertiefen muß, um ihnen nachzuweisen, was sie alles nicht gewußt haben, während sie zugleich unter der Fülle des bedruckten Papiers den lebendigen Gedanken, die aufwühlende Einsicht, die ganz inkommensurable Inspiration zu begraben scheinen. „Systeme“ sind nach dieser Wahrnehmung einerseits überhaupt mehr Bleiwüsten als blühende Denklandschaften, aber sie behindern auch den Aufbruch zu neuen und ursprünglichen Denkerfahrungen, zu einer „Authentizität“ der philosophischen Sprache und des Impulses. Es ist dabei bemerkenswert, daß zu Hegels Zeiten das Mißverständnis der Systemforderung, wie Hegel sie aufstellt, offenbar noch ein anders gelagertes war als sonst schon recht bald nach seinem Tod. Hegel wehrt sich in § 8 gegen ein solches Mißverständnis, das nämlich unter dem Begriff „System“ jeweils den einzelnen bestimmten Standpunkt versteht, den ein philosophischer Autor als seinen besonderen, für ihn typischen vertritt. „System“ meint hier, wie Hegel bemerkt, das „bestimmte[], von andern unterschiedene[] Princip“, dem ein Denken verpflichtet ist20 ; es rekurriert insoweit auf die grundlegende kategoriale Form, von der aus ein Ansatz entfaltet ist und neben die natürlich auch andere kategoriale Formen treten können. Die Geschichte der Philosophie ist dann entsprechend eine wechselvolle „Geschichte der Systeme“, angesichts derer man etwa beklagen mag, daß es so viele und unterschiedliche seien und der rote Faden, das einigende Band hier fehle. Hegel macht dagegen deutlich, daß der Begriff des Systems in dieser Verwendung gerade nicht ausdrückt, worum es geht, wenn wir den enzyklopädischen Grundcharakter der Philosophie verstehen wollen. „System“ bedeutet bei Hegel dezidiert nicht, daß man sich auf ein zufällig ausgewähltes oder auf nur subjektive Weise gewisses Prinzip bezieht und im Ausgang von diesem das Mannigfaltige zusammenzubinden versucht, mit dem es die Philosophie zu tun hat; das philosophische System zielt – und das gehört bereits zu Hegels Schritt auch über Kant hinaus – nicht nur darauf, einfache unmittelbare Gewißheiten kritisch aufzulösen und im Blick auf das sie generierende Prinzip zu rekonstruieren, als vielmehr darauf, noch die Unmittelbarkeit der Herrschaft jeweiliger Prinzipien zu überwinden. Worauf Hegel so führt, ist eine Enzyklopädie nicht einfach von Wissensmomenten oder „Gewußtem“, als vielmehr eine solche von Prinzipien oder Prinzipienbegrif20

Hegel: Enzyklopädie (1817), § 8, a.a.O. 19.

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fen, deren jedes eine konkrete Bewegung des Begriffs zu initiieren vermag. Diese für das Verständnis von Hegels Enzyklopädiebegriff, aber auch für sein Verständnis von Philosophie grundlegend wichtige Feststellung enthält mehrere Implikationen, auf die wir abschließend kurz eingehen wollen. 1. Die erste Implikation ist, daß Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ihrem Anspruch nach eben nicht die schon selbst „ausgeführte“ Entwicklung der philosophischen Wissenschaft vortragen muß, sondern sich darauf beschränken kann, „die Anfänge und Grundbegriffe der besonderen Wissenschaften“ (§ 9) zu Bewußtsein zu bringen. Insoweit stellt sich auf der Ebene des enzyklopädischen Denkens die Anfangsfrage der Philosophie noch einmal, oder diese Frage stellt sich als die Frage nach einer Pluralität von Anfängen wieder her, was zugleich in Relation auf die verschiedenen Darstellungsräume hin geschieht, innerhalb derer sich konkrete philosophische Anfänge überhaupt je entfalten – auf den logischen Darstellungsraum hin etwa oder auch den der Natur, die beide, was man nicht übersehen darf, unterschiedlichen Darstellungslogiken folgen, wie sie auch unterschiedliche Prinzipienbegriffe voraussetzen. Ebenso sind dann innerhalb des Logischen wieder die Darstellungsräume des Seins, des Wesens und des Begriffs zu unterscheiden, wobei die Ausarbeitung eben solange eine enzyklopädische bleibt, als sie im Kreis der eigentlich anfänglichen Begriffe verharrt und deren jeweilige Spannung auf ihre Entfaltung zur Totalität zur Geltung bringt. 2. Die zweite Implikation ist, daß Hegels Wissenschaftskonzept – exoterisch gesprochen – eben kein Konzept im Sinne des vor allem von Seiten der Postmoderne inkriminierten !qw¶-Denkens ist: im Sinne des Denkens unter der „Herrschaft“ eines „Einheitsprinzips“ also, das in der Folge alle auftretenden Differenzen „vergewaltigen“ oder zum Schweigen bringen würde. So evident es ist, daß diese postmoderne Kritik einem abstrakten Verstandesdenken bzw. einem nur analytischen Verständnis des Verhältnisses der Reflexionsbestimmungen „Identität“ und „Differenz“ verhaftet bleibt, so hilfreich zur Klärung scheint es trotzdem zu sein, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß es bei Hegel von vornherein eben um eine Pluralität von Prinzipien, von !qwa¸, geht, die eben nicht nur in ihrer abstrakten Selbstbestimmung, sondern primär in ihrem Spiel bzw. Zusammenspiel zu betrachten sind, in welchem sie ihre Besonderheit auf der einen Seite zur Geltung bringen, zugleich aber auf der anderen Seite sich auch aneinander abarbeiten. Entscheidend ist hierbei die Einsicht, daß der philosophische Begriff als solcher nicht einfach „unter“ ein Prinzip fällt, sondern konkrete Prinzipialitäten an sich selbst relativiert, indem er sie nicht einfach als unmittelbar geltende stehen läßt, sondern sie in ihrer Vermittlung denkt. Enzyklopädisches Philosophieren ist, wenn der Ausdruck gestattet sein kann, überhaupt Prinzipienkompetenz, wobei der Akzent darauf liegt, daß es sich um eine Kompetenz im Umgang eben auch mit der Prinzipiendifferenz und -konkurrenz handelt. 3. Die dritte Implikation des Hegelschen Enzyklopädiebegriffs liegt sodann in dem bereits angesprochenen, auf den ersten Blick vielleicht vermessen wirkenden

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Anspruch Hegels, mit der philosophischen Enzyklopädie „alle wahrhaften Wissenschaften“ (§ 10) überhaupt mitzuumfassen. Der allgemeine Grund für diesen Anspruch liegt darin, daß jede nicht nur nach wissensexternen, in der Regel pragmatischen Gesichtspunkten konzipierte Sammlung von Wissen (Hegel nennt als Beispiel etwa die „Heraldik“) in sich einen Kern sich selbst entfaltenden Wissens enthalten muß, um überhaupt wahrheitsfähig zu sein. Dies ist z. B. im Falle der Mathematik so, die nicht zuletzt deshalb seit alters als schlechthin paradigmatische Wissenschaft angesehen werden konnte, weil in ihrem Fall der Kernbestand sich selbstentfaltenden (apriorischen) Wissens unmittelbar an die Oberfläche tritt und entsprechend die mathematischen Wissenschaften auch in besonderer Weise den eigenen Darstellungsraum mitdeterminieren. Es verhält sich aber auch beim Recht nicht anders, dessen Wissenschaft nur dann eine nicht nur „positive“ ist, wenn der Rechtsbegriff als anfänglicher Begriff erkannt und im Blick auf seine Selbstauslegung aufgefaßt werden kann. Schließlich könnte man noch an die Theologie denken, für die, jedenfalls insoweit sie mehr als eine autoritätsgebundene oder einem äußeren Zweck gehorchende ist und sie auch nicht auf positive Kenntnisse reduziert werden kann, ebenfalls gelten muß, daß es in ihr um die Selbstentfaltung eines Prinzipienbegriffs – hier des Begriffs des absoluten Geistes – geht, übrigens ein Argument, das sich die Theologie in der Tradition zumal im Sinne des ontologischen Gottesbeweises ja durchaus hat zu eigen machen können. Aber wie dem auch sei: Sich selbst entfaltende Begriffe sind dabei in jedem Fall Begriffe, die zwar nicht unbedingt für die Wissenschaft, die sie begründen, wohl aber an ihnen selbst Themen der Philosophie – in jedem Fall Themen der philosophischen Enzyklopädie – sind, die sie in einem prinzipientheoretischen Kontext (also nicht in derselben Weise gegenständlich wie die von ihnen abhängigen Wissenschaften) betrachtet. Insoweit geht es in der philosophischen Enzyklopädie dann nochmals um die Prinzipialität des Prinzips, und das auf eine Weise, die die Enzyklopädie auch als eine Art allgemeiner (materialer) Wissenschaftstheorie erscheinen läßt. 4. Schließlich die vierte Implikation: Das im Hegelschen Sinne systematischenzyklopädische Wissen ist nicht nur wahres, notwendiges und sich selbst über seinen Darstellungsraum reflektierendes Wissen. Es ist darüber hinaus auch freies und Freiheit erzeugendes Wissen – in dem Sinne nämlich, daß die philosophische Enzyklopädie als Anweisung verstanden werden kann, jenseits aller bloß unmittelbaren Gewißheiten und des sich aus ihrer Unmittelbarkeit ergebenden Dogmatismus zu einer freien Stellungnahme zu welcher philosophischen Frage auch immer zu gelangen. Die Enzyklopädie kann insofern auch als Topik gelesen werden, deren Sinn es ist, mit der systematischen Entfaltung eines Panoramas philosophischer Prinzipienbegriffe in ihren jeweiligen Darstellungsräumen dazu einzuladen, sich auf ein eigenes philosophisches Anfangen einzulassen. Der Sinn der enzyklopädischen Topik ist es, klar zu machen, daß es kein philosophisches Thema, keinen Gegenstand gibt, der uns schlicht überwältigen müßte und angesichts dessen alle philosophische Selbstverständigung verstummte. Als „wesentlich enzyklopädische“ weiß sich die Philosophie als niemals einer Macht der Objekte unterworfen,

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ohne doch diese Macht oder gar die Realität des Objektiven einfach leugnen zu müssen. Die enzyklopädische Philosophie weiß vielmehr, daß es immer einen Gesichtspunkt der Freiheit gibt, unter dem das Herrschend-Objektive betrachtet werden kann, ja betrachtet werden muß, wenn wir die Einsicht ernstnehmen, daß kein Prinzip ein einfach oder unmittelbar herrschendes ist, sondern es als Prinzip bereits in einem Zusammenhang von Prinzipienbegriffen steht, aus denen sich jeweilige Anfänge entfalten. Sich auf diesen Gesichtspunkt der Freiheit einzulassen, heißt dabei nicht zuletzt, jederzeit und in jeder logischen oder gegenständlichen Konstellation mit dem Philosophieren anfangen zu können. Es bedarf zu diesem „Anfangen“ keiner äußeren Ermächtigung, wohl aber eines Sich-Einlassens auf die Selbstentfaltung des Begriffs, der wir nach Hegel ja jeder selber sind. Die Enzyklopädie ist in diesem Sinne einer rationalen Topik zum einen so etwas wie der Kompaß, der es uns im Dickicht der Bestimmtheiten, die uns umgeben, erlaubt, jeweils den Gesichtspunkt zu finden, unter dem sich dieses Dickicht lichtet. Zum anderen enthält sie aber auch die Ermächtigung, sich zu diesem Dickicht frei zu verhalten, indem sie daran erinnert, daß ein wahrhaftes, d. h. bei sich selbst anfangendes Philosophieren jederzeit und an jedem Ort anfangen kann. Anders als in der Ontologie, anders auch als in der „Seinsgeschichte“ und erst recht anders als im postmodernen Skeptizismus der Fall, lehrt Hegel, daß das Denken mitten in seiner Verwobenheit in immer auch gegebene Bestimmtheit ursprüngliche Sammlung, sich selbst bestimmendes Anfangen, sich entfaltende Freiheit sein kann. Am Ende ist das Ergebnis der Beschäftigung gerade mit demjenigen der Werke Hegels, das vielen noch immer als sperrig, als trocken und mit „Trockengedanken“ angefüllt erscheint, so denn dies, daß es hier um das jederzeit mögliche Anfangen im Philosophieren geht – nicht im Sinne eines bloßen Postulats, wie sich versteht, sondern im Sinne eines methodologisch gerechtfertigten Wissens, das sich zuletzt aus den Büchern in das wirkliche Denken entläßt. Die scheinbare Paradoxie, die hierin liegt, wäre dann die, daß mit dem „Abschluß“ des Systems es wieder nur an das Anfangen geht. Aber dieses Anfangen ist jetzt eben ein schon befreites, ein nicht erst dem Objekt abzutrotzendes, sondern seiner selbst schon gewisses. Erst für diese schon errungene Freiheit gewinnt das Wort aus Hegels Entwurf seiner Berliner Antrittsvorlesung seinen vollen und ganzen Sinn, unter das wir diese Überlegungen gestellt haben: „Die Philosophie ist aber wie das Universum rund in sich, es ist kein Erstes und kein Letztes, sondern alles ist getragen und gehalten, – gegenseitig und in Einem“21.

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Hegel: Berliner Antrittsrede (1818), GW 18, 18 f.

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Literatur Dierse, Ulrich: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Bonn 1977. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), unter Mitarbeit von Hans-Christian Lucas und Udo Rameil herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Klaus Grotsch (GW 13), Hamburg 2000. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik III, in: GW 12. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Berliner Antrittsrede (1818), in: GW 18. Hoffmann, Thomas Sören: „,Darstellung des Begriffs‘. Zu einem Grundmotiv neueren Philosophierens im Ausgang von Kant“, in: Hubertus Busche / Anton Schmitt (Hg.): Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens. Festschrift für Peter Baumanns zum 75. Geburtstag, Würzburg 2010, 101 – 118. Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“ herausgegeben von Lieselotte Richter, Frankfurt am Main 19952. Kroner, Richard: Von Kant bis Hegel, Bd. II, Tübingen 19773. Mittelstraß, Jürgen: Art. ,Enzyklopädie‘, in: ders. (Hg.): Enzyklopädie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Stuttgart / Weimar 1995, 557 – 562. Nicolin, Friedhelm: „Hegel als Professor in Heidelberg. Aus den Akten der Philosophischen Fakultät 1816 – 1818“, in: ders.: Auf Hegels Spuren. Beiträge zur Hegel-Forschung, hg. von Lucia Sziborsky und Helmut Schneider, Hamburg 1996, 141 – 173. Nicolin, Friedhelm / Pöggeler, Otto: „Einführung“, in: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Hamburg 1975, IX-LII (= Philosophische Bibliothek). Schnädelbach, Herbert: Hegel zur Einführung, Hamburg 1999.

Die Enzyklopädie: ein bacchantischer Taumel. Zum kritischen Potential des Freiheitsbegriffs Miguel Giusti (Lima) Ramón Valls Plana in memoriam1 Die Idee, ein philosophisches Wissen könne bzw. müsse als Enzyklopädie auftreten, findet gegenwärtig kaum Zustimmung. Vielmehr scheint man heute darin übereinzukommen, es handele sich dabei um eine altmodische und zugleich prätentiöse Metapher: altmodisch aufgrund der damit angedeuteten archivalischen Auffassung des Wissens in der Form einer Katalogisierung; prätentiös, weil sie sich zusätzlich noch das Recht zuschreibt, die Gesamtheit des Wissens zu umfassen. Zwar birgt der Terminus „Enzyklopädie“ von einem etymologischen Gesichtspunkt aus einen kleinen Schatz in sich, und die Verwirklichungsformen einer Enzyklopädie, darunter auch manche anregende Überraschungen, haben sich mit der Zeit reichlich geändert. Im allgemeinen kann aber behauptet werden, daß ein philosophisches Unternehmen in der Art einer Enzyklopädie heutzutage sehr wenig Sympathie findet2. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Hegelianer, oder genauer gesagt für diejenigen Philosophen, die im Hegelschen Werk noch etwas Gültiges für die aktuellen Debatten finden, aus welchen Gründen auch immer. Als Beispiel, allerdings nicht naiv ausgewählt, zitiere ich hier einen anderen spanischen Gelehrten und Hegel-Interpreten, José María Ripalda – vielen sicherlich bekannt, denn er war mehr als einmal in Valparaíso und hat hier seine philosophischen Ideen leidenschaftlich verteidigt, wie ihrerseits früher Johann Moritz Rugendas und Charles

1 Dieser Beitrag sei Ramón Valls Plana gewidmet, einem großen Kenner und hervorragenden Interpreten der Hegelschen Philosophie, im Jahre 2011 verstorben, der uns eine exzellente spanische Übersetzung der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Enciclopedia de las ciencias filosóficas, Madrid 1997) als Erbe hinterlassen hat. Mit Verehrung und Dankbarkeit! 2 Für einen Überblick über die Begriffsentwicklung und die Vielfalt der „Enzyklopädie“ siehe Robert Collinson: Encyclopaedias: Their History throughout the Ages, New York / London 1964; Jürgen Henningsen: „Enzyklopädie. Zur Sprach- und Bedeutungsgeschichte eines pädagogischen Begriffs“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, X (1966) 287 ff.; Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophisch-theoretischen Begriffs, Bonn 1977; Walter Tega: L’ideale enciclopedico e l’unità del sapere, Bologna 1984; Jean Starobinski: „Remarques sur l’Encyclopédie“, in: Revue de Métaphysique et de Morale LXXV (1970) 377 – 384.

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Darwin, wenn wir die Sache mit den Augen von Carlos Franz betrachten3. Ripalda, bestimmt ein bekennender und origineller Hegelianer, behauptet (oder habe ,den Verdacht‘, wie er schreibt), daß die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ein „Produkt von Hegels Schweigen ist, sein endgültiges Grabmal“4. Das heißt, die Enzyklopädie sei das Ergebnis eines vermeintlichen Aufgebens seitens Hegels vor dem damaligen preußischen Establishment. Dadurch habe Hegel auf die fruchtbare Suche verzichtet, die seine vorherige Philosophie auszeichnete, um diese durch eine protokollarische, standardisierte und angepaßte Darstellung zu ersetzen. Die Enzyklopädie als Grabmal. Das ist offensichtlich eine sehr negative, zur Trauerstimmung gehörende Vorstellung der Enzyklopädie sowie ihrer Bedeutung in bezug auf das ursprüngliche philosophische Projekt. Ripaldas Beurteilung entsteht jedoch nicht aus dem Skeptizismus heraus, sondern aus einer gewissen Nostalgie für die Kraft und Lebendigkeit, die sich seines Erachtens durch den Großteil des früheren Hegelschen Werkes zieht und die scheinbar durch eine starre unbeseelte begriffliche Codierung plötzlich aufgegeben wurde5. Ohne jetzt auf die Gründe dieser Beurteilung einzugehen noch auf die wohl zu weit führende Frage, ob die Enzyklopädie ein Grabmal sei, kann sicherlich gesagt werden, daß die in der Beurteilung vorausgesetzte Ambivalenz, nämlich das Pendeln zwischen begrifflicher Kraft und erschöpftem Katalog, zwischen Lebendigkeit und Sklerose, auf ihre Art und Weise eine unter den Interpreten breit geteilte Überzeugung über die Natur dieses Werkes ausdrückt. Diese Überzeugung kann durch die Auslegungsgeschichte des Textes bis heute nachgezeichnet bzw. dokumentiert werden. Hegel selbst ist gewissermaßen mitverantwortlich für diese Tradition, denn er verhielt sich der Enzyklopädie gegenüber auf eine zweideutige Weise. Einerseits betrachtete er sie häufig als ein bloßes Handbuch, andererseits bestand er aber darauf, das Werk immer wieder zu bearbeiten und ihm dabei ständig systematische Ansprüche zuzuweisen. Wir kommen damit in medias res. Im folgenden werde ich mich mit dieser kuriosen und anregenden Ambivalenz beschäftigen, obwohl ich den fruchtbaren Vorrang eines lebendigen Impulses hervorheben werde. Erstens (I.) werde ich ei3 Der chilenische Schriftsteller Carlos Franz veröffentlichte 2015 einen Roman mit dem Titel Si te vieras con mis ojos [Wenn du dich mit meinen Augen sehen würdest], Barcelona. Im Roman stellt sich der Autor eine imaginäre Begegnung zwischen Rugendas und Darwin in Valparaiso im XIX. Jahrhundert vor. 4 José María Ripalda: „El silencio de Hegel. Reseña de Ramón Valls Plana, Hegel, Enciclopedia de las ciencias filosóficas en compendio“, in: Teorema: Revista Internacional de Filosofía, XVII (1998), 1, 115 – 118. 5 Für eine ausführliche Geschichte des Hegelschen Projekts einer Enzyklopädie sowie der verwickelten Umstände der verschiedenen Ausgaben siehe die Editorischen Berichte in den Bänden 13, 19 und 20 der Gesammelten Werke, eingeleitet von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas mithilfe von Udo Rameil und Klaus Grotsch, Hamburg 2000, 1989 und 1992. Sehr hilfreich sind auch die Einführungen von Friedrich Nicolin und Otto Pöggeler zu ihrer Ausgabe der Enzyklopädie, Hamburg 1959, und die „Presentación del traductor“ von Ramón Valls Plana zu seiner Ausgabe der Enciclopedia, 9 – 56.

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nige bezeichnende Eigentümlichkeiten der Enzyklopädie herausstellen, wie sie von Hegel selbst in verblüffender Ambivalenz übermittelt wurden. Zweitens (II.) werde ich mich auf diejenige Stelle Hegels beziehen, die mich zu dem Titel meines Beitrags brachte, nämlich auf den „bacchantischen Taumel“, um zu zeigen, warum die Philosophie im Kontext der Phänomenologie des Geistes, wo die Stelle auftaucht, immer gleichzeitig verallgemeinernd und belebend sein muß, und zwar das eine aufgrund des anderen, nicht bloß das eine anstatt des anderen. In diesem genauen Sinne kann vielleicht gesagt werden, daß die Philosophie nicht aufhören kann, enzyklopädisch zu sein, obwohl sie auch vielleicht aus demselben Grund immer vor der Gefahr eines Taumels steht. Als letztes (III.) werde ich das Gesagte auf den Hegelschen Begriff der Freiheit in der praktischen Philosophie anwenden. Wir werden dann das Projekt des Aufbaus einer gesellschaftlichen, enzyklopädischen Welt untersuchen, die vom Freiheitsbegriff beseelt ist, die aber zugleich immer wieder kritisch zu befragen und neu zu gestalten ist. I. Die fruchtbare Ambivalenz des enzyklopädischen Projekts Fangen wir mit den bekannten Stellen an, die uns eine vermeintlich klare Aussage zum Thema liefern. Bereits im Vorwort zur ersten Auflage der Enzyklopädie von 1817 hält Hegel bekanntlich das Werk nur für einen „Grundriß“, einen Leitfaden, veröffentlicht („früher ans Licht, als mein Gedanke gewesen wäre“6, fügt er hinzu, um die Vorläufigkeit zu betonen) zu dem Zweck, den Studenten Material zur besseren Verfolgung des Unterrichts an die Hand zu geben. Hegel zeigt ein ausdrückliches Interesse daran, zu betonen, daß der Grundriß mangelhaft sei sowohl inhaltlich (denn er kann keine Ausführlichkeit beanspruchen) als auch seiner Form nach (denn er kann keinen echten Beweis anbieten, wie es nötig wäre). Darum habe der Text eine „äusserliche Zweckmässigkeit“ und stelle bloß Anforderungen an unsere „Vorstellung“7. Im § 9 jener ersten Auflage schreibt Hegel: „Als Encyklopädie aber ist die Wissenschaft nicht in der ausführlichen Entwicklung ihrer Besonderung darzustellen, sondern ist auf die Anfänge und Grundbegriffe der besondern Wissenschaften zu beschränken“. Daß die Enzyklopädie ein Grundriß zu Unterrichtzwecken sei, bedeutet zugleich, daß sie ausdrücklich als ein durch Kommentare und Erklärungen im Unterricht zu ergänzender Text verstanden wurde. Für sich allein, behauptet Hegel, könne der Grundriß nicht standhalten. Seine eigentliche Funktion ist die eines Vorlesungskompendiums, so daß die mündliche Erläuterung zusätzliche, unentbehrliche Er-

6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke (GW), historisch-kritische Edition in Verbindung mit der Hegel-Kommission der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und dem Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum, Bd. 19, Hamburg 1989, 23. 7 Ebd.

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klärungen darbieten muß8. Solche Ausdrücke kommen bei Hegel ständig vor; das ist nichts Neues und es besteht kein Zweifel an deren Authentizität. Nur einen einzigen Punkt möchte ich in diesem Zusammenhang hervorheben, nämlich, ob aus diesem Umstand herausgelesen werden kann, daß die Enzyklopädie nicht mit dem System identifiziert werden könne9, bzw. daß sie das System nicht beinhalte. Darf die Auslegung so weit gehen und dadurch die Ambivalenz löschen? Hegel hatte zwar den Terminus „System“ bereits in der Ankündigung einiger seiner Vorlesungen gebraucht so wie in der Phänomenologie des Geistes, und es ist auch wahr, daß er den Terminus im Titel der Enzyklopädie nicht verwendet. Aber die Sache ist m. E. nicht klar und ist auch nicht mit der Zeit deutlicher geworden. Zugunsten jener Auslegung, der Trennung nämlich von Enzyklopädie und System, spricht teilweise der Gebrauch des Terminus in der damaligen gewöhnlichen pädagogischen Kultur. Die erste Auflage der Enzyklopädie verweist bekanntlich vor allem auf Hegels Text zum Unterricht im Nürnberger Gymnasium zurück. Dort existierte eine Richtlinie für die öffentliche Erziehung, in der für die Oberklasse ausdrücklich eine philosophische Enzyklopädie vorgeschrieben wurde, welche „die verschiedenen Aspekte des spekulativen Denkens“ zusammenfassen mußte, die früher abgesondert entfaltet wurden10. Angesichts eines dermaßen standardisierten und dazu noch verbindlichen Lehrtextes liegt die Deutung auf der Hand, daß Hegel einfach gezwungen war, von ihm Gebrauch zu machen, und daß daraus kein organisch begriffliches Verhältnis zwischen dem Projekt einer „Enzyklopädie“ und seinem eigenen Projekt eines philosophischen Systems herzuleiten ist. Allerdings schreibt Hegel in der bereits erwähnten Einführung zur Enzyklopädie von 1817 folgendes: „Die Philosophie ist Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, insofern ihr ganzer Umfang mit der bestimmten Angabe der Theile, und philosophische Encyklopädie ist sie, insofern die Abscheidung und der Zusammenhang ihrer Theile nach der Nothwendigkeit des Begriffes, dargestellt wird“ (§ 6, meine Hervorhebung). Und dazu (§ 7): „Die Philosophie ist auch wesentlich Encyklopädie, indem das Wahre nur als Totalität, und nur durch Unterscheidung und Bestimmung seiner Unterschiede die Nothwendigkeit derselben und die Freyheit des Ganzen seyn kann; sie ist also nothwendig System“ (meine Hervorhebung). Daraus wird ersichtlich, daß Hegel die Bedeutung des Terminus „Enzyklopädie“

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Hegel: GW 19, 5; GW 20, 27 u. 31. Siehe auch Walter Jaeschke: Hegel Handbuch, Stuttgart / Weimar 2005, 260. 9 So etwa zum Beispiel Walter Jaeschke: Hegel Handbuch, 259 ff. 10 Siehe Allgemeines Normativ der Einrichtung der öffentlichen Unterrichts-Anstalten in dem Königreiche, in: Karl Rosenkranz: Hegels Leben, Darmstadt 1977, 255 ff. Siehe auch Walter Jaeschke: Hegel Handbuch, 202 ff. Es sollte nicht unbemerkt bleiben, daß der für dieses Allgemeine Normativ in Nürnberg zuständige Beamte kein anderer war als Friedrich Niethammer, dessen persönliche und philosophische Nähe zu Hegel sicherlich die Ursache dafür war, daß alle in der Verordnung angegebenen Besonderheiten des Unterrichtens mit Hegels allgemeinem philosophischen Projekt übereinstimmten.

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nicht einfach beschränkt als „Handbuch“ versteht, noch daß er sich auf den Text bezieht, als ob er nur ein archivalisches Verzeichnis grundlegender Begriffe wäre. Mit dem Gedanken, die Philosophie sei wesentlich Enzyklopädie, und mit dem Zusatz, beinahe ohne Unterbrechung und als Schlußfolgerung, sie sei notwendig System, schreibt Hegel der Enzyklopädie als Wissensform eine genuin systematische Bedeutung zu, und zwar eine, die weit über das vorher Gesagte hinausgeht. Zwar muß zugegeben werden, daß die zwei zitierten Paragraphen in den folgenden Ausgaben der Enzyklopädie nicht erhalten blieben. Aber ein Paragraph wird doch in voller Übereinstimmung mit dem bereits Erwähnten übernommen (der § 9 der ersten Auflage, § 16 der dritten), derjenige nämlich, in dem Hegel eine Unterscheidung zwischen dem philosophischen und dem gewöhnlichen Sinn einer Enzyklopädie trifft: „Die philosophische Encyclopädie unterscheidet sich von einer anderen gewöhnlichen Encyclopädie dadurch, daß diese etwa ein Aggregat der Wissenschaften seyn soll, welche zufälliger und empirischer Weise aufgenommen und worunter auch solche sind, die nur den Namen von Wissenschaften tragen, sonst aber selbst eine bloße Sammlung von Kenntnissen sind“11. In den unmittelbar vorangehenden Paragraphen hatte Hegel behauptet, daß das Wahre nur als Totalität und infolge dessen die Philosophie notwendig als ein System (§ 14) und als ein Kreis von Kreisen (§ 15) zu verstehen sei. Durch die daraus entstehende Schlußfolgerung, daß die vorliegende „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ in einem strengen philosophischen Sinne und nicht im üblichen Sinne einer Ansammlung willkürlicher Kenntnisse aufgefaßt werden muß, nimmt Hegel jene spezifische (enzyklopädische) Form der Wissensdarstellung als eine seiner philosophischen Intention angemessene in Anspruch. Haben diese eher elementaren Betrachtungen uns weitergebracht? Ich glaube ja, und hoffe, damit nicht alleine dazustehen. Wir haben festgestellt, daß Hegel eine offensichtlich zweideutige Haltung gegenüber der Enzyklopädie hatte, und daß diese Ambivalenz nicht einfach zugunsten einer der beiden Haltungen aufgelöst werden kann. Die Enzyklopädie ist eine notwendige Form des Wissens, denn nur durch eine solche, totalisierende Konstruktion kann die Wahrheit ihrer Natur gemäß ausgedrückt werden. Zugleich ist sie jedoch eine mangelhafte Ausdrucksform des Wissens, denn sie tendiert zu einer Starrheit und Begrenzung des lebendigen Impulses der Freiheit des Denkens. Dieses Pendeln zwischen begrifflicher Kraft und erschöpfendem Katalog, zwischen Lebendigkeit und Sklerose, scheint wahrhaft konstitutiv für die Hegelsche Idee einer Enzyklopädie gewesen zu sein. Anders gesagt: das Projekt einer Enzyklopädie kann nur dann verwirklicht werden, wenn sie durch den sie animierenden Impuls ständig gerettet wird vor der Versuchung der Lähmung und wenn sie beständig umformuliert wird. Die Geschichte selber der verschiedenen Ausgaben der Enzyklopädie kann uns hier schon äußerlich als Bestätigung unserer These dienen: wir wissen wohl, wie oft Hegel sich unzufrieden über den Zustand des Werkes zeigte, in welchem Umfang er die zweite Ausgabe 11

Hegel: GW 19, 57.

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erweiterte und wie er trotzdem unverzüglich eine dritte plante. Mit Recht meint Ramón Valls Plana, daß „die Enzyklopädie den Webstuhl nie verließ“12. Wie wir bereits gesehen haben, steht diese seltsame und zugleich fruchtbare Ambivalenz des Hegelschen philosophischen Projekts in engerem Zusammenhang mit der Überzeugung, daß die Wahrheit nur als Totalität angemessen zum Ausdruck gebracht werden kann. Das ist ein entscheidender Punkt, denn dort befindet sich der Schlüssel für eine Erklärung der Gleichzeitigkeit oder der wechselseitigen Bedingtheit von Systematisierung und Lebendigkeit. Darauf verweist gerade die Metapher der Phänomenologie, die ich als Titel meines Beitrags gewählt habe. Ich werde sie deswegen nun kommentieren. II. Die Enzyklopädie als bacchantischer Taumel Gehen wir direkt auf die entsprechende Stelle ein. Im Rahmen des aussagekräftigen Programms, das das Vorwort der Phänomenologie des Geistes ausmacht, genauer gesagt im Zusammenhang mit dem Versuch, die philosophische Erkenntnis im Unterschied zur mathematischen oder zur geschichtlichen Erkenntnis zu bestimmen, kommt Hegel auf den Kerngedanken zurück, den er früher über die Natur der Wahrheit ausgesprochen hatte, nämlich darauf, daß sich die philosophische Erkenntnis als ein Vermittlungsprozeß zwischen dem Positivem und dem Negativen kennzeichnen läßt, und daß sie durch diesen umfassenden Anspruch die Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit ausmacht, die wesentlich alle Wirklichkeit auszeichnet. Um eben diesen Gedankengang metaphorisch auf den Punkt zu bringen, schreibt Hegel: „Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist; und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar auflöst, – ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe. In dem Gerichte jener Bewegung bestehen zwar die einzelnen Gestalten des Geistes wie die bestimmten Gedanken nicht, aber sie sind sosehr auch positive nothwendige Momente, als sie negativ und verschwindend sind. – In dem Ganzen der Bewegung, es als Ruhe aufgefaßt, ist dasjenige, was sich in ihr unterscheidet und besonderes Daseyn gibt, als ein solches, das sich erinnert, aufbewahrt, dessen Daseyn das Wissen von sich selbst ist, wie dieses ebenso unmittelbar Daseyn ist“13. Mehrere Punkte sollten hier hervorgehoben werden, ohne jedoch den Leitfaden unserer Argumentation zu verlieren, was ein ständiges Risiko ist. Auf den dem soeben angeführten Zitat vorangehenden Seiten hat man lesen können – und zwar mit Worten, die denen der Einleitung der Enzyklopädie ähneln –, daß die Wahrheit 12

Hegel: Enciclopedia de las ciencias filosóficas, spanische Ausgabe von Ramón Valls Plana, 14. So auch Hermann Glockner in seinem Kommentar zur ersten Ausgabe der Enzyklopädie, Bd. 6 der Jubiläumsausgabe der Sämtlichen Werke: „Mithilfe der Auflage i. J. 1817 werde gezeigt, daß sich die Gedanken des Philosophen immer bis zu seiner letzten Epoche in einer gewissen Bewegung fanden“ (VIII). 13 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 35.

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nur als Totalität aufzufassen sei, d. h. daß „das Wahre das Ganze ist“14. Das bedeutet bekanntlich nicht nur, daß die Wahrheit die Gesamtheit des Wirklichen umfassen muß, sondern daß sie zugleich das Ergebnis eines immanenten, unendlichen Erkenntnisprozesses der verschiedenen Formen gegenseitiger Abhängigkeit der Denkbestimmungen ist. Totalität und prozessualer Charakter sind wesentliche Bestandteile dieser Auffassung der Philosophie oder der Wirklichkeit; sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Oft, wie jetzt in der Phänomenologie, hängt diese Bidimensionalität von Inhalt und Form mit dem Begriff von „Bestimmung“ und „Bestimmtheit“ zusammen, d. h. mit der Idee, daß jede Bestimmung eine Negation, daß letztere aber immer eine „bestimmte Negation“ ist. So wird ein logisches Verfahren ausgelöst, das zur notwendigen Verbindung zwischen jeglichem Inhalt und dem vom Inhalt Ausgeschlossenen (oder „Verneinten“) führt und die Suche eines organischen Zusammenhangs zwischen den bestimmten Inhalten, den aufgefaßten oder den verneinten, fördert – ein Verfahren, das in der Wissenschaft der Logik von Anfang an als wesentliche, dialektische und fortschreitende Verbindung zwischen „Setzung“ und „Voraussetzung“ angekündigt wird. Die Philosophie muß darum notwendigerweise systematisch, enzyklopädisch sein, aber dadurch führt sie nicht zwangsweise zur Lähmung des Denkens, geschweige denn zu einem Grabmal, sondern sie zeigt sich dabei vielmehr als „die Bewegung des Lebens der Wahrheit“15. Die Metapher des Taumels wird an dieser Stelle eingeführt, um die erwähnte Bewegung bildhaft darzulegen. Nun müssen wir überprüfen, ob sie die Sache erklärt oder ob sie im Gegenteil uns schwindelig macht. Es gebe weder ein Organ noch ein Glied des Körpers, so wird uns gesagt, das nicht trunken bleibt, noch könne sich eins von ihnen von dem Taumel der anderen absondern. So will man sowohl das Durchdringen des Pharmakons in die Gesamtheit der Körperteile, d. h. den sich durch den Körper kontinuierlich verbreiteten lebendigen Impuls, erklären, als auch den allgemeinen Zustand, der alle Teile miteinander in Verwandtschaft bindet, d. h. die Einheit oder den gemeinsamen Bund ihrer Unterschiede und Besonderheiten. Es ist Taumel und Ruhe zugleich, das eine aufgrund des anderen. Die belebende Kraft steht zu der einheitlichen Totalität der umfaßten Wirklichkeit nicht in Widerspruch, sondern in Einklang. Wir finden hier wiederum die früher genannte Ambivalenz des enzyklopädischen Unternehmens. Die Totalität der Wahrheit verlangt, daß man eine systematische und verknüpfende Auffassung von ihr anbietet. Da sie aber von einem fortwährenden, dynamisierenden Prinzip belebt wird, kann die Entdeckung bzw. die Darstellung der Wahrheit nur einen unvollendeten, nie und nimmer endgültigen Charakter haben. Im Herzen der Ambivalenz nistet ein wesentlicher Sinn von Prozessualität. Aber die Metapher des bacchantischen Taumels verrät wohl auch unzweifelhaft die Gefahr der Vermessenheit. Absichtlich habe ich das griechische Wort Phar14 15

Ebd. 19. Ebd. 35.

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makon für den Wein benutzt, um die Doppeldeutigkeit hervorzurufen, mit der Sokrates den Terminus zu verwenden pflegt, nämlich als Heilmittel und Gift zugleich. Paradigmatisch ist die Stelle im Phaidros, wo Sokrates die Erfindung der Schrift eben als Pharmakon beschreibt, aber auch in bezug auf den Weinkonsum verwendet er explizit diesen Terminus, etwa im 2. Buch der Gesetze bei der Diskussion über den Nutzen des Weingebrauchs für eine angemessene Erziehung16. Der Vergleich der Wahrheitssuche mit dem Taumel in betrunkenem Zustand hinterläßt, womöglich unbewußt, einen begründeten Verdacht über die Exzesse, denen sie durch ihre Absolutheits- bzw. Totalitätsansprüche ausgesetzt wird. Hiermit soll des weiteren darauf hingewiesen werden, daß das Wort „delirio“, das im Spanischen als übliche Übersetzung für „Taumel“ verwendet wird, die Genauigkeit des deutschen Wortes nicht völlig widerspiegelt, denn der „Taumel“ verweist eher unmittelbar auf die Betäubung, das Stolpern in betrunkenem Zustand, was die Wirkungen der Exzesse bzw. die Risiken des Unternehmens in noch plastischerer Form ausdrückt. Diese Überlegungen könnten vielleicht als bloße Assoziationen interpretiert werden, die keine hinreichenden Argumente liefern für die Erklärung meines Anliegens. Ich gebe es zu – trotzdem denke ich, daß sie plausibel genug sind, um daraus eine allgemeine These über die Bedeutung einer philosophischen Enzyklopädie für Hegel zu entnehmen. Ich fasse die These zusammen, bevor wir ihre Anwendung auf die praktische Philosophie, d. h. auf den objektiven Geist, in Erwägung ziehen. Auch wenn Hegel ausdrücklich zugibt, daß die Enzyklopädie nur ein Lesebuch zum Unterricht ist, dessen synthetische Darstellung einer mündlichen bzw. einer detaillierteren Erläuterung bedarf, macht er doch immer Gebrauch von dieser Wissensdarstellung, selbst wenn sie kein obligatorisches pädagogisches Mittel mehr ist, und er unterscheidet ausdrücklich zwischen einer im strengen Sinne philosophischen Enzyklopädie – die er sich zu eigen macht und mit dem systematischen Wissen identifiziert – und anderen Formen der Enzyklopädie, die nur Kataloge eines kontingenten Wissens sind. Im Hintergrund dieser schwankenden Interpretation des Werkes stellten wir eine tiefe Ambivalenz fest, die anscheinend konstitutiv für das enzyklopädische Unternehmen ist, nämlich, daß sie einerseits eine wesentliche Form des Wissens ausmacht, insofern nur durch eine solche organische Konstruktion die globale Natur der Wahrheit ausgedrückt werden kann, daß sie jedoch andererseits zugleich eine mangelhafte Ausdrucksform des Wissens ist, weil sie zur Erstarrung der lebendigen Kraft und Freiheit des Denkens führt. Durch die Hegelsche Metapher des bacchantischen Taumels haben wir diese Ambivalenz mit den Gefahren veranschaulicht, die sie in sich birgt. Wie oben bereits 16 Siehe Plato: Gesetze, Bücher I u. II, 631 ff. Die Doppelseitigkeit des Pharmakons, insbesondere im Zusammenhang mit Sokrates’ Kritik an der Erfindung der Schrift, inspirierte Derridas bekannten Essay „La pharmacie de Platon“, erschienen zum ersten Mal in der Zeitschrift Tel Quel 32 u. 33 (1968). Über die Verbindung zwischen Hegel und Sokrates in bezug auf die Bedeutung des Weinkonsums habe ich den Aufsatz geschrieben: „Elegancia ateniense“, in: Bernhard Uhde und Miguel Giusti (Hg.): Symposion. Festschrift zu Ehren des 60. Geburtstages von Raúl Gutiérrez, Freiburg 2015, 35 – 51.

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erwähnt, scheint das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie nur dann realisierbar zu sein, wenn sie durch ihren belebenden Impuls ständig vor der Versuchung der Lähmung gerettet und so immer wieder umformuliert wird. III. Das kritische Potential des Freiheitsbegriffs Die Reichweite dieser Interpretation des enzyklopädischen Wissens könnte durch Verweis auf irgendeinen der Kreise exemplifiziert werden, aus denen nach Hegel der Kreis des philosophischen Systems besteht. Als Beispiel werden wir gleich den Kreis des objektiven Geistes oder der praktischen Philosophie nehmen. Aber vorher erlauben Sie mir einen letzten Kommentar, etwas provokativ, über Hegels These, die Philosophie könne nicht aufhören, enzyklopädisch oder systematisch zu sein. Es ist sehr einfach und sogar üblich, diesen Anspruch durch den Verweis auf einige der bereits dargestellten Argumente bzw. aufgrund seiner Überheblichkeit zu karikieren. Jedoch nicht mehr so üblich, eben weil nicht so einfach ist es, Hegels Argumente gegen den Einwand loszuwerden, die philosophische Forschung auf ein Segment der Wirklichkeit bzw. des Denkens zu begrenzen, als ob es möglich wäre, von den gemachten Voraussetzungen bzw. von den impliziten Verbindungen zu anderen Realitätsdomänen zu abstrahieren. Wie könnte man sich etwa mit der Epistemologie befassen, ohne dabei auf ihren notwendigen Zusammenhang mit der Naturphilosophie oder mit den Prinzipien der Ethik zu achten? Wie wäre eine praktische Philosophie möglich, ohne zugleich ihre metaphysischen Voraussetzungen bzw. ohne die Entwicklungen der Sozialwissenschaften zu bedenken? Wie könnte sich jemand irgendeinem Bereich der theoretischen oder praktischen Philosophie widmen, ohne die Fragen oder die Wahrheitsansprüche der Kunst(-philosophie) zu berücksichtigen? Und dazu noch: Wie wären die erwähnten Ansätze denkbar ohne einen Bezug auf die Geschichte der Philosophie oder auf die Philosophie der Geschichte? Die Überheblichkeit des enzyklopädischen Unternehmens in Frage zu stellen, ist nur die Vorderseite einer Medaille, deren Kehrseite uns dazu verpflichtet, über die angenommenen bzw. totgeschwiegenen Unterstellungen Rechenschaft zu geben. Es wird somit verständlicher, warum Hegel am Anfang seiner Rechtsphilosophie darauf besteht, daß viele der da verwendeten Begriffe ihre Wurzeln oder ihre entsprechende „Beweisführung“ in der Wissenschaft der Logik oder in der Enzyklopädie haben. Es handelt sich dabei um eine ausdrückliche Anerkennung der organischen Verbindung und sogar der epistemologischen Abhängigkeit seiner praktischen Philosophie (des Kreises des objektiven Geistes) von den weiteren Teilen des Systems. Das muß angesichts der überraschenden (wenngleich nicht verblüffenden) Aufwertung von Hegels Rechtsphilosophie in der gegenwärtigen Ethik hervorgehoben werden, weil sie oft begleitet wird von der Aufforderung, den im Werk verlangten Bezug zur logischen bzw. enzyklopädischen Grundlegung mit dem Argument beiseite zu lassen, er sei ein Ballast der idealistisch-metaphysischen Tradition, der keinen Sinn oder Geltung mehr für die heutige philosophische Diskus-

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sion besitze17. Selbstverständlich gibt es mehrere gewichtige Gründe dafür, die Abweisung der Systemansprüche in Frage zu stellen, aber selbst wenn man sie ernst nehmen würde, d. h. selbst wenn man zugeben würde, daß die Hegelsche Grundlegung veraltet bzw. unzeitgemäß wäre, müßte man doch noch eine alternative epistemologische Begründung darbieten18. Das Leitprinzip der praktischen Philosophie Hegels ist bekanntlich der Begriff der Freiheit. Von ihm bietet er in der Rechtsphilosophie eine dreidimensionale Definition, gestützt natürlich auf die Wissenschaft der Logik, die den Schlüssel für die spätere systematische oder enzyklopädische Entwicklung in vielerlei Hinsicht enthält. Einerseits schließt der Begriff eines „freien Willens“ in der Tat ein Gefüge von Bestimmungen ein, deren Darstellung uns in sukzessiven Etappen das allgemeine System intersubjektiver Verbindungen zugänglich macht, aus denen der objektive Geist besteht. Die Totalität der ethischen Wahrheit ist angekündigt und dargelegt in der Verflechtung dieses Begriffes. Andererseits ist die Freiheit aber ein Wert oder ein Prinzip, worauf sich Hegel immer in geschichtsphilosophischer Perspektive bezieht, mit dem impliziten Gedanken, daß die Freiheit nur dann vollständig verstanden wird, wenn man ihre Rolle im sozialen Leben im Laufe der Zeit anerkennt. Die Geschichtlichkeit ist in Wirklichkeit auch ein wesentliches Element des Willensbegriffs, aber sie wird insbesondere in den Momenten oder an den Stellen hervorgehoben, wo Hegel explizit die entscheidenden geschichtlichen Wendungen der Idee der Freiheit bewertet. Und in all diesen Fällen wird klar, daß die Freiheit die Lebenskraft ist, die die enzyklopädische Konstruktion der Sozialphilosophie erklärt und ihr Bedeutung verleiht. Als Bestätigung dafür sollte genügen, unter den vielen berühmten Stellen diejenige (heute so diskreditierte) aus den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte anzuführen: „die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“19. Jenseits der Fragen oder Vorbehalte, die verständlicherweise gegen diese These erhoben werden können, erlaube ich mir hier, zwei Bemerkungen zu machen, die mit meinem Hauptanliegen verbunden sind: 1.) es wird dort weder gesagt noch vermutet, daß der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit jemals aufhören sollte; 2.) es handelt sich dabei um einen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, nicht unbedingt in der Wirklichkeit. Das ist für Hegel ganz klar und ist auch der Grund dafür, daß er bei seinem Lob der Moderne, weil sie die Universalisierung des Freiheitsprinzips letztlich anerkannte und proklamierte, vorsichtig davor warnt, daß noch ein langer Weg der Kultur zurückzulegen sei, damit dieses Prinzip verwirklicht werde und damit es die sozialen Praktiken so wie das Gefüge der gesamten Gesellschaft durchdringe: „Diese Anwendung des Prinzips auf die Wirk17 Siehe z. B. Axel Honneth: Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, 12 ff.; Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt 2011, 9. 18 Diese Frage habe ich ausführlicher in meinem Artikel behandelt: „Rechtsphilosophie ohne Logik? Überlegungen zu neueren Deutungen Hegels“, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie. Neue Folge 1 (2017), 164 – 176. 19 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, GW 27, Einleitung.

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lichkeit, die Durchbildung und Durchdringung des weltlichen Zustandes durch dasselbe ist der lange Verlauf, welcher die Geschichte selbst ausmacht“20. Da die Wahrheit, wie wir sehen, ein unerschöpfliches, lebendiges und zugleich ein gestaltendes Prinzip der systematischen enzyklopädischen Anordnung seiner Verwirklichungsformen abgibt, wird es nicht schwierig sein zu erkennen, daß dadurch eine Art prozessualen Charakters entsteht, der für die Ethik konstitutiv ist und zu ihrer fortwährenden kritischen Umformung zwingt. Aus diesem Grund sollte es uns nicht überraschen, daß die Rechtsphilosophie ihre Geltung in den gegenwärtigen Debatten bewahrt, aber es sollte uns deswegen auch nicht überraschen, daß die spezifische Verflechtung des Werkes von 1821 mit den zeitgenössischen Institutionen veraltet ist und es einer fortwährenden Umformulierung bedarf. Darum ist Honneths Behauptung, die Rechtsphilosophie sei ein Buch gewesen, das Hegel nicht für den Rest der Menschheitsgeschichte gedacht hätte, sondern nur für die mittlere Phase seiner eigenen Gegenwart, nicht so waghalsig21. In der Sprache seiner eigenen Begriffslogik und auf dem historischen Bewußtsein seiner Rationalitätsauffassung basierend schlägt Hegel eine Definition der Freiheit vor, die systematisch die verschiedenen für sie konstitutiven Dimensionen zusammenführt. Jede Dimension kann zugleich in der Zeit identifiziert und mit einer philosophischen Tradition oder einer besonderen geschichtlichen Konstellation verbunden werden. Er strebt nach einer hierarchischen und globalen Gestaltung der Freiheitsidee, die den besonderen Auffassungen gerecht wird und ihren relativen Wert im Ganzen anerkennt. Mir einen gewissen Abstand von der orthodoxen Nomenklatur erlaubend, möchte ich hier in Kürze diese Dimensionen folgendermaßen bezeichnen: 1. die Freiheit als Autonomie, 2. die Freiheit als moralische Wahl und 3. die Freiheit als kollektive Schöpfung22. Meine Absicht ist nur, die Gegenwärtigkeit dieser Begrifflichkeit aufzuzeigen bzw. ihre innere Dynamik hervorzuheben. Die Freiheit als Autonomie betont jene Dimension, die das Individuum als rationales Wesen zur letzten Entscheidungsinstanz ethischer und sozialer Angelegenheiten macht. Das bedeutet andererseits, daß die gesellschaftliche Ordnung bzw. der Rechtsstaat nichts anderes als das Ergebnis eines sozialen Paktes oder Vertrags ist, von den Individuen selbst freiwillig besiegelt mit der Maßgabe, ihr Eigentum und ihre Rechte zu bewahren. Diese Dimension der Freiheit erweist sich als eine wirkliche ontologische Umkehrung der alten Idee einer natürlichen sozialen Ordnung. Hobbes selbst tritt der berühmten These des Aristoteles direkt entgegen,

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Ebd. Axel Honneth: Das Recht der Freiheit, 116. 22 Natürlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Dreiteilung des Freiheitsbegriffs zu interpretieren. Axel Honneth selbst nennt sie folgendermaßen: die iuristische oder negative, die moralische oder reflexive und die soziale Freiheit (Das Recht der Freiheit, 35 ff.). 21

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dergemäß die Polis von Natur aus dem Individuum vorausgehe23. Im Gegensatz dazu muß jetzt dem Individuum die Priorität zukommen, sowohl ontologisch als auch methodologisch. Dies bedeutet zugleich, daß jede gesellschaftliche Konstruktion, sei es die Polis, der Staat oder ein anderes System von kulturellen Handlungen oder Institutionen, entweder ihre Geltung verliert oder sie nur in der Form eines Paktes erwerben kann, der aus der Zustimmung freier Individuen (d. h. Individuen, die prioritär sind) resultiert. Die zweite Dimension, die moralische Wahl, drückt eine positivere Idee von der Entfaltung der eigenen Freiheit aus, sei es in einer bürgerlichen, einer moralischen oder einer ästhetischen Variante, ohne daß damit die grundlegende Perspektive der individuellen Autonomie implizit verlassen würde. Im Vordergrund steht nun die Projizierung der eigenen persönlichen Entscheidungsfähigkeit (das Wozu der Freiheit), wobei solche strukturellen Elemente wie das Bewußtsein der eigenen Verantwortung, das Pflichtgefühl, die Suche nach dem persönlichen Glück oder das Engagement mit dem eigenen Freiheitsideal zusammen kommen. Die bedeutendsten Autoren sind in diesem Fall Rousseau (für die bürgerliche Variante), Kant (für die moralische Variante) und Herder (für die ästhetische Variante). Im Mittelpunkt dieser Freiheitsdimension steht der Begriff der menschlichen Würde, die dem Prinzip individueller Autonomie einen moralischen Wert verleiht und die Pflicht mit sich bringt, diese Würde so wie ein System von Rechten zu verteidigen, das alle menschlichen Wesen umfaßt, und zwar nur aus dem Grund, weil sie Menschen sind (d. h. aufgrund des Besitzes jener Würde). Es ist nicht einfach, die verschiedenen möglichen Verzweigungen dieser Dimension mit einander in Einklang zu bringen, aber durch sie wird die subjektivistische Wende deutlich verstärkt, die mit der neuzeitlichen Auffassung der Freiheit entsteht. Die dritte Dimension ist natürlich die entscheidende, denn sie drückt nicht nur eine der Dimensionen aus, sondern gestaltet sie vielmehr. Durch sie artikulieren sich die drei Dimensionen und in ihr erlangen sie organische Relevanz. Mit Hegels Worten handelt es sich dabei um eine „verwirklichte Freiheit“ oder um einen „zur vorhandenen Welt gewordene Begriff der Freiheit“24, d. h. um einen Zusammenhang von Handlungen und Institutionen, die im Prinzip durch individuelle (oder kollektive) Autonomie hervorgebracht wurden und die doppelte Funktion erfüllen, Freiheit gesellschaftlich zu verkörpern und zu ermöglichen. Allerdings nenne ich sie „Freiheit als kollektive Schöpfung“, weil sie auch als eine bloße, abgesonderte Dimension der Freiheit mißverstanden werden kann, ohne mit den beiden anderen Dimensionen in Verbindung zu treten. Dieses Mißverständnis kommt häufig in den heutigen Diskussionen um den Multikulturalismus und den Kommunitarismus vor.

23

Thomas Hobbes: Leviathan, 17 („Über die Ursachen der Entstehung und Bestimmung eines Staates“), Berlin 2008. Der Satz kommt aus dem ersten Buch von Aristoteles’ Politik, 1253a 19 – 20. 24 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14, § 142, 137.

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Von einem Hegelschen Gesichtspunkt aus gesehen, liegt der tiefere Grund für die Formulierung eines Anerkennungsrechtes bzw. einer Anerkennungspflicht gegenüber jeder Kultur in der Voraussetzung, daß Anerkennung Ausdruck der Freiheit in dem allgemeinen Sinn einer kollektiven Schöpfung ist. Im Unterschied zu den zwei anderen Dimensionen der Freiheit handelt es sich hier in der Tat weder um eine bloße Handlungsfähigkeit noch um eine ideale moralische Option, sondern um konkrete soziale Konstruktionen bzw. Handlungen, die geschichtlich bestimmt sind und eine besondere Weltanschauung des gemeinsamen Lebens eines Kollektivs verkörpern. Die Auslegungsperspektive wird hier umgekehrt, denn wir bestimmen die Freiheit nicht mehr von ihren Möglichkeiten her, sondern durch ihre Ergebnisse und behaupten aus diesem Grund, daß jede Kultur ein Werk der Freiheit ist oder daß die Freiheit immer in einer Verflechtung konkreter Institutionen zum Ausdruck kommt. Trotzdem harmonieren bekanntlich nicht alle Kulturformen oder Religionen mit den verschiedenen Dimensionen des Freiheitsbegriffs, die wir kennengelernt haben. Bei vielen bleibt der Wert der individuellen Autonomie unbekannt, und bei anderen werden diskriminierende Bräuche bewahrt, die uns deutlich zeigen, wie weit sich solche Lebensformen von der Anerkennung des Prinzips, nach dem alle Menschen frei sind, entfernen. Die enzyklopädische Konstruktion des ethischen Lebens erfordert, daß sie die Dynamik von dessen Leitprinzip sowie die angemessene Verbindung zwischen seinen Teilen und Dimensionen zum Ausdruck bringt. Die Freiheit als kollektive Schöpfung ist – oder müßte doch sein – eine Aufhebung der zwei vorigen Freiheitsformen, weil sie die Art und Weise ausdrückt, wie sich die Freiheiten in der Verflechtung der Handlungen einer Gesellschaft kristallisieren. Geschieht dieses nicht, erweisen sich die vorigen Definitionen als abstrakt und unzureichend. Die Freiheit als individuelle Autonomie kann eine illusorische Theorie sein, die keine Entsprechung in der Realität findet, schlimmer noch, sie kann sich in einen ideologischen Diskurs verwandeln, der einen Zustand tiefer gesellschaftlicher Ungleichheit mit einer Art formellen Egalitarismus bedeckt. Die Freiheit als moralische Option kann ihrerseits ein rein prinzipieller Diskurs sein, der keinen Rückhalt findet weder in den Institutionen noch im Corpus der Rechtsauffassungen einer Gesellschaft. Als bürgerliche Option kann sie natürlich eine bewegende Kraft entfalten zur Förderung gesellschaftlicher Änderungen im Sinne einer Erweiterung der Menschen- bzw. Bürgerrechte. Wenn sie sich jedoch nicht in institutionellen Wandlungen ausdrückt, führt sie leicht zu radikalen bzw. extremistischen Bewegungen, die prinzipiell alle Institutionen vernichten können. Als ästhetische Option bedarf sie im größeren Maße einer positiven Legalität für die Etablierung der Toleranz. Denn nur in so gestalteten Gesellschaften sind solche individualisierten Formen der Freiheit erlaubt. Im umgekehrten Sinne läßt sich auch behaupten, daß die im Modell vorausgesetzte, institutionelle Systematisierung von Verwirklichungsformen der Freiheit immer nur in vorläufiger Form zustande kommen kann. Die Ansprüche der negativen Freiheit bzw. die moralischen Bestrebungen der reflexiven Freiheit, d. h. ihre

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Aufforderungen zur Einrichtung neuer Räume für öffentliche bzw. gegenseitige Anerkennung, können die vorläufige Verwirklichungsphase der gesellschaftlichen Freiheit bzw. ihren Ausdruck durch real existierende Institutionen unaufhörlich in Frage stellen. Die Dynamik des Prozesses beruht tatsächlich auf dem permanenten dialektischen Verhältnis zwischen dem ethischen, die Freiheit umfassenden Ideal und den konkreten, geschichtlichen Formen seiner Verwirklichung25. Mit diesen etwas losen Überlegungen wollte ich die unbestreitbare, dennoch ertragreiche Ambivalenz von Hegels enzyklopädischem Unternehmen ansprechen. Wir haben gesehen, daß die Enzyklopädie eine notwendige Form des Wissens ist, weil man nur durch ihr Streben nach Totalität der Beschaffenheit der Wahrheit gerecht werden kann. Allerdings ist sie gleichfalls eine mangelhafte Ausdrucksform des Wissens, weil sie zum Einfrieren bzw. zur Lähmung des lebendigen Impulses führt, der sie beseelt. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Ambivalenz, d.i. ihrer Fruchtbarkeit, liegt in dem Bewußtsein des prozessualen Charakters, der die zwei oben genannten Dimensionen miteinander verbindet. Die systematische Konstruktion bewahrt ihren Sinn nur, wenn sie immer wieder umformuliert wird, damit sie „die Bewegung des Lebens der Wahrheit“ zum Ausdruck bringt26. Ich hoffe gezeigt zu haben, daß die praktische Philosophie diese begriffliche Dynamik ziemlich gut veranschaulicht. Auch auf das Projekt der Systematisierung der Freiheit könnte die Metapher des bacchantischen Taumels angewendet werden. Das Prinzip der Freiheit muß jede Handlung und jede Institution des gesellschaftlichen Lebens mit den Eigenschaften eines Pharmakons prägen. Sein Ziel ist die Herstellung eines institutionellen Gewebes, d. h. einer Kultur, mit der sich die Individuen identifizieren können bzw. innerhalb derer sie sich als freie Menschen wiedererkennen, ohne die Kritik und die Ansprüche zu verschweigen, die den Organismus ständig beleben. Allerdings warnt uns, wie oben erwähnt, der Vergleich der Wahrheitssuche mit dem bacchantischen Taumel auch vor den Exzessen bzw. den Risiken, zu denen der unvermeidbare Anspruch führen kann, die Wahrheit in ihrer Totalität aufzufassen.

Literatur Collinson, Robert: Encyclopaedias: Their History throughout the Ages, New York / London 1964. Derrida, Jacques: „La pharmacie de Platon“, in: Tel Quel 32 u. 33 (1968). Dierse, Ulrich: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophisch-theoretischen Begriffs, Bonn 1977. 25

Für Axel Honneth entfaltet sich die gesellschaftliche Kritik in Hegels Werk als eine „spirale Bewegung“, d. h. als ein nie zu Ende kommender Prozeß, dessen Antrieb das lebendige Prinzip der Freiheit ist. Siehe Das Recht der Freiheit, 115. 26 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 35.

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Franz, Carlos: Si te vieras con mis ojos, Barcelona 2015. Giusti, Miguel: „Elegancia ateniense“, in: Bernhard Uhde und Miguel Giusti (Hg.): Symposion. Festschrift zu Ehren des 60. Geburtstages von Raúl Gutiérrez, Freiburg 2015, 35 – 51. Giusti, Miguel: „Rechtsphilosophie ohne Logik? Überlegungen zu neueren Deutungen Hegels“, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie. Neue Folge 1 (2017), 164 – 176. Glockner, Hermann: Kommentar zur ersten Ausgabe der Enzyklopädie, Jubiläumsausgabe der Sämtlichen Werke, Bd. 6, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke, historisch-kritische Edition in Verbindung mit der Hegel-Kommission der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und dem Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum, Hamburg 1968 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enciclopedia de las ciencias filosóficas, spanische Übersetzung und Kommentar von Ramón Valls Plana, Madrid 1997. Henningsen, Jürgen: „Enzyklopädie. Zur Sprach- und Bedeutungsgeschichte eines pädagogischen Begriffs“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, X (1966). Hobbes, Thomas: Leviathan, Berlin 2008. Honneth, Axel: Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundrib einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt a. M. 2011. Jaeschke, Walter: Hegel Handbuch, Stuttgart / Weimar 2005. Platon: Gesetze / Nomoi, Berlin 2013. Ripalda, José María: “El silencio de Hegel. Reseña de Ramón Valls Plana, Hegel, Enciclopedia de las ciencias filosóficas en compendio”, in: Teorema: Revista Internacional de Filosofía, XVII (1998), 1, 115 – 118. Rosenkranz, Karl: Hegels Leben, Darmstadt 1977. Starobinski, Jean: „Remarques sur l’Encyclopédie“, in: Revue de Métaphysique et de Morale, LXXV (1970), 377 – 384. Tega, Walter: L’ideale enciclopedico e l’unità del sapere, Bologna 1984. Valls Plana, Ramón: „Presentación del traductor“, in: G. W. F. Hegel: Enciclopedia de las ciencias filosóficas, spanische Übersetzung und Kommentar von Ramón Valls Plana, Madrid 1997, 9 – 56.

Enzyklopädische Philosophie und der Zirkel des Selbstwissens. Zu einer kritischen Würdigung der Hegelschen Systemkonzeption Konrad Utz (Fortaleza) I. Das Problem des Selbstbewußtseins Kant definiert die praktische Vernunft in der GMS: „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze […] zu handeln.“1 Analog kann man formulieren: „Jedes Objekt steht in einem Bezug zu sich selbst. Nur ein Subjekt hat das Vermögen, sich selbst auf sich selbst zu beziehen.“ Die grundlegende Beziehung oder Relation, in der jedes Objekt zu sich selbst steht, ist die Relation der Identität. Da es jedoch Objekt ist und nicht Relation, ist diese Relation der Identität von ihm selbst verschieden. Die Relation der Identität wird durch das Objekt instantiiert. Das Ergebnis dieser Instantiierung ist ein Sachverhalt oder eben die Tatsache, daß das Objekt mit sich selbst identisch ist. Individuelles Objekt, Relation und Sachverhalt sind verschiedene Sachen. Sie sind in der grundlegendsten Weise verschieden, die es gibt: Sie sind kategorial verschieden, sie gehören zu verschiedenen Kategorien. Diese Differenz zwischen der Relation der Identität und dem Objekt dieser Relation, die eine kategoriale Differenz ist oder zumindest sein kann, verhindert, daß diese Relation an ihr selbst schon Selbstbewußtsein oder Subjektivität darstelle. Ein Objekt ist noch nicht Subjekt allein vermöge einer Relation, die es zu sich selbst hat, nämlich z. B. vermöge der Relation der Identität. Was ist also dieses „Mehr“, das dazu erforderlich ist, selbstbewußte Subjektivität zu konstituieren? Es genügt nicht, das schiere Bewußtsein als solches hinzuzufügen. Ich kann Bewußtsein von einem Objekt zusammen mit der Relation der Identität haben, die es zu sich selbst hat, ohne daß dieses Objekt ich selbst wäre, i. e. ohne daß es mit mir identisch wäre. Ich kann Bewußtsein bezüglich jedes Objekts zusammen mit seiner Identität haben. Aber das impliziert, daß dann, wenn ich 1 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (AA), Berlin / New York 1900 ff., AA IV, 412.

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Bewußtsein meiner selbst als Objekt habe, die Relation der Identität, die dieses Objekt zu sich selbst hat, nicht an ihr selbst schon automatisch das Bewußtsein konstituiert, daß dieses Objekt ich selbst bin – selbst dann nicht, wenn diese Relation der Identität ebenfalls bewußt sein sollte. Der einfache Beweis dessen ist, daß es möglich ist, daß ich z. B. mich selbst im Spiegel sehe, ohne mich als mich selbst zu identifizieren. Das ist das berühmte Beispiel Ernst Machs2. Nun wird aber aus dem Bewußtsein des Objekts im Spiegel noch nicht dadurch Selbstbewußtsein, daß ich ihm das Bewußtsein der Identität mit sich selbst hinzufüge. I.e. die Relation der Identität ist niemals hinreichend dafür, Selbstbewußtsein zu konstituieren, selbst dann nicht, wenn sie bewußt sein sollte. Sie ist niemals hinreichend dafür, mich selbst mit einem gegebenen Objekt zu identifizieren. Der Akt der Selbstidentifikation kann nicht auf der Relation der Identität beruhen. Deshalb kann er nicht durch eine bloße Reflexion auf sich selbst realisiert werden, in der ich mich selbst als ein Objekt antreffe, das ich dann, nachfolgend, identifiziere als mich selbst. Dieter Henrich nannte dies „Fichtes ursprüngliche Einsicht“3. Im Ausgang von diesem Problem entwickelten einige Philosophen die Idee, daß die Grundlage des Selbstbewußtseins eine andere Relation sein müsse, verschieden von der bloßen Relation der Identität oder der Reflexion; oder aber, daß die Grundlage eine besondere phänomenale Qualität sein müsse. Fangen wir mit dem ersteren an. Die Frage ist: was könnte diese andere Relation sein? Es kann nicht die Relation des Selbstbewußtseins als solche sein, denn diese garantiert nicht mein Selbstbewußtsein im Bewußtsein dieser Relation. Ich kann Bewußtsein einer anderen Person haben, die diese Relation zu sich selbst hat. Das Objektbewußtsein des Selbstbewußtseins ist für sich allein noch nicht Selbstbewußtsein. Aber wie könnte sonst eine Relation mein Selbstbewußtsein garantieren und damit Selbstbewußtsein konstituieren? Sie müßte nicht nur über sich selbst und womöglich noch über ein Objekt informieren, diese Relation müßte über ihre Zugehörigkeit informieren: über die Tatsache, daß sie selbst ausschließlich mir angehört. Aber das bedeutet, daß diese Relation nicht eine einfache Beziehung zwischen ihren Relata bzw. zwischen ihrem einzigen Relatum darstellen könnte. Sie müßte zugleich eine Relation zwischen diesem Relatum und sich selbst darstellen. Sie müßte so beschaffen sein, daß ihr Bewußtsein nicht nur Bewußtsein einer Relation wäre, sondern daß es Bewußtsein dessen wäre, daß dieses Bewußtsein selbst diese Relation ist oder zumindest involviert. Aber das ist kategorial unmöglich – und außerdem führte es in einen unendlichen Regreß. Die Kategorie der Relation kann nicht über sich selbst hinausgreifen und ihre eigene Instantiierung sein oder setzen. Deshalb kann das Selbstbewußtsein nicht einfach die Instanz einer Relation sein. Es muß mehr als dies sein. Es muß sozusagen selbstbezüglich sein in dem grundlegenden Sinn, daß es nicht einer Relation im kategorialen Sinn bedarf, um bezüglich 2

Cf. Ernst Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886, 3. Vgl. Dieter Henrich: „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, in: Subjektivität und Metaphysik (FS Wolfgang Cramer), hg. von D. Henrich / H. Wagner, Frankfurt a. M. 1966, 188 – 233. 3

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oder referential zu sein. Das bedeutet: Das Selbstbewußtsein muß in einer nichtrelationalen Selbstbezüglichkeit bestehen – wobei „nichtrelational“ zu verstehen ist im Sinn der Kategorie der Relation. Selbstbewußtsein muß in einem ursprünglichen Sich-Beziehen bestehen, das nicht als Instantiierung einer Relation verstanden werden kann. Aber warum kann das Selbstbewußtsein nicht in einer bestimmten phänomenalen Qualität bestehen oder zumindest sich auf einer solchen begründen? Es scheint doch, daß die Eigenempfindungen unseres Körpers eben diese Qualität besitzen. Wenn ich z. B. Schmerz empfinde, dann weiß ich ohne weiteres, daß dies mein Schmerz ist. Es wäre absurd, zu fragen: „Wem gehört dieser Schmerz zu, den ich empfinde?“. In diesem Fall schein die „Meinigkeit“, das Mir-Zugehören unmittelbar evident. Das Problem ist das folgende: Die Meinigkeit des Schmerzes kann nicht einfach Selbstbewußtsein der Schmerzempfindung selbst sein. Denn wenn das Selbstbewußtsein einfach nur das Wissen der Schmerzempfindung wäre, daß sie selbst Schmerzempfindung ist, i. e., wenn sie einfach nur Bewußtsein des Bewußtseins des Schmerzes von sich selbst wäre, dann wäre sie sonst nichts als selbstbewußter Schmerz und könnte sonst nichts sein als selbstbewußter Schmerz. Aber wenn ich Schmerz empfinde, dann ist mein Bewußtsein nicht, daß ich vollständig und allein in dieser Empfindung bestehe. Ganz im Gegenteil, ich bin mir dessen bewußt, daß mein Zustand anders sein könnte – und tatsächlich anders sein sollte, denn ich mag den Schmerz nicht. Der Schmerz zeigt sozusagen an, daß er einem zugehört, das nicht schlechthin identisch mit ihm ist, i. e. das nicht einfachhin Schmerz ist. Deshalb können Empfindungen wie der Schmerz zwar Indikatoren des Selbstbewußtseins sein, aber sie können es nicht grundlegen. Denn sie selbst artikulieren, daß sie selbst nicht das Selbst des Selbstbewußtseins sind, sondern bloß diesem Selbst zugehören. Sie stellen sozusagen bloße Prädikationen des Selbst des Selbstbewußtseins dar. Aber damit setzen sie voraus, daß dieses Selbst schon ihnen vorausgegeben sei und daß es unabhängig von ihnen selbstbewußt sei: daß dieses Selbstbewußtsein sich z. B. im Übergang vom Schmerz zum Aufhören des Schmerzes fortsetzen könne. Wenn die phänomenale Qualität solcher Empfindungen diese Differenz in sich selbst enthalten sollte, dann müßte sie wiederum etwas kategorial Unmögliches darstellen: Sie müßte eine Qualität sein, die zugleich Relation ist. Wiederum müßte das Bewußtsein dieser Qualität das Bewußtseiende nicht nur über sich selbst und ihre Identität informieren, sondern über die Relation, die sie, die Qualität, zu diesem Bewußtseienden selbst hat. Aber das ist unmöglich. Eine Qualität kann nicht zugleich die Relation dieser Qualität zu etwas sein, und darüber hinaus noch diejenige Relation, die anzeigt, daß im Bewußtsein dieser Qualität das Bewußtseiende des Selbst seines Selbstbewußtseins bewußt ist. Dies bedeutet, daß die Eigenempfindungen meines Körpers nicht zur Erklärung des Selbstbewußtseins dienen können, sondern im Gegenteil einer Erklärung bedürfen, die ein ursprüngliches Selbstbewußtsein zugrunde legen muß.

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II. Von Fichte zu Hegel Johann Gottlieb Fichte meinte, er könne das Problem des Selbstbewußtseins durch einen ursprünglichen Akt des Selbst lösen, durch eine sogenannte Tathandlung4. Das Ich ist, aber es ist nicht in der Art und Weise, wie die Objekte sind. Sein Sein ist Bezüglichsein, referentiales Sein, i. e. sein Sein ist referentialer Akt – und nicht bloß: ein Sein das sich (dann) bezieht und das handelt. Das Ich ist nicht ein Sein, das in eine Relation eintritt oder in ihr steht, z. B. in der Relation der Identität mit sich selbst. Es ist nicht ein etwas, das eine Relation instantiiert. Es ist dieses ursprüngliche Sich-Beziehen selbst. Dieser referentiale Akt des Ich ist selbstbezüglich, er besteht im Setzen des Ich durch das Ich. Das Ich ist nicht nur Resultat dieses Akts, es besteht in diesem Akt, es ist nichts außer ihm, nichts, das verschieden von dieser selbstbezüglichen Tathandlung wäre. Das mag – möglicherweise – die Frage des Seins des Ich lösen. Das Existieren der Subjektivität ist ein Existieren sui generis, grundlegend verschieden vom Existieren der Dinge. Es handelt sich um eine nichtkategoriale Existenz, wie übrigens schon Kant festgestellt hatte. Aber wenn wir Fichtes Konzeption als Lösung des Problems des Selbstbewußtseins akzeptieren, dann stellt sich ein anderes Problem. Denn im Ausgang von dieser Konzeption wird es unverständlich, wie dieses selbe Ich Fremdbewußtsein haben könne, nämlich Bewußtsein von Dingen, die verschieden von ihm selbst sind. Selbstverständlich bietet Fichte eine Lösung für dieses Problem an. Er fügt dem ersten Prinzip der Auto-Existenz oder dem Selbstsetzen des Ichs ein zweites Prinzip des Selbst-Entgegensetzens hinzu, durch welches das Ich selbst den Raum dessen eröffnet, was von ihm selbst verschieden ist5. Das Problem (das schon Schelling sah) ist: wenn dieser Akt des Entgegensetzens verschieden ist von demjenigen des Setzens, wie es in der Wissenschaftslehre von 1794 der Fall ist, dann kann das Ich dieses Akts nicht identisch mit dem Ich des ersten Prinzips sein, denn dieses besteht vollständig und ausschließlich im Akt des Selbstsetzens, wie wir gerade erläutert haben. Dann kann aber das selbstbewußte Ich nicht dasselbe Ich sein, das Bewußtsein von Dingen hat, die von ihm selbst verschieden sind. Aber eben dies ist ja der Fall. Die Lösung, die Hegel anbietet, besteht darin, die zwei artverschiedenen Akte gewissermaßen in einer einzigen Art von Akt zu vereinigen. Zugleich muß Hegel aber diesen Akt verdoppeln um die beiden Aspekte des Bewußtseins, das Selbstbewußtsein und das Fremdbewußtsein artikulieren zu können. – Der einfache Akt der in sich Fichtes Setzen und Entgegensetzen vereinigt, ist die Negation. Das mag verblüffen, denn die Negation scheint etwas noch Einfacheres zu sein als die Entgegensetzung und etwas noch Ärmeres als das Setzen. Aber eben dies ist die Lö4

Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: ders., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth / Hanz Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., Bd. I, 91 f. 5 Ebd. 101 ff.

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sung: Der ursprüngliche Akt muß etwas noch Basaleres sein als die Tathandlung Fichtes6. Der erste Schritt Hegels besteht also darin, Fichtes Prinzipien auf das Prinzip der Negation zurückzuführen. Der zweite Schritt ist die Umkehrung der Ordnung der Fichteschen Prinzipien, die nunmehr zu bloßen Momenten einer dialektischen Bewegung werden. Der erste Schritt ist nicht das Setzen, sondern das Negieren. Das Verhältnis der Entgegengesetzten ist das Resultat des Negationsakts. Nun scheint es aber doch so, daß man, um negieren zu können, etwas voraussetzen muß, das negiert wird. In einem ersten Moment ist das tatsächlich so. Dies ist der Moment des Anfangs der Wissenschaft der Logik, die von etwas einfachhin Gegebenen ausgehen muß, etwas schlechthin Unmittelbaren, Abstrakten: dem reinen Sein7. Allerdings will Hegel in der Folge zeigen, daß selbst dieser vollkommen einfache und unmittelbare Anfang verstanden werden kann und muß als Resultat von Negation. Das werden wir im Folgenden sehen. Der zweite Schritt Hegels ist die Verdoppelung und Selbstanwendung der Negation, die Negation der Negation8. Diese ist unter formalem Gesichtspunkt Affirmation, sie stellt also eben dasjenige Setzen dar, das bei Fichte erstes Prinzip war. Allerdings ist die Hegelsche Negation der Negation struktural nicht bloß abstrakte doppelte Negation, die einfach auf das vorausgesetzte erste Positive zurückführt. Die Negation der Negation negiert die bloß negative, ausschließende Relation zwischen den Entgegengesetzen, die Resultat der ersten Negation war. Dies bedeutet aber, daß sie diese vereinigt in einer höheren Einheit, in der sie zugleich differenziert und bewahrt werden. Sie werden begriffen in einer Relation, die diese höhere Einheit selbst darstellt, nämlich in Form eines Aktes oder einer Handlung. Der erste solche Akt im Hegelschen System ist das Werden, das in sich das reine Sein und das reine Nichts vereinigt. Natürlich ist das Werden noch nicht Handlung im eigentlichen Sinn. Es ist ein bloßes Sich-Vollziehen, dem noch die Bestimmung der Spontaneität fehlt. Aber es enthält schon ein wesentliches Moment der subjekthaften Handlung und Bezüglichkeit, nämlich die Dynamizität. Diese Positivität, die Resultat der doppelten Negation ist, kann als Ausgangspunkt für einen neuen Negationsvollzug dienen. Auf dieses Weise entwickelt sich die Hegelsche Dialektik fort. Aber es ist ganz wichtig, daß die Negation der Negation nicht bloß eine neues Positives zu setzen vermag. Sie vermag auch gerade 6

Eine ausführliche Darstellung von Hegels dialektischer Methode und der Rolle der Negation in ihr habe ich gegeben in: K. Utz: Die Notwendigkeit des Zufalls. Hegel spekulative Dialektik in der „Wissenschaft der Logik“, Paderborn 2001. Vgl. auch: „Absolute Methode?“, in: K. Utz / Alexander Oberauer / Anton Friedrich Koch (Hg.): Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen Subjektiven Logik, Paderborn 2003, 189 – 207. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik (WdL), in: ders.: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. d. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Im folgenden zitiert mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl; hier: GW 21, 68 f. 8 Vgl. Hegel: WdL, GW 12, 246 f.

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eben dasjenige erste Positive zu ersetzen oder zu setzen, von dem die erste Negation als Voraussetzung ausgeht9. Es ist nicht nur für das System Hegels unbedingt erforderlich, daß sie dies vermag, daß nämlich die dialektische Methode ihren eigenen Ausgangspunkt zu setzen vermag. Denn ohne dies würde das System von einer Voraussetzung abhängig bleiben. Es könnte sich niemals darstellen als unbedingtes, als absolutes System, wie Hegel will. Das Schließen des Kreises ist auch dazu nötig, das Erfordernis des Selbstbewußtseins nach der Fichteschen Einsicht einzulösen bzw. dafür, daß die Einheit des Selbstbewußtseins nicht an der Hegelschen Integration der Andersheit in dieses Selbstbewußtsein zerbricht, die die Lösung des Problems des Fremdbewußtseins darstellen soll. Es ist also von größter Wichtigkeit, daß die dialektische Bewegung sich nicht bloß fortsetzen kann, sondern daß sie sich in sich selbst schließen kann, daß sie einen Kreis beschreiben kann, daß sie zyklisch ist. Hegels System ist seinem Wesen nach enzyklopädisch oder zumindest enzyklisch. Es muß in einem Zyklus bestehen, der seinerseits in Zyklen besteht, in einem „Kreis von Kreisen“, wie Hegel selbst formuliert10. III. Idealistisch-enzyklopädische Philosophie Der entscheidende Punkt hierbei ist, daß ein solcher Kreis nur auf subjekthafte Weise gegeben sein bzw. sich vollziehen kann, wie Fichte gezeigt hat. Kein bloßes Objekt kann auf diese Weise gegeben sein oder existieren. Ein Objekt kann nur in einer Relation der Selbstbezüglichkeit zu sich selbst stehen. Aber es kann nicht selbst dieses Sich-Beziehen sein. Es kann nur in kategorialer Weise existieren. Es kann nicht referential existieren. Das kann nur das Subjekt. Aber das bedeutet, daß letztlich allein das Subjekt denjenigen Zyklus vollziehen kann, den Hegel benötigt, um seine philosophische Wissenschaft zu begründen11. Deshalb muß diese Philosophie idealistisch sein. Allein das Subjekt ist derjenigen „existenzialen“ Selbstbezüglichkeit fähig, die die Grundlage von allem sein muß. Der Kreis der philosophischen Enzyklopädie kann sich nur schließen als Subjekt. Alle Realität muß wesentlich im Subjekt begriffen sein. Das bedeutet nicht nur, daß alle Realität durch ein Subjekt wahrgenommen oder gedacht werden muß. Das war der subjektive Idealismus Berkeleys, den Hegel zurückweist. Das Sein selbst der Realität, der Modus der Realität, muß Existenz oder Wirklichkeit nach Art und Weise der Subjektivität sein, es kann nicht Existenz nach Art und Weise der Objektivität sein, i. e. nicht kategoriale Existenz. (Ich verwende das Wort „Existenz“ hier natürlich im gewöhnlichen Sinn, nicht nach der Hegelschen Terminologie.) Dieser letztere Modus der Existenz ist nachrangig. Die objektuale Existenz erscheint nur innerhalb des Kreises des Existierens oder der Wirklichkeit des Sich-selbst-Verwirklichens des Subjekts, nämlich als eine der einseitigen, für sich allein ungenügenden For9

Vgl. ebd. 297 f. Ebd. 252. 11 Vgl. z. B. ebd. 15 ff., 283 ff.

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men, in denen sich dieser Kreis entfaltet. Objekthafte, kategoriale Existenz kann es nur geben innerhalb der Selbstbezüglichkeit der Subjektivität. Darin stimmt Hegel vollkommen mit Fichte überein. Bei Fichte allerdings schließt sich der Kreis der Selbstbezüglichkeit allein im reinen Selbstsetzen des Ich, in dem dieses ausschließlich sich selbst setzt. Die dialektische Entwicklung, die in der Fichteschen Philosophie auf dieses erste Prinzip folgt, angefangen mit dem zweiten Prinzip der Entgegensetzung, schließt sich nicht zum Kreis, sondern besteht in einer unendlichen Annäherung des Ichs an sich selbst in einem Prozeß der Befreiung. Damit kann es aber keine enzyklopädische philosophische Wissenschaft mehr geben. Gegen Fichte kann es so recht besehen überhaupt keine wissenschaftliche Philosophie geben, und noch nicht einmal Bewußtsein, das Selbst- und Fremdbewußtsein in sich vereint, wie wir gerade erörtert haben. Deshalb löst Hegel diejenige Subjektivität, in deren Kreis der Selbstbezüglichkeit die Wirklichkeit sich konstituiert, von demjenigen Ich, das wir endliche Menschen sind. Diesen Schritt hatte bereits Schelling (und der späte Fichte selbst) vollzogen, aber ich kann hier nicht auf die geschichtlichen Aspekte eingehen. Hegel möchte zeigen, daß Subjekt zu sein wesentlich bedeutet, Geist zu sein. Und den Geist gibt es nicht nur als subjektiven, sondern auch als objektiven und absoluten12. Der Geist verwirklicht sich rein in den Ideen, die er denkt. Die Idee der subjekthaften Selbstbezüglichkeit, die das gesamte reine Denken in sich begreift, ist die logische absolute Idee13. Deshalb steht bei Hegel das endliche Subjekt wie du und ich systematisch zwischen dem logisch Absoluten auf der einen Seite, das basaler ist als wir, und dem geisthaft Absoluten auf der anderen Seite, das vollkommener ist als wir. Nur auf diese Weise kann der Kreis der philosophischen Wissenschaften sich schließen. Die enzyklopädische Philosophie Hegels funktioniert nur auf der Grundlage des Konzepts der absoluten Idee im absoluten Geist14, denn allein dieses kann denjenigen Kreis der Selbstbezüglichkeit darstellen, in dem die gesamte Wirklichkeit zusammen mit der Logik ihren Platz finden. Wir endliche subjektive Geister sind selbstverständlich nicht in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen. Wenn wir Hegels Konzeption der absoluten Idee im absoluten Geist würdigen wollen, dann müssen wir zunächst einmal verstehen, daß sie keinen Rückfall in die alte Metaphysik darstellt. Diese wollte zeigen, daß die Existenz der bedingten Wesen die Existenz eines unbedingten Wesens erfordert. Im Gegensatz dazu zeigt uns Hegel, daß der gewöhnliche Existenzbegriff, nämlich der kategoriale, unzulänglich ist. Existenz kann es nicht einfachhin geben. Sie kann nur gedacht werden im Zusammenhang eines Umfassenderen, innerhalb dessen sie bloß ein Moment darstellt. Dieses Umfassendere muß zyklisch-dynamische Struktur haben. Es muß in einem Sich-auf-sich-selbst-Beziehen bestehen, wie wir oben gezeigt haben. Hegels absolute Idee ist nicht absolut in der Weise des Gottes der alten Metaphysik. 12

Vgl. Hegel: Enz. §§ 483 ff., 553 ff. Vgl. Hegel: WdL, GW 12, 283 ff. 14 Vgl. Hegel: Enz., §§ 574, 577.

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Eher ist sie absolut im transzendentalen Sinn Kants, auch wenn sie über die Konzeption eines bloßen Transzendentals hinausgeht. Aber die absolute Idee ist nicht ein Unbedingtes in einer Kette von Relationen des Bedingens, sondern sie ist wie die transzendentalen Formen Kants dasjenige, was erforderlich ist, um solche Bedingungsbezüge überhaupt erst zu etablieren. Alles ist verbunden durch die Selbstbezüglichkeit der absoluten Idee im absoluten Geist und in dieser Selbstbezüglichkeit des Geistes. Interessanterweise finden wir schon bei Kant die Einsicht, daß diejenige Existenz (das Dasein), die das transzendentale Subjekt sich zuschreibt, nicht kategoriale Existenz sein kann – so, wie die Einheit der Synthesis der transzendentalen Apperzeption nicht kategoriale Einheit sein kann15. Es muß präkategoriale Existenz und Einheit geben. Und eben diese sind die Grundlage und der Ursprung aller kategorialen Einheit und Existenz, aller logischen Formen wie auch der transzendentalen und formalen Logik selbst. Aber Kant entwickelt diesen Gedanken des präkategorialen Modus der Existenz und der Einheit, wie übrigens auch der Bezüglichkeit und der Negation nicht weiter. Erst Fichte tut das, wie wir gesehen haben. Dieser Schritt, den Fichte über Kant hinaustut, hat eine wichtige Konsequenz: Wenn Fichte die präkategoriale Existenz im selbstbezüglichen Akt des Ichs ansiedelt, durch den es sich selbst setzt, dann vermag er in der Folge die kantische empirische Welt von der Bedingung des kantischen Dings-an-sich zu entkoppeln. Die empirische Welt ist schlicht und einfach die Wirklichkeit, es gibt nicht noch eine „zweite Wirklichkeit“ außer der empirischen Realität, nämlich die nuomenale Wirklichkeit des Dings-an-sich. Darin stimmt Hegel mit Fichte überein, nur daß bei ihm das ursprüngliche Subjekt anstelle des endlichen Ichs die absolute Idee im absoluten Geist ist. Aber damit bleibt das Absolute Hegels direkt mit der Wirklichkeit verbunden. Es ist kein transzendentes Absolutes wie der Gott der traditionellen Metaphysik. Das wurde schon oft festgestellt. Aber es ist auch nicht ein immanentes Absolutes im eigentlichen Sinn des Worts, sondern es ist ein solches, das die Innerlichkeit der Welt konstituiert, nämlich das durch seine dynamische Selbstbezüglichkeit einen Kreis konstituiert, durch den die Realität als ein Einhegendes und die realen Dinge als immanente begriffen werden können. Innerhalb des Kreises erscheint der Geist in der Gestalt von endlichen Geistern. Diese können subjektiv sein wie ich und du oder objektiv wie das Recht oder die Staaten. Aber der absolute Geist befindet sich weder außerhalb noch innerhalb des Kreises der Wirklichkeit, sondern er ist das, was diesen Kreis grundlegt und vollzieht – und das eben deshalb, aber auch nur deshalb, größer ist als das, was dieser Kreis in sich schließt. Damit ist das Absolute Hegels auch verschieden von dem Spinozas, es ist kein pantheistischer Gott. Der erste, grundlegende Unterschied ist, daß das Hegelsche 15

Vgl. Kant: KdrV, B 131.

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Absolute Subjekt ist, was das spinozistische nicht ist. Diesen Unterschied hebt Hegel selbst mehrfach hervor16. Der zweite grundlegende Unterschied, der unmittelbar mit dem ersten zusammenhängt, ist, daß der absolute Geist nicht einfach identisch ist mit dem Gehalt der Kreise der Wirklichkeit. Sein Sein oder seine Wirklichkeit ist nicht einfach das objekthaft-kategoriale Existieren. Es ist ein akthaft-selbstbezügliches Sein oder Sich-Verwirklichen wie vorhin dargestellt. Wir finden also bei Hegel eine radikal neue Konzeption des Absoluten, die weder diejenige der traditionellen Metaphysik noch diejenige Spinozas ist, die aber auch nicht nur ein Absolutes im transzendentalen Sinn Kants ist. Wir finden bei Hegel den Gedanken der Welt als Moment der Selbstverwirklichung dieses Absoluten und unserer selbst als Momente seines Selbsterkennens als Geist, nämlich der Rückkehr seiner selbst zu sich selbst in der Geschichte. Wir finden uns selbst wieder in einer Welt, die in ihrem Grund Geist ist. Wir finden uns sozusagen wieder in einer Welt, die uns vergeschwistert ist, wo alles in beständiger dynamischer Gemeinschaft und Mitteilung steht, in einem trunkenen Taumel der Wahrheit, der doch stets in einfacher Ruhe bleibt17. Das existenzielle Gefühl dieses Idealismus findet seinen besten Ausdruck vielleicht in Schillers Ode an die Freude: Freude, schöner Götterfunke, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken Himmlische, dein Heiligtum. […] Alle Menschen werden Brüder […]

Wir müssen allerdings das Wort „Freude“ durch „Freiheit“ ersetzen, denn in der Hegelschen Philosophie ist diese die höchste Bestimmung und die tiefste Wahrheit der Existenz – nicht bloß der menschlichen, sondern letztlich des Ganzen. Denn die Freiheit ist die vollkommenste Verwirklichung der subjekthaften Existenz, i. e. der dynamischen nichtrelationalen, präkategorialen Selbstbezüglichkeit, die das Prinzip von allem sein muß. Das bloß kontemplative Selbstbewußtsein ist nur ein Moment der Freiheit. IV. Kritische Bemerkungen Was ist das Problem dieser Konzeption? Das existenzielle Problem ist, daß es uns nicht gelingt, in der Euphorie der Freiheit zu verbleiben, in dem trunkenen Taumel auf der einen Seite und der einfachen Ruhe auf der anderen, im Heiligtum des absoluten Geistes, das unsere Wirklichkeit sein soll, und im Bewußtsein unserer selbst als im absoluten Verhältnis zu Gott als Geist stehend, der in uns wohnt18. 16

Vgl. z. B. Hegel: WdL, GW 11, 376 ff.; GW 12, 14. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes (PhG), GW 9, 35. 18 Vgl. Hegel: Enz § 482 Anm.

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Früher oder später ist der Karneval wie auch die Ruhe zu Ende, die Begeisterung verflüchtigt sich. Das theoretische Problem besteht darin, daß die Identifikation meiner selbst mit der eigenen Verwirklichung des absoluten Geistes durch sich selbst, nämlich als Moment dieser Verwirklichung in der Geschichte, sich in letzter Konsequenz nicht aufrechterhalten lässt. Hegel vertritt, daß der Geist, sei er nun subjektiv, objektiv oder absolut, durch eine begriffliche Struktur der Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet ist. Diese Struktur ist eben diejenige der absoluten Idee der Hegelschen Logik. Diese Idee verschafft sich ihre Wirklichkeit in Raum und Zeit im Geist. Eben diese begriffliche Struktur der Selbstbezüglichkeit ist es, die alle Formen des Geistes vereint. Sie wird vollständig verwirklicht allein durch den absoluten Geist, aber sie findet sich in unvollkommener Verwirklichung bereits in den endlichen Formen des Geistes. Diese Struktur ist eben die des Selbstwissens und der Freiheit. Aber das bedeutet, daß bei Hegel die Selbstbezüglichkeit des Subjekts zu einer begrifflichen Struktur wird. Diese muß dem Geist als eine logisch-begriffliche Struktur vorausgesetzt werden, nämlich eben als Idee. Das funktioniert m. E. nicht. Bevor ich diese Kritik weiter ausführe, möchte zunächst ich erklären, was sie nicht besagen soll. Meine Kritik ist nicht, daß Hegel in das Mißverständnis des Selbstbewußtseins als kategorial-dinghafter Struktur zurückfällt, nämlich als Struktur eines Objekts zusammen mit einer Relation, die dieses Objekt zu sich selbst hat. Hegels Mißverständnis geht sozusagen in die entgegengesetzte Richtung. Er möchte die Struktur des Selbstbewußtseins aufheben nicht in eine kategorialdingliche Struktur, sondern in eine logisch-begriffliche. Er versucht, die Struktur des Selbstbewußtseins und der Freiheit vom individuellen Ich zu lösen. Er will sie dann ursprünglich einer logischen Struktur zuschreiben: derjenigen des Begriffs und dann schließlich der absoluten Idee. Und letztlich will er sie einer transindividuellen Struktur des Geistes zuschreiben, nämlich zunächst dem objektiven Geist und dann schließlich dem absoluten. Aber die Hegelsche Konzeption einer prä- und dann transindividuellen Subjektivität löst nicht das Problem des Selbstbewußtseins, nämlich unseres Selbstbewußtseins als endlicher Wesen in Raum und Zeit. In diesem Selbstbewußtsein habe ich das Bewußtsein, daß dieses Selbstbewußtsein unbedingt und ausschließlich meines sei. Nach Hegel ist das ein Irrtum. Mein Selbstbewußtsein ist nicht etwas Privates, etwas, das nur mir gehört, das nicht kommunizierbar und nicht übertragbar ist. Im Gegenteil, gerade vermöge des Selbstbewußtseins gehöre ich mit anderen zusammen, mit anderen Subjekten und, in letzter Konsequenz, mit der Wirklichkeit als ganzer. Vermöge dieser Selbstbezüglichkeit stehe ich ursprünglich in einer steten Kommunion mit aller Wirklichkeit. Ich bin sozusagen selbst nur ein Moment dieser dialektisch-dynamischen Gemeinschaftlichkeit und Kommunikation, die mit der Logik beginnt, nämlich mit der Kommunikation der logischen Begriffe unter sich und mit ihrem Sich-selbst-Begreifen in der absoluten Idee; und die sich über mich hinaus fortsetzt in den Formen des objektiven Geists und im absoluten Geist.

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Aber damit erklärt Hegel eben das zum Mißverständnis oder zu einem noch ungenügend entwickelten Verständnis, was Ausgangspunkt unserer Untersuchung war. Sicherlich, Hegel bietet uns eine Erklärung an, wie dieses Mißverständnis der Selbsterfassung des Subjekts entstehen kann und sogar muß. Aber er besteht darauf, daß es überwunden werden muß und kann. Eben das gelingt uns jedoch nicht. Wir können zwar womöglich den Begriffen, der absoluten Idee, dem Staat und dem absoluten Geist Subjektivität zuschreiben. Wir mögen Hegel zugestehen, daß all diese auf subjekthafte Weise selbstbezüglich seien, daß sie Selbstverständnis besäßen und sogar Freiheit. Aber es ist uns unmöglich, unser eigenes Selbstbewußtsein mit deren Subjektivität identifizieren. Denn in Wahrheit ist es unmöglich, daß ich mein Selbstbewußtsein überhaupt mit irgendeiner fremden Subjektivität identifiziere. Das Selbstbewußtsein kann nicht ein Begriff sein, den ich auf mich selbst anwende oder den ich als auf mich selbst zutreffend anfinde. Ein Begriff kann sich sehr wohl auf sich selbst anwenden und sich so selbst instantiieren. Das paradigmatische Beispiel hierfür ist der Begriff des Begriffs. Dieser Begriff verwirklicht seine eigene Instantiierung. Da genau dies zentrales Kennzeichen des Ichs war, scheint Hegel auf den ersten Blick darin gerechtfertigt, dem Begriff Subjektivität zuzugestehen. Ja noch mehr: der Begriff des Begriffs umfasst außer sich selbst noch eine Fülle anderer Begriffe. Er ist also nicht nur selbstbezüglich, sondern auch fremdbezüglich. Und da die anderen Begriffe, obwohl verschieden vom Begriff des Begriffs, doch alle ebenfalls Begriffe sind, kann der Begriff des Begriffs in diesen anderen Begriffen sich selbst wiederfinden, eben so, wie das selbstbewußte Ich sich selbst in jedem Bewußtsein wiederfindet, das es von Dingen außer sich hat. Tatsächlich gibt es starke Analogien zwischen dem Begriff des Begriffs und dem selbstbewußten Ich. Sie sind jedoch nicht hinreichend dafür, beide miteinander zu identifizieren. Ich kann hier nur noch ein einziges Argument gegen die Subjektivität des Begriffs anführen. Dieses schließt nicht vollständig die Möglichkeit aus, daß der logische Begriff in irgendeiner Form Subjekt sei. Aber es zeigt, wie ich meine, daß er nicht Subjekt in der Weise sein kann, wie du und ich Subjekte sind. Dieses Argument ist sehr einfach (und es ist auch nicht ganz originell, s. Anm. 20): Ein Begriff kann niemals ein Indexikal (bzw. ein Demonstrativum) sein. Er kann niemals ein Dies, ein Hier oder ein Jetzt anzeigen. Wenn die Ausdrücke „dies“, „hier“ und „jetzt“ als Begriffe genommen werden, werden sie leer. Das zeigt Hegel in der PhG im Kapitel über die sinnliche Gewißheit19. Damit möchte er die Überlegenheit des Begrifflichen über die unmittelbare Gewißheit – oder besser: über die angeblich unmittelbare Gewißheit herausstellen, die Überlegenheit des Allgemeinen über das schier Einzelne. Aber ein Begriff kann niemals ein Hier und Jetzt festlegen, er vermag nicht, sich selbst in Raum und Zeit zu verorten. Begriffe können Relationen

19

Vgl. Hegel: PhG, GW 9, 63 – 70.

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in Raum und Zeit bestimmen. Aber da Raum und Zeit keine absoluten Koordinaten besitzen, vermögen Begriffe nicht, eine Position in Raum und Zeit zu etablieren. Nun ist es aber gerade diese (objektive wie subjektive) Verortung in Raum und Zeit als endliche, die uns, die subjektiven Geister, von der absoluten Idee auf der einen und dem absoluten Geist auf der anderen unterscheidet. Aus Hegels Sicht ist diese Verortung eine bloße Beschränkung. Aber in Wahrheit etabliert diese Verortung etwas, das uns weder die Logik noch der absolute Geist zu liefern vermögen. Die bewußte Selbstverortung in Raum und Zeit ist ein ursprünglicher, irreduzibler Beitrag20. Dieser Beitrag ist eben derjenige unseres gewöhnlichen Selbstbewußtseins, des Selbstbewußtseins subjektiver, endlicher Geister. Unser Selbstbewußtsein ist ursprünglich indexikalisches Selbstbewußtsein. Es ist nicht bloß apriorisches Selbstbewußtsein in dem Sinn, daß es nicht von Erfahrung abhängt und niemals durch diese gewonnen werden kann. Es ist ebensowohl Selbstbewußtsein, das sich hier und jetzt lokalisiert. Dem Gehalt nach ist diese Lokalisierung tautologisch. Daß ich hier und jetzt existiere, ist ebenso absolut sicher wie es absolut ohne informationalen Gehalt ist. Das Interessante ist der Akt dieser Lokalisation. Wenn ich indexikalisches Selbstbewußtsein habe, dann verorte ich mich selbst in Raum und Zeit. Ich setze die reine Struktur der Selbstbezüglichkeit, die als logische oder zumindest als apriorische Struktur begriffen werden kann und muß, hinein in das, was gerade nicht logisch und nicht begrifflich ist, wie uns Kant überzeugend dargelegt hat: in Raum und Zeit. Wenn wir recht zusehen, dann ist unsere Fähigkeit des Selbstbewußtseins eben nicht die bloße Fähigkeit zu demjenigen selbstbezüglichen dynamisch-existenzialen Akt, den wir oben beschrieben haben. Dieser Akt ist in demjenigen Selbstbewußtsein, das unseres ist, untrennbar verbunden mit dem Bewußtsein seines Eingelassenseins in die Zeit und letztlich auch in den Raum, hier und jetzt. Diese Verbindung muß ursprünglich sein, sie kann unserem Selbstbewußtsein nicht nachträglich beigebracht werden. Und eben deshalb kann sie den (reinen, logischen) Begriffen als solchen niemals beigebracht werden. Diese ursprüngliche Indexikalität unseres Selbstbewußtseins ist nun aber die Bedingung der Möglichkeit aller sonstigen Indexikalität und Demonstration. Die indexikalischen und demonstrativen Terme unserer Sprache gewinnen ihren Sinn nur von demjenigen her, das sprechen und zeigen kann. Aber allein wir, die endlichen Subjekte in Raum und Zeit, können ursprünglich in Raum und Zeit sprechen und zeigen. Eine prä- oder transindividuelle Subjektivität kann uns diese Fähigkeit nicht erklären.

20

Vgl. Anton Friedrich Koch: Subjektivität in Raum und Zeit, Frankfurt a.M. 1990, 34 – 45.

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V. Zurück zu Kant, ohne Hegel zu vergessen Wie können wir also diejenige Konzeption von Selbstbewußtsein fassen, die die Probleme von Hegels Subjektkonzeption überwindet und die sowohl dem transzendentalen wie auch dem indexikalischen Aspekt angemessenen Raum gibt? Ich kann das hier nicht mehr ausführen. Ich kann nur andeuten, daß wir m. E. zu Kant zurückkehren müssen, genauer zu seiner ursprünglichen Synthesis in der transzendentalen Apperzeption21. Diese vereint in sich jene beiden Momente, auch wenn Kant selbst das nicht hinreichend ausgeführt und wohl auch noch nicht gesehen hat. Fichte und nach ihm Schelling und Hegel haben sich auf den Aspekt der Unbedingtheit oder Unabkünftigkeit, nämlich den Aspekt der Spontaneität der transzendentalen Apperzeption konzentriert und zu dessen Aufklärung wertvolle Arbeit geleistet. Sie haben die Selbsterkenntnis des Subjekts von ihrer empirischen Bedingung befreit. Aber im Zuge dessen haben sie es seiner ursprünglichen Fähigkeit zur Selbstverortung beraubt. Diese Fähigkeit mag so leer erscheinen, daß sie zu vernachlässigen ist. Denn sie erlaubt dem Subjekt allein, zu wissen, daß es jetzt und hier verortet ist, was für sich genommen eine völlig leere Information darstellt. Aber allein diese leere Selbstverortung in Raum und Zeit erlaubt es dem Subjekt, sich auf sein Anderes nicht bloß in allgemeiner, begrifflicher Weise zu beziehen, sondern auf raumzeitliche Weise. Und da jegliche raumzeitliche Beziehung die Festsetzung eines Referenzpunkts erfordert, ist diese Fähigkeit grundlegend für unsere empirische Erkenntnis wie auch für unsere Beziehung zu anderen Subjekten als irreduzible Alteritäten. Es gibt weder empirische Erkenntnis noch Intersubjektivität ohne indexikalisches Selbstbewußtsein, ohne Subjektivität, die sich ursprünglich in Raum und Zeit verortet, i. e. deren Akt der Selbstkonstitution ein konkreter Akt in Raum und Zeit ist. Nach meinem Verständnis kann man diese Art von Akt im Ausgang von der ursprünglichen Synthesis der Apperzeption bei Kant begreifen. Ficht und Hegel helfen uns, den Aspekt der Spontaneität, des Selbstbereifens und der Freiheit in diesem Akt zu verstehen, den Kant nicht hinreichend ausgelotet hatte. Aber wir müssen zu Kant zurückkehren, um denjenigen Aspekt besser zu verstehen, den die Idealisten nach Kant beiseitegelassen haben: die unhintergehbar partikulare Subjektivität des Selbstbewußtseins in Raum und Zeit, die Subjektivität die wir sind. Freilich ist es uns endlichen Subjekten dann nicht mehr möglich, den Kreis der Wirklichkeit in unseren Ideen zu schließen oder auch in einer absoluten Idee, die wir zu denken vermöchten. Aber wir können etwas anderes: Wir haben das Vermögen, ein Zentrum, einen Mittelpunkt in Raum und Zeit zu setzen. Denn unser Selbstbewußtsein impliziert genau das: sich selbst zu begreifen als egozentrisch in Raum und Zeit. Diese Zentrizität ist absolut im schwachen Sinn. Sie ist ursprünglich und apriorisch, aber zugleich beschränkt sie sich radikal auf mein eigenes Selbstbewußtsein, auf seine Aktualität bzw. seinen Akt jetzt und hier. Jedes andere 21

Vgl. Kant: KdrV, B 132 ff.

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Subjekt ist ein anderes Zentrum, eine andere Egozentrizität, die niemals in die meine hineintreten kann. Aber diese endliche Egozentrizität ist hinreichend dafür, einen Mittelpunkt für die Kreise der Reflexion zu etablieren wie auch für das Begreifen der Wirklichkeit in diesen Kreisen. Dieses Begreifen bleibt immer unvollständig. Aber das ist nun kein Problem mehr für unser Begreifen der Wirklichkeit überhaupt. Denn der Kreis bestimmt sich nun nicht mehr von seiner Vollform her, sondern aus seinem Mittelpunkt heraus, zusammen mit der Fähigkeit dieses seines Zentrums, sich „hinauszustrecken“, nämlich sich auf ein anderes zu beziehen. Eben dies vermögen wir endliche Subjekte zu tun. Und eben das genügt. Literatur Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth u. Hanz Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., Bd. I. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. d. NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. d. NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. d. NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 13, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. d. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Henrich, Dieter: „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, in: Subjektivität und Metaphysik (FS Wolfgang Cramer), hg. von D. Henrich / H. Wagner, Frankfurt a.M. 1966, 188 – 233. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff. Koch, Anton Friedrich: Subjektivität in Raum und Zeit, Frankfurt a.M. 1990. Mach, Ernst: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886. Utz, Konrad: Die Notwendigkeit des Zufalls. Hegel spekulative Dialektik in der „Wissenschaft der Logik“, Paderborn 2001. Utz, Konrad: „Absolute Methode?“, in: K. Utz, Alexander Oberauer, Anton Friedrich Koch (Hg.): Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen Subjektiven Logik, Paderborn 2003, 189 – 207.

„Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt“: Zu Hegels enzyklopädischem Konzept wissenschaftlicher Wahrheit Gregor Schäfer (Basel) „Die Wissenschaft denkt nicht.“1

Hegel entfaltet sein Konzept einer philosophischen Enzyklopädie, im Abstand von je etwa einem Dezennium, in drei werkgeschichtlichen Sequenzen: ab 1808, während der Zeit des Rektorats am Egidiengymnasium zu Nürnberg, als Grundlage für den propädeutischen Unterricht daselbst; 1817 als Kompendium für die Vorlesungen an der Universität zu Heidelberg; 1827 und 1830 in den beiden überarbeiteten und modifizierten Fassungen, wie sie den Berliner Vorlesungen zugrunde liegen2. Im Blick auf das Programm einer Enzyklopädie als spekulativer Wissen1 Martin Heidegger: „Was heißt Denken?“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 129 – 143, hier: 133. 2 Cf. für die Nürnberger Enzyklopädie: Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse (1808 ff.), in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, auf der Grundlage der Werke von 1832 ff. hg. v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1969 ff. Im folgenden Werke, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl und, für die Enzyklopädien, der Paragraphen, hier: Werke 4, 9 – 69. Hierbei handelt es sich um den Text nach Karl Rosenkranz, wie er von ihm zuerst um 1840 im Bd. XVIII (Zweiter Kursus, Dritte Abt.) im Rahmen der Freundesvereinsaugabe herausgegeben wurde. – Für die Heidelberger Enzyklopädie Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), in: ders.: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. d. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Im folgenden GW, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl und, für die Enzyklopädien, der Paragraphen, hier: GW XIII. – Für die beiden Ausgaben der Berliner Enzyklopädie Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), in: GW XIX; ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in: GW XX. Für die Zusätze zur Ausgabe von 1830 wird verwiesen auf Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I–III (1830), in: Werke 8 – 10. – Im Rahmen der vorliegenden, zuvörderst auf die sachliche Tragweite, nur andeutungsweise die werkgeschichtliche Genesis des Hegel’schen Konzepts von Enzyklopädie abzielenden Fragestellung kann und soll auf die zahlreichen – ihrerseits freilich keineswegs nur philologischen, sondern durchaus auch systematisch-systematologischen – Unterschiede und Nuancen zwischen den Ausgaben nicht näher eingegangen werden. Im Fokus der Überlegungen steht die für die systematische Konzeption des reifen Hegel maßgebliche Berliner Enzyklopädie von 1830, wohingegen die weniger umfassende Ausgabe von 1827 hinsichtlich der Fragestellung gegenüber jener keine spezielle Bewandtnis hat; sie wird durch Verweise auf die Nürnberger und Heidelberger Fassungen ergänzt, in denen die Problematik einer philosophischen Enzyklopädie, wie Rosenkranz es für die Heidelberger Enzyklopädie ausdrückt, gegenüber der späteren Verdichtung „noch ganz den schöpferischen Hauch der

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schaft richtungsweisend unterscheidet Hegel bereits in der Nürnberger Philosophischen Enzyklopädie für die Oberklasse zwischen einer „gewöhnlichen Enzyklopädie“, in der „die Wissenschaften empirisch aufgenommen“ werden, „wie sie sich vorfinden“, einesteils und einer im eigentlichen Verstande „philosophische[n] Enzyklopädie“ als der „Wissenschaft von dem notwendigen, durch den Begriff bestimmten Zusammenhang“3 andernteils. Mit dem sich durchhaltenden Modell einer spekulativ gedachten Enzyklopädie verfolgt auch der reife Hegel die systematisch-begründungstheoretische Intention, die für die Neuzeit und Moderne – „in dem Meere der empirischen Einzelnheiten“4 – charakteristische Pluralität und Differenzierung einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse in einem ausgezeichnet selbstreflexiven Modus in die Einheit ihrer wahren Form zu bringen. In den einleitenden Paragraphen der Berliner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse hebt Hegel entsprechend die differentia specifica zwischen einzelwissenschaftlicher und philosophischer Begriffsbildung hervor: Während von den Einzelwissenschaften hier gesagt wird, sie könnten „ihre G e g e n s t ä n d e , als unmittelbar von der Vorstellung zugegeben, so wie die M e t h o d e des Erkennens für Anfang und Fortgang, als bereits angenommen, v o r a u s s e t z e n “5, wird derjenige emphatische wissenschaftliche Anspruch, der von philosophischem Denken erhoben wird, als „das r e f l e c t i r e n d e Denken“ bestimmt, „welches G e d a n k e n als solche zu seinem I n h a l t e hat und zum Bewußtseyn bringt“6. Damit ist die Spezifik der von Hegel anvisierten Enzyklopädie angezeigt: Sie setzt sich in ihrem metawissenschaftlichen Anspruch auf Begründung über die Einzelwissenschaften keineswegs einfach hinweg, sondern macht die Voraussetzungen und Ansprüche explizit, die in diesen implizit immer schon enthalten sind – und die in diesen, als in Formen endlichen Wissens, konstitutiv nur implizit enthalten sein können7. ersten Production“ hat und – im Blick auf „Hegel’s System in seiner concentrirten Totalität“ – hier „mit der ganzen Kraft des primitiven Erscheinens hervortrat“ (Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben, Berlin 1844, 306). Daß diese „Kraft“ bereits vor der Heidelberger Zeit in Nürnberg ihre ausgedehnte Vorbereitung findet, belegen die inzwischen in kritischer Aufarbeitung zugänglich gemachten Materialien in: Hegel: Nürnberger Gymnasialkurse und Gymnasialreden (1808 – 1816), in: GW X/1 – 2. 3 Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 10, §§ 5 f. 4 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 46, § 7. 5 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 39, § 1. 6 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 40, § 2. 7 Der Terminus „metawissenschaftlich“ kann – wie es von den vorliegenden Ausführungen in einigen Zügen gezeigt werden soll – im Blick auf Hegels enzyklopädisches Projekt nur dann sinnvoll in Anschlag gebracht werden, wenn er keine abgesonderte Wissenschaft im Sinne hat, die den einzelnen Wissenschaften äußerlich, additiv noch hinzuträte, sondern eine absolute Selbstreflexion intendiert, die als solche deren – in ihrem eigenen endlichen Bereich unmögliche – Letztbegründung vollzieht. Cf. zu dieser Terminologie kritisch: Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003, 143 f.; Walter Jaeschke: HegelHandbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart / Weimar 2003, 336 – 340. Dagegen macht diese Terminologie, in erhellenden Bezug auf Fichtes für eine begründungstheoretische Rekonstruktion des gesamten Deutschen Idealismus leitende Programmschrift Über den Begriff der

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Ziel der folgenden Ausführungen ist es, dieses spekulative Konzept von Enzyklopädie in einigen seiner Aspekte zu umreißen, um so – etwa gegen den in der Konstellation nach dem Deutschen Idealismus oft erhobenen Vorwurf, bei Hegels Wahrheitsanspruch handele es sich um eine unhaltbare Spekulation – die systematische Tragweite und Legitimität seines Anspruchs anzudeuten8. Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie (1794), geltend Vittorio Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1998, 22 – 38. Hösle zeigt hier überzeugend, daß es sich bei dieser Schrift Fichtes, in der die Philosophie als höchste Wissenschaft des ersten Prinzips der von den Einzelwissenschaften immer schon vorausgesetzten Prinzipien begründet wird, im über Fichte hinausweisenden objektiven Idealismus begründungstheoretisch keineswegs zurückgenommen oder negiert, sondern vielmehr konkretisiert wird (23); gegen eine auch aus Hegel’scher Perspektive oft vorschnell erhobene Fichte-Kritik stellt diese Prinzipienwissenschaft gegenüber den einzelnen Wissenschaften nicht ein diesen abstrakt übergeordnetes erstes Prinzip auf, sondern leitet „die Idee der Philosophie als Wissenschaft der Prinzipien immanent aus einem grundsätzlichen Problem der Einzelwissenschaft“ (ebd.) her. Das höchste Prinzip ist damit keine dem Inhalt der einzelnen Wissenschaften gleichgültige Form, sondern vollzieht sich – wie Hegel es im Rahmen spekulativer Logik ausarbeitet – als innere Einheit von Form und Inhalt, die nicht einfach abstrakt-unmittelbar gegeben sein kann, sondern sich wesentlich erst als System spekulativer Philosophie, mithin in der Formbestimmtheit einer Enzyklopädie, wie Hegel sie intendiert, erfüllen kann. – Anders als für Schelling kann es aus Hegel’scher Perspektive im Sinne dieser enzyklopädisch durchzuführenden Metareflexion insofern nicht darum gehen, im Gegensatz zur „empirischen Physik“ noch die separate Disziplin einer „spekulativen Physik“ zu begründen. Für Hegel gibt es keinen unüberbrückbaren Hiatus zwischen spekulativer Philosophie einerseits und einzelner Wissenschaft andrerseits, welcher eine solche Hypostasierung rechtfertigen könnte, denn im Medium des spekulativen Denkens sind Einzelnes und Allgemeines im übergreifenden Allgemeinen der als absoluter Geist zu sich selbst kommenden Idee gerade als Selbstunterschied aufgehoben; da Natur und Geist hier als Prinzipiate des Absoluten als der objektiven Vernunft zu denken sind, kann im Rahmen von Hegels spekulativem Idealismus stringent begründet werden, inwiefern die Natur, die mithin die Strukturen des Idealen spiegelt, im Geiste zu ihrer Selbsterkenntnis gelangt – und eben darin zugleich ihren ontologisch-axiologischen Eigenwert bewahrt – cf. dazu Vittorio Hösle: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik, München 1994, 208, 219 – 221, 226. Dagegen scheinen sich aus Schellings Fassung des objektiven Idealismus, da objektive Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie in ihr zuletzt nicht kohärent vermittelt werden können, paradoxerweise subjektiv-idealistische Konsequenzen zu ergeben, die der neopositivistischen Wissenschaftstheorie nicht unähnlich sind – cf. hierzu Hans Heinz Holz: „Natur und Gehalt spekulativer Sätze“, in: ders.: Speculum Mundi. Schriften zur Theorie der Metapher, spekulativen Dialektik und Sprachphilosophie, Bielefeld 2017, 155 – 198, hier: 166 – 171. Cf. für Schellings Verständnis von Spekulation, im angedeuteten Kontext, etwa Schelling: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie oder über den Begriff der spekulativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft (1799), in: ders.: Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Abt. I, Bd. 3, Stuttgart 1856 ff., 269 – 326, hier: 269, 274 f. 8 Der Vorwurf einer unhaltbaren Spekulation durchzieht die gesamte „nachmetaphysische“ Hegel-Rezeption. Er führt auch noch bei vielen solchen Rezeptionen – wie prominent etwa derjenigen Wilhelm Diltheys –, die einzelnen Systemteilen durchaus wohlgesonnen sind, dazu, Hegel ohne den Begriff des Absoluten, „losgelöst […] von der idellen Konstruktion“ (Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1981, 183) rezipieren zu wollen; cf. hierzu Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, 530 – 537. Daß ein zuletzt metaphysischer Begriff des Absoluten, wie er bei Hegel eine

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I. In der Phänomenologie des Geistes findet sich der für Hegels Verständnis von Wissenschaft zentrale Satz, „die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt“, sei das System9; und ebenso grundlegend, daß das Wahre das Ganze sei10. Hegels Wissenschaftskonzept, wie er es im Durchgang durch die Phänomenologie des Geistes vorbereitet und wie es, in deren Ausgang11, sodann in den logischen Kategorien der Wissenschaft der Logik seine Ausarbeitung findet, kann in dieser methodologischen Programmatik von Ganzem, Wahrem und System als spekulativer Holismus angesprochen werden. Und dies impliziert zugleich: Als spezifisch spekulative kann Wahrheit nicht bei der Form bleiben, in welche sie die Wissenschaft der Logik als logische Idee kulminieren läßt; die absolute Idee muß sich vielmehr in den Realwissenschaften der Natur und des Geistes wiederfinden und darin bewähren. Sie findet ihre Konkretion – aus ihrer Innerlichkeit, der Subjektivität, in die sie als nur logische noch eingeschlossen ist12, hinausgehend – wesentlich erst in ihrer Realisierung im System des ganzen Wissens, wie Hegel es als Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften konzipiert: Im Durchgang erst durch die Realwissenschaften wird das Logische seiner Abstraktheit enthoben, indem es am Ende zu sich zurückkehrt – doch nunmehr „als d i e s i c h d e n k e n d e Idee, die wissende Wahrheit […] mit der Bedeutung, daß es die im concreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit b ew ä h r t e Allgemeinheit ist“13. Für die Architektur der Enzyklopädie komplexe Transformation erfährt, für das Hegel’sche Enzyklopädie-Konzept indes schlechthin tragend ist und seine Aktualität gerade auch in ihm zu bewähren vermag, sollte im folgenden deutlich werden. 9 Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW IX, 11. – Cf. zur Problematik des Verhältnisses der Phänomenologie des Geistes zum Gesamtsystem Hans Friedrich Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt a.M. 1965; ferner die Bemerkungen bei Vittorio Hösle: „Nach dem absoluten Wissen. Welche Erfahrungen des nachhegelschen Bewußtseins muß die Philosophie begreifen, bevor sie wieder absolutes Wissen einfordern kann?“, in: Klaus Vieweg / Wolfgang Welsch (Hg.): Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt a.M. 2008, 627 – 654, hier: 627 – 631. 10 Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW IX, 19. 11 Der in der Wissenschaft der Logik sich entfaltende Begriff hat für Hegel – im Durchgang durch die Phänomenologie des Geistes und im Ausgang von deren „absolutem Wissen“ – als die Bedingung seiner Möglichkeit den bereits vom frühen Hegel monierten „Gegensatz des Bewußtseyns“ (cf. Hegel: Jenaer Systementwürfe I: Das System der speculativen Philosophie. Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten zur Philosophie der Natur und des Geistes (1803/04), in: GW VI, 277 f.) in sich aufhebt – cf. hierfür Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW IX, 432: „Indem also der Geist den Begriff gewonnen, entfaltet er das Daseyn und Bewegung in diesem Aether seines Lebens, und ist Wi s s e n s c h a f t . Die Momente seiner Bewegung stellen sich in ihr nicht mehr als bestimmte G e s t a l t e n d e s B e w u ß t s e y n s dar, sondern indem der Unterschied desselben in das Selbst zurückgegangen, als b e s t i m m t e B e g r i ff e , und als die organische in sich selbst gegründete Bewegung derselben.“ 12 Cf. Hegel: Wissenschaft der Logik: Die subjektive Logik, in: GW XII, 253. 13 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 569, § 574.

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ergibt sich hieraus die triadische Struktur von Logik, Naturphilosophie und Geistesphilosophie, wie sie für alle Fassungen konstitutiv ist14. Im systematischen Rahmen dieser triadischen Struktur der Enzyklopädie zeichnet sich die Logik sowohl durch ihren begründungstheoretisch schlechthin notwendigen Primat als zugleich auch durch ihre innerliche Defizienz aus. Die Logik entfaltet die reinen – absoluten – Formen des Denkens, die als solche unhintergehbar sind, doch die damit zugleich auch abstrakt bleiben und ontologisch über sich hinausdrängen. „Die Logik ist, wie man gewöhnlich sagt“, so faßt Rosenkranz in seinem Kommentar zu Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Blick auf diesen Zusammenhang prägnant zusammen, „die Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens, aber diese Gesetze sind keine ihm äusserlichen, vielmehr seine eigene Nothwendigkeit. Es bestimmt sich selbst zu ihnen. Sie sind daher apriorische, d. h. solche, die nicht von Aussen her aufgenommen werden. Alles, was wir anschauen, ist nur ein Beispiel des Gedankens an und für sich. […] Wenn Hegel von ihnen [sc. den Kategorien des reinen Denkens, Anm. d. Verf.] spricht, wenn er die logische Idee die Idee an und für sich nennt, so kann sich dies nur auf die Formseite der Idee beziehen; denn erst der Geist, der alle diese Formen in diesem Zusammenhang denkt, ist das schlechthin Absolute.“15

Die logisch entfaltete absolute Idee ist wirklich nur, sofern sie sich als Geist vollzieht. „Der Begriff der Vernunft“, um Rosenkranzens Kommentar weiter zu folgen, „ist ohne den des Geistes undenkbar. Vergisst man das, so macht man die Vernunft zu einer gnostischen Hypostase.“16 Natur und Geist können damit im Rahmen von Hegels spekulativem Idealismus nicht – im Sinne einer dualistischen Konzeption – als Verschiedene (6teqa, diversa) gedacht werden: Denn die Natur ist für Hegel wesentlich nichts anderes als „die Idee als Sein“, „die seiende Idee“17. In ihr ist es „nicht ein Anderes als die Idee, welches erkannt würde, aber sie ist in der E n t ä u ß e r u n g , so wie im Geiste ebendieselbe a l s f ü r s i c h s e y e n d und a n u n d f ü r s i c h w e r d e n d “.18 Natur und Geist sind für Hegel – als „unterschiedene Weisen i h r D a s e y n [sc. das Dasein der Idee, Anm. d. Verf.] darzustellen“19 – die beiden relata, auf die sich die Idee beziehen kann und, um ihrer konkreten Wahrheit willen, unhintergehbar beziehen 14 Damit setzt sich in allen Fassungen der Enzyklopädie zunehmend die triadische Systemeinteilung gegenüber der alternativen Einteilung vom Typus einer tetradischen, tetrachotomischen Struktur durch, wie sie zumal beim frühen Hegel noch vorkommt und wie sie allerdings auch beim reifen Hegel noch ihre Relevanz hat. Cf. hierzu – und für die mit der systematologischen Triplizität verbundenen sachlichen Probleme – die kritischen Ausführungen bei V. Hösle: Hegels System, 127 – 154. 15 Karl Rosenkranz: Erläuterungen zu Hegel’s Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Berlin 1870, 5 f. 16 K. Rosenkranz: Erläuterungen zu Hegel’s Encyklopädie, 6. 17 Hegel: Enzyklopädie I (1830), in: Werke 8, 393, § 244, Zusatz. 18 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 60, § 18. 19 Hegel: Wissenschaft der Logik: Die subjektive Logik, in: GW XII, 236.

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muß. Die Natur ist für Hegel kein, im Sinne eines Realismus, Naturalismus oder Materialismus, begründungstheoretisch Erstes; dieser Status kann nur der Idee zukommen, weshalb jede Philosophie, als wahrhafte Philosophie, wesentlich Idealismus ist und diesen zu ihrem Prinzip hat20. Doch zugleich ist die Idee in dieser Systematik keine – im Sinne „vormaliger Metaphysik“ – zu hypostasierende Hinterwelt21. Sofern Vernunft, Natur und Geist Manifestationen der Idee sind, kann es sich bei ihnen nicht um verschiedene Substanzen handeln. Vielmehr müßen sie als Unterschiedene (diav]qa, differentia) in ein- und demselben übergreifenden Allgemeinen der als Natur sich entäußernden und als Geist zu sich selbst kommenden Idee gedacht werden. Als die drei Manifestationen, in denen die Idee erscheint, sind sie Bestimmungen – je ein „f l i e ß e n d e s Moment“22 – der einen, in sich bewegten, als Natur und Geist sich verwirklichenden Wirklichkeit. Die Form der Enzyklopädie ist vor diesem systematisch-ontologischen Hintergrund nicht irgendeine willkürliche – oder nur äußeren, pragmatischen Zwecken geschuldete – Weise philosophischer Darstellung. Vielmehr kann sie von hier aus als integraler Bestandteil des Hegel’schen Systems bestimmt werden: „Die Philosophie ist […] w e s e n t l i c h Encyklopädie, indem das Wahre nur als Totalität, und nur durch die Unterscheidung und Bestimmung seiner Unterschiede die Nothwendigkeit derselben und die Freyheit des Ganzen seyn kann; sie ist also nothwendig S y s t e m .“23 Das Verhältnis von enzyklopädischer Formbestimmtheit und von Philosophie erweist sich damit als ein inwendig verschränktes; enzyklopädische Darstellung und spekulative Philosophie bedingen sich gegenseitig: „Die Philosophie ist Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, insofern ihr ganzer Umfang mit der bestimmten Angabe der Theile, und philosophische Encyklopädie ist sie, insofern die Abscheidung und der Zusammenhang der Theile nach der Nothwendigkeit des Begriffes, dargestellt wird.“24

20 Hegel: Wissenschaft der Logik: Die objektive Logik, in: GW XXI, 142; siehe auch Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 133, §95. Cf. zum Hegel’schen Typus des Idealismus – in Abgrenzung von seinem Gegenbegriff, einem Realismus – ferner die Bemerkungen bei Hans Friedrich Fulda: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831)“, in: Otfried Höffe (Hg.): Klassiker der Philosophie, Bd. 2, München 1981, 62 – 92, hier: 74. 21 Bei aller radikalen – irreversiblen – Kritik an der Gestalt indes, welche Metaphysik als „vormalige Metaphysik“ angenommen hat, will Hegel deren die Tradition der Geistesmetaphysik bestimmenden vornehmen Titel durchaus retten: Sie ist „nicht so sehr ihrem Inhalte nach, als ihrer We i s e d e r E r k e n n t n i ß “ (Hegel: Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke, in: GW XV, 25) eine vergangene Gestalt des philosophischen Bewußtseins. Entsprechend bezeichnet Hegel den „Umfang“ der in der absoluten Idee methodisch entfalteten „allgemeinen Denkbestimmungen“ – als „gleichsam das diamantene Netz, in das wir allen Stoff bringen und dadurch erst verständlich machen“ – als zuletzt gleichbedeutend mit der Metaphysik (Hegel: Enzyklopädie II (1830), in: Werke 9, 20, § 246, Zusatz). 22 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 60, § 18. 23 Hegel: Enzyklopädie (1817), in: GW XIII, 19, § 7. 24 Hegel: Enzyklopädie (1817), in: GW XIII, 18, § 6.

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Aus der seiner Konzeption des Idealismus eigentümlichen Stufenfolge zieht Hegel im Blick auf die Darstellungsform einer philosophischen Enzyklopädie die grundlegende Konsequenz: „[D]aher ist die einzelne Wissenschaft eben so sehr diß, ihren Inhalt als s e y e n d e n Gegenstand, als auch diß, unmittelbar darin seinen Uebergang in seinen höhern Kreis zu erkennen. Die Vo r s t e l l u n g d e r E i n t h e i l u n g hat daher das Unrichtige, daß sie die besondern Theile oder Wissenschaften n e b e n e i n a n d e r hinstellt, als ob sie nur ruhende und in ihrer Unterscheidung substantielle, wie A r t e n , wären.“25

Eine Enzyklopädie, welche die Form der äußerlichen Juxtaposition einer „Vo r s t e l l u n g d e r E i n t h e i l u n g “ übernähme, wäre damit bloß deskriptiv-klassifikatorische Wissensdarstellung. Sie wäre eine Enzyklopädie im Rahmen „vormaliger Metaphysik“, als deren Aufhebung Hegel seine spekulative Logik gerade begründet26. Hegel entwickelt seine neue wissenschaftslogische Konzeption, die von einer – über Verstandeslogik wesentlich hinausweisenden – spezifisch spekulativen Logik getragen wird27 und für welche die Form einer immanenten Bewegung bestimmend ist, gerade in Antithese hierzu. Sein Modell einer Enzyklopädie läßt sich entsprechend als die konsequente Durchführung spekulativer Begriffslogik verstehen. Die so gedachte Enzyklopädie kann notwendig keine statische sein, sondern muß ihrem methodischen Formprinzip nach als eine in sich bewegte konzipiert werden. Ihr Fortgang bestimmt sich durch die spekulative Methode, wonach das Ganze – die Totalität –, in den Worten von Rosenkranz, als „Darstellung der dem Begriff durch seine Negativität immanenten Bewegung“28 zu konstruieren ist. Der spekulative Begriff konstituiert keine solche Identität, die von den unter25

Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 60, § 18. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang Hegels Schweigen über eines der Hauptwerke der Aufklärung, die ab 1751 von Denis Diderot und d’Alembert herausgegebene Encylopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Es läßt sich deuten als Hegels Ablehnung eines bei all seiner repräsentativen und symbolischen Bedeutsamkeit für die Aufklärung und deren politisch-gesellschaftliche Stoßkraft im Kontext der Französischen Revolution philosophisch zuletzt über einen bloß deskriptiven Empirismus, einen extensive Totalität anstrebenden Katalog von Fakten nicht hinausgehenden Konzepts, „das über der Pluralität des Gewußten die Einheit des Wissens (und das heißt den Sinn von Wissen überhaupt) aus dem Blick verliert“ (Hans Heinz Holz: Leibniz. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten, Darmstadt 2013, 212). Die Encyclopédie entspricht jenem von Hegel explizit abgelehnten Typus einer „gewöhnlichen Encyklopädie“, bei der es sich um ein „A g g r e g a t der Wissenschaften“, eine „bloße Sammlung von Kenntnissen“ handelt (Hegel: Enzyklopädie (1817), in: GW XIII, 20, § 10). Hiergegen ergeben sich für Hegels genuin philosophisches Konzept einer Enzyklopädie philosophiegeschichtlich und systematisch aufschlußreiche Verbindungslinien zur Ars magna, die Ramon Llull in seiner Ars generalis ultima (ca. 1305) darstellt, doch insbesondere auch zu Leibnizens zahlreichen Projekten und Skizzen zu einer Enzyklopädie im Zusammenhang mit einer Scientia generalis und Ars combinatoria; cf. zu diesem Hintergrund und zum – in der Hegelforschung immer noch wenig untersuchten – Verhältnis von Hegel zu Leibniz H.H. Holz: Leibniz, 145 – 162, 187 – 215. 27 Cf. dazu das bis heute – zu Unrecht – nur wenig beachtete Buch von Gotthard Günther: Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik, Hamburg 1933. 28 K. Rosenkranz: Erläuterungen zu Hegel’s Encyklopädie, 11. 26

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schiedlichen Bestimmungen abstrahiert, sondern ein in sich konkretes Allgemeines, eine konkrete Totalität aller Bestimmungen. Allgemeines und Besonderes führen in diesem spezifisch spekulativen Verhältnis zu einer inneren Einheit29. „Nicht die Einheit“, so Rosenkranz zu diesem für die Struktur der Enzyklopädie zentralen logischen Verhältnis, „die von den Unterschieden abstrahiert, nicht der Unterschied, der dem Positiven das Negative entgegensetzt, sind für sich schon die Wahrheit, sondern sie sind es erst in ihrer Einheit als Vermittlung des Gegensatzes, der eben nur dadurch zum Widerspruch wird, dass über ihn nicht zu seiner Auflösung fortgegangen wird.“30

Erst in dieser Einheit gelingt es, die Pluralität der besonderen Wissenschaften, den Prozeß ihrer Ausdifferenzierung als Totalität, die zugleich erst in dieser Differenzierung wahrhafte Totalität zu sein vermag31, zu umgreifen. Die Möglichkeit und Notwendigkeit einer solchen „höheren Einheit, als die der bloss generischen Identität ist, muß also den Grund enthalten, durch welchen der Widerspruch aufgehoben werden kann“32. Für Hegels enzyklopädisches Programm kann diese Aufhebung des Widerspruchs mithin nicht in der Konzeption einer solchen „Einheitswissenschaft“ resultieren, welche die Diversität der Mannigfaltigkeit singulärer Bestimmungen auf eine abstrakt-identische Einheit reduzierte, auf deren Meta-Ebene als oberster Gattung wissenschaftlichen Wissens alle Spezifikationen stillgestellt wären. Eine spekulative Enzyklopädie kann nicht, wie im Rahmen klassifikatorischer Hierarchie, zu einem obersten und leersten Gattungsbegriff als zu „etwas überhaupt“33 führen, sondern muß sich nach Hegels im Blick auf ein Konzept von Enzyklopädie richtungsweisender, den genuin philosophischen, d. h. selbstreflexiven Charakter von Enzyklopädie deutlich machender Metapher als „ein 29 Cf. – wiederum in aufschlußreichem Vergleich mit Leibniz – Hans Heinz Holz: Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart / Weimar 2005, 199 – 205. Bereits für Leibniz kann der enzyklopädisch zu gewinnende Begriff nicht als eine abstrakte Einheit gedacht werden, unter welche die Einzelnen subsumtionslogisch untergeordnet werden, sondern muß ihm das Moment aktiver, lebendiger Synthesis eignen: „Et tamen“, so fordert Leibniz ein, „abstractas a concretione imaginum notiones sciendum est, omnium quibus ratio occupatur esse potissimas, iisque contineri principia vinculaque etiam rerum imaginabilium et velut animam cognitionis humanae.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: Elementa Rationis (1686), in: ders.: Opuscules et fragments inédits. Extraits des manuscrits de la Bibliothèque royale de Hanovre, hg. v. Louis Couturat, Paris 1903, 335 – 348, hier: 341) Die genuin spekulative Signatur von Leibnizens Denken zeigt, anhand der für den Vollzug von Spekulation zentralen Figur des „übergreifenden Allgemeinen“ (cf. Hegel: Wissenschaft der Logik: Die subjektive Logik, in: GW XII, 35), Josef König: „Das System von Leibniz“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Freiburg i.Br. / München 1978, 27 – 61. 30 K. Rosenkranz: Erläuterungen zu Hegel’s Encyklopädie, 11. 31 Cf. Hegel: Wissenschaft der Logik: Die subjektive Logik, in: GW XII, 37: „Zugleich ist die Verschiedenheit derselben [sc. der je Besonderen, Anm. d. Verf.] um ihrer Identität mit dem Allgemeinen willen a l s s o l c h e allgemein; sie ist Totalität.“ 32 K. Rosenkranz: Erläuterungen zu Hegel’s Encyklopädie, 13. 33 Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik: Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Halle 1929, 83.

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Kreis von Kreisen“34 vollziehen. Die damit geleistete Begründung ist keine diskursiv-lineare, sondern jene in ineinander verschränkten Sphären sich vollziehende absolute, die auf jeder Stufe das Ganze mit dem einzelnen Kreis rekursiv (re-) integriert, so daß hier absolute Letztbegründung niemals zu einem endlichen (als solchen zufälligen) Abschluß führen kann und darf, sondern die absolute Geschlossenheit intensiver Totalität mit der unbegrenzten Iterierbarkeit extensiver Totalität innerlich vermittelt ist35. Die Einheit der Enzyklopädie ist damit als eine in sich notwendig dialektische ausgewiesen. Denn erst und nur als dialektische vollzieht sie – so macht es Hegel als deren konstitutive Bewegungsform als die einer in sich notwendigen Einheit aller einzelnen Bestimmungen geltend – „diß i m m a n e n t e Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich, als das was sie ist, nämlich als ihre Negation, darstellt. Alles Endliche ist diß, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Princip, wodurch allein i m m a n e n t e r Z u s a m m e n h a n g u n d N o t h w e n d i g k e i t in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt.“36

Die als die Einheit unterschiedener Bestimmungen gedachte Einheit macht es erforderlich, daß eine bei der unvermittelten Mannigfaltigkeit der diskreten Einzelnen verbleibende verständig-abstrakte Identität in die Formbestimmtheit der – nach der spekulativ-logischen Formel – „Identität der Identität und der Nichtidentität“37 übergeht. Sie ist per se nur als spekulative Ordnung einer Bewegung aller einzelnen Bestimmungen auszudrücken: „Das S p e c u l a t ive oder P o s i t iv - Ve r 34

Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 56, § 15. Cf. ebd. – Während alles einzelwissenschaftliche Tun – an irgendeinem Punkte – seine Begründungskette abbrechen muß, macht Hegels philosophische Enzyklopädie-Konzeption gegen einen Reduktionismus oder regressum in infinitum mithin den Anspruch geltend, „daß eine nicht-willkürlich abbrechende, also letztlich auf einem dezisionistischen Glaubensakt beruhende Wahrheitsbegründung – und damit Begründung von Wissenschaft – einen Rekurs auf die Totalität der Bedingungen, also das Weltganze erfordert“ (H.H. Holz: Leibniz, 214). Cf. zur begründungstheoretischen Tragweite der zyklischen, spiralförmigen Bewegungsform des Absoluten Vittorio Hösle: „Begründungsfragen des objektiven Idealismus“, in: Philosophie und Begründung, hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1987, 212 – 267, hier: 266 f.; ferner, im Blick auf die zyklische Logik philosophiegeschichtlich-geschichtsphilosophischer Entwicklung überhaupt, monographisch ders.: Wahrheit und Geschichte: Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984. Daß eine wahrhafte Begründung sich nur „in dem Aufweis einer zyklischen Struktur“, in deren Vollzug „am Ende der Entwicklung der Grundsatz selber wieder emergiere“ (V. Hösle: Hegels System, 25), vollenden könne, ist einer der grundlegenden Erträge von Fichtes Wissenschaftsbegründung, auf die bereits verwiesen wurde. 36 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 119, § 81. 37 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW IV, 64. 35

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n ü n f t i g e faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das A ff i r m a t iv e , das in ihrer Auflösung und ihrem Uebergehen enthalten ist.“38 Die in sich unterschiedene, sich als konkrete Differenzierung darstellende Einheit ist damit in eins – unhintergehbar – nur im Vollzug spekulativen Denkens zu erreichen: „Weiter ist das Spekulative überhaupt nichts anderes als das Vernünftige (und zwar das Positiv-Vernünftige), insofern dasselbe gedacht wird.“39 Die spekulative Methode läßt ihren eigentümlichen Gegenstand allein intentione obliqua, im Medium des Denkens, als einen gedachten – nicht aber in der intentio recta eines empirischen (empiristischen) Zugriffs – hervortreten. In den Formen der Anschauung und der Vorstellung dagegen sind die einzelnen Bestimmungen gerade nur in der Unmittelbarkeit ihrer Verschiedenheit gegeben – und können in ihnen nur so gegeben sein. Eine – nach Hegel – wahrhaft philosophische Enzyklopädie muß dieser im Blick auf ein Denken des Ganzen unhintergehbaren spekulativen Form gerecht werden. Sie muß den systematischen Zusammenhang der Wissensgehalte der je einzelnen Wissenschaften als einen innerlich notwendigen gemäß dem kategorialen Stufenbau spekulativen Denkens und durch diesen hindurch konstruieren. Die absolute Wahrheit dieser Synthesis wird für Hegel durch die Identität von Denken und Wirklichkeit, von Begriff und Objektivität begründet, wie sie sich in der Idee und als diese herstellt: „Die Idee ist das Wahre a n u n d f ü r s i c h , d i e a b s o l u t e E i n h e i t d e s B e g r i ff s u n d d e r O b j e c t i v i t ä t . Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Begriff in seinen Bestimmungen; ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstellung, die er sich in der Form äußerlichen Daseyns gibt und diese Gestalt in seine Idealität eingeschlossen, in seiner Macht, so sich in ihr erhält.“40

II. Diese Einheit des Begriffs und der Objektivität in der Idee und als Idee findet in Hegels System im absoluten Geiste ihre höchste Konkretisierung. In ihm ist die Mannigfaltigkeit der einzelnen Gegenstände, die vermittels des endlichen Erkennens der Einzelwissenschaften gefaßt werden, in die synthetische Einheit des Ganzen aufgehoben, wie sie sich im Begreifen des (einzelwissenschaftlichen) Begreifens manifestiert. Um diese geistesmetaphysisch fundierte selbstreflexive Bewegung – die Bildung des Absoluten als des begriffenen Begriffs, des sich selbst denkenden Denkens des Ganzen und des ihn hervorbringenden Wissens – geht es damit in Hegels Konzeption von Enzyklopädie zentral. Hierzu bemerkt Hegel am Ende der Nürnberger Enzyklopädie: „Die Wissenschaft ist die begreifende Erkenntnis des absoluten Geistes. Indem er in Begriffsform aufgefaßt wird, ist alles Fremdsein im Wissen aufgehoben, und dies hat die 38

Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 120, § 82. Hegel: Enzyklopädie I (1830), in: Werke 8, 177 f., § 82, Zusatz. 40 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 215, § 213.

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vollkommene Gleichheit mit sich selbst erlangt. Es ist der Begriff, der sich selbst zum Inhalt hat und sich begreift.“41

Introduktorisch heißt es in der Nürnberger Enzyklopädie zunächst: „Eine Enzyklopädie hat den gesamten Umkreis der Wissenschaften nach dem Gegenstande einer jeden und nach dem Grundbegriffe derselben zu betrachten.“42 Auf der Stufe des absoluten Geistes indes spricht Hegel nicht mehr von Wissenschaften, sondern, als emphatisches singulare tantum, von der Wissenschaft, denn – wie es in der Heidelberger Enzyklopädie heißt – das „Ganze der Philosophie macht […] wahrhaft E i n e Wissenschaft aus“43 – in Entsprechung damit, daß es von der spekulativ gedachten Idee „der Natur der Sache nach nur ein[e] einzig[e] gibt“44. Hierin läßt sich ein sprachlicher Index ausmachen für den systematischen Übergang von der anfänglich vorgegebenen „Mannigfaltigkeit der Erfahrungen“45 der verschiedenen wissenschaftlichen Gegenstandsbereiche zur die Äußerlichkeit dieses Besonderen in sich aufhebenden inneren Einheit des wahrhaft wissenschaftlichen Wissens: zur Einheit als einem in sich notwendigen Ganzen des Wissens, das in begrifflicher Selbstreflexion die Bewegung eines enzyklopädischen Kreisens, das in seinem Insich-selbst-Kreisen bei seinem Anderen ist, vollzieht. Nach dem eingangs bereits zitierten Passus erhebt sich damit eine bloß „gewöhnliche“ Enzyklopädie zur wahrhaft „philosophische[n]“46. Von dieser emphatisch philosophischen Enzyklopädie kann Hegel sagen, sie sei „eigentlich die Darstellung des allgemeinen Inhalts der Philosophie, denn was in den Wissenschaften auf Vernunft gegründet ist, hängt von der Philosophie ab“47. Von anderen Möglichkeiten der Darstellung – wie etwa derjenigen des Gefühls, der unmittelbaren Anschauung, der Vorstellung oder der Einbildungskraft – hebt sich die spezifisch wissenschaftliche dadurch ab, daß ihre allgemeine Form der Begriff ist. In dessen Medium vollzieht sich die für eine jede wissenschaftliche Erkenntnis grundlegende Bewegung einer trennenden, analytischen Unterscheidung der Bestimmungen des Gegenstands einerseits und der synthetischen Herstellung ihres Zusammenhangs andrerseits: „Die Erkenntnis ist die Darstellung eines Gegenstandes nach seinen daseienden Bestimmungen, wie dieselben in der Einheit seines Begriffs befaßt sind und sich daraus ergeben oder insofern umgekehrt die eigene 41

Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 69, § 208. Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 9, § 1. 43 Hegel: Enzyklopädie (1817), in: GW XIII, 20, § 9. 44 Hans Friedrich Fulda: „Dialektik in Konfrontation mit Hegel“, in: Bernhard Heidtmann (Hg.): Hegel – Perspektiven seiner Philosophie heute, Köln 1981, 63 – 84, hier: 67. Cf. für diese in der Enzyklopädie sich vollziehende Verschiebung auch Hans Heinz Holz: Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit, Bd. III, Stuttgart / Weimar 1997, 132. 45 Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 9, § 2. 46 Cf. Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 10, §§ 5 f. 47 Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 10, § 7. 42

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Wirksamkeit des Begriffs sich seine Bestimmungen gibt.“48 Die Wissenschaften erzeugen und ermöglichen neue Erkenntnisse, indem sie, progredierend und sich permanent erweiternd49, die Bestimmungen ihrer Gegenstände feststellen und identifizieren. Allein, es ist gerade diese für die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis notwendige Tätigkeit eines Feststellens und Identifizierens, worin – gemessen am spekulativen Systemanspruch – zugleich auch die strukturell notwendige endliche Schranke einzelwissenschaftlicher Erkenntnis als solcher liegt. Indem die Wissenschaften einen einzelnen Gegenstand absondern – de-finieren – und dessen Bestimmungen herausstellen, geben sie diesen Bestimmungen den hierbei – für bestimmte historische Zeiträume, womöglich ganze Epochen und ihre Mentalitäten – sich verfestigenden Schein von Stabilität und Selbstgenügsamkeit. Das von diesen einzelnen Bestimmungen – und auch noch ihrer additiven Summe – notwendig Negierte50 indes bleibt hierbei negiert, im Vergessen. Das einzelwissenschaftlich sich konstituierende Feld beläßt, indem es bestimmte Gegenstände in die Sichtbarkeit hebt, andere zugleich notwendig in der Unsichtbarkeit51. Die Ein48 Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 32, § 94. Diese im wissenschaftlichen Begriffe sich vollziehende Dialektik steht damit in Zusammenhang, was Platon, für die Struktur abendländischer Wissenschaftlichkeit prägend, als dia_qesir konzipiert; cf. hierzu etwa Gernot Böhme: „Platons Theorie der exakten Wissenschaften“, in: Antike und Abendland XXII (1976) 40 – 53. 49 Hinsichtlich dieser Erweiterung differenziert Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 11, § 9: „Die Wissenschaften erweitern sich teils nach der empirischen, teils nach der rationellen Seite hin. Das Letztere geschieht, indem das Wesentliche immer mehr herausgehoben, unter allgemeinen Gesichtspunkten aufgefaßt und das bloß Empirische begriffen wird. Die rationelle Erweiterung der Wissenschaften ist zugleich eine Erweiterung der Philosophie selbst.“ – Daß Rationalismus und Empirismus keine abstrakten Gegensätze sind, ist für das neuzeitliche, im Ausgang Galileis sich ausbildende methodologische Paradigma von Wissenschaftlichkeit zentral: „In dem seit Galilei mehr und mehr sich durchsetzenden Begriff von Wissenschaft ist das Postulat des Empirismus, eine Erkenntnis müsse durch Beobachtung ausgewiesen sein oder wenigstens dem Kriterium der prinzipiellen Beobachtbarkeit genügen, verknüpft mit dem Postulat des Rationalismus, beobachtete Tatsachen (oder für beobachtbar gehaltene Tatsachenannahmen) müßten in einem systematischen Zusammenhang stehen, dessen Beschreibung den vor jeder Tatsachenbeobachtung gegebenen (also apriori geltenden) Gesetzen der Logik nicht widersprechen dürfe.“ (H.H. Holz: Leibniz, 212 f.) 50 Denn, wie für Hegel mit Spinoza gilt: omnis determinatio est negatio. Cf. dazu Yitzhak Melamed: „Omnis determinatio est negatio: Determination, Negation and Self-Negation in Spinoza, Kant, and Hegel“, in: ders. / Eckart Förster (Hg.): Spinoza and German Idealism, New York 2012, 175 – 196. 51 Dies weist auf das in die reale Geschichte der Wissenschaften eingewobene Moment politisch-sozialer Herrschaft und Ideologie hin, wie es in der neueren Zeit prominent etwa Foucault zum Gegenstand seiner genealogischen Forschungen gemacht hat. Daß die Wissenschaften darauf aber nicht reduziert werden können, sondern sich durch diese historischsozialen Konfigurationen hindurch, geltungstheoretisch auf historische Kontexte irreduzibel, absolute Wahrheit geltend macht, markiert freilich zugleich einen fundamentalen Gegensatz Foucaults und ähnlicher anderer „postmoderner“ Ansätze zu Hegels Idealismus. Cf. dazu – im systematischen Blick auf eine Konzeption von objektivem Idealismus in seiner Spannung zur „postmodernen“ forma mentis überhaupt – Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller (Hg.):

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zelwissenschaften richten sich – für ihren Erkenntnisfortschritt unabdingbar – auf einzelne Gegenstandsbereiche. Im Gange ihrer geschichtlichen Genesis in der Neuzeit und Moderne ist eine extensive Differenzierung und Spezialisierung ihrer Gegenstandsbereiche und Arbeitsfelder unverkennbar. Indem sie sich auf einzelne, endliche Gegenstandsbereiche beziehen, sind sie ihrer je eigenen regionalontologischen und methodologischen Konstitution nach plural – und müssen sie dies, ihrer einzelwissenschaftlichen Formbestimmtheit nach, sein. Hinter diese geschichtlich sich ausdifferenzierende Pluralität der Einzelwissenschaften kann keine ernsthafte philosophische Enzyklopädie regredieren. Sie ist für die – die epochale Signatur der Neuzeit und Moderne kennzeichnende – wissenschaftliche Revolution schlechterdings bestimmend52. Indem sich die Wissenschaften aber in dieser Pluralität, die sich als solche über die äußerliche Juxtaposition gegeneinander gleichgültiger einzelner Wissenschaften und Wissensgehalte nicht erheben kann, verfestigen, verfehlen sie damit – strukturell notwendig – die systematische Einheit des (in sich differenzierten) Ganzen, dessen ihnen immanente transzendentale Norm es in Wahrheit allererst ist, welche diese Pluralität als solche überhaupt hervortreten und sich manifestieren läßt. Im Vergessen dieses Ganzen indessen – diese kritische Erkenntnis ist in der hier skizzierten Programmatik spekulativer Enzyklopädie implizit enthalten – liegt nicht nur unter systematischen, sondern zugleich wesentlich auch unter ethischen Gesichtspunkten eine Gefahr des wissenschaftlichen Pluralismus, wie sie für die Krisis der späten Moderne und ihrer „nachmetaphysischen“ forma mentis von hier aus begründet diagnostiziert werden kann53. Die einzelnen Wissenschaften haben als solche keinen bewußten Begriff des Ganzen, obgleich sie sich nur aus einem solchen Begriff heraus überhaupt als je besondere Wissenschaften – in Absonderung von allen anderen – zu begründen vermögen und dieser Begriff des Ganzen in ihr Tun mithin implizit immer schon eingelassen ist. Die einzelnen Wissenschaften verweisen, wesentlich modo obliquo, gerade in ihrem eigentümlichen Tun auf das „Ganze der Wissenschaft“54. Gemäß der bereits zitierten in der Phänomenologie des Geistes explizit gemachten Struktur des Wissens eignet diesem als solchem innerlich notwendig die Form wissenschaftlicher Systematizität55. Auch das Wissen einer jeden einzelnen Wissenschaft, die für sich aus dem Ganzen des Seienden regionalontologisch einen endlichen Gegenstandsbereich ausschneidet und darstellt, ist a priori auf Systematizität hin angelegt. Kein bestimmtes einzelwissenschaftliches System indessen, welches sich als solches gerade durch seine Grenzen gegenüber anderen Systemen bestimmen Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt 2007. 52 Cf. für diese Entwicklung in bezug auf Hegel V. Hösle: „Nach dem absoluten Wissen“, 634 – 638. 53 Cf. hierzu V. Hösle: „Nach dem absoluten Wissen“, 649; ferner ders.: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, 13 ff., 71 ff. 54 Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 11, § 10. 55 Cf. Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW IX, 11.

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muß, vermag den vernünftigen Begriff des Systems, der – in letzter begründungstheoretischer Konsequenz – die Systematik der Begriffe insgesamt zu entfalten hätte, zu erfüllen. Jede bestimmte Erkenntnis ist transzendental unhintergehbar an die Begriffsform gebunden, doch kann sie in der spezifischen Form der Verstandestätigkeit eines je Einzelnes bestimmenden Erkennens, die ihr als bestimmter notwendig zukommt, den in ihrem Tun immer schon angelegten Keim auf eine vollständige systematische Bestimmung des Begriffs nicht einholen. Es bedarf daher des spekulativen Überstiegs hin zu der „begreifende[n] Erkenntnis des absoluten Geistes“, in welcher der Begriff „sich selbst zum Inhalt hat und sich begreift“56. Es ist zu betonen, daß in dem Anspruch dieses Überstiegs, gemäß dem der spekulativ sich selbst begreifende Begriff erst das Wahre sei, durchaus gerade nicht einfach ein abstraktes Überspringen der einzelnen Bestimmungen und ihres Realitätsgehalts, die Hypertrophie eines alle Realität verschlingenden Begriffskonstrukts – oder gar ein solcher Idealismus, für den alle Realität bloßer Schein ist –, auszumachen ist. Denn „[d]er Idealismus, wie ihn Hegel vertritt, beinhaltet […] nicht die These, alles Wißbare sei nur ein durch ,Ich‘ – oder gar durch ein vereinzeltes Bewußtseinssubjekt – Gesetztes. Er besagt vielmehr, alles Endliche sei kein wahrhaft Seiendes, sondern ,ideell‘, d. h. ein im wahrhaft Unendlichen Aufgehobenes […]; und Philosophie sei Wissenschaft der Idee […].“57

Die spekulative Wissenschaft der Idee – wie sie sich als Enzyklopädie verwirklicht – vollzieht, nach der oben zitierten Wendung aus der Nürnberger Enzyklopädie, eine „begreifende Erkenntnis“. Als solche ist sie „die Darstellung eines Gegenstandes nach seinen daseienden Bestimmungen“. Als daseiende sind diese Bestimmungen solche, die in äußerlicher Realität, an sich, vorkommen. Sie sind in ihrer realen, empirischen Mannigfaltigkeit als seiend vorauszusetzen, damit das Denken an ihnen – angesichts ihrer Zersplitterung – tätig werden kann, indem es sie – zunächst aus je einzelner wissenschaftlicher Perspektive – auffaßt und feststellt und so zu je anderen, neuen Bestimmungen fortschreitet. Die daseienden Bestimmungen fügen sich in der Darstellung des Gegenstands zusammen – und dies konstituiert die Einheit des bestimmten Begriffs dieses Gegenstands58. Der Reflexion darauf, was sich in der Tätigkeit des Erkennens vollzieht, läßt Hegel die Konklusion folgen: „Diese Bestimmungen, als im Begriff enthalten gesetzt, sind das Erkennen oder die im Elemente des Denkens sich realisierende Idee.“59 Die von Hegel verwendete Terminologie „im Elemente des Denkens“ impliziert ein von

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Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 69, § 208. H.F. Fulda: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831)“, 74. 58 Cf. Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 32, § 94. 59 Ebd. 57

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diesem unterschiedenes Anderes – das „Reelle oder Etwas“60. Hegels Idealismus umgreift damit, wie es oben bereits herausgestellt wurde, als Moment noch seinen konträren Gegenbegriff, den Realismus, ohne dieses Moment – zum Preise begründungstheoretischer Insuffizienz – sich als eine eigenständige Konzeption verselbständigen zu lassen61. Denn die mit dem Hegel’schen Idealismus verbundene Konzeption von Realität manifestiert sich hierbei als eine solche, die nicht, als etwas vermeintlich Unmittelbares, präreflexiv zugänglich sein kann: Sie ist unhintergehbar nur durch Denken zu erschließen und zeigt ihren eigentlichen Realitätsgehalt gerade erst durch die reflexive Vermittlung von dessen Tätigkeit hindurch. Erst in der Tätigkeit des Denkens und vermittels ihrer tritt hervor und zeigt sich, daß die eigentliche Realität in Wahrheit nicht das je isolierte unmittelbare Einzelne an sich – und auch nicht die Summe aller dieser unmittelbaren Einzelnen – ist, sondern die – in sich unendliche, mithin transempirische und nur im Denken sich öffnende – Wechselwirkung62 des Einzelnen mit allen anderen Einzelnen. Die reflektierende Bewegung, welche Hegel in der Nürnberger Enzyklopädie unter dem Titel der philosophischen „Wissenschaft“ faßt, hält sich auch noch in den späteren Versionen der Enzyklopädie durch, wo Hegel hierfür den Titel der „Philosophie“ in Anschlag bringt63. Ihre Maßgabe bestimmt es als die Aufgabe von philosophischer Reflexion, philosophischem „N a c h d e n k e n “64, den realen Gang der einzelnen Wissenschaften zur Kenntnis zu nehmen und in der er-innernden, verwesentlichenden !m\lmgsir solcher Retrospektion in seiner Einheit zu begreifen – als den in dieser Tätigkeit sich manifestierenden „Werth der S a c h e , das We s e n t l i c h e , das I n n e r e , das Wa h r e “65. Hegels Bestimmung, wonach die Philosophie das ganze Wissen der Wissenschaften sowohl (in diachroner Perspektive) in seiner geschichtlichen Genesis als auch (in synchroner Perspektive) in seinem je gegenwärtigen Umfang von der Idee des Ganzen aus retrospektiv zu be-

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Cf. Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 14, § 19. Ich stütze mich hierbei, ohne die „materialistische“ Stoßrichtung zu teilen, auf H.H. Holz: Einheit und Widerspruch, 134. 61 Daß der Hegelsche Idealismus – allgemein: ein begründungstheoretisch rekonstruierter objektiver Idealismus – noch seine Gegenpositionen in sich umgreift, darin manifestiert sich seine integrative Kraft. Hierzu bemerkt V. Hösle: „Begründungsfragen des objektiven Idealismus“, 266 f.: „Sicher, der objektive Idealismus ist nicht der einzige philosophische Ansatz; es gibt neben ihm verschiedene Formen von Realismus und subjektivem Idealismus. Aber diese Typen sind ihm nicht äußerlich; sie bestehen nicht unvermittelt neben ihm; es ist vielmehr aus dem objektiven Idealismus zu begründen, warum es diese Ansätze gibt.“ 62 Cf. Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 21, § 53. 63 Cf. entsprechend für Heidelberg Hegel: Enzyklopädie (1817), in: GW XIII, 245 ff., §§ 472 ff.; für die Berliner Periode Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 554 ff., §§ 572 ff. 64 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 65, § 21. 65 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 66, § 21.

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greifen und in die Einheit des Wissens zu integrieren habe66, darf im Ausgang der Phänomenologie des Geistes als für die Hegel’sche enzyklopädische Wissenschaftsphilosophie überhaupt leitend angesehen werden. Hiermit gilt: „Diese Bewegung, welche die Philosophie ist, findet sich schon vollbracht, indem sie am Schluß ihren eigenen Begriff erfaßt, d.i. nur auf ihr Wissen z u r ü c k s i e h t .“67 Keinem einzelnen philosophierenden Subjekt freilich kann diese er-innernde Synthesis in der Zeit nach Hegel noch möglich sein. Was Vittorio Hösle im Blick auf eine Aktualisierung eines objektiven Idealismus nach Hegel überhaupt einfordert – das konsequente Geltendmachen von Intersubjektivität68 –, hätte sich zumal auch für die Rekonstruktion einer philosophischen Enzyklopädie, „die wieder in concreto absolutes Wissen beanspruchen wird können“, zu bewähren69.

III. Daß Philosophie in emphatischem Sinne als das System der Wissenschaften jat’ 1now^m zu gelten habe, welches in seinem Begriffe die Gesamtheit der einzelnen Wissenschaften integriert, kann Hegel im Rahmen seines absoluten Idealismus mit Legitimität insofern behaupten, als hier Philosophie als die höchste Stufe des absoluten Geistes der ausgezeichnete Ort des Erscheinens, der Manifestation von Wahrheit wird. 66

Systematisches Denken und Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften erweisen sich damit als ineinander verschränkt. Die im absoluten Geiste zu sich kommende Philosophie hat es „nur mit Gegenwärtigem zu tun; denn die Philosophie, als sich mit dem Wahren beschäftigend, hat es mit ewig Gegenwärtigem zu tun. Alles ist ihr in der Vergangenheit unverloren, denn die Idee ist präsent, der Geist unsterblich, d. h. er ist nicht vorbei und ist nicht noch nicht, sondern ist wesentlich jetzt. So ist hiermit schon gesagt, daß die gegenwärtige Gestalt des Geistes alle früheren Stufen in sich begreift. […] Das Leben des gegenwärtigen Geistes ist ein Kreislauf von Stufen, die einerseits noch nebeneinander bestehen und nur andererseits als vergangen erscheinen. Die Momente, die der Geist hinter sich zu haben scheint, hat er auch in seiner gegenwärtigen Tiefe.“ (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke 12, 105) Eine im Anschluß an Hegel weiterzudenkende Wissenschaftsphilosophie ist damit vor die Aufgabe gestellt, einen abstrakten Rationalismus zu vermeiden, welcher der Geschichtlichkeit des Wissens nicht gerecht wird, ohne daß sie in ihrem systematischen Anspruch dadurch aber zu einem Historismus wird; angesichts der unübersichtlichen Spezialisierung heutiger Wissenschaften liegt eben darin auch ihre kritische Kraft – cf. Vittorio Hösle: Die Philosophie und die Wissenschaften, München 1999, 9 f.: „Keine Wissenschaft ist vollständig, ja, je reiner sich bei ihr das methodische Bewußtsein entwickelt, desto mehr tendiert sie dazu, das aus dem Blick zu verlieren, was ihrer verfeinerten Methode fremd ist, obwohl diese Gegenstände nicht deswegen schon aufhören zu sein. In jedem Fall ist es eines der heuristischen Prinzipien […], daß eine umfassende Wissenschaftstheorie nicht ahistorisch sein kann, sondern sich mit einer philosophischen Wissenschaftsgeschichte verbinden muß.“ 67 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 555, § 573. 68 Cf. zum Problem und zur Tragweite von Intersubjektivität V. Hösle: Hegels System, 263 – 275 et passim. 69 V. Hösle: „Nach dem absoluten Wissen“, 653.

„Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt“

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Für eine Bestimmung dessen, was Wahrheit sei, orientiert sich Hegel zunächst an der klassischen Tradition: Wahrheit ist die Übereinstimmung des Gegenstands mit seinem Gedanken, seinem Begriffe, adaequatio rei et intellectus70. Diese Übereinstimmung läßt sich – wie Hegel es in der Phänomenologie des Geistes einleitend exponiert – in doppelter Hinsicht verstehen: „Nennen wir das Wi s s e n den B e g r i f f , das Wesen oder das Wa h r e aber das Seyende oder den G e g e n s t a n d , so besteht die Prüffung darin, zuzusehen, ob der Begriff dem Gegenstande entspricht. Nennen wir aber d a s We s e n oder das Ansich d e s G e g e n s t a n d e s d e n B e g r i ff und verstehen dagegen unter dem G e g e n s t a n d e , ihn als G e g e n s t a n d , nemlich wie er f ü r e i n A n d e r e s ist, so besteht die Prüffung darin, daß wir zusehen, ob der Gegenstand seinem Begriff entspricht. Man sieht wohl, daß beydes dasselbe ist […].“71

In ihrem Vollzug setzen die einzelnen Wissenschaften die Möglichkeit einer solchen für Wahrheit konstitutiven Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand einerseits und – damit spekulativ konvergierend – von Gegenstand und Begriff andrerseits als die Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlichen Erkennens überhaupt je immer schon voraus72. Doch kein einzelner, in einzelwissenschaftlicher Tätigkeit aus dem Ganzen herausgenommener Gegenstand kann für sich schon das Wahre sein; er ist dies erst im holistischen Zusammenhang mit allen anderen Gegenständen. Den einzelnen Wissenschaften indes, die als solche nie das Ganze, in dem erst Gegenstand und Begriff vollständig identisch werden, erkennen können, ist es unmöglich, diesen Wahrheits- und Geltungsanspruch, von dem sie in ihrem eigenen wissenschaftlichen Anspruch zehren, zu begründen. Es kommt daher wesentlich der Philosophie als der Wissenschaft der Begründung des Wahrheits- und Geltungsanspruchs der Wissenschaften zu, eine solche Übereinstimmung nicht bloß dogmatisch vorauszusetzen und zu behaupten, sondern sie sich systematisch entfalten zu lassen und so die Möglichkeit wissenschaftlichen Wissens und damit die Notwendigkeit dieser Möglichkeit konkret zu begründen. Es steht vor diesem Hintergrund im systematischen Zentrum von Hegels in den verschiedenen Fassungen sich ausbildendem Enzyklopädie-Konzept, den so skizzierten Begriff von Geltung und Wahrheit in seiner Differenziertheit, in zunehmender Vertiefung, herauszuarbeiten. In der Nürnberger Enzyklopädie sagt Hegel, derjenige Begriff sei wahr, „in welchem die Objektivität und die Subjektivität 70

Cf. zu Hegels Wahrheitsbegriff etwa Michael Theunissen: „Begriff und Realität. Hegels Aufhebung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs“, in: Rolf-Peter Horstmann (Hg.): Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt a.M. 1978, 324 – 359; Herbert Schnädelbach: „Hegels Lehre von der Wahrheit“, in: ders.: Philosophie in der modernen Kultur, Frankfurt a.M. 2000, 64 – 85. 71 Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW IX, 59. Cf. hierzu Anton Friedrich Koch: „Die Prüfung des Wissens als Prüfung ihres Maßstabs. Zur Methode der Phänomenologie des Geistes“, in: Jindrˇich Karásek / Jan Kunesˇ / Ivan Landa (Hg.): Hegels Einleitung in die Phänomenologie des Geistes, Würzburg 2006, 21 – 34. 72 Cf. H.H. Holz: Einheit und Widerspruch, 135.

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gleich ist oder das Dasein dem Begriff als solchem entspricht“73. Eine reife Formulierung für diesen geltungstheoretischen Anspruch sodann findet sich in der Berliner Enzyklopädie, wo es heißt: „Diß Erkennen ist so das A n e r k e n n e n dieses Inhalts und seiner Form und B e f r e i u n g von der Einseitigkeit der Formen und Erhebung derselben in die absolute Form, die sich selbst zum Inhalt bestimmt und identisch mit ihm bleibt und darin das Erkennen jener an und für sich seyenden Nothwendigkeit ist.“74

In diesem spekulativen Wahrheitsverhältnis wird – wie es sich im aufschlußreichen Terminus eines „A n e r k e n n e n [s ]“ äußert75 – die Spannung zwischen sachhaltigem Sein und Denken, Objektivität und Begriff nicht einfach nivelliert, sondern bleibt darin gerade erhalten, ja tritt allererst in ihm hervor. Doch zugleich wird hierbei die jeweilige Bestimmtheit und Besonderheit des Gegenstands, je so und so fixiert ins einzelne Bewußtsein zu treten, als transitorisches Moment auch wieder – als Resumtion in die „l e b e n d i g e [] Einheit des Geistes“76 – zurückgenommen. Erst durch die geistige „B e f r e i u n g “ von der je so und so bestimmten Positivität des Wissens und der einzelnen Wissenschaften, mithin in der Bewegung einer aufhebenden Überschreitung, kann es möglich werden, die – wie es sich entsprechend fassen läßt – relative Wahrheit des positiven Wissens der Wissenschaften zu begründen und diesen relativen Wahrheitsanspruch als solchen anzuerkennen. Denn die „absolute Form“ des Wissens, in der alle positiven Formen einzelner Wissenschaft aufgehoben sind, führt wesentlich gerade zu der Einsicht, daß der spekulativ sich selbst begreifende Begriff das als Bewegung sich aus- und fortbildende Ganze aller Bestimmungen notwendig impliziert. Und erst diese intensive Unendlichkeit des spekulativen Begriffs kann über die extensive Äußerlichkeit der Endlichen, welche es in der summativen Addition dieser Endlichen nur zu einer schlechten Unendlichkeit brächte, als die intensive Er-innerung extensiver Ent-äußerung, hinausführen. „Die subjective Idee […]“, so faßt Hegel in der Heidelberger Enzyklopädie diesen die Entäußerung, die Entfremdung im Geiste aufhebenden Prozeß, „hat […] den Tr i e b sich als […] Einheit zu realisiren. Weil aber jenes A n d e r e , das in ihr ist, nur die Abstraction der objectiven Welt, und dieser Mangel in ihr, diese Welt als S e y e n d e für sie ist, so ist dieser […] Trieb dahin gerichtet, diesen ihren Mangel i n s i c h aufzuheben, und die G e w i ß h e i t der Identität des Objectiven mit ihr, durch A u f n a h m e der s e y e n d e n We l t i n s i c h zur Wa h r h e i t zu erheben.“77

73

Hegel: Philosophische Enzyklopädie (1808 ff.), in: Werke 4, 29, § 84. Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 555, § 573. 75 Cf. zu dieser Terminologie auch Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Natur: Berlin 1819/20, hg. v. Martin Bondeli / Ho Nam Seelmann, Hamburg 2002, 4. 76 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 380, § 379. 77 Hegel: Enzyklopädie (1817), in: GW XIII, 103, § 172. Cf. analog Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 222, § 224: „Die Vernunft kommt an die Welt, mit dem absoluten Glauben die Identität setzen und ihre Gewißtheit zur Wa h r h e i t erheben zu können, und mit dem Triebe, den f ü r s i e a n s i c h nichtigen Gegensatz auch als nichtig zu setzen.“ 74

„Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt“

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Das „wahrhaft Unendliche“ des sich begreifenden Begriffs ist im Rahmen von Hegels absolutem Idealismus in diesem genuin spekulativen Verhältnis damit zugleich „nicht ein bloßes Jenseits des Endlichen, sondern es enthält dasselbe als aufgehoben in sich selbst“78. Die Differenz zwischen Bewußtsein und Sein wird in dieser spekulativen Identität – als in einem Selbstunterschied des Einen – nicht einfach nivelliert, doch führt sie hier nicht zu einem begründungstheoretisch unbefriedigenden Dualismus. Dem sich seiner selbst als solchen innewerdenden Bewußtsein, das sich selbst im Durchgang durch alle Wissensinhalte als evidente Gewißheit erfährt, muß dieser Selbstunterschied des Einen zunächst als ein Unterschied seiner selbst und des, nach der zitierten Wendung der Heidelberger Enzyklopädie, „A n d e r e [ n ] “ erscheinen, das in seinem Wissen als Gewußtes gegenwärtig ist – in der Phänomenologie des Geistes heißt es hierzu, dem „e i n z e l n e n Bewußtseyn[]“ eigne die „Gewißheit des Bewußtseyns in seiner Einzelheit absolut a n s i c h , oder alle Realität zu seyn“79. Doch Hegels absoluter Idealismus bleibt bei dieser endlich-transzendentalen Stellung eines subjektiven Idealismus als einer spezifischen, vorübergehenden Gestalt des erscheinenden Bewußtseins nicht stehen: Denn das Selbstbewußtsein ist diese Realität wahrhaft „erst dadurch, daß es diese Realität w i r d , oder vielmehr sich als solche e r w e i s t “80. Diese Realisierung aber kann sich weder im je besonderen Wissen besonderer Inhalte vollziehen noch in einem solchen endlich-transzendentalen Selbstbewußtsein, das „sich beständig in einem Zirkel um sich selbst bewegt“81. Das Selbstbewußtsein aber kann aus diesem Zirkel auch nicht einfach unmittelbar herausspringen82. Es kann sich aus seiner Endlichkeit nur befreien, indem es sich selbst, als Selbstbewußtsein, noch einmal reflektiert. Eine Selbsterkenntnis aber, die als Selbsterkenntnis keine abstrakte Identität bleibt, sondern gerade als Selbsterkenntnis, ohne ihre selbstreflexive Form preisgeben zu wollen, konkrete Erkenntnis, „im concreten Inhalte als in seiner Wirk-

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Hegel: Enzyklopädie I (1830), in: Werke 8, 122, § 45, Zusatz. Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW IX, 131. 80 Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW IX, 133. 81 Dieter Henrich: „Fichtes ,Ich‘“, in: ders.: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 2001, 57 – 82, hier: 62. 82 Transzendentale Subjektivität hat sich als solche, in ihrer Reflexivität, eines unmittelbaren, natürlichen Bezugs zum Seienden immer schon enthoben. Indem sie sich dem Glauben anvertraut, sich in einem Sprung zu einem natürlichen Standpunkte von sich selbst entbinden zu können, verleugnet sie, daß auch noch dieser Glaube Reflexionsprodukt ist: Ein solcher Glaubenssprung erweist sich somit zuletzt, unhintergehbar, als „die in sich reflektierte Reflexion im Modus ihrer Verlogenheit“ (Gunnar Hindrichs: „Der Standpunkt des natürlichen Denkens. Fichtes Bestimmung des Menschen in der Auseinandersetzung mit der ,Unphilosophie‘ Jacobis“, in: Birgit Sandkaulen (Hg.): System und Systemkritik: Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie, Würzburg 2006, 109 – 129). 79

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lichkeit b ew ä h r t e Allgemeinheit“83 wird, ist der Geist. Im Geiste vollzieht sich das Denken des Denkens, indem es als sich selbst bei seinem Anderen ist: „Die Erkenntniß des Geistes ist die concreteste, darum höchste und schwerste. E r k e n n e d i c h s e l b s t , diß absolute Gebot hat weder an sich, noch da wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung, nur einer S e l b s t e r k e n n t n i ß nach den p a r t i c u l ä r e n Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntniß des Wahrhaften des Menschen, wie des Wahrhaften an und für sich, – des We s e n s selbst als Geistes.“84

Das Selbstbewußtsein kann sich mithin aus der Partikularität und Endlichkeit des einzelnen Subjekts nur dadurch befreien, daß es sich zum Geiste als dem „Wahrhaften an und für sich“ erhebt. Indem es sich enzyklopädisch durch alle Stufen des Systems, in dessen Durchgang der Geist als absoluter zu sich selbst kommt, hindurch verallgemeinert, in diesem selbstreflexiven Vollzug sich seines endlichen Status innewird und so sich über sich selbst erhebt, befreit es sich – als Geist – von der Schranke seiner Endlichkeit. Der Prozeß dieser Befreiung im und durch das System vollzieht sich so85 (i) in der Vermittlung zunächst durch die daseiende Realität der Natur als das Andere des Geistes, die, im Übergang zum Geiste, die als solche bereits intersubjektiv strukturierte, anthropologische Basis des subjektiven Geistes umfaßt; (ii) ferner im subjektiven Geiste als dem sich in sich selbst reflektierenden Sein des Selbstbewußtseins; (iii) sodann im Durchgang durch die Stufen des objektiven Geistes als konkrete Formen der politisch-sozialen Institutionalisierungen und Objektivationen der intersubjektiven Tätigkeiten; (iv) zuhöchst, als in der Synthesis aller dieser Vermittlungen, in den paradigmatischen Gestalten des absoluten Geistes (Kunst, Religion, Philosophie), als deren höchste und klarste Wirklichkeit sich die Philosophie vollzieht. Die Enzyklopädie hat als ihren Inhalt die Sequenz eben dieser realphilosophisch vermittelten Manifestationen des Absoluten in je neuen Sphären seiner kreisförmigen Bewegung. Sie bringt in diesen Manifestationen das allgemeine, universelle Gattungsleben der generischen Menschheit auf seinen vernünftigen Begriff. „Der Proceß der G a t t u n g “, so Hegel, „bringt diese zum F ü r s i c h s e y n . Das Product desselben, weil das Leben noch die unmittelbare Idee ist, zerfällt in die beiden Seiten, daß nach der e i n e n das lebendige Individuum überhaupt, das zuerst als unmittelbar vorausgesetzt wurde, nun als ein Vermitteltes und E r z e u g t e s hervorgeht; daß nach der a n d e r n aber die lebendige E i n z e l n h e i t , die sich um ihrer ersten U n m i t t e l b a r k e i t willen n e g a t i v zur Allgemeinheit verhält, in 83

Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 569, § 574. Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 379, § 377. 85 Cf. hierzu H.H. Holz: Einheit und Widerspruch, 136 f. 84

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dieser als der Macht u n t e r g e h t . Die Idee des Lebens aber hat damit sich nicht nur von i r g e n d e i n e m (besondern) u n m i t t e l b a r e n Diesen befreit, sondern von dieser ersten Unmittelbarkeit überhaupt; sie kommt damit z u s i c h , zu ihrer Wa h r h e i t , sie tritt hiemit als f r e i e G a t t u n g f ü r s i c h s e l b s t i n d i e E x i s t e n z . Der Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit ist das H e r v o r g e h e n d e s G e i s t e s .“86

Die Enzyklopädie verwirklicht damit ihre höchste Vollendung als Philosophie des Geistes: Geist wird zur spekulativen Chiffre für das sich in sich reflektierende Absolute: „Der für sich seiende Geist oder der Geist als solcher ist also – im Unterschiede von dem sich selber unbekannten, nur uns offenbaren, in das Außereinander der Natur ergossenen, an sich seienden Geiste – das nicht bloß einem Anderen, sondern sich selber Sichoffenbarende oder, was auf dasselbe hinauskommt, das in seinem eigenen Elemente, nicht in einem fremden Stoffe seine Offenbarung Vollbringende.“87

Die Selbstoffenbarung, die Selbstmanifestation des Geistes ist die spekulative Form der Wissenschaft, die als solche das besondere Wissen der Wissenschaften in die absolute Einheit des Systems aufhebt und damit aus der Schranke seiner partikularen Endlichkeit befreit. Diese Selbstoffenbarung erlangt im Medium des absoluten Geistes ihre höchste Stufe. In ihm als dem übergreifenden Allgemeinen von endlichem Geist und, als dessen Schranke, endlicher Natur werden Natur und Geist zuletzt miteinander versöhnt: „Der absolute Geist erfaßt sich als selber das Sein setzend, als selber sein Anderes, die Natur und den endlichen Geist hervorbringend, so daß dies Andere jeden Schein der Selbständigkeit gegen ihn verliert, vollkommen aufhört, eine Schranke für ihn zu sein, und nur als das Mittel erscheint, durch welches der Geist zum absoluten Fürsichsein, zur absoluten Einheit seines Ansichseins und seines Fürsichseins, seines Begriffs und seiner Wirklichkeit gelangt.“88

Die Schranke, welche Natur für den erkennenden Geist zunächst ist, hört hier auf. Unter der idealisierenden Macht des Geistes ist die Natur für ihn nicht mehr ein Fremdes – diese Macht verwirklicht sich hier als eine „f r e y e Macht“89. Der Geist kann sich in diesem spekulativen Verhältnis der Natur gegenüber nicht mehr als eine sie instrumentell zurichtende Gewalt geltend machen – vielmehr verhält er sich hier zur Natur „geistig liebend“90. Im spekulativen Verhältnis „f r e y e [r ] L i e b e “91 86 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 221, §§ 221 f.; cf. auch Hegel: Enzyklopädie (1817), in: GW XIII, 102 f., § 169. 87 Hegel: Enzyklopädie III (1830), in: Werke 10, 27 f., § 383, Zusatz. 88 Hegel: Enzyklopädie III (1830), in: Werke 10, 31, § 384, Zusatz. 89 Hegel: Wissenschaft der Logik: Die subjektive Logik, in: GW XII, 35. 90 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Natur: Berlin 1825/26, hg. v. Karl Bal / Gilles Marmasse / Thomas Posch / Klaus Vieweg, Hamburg 2007, 3. Cf. für diese Struktur im Blick auf eine mit Hegel zu denkende Philosophie der Ökologie Fritz Reusswig: Natur und Geist: Grundlinien einer ökologischen Sittlichkeit nach Hegel, Frankfurt a.M. 1993. 91 Hegel: Wissenschaft der Logik: Die subjektive Logik, in: GW XII, 35.

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verwirklicht sich das Allgemeine nicht abstrakt gegen die Einzelnen, sondern zuhöchst in ihnen und als sie. Im absoluten Geiste manifestiert sich nach dieser Maßgabe die Wahrheit des Begriffs als intensiv-unendliche Totalität aller einzelnen Bestimmungen, als „To t a l i t ä t , in dem j e d e s der Momente d a s G a n z e ist, das er ist, und als ungetrennte Einheit mit ihm gesetzt ist“92.

IV. Die Erkenntnisleistung des einzelnen Subjekts erweist sich hierbei nur als ein einzelnes, für sich indes notwendiges Durchgangsmoment des Prozesses der Konstitution des als Geist sich vollendenden Absoluten. Es hält sich als solches innerhalb der Grenzen des besonderen Wissens. Als besonderes muß dieses Wissen notwendig endlich bleiben. Die Wahrheit, zu der es führen kann, ist mithin ebenfalls nur eine endliche, nicht aber die unendliche Wahrheit des spekulativen Begriffs. Die Wissenschaft ist das allgemeine Medium, in dessen Reich sich das individuelle Erkennen als eines Resultats, als eines „Vermittelte[n] und E r z e u g t e [n ]“93 der Gattungsmäßigkeit und Gattungsgeschichte immer schon bewußt zu werden beginnt und darin, an sich, sich von seiner Endlichkeit befreit hat. In der verstetigenden Beschränkung auf die einzelnen Wissenschaften indes verharrt das Wissen – in den Operationen der Bildung etwa von Definitionen oder klassifizierenden Einteilungen94 – notwendig in seiner Verendlichung, indem es hier, „in der Form des bestimmten Begriffes“95, konstitutiv nur auf endliche Gegenstandsbereiche bezogen bleibt. Die hier in Anschlag gebrachten Verstandesbegriffe erweisen sich, in ihrer Endlichkeit, in letzter Instanz als nicht fundiert, grundlos und mithin als kontingent, wenn sie nicht in einem über sie hinausweisenden vernünftigen Begriffe, der als solcher erst den Status ihrer endlichen Begrifflichkeit anzugeben vermag, letztbegründet werden. Sie bleiben hier die Erzeugnisse einer Leistung des subjektiven Bewußtseins, das als solches – im Rahmen der spekulativen Konzeption eines absoluten Idealismus – in einem es noch übergreifenden, es selbst allererst prinzipiierenden Absoluten zu fundieren ist. Hegel moniert – im kritischen Blick auf Kant – insofern einerseits: „An diesem subjektiven Idealismus, wonach dasjenige, was den Inhalt unseres Bewußtseins bildet, ein nur Unsriges, nur durch uns Gesetztes ist, hat das unbefangene Bewußtsein mit Recht Anstoß genommen.“96 Doch läßt sich andrerseits diese Kritik nicht einfach durch die naive Meinung, es bestehe eine mehr oder weniger genaue Korrespondenz zwischen Außenwelt und Bewußtseinsinhalt, beruhigen. Die pragmatische Tauglichkeit der Annahme der natürlichen Welteinstellung eines dogma92

Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 177, § 160. Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 221, § 221. 94 Cf. Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 224, §§ 229 f. 95 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 224, § 229. 96 Hegel: Enzyklopädie I (1830), in: Werke 8, 122, § 45, Zusatz. 93

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tischen Realismus oder Naturalismus hält vor einem kritischen begründungs- und geltungstheoretischen Anspruch nicht stand. Die transzendentale Revolution der Philosophie von Descartes zu Kant und Fichte – ihr reflexiv auf transzendentale Subjektivität zurückbezogener, indirekter Gegenstandsbezug – gilt für Hegel als irreversible Zäsur, wie sie als solche für die Genesis der modernen Welt und ihres Begriffs von Subjektivität und Freiheit epochal bestimmend ist. Hinter sie kann – bei Strafe des Verlusts dieser spezifisch neuzeitlich-modernen Errungenschaft von Subjektivität und Freiheit und, damit zugleich, von begründungstheoretischer Stringenz – schlechterdings nicht zurückgegangen werden: Ihr kann im Gegenteil – dies die dialektische Pointe – nur mit einem Mehr an Reflexivität, ihrer Kritik nur mit einem metakritischen Selbstüberstieg begegnet werden, wie er sich – im oben angedeuteten Sinne – in konkreter Wirklichkeit erst als Geist, als Vergeistigung vollziehen kann97. Die Ausarbeitung eines spezifisch spekulativen Wahrheitsbegriffs ist das Angebot des Hegel’schen absoluten Idealismus auf die Herausforderung philosophischer Wissenschaftsbegründung im Spannungsfeld von subjektivem Idealismus, von kritischer Transzendentalphilosophie auf der einen Seite und dogmatischem Realismus, Naturalismus auf der andern Seite. „Die Endlichkeit des Erkennens“, so Hegel, „liegt in der Voraussetzung einer vorgefundenen Welt, und das erkennende

97 Hiergegen indes bleibt Kants endliche Transzendentalphilosophie in ihrer Struktur zuletzt irreflexiv; cf. V. Hösle: „Nach dem absoluten Wissen“, 634 f.; ferner – zur Problematik des damit zusammenhängenden „transzendentalen Solipsismus“ im philosophiegeschichtlich und systematisch aufschlußreichen Bezug auf Husserls Wissenschaftsphilosophie – 638 f. – In der Kritik am Kantischen subjektiven Idealismus, „der sich nicht auf den Inhalt einläßt“, sondern „nur die abstrakten Formen der Subjektivität vor sich hat“ (Hegel: Enzyklopädie I (1830), in: Werke 8, 123, § 46), folgt Hegel – dieses im Rahmen des absoluten Idealismus weiterführend – Fichtes Programm einer immanenten Kant-Kritik: Fichte stellt auf der Grundlage der Kantischen Kritik die in ihr offen bleibende transzendentale Frage, wie Gehalt und Form einer Wissenschaft überhaupt möglich sein können; sofern sie diese Frage nicht beantwortet und mithin, zuletzt, bei einem Empirismus, der – hiermit – irreduziblen, bloß deskriptiv hinzunehmenden Gegebenheit eines empirischen Mannigfaltigen, verharrt, läßt sich mit der Kantischen Fassung des Idealismus zwar „ein kollektives Allgemeines, ein Ganzes der bisherigen Erfahrung, als Einheit unter den gleichen Gesetzen, erklären: nie aber ein unendliches Allgemeines, ein Fortgang der Erfahrung in die Unendlichkeit. Von dem Endlichen aus giebt es keinen Weg in die Unendlichkeit; wohl aber giebt es umgekehrt einen von der unbestimmten, und unbestimmbaren Unendlichkeit, durch das Vermögen des Bestimmens zur Endlichkeit […]. Die Wissenschaftslehre, die das ganze System des menschlichen Geistes umfassen soll, muß diesen Weg nehmen, und vom Allgemeinen zum Besondern herabsteigen. Daß für eine mögliche Erfahrung ein Mannigfaltiges gegeben sey, muß erwiesen werden; und der Beweiß wird folgendermaassen geführt werden: das gegebene muß etwas seyn, es ist aber nur insofern etwas, inwiefern es noch ein anderes giebt, das auch etwas, aber etwas anderes ist; und von dem Punkte an wo dieser Beweiß möglich seyn wird, werden wir in den Bezirk des Besondern treten.“ (J. G. Fichte: Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth / Hans Jacob unter Mitwirkung v. Richard Schottky, Bd. I/3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., 144 f.).

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Subjekt erscheint hierbei als eine tabula rasa.“98 Bei dieser „vorgefundenen Welt“ indes handelt es sich immer nur um einen empirisch-zufällig zusammengerafften, in bezug auf bestimmte Interessen ausgewählten Bereich, wie er sich dem erkennenden Subjekt und dessen bestimmter Erkenntnisabsicht darbietet. Die von Hegel in der Phänomenologie des Geistes programmatisch eingeforderte „wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt“99, als deren systematische Entfaltung sich das enzyklopädische Wissenschaftskonzept verwirklicht, kann in dieser sektorialen Einengung nicht erfüllt werden. In den einzelnen Wissenschaften kann der tiefere Grund dafür, daß in der Wahrheit „die Objektivität mit dem Begriff identisch ist“100, nicht explizit gemacht werden. In ihnen macht sich zuletzt nur eine solche „formelle Wahrheit“ – oder präziser: „bloße Richtigkeit“ – geltend, die da besagt, „daß ich wisse, wie etwas ist. Dies jedoch ist die Wahrheit nur in Beziehung auf das Bewußtsein oder die formelle Wahrheit, die bloße Richtigkeit“.101 Nur die über das endliche Wissen hinausgehende Methode des spekulativen Begriffs, in der das Wahre als das Ganze entwickelt wird, kann in ihrem immanenten Vollzug dahin führen, in der absoluten Idee die in sich selbst unterschiedene Einheit von Sein und Denken, von Objektivität und Begriff sich manifestieren zu lassen. Diese Idee ist damit – wie bereits hervorgehoben – nicht, im Sinne „vormaliger Metaphysik“, als etwas Vorhandenes, als eine substantielle Entität vorzustellen. Sie ist vielmehr „die r e i n e Form des Begriffs, die i h r e n I n h a l t als sich selbst anschaut. Sie ist sich I n h a l t , in sofern sie das ideelle Unterscheiden ihrer selbst von sich, und das eine der Unterschiednen die Identität mit sich ist, in der aber die Totalität der Form als das System der Inhaltsbestimmungen enthalten ist.“102

Die so gedachte Idee ist das wahrhafte, das intensive Unendliche, in dem alles Endliche, das außerhalb ihrer kein wahrhaft Seiendes wäre, ideell aufgehoben wird. In ihr manifestiert sich das „Nothwendige“ als „a b s o l u t e s Ve r h ä l t n i ß , d.i. der 98

Hegel: Enzyklopädie I (1830), in: Werke 8, 379, § 226, Zusatz. Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW IX, 11. 100 Hegel: Enzyklopädie I (1830), in: Werke 8, 369, § 213, Zusatz. 101 Ebd. – Die über formelle Richtigkeit hinausgehende wahre Wahrheit enthält als solche ihre eigene Norm – als wahrhaft spekulative ist sie (wie auch für Spinoza) der Maßstab ihrer selbst und ihres Gegenteils, des Unwahren; ihr eignet damit immanent, als Implikat ihres logisch-ontologischen Anspruchs, immer auch schon ein ethischer Anspruch. So heißt es im Anschluß an das oben Zitierte (ebd.): „Dieser tiefere Sinn der Wahrheit ist es, um den es sich handelt, wenn z. B. von einem wahren Staat oder von einem wahren Kunstwerk die Rede ist. Diese Gegenstände sind wahr, wenn sie das sind, was sie sein sollen, d. h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht. So aufgefaßt ist das Unwahre dasselbe, was sonst auch das Schlechte genannt wird. Ein schlechter Mensch ist ein unwahrer Mensch, d. h. ein Mensch, der sich seinem Begriff oder seiner Bestimmung nicht gemäß verhält. Ganz ohne Identität des Begriffs und der Realität vermag indes nichts zu bestehen. Auch das Schlechte und Unwahre ist nur, insofern dessen Realität noch irgendwie sich seinem Begriff gemäß verhält. Das durchaus Schlechte oder Begriffswidrige ist eben damit ein in sich selbst Zerfallendes.“ 102 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 228 f., § 237. 99

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[…] entwickelte Proceß, in welchem das Verhältniß sich ebenso zur absoluten Identität aufhebt“103. Damit aber ist die Positivität des besonderen Wissens der je einzelnen Wissenschaft „als unmittelbares nur ein A c c i d e n t e l l e s […], das durch diese seine bloße Möglichkeit in eine andere Wirklichkeit übergeht; ein U e b e r g e h e n , welches die substantielle Identität als die Fo r m t h ä t i g k e i t […] ist“104. Die extensive Totalität, wie die einzelnen Wissenschaften sie je in (als solchen) zufälligen regionalontologischen Bereichen erkennen, kann für keine dieser einzelnen Wissenschaften – und auch nicht für ihre Summe – je als Ganzes angeschaut oder vorgestellt werden. Auch eine philosophische Enzyklopädie kann und will – zumal angesichts der Informationsfülle der fortgeschrittenen Moderne – eine solche Sisyphusarbeit nicht leisten105. Sie führt vielmehr zu der in ihr wohlbegründeten Einsicht, daß das Ganze nur in der Intensität des absoluten Begriffs – als Idee – methodisch begründet und gedacht werden kann: als wesentlich metareflexiver Begriff des wissenschaftlichen Begriffs, der die Totalität der Begriffsform als das „System der Inhaltsbestimmungen“ darstellt. In der absoluten Wahrheit der Idee werden die Objektivität der gegenständlichen Welt und die Subjektivität des Begriffs dadurch identisch, daß sie in ihr, als Selbstunterschied des Absoluten, zu dessen Bestimmungen werden. Die Idee aber begründet damit – immanent – den absoluten Maßstab, vermittels dessen die je relative Wahrheit allen bestimmten Wissens und aller bestimmten Wissenschaften im Horizont der absoluten Wahrheit der Idee abgeleitet werden kann. Das Ganze als das Wahre kann nie – als Objekt einer Vorstellung oder Anschauung – unmittelbar gegeben sein. Es läßt sich nur im spekulativen Begriffe, als Idee, entfalten. Indem in der Idee das Ganze entfaltet wird, wird damit zugleich auch der je perspektivische Ort allen einzelnen Wissens aller einzelnen Wissenschaften im Horizont absoluter Wahrheit bestimmbar und, im

103

Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 169, § 150. Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 170, § 150. 105 Cf. Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 57, § 16: „Als E n c y c l o p ä d i e wird die Wissenschaft nicht in der ausführlichen Entwicklung ihrer Besonderung dargestellt, sondern ist auf die Anfänge und die Grundbegriffe der besondern Wissenschaften zu beschränken.“ – Leibniz darf wohl als der letzte Philosoph gelten, der ernsthaft imstande war, als einzelne Person das extensive Insgesamt der einzelnen Wissenschaften nicht nur zu überblicken (und dies zwar nicht nur polyhistorisch, sondern geradezu panhistorisch), sondern sich darin auch aktiv auf, in seiner Zeit, höchstem Niveau zu betätigen. Im Blick selbst auf das Universalgenie Leibniz indes bemerkt sein Mitarbeiter Johann Georg Eckart – einen Tag vor Leibnizens Tode – nicht ohne Sarkasmus: „Denn er ist gar zu sehr distrahieret u. indem er alles thun u. in alles sich mischen will kann er gar nichts zum ende bringen, wenn er auch Engel zu adjutanten hätt.“ (Eckart in seinem Brief vom 13. November 1716 an den Minister Andreas Gottlieb von Bernstorff zu Hannover, zit. nach: Kurt Müller / Gisela Krönert (Hg.): Leben und Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz: Eine Chronik, Frankfurt a.M. 1969, 262); wie bereits angedeutet, wäre im Blick auf diese Problematik für eine spezifisch moderne Enzyklopädie vertiefter darauf einzugehen, inwiefern ihre spekulative Struktur – nicht bloß aus pragmatisch-funktionalen, sondern apriorischen, immanent-notwendigen Gründen – in konkreter Ausführung nur als Intersubjektivität zu verwirklichen sein kann. 104

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Blick auf seine relative Wahrheit, am Maßstab dieser absoluten Wahrheit gemessen106. In ihrer angesichts dessen wesentlich metareflexiven Signatur kann und will eine philosophische Enzyklopädie das Besondere – die fortlaufend sich erweiternden, unvorhersehbar emergierenden neuen Erkenntnisse bestimmten Wissens – keineswegs substituieren oder sie unter eine nivellierende, vermeintlich abgetrennt – abstrakt – über und außerhalb des bestimmten Wissens stehende Einheit unterordnen. Die spekulative Einheit der Enzyklopädie setzt dieses Besondere für ihre Tätigkeit – als für sie anzuerkennendes Element der einzelwissenschaftlich erkannten gegenständlichen Realität – vielmehr notwendig voraus. Die einzelnen Wissenschaften sind unabschließbar und in ihrem geschichtlichen Fortgange (potentiell) unendlich erweiterbar – und sie müssen dies sein. Der endliche Begriff indes entspricht der von ihm erkannten Realität immer nur in bezug auf einen je spezifischen, ausgewählten Gegenstandsbereich und Erkenntniszweck. Seine Entsprechung ist damit zugleich notwendig eine Nicht-Entsprechung im Ganzen – eine „Unangemessenheit des Begriffs und der Realität“107. Das Maß dieser Unangemessenheit aber ist – nicht als externer Maßstab, durch den wir nur „u n s e r e Einfälle und Gedanken bei der Untersuchung […] appliciren“108 würden, sondern als immanenter Anspruch allen wirklichen und möglichen Wissens – die absolute Wahrheit, wie sie zuletzt nur spekulativ zu begründen und als philosophische Enzyklopädie darzustellen ist. Es ist deshalb der Inhalt und die ihr spezifisch zukommende metakritische Funktion einer philosophischen Enzyklopädie, den Status des je einzelnen wissenschaftlichen Wissens an ebendiesem immanenten Maß zu messen. Als dieser vernünftige, das Allgemeine repräsentierende Maßstab stellt das von Hegel gedachte Absolute eine kritische Instanz gegen ein jedes endliches Wissen dar, das sich – als etwas bloß Endliches, das sich in seiner Endlichkeit gegenüber dem Ganzen der Welt einkapselt – fälschlich als das Maß aller Dinge ausgibt. Das spekulative Absolute wendet sich als solches sowohl gegen die dogmatische Verabsolutierung (irgendeines) endlichen Wissens als auch gegen die spannungslose Auflösung von dessen wissenschaftlichem Geltungs- und Wahrheitsanspruch im Zeichen eines Relativismus, der sich als solcher nur als die schlechte, abstrakte Negation dogmatischer Verabsolutierung erweist109. Zum einen macht sich damit 106 Daß damit der Begriff des spekulativen Absoluten mit demjenigen von Perspektivität nicht nur kompatibel ist, sondern ihn innerlich erfordert, wäre von hier aus – in bezug zumal auf Leibniz und Fichte – genauer zu zeigen. 107 Hegel: Enzyklopädie (1830), in: GW XX, 383, § 386. 108 Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW IX, 59. 109 Angesichts einer den gegenwärtigen Zeitgeist beherrschenden „Diktatur des Relativismus“ bewährt sich mithin auch hier die große ethische Tragweite einer philosophischen Enzyklopädie im Anschluß an Hegel: In der Weite ihrer über eine jede bloß subjektive, partikuläre und instrumentelle Rationalität hinausweisenden objektiven Vernunft vermag sie auf die Frage, „ob und wie Wahrheit in umfassender Weise wissenschaftlich werden kann“ und

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das im Hegel’schen Konzept von Enzyklopädie sich verwirklichende Absolute – gegen einen wissenschaftsfeindlichen Irrationalismus – darin geltend, die Rationalität des für die Neuzeit und Moderne konstitutiven wissenschaftlichen Fortschritts in die Form ihres vernünftigen Selbstbewußtsein zu bringen. Es ermöglicht damit einen noch immer unübertroffenen Entwurf zur Systematisierung der Methodik und Resultate dieses Fortschritts, der sich nicht nur durch seine begründungstheoretische Kohärenz, sondern auch durch seine Fähigkeit auszeichnet, die konkreten Erkenntnisse der – in ihrer Spezialisierung – unhintergehbar pluralen Realwissenschaften, „die je nach der Weise ihres Gegenstandes auch unterschiedliche Methoden kennen“110 müssen und zugleich doch einer vernünftigen Synthesis bedürfen, in ihre spekulative Textur zu integrieren. Zum andern aber wendet dieses Absolute sich als solches zugleich auch gegen einen szientistischen Absolutismus, der die einzelnen Wissenschaften – oder eine von ihnen – zum Maßstab für alles andere nimmt111. Insofern erweist es sich gegenüber der Rationalität des die Neuzeit und Moderne bestimmenden wissenschaftlichen Fortschritts, der – sich selbst überlassen, in seiner abstrakt-formellen, instrumentellen Verselbständigung – zur selbstdestruktiven Macht wurde und wird, als deren vernünftige Selbstbesinnung. Getragen von jener oben nur angedeuteten, im absoluten Geiste sich verwirklichenden Liebe erweist sich das in dieser Selbstbesinnung sich geltend machende spekulative Absolute nicht zuletzt auch als ein sittliches Apriori: als die Versöhnung der Wissenschaften mit dem Ganzen der Vernunft – und damit zugleich als die Versöhnung von Natur und Geist. Und wie auch immer die konkrete Ausarbeitung einer neuen, wie zugleich, im Blick auf die ausdifferenzierte Vielfalt sowohl der Natur- als auch der Geisteswissenschaften, der „Vielfalt der Wege des menschlichen Geistes“ (Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.: Glaube, Wahrheit, Toleranz: Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg i.Br. 2003, 156) entsprochen werden kann, eine überzeugende philosophische Antwort zu geben. 110 Ebd. 111 Cf. zur Problematik eines solchen Szientismus wiederum V. Hösle: „Nach dem absoluten Wissen“, 634 ff. Im Anschluß an Apel (cf. Karl-Otto Apel: „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik“, in: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1999, 358 – 435, hier: 368 ff.) macht Hösle hierbei auf die dialektische Pointe aufmerksam, daß der (falsche) Objektivismus eines naturwissenschaftlichen Szientismus oder Naturalismus sich zu seiner (heute) scheinbaren geisteswissenschaftlichen Gegenposition – dem Typus irgendeines subjektivistischen Relativismus, etwa in der Form eines sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus – in Wahrheit gerade komplementär verhält; cf. dazu ferner Vittorio Hösle: „Einstieg in den objektiven Idealismus“, in: ders. / Fernando Suárez Müller (Hg.): Idealismus heute. Aktuelle Perspektiven und neue Impulse, Darmstadt 2015, 30 – 49, hier: 31 ff. Daß zumal auf der Basis von Hegels Enzyklopädie-Konzept die Frage nach einer spezifisch spekulativen Form zu stellen wäre, in der die – nach Hegel sich ausbildende und zunehmend verfestigende – Dichotomie von erklärenden Naturwissenschaften und verstehenden Geisteswissenschaften auf komplexe Weise aufzuheben, d. h. in einem – als Geist zu denkenden – Allgemeinen, von dessen unhintergehbarer Voraussetzung aus ihre Unterscheidung überhaupt erst begründet und kritisch befragt werden kann, zu integrieren wäre, kann hier nur als Desiderat erwähnt werden. Cf. hierzu neuerdings, im Blick auf eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, Vittorio Hösle: Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, München 2018, zumal: 476 – 479.

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den Geist der Hegel’schen aktualisierenden philosophischen Enzyklopädie angesichts der so zahlreichen wissenschaftlichen Revolutionen und Innovationen112 in der Epoche nach Hegel weiterzudenken sein möchte: In dieser dringlichen Aufgabe dürften – unhintergehbar – ihre bleibende Aktualität und ihr (meta)kritisches Potential liegen. Literatur Apel, Karl-Otto: „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik“, in: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1999, 358 – 435. Böhme, Gernot: „Platons Theorie der exakten Wissenschaften“, in: Antike und Abendland XXII (1976), 40 – 53. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1981. Fichte, Johann Gottlieb: Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth / Hans Jacob unter Mitwirkung v. Richard Schottky, Bd. I/3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Fulda, Hans Friedrich: Das Problem der Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt a.M. 1965. Fulda, Hans Friedrich: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831)“, in: Otfried Höffe (Hg.): Klassiker der Philosophie, Bd. 2, München 1981, 62 – 92. Fulda, Hans Friedrich: „Dialektik in Konfrontation mit Hegel“, in: Bernhard Heidtmann (Hg.): Hegel – Perspektiven seiner Philosophie heute, Köln 1981, 63 – 84. Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003. 112

Daß es für den wissenschaftlichen Fortschritt notwendig ist, daß in ihm sich Revolutionen ereignen, betont Hegel explizit – cf. Hegel: Enzyklopädie II (1830), in: Werke 9, 20 f., § 246, Zusatz: „Alle Revolutionen, in den Wissenschaften nicht weniger als in der Weltgeschichte, kommen nur daher, daß der Geist jetzt zum Verstehen und Vernehmen seiner, um sich zu besitzen, seine Kategorien geändert hat, sich wahrhafter, tiefer, sich inniger und einiger mit sich erfassend.“ Dies impliziert im Rahmen von Hegels Idealismus indes nicht solche, im prominenten Sinne Thomas S. Kuhns, „Paradigmenwechsel“, deren Diskontinuitäten die notwendigen revolutionären Sprünge mit dem Kontinuum des vernünftigen Ganzen und dessen transzendentaler Einheit nicht mehr zu vermitteln vermögen und mithin für eine an einem starken Vernunftbegriff orientierte Wissenschaftstheorie als irrationale Sprünge unannehmbar zu sein scheinen. – Inwiefern in ausgezeichneter Weise allgemein überhaupt erst im Rahmen von Hegels spekulativer Logik und – auf ihr beruhend – Geschichtsphilosophie die Entstehung von Neuem kohärent begründet werden kann und sich mithin eine Wissenschaftstheorie, die mit der logischen und heuristischen Möglichkeit und Notwendigkeit von Innovationen befaßt ist, von Hegel viel lernen könnte, zeigt Gotthard Günther: „Die historische Kategorie des Neuen“, in: Hegel-Jahrbuch (1970) 34 – 61. Als ein instruktives Beispiel für die Relevanz von Hegels Naturphilosophie im Blick auf eine der im 20. Jahrhundert zentralen naturwissenschaftlichen Revolutionen, die Relativitätstheorie, sei verwiesen auf Dieter Wandschneider: Raum – Zeit – Relativität: Grunbestimmungen der Physik in der Perspektive der Hegelschen Naturphilosophie, Frankfurt a.M. 1982.

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Die Einheit von Geist und Welt im absoluten Idealismus Héctor Ferreiro (Buenos Aires) I. Die theoretischen Grundlagen der Trennung von Geist und Welt1 Nach den Kriterien einer einflußreichen (vor allem in den englischsprachigen Ländern vertretenen) Deutung der neuzeitlichen Philosophie enthält das Denken Kants die maximale Dosis an Idealismus, die eine Philosophie vertragen kann, ohne inkonsistent zu werden. Die Radikalisierung des idealistischen Ansatzes durch Fichte, Schelling und Hegel wird demnach als eine Abkehr von den geltenden Vernunftstandards betrachtet. Ausgangspunkt dieser Einschätzung ist nicht selten die Verwechslung des nachkantischen Idealismus mit einer überspannten Variante des Idealismus von Berkeley. „Hegel in his idealism went beyond Kant. Hegel, too, was concerned with the question: ,How can our mind grasp the world?‘ But his theory – with the other idealists he also answered: ,Because the world is mind-like‘ – was more radical than Kant’s. He did not say, like Kant: ,Because our mind forms the world‘, he said: ,Because our mind is the world‘. […] This is Hegel’s so-called ,philosophy of identity of reason and reality‘, or, in short, his ,philosophy of identity‘. It is hardly worth noting that between Kant’s: ,Because our mind forms the world‘, and Hegel’s philosophy of identity: ,Because our mind is the world‘ there was, historically, a bridge – namely Fichte’s answer: ,Because our mind creates the world.‘ […] I should like to express my personal opinion about Hegel’s philosophy, and especially about his philosophy of identity. I think it represents the worst of all those absurd and incredible philosophic theories to which Descartes refers.“2 1

Der vorliegende Text ist eine überarbeitete und vermehrte Version meines Beitrags „El hilo de Ariadna del idealismo: La relación entre intuición y concepto en la filosofía de Hegel“, in: Hardy Neumann, Óscar Cubo und Agemir Bavaresco (Hg.): Hegel y el proyecto de una Enciclopedia Filosófica. Comunicaciones del II Congreso Germano-Latinoamericano sobre la Filosofía de Hegel, Porto Alegre 2018, 299 – 313. 2 Karl R. Popper: „What is dialectic?“, in: Mind (New Series) 49.196 (Oct. 1940) 415 – 420. Siehe ebd. 415: „Before I proceed to Hegel, I must warn those readers (I like them most) who are no philosophers and are used to relying on their common sense, to bear in mind the sentence which I chose as a motto for this paper [= „There is no theory or opinion, however absurd or incredible, which has not been maintained by some one or other of our philosophers“ – Descartes, H.F.]; for what they will hear now will probably appear to them, in my opinion quite rightly, to be absurd.“ – Siehe auch Popper: The Open Society and its Enemies, Bd. II, London 1945, 19: „It was Kant’s criticism of all attempts to prove the existence of God which led to the romantic reaction of Fichte, Schelling, and Hegel. The new tendency is to discard

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Héctor Ferreiro „Hegel has already proved to his satisfaction that all Reality is thought, from which it follows that thought cannot think about anything but thought, since there is nothing else to think about. Some people might find this a little dull; they might say: ,I like thinking about Cape Horn and the South Pole and Mount Everest and the great nebula in Andromeda. […] [W]e, who are forced to live in the world of phenomena […], we, illusory products of illusion, are compelled to think as though Cape Horn were self-subsistent and not merely an idea in the Divine Mind‘.“3

Diese Lesart des postkantischen Idealismus läßt sich aber weder exegetisch noch konzeptuell rechtfertigen. Um sich zu vergegenwärtigen, daß das Ergebnis der nachkantischen Zuspitzung des transzendentalen Idealismus nicht in einen extravaganten psychischen Solipsismus resultiert, lohnt es sich, Hegels Theorie des Verhältnisses zwischen sinnlichem und begrifflichem Erkennen heranzuziehen. Obwohl Bertrand Russell Recht hat, wenn er behauptet, daß „die wirklich mächtigen Gegner, mit denen Plato und Hegel kämpfen mußten, nicht die Skeptiker, sondern die Empiristen waren“4, irrt er sich, wenn er daraus folgert, daß nach Hegel alles „nur“ Denken ist. In der oben zitierten Textstelle behauptet Russell nämlich, daß es – angeblich im Unterschied zu Hegel, dem zufolge das Denken nur sich selbst denkt – möglich ist, „über das Kap Hoorn“ zu denken, und zwar so, „als ob das Kap Hoorn für sich bestünde“. Zu denken, daß das Kap Hoorn wirklich existiert, ist aber offensichtlich ein Modus desselben Denkens; denken, daß etwas wirklich ist, bedeutet nämlich, den Inhalt eines Gedankens „als“ ein wirkliches Ding der Welt zu denken. Das Denken schließt als solches somit die Existenz der Inhalte, die als Dinge der wirklichen Welt erkannt werden, nicht aus. In diesem Zusammenhang rekuriert Hegel auf Kants Konzept der synthetischen Einheit der proofs, and with them, any kind of rational argument.“ Siehe ebenfalls Popper: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, Abingdon / New York 2014 (1. Ausgabe 1963), 239: „Kant believed in the Enlightenment. He was its last great defender. […] While I see Kant as the defender of the Enlightenment, he is more often taken as the founder of the school which destroyed it—of the Romantic School of Fichte, Schelling, and Hegel.“ Siehe ferner Popper: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München / Zürich 1994, 158 – 159: „In meiner Rückständigkeit kann ich nämlich in der Philosophie der Romantik und insbesondere in der Philosophie der drei großen Führer des deutschen Idealismus, Fichte, Schelling und Hegel, nichts anderes sehen als eine intellektuelle und moralische Katastrophe – die größte intellektuelle und moralische Katastrophe, von der die deutsche und die europäische Intelligenz jemals heimgesucht wurden.“ 3 Bertrand Russell: Unpopular Essays, New York 1950, 10 – 11. Siehe auch ebd. 5: „Hegel’s philosophy is so odd that one would not have expected him to be able to get sane men to accept it, but he did. He set it out with so much obscurity that philosophy and politics people thought it must be profound. It can quite easily be expounded lucidly in words of one syllable, but then its absurdity becomes obvious.“ – Siehe ebenfalls Russell: Portraits from Memory and Other Essays, New York 1956, 17: „As presented to me by its adherents, especially McTaggart, who was then an intimate friend of mine, Hegel’s philosophy had seemed both charming and demonstrable. […] There was a curious pleasure in making oneself believe that time and space are unreal, that matter is an illusion, and that the world really consists of nothing but mind. In a rash moment, however, I turned from the disciples to the Master and found in Hegel himself a farrago of confusions and what seemed to me little better than puns.“ 4 Russell: Unpopular Essays, 5.

Die Einheit von Geist und Welt im absoluten Idealismus

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Apperzeption, dem zufolge das Ich-denke jede seiner Vorstellungen begleiten können muß, „denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“5 An der Kantischen Fassung der Figur der synthetischen Einheit der Apperzeption kritisiert Hegel nur die Form, in der Kant sie auffaßt, nämlich als ein „Begleiten“ der Vorstellungen durch das Ich6. Für Hegel ist der wahre Inhalt dieser These die Einheit von Sein und Denken. Hegel behauptet insofern, daß die Einheit von Sein und Denken die Grundvoraussetzung unserer gesamten kognitiven Fähigkeiten artikuliert und weit davon entfernt ist, etwas „Paradoxes oder Verrükktes“ zu sein7. Der Grundsatz der Einheit von Sein und Denken, dessen erste explizite Aufstellung und Entfaltung Hegel zufolge Fichte zu verdanken ist8, impliziert in keiner Weise, daß man dadurch die Existenz des Kaps Hoorns, des Südpols, des Mount Everests oder des Andromeda-Nebels verneinen muß. Was dieser Grundsatz zum 5

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff., Bd. III, 108 [KrV, B 131 – 132] [Meine Hervorhebung, H.F.]. 6 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970, Bd. 20, 343 – 344: „Der Verstand hat Gedanken, aber als Verstand hat er eingeschränkte Gedanken, Gedanken des Endlichen. Die Gedanken haben die Form, das Mannigfaltige zu einer Einheit zu bringen. Diese Einheit bin Ich, die Apperzeption des Selbstbewußtseins. Ich soll ,begleiten‘; das ist eine barbarische Exposition. Selbstbewußtsein bin ich, das ganz leere, abstrakte Ich, und dann das Apperzipieren; dies ist das Bestimmen überhaupt. Perzipieren heißt mehr Empfinden, Vorstellen; Apperzipieren ist mehr die Tätigkeit, wodurch etwas in mein Bewußtsein gesetzt wird. Ich bin das ganz Allgemeine, völlig Bestimmungslose, Abstrakte; insofern ich einen empirischen Inhalt in das Ich versetze, apperzipiere, so muß er in dies Einfache hinein. Damit er hineinkann in dies Eine, Einfache, muß er selbst vereinfacht werden, infiziert werden von der Einfachheit. Ein Inhalt im Bewußtsein wird so Einer, wird mein Inhalt; Ich bin Ich, dies Eine, so wird er in die Einheit versetzt, so wird er Einer. Und diese Einheit des Mannigfaltigen ist gesetzt durch meine Spontaneität; diese ist das Denken überhaupt, das Synthesieren des Mannigfaltigen. Dies ist ein großes Bewußtsein, eine wichtige Erkenntnis. Daß ich das Eine bin und als denkend tätig, Einheit setzend, ist indessen bei Kant nicht so genau auseinandergesetzt.“ 7 Vgl. Hegel: Gesammelte Werke (GW), hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Hamburg 1968 ff., Bd. XXV (II), 872. Siehe auch ders.: GW XXV (II), 1110 [§ 465]: „Diejenigen, welche von der Philosophie nichts verstehen, schlagen zwar die Hände über den Kopf zusammen, wenn sie den Satz vernehmen: Das Denken ist das Seyn. Dennoch liegt allem unserem Thun die Voraussetzung der Einheit des Denkens und des Seyns zu Grunde.“ 8 Vgl. Hegel: GW XXIII (III), 849 [§ 60, Z. 2]: „Während in der kantischen Philosophie zunächst nur formellerweise das Princip aufgestellt ist, daß das Denken sich aus sich selbst bestimme, das Wie und Inwiefern dieser Selbstbestimmung des Denkens von Kant aber noch nicht nachgewiesen worden ist, so ist es dagegen Fichte, welcher diesen Mangel erkannt und, indem er die Forderung einer Deduktion der Kategorien ausgesprochen, zugleich den Versuch gemacht hat, eine solche auch wirklich zu liefern. Die fichtesche Philosophie macht das Ich zum Ausgangspunkt der philosophischen Entwickelung, und die Kategorien sollen sich als das Resultat seiner Thätigkeit ergeben.“

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Ausdruck bringt, ist eigentlich nur die Notwendigkeit, ein komplexes theoretisches Modell auszuarbeiten, das imstande ist, zu erklären, wie sich die Existenz von wirklichen Dingen behaupten läßt, die vom Subjekt durch seine eigenen Erkenntnisakte erkannt werden, dabei aber zugleich vom Subjekt selbst verschieden sind. Wer versucht, dieses philosophische Projekt lächerlich zu machen, geht intuitiv vom Grundsatz der Trennung zwischen Sein und Denken, zwischen Welt und Geist aus. Auch Hegel hält die These einer grundsätzlichen Trennung von Welt und Geist – in seiner eigenen Terminologie: den Standpunkt des „Bewußtseins“ – für eine Annahme, die wir intuitiv vertreten, obwohl er sie nichtsdestoweniger in letzter Instanz für falsch hält. Trotz ihres intuitiven Charakters ist sie für Hegel an sich ein Resultat, und zwar Resultat der Verallgemeinerung der Trennung von Sein und Bestimmtheit, die für den Inhalt der Bilder und der abstrakten Vorstellungen spezifisch ist. Der Inhalt der sinnlichen Anschauung wird normalerweise für einen so oder so bestimmten und zugleich für einen wirklichen Inhalt gehalten. Im Unterschied dazu spaltet sich der Inhalt eines Bildes oder einer abstrakten Vorstellung von der Wirklichkeit ab: Der Inhalt des Bildes und der abstrakten Vorstellung wird vom erkennenden Subjekt nämlich explizit als seine eigene, einseitig subjektive Bestimmung erkannt, die eben deshalb der Bestimmtheit des sowohl als bestimmt als auch als wirklich erkannten Inhalts der sinnlichen Anschauung gegenübersteht. Die Extrapolation der bloßen Innerlichkeit des Inhalts des Bildes und der abstrakten Vorstellung auf alle möglichen Gedankeninhalte hat zur Folge, daß das Denken als solches als bloß formal aufgefaßt wird. Eben deshalb, weil die kognitive Tätigkeit als selbst „leer“ interpretiert wird, muß dann der Grund des Wirklichseins der sinnlich angeschauten Inhalte „außerhalb“ des Denkens liegen9. Wenn aber die Einheit von Denken und Sein nicht durch das Bild und die abstrakte Vorstellung unterbrochen würde, bliebe das Denken durch den ganzen kognitiven Prozeß mit der wirklichen Welt verbunden. In diesem Fall wäre es nicht nötig, nach einem besonderen Erkenntnisakt zu suchen, der das Denken mit der wirklichen Welt in Verbindung setzte, da das Denken und die Wirklichkeit nie voneinander getrennt würden. Die uneingeschränkte Ausweitung der beim Bild und der abstrakten Vorstellung auftretenden Trennung von Sein und Bestimmtheit auf alle anderen Erkenntnisinhalte hat wiederum zur Folge, daß der Inhalt des Bildes und der abstrakten Vorstellung in seinem einseitig subjektiven Zustand verabsolutiert wird. Wenn die Ablösung des Seins vom Denken auf jeden möglichen Inhalt des Denkens ausgedehnt wird, wird dadurch das Denken als solches in eine formelle Tätigkeit verwandelt; dieser steht insofern eine „Außen“-Welt gegenüber. Dies führt dazu, daß, bei der vermittelnden Rückkehr des subjektiven Inhalts des Bildes und der abstrakten Vorstellung zum Inhalt der Anschauung, die unmittelbare Einheit zwischen der Tatsache, daß der angeschaute Inhalt bestimmt ist, und der Tatsache, daß er als wirklich erkannt wird, am angeschauten Inhalt selbst aufgelöst wird. Das wirkliche 9 In diesem Sinne u. a. Hegel: GW IV, 324 – 325; GW XXIII (III), 839 – 840 [§ 41, Z. 2]; GW XXV (II), 1087 – 1088 [§ 442], 1094 [§ 447]; Werke 20, 350.

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Ding, das das sinnliche Anschauen enthält, wird dadurch zu einem Zusammengesetzten, das aus der Bestimmtheit des angeschauten Inhalts und dem Umstand gebildet wird, daß dieser Inhalt etwas Wirkliches ist. Dabei werden beide Aspekte, d. h. das Bestimmt- und das Wirklichsein, als letztendlich gegeneinander selbständige Momente konzipiert. So kann Kant, der in der Praxis diese Herangehensweise an das Problem des Verhältnisses zwischen den Erkenntnisinhalten und der wirklichen Welt übernimmt, das Existenzialurteil als ein „synthetisches“ Urteil verstehen10. Indem das bloße Bestimmtsein des Erkenntnisinhalts im Rahmen dieses theoretischen Modells als ein absoluter Ausgangspunkt verstanden werden muß, kann ihm sein Wirklichsein nur äußerlich hinzukommen. Die Verallgemeinerung und Verabsolutierung des Standpunkts des subjektiven Vorstellens führt somit zu einer ontologischen Interpretation des Inhalts der kognitiven Akte: Der bestimmte Erkenntnisinhalt schließt nämlich sein Vorhandensein als ein wirkliches Ding der Welt nicht in sich ein, d. h. er ist als solcher immer nur ein bloß „möglicher“ Inhalt. Wenn also der Inhalt der Anschauung für ein wirkliches Ding gehalten wird, muß die Wirklichkeit daher als etwas angesehen werden, das von außerhalb des Denkens passiv bzw. als ein Datum des Anschauungsakts aufgenommen wird. In der Geschichte der Philosophie ist wohl Avicenna der erste Denker gewesen, der versucht hat, eine gesamte Ontologie zu entwickeln, deren Ausgangspunkt und Grundprinzip der Inhalt der subjektiven Vorstellung ist. Für Avicenna kann jeder bestimmte Inhalt – das „Wesen“ bzw. die „Essenz“ – auf drei verschiedenen Weisen betrachtet werden: Erstens in sich selbst, d. h. unabhängig von jeglichem Verhältnis zu dem Geist, der ihn denkt, und unabhängig von dem wirklichen Ding, das genauso wie der Inhalt bestimmt ist; zweitens kann man den bestimmten Inhalt so betrachten, wie der Geist ihn denkt bzw. wie der Inhalt „in“ dem Geist ist, der ihn denkt; schließlich kann man den Inhalt als ein wirkliches Ding ansehen bzw. so betrachten, wie er „im“ wirklichen Ding ist11. Die Bestimmheit als in sich betrachtet macht den Kern der Ontologie von Avicenna aus; vom Standpunkt der Bestimmtheit als solcher wird dann das Verhältnis zwischen Bestimmtheit und Sein, sowohl im Fall der Erkenntnis als auch im Fall der wirklichen Welt, interpretiert. Auf der Grundlage der Tafel der Prädikabilien, die Aristoteles im Ersten Buch der Topik aufgestellt hat, nämlich „Proprium“ (Udiom), „Definition“ (fqom), „Gattung“ (c]mor) und „Akzi-

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Vgl. Kant, AA III, 400 [KrV, A 598/B 626]. Vgl. Avicenna: Liber de philosophia prima sive scientia divina, V, 1, 31 – 36, hg. v. Simone Van Riet, Louvain-La-Neuve / Leiden 1983, Bd. II [V-X], 228: „Equinitas etenim habet definitionem quae non eget universalitate, sed est cui accidit universalitas. Unde ipsa equinitas non est aliquid nisi equinitas tantum; ipsa enim in se nec est multa nec unum, nec est existens in his sensibilibus nec in anima, nec est aliquid horum potentia vel effectu, ita ut hoc contineatur intra essentiam equinitatis, sed ex hoc quod est equinitas tantum.“ – Siehe auch ebd. I, 5, 65 – 68, Bd. I [I-IV], 35: „[Q]uoniam, cum dixeris quod certitudo rei talis est in singularibus, vel in anima, vel absolute ita ut communicet utrisque, erit tunc haec intentio apprehensa et intellecta.“ [Meine Hervorhebungen, H.F.] 11

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denz“ (sulbebgj|r)12, hält Avicenna das Sein bzw. die Existenz für eine „Akzidenz“ der Essenz; mit anderen Worten: Daß ein bestimmter Inhalt, über den wir denken, ein wirkliches Ding ist, ist für Avicenna ein Umstand, der den Bestimmungen äußerlich ist, die sowohl den vom Geist erkannten Inhalt als einen solchen Erkenntnisinhalt als auch das wirkliche Ding als ein solches Ding ausmachen13. Auch wenn es auf den ersten Blick scheinen mag, daß der Ausgangspunkt von Avicennas Ontologie nicht der Inhalt der subjektiven Vorstellung, sondern genau genommen nur die spezifische Bestimmtheit dieses Inhalts ist, ist der Inhalt „als solcher“ in der Praxis kein anderer als der Inhalt, der in der subjektiven Vorstellung von seiner Wirklichkeit isoliert und getrennt ist, d. h. er ist in der Tat der Inhalt des Bildes und der abstrakten Vorstellung. Die als solche bzw. absolut betrachtete Essenz ist nämlich der subjektive Inhalt des Vorstellens, indem von ihm abstrahiert wird, daß er subjektiv ist, weshalb er für eine reine Bestimmtheit, d. h. für einen bestimmten Inhalt gehalten wird, der weder subjektiv noch objektiv ist, sondern das bloße Bestimmtsein des Inhalts, das eben deshalb von dessen (eventuellem) bloßem Wirklichsein verschieden ist. Dadurch, daß das Wirklichsein demnach nicht zum Erkentnisinhalt als solchem gehört, meint Avicenna, daß das Sein des bestimmten Dings der wirklichen Welt – d. h. seine Wirklichkeit, indem sie isoliert als solche betrachtet wird – zum Bestimmtsein als eine äußerliche Akzidenz hinzukommt. Diese Art, die bestimmten Erkenntnisinhalte und den Umstand auszudeuten, daß sie manchmal als bloß subjektive Inhalte des Geistes und manchmal (zusätzlich) als wirkliche Dinge der Welt erkannt werden, kommt in der Geschichte der Philosophie immer wieder vor: Sei es als eine ausgearbeitete Theorie – wie im Fall der Philosophien, auf die das Denken von Avicenna einen direkten Einfluß gehabt hat14 –, sei es als ein in einer Praxis implizit akzeptierter theoretischer Ansatz – wie im Fall der Philosophien, die die These enthalten, daß ein und derselbe Inhalt es ist, der einmal als ein wirkliches Ding der Welt und einmal als ein bloß möglicher Inhalt des menschlichen Geistes vorkommt. Beispiele für den letztgenannten Fall sind im Grunde alle Philosophien, die in dem einen oder anderen Grad eine Korrespondenztheorie der Wahrheit und eine empiristische Erkenntnistheorie vertreten. In der Korrespondenztheorie der Wahrheit stellt sich ein identischer Inhalt sowohl „in“ der Welt als auch „im“ Geist dar, weshalb die Erkenntnis – genau genommen die wahre Erkenntnis – das Zusammentreffen der zwei „Versionen“, d. h. der wirklichen und der geistigen Version dieses einzigen Inhaltes bzw. des Inhalts „als solchem“ ist. Eine solche Interpretation des Erkenntnisphänomens pflegt in der Regel mit einer empiristischen Auffassung der sinnlichen Erkenntnis einherzugehen, im Rahmen derer der Anschauung die Eigenschaft zugeschrieben wird, zur Bestimmtheit des 12 Aristoteles: Topica, I, iv, 101b 17 – 26, in: ders.: Posterior Analytics. Topica, hg. v. Hugh Tredennick u. E. S. Forster, London / Cambridge 1960, 278 – 280. 13 Vgl. Avicenna: Liber de philosophia prima, V, 1, 38 – 39; Bd. II [V-X], 229. 14 Wie etwa Thomas von Aquin; siehe Quodlibet, VIII, q. 1 a. 1 co.; Quodlibet, II, q. 2 a. 1 co., Super Sent., lib. 2 d. 12 q. 1 a. 4 co.; Summa Theologiae, I, q. 77 a. 1 arg. 5, in: ders.: Opera Omnia. Cum hypertextibus in CD-ROM, hg. v. Roberto Busa, Milano 1992.

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Erkenntnisinhalts seine Wirklichkeit hinzuzufügen. Was einer empiristischen Auffassung der Erkenntnis kennzeichnet, ist nämlich nicht die bloße Annahme des – übrigens unüberwindbaren – Unterschieds zwischen sinnlicher und begrifflicher Erkenntnis, sondern die ontologischen Festlegungen, die diese Auffassung beiden Erkenntnisformen zuschreibt: Für eine empiristische Erkenntnistheorie muß die sinnliche Anschauung die Wirklichkeit dessen einschließen, was das Subjekt anschaut, während die begriffliche Erkenntnis nur seine Bestimmtheit enthält, welche somit als ein Inhalt interpretiert wird, der als solcher nur möglich ist. II. Die Einheit von Geist und Welt als Grundlage der Einheit des einzelnen Inhalts der Erkenntnis mit dem wirklichen Ding der Welt Gegenüber dem oben ausgeführten Erklärungsmodell der Erkenntnis versucht Hegel ein Alternativmodell zur Verfügung zu stellen, das fähig ist, aufzuzeigen, daß das Selbstbewußtsein, d. h. das Denken, das sich selbst denkt, und die wirkliche Welt sich nicht einander ausschließen, um erst durch einen besonderen, ausgezeichneten kognitiven Akt – in der Praxis: durch die sinnliche Anschauung – miteinander in Kontakt zu kommen. Für Hegel ist die sinnliche Anschauung eine weitere Instanz desselben Denkens. Wenn die wirkliche Welt sich überhaupt erkennen läßt, ist es wiederum nur deshalb, weil sie sich dem Subjekt in seiner eigenen Denktätigkeit darstellt, wie Kant es mit der These der ursprünglichen Einheit der Apperzeption klargemacht hatte. Im theoretischen Modell, das Hegel vorschlägt, wird die Denktätigkeit nicht mit dem Denken gleichgesetzt, das das Sein aus sich ausschließt, d. h. sie wird nicht als identisch mit dem bloß subjektiven Vorstellen von Bildern und abstrakten Begriffen aufgefaßt; sie wird hingegen als eine Tätigkeit ausgelegt, die sowohl das einseitig subjektive Denken von Bildern und abstrakten Begriffen als auch das sinnliche Anschauen als Momente ihrer selbst einschließt. Eben deshalb wird ein Erkenntnisinhalt, indem er als wirklich gedacht wird, nicht auf einen bloß subjektiven bzw. möglichen Inhalt reduziert. Denn das einseitig subjektive Denken ist für Hegel nicht das ganze Denken, sondern nur eine besondere Instanz des Denkens: Das Denken enthält die sinnliche Anschauung als eine weitere Instanz seiner selbst. Das einseitig subjektive bzw. formelle Denken darf für Hegel insofern nicht durch die Übertragung seiner formalen Verfaßtheit auf die gesamte Denktätigkeit verallgemeinert und verabsolutiert werden. Wird das bloß subjektive Vorstellen nicht verabsolutiert, so muß dem intuitiv für ein wirkliches Ding gehaltenen Inhalt der sinnlichen Anschauung keine außerordentliche ontologische Festlegung zugesprochen werden. Wenn aber die sinnliche Anschauung, neben dem Bild und der abstrakten Vorstellung, ein weiterer Gedanke ist – unter welchen Bedingungen können wir wissen, daß das, was wir anschauen, ein wirkliches Ding der Welt und nicht ein bloß subjektiver Erkenntnisinhalt ist? Schließlich haben wir beim Anschauen die fast unbezwingbare Neigung, zu glauben, daß wir darin Dinge der wirklichen Welt er-

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kennen, während wir beim Vorstellen von Bildern und abstrakten Begriffen hingegen die fast unbezwingbare Neigung haben, zu glauben, daß wir darin nur subjektive Inhalte des Geistes erkennen. Eben wegen dieser Voreingenommenheiten erscheint uns die realistische und empiristische Auffassung der Erkenntnis – und wegen seines „minimalen Empirismus“15 letztendlich auch Kants transzendentaler Idealismus – intuitiv als die korrekte Einstellung. Das tatsächliche Erkennen der wirklichen Welt setzt aber nur dann voraus, daß das erkennende Subjekt sie durch einen seiner Denkakte als ein Datum aufnimmt, wenn Denken als eine in sich formelle Tätigkeit verstanden wird. Die Zuordnung der Anschauung zur Wirklichkeit entpuppt sich insofern als eine Folge einer bestimmten Interpretation des Denkens und Erkennens. Wenn das Denken hingegen nicht als eine in sich formelle, einseitig subjektive Tätigkeit interpretiert wird, bleibt der Weg dafür offen, seinen Weltbezug auf eine ganz andere Weise zu erklären, als dies der Empirismus tut – nämlich ohne jeglichen Rekurs auf den Begriff der Rezeptivität. Dies ist genau der Punkt, an dem diejenigen, die das theoretische Projekt des nachkantischen Idealismus für absurd halten, in die Irre gehen. Um das Paradigma des nachkantischen Idealismus richtig verstehen zu können, muß man zunächst begreifen, daß wenn das Denken nicht als eine formelle Tätigkeit angesehen wird, welche die wirkliche Welt „von außen“ aufnehmen muß, sich sein Bezug zur Welt als eine ursprüngliche Einheit mit ihr verstehen läßt; die hiermit verbundene These besagt, daß es kein selbstbewußtes Denken ohne ein Erkennen der wirklichen Welt gibt. Die Welt fungiert in diesem Modell der Erkenntnis als ein Medium, in dem das Denken immer operiert und die es nie verläßt bzw. verlassen kann: Denken und Sein sind hier zwei Aspekte einer in sich differenzierten Identität. Daß das Denken das Sein bzw. der Geist die Welt ist, bedeutet aber nicht, daß der Inhalt jedes Gedankens des Geistes ein wirkliches Ding der Welt ist. Während unser Geist sich bloß subjektive Inhalte vorstellt, ist er sich auch immer dessen bewußt, daß es eine Welt gibt, die er somit gleichzeitig neben seinen subjektiven Vorstellungen erkennt: Man kann sich nämlich nicht seiner selbst bewußt sein, ohne sich gleichzeitig der wirklichen Welt bewußt zu sein. Zu dieser Aussage würde der Realist und Empirist, um jeglichen Zweifel auszuschließen, vielleicht gerne hinzufügen, daß der Geist, der sich seiner selbst bewußt ist, sich der wirklichen Welt bewußt ist, die von ihm verschieden ist. Doch die wirkliche Welt – so würden Fichte und Hegel hierzu erläutern – die auf diese Weise vom Geist verschieden ist, ist streng genommen nicht von dem Geist verschieden, der sich ihrer bewußt ist, sondern nur von dem Geist, der sich bloß subjektive Inhalte in seinem Inneren vorstellt. Der Geist, der mit der Welt eine unzertrennliche Einheit bildet, ist nämlich nicht das Subjekt, das als solches leer ist und sich daher der Welt gegenüberstellt. Fichte bezeichnet den Letztgenannten als das endliche Ich, das einem Nicht-Ich entgegengesetzt ist; bei Hegel handelt es sich um das Subjekt als Bewußtsein, das einem Objekt gegenübersteht; der Erstgenannte ist bei Fichte 15 Vgl. John McDowell: Mind and World. With a New Introduction, Cambridge / London 20002 (1. Ausgabe 1994), xi-xii, xv-xvi.

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hingegen das absolute Ich16, bei Hegel der eigentliche Geist17. Das Sein, das mit dem Denken identisch ist, ist insofern nicht mit dem Denken identisch, das prinzipiell bloß subjektive Gedanken bzw. Vorstellungen denkt, sondern nur mit dem Denken identisch, das als absolutes Ich bzw. als Geist, d. h. als die Tätigkeit eines Subjekts aufgefaßt wird, die nichtsdestoweniger die wirkliche Welt enthält. Diese Auffassung des Denkens mit der erstgenannten zu verwechseln, verleitet dazu, den nachkantischen Idealismus mit einem subjektiven Idealismus à la Berkeley zu identifizieren. Das Denken, das die wirkliche Welt in sich einschließt, ist selbst so wenig formell, wie die Welt, die mit ihm identisch ist, nur ein bloßer Gedanke ist. Wenn die wirkliche Welt, die mit dem Geist identisch ist, eben deshalb eine rein geistige Welt wäre, wäre weder der Geist mit der wirklichen Welt identisch (er wäre ein bloß subjektives Vorstellen) noch die wirkliche Welt identisch mit dem Geist, mit dem sie identifiziert werden soll (sie wäre eine bloß vorgestellte Welt). Die These von der Einheit von Geist und Welt bzw. von Denken und Sein verlangt daher ein Erklärungsmodell, in Rahmen dessen sowohl der Geist als auch die Welt und deren Beziehung zueinander neu ausgelegt werden können: „Der Geist, der die Welt ist“ (nachkantischer Idealismus) ist eben nicht „der Geist, der nicht die Welt ist“ (naiver Realismus, Empirismus, transzendentaler Idealismus). Das Denken des Geistes im letzteren Sinne ist je nachdem im größeren oder kleineren Maße als solches einseitig subjektiv, während das Denken des Geistes im ersteren Sinne sich mit der Welt sozusagen „auf halbem Weg“ identifiziert, d. h. es ist nicht als solches einseitig subjektiv, weshalb die wirkliche Welt, die mit ihm identisch ist, nicht zu einer bloß subjektiven bzw. nur vorgestellten Welt wird (obwohl er unter bestimmten Bedingungen ein bloß subjektives bzw. vorstellendes Denken sein kann). Unter dem Pa16

Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (GA), hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., Bd. II [GA I/2], 271: „Das Ich soll sich selbst gleich, und dennoch sich selbst entgegengesetzt seyn. Aber es ist sich gleich in Absicht des Bewußtseyns, das Bewußtseyn ist einig: aber in diesem Bewußtseyn ist gesetzt das absolute Ich, als untheilbar; das Ich hingegen, welchem das Nicht-Ich entgegengesetzt wird, als theilbar. Mithin ist das Ich, insofern ihm ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird, selbst entgegengesetzt dem absoluten Ich.“ 17 Vgl. Hegel: GW XX, 434 [§ 439]: „Das Selbsbewußtsein, so die Gewißheit, daß seine Bestimmungen ebensosehr gegenständlich, Bestimmungen des Wesens der Dinge, als seine eigenen Gedanken sind, ist die Vernunft, welche als diese Identität nicht nur die absolute Substanz, sondern die Wahrheit als Wissen ist. […] Diese wissende Wahrheit ist der Geist.“ – Siehe auch ders.: GW XXV (II), 1084 [§ 440]: „Der freie Geist oder der Geist als solcher ist die Vernunft, wie sich dieselbe einerseits in die reine, unendliche Form, in das schrankenlose Wissen, und andererseits in das mit diesem identische Objekt trennt. Dies Wissen hat hier noch keinen weiteren Inhalt als sich selber, – mit der Bestimmung, daß dasselbe alle Objektivität in sich befasse, daß folglich das Objekt nicht etwas von außen an den Geist Kommendes und ihm Unfaßbares sei. So ist der Geist die schlechthin allgemeine, durchaus gegensatzlose Gewißheit seiner selbst. Er besitzt daher die Zuversicht, daß er in der Welt sich selber finden werde, daß diese ihm befreundet sein müsse, daß, wie Adam von Eva sagt, sie sei Fleisch von seinem Fleische, so er in der Welt Vernunft von seiner eigenen Vernunft zu suchen habe.“

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radigma der Einheit von Denken und Sein ist das, was der Geist denkt, die Welt selbst – aber nicht in dem Sinne, daß die Welt dadurch zu einer reinen Modifikation des Geistes wird (das ist der Fehler derjenigen, welche ein Übertreten der Grenzen des transzendentalen Idealismus für einen fatalen Fehltritt halten), sondern in dem Sinne, daß die wirkliche Welt eigentlich das ist, was der Geist für die wirkliche Welt hält. Die wirkliche Welt ist nämlich für den nachkantischen Idealismus das Ganze von Erkenntnisinhalten, von denen das erkennende Subjekt nach bestimmten Maßstäben urteilt, daß sie wirkliche Dinge sind. Die Urteile über die Welt werden unter diesem Paradigma nicht mit Tatsachen, sondern streng genommen mit anderen Urteilen konfrontiert. Unsere Theorien darüber, wie die Welt ist, werden demnach nicht unmittelbar mit der Welt selbst, sondern immer mit anderen – eigenen oder fremden – Theorien über die Welt verglichen und gegebenenfalls durch diese korrigiert oder ersetzt. Das Vorhandensein der Welt, ihr Wirklichsein ist nach diesem Erklärungsmodell kein theoretisches Problem. Entgegen dem, was diejenigen glauben, die diesen radikalen Idealismus für absurd halten, stellt sich unter ihm das Problem einer Außen-Welt prinzipiell nie, da er eben von der Einheit von Geist und Welt als von einem Grundsatz ausgeht. Das Problem, das in diesem neuen Erklärungsmodell aufgelöst werden muß, ist keineswegs, ob die Welt existiert – ihre Existenz wird von der Erkenntnistätigkeit als solcher vorausgesetzt bzw. impliziert –, sondern welche Dinge es in ihr gibt. Eben deshalb, weil die Wirklichkeit des Ganzen von Dingen, d. h. die wirkliche Welt, vom Erkennen vorausgesetzt wird bzw. in ihm impliziert ist, ist Hegels Erklärung, wie wir erkennen, daß dieser oder jener bestimmte Erkenntnisinhalt als ein wirkliches Ding der Welt existiert, von ganz anderer Art, als diejenige, die hierzu dem Empirismus und letztendlich auch der transzendentale Idealismus zur Verfügung steht. Wenn das Erkennen als eine in sich leere, einseitig subjektive Tätigkeit aufgefaßt wird, so muß jedes wirkliche Ding als ein Inhalt verstanden werden, der als ein Datum von einer Außenwelt aufgenommen wird. Wenn hingegen von der Einheit von Denken und Sein ausgegangen wird, verwandelt die Subsumierung der Bestimmtheit eines Erkenntnisinhalts unter das Ganze von Bestimmtheiten, das für die Welt gehalten wird, diese besondere Bestimmtheit in einen Bestandteil dieses Ganzen – d. h. in einen Bestandteil der schon immer für wirklich gehaltenen Welt – und eben dadurch in ein wirkliches Ding. Der Weltbezug erfolgt im ersteren Fall durch einen besonderen Erkenntnisakt, nämlich die sinnliche Anschauung; im letzteren Fall ist der Weltbezug hingegen eine allgemeine Bedingung der Erkenntnis und das Erkennen eines bestimmten wirklichen Dings ist insofern das Endresultat des Komplexes von kognitiven Tätigkeiten, die das begreifende Erkennen definieren. Wenn Denken und Sein grundsätzlich voneinander getrennt werden, um erst „später“ durch einen besonderen Erkenntnisakt miteinander verbunden zu werden, wird der Inhalt des Bildes und der abstrakten Vorstellung als der paradigmatische Inhalt des Denkens überhaupt interpretiert. Dementsprechend wird der Inhalt des nicht-sinnlichen Denkens als ein prinzipiell willkürlicher Inhalt gedeutet, während der Inhalt der sinnlichen Anschauung, indem er für einen von außen aufgenom-

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menen Inhalt gehalten wird, als ein selbständiger, fixer Punkt ausgelegt wird, der eben deshalb imstande ist, das Denken aus seinem „reibungslosen Kreiseln im luftleeren Raum“ (frictionless spinning in a void) zu befreien und in der Welt zu verankern18. Für Hegel ist aber nur das Vorstellen – dessen Kern eben die Einbildungskraft ist – eine willkürlich freie Tätigkeit, und zwar frei im Sinne des liberum arbitrium19. Neben der Einbildungskraft und der Phantasie gibt es aber eine weitere nicht-sinnliche, begriffliche Erkenntnistätigkeit, die nicht willkürlich ist, da sie ihre eigene Form von Notwendigkeit hat. Diese nicht-sinnliche, dennoch in sich notwendige Erkenntnisform ist das Begreifen20. Das erkennende Subjekt kann nämlich nach Wunsch und Belieben ein Bild mit einem anderen Bild oder eine abstrakte Vorstellung mit einer anderen Vorstellung verknüpfen, aber es kann durch ein rein willkürliches Assoziieren und Kombinieren keine plausible Theorie darüber entwickeln, wie die Welt ist. Um eine allgemeine Theorie über die wirkliche Welt und weiterhin eine untergeordnete Theorie über einen bestimmtem Bereich von Objekten innerhalb der Welt auszuarbeiten, muß sich das Subjekt an interne Regeln der Theorie selbst halten. Das Begreifen verfügt insofern über eine eigene „Konsistenz“; diese erzeugt die erforderliche „Reibung“, um der freien Spontaneität der Einbildungskraft Haftung zu geben. Hegel unterscheidet somit das Begreifen vom Vorstellen: Während das Vorstellen eine einseitig subjektive Tätigkeit ist, deren Inhalte bloß möglich sind, verweist das Begreifen hingegen seine Inhalte auf die Wirklichkeit, weshalb die Erkennt18

Vgl. McDowell: Mind and World, 42; siehe auch ebd. 39, 50 – 51, 67 – 68. Siehe in diesem Sinne Hegel: GW XI, 29 f.: „Aber der reflectirende Verstand bemächtigte sich der Philosophie. Es ist genau zu wissen, was dieser Ausdruck sagen will, der sonst vielfach als Schlagwort gebraucht wird; es ist überhaupt darunter der abstrahirende und damit trennende Verstand zu verstehen, der in seinen Trennungen beharrt. Gegen die Vernunft gekehrt, beträgt er sich als gemeiner Menschenverstand und macht seine Ansicht geltend, daß die Wahrheit auf sinnlicher Realität beruhe, daß die Gedanken nur Gedanken seyen, in dem Sinne, daß erst die sinnliche Wahrnehmung ihnen Gehalt und Realität gebe, daß die Vernunft, insofern sie an und für sich bleibe, nur Hirngespinste erzeuge. In diesem Verzichtthun der Vernunft auf sich selbst geht der Begriff der Wahrheit verlohren; sie ist darauf eingeschränkt, nur subjective Wahrheit, nur die Erscheinung zu erkennen, nur etwas, dem die Natur der Sache selbst nicht entspreche.“ [Meine Hervorhebung, H.F.] 19 Siehe in diesem Sinne Hegel: GW XX, 448 [§ 455 Anm.]: „Die sogenannten Gesetze der Ideenassoziation haben besonders in der mit dem Verfall der Philosophie gleichzeitigen Blüte der empirischen Psychologie ein großes Interesse gehabt. Fürs erste sind es keine Ideen, welche assoziiert werden. Fürs andere sind diese Beziehungsweisen keine Gesetze, eben darum schon, weil so viele Gesetze über dieselbe Sache sind, wodurch Willkür und Zufälligkeit, das Gegenteil eines Gesetzes, vielmehr statthat; es ist zufällig, ob das Verknüpfende ein Bildliches oder eine Verstandeskategorie, Gleichheit und Ungleichheit, Grund und Folge usf., ist.“ [Meine Hervorhebung, H.F.]. Siehe auch Hegel: GW XX, 452 [§ 458 Anm.]; GW XXV (II), 1105 [§ 455]; GW XXV (II), 1108 [§ 457]. 20 Vgl. Hegel: GW XX, 464 – 465 [§ 467]. Siehe auch Hegel: Werke 20, 314: „Die Aufgabe der Philosophie bestimme sich dahin, die Einheit des Denkens und Seins, welche ihre Grundidee ist, selbst zum Gegenstande zu machen und sie zu begreifen, d. i. das Innerste der Notwendigkeit, den Begriff zu erfassen.“

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nisinhalte, die begriffen werden, für Dinge der wirklichen Welt gelten21. Für Hegel erscheint uns die wirkliche Welt nie in ihrer spezifischen Beschaffenheit als eine unmittelbare Tatsache. Unsere kognitive Tätigkeit bildet Begriffe, in deren Rahmen sich Objekte als systematische Gesamtheiten von Bestimmungen konstituieren, die dieselbe kognitive Tätigkeit dann – und nur dann – für wirkliche Dinge hält, d. h. für Inhalte, die sowohl Erkenntnisinhalte des Subjekts als auch Inhalte sind, die das Subjekt als Dinge der wirklichen Welt betrachtet22. Hegel unterscheidet das Begreifen aber auch vom Wahrnehmen bzw. vom Anschauen. Im Unterschied zum sinnlichen Erkennen ist das Begreifen als solches sprachlich strukturiert. Dies muß jedoch nicht so verstanden werden, als ob das Begreifen für Hegel das sinnliche Erkennen prinzipiell aus sich ausschließen würde. Die sinnliche Anschauung, die für Hegel die erste Erkenntnisform des Geistes ausmacht, ist nur die völlig unvermittelte sinnliche Anschauung. Die Anschauung als erste theoretische Form ist für Hegel nämlich nicht die Anschauung, die durch den ganzen kognitiven Prozeß hindurch immer wieder vorkommt und die jedes Mal, wenn sie vorkommt, mit den bereits verinnerlichten und verallgemeinerten Erkenntnisinhalten vermittelt wird, sondern es handelt sich um die Anschauung, deren sich das erkennende Subjekt noch nicht bewußt geworden ist. Indem das erkennende Subjekt über diese zunächst völlig unmittelbare Anschauung nachdenkt und nicht mehr bloß anschaut, sondern nunmehr weiß, daß es anschaut, geht es für Hegel in das eigentliche Vorstellen über23. Die Anschauung, die Hegel als die erste Form des kognitiven Prozesses betrachtet, ist insofern nur die vorbewußte Anschauung der Neugeborenen und Kleinkinder, nicht die spätere, stark vermittelte und „erinnerte“ Anschauung der Erwachsenen24. Als Endform der kognitiven Tä21 Vgl. Hegel: Werke 20, 362: „Allerdings, die Vorstellung tut’s nicht, wenn ich hartnäckig darin steckenbleibe; ich kann mir einbilden, was ich will, darum ist es nicht. Es kommt nur darauf an, was ich mir vorstelle: ob ich das Subjektive und das Sein denke oder begreife; dann gehen sie über.“ [Meine Hervorhebung, H.F.] 22 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. III, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1983, 221: „Alles Tun in der Welt ist dies, das Subjektive aufzuheben und das Objektive zu setzen und so die Einheit beider hervorzubringen. Es gibt nichts, wovon alles so Beispiel wäre wie das Aufheben des Entgegengesetzten, das Hervorbringen der Einheit des Subjektiven und Objektiven. Der Begriff ist, sich sowohl subjektiv als objektiv zu setzen oder auch weder subjektiv noch objektiv.“ 23 Vgl. Hegel: GW XX, 445 [§ 450]: „Auf und gegen dies eigene Außersichsein richtet die Intelligenz ebenso wesentlich ihre Aufmerksamkeit und ist das Erwachen zu sich selbst in dieser ihrer Unmittelbarkeit, ihre Erinnerung-in-sich in derselben; so ist die Anschauung dies Konkrete des Stoffs und ihrer selbst, das Ihrige, so daß sie diese Unmittelbarkeit und das Finden des Inhalts nicht mehr nötig hat.“ 24 Vgl. Hegel: GW XXV (II), 1095 [§ 448]: „Der Wilde ist fast auf nichts aufmerksam; er läßt alles an sich vorübergehen, ohne sich darauf zu fixieren. Erst durch die Bildung des Geistes bekommt die Aufmerksamkeit Stärke und Erfüllung. Der Botaniker zum Beispiel bemerkt an einer Pflanze in derselben Zeit unvergleichlich viel mehr als ein in der Botanik unwissender Mensch. Dasselbe gilt natürlicherweise in bezug auf alle übrigen Gegenstände des Wissens. Ein Mensch von großem Sinne und von großer Bildung hat sogleich eine voll-

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tigkeit unterscheidet sich das Begreifen somit nicht vom sinnlichen Erkennen überhaupt, sondern streng genommen nur vom unvermittelten Anschauen des Anfangs25. Wer etwas sinnlich anschaut, zweifelt spontan nicht, daß das, was er anschaut, ein Ding der wirklichen Welt ist. Obwohl die Anschauung eine anfängliche Reflexion des Geistes über seine ununterschiedene Einheit mit dem impliziert, was ihn im Gefühl affiziert, löst sie die unmittelbare Einheit des Geistes mit dem Sein noch nicht auf26. Wer ein unbestimmtes Gefühl von etwas hat, das seine Sinnlichkeit affiziert, sowie auch wer dieses etwas in einen raumzeitlichen, bestimmten Gegenstand objektiviert, hält spontan das, was er jeweils erkennt, für etwas, das zur wirklichen Welt gehört. Es ist erst das Vorstellen, welches für Hegel diese ursprüngliche Einheit zwischen Geist und Welt, zwischen Denken und Sein auflöst. Als Ergebnis dieser Auflösung bleibt das Wirklichsein der Welt sozusagen auf der Seite der Welt selbst – die Welt wird demnach zur Außenwelt –, während das Denken auf der Seite des erkennenden Subjekts bleibt, welches sich insofern Inhalte vorstellt, die indem sie nicht auf der Welt sind, bloß innerliche Inhalte sind. Für Hegel ist aber die Trennung von Wirklichsein und Bestimmtsein eine Operation innerhalb der grundsätzlichen Einheit von Geist und Welt27. Diese Einheit wird durch eine solche Trennung nicht aufgelöst: Ihre vermeintliche Auflösung ist für Hegel nur ein Schein, der aus der irrtümlichen Verallgemeinerung und Verabsolutierung des Standpunktes des Vorstellens hervorgeht. Der innerliche, einseitig subständige Anschauung des Vorliegenden; bei ihm trägt die Empfindung durchgängig den Charakter der Erinnerung.“ Siehe auch ders., GW XXV (II), 1104 [§ 454]: „Je gebildeter ein Mensch ist, desto mehr lebt er nicht in der unmittelbaren Anschauung, sondern – bei allen seinen Anschauungen – zugleich in Erinnerungen, so daß er wenig durchaus Neues sieht, der substantielle Gehalt des meisten Neuen ihm vielmehr schon etwas Bekanntes ist.“ 25 Siehe in diesem Sinne Hegel: GW XXV (II), 1100 [§ 449]: „Die vollendete Erkenntnis gehört nur dem reinen Denken der begreifenden Vernunft an, und nur derjenige, welcher sich zu diesem Denken erhoben hat, besitzt eine vollkommen bestimmte wahrhafte Anschauung; bei ihm bildet die Anschauung bloß die gediegene Form, in welche seine vollständig entwickelte Erkenntnis sich wieder zusammendrängt.“ 26 Vgl. Hegel: GW XX, 445 [§ 449]: „Die Intelligenz als diese konkrete Einheit der beiden Momente, und zwar unmittelbar in diesem äußerlich-seienden Stoffe in sich erinnert und in ihrer Erinnerung-in-sich in das Außersichsein versenkt zu sein, ist Anschauung.“ [Meine Hervorhebung, H.F.] 27 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, 19b-20a: „Empfindung ist diese Beziehung, indem ich mich in ihr unmittelbar verhalte, sie selbst mein unmittelbares Verhältnis ist, d. i. Ich als dieses einzelne empirische Selbstbewußtsein bin. Empfindend bin Ich überhaupt, insofern Ich unmittelbar bestimmt bin, eine Bestimmtheit unmittelbar die meinige als in Diesem Empirischen ist. Ich sehe einen Gegenstand, fühle mit dem Finger einen Gegensund – so ist er für mich ein anderes außer mir; aber dies Sehen dieses Blau, Fühlen dieses Warmen, ist zugleich meine subjektive Bestimmtheit, in mir ungetrennt von mir; Ich empfinde (wie empfindende Natur überhaupt in ihrer Sensibilität) – dies ist diese Flüssigkeit, diese unmittelbare Reflexion in mich, dies unmittelbare Vermeinigen dessen, was nur zugleich ein anderes ist, aber für mich; so nur Empfindung und Leben, Unterschied gegen mich selbst, nicht gegen Anderes.“ [Meine Hervorhebung, H.F.]

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jektive Inhalt des Vorstellens ist nur das vorübergehende Ergebnis eines Reflexionsakts des Denkens, welches das Sein in sich einschließt. Die Inhalte, die der Geist als wirkliche Dinge anschaut, scheinen ihm zunächst einseitig „objektive“ Inhalte zu sein, als ob sie die Tätigkeit ihrer eigenen Erkenntnis als das „Subjektive“ aus sich ausschließen würden. Eben deshalb erscheint der Erkenntnistätigkeit die wirkliche Welt zunächst als etwas Äußerliches. Indem aber der Geist durch einen Reflexionsakt sich seines eigenen Anschauungsakts bewußt wird, hebt er das allgemeine Moment der Unmittelbarkeit seiner Einheit mit der Welt auf (wegen dieser Unmittelbarkeit war der Geist in die Welt versunken und die Welt erschien ihm als das einzig Wirkliche) und wird sich am angeschauten Wirklichen seiner selbst bewußt. Diese Reflexion ist insofern das Erwachen-zu-sich des Geistes in seiner Unmittelbarkeit, seine „Erinnerung-in-sich in derselben“28. Wenn das Denken sich dessen bewußt wird, daß der Inhalt, den es anschaut, ihm als ein wirkliches Ding vorkommt, weil es ihn „als“ wirklich erkennt, wird es seiner eigenen Einheit mit der Welt bewußt. Durch diesen Reflexionsakt wird sich der Geist bewußt, daß er behaupten kann, daß es wirkliche Dinge gibt, nur indem diese sich ihm in seiner eigenen Erkenntnistätigkeit darstellen. Wäre dies nicht so, würde der Geist nichts von ihnen wissen, weder daß es sie gibt, noch wie sie beschaffen sind29. Der Geist, dem bewußt geworden ist, daß ihm die wirklichen Dinge des sinnlichen Anschauens in seiner Erkenntnis derselben erscheinen, stellt nunmehr seine eigenen, einseitig subjektiven Inhalte den Dingen in ihrer eigenen, einseitigen Objektivität entgegen. Dieses Entgegensetzen von einseitig subjektiven und einseitig objektiven Inhalten ist für Hegel das Spezifikum des vorstellenden bzw. repräsentationalen Erkennens. Das Begreifen ist hingegen die Tätigkeit der gegenseitigen Vermittlung beider Inhaltsformen, durch die die jeweilige Einseitigkeit derselben überwunden wird30. Etwas begreifen bedeutet selbstverständlich nicht, 28

Hegel: GW XX, 445 [§ 450]. Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, 75: „Ich habe Vorstellungen, Anschauungen; das ist ein gewisser Inhalt: dieses Haus usf. Sie sind meine Anschauungen, stellen sich mir vor. Ich könnte sie mir aber nicht vorstellen, wenn ich nicht diesen Inhalt in mich faßte; dieser ganze Inhalt muß auf einfache, ideelle Weise in mich gesetzt sein. Idealität heißt, daß dies äußerliche Sein, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Materiatur, Außereinander aufgehoben ist; indem ich es weiß, sind es nicht außereinander seiende Vorgestellte, sondern sie sind auf einfache Weise in mir. So viele Teile ein Baum hat, so ist er in meiner Vorstellung von ihm doch nur einfach. Der Geist ist Wissen; daß er das Wissen sei, muß der Inhalt dessen, was er weiß, diese ideelle Form erlangt haben, auf diese Weise negiert worden sein.“ 30 Vgl. Hegel: GW XII, 195: „Aber allerdings wenn Ich begrifflos als blosse einfache Vorstellung nach der Weise genommen wird, wie wir im alltäglichen Bewußtseyn Ich aussprechen, so ist es die abstracte Bestimmung, nicht die sich selbst zum Gegenstand habende Beziehung seiner selbst; – es ist so nur eins der Extreme, einseitiges Subject ohne seine Objectivität, oder es wäre auch nur Object ohne Subjectivität, wenn nemlich die berührte Unbequemlichkeit hiebey nicht wäre, daß sich von dem Ich als Object das denkende Subject nicht wegbringen läßt. Aber in der That findet dieselbe Unbequemlichkeit auch bey der erstern Bestimmung, dem Ich als Subjecte, statt; das Ich denkt etwas, sich oder etwas anderes. Diese 29

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daß das Anschauen und das Vorstellen von Bildern und abstrakten Vorstellungen aus dem kognitiven Prozeß verschwinden. Wenn das erkennende Subjekt eine kohärente Theorie über die Welt ausarbeitet, werden all diese Erkenntnisformen in die Theorie integriert und in ihr aufgehoben31 – diese Integration ist in der Tat ein wesentlicher Bestandteil der erforderlichen Kohärenz und Konsistenz der Theorie. Der Unterschied zwischen Sinnlichem und Begrifflichem läßt sich als solcher nicht überwinden, weil die sprachlich formulierbaren Gedanken, aus denen die Anschauungen in einer Theorie vermittelt werden, selbst keine sinnlichen Inhalte sind. Selbst wenn die sinnliche Anschauung aus einer Theorie heraus interpretiert wird, wird ihr Inhalt nicht zu einem begrifflichen Inhalt; er ist und bleibt immer ein sinnlicher Inhalt, der durch eine Theorie und in einer Theorie vermittelt wird. Dieser unüberwindbare Unterschied bedeutet aber wiederum nicht, daß deshalb der Weltbezug der Erkenntnis aus den sinnlichen Inhalten entsteht. Im theoretischen Rahmen des absoluten Idealismus hat das sinnliche Anschauen nicht die Funktion, derjenige Erkenntnisakt zu sein, durch den das Erkennen seinen Weltbezug erhält; das sinnliche Erkennen erhält hingegen diesen Weltbezug durch den Erkenntnisakt des Begreifens. Laut Hegel ist es nämlich gerade das Subsumieren und Vermitteln der sinnlichen Inhalte unter eine allgemeine Theorie über die Welt, welches diese Inhalte, die als solche bloße Qualia ohne unmittelbaren Bezug auf Dinge wären, um ein Objekt herum anordnet und sie dadurch zu Eigenschaften eines wirklichen Dings in der Welt werden läßt. Eben deshalb, weil in dem Erklärungsmodell, das den transzendentalen Idealismus radikalisiert, das Denken das Sein auf allgemeine Weise in sich enthält, ist Untrennbarkeit der zwey Formen, in denen es sich [sich] selbst entgegensetzt, gehört zur eigensten Natur seines Begriffs und des Begriffs selbst; sie ist gerade das, was Kant abhalten will, um nur die sich in sich nicht unterscheidende und somit ja nur die begrifflose Vorstellung fest zu erhalten. Ein solches Begriffloses darf sich nun zwar wohl den abstracten Reflexionsbestimmungen oder Kategorien der vorigen Metaphysik gegenüberstellen, – denn an Einseitigkeit steht es auf gleicher Linie mit ihnen.“ 31 Vgl. Hegel: GW XXIV (III), 1180 [§ 246]: „Diese Einheit der Intelligenz und der Anschauung, des Insichseyns des Geistes und seines Verhaltens zur Aeußerlichkeit, muß aber nicht Anfang, sondern Ziel, nicht eine unmittelbare, sondern eine hervorgebrachte Einheit seyn. Eine natürliche Einheit des Denkens und Anschauens ist die des Kindes, des Thiers, die man höchstens Gefühl, aber nicht Geistigkeit nennen kann. Der Mensch aber muß vom Baume der Erkenntniß des Guten und Bösen gegessen haben, durch die Arbeit und Thätigkeit des Gedankens hindurchgegangen seyn, um nur als Ueberwinder dieser Trennung seiner von der Natur zu seyn, was er ist. Jene unmittelbare Einheit ist so nur abstracte, ansichseyende Wahrheit, nicht die wirkliche Wahrheit; nicht nur der Inhalt muß das Wahre seyn, sondern auch die Form. Die Auflösung des Zwiespalts muß die Gestalt haben, daß ihre Form die wissende Idee sey, und die Momente der Auflösung müssen im Bewußtseyn selber nachgesucht werden.“ – Siehe auch Hegel: GW XXV (2), 1110 [§ 465]: „Das Denken ist die dritte und letzte Hauptentwicklungsstufe der Intelligenz; denn in ihm wird die in der Anschauung vorhandene, unmittelbare, an sich seiende Einheit des Subjektiven und Objektiven, aus dem in der Vorstellung erfolgenden Gegensatze dieser beiden Seiten, als eine um diesen Gegensatz bereicherte, somit an und für sich seiende wiederhergestellt, dies Ende demnach in jenen Anfang zurückgebogen.“

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darin das Ergebnis der Instantiierung der begriffenen Welttheorie ein einzelnes Objekt, das das Denken für ein wirkliches Ding der Welt hält. Wenn aber wie bei Kant, der in dieser Hinsicht letztendlich eine empiristische Position vertritt, die begrifflichen Inhalte, selbst wenn sie durchgängig bestimmt sind, immer noch mögliche, d. h. bloß subjektive Inhalte sind, so muß die sinnliche Anschauung zur Bestimmtheit dieser Inhalte die ihr noch fehlende Wirklichkeit hinzufügen. Nach einer solchen Rekonstruktion des Erkenntnisphänomens und des Verhältnisses zwischen sinnlicher und begrifflicher Erkenntnis impliziert die Bestimmung eines Inhaltes bis zu seiner durchgängig bestimmten Einzelheit seine Wirklichkeit nicht: Um dem Inhalt Wirklichkeit zuzuschreiben, wird hier noch die sinnliche Anschauung benötigt. Diese soll die Wirklichkeit hinzufügen, die von Natur aus den Inhalten der begrifflichen Erkenntnis, trotz ihrer eventuellen Individuation, fehlt. Hegels Idealismus – wie übrigens der nachkantische Idealismus im Allgemeinen – geht hingegen von dem Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption aus, dem zufolge das Ich-denke bei all den Erkenntnisakten dabei ist, und versteht diese These auf eine radikalere Weise, als Kant sie verstanden hat. Da das Denken die wirkliche Welt nur insofern erkennen kann, als sie ihm in irgendeine Weise erscheint, darf es laut Hegel nicht als eine Tätigkeit aufgefaßt werden, die an sich leer ist und die Wirklichkeit der Welt von außen erhält. Das Denken enthält die wirkliche Welt als ein Moment seiner selbst; es ist deshalb kein bloß subjektives, formelles Vorstellen. Dies bedeutet aber nicht, daß jeder Inhalt, den der Geist denkt, schon deshalb ein wirkliches Ding der Welt ist; es bedeutet nur, daß das Denken es nicht nötig hat, die Wirklichkeit seiner Inhalte durch einen Denkakt zu erhalten, der trotz eine Instanz desselben Denkens zu sein, die sonderbare Eigenschaft haben soll, eine Kombination aus Denken und Nicht-Denken zu sein. Wenn das Denken hingegen als eine Tätigkeit aufgefaßt wird, die die wirkliche Welt in sich einschließt, ist das Nicht-Wirklichsein von bestimmten Erkenntnisinhalten – nämlich von denjenigen, die das Denken für bloß subjektive hält – und nicht das Wirklichsein von anderen – nämlich von denjenigen, die es für wirkliche Dinge hält –, was als problematischer Fall einer Erklärung bedarf. Während für den Empirismus und den transzendentalen Idealismus – in je unterschiedlichem Grade – das Denken eine in sich formelle Tätigkeit ist und das Erkennen des Wirklichen insofern eine Art Sonderfall darstellt, stellen für den nachkantischen Idealismus die nur möglichen Inhalte eine Anomalie dar, da das Denken die wirkliche Welt bereits in sich enthält. Hegel versucht diese Anomalie anhand einer Theorie zu erklären, die das bloß subjektive Vorstellen vom subjektiv-objektiven Begreifen spezifisch unterscheidet. In diesem Zusammenhang wird Hegels eigentümliche Aneignung und Neuformulierung des ontologischen Beweises verständlich. Unabhängig davon, wie der Beweis der Existenz aus dem Denken im Rahmen des ontologischen Gottesbeweises durchgeführt wird, wird in ihm stets vorausgesetzt, daß das Denken als solches die Existenz nicht aus sich ausschließt. Obwohl Hegel keine der klassischen Formulierungen des ontologischen Beweises vertritt, drückt sich für ihn in ihnen – wenn auch auf unzureichende Weise – ein wahrer Gehalt aus. Für Hegel ist der

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Inhalt jeder Vorstellung nur deshalb einseitig subjektiv, weil er durch das Denken vom Gesamtkontext der Welt abgesondert wird; indem der Vorstellungsinhalt durch das begreifende Denken in konsistenter Weise in eine allgemeine Theorie darüber integriert wird, was es gibt, bestimmt er sich durchgängig wieder, weshalb er nunmehr vom Denken für ein wirkliches Ding der Welt gehalten wird. Das begreifende Denken ist ein Argumentieren mit existentiellen Folgen; es verwirklicht insofern für Hegel das eigentliche Wesen des ontologischen Beweises32. Die Konkretion des angeschauten Inhalts ist nach Hegels Meinung das Ergebnis der Vereinzelung des Ganzen von Begriffen der Theorie, in der dieser Inhalt als deren Instantiierung erscheint. Der Inhalt der sinnlichen Anschauung ist eben deshalb wirklich, weil er einzeln ist – und er ist einzeln, weil er durch die begrifflichen Inhalte der Theorie vermittelt wird, die er instantiiert33. Gegen die Ansicht, daß der Inhalt der sinnlichen Anschauung vom Denken passiv von außen aufgenommen wird und deshalb ein wirkliches Ding ist, hat Descartes die These vertreten, daß das sinnliche Erkennen die Wirklichkeit seines Inhalts so wenig wie die spontan subjektiv wirkenden Gedanken impliziert. Die vermeintliche Zusammengehörigkeit von Bestimmtheit und Wirklichkeit beim sinnlichen Erkennen wird somit problematisiert: Obwohl wir spontan glauben, daß wir durch unsere sinnlichen Anschauungen Dinge der wirklichen Welt erkennen, sind sie in bestimmten Fällen – wie etwa in den Träumen und Halluzinationen – nicht Teil der Wirklichkeit. Die Anschauung enthält insofern nicht als solche das Wirklichsein des sinnlich erkannten Inhalts: Wenn Sinnlich-Erkanntes und Wirkliches das gleiche wären, würden der angeschaute Inhalt und seine Wirklichkeit (und nicht das bloße Gefühl seiner Wirklichkeit) notwendigerweise zusammen vorkommen; was wir in der sinnlichen Anschauung spontan für wirklich halten, kann sich aber später immer als etwas bloß Subjektives herausstellen. Im Anschluß an Descartes vertritt Hegel somit die These, daß nicht die sinnliche Anschauung als solche es ist, welche die Wirklichkeit ihres Inhalts impliziert und sie dann den begrifflichen Inhalten weiterleitet, sondern daß umgekehrt die sinnlichen Inhalte es sind, welche ihre Existenz durch die begriffenen Inhalte erhalten, und zwar indem sie sich in deren System einordnen. Eben deshalb, weil das Denken die wirkliche Welt in sich einschließt, werden die sinn-

32 Vgl. Hegel: Werke 19, 558: „Zum Begriffe, zum wahrhaften Beweise gehörte, daß der Fortgang nicht verständigerweise geschähe, sondern daß aus der Natur des Denkens selbst gezeigt würde, daß es für sich genommen sich selbst negiert und die Bestimmung des Seins selbst darin liege oder daß das Denken sich selbst zum Sein bestimmt. Umgekehrt müßte ebenso am Sein aufgezeigt werden, daß es seine eigene Dialektik ist, sich selbst aufzuheben, dann sich zu setzen als das Allgemeine, als der Gedanke. – Dieser eigentliche Inhalt, die Einheit des Seins und Denkens, ist der wahrhafte Gehalt, den Anselm vor sich hatte, aber in Form des Verstandes vor sich hatte.“ – Siehe auch Hegel: Werke 20, 139 – 141, 359 – 362. 33 Zur Kategorie der „Einzelheit“ in Hegels Denken siehe Ioannis Trisokkas: Pyrrhonian Scepticism and Hegel’s Theory of Judgement. A Treatise on the Possibility of Scientific Inquiry, Leiden / Boston 2012, 187 – 221; Bernhard Lakebrink: „Der Begriff des Einzelnen und die Hegelsche Metaphysik“, in: Studium generale 21.6 (1968), 515 – 537.

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lichen Inhalte der Anschauung zu Eigenschaften eines einzelnen, wirklichen Dings der Welt, indem sie in die Welttheorie des begreifenden Denkens integriert werden. III. Schlußbemerkungen In Hegels nicht-repräsentationalistischem Erklärungsmodell des Erkenntnisphänomens ist es nicht nötig, der Sinnlichkeit und der Begrifflichkeit jeweils ontologische Implikationen zuzuschreiben, da das begriffliche Erkennen nicht unbedingt willkürlich im luftleeren Raum kreiselt – daher muß die sinnliche Anschauung nicht als Träger des Weltbezugs fungieren. Als Einheit der (bisher abstrakt) sinnlichen Erkenntnis des Anschauens und der (bisher abstrakt) begrifflicher Erkenntnis des Vorstellens ist das begreifende Denken in der Lage, von selbst die rationalen Einschränkungen zu generieren, die benötigt werden, um entscheiden zu können, ob ein bestimmtes Urteil über die Welt wahr oder falsch ist, d. h. ob ein Inhalt ein bloß subjektiver Inhalt ist oder für ein wirkliches Ding gehalten werden muß. Hegels erkenntnistheoretischer Hauptansatz ist, daß die Verbindung von Denken und Sein, von Geist und Welt, strukturell ist. Das Sein kommt zu den Denkinhalten insofern nicht „synthetisch“ hinzu; es sind hingegen die nur vorgestellten Erkenntnisinhalte, welche unter bestimmten Bedingungen der strukturellen Einheit des Geistes mit der Welt zugeschrieben werden. Selbstverständlich muß das komplexe Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Begrifflichkeit auch im Rahmen dieses radikalisierten Idealismus aufgeklärt und begründet werden. Dieses Verhältnis läßt sich aber nicht mehr als ein Verhältnis zwischen der Ebene des Wirklichen und der Ebene des bloß subjektiven Möglichen erklären. Unter einem Paradigma, in dem die Zusammengehörigkeit von Geist und Welt grundsätzlich gilt, verliert die Zuordnung des Sinnlichen zu dem Wirklichen und des Begrifflichen zu dem Subjektiven bzw. des Sinnlichen zu dem von außen Aufgenommenen und des Begrifflichen zu dem rein Spontanen jeden Sinn. Für Hegel bleibt das begriffliche Erkennen an sich immer mit der wirklichen Welt verbunden; wenn es nicht in konsistenter Weise zur Vereinzelung kommt, ist es abstrakt von der Totalität der Welt isoliert und deshalb ein bloß subjektives Tun des menschlichen Geistes. Wenn man im Anschluß an Karl Popper behaupten kann, daß sich die Welt nur durch Theorien erkennen läßt34, so sollte man in diesem Sinne 34 Vgl. Popper: Conjectures and Refutations, 520: „That those experiences which we call ,perceptions‘ are interpretations-interpretations, I’ll suggest, of the total situation in which we find ourselves when ,perceiving‘ –is an insight due to Kant. It has often been formulated, somewhat awkwardly, by saying that perceptions are interpretations of what is given to us by our senses; and from this formulation sprang the belief that there must be present some ultimate ,data‘, some ultimate material which must be uninterpreted (since interpretation must be of something, and since there cannot be an infinite regress). But this argument does not take into account that (as already suggested by Kant) the process of interpretation is at least partly physiological, so that there are never any uninterpreted data experienced by us: the existence of these uninterpreted ,data‘ is therefore a theory, not a fact of experience, and least of all an ultimate, or ,basic‘ fact.“

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auch behaupten, daß die Erkenntnisinhalte, die das Denken im Rahmen seiner Theorien für wirklich hält, jeweils die Dinge der Welt sind. Indem sinnliche Inhalte in eine Theorie eingegliedert werden, die das Denken als eine überzeugende Erklärung darüber betrachtet, wie die Welt ist, erhalten sie durch die Theorie die Eigenschaft, sinnliche Aspekte von wirklichen Dingen zu sein. In einem Erklärungsmodell, in dem das Denken sich vom Sein nicht trennt noch trennen kann, ist die vereinzelnde Instantiierung des Systems von allgemeinen Bestimmungen zu einem einzelnen, sinnlichen Inhalt dieselbe Operation, durch die dieser Inhalt vom Denken als etwas Wirkliches erkannt wird; anders gesagt – um hier das von Bertrand Russell vorgeschlagene Beispiel wieder aufzunehmen –, das Begreifen der bestimmten Einzelheit einer Landspitze im südlichsten Archipel von Chile ist dieselbe Operation, durch die wir „zu denken gezwungen sind, als ob Kap Hoorn für sich bestünde“. Literatur Aristoteles: Posterior Analytics. Topica, hg. v. Hugh Tredennick u. E. S. Forster, London / Cambridge 1960. Avicenna: Liber de philosophia prima sive scientia divina, hg. v. Simone Van Riet, 2 Bde., Louvain-La-Neuve / Leiden 1983. Ferreiro, Héctor: „El hilo de Ariadna del idealismo: La relación entre intuición y concepto en la filosofía de Hegel“, in: Hardy Neumann / Óscar Cubo / Agemir Bavaresco (Hg.): Hegel y el proyecto de una Enciclopedia Filosófica. Comunicaciones del II Congreso GermanoLatinoamericano sobre la Filosofía de Hegel, Porto Alegre 2018, 299 – 313. Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth / Hanz Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke, hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Hamburg 1968 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. III, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1983. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff. Lakebrink, Bernhard: „Der Begriff des Einzelnen und die Hegelsche Metaphysik“, in: Studium generale 21.6 (1968) 515 – 537. McDowell, John: Mind and World. With a New Introduction, Cambridge / London 2000. Popper, Karl R.: „What is dialectic?“, in: Mind (New Series) 49.196 (1940), 403 – 426.

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Popper, Karl R.: The Open Society and its Enemies, 2 Bde., London 1945. Popper, Karl R.: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München / Zürich 1994. Popper, Karl R.: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, Abingdon / New York 2014 (Erstausgabe: 1963). Russell, Bertrand: Unpopular Essays, New York 1950. Russell, Bertrand: Portraits from Memory and Other Essays, New York 1956. Thomas von Aquin: Opera Omnia. Cum hypertextibus in CD-ROM, hg. v. Roberto Busa, Milano 1992. Trisokkas, Ioannis: Pyrrhonian Scepticism and Hegel’s Theory of Judgement. A Treatise on the Possibility of Scientific Inquiry, Leiden / Boston 2012.

II. Logik und Naturphilosophie

Hegels sprachliche Logik. Ein Versuch Joachim Ringleben (Göttingen) Zum Begriff des K|cor hebt Hegel hervor: „Es ist schöne Zweideutigkeit des griechischen Worts, – Vernunft und zugleich Sprache“1 zu sein. Demnach wäre anzunehmen, daß eine Wissenschaft vom Logos sprachlich verfaßt zu sein und das Verhältnis von Vernunft und sprachlichem Wort als ein genuines Thema ständig mitzuführen hätte. Die Hegelsche Wissenschaft der Logik wäre also zu lesen als eine spezifisch sprachliche Logik, d. h. die vernehmende Logik der sprachlichen Vernunft als der Vernunft des Logos. Für diese Lesart von Hegels Hauptwerk sollen hier aufschlußreiche Beobachtungen beigebracht werden. Ist Sprachlichkeit das, was – im Sinne W. v. Humboldts – den Menschen zum Menschen macht2, und berücksichtigt man, daß für Hegel das menschliche Ich „der existierende Begriff“3 ist, dann ist in der spekulativen Logik Hegels auch das menschliche Sein aufgehoben bzw. ist sie auch eine Logik des Menschen, ohne daß das eine anthropologische Relativierung der Logik bedeuten müßte; sie ist eine Logik des menschlichen Seins als Geist, das kocij_r ist4. Eine allgemeine Folge dieses Ansatzes ist die logische Aufmerksamkeit auf die Sprache selber, die sich in Hegels Enzyklopädie und Logik nachweisen läßt; für diese Dimension ist vor allem das philosophische Theorem des „spekulativen Satzes“ relevant, wie Hegel es insbesondere in der Phänomenologie vorgestellt hat5, 1 Zitiert wird nach der Ausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, hg. von Karl Markus Michel u. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1970 ff. Im folgenden Werke, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier: Werke 20, 106. Das Zitat geht weiter: „Denn Sprache ist die reine Existenz des Geistes; es ist ein Ding, vernommen in sich zurückgekehrt“ (a.a.O. 106 f.). Cf. auch in der Enzyklopädie § 462, Zus. (10, 280; zitiert u. bei Anm. 39). 2 Cf. Hegel: Werke 5, 20 sowie 3, 65 („Wurzel der Humanität“). 3 Hegel: Werke 6, 253; 17, 526. 4 Vom Menschen gilt: das Logische „ist seine eigentümliche Natur selbst“ (Werke 5, 20). Die Sprache ist so etwas wie die Mitte zwischen Logik und Menschsein. 5 Werke 3, 26.57 – 62. Cf. Josef Simon: Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart / Berlin u. a. 1966, 191 – 194 (span. Übers: El problema de lenguaje en Hegel, 1982); Günter Wohlfart: Der spekulative Satz, Berlin 1981. Zum Verhältnis von Sprache und Logik cf. Theodor Bodammer: Hegels Deutung der Sprache, Hamburg 1969, 218 ff. (§ 13). Cf. über-

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und nicht etwa nur die vereinzelten Hinweise Hegels auf etymologische Zusammenhänge6. Ich gehe mithin davon aus, daß auch die eigene sprachliche Artikulation der Logik für ihren Gegenstand (das Denken des Denkens) mit relevant ist; sie hat an ihrer tatsächlichen Sprache auch ihr logisches Material7. Hegels Logik wird bzw. bleibt reflektiert, sofern sie sich als Denken nicht in ihren gedanklichen Produkten oder konstruktiven Setzungen soz. vergißt, sondern sich darin „lebendig“ präsent bleibt, d. h. bei jedem als logische Bestimmung gedachten Gedanken zugleich sein Gedachtsein wie seine sprachliche Darstellung nach ihrer Möglichkeitsbedingung mitdenkt. Seine Sprachlichkeit hält mithin dem logischen Denken seinen eigenen Vollzug ständig aktuell gegenwärtig. Vor diesem Hintergrund sei zunächst eine allgemeine Erwägung vorgetragen. Sie gilt dem eigentümlichen Sachverhalt, daß es bei Hegel einerseits keine eigentliche „Sprachphilosophie“ als eigenen Teil des Systems oder auch nur als eigenen Großabschnitt in der enzyklopädischen Philosophie des Geistes gibt, sondern nur die knappen Bemerkungen zur Sprache im § 459 (s. u. I), daß aber andererseits sich wichtige grundsätzliche Äußerungen zur Sprache sowohl in der Phänomenologie des Geistes – hier insbes. zum „spekulativen Satz“ und zum Begriff der Sprache als „Dasein des Geistes“ – wie in der Wissenschaft der Logik finden, wo sie einen wesentlichen Zusammenhang von Denken und Sprache anzeigen (s. u. III-V). Dieser doppelte Befund erlaubt folgende Vermutung: die genannte Zwiespältigkeit könnte als konsequenter Ausdruck der Sprachthematik selber begriffen werden, die als enzyklopädischer Gegenstand nur einer Dimension dieses Themas gerecht wird und auch dabei als selber gedachte und gesprochene Sprache immer noch mehr ist, als gegenständlich von ihr erfaßt werden kann. Dieses „Mehr“ würde dann in den erwähnten, das Verhältnis von Denken und Sprache betreffenden Partien der Phänomenologie, und spezifisch auch in der Logik thematisiert. Denn die Sprache ist philosophisch immer beides: enzyklopädisches Thema (als möglicher Gegenstand einer Theorie des subjektiven Geistes) und spekulatives Medium der Logik als solcher.

haupt Thomas Sören Hoffmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831), in: Tilmann Borsche (Hg.): Klassiker der Sprachphilosophie, München 1996, 257 – 273. 6 Bekannt sind Stellen der Logik wie Werke 6, 13 (Wesen – gewesen; cf. auch Enzyklopädie, Werke 8, 232, 256, 316; 10, 117 (Empfindung – Finden)), Werke 5, 38; 6, 304 u. 6, 68 (zugrunde – in seinen Grund gehen), 6, 152 (Gesetz). Diese Hinweise Hegels auf den philosophischen Geist der deutschen Sprache bleiben hier unberücksichtigt cf. den Sonderfall Werke 6, 24. 7 Es geht mir also nicht um Fragen des „Stils“ im literarischen Sinne.

Hegels sprachliche Logik

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I. Sucht man nach einem Anknüpfungspunkt für unser Thema in der Enzyklopädie, so bietet sich im Psychologie-Kapitel über den Geist8 vor allem der § 459 im Zusammenhang mit der „Einbildungskraft“ an9. 1. Hier wird die Sprache „nach der eigentümlichen Bestimmtheit als das Produkt der Intelligenz“ zum Thema10. Denn es besteht eine grundlegende Verbundenheit zwischen Sprache und menschlicher Vernunft: „die Intelligenz äußert sich unmittelbar und unbedingt durch Sprechen“11. Dieser enge Zusammenhang gründet darin, daß das Wort „die der Intelligenz eigentümliche würdigste Art der Äußerung ihrer Vorstellungen“12 ist. Vom Wort als einem „vom Gedanken belebten Dasein“ gilt mithin: „Dies Dasein ist unseren Gedanken absolut notwendig“13. Gewinnen die Gedanken überhaupt im sprachlichen Wort „ihr würdigstes und wahrhaftestes Dasein“14, so muß das auch und sogar in paradigmatischer Weise für die Gedanken der Logik Folgen haben. Andererseits gilt freilich: „die eigentliche Objektivität des Inneren als Inneren besteht nicht in den Lauten und Wörtern, sondern darin, daß ich mir eines Gedankens, einer Empfindung usf. bewußt bin, sie mir zum Gegenstande mache und so in der Vorstellung vor mir habe […]“15. Das Wort ist das eigene Andere des bewußten Geistes, er selbst in seinem Selbstunterschied. Es besteht also eine spezifische Angemessenheit der Sprache zur Intelligenz; davon kann die philosophische Logik nicht unberührt bleiben. So weist Hegel hier ausdrücklich darauf hin, daß „für Zeichen vom Geistigen […] der Fortgang der Gedankenbildung, die fortschreitende logische Entwicklung veränderte Ansichten über ihre [sc. der Zeichen] inneren Verhältnisse und damit über ihre Natur herbei[führt]“16. Es gibt also einen geschichtlichen Einfluß der Logik auf die Sprache: „Das Formelle der Sprache aber ist das Werk des Verstandes, der seine Kategorien in sie einbildet; dieser logische Instinkt bringt das Grammatische derselben hervor“17. Für unser Thema und insbes. für das Theorem des spekulativen Satzes ist 8 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes; 1. Abteilung: Der subjektive Geist; C. Psychologie. Der Geist (§ 440 ff.). 9 § 455 ff. (Werke 10, 262 ff.). Cf. dazu auch Hoffmann: Hegel, a.a.O. 269 – 271. Weitere Bemerkungen Hegels zur Sprache finden sich in Werke 10, 80; 82; 102; 113; 116; 128; 192; 195 u. 197. 10 § 459 Anm. (Werke 10, 271). Werke 15, 144 heißt es: „Wir denken zwar stets in Worten, ohne dabei jedoch des wirklichen Sprechens zu bedürfen“ (zur Erklärung cf. u. bei Anm. 15). 11 Hegel: Werke 10, 277. 12 Ebd. 275. 13 Hegel: Werke 10, 280 (§ 462 Zus.). 14 Ebd. 15 Hegel: Werke 15, 144. 16 Hegel: Werke 10, 273. 17 Ebd. 272.

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dabei zu unterstreichen, daß die Grammatik der Sprache als Ausdruck des „Verstandes“ (und d. h. noch nicht der „Vernunft“; s. u. 3.) zu begreifen ist18. Weil die Form der Sprache, die Grammatik, dem Standpunkt des Verstandes entspricht19, hat Hegel nur erst vom „logischen Instinkt“ geredet20. Er ist von der spekulativen Logik über sich aufzuklären. 2. Das ergibt sich auch, betrachtet man die Ausführungen Hegels über den inneren Zusammenhang von Sprache und Intelligenz. Diese gewinnt die wahrhafte Gestalt für ihre Anschauungen im sprachlichen Zeichen21: „ein Dasein in der Zeit, – ein Verschwinden des Daseins, indem es ist“22, und dies spezifisch als der „sich weiter artikulierende Ton, die Rede“23. Der zeithaften Tonsprache entspricht dann die Schriftsprache als ihre Verräumlichung24, und das Lesen ist als aufgehobenes Hören zu begreifen25. Insbes. die Buchstabenschrift vollendet das Wesen der Tonsprache; denn durch sie gewinnt „die Tonsprache allein die Bestimmtheit und Reinheit ihrer Artikulation“26. Hier bekommen die Vorstellungen „eigentliche Namen“, was – gegenüber der Hieroglyphensprache – den entscheidenden Vorteil ausmacht; diese verführt zu der irrigen Annahme, „daß alle Vorstellungen auf ihre Elemente, auf die einfachen logischen Bestimmungen zurückgeführt werden könnten“27. 3. Statt des Hieroglyphen-Bildes ist für Hegel „der Name das einfache Zeichen für die eigentliche, d.i. einfache […] Vorstellung“28. Der sprachliche Name ist das eigentliche Element, das dem „Grundbedürfnisse der Sprache überhaupt“ Genüge tut29, denn es ist das Denken, welchem das Bedürfnis nach der „Form eines einfachen Gedankens“30 innewohnt. Für Hegel gilt: „Es ist in Namen, daß wir denken“31. 18

Cf. dazu Hegel: Werke 10, 285 ff. (§ 467 Zus.). Hegel: Werke 10, 271 (Anm.). 20 S. o. bei Anm. 17 und Werke 5, 30. 21 Zu Hegels Schätzung des Zeichens und Sprachzeichens cf. Werke 10, 269 (§ 457 Zus.) sowie 15, 144. 22 Hegel: Werke 10, 271 (§ 459). Cf. ebd. 115 (zur Stimme): „eine Realität, die unmittelbar in ihrem Entstehen aufgehoben wird, da das Sichverbreiten des Tones ebensosehr sein Verschwinden ist“ (§ 401 Zus.); zur Stimme cf. auch: ebd. 109, 113, 115 f., 116 u. 196. 23 Ebd. 24 Ebd. 272 f. 25 Cf. Hegel: Werke 10, 277: „daß die sichtbare Sprache zu der tönenden nur als Zeichen sich verhält“, und: „Die erlangte Gewohnheit [sc. des Lesen- und Schreibenlernens] tilgt auch später die Eigentümlichkeit der Buchstabenschrift, im Interesse des Sehens als ein Umweg durch die Hörbarkeit […] zu erscheinen“(276 f.). 26 Hegel: Werke 10, 274; cf. auch 273 („Zeichen der Zeichen“). Zur Artikulation cf. auch ebd. 116 (§ 401 Zus.). 27 Hegel: Werke 10, 275. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 276. 19

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Denn „der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung“32. Als einfach zu verstehender entspricht der Name dem „Verstand“ und damit auch dem, was Hegel „Vorstellung“ nennt: „Der Name ist so die Sache, wie sie im Reiche der Vorstellung vorhanden ist und Gültigkeit hat“33. Damit ist nun aber die Notwendigkeit eines spezifisch vernünftigen Begreifens der bloß verstandesmäßigen Vorstellung angezeigt34. Denn der Mangel der Namen ist, „für sich sinnlose Äußerlichkeiten“ darzustellen35, nämlich „ein einfaches unmittelbares Zeichen […] , das als ein Sein für sich nichts zu denken gibt, nur die Bestimmung hat, die einfache Vorstellung als solche zu bedeuten und sinnlich vorzustellen“36. Entsprechend heißt es schon in der Phänomenologie des Geistes bei der Darlegung des spekulativen Satzes: „Es wird in einem Satz der Art mit dem Worte: Gott, angefangen. Dies für sich ist ein sinnloser Laut; ein bloßer Name; erst das Prädikat sagt, was er ist […]; der leere Anfang wird nur in diesem Ende ein wirkliches Wissen“37. Darum muß das Begreifen sprachlicher Sätze vom Namen und der Vorstellung bzw. vom Verstand zur Vernunft fortschreiten, und genau das tut der spekulative Satz. Er löst das logische Postulat ein: „das Denken [darf] nicht abstraktes, formelles Denken bleiben – denn dieses zerreißt den Inhalt der Wahrheit –, sondern es muß sich zum konkreten Denken, zum begreifenden Erkennen entwickeln“38. Im wahrhaften Wort, im Zusammenhang eines Satzes ist auch die Sache sprachlich da39, und so heißt Begreifen „Wissen, was man sagt“40.

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Ebd. 278 (§ 462 Anm.). Ebd. 33 Ebd. 278 (§ 462). 34 Es gilt, daß „im verständigen Denken der Inhalt gegen seine Form gleichgültig ist, während er im vernünftigen oder begreifenden Erkennen aus sich selber seine Form hervorbringt“ (Werke 10, 286; § 467 Zus.). Das vernünftige Begreifen ist erst im spekulativen Satz zu erreichen; denn vom „eigentlichen Begreifen“ ist zu sagen: „Hier wird das Allgemeine als sich selber besondernd und aus der Besonderung zur Einzelheit zusammennehmend erkannt, oder, was dasselbe ist, das Besondere aus seiner Selbständigkeit zu einem Momente des Begriffs herabgesetzt“ (Werke 10, 286 f.). 35 Hegel: Werke 10, 274; cf. 281 (§ 463) sowie Werke 3, 26 und 5, 126. 36 Hegel: Werke 10, 275. 37 Hegel: Werke 3, 22 u. 62; cf. auch Werke 5, 79 u. 126; 8, 181 (§ 85) u. 320 (§ 169 Anm.). Dazu Joachim Ringleben: Sätze über Gott und spekulativer Satz, in: Ders.: Arbeit am Gottesbegriff II, Tübingen 2005, 192 ff. 38 Hegel: Werke 10, 284 (§ 465 Zus.). 39 „Wie der wahrhafte Gedanke die Sache ist, so auch das Wort, wenn es vom wahrhaften Denken gebraucht wird. Indem sich dabei die Intelligenz mit dem Worte erfüllt, nimmt sie die Natur der Sache in sich auf“ (Hegel: Werke 10, 280; § 462 Zus.). 40 Hegel: Werke 11, 249 u. 251. Cf. auch Michael Theunissen: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik (stw, Bd. 314), Frankfurt a.M. 1980, 51. 32

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Damit können wir uns der Wissenschaft der Logik zuwenden, denn sie hat zu betrachten, wie das Absolute „in das denkende Wissen und in das Aussprechen dieses Wissens eintritt“41. II. Noch die Wissenschaft der Logik von 1831 unterstreicht einerseits, die Sprache sei „das der Vernunft eigentümliche Bezeichnungsmittel“42. Demnach gehört die Sprache so zur Vernunft als solcher, daß diese ohne Sprache nicht Vernunft wäre. Damit hängt zusammen, daß andererseits die logischen Denkformen „zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt“ sind43, wie es ähnlich schon die Enzyklopädie formuliert hat44. In seiner Sprache tritt also dem Menschen das Logische gegenüber – als darin enthalten und soz. vor-formuliert. Die Logik kommt sich aus der Sprache entgegen. Von hier aus läßt sich die Hegelsche Logik durchaus als eine kritische Analyse der natürlichen Sprache ansehen. Hegel selber stellt fest. „Daher wird die logische Wissenschaft, indem sie die Denkbestimmungen, die überhaupt unsern Geist instinktartig und bewußtlos durchziehen, und, selbst indem sie in die Sprache hereintreten, ungegenständlich, unbeachtet bleiben, abhandelt, auch die Rekonstruktion derjenigen sein, welche durch die Reflexion [sc. schon] herausgehoben und von ihr als subjektive […] äußere Formen fixiert sind“45. Bei dieser logisch-spekulativen Analyse der Sprache spielt wiederum, wie es auch die Enzyklopädie gesagt hatte46, die grammatische Strukturiertheit der Sprache eine besondere Rolle, insofern Grammatik und Logos für Hegel wahlverwandt sind. Er schreibt einleitend von demjenigen, der nicht nur eine, sondern mehrere Sprachen kennt und sie zu vergleichen in der Lage ist: „Er kann durch die Grammatik hindurch den Ausdruck des Geistes überhaupt, die Logik erkennen“47. Die grammatischen Formen der Sprache haben somit zumindest einen propädeutischen Wert für die Erkenntnis der logischen Denkbestimmungen. Man kann sagen, Grammatik 41 Werke 5, 78. Cf. die auf den spekulativen Satz hindeutende Bemerkung: „Das Aussprechen und die Darstellung eines solchen jedoch ist […] eine vermittelnde Bewegung, die von einer der Bestimmungen anfängt und zu der anderen fortgeht, wenn diese auch zur ersten zurückgeht“ (ebd.). 42 Hegel: Werke 6, 295. Gleichermaßen ist auch „das Logische“ dem Menschen „so sehr natürlich“, daß in allem, „was er zu dem Seinigen macht, […] sich die Sprache eingedrängt“ hat (Werke 5, 20). 43 Hegel: Werke 5, 20. Das „zunächst“ besagt, die Sprache enthält sie „eingehüllter, vermischter oder herausgearbeitet“ (ebd.). Zu diesem Satz und den logischen Kategorien im Verhältnis zur Sprache cf. Simon: Das Problem der Sprache (wie o. Anm. 5), 201 – 204. 44 S. o. Anm. 10 – 14. 45 Hegel: Werke 5, 30. 46 S. o. Anm. 17 – 19. 47 Hegel: Werke 5, 53.

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ist der unmittelbare Logos der Sprache48, d. h. soz. die sprachliche Vor-Form der Logik. Wie die Grammatik das inhaltlich Auszusagende strukturiert bzw. präformiert, so strukturiert die Logik die Erkenntnis der Dinge in ihrem wahren Sein49. III. Im Folgenden sollen einige signifikante Bezugnahmen Hegels auf genuin sprachliche Sachverhalte erörtert werden; sie stammen teils aus der Seins-, teils aus der Wesenslogik, deren Sprachbezug danach in einem weiteren Abschnitt in einer grundsätzlichen Hinsicht zu thematisieren ist (IV). 1. Bereits der Anfang der Logik mit Sein und Nichts zeigt, daß das nicht eigentlich auszusprechende reine Sein im Versuch, es anzuschauen oder zu denken bzw. es so zu sagen, daß mehr als nur ein Wort ausgesprochen wird, von seinem Gegenteil, dem Nichts, nicht zu unterscheiden ist50. Beim Versuch, es wirklich auszusagen, löst es sich auf – wie die Phänomenologie schon für das Seiende der „sinnlichen Gewißheit“ gezeigt hat51. Somit ist der Unterschied von Sein und Nichts in seiner Abstraktheit „unsagbar“52, bzw. er hebt sich im Sprechen darüber auf53. Umgekehrt gilt, daß der Unterschied im Sprechen von Sätzen unvermeidlich auftritt. So bringt die Aussage der Identität: A=A den Unterschied und damit „die Negativität, welche die Reflexion in sich hat“, notwendig in ihrer sprachlichen Form mit zum Ausdruck: „das Nichts, das durch das identische Sprechen gesagt“ und so „das wesentliche Moment der Identität selbst“ ist, „die zugleich als Negativität ihrer selbst sich bestimmt“54. 48

Cf.: „wenn Wort und Sache einander entgegengesetzt wird, ist das Wort das Höhere, […] das Vernünftige existiert nur als Sprache“ (Werke 18, 527). 49 Cf. Hegel: Werke 5, 30. Dies verweist auf den Zusammenhang von Denken und Sein bzw. logischer Wahrheit und Struktur der Wirklichkeit, die nach der Phänomenologie dasselbe sind; cf. o. Anm. 39. Die Sprache ihrerseits ist insofern bei der Wirklichkeit selber, als sie in sich außer sich ist. 50 Cf. Hegel: Werke 5, 82 f. Eine genauere Interpretation der Anfangsdialektik könnte das auch an der sprachlichen Gestalt des Beginns zeigen, die unmittelbar mehr evokatorischen Charakter hat und gerade, indem sie zu Sätzen findet, dialektisch wird. Zur leeren Anfänglichkeit von bloßen „Namen“ cf. o. I. 3. u. bes. Anm. 37. 51 Cf. Hegel: Werke 3, 92 und zum „Meinen“ auch Werke 18, 282. Das einzelne „Diese“, das gemeint wird, gehört wie die Sprache, „dem an sich Allgemeinen“ an (Werke 3, 91 f.) und ist ihr als solches bloß einzeln Seiendes unerreichbar. Auch Werke 5, 126 wird im konkreten Sinne behauptet, „daß die Sprache, als Werk des Verstandes, nur Allgemeines ausspricht“. 52 Hegel: Werke 5, 95. 53 Hegel: Werke 5, 104 heißt es: „Diese Unbestimmtheit oder abstrakte Negation, welche so das Sein an ihm selbst hat, ist es, was die […] Reflexion ausspricht, indem sie es dem Nichts gleichsetzt“. 54 Hegel: Werke 6, 46; ebd. 42 spricht Hegel von der „negative(n) Bewegung, als welche in diesen Behauptungen die Identität selber dargestellt wird“.

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Auch hier ist die Sprache logisch wahrhafter als die „Meinung“ derer, die sie sprechen55. Die „negative Bewegung“, bei der das identische Reden sich selbst widerspricht56, ist die Wahrheit der Identität. Indes ist der sogen. „Satz der Identität“ selber auch sprachlich, und seine Sprachlichkeit hebt die abstrakte Unwahrheit seiner unmittelbaren Aussage selber auf. Hegel schreibt dazu: „Die Form des Satzes kann als die verborgene Notwendigkeit angesehen werden, noch das Mehr jener [sc. negativen] Bewegung zu der abstrakten Identität hinzuzufügen“57. Was hier „verborgene Notwendigkeit“ heißt, betrifft die sprachliche Genese der spekulativen Logik, weil es den Logos der Rede betrifft, und mithin die Wahrheit des Gedankens. 2. Für das Verhältnis von Logik und Sprache ist weiterhin die übliche Kritik an dem Satz: „Sein und Nichts ist eins und dasselbe“ zu nennen58. Diese Kritik ist ein Mißverständnis des spekulativen Satzes, das dadurch zustande kommt, daß dieser Satz wie ein logisches „Urteil“ im formalen Sinne aufgefaßt wird, „in welchem das Prädikat erst es aussagt, was das Subjekt ist“59. Es ist also eine formallogische Fehldeutung des Satzes, wodurch „der Akzent […] vorzugsweise auf das Ein-unddasselbe-sein gelegt“ wird und es so aussieht, als ob dabei der Unterschied von Sein und Nichts geleugnet werde60. Sprachlich aufgefaßt, gilt aber von diesem Satze, daß der Unterschied „doch zugleich im Satze unmittelbar vorkommt“61. Denn seinem Wortlaut nach „spricht [er] die beiden Bestimmungen, Sein und Nichts, aus und enthält sie als unterschiedene“62. Folgt man der Ausdrucksweise des Satzes selber, so ist es eine abstrahierende Verkürzung, wenn man die Einheit (von Sein und Nichts) auf Kosten der Unterschiedenheit einseitig hervorhebt. Aber das, wovon dabei abstrahiert wird, ist „gleichwohl im Satze vorhanden […] und [sc. ausdrücklich] genannt“63. Hier ist die Sprache selber soz. „wahrer“ als die Logik eines formalen Urteils von einsinniger Subjekt-Prädikat-Struktur. In Wahrheit aber widerspricht die formallogische Kritik am Satz über die Einheit von Sein und Nichts diesem nur, um den Widerspruch zu umgehen, den der Satz tatsächlich enthält. Hegel stellt fest: „Insofern nun der Satz ,Sein und Nichts ist

55

Cf. Hegel: Werke 6, 45 mit 42. Zum spekulativen Satz in diesem Zusammenhang cf. Christian Iber: Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den ersten beiden Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin / New York 1990, 321 f. (A.36). 56 Hegel: Werke 6, 42 u. 44. 57 Hegel: Werke 6, 44. 58 Cf. zum Folgenden Hegel: Werke 5, 92 f. (Anmerkung 1). 59 Ebd. 60 Cf. ebd. Das „Nichtidentische des Subjekts und Prädikats“ ist „wesentliches Moment, aber dies ist im Urteile nicht ausgedrückt“ (ebd. 93). 61 Hegel: Werke 5, 93. 62 Ebd. 63 Ebd.

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dasselbe‘ die Identität dieser Bestimmungen ausspricht, aber in der Tat64 ebenso sie beide als unterschieden enthält, widerspricht er sich in sich selbst und löst sich auf“65. Die logische Betrachtung des sprachlichen Satzes wird also auf dessen interne, in sich spannungsvolle Dynamik aufmerksam66 ; es ist nach Hegel „hier ein Satz gesetzt67, der […] die Bewegung hat, durch sich selbst zu verschwinden“68. Man könnte sagen, die immanente Widersprüchlichkeit führt zur Auflösung des Satzes in seinem denkenden Mitvollzug: indem er sich aus sich selber auflöst, bringt er allererst seine ganze Wahrheit zur Geltung. Es ist ersichtlich, daß Hegels These: das Spekulative ist konkret, auch einen sprachlichen Sinn hat69. So reflektiert dieser Satz, um den es hier geht, sprachlich an ihm selber, was die spekulative Wahrheit von Sein und Nichts der Sache nach ist. Denn so gelesen „geschieht an ihm selbst das, was seinen eigentlichen Inhalt ausmachen soll, nämlich das Werden“70. An seiner bewegten Form stellt sich der wahre Inhalt des Satzes heraus, und mit diesem an ihm erscheinenden „Werden“ enthüllt er sich als ein spekulativer Satz. Dieser führt zur Überwindung der Einseitigkeit jedes einzelnen philosophischen Satzes. Der erörterte Beispielssatz „enthält somit das Resultat, er ist dieses an sich selbst“, ist aber als solcher zugleich mit dem Mangel behaftet, „daß das Resultat nicht selbst im Satze ausgedrückt ist“71. Es bedarf zumindest eines weiteren Satzes, um zum Ausdruck zu bringen, daß er an sich dialektisch ist72. 3. Nachdem sich gezeigt hat, daß die Unterlegung des formallogischen Modells mit einer einsinnigen Subjekt-Prädikat-Zuordnung die lebendige Dialektik eines Satzes abstrakt stillstellt, zieht Hegel die philosophische Konsequenz aus dieser sprachlichen Einsicht, nämlich „daß der Satz, in Form eines Urteils, nicht geschickt

64 „In der Tat“ ist hier, wie so oft bei Hegel, wörtlich und d. h. aktional (bzw. performativ) zu verstehen, und in diesem Fall identisch mit dem wirklichen Sprechen (sc. des Satzes) in seinem Vollzug als Sprachhandlung. 65 Hegel: Werke 5, 93. 66 Im „und“ des Satzes über Sein und Nichts verbirgt sich die Dialektik der Einheit von Einheit und Differenz. 67 Zur Beziehung von Satz und Setzen s. u. III. 4. 68 Hegel: Werke 5, 93. 69 Cf. z. B. Hegel: Werke 5, 168. 70 Hegel: Werke 5, 93. Man sieht hier zugleich: Die erste eigentlich logische Kategorie (Erstes Kapitel, C. Werden; Werke 5, 83 ff.) entspricht der Bewegung des Satzes, dessen Dialektik sich sprachphilosophisch etwa bei Julius Stenzel und Bruno Liebrucks dargelegt findet. Zu Hegels Beispielsatz (Werke 5, 92) cf. Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, Band 6/ 1, Frankfurt a.M. / Bern 1974, 283 ff. u. 268. 71 Hegel: Werke 5, 93. 72 Zum „Aussprechen“ dieser an sich seienden Dialektik s. u. VI. bei Anm. 136.

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ist, spekulative Wahrheiten auszudrücken“73. Kein einzelner Urteilssatz ist als solcher geeignet, Wahrheit auszusprechen74. Deswegen verfehlt auch der entgegengesetzte Satz über die Nichtidentität von Subjekt und Prädikat bzw. Sein und Nichts (bloß als ein solcher) die spekulative Wahrheit, weil auch in ihm die „Unruhe zugleich Unverträglicher“ nicht „als eine Bewegung ausgesprochen werden kann“75, welche doch der sprachliche Sinn des Satzes ist. Wenn das richtig ist, dann hat Hegel mit diesen Einsichten einen neuen Stand der Logik, nämlich dieser als einer prinzipiell sprachlichen Logik, geschaffen. Diese sprachlich-spekulative Logik bestreitet der auf Aristoteles zurückgehenden formalen Logik ihren Anspruch auf Wahrheit oder Wahrheitsfähigkeit! Für Hegel enthält die begriffene Sprache das Potential zu konkreter Wahrheit – und nicht die traditionelle, abstrakte Logik. Seine spekulative Logik folgt dem k|cor der Sprache76 und ist insofern ein „sprachliches Denken“, d. h. ein dem Logos der Sprache Nach-denken. 4. Der sprachliche Charakter der Hegelschen Logik verstärkt sich überhaupt in der Wesenslogik. Dafür sei hier noch eine Einzelheit angeführt. Bekanntlich entspricht dem „Dasein“ in der Sphäre des Seins in der des Wesens das „Gesetztsein“77. Hegel formuliert dazu: „Das Dasein ist nur Gesetztsein; dies ist der Satz des Wesens vom Dasein“78. Dieser Satz des Wesens vom Dasein spricht aus, daß die Wahrheit des Seins das Wesen ist79. Der sprachliche Zusammenhang (im Deutschen) von Satz und Setzen, auf den Hegel hier anspielt, betont die besondere Sprachnähe der Wesens- oder Reflexionslogik: „Den Reflexionsbestimmungen […] als in sich reflektiertem Gesetztsein liegt die Form des Satzes selbst nahe“80. 73

398.

Hegel: Werke 5, 93. Cf. auch Werke 3, 41; 6, 268; 8, 98 (Enz. § 31 Anm.); 19, 393. 397.

74 Diese kommt nur im Weitersprechen, d. h. in der Korrektur der Einseitigkeit des einzelnen vorausgehenden Satzes ans Licht. Wahrheit bringt sich in der Selbstbewegung der Sprache zur Geltung. Überhaupt soll die Philosophie nicht mit einem „Satz“ anfangen; cf. Werke 2, 36 f. 75 Hegel: Werke 5, 94; cf. 193. 76 Nämlich der Einheit von Einheit und Unterschiedenheit von Denken und Sprechen, bzw. Wort und Gedanke. Darin legt sich das Denken (der Logos) selber aus. Cf. Johannes-Georg Schülein: Metaphysikkritik als Sprachkritik bei Hegel, in: Hector Ferreiro / Thomas Sören Hoffmann (Hg.): Metaphysik – Metaphysikkritik – Neubegründung der Erkenntnis: Der Ertrag der Denkbewegung von Kant bis Hegel, Berlin 2017 (= Begriff und Konkretion, Bd. 5). 77 Cf. Hegel: Werke 6, 32 u. 84. 78 Hegel: Werke 6, 32 (vielleicht ein Fichte-Bezug). 79 Hegel: Werke 6, 13; cf. auch 33. 80 Hegel: Werke 6, 37. Diese Sprachnähe zeigt sich auch in der Analogie des Gesetztseins zum „Schluß“; cf. dazu Werke 6, 32 f.: „als die Mitte […] , welche […] zusammenschließt“ sowie ebd. 29 (Reflexion u. Schluß).

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Eben durch diese Sprachverwandtschaft hebt wiederum der Satz sich vom Urteil ab: „denn der Satz unterscheidet sich vom Urteil vornehmlich dadurch, daß in jenem der Inhalt die Beziehung selbst ausmacht oder daß er eine bestimmte Beziehung ist“81. Dies gilt insbes. vom spekulativen Satz, in dem das Satzsubjekt seinen Inhalt einzig und allein in der Vermittlung mit dem Prädikat, also in der dialektischen Beziehung zwischen beiden gewinnt oder hat82. Eine andere Analogie zur Sprache läßt sich auch finden, wenn Hegel schreibt: „Somit ist das Wesen als Grund ein Gesetztsein, ein Gewordenes“83. Ist die Interpretation zutreffend, daß es sich dabei um „zwei in sich gegenläufige Bewegungsrichtungen einer in sich umgewendeten Reflexion“ handelt84, so läßt sich das in Beziehung setzen zu Humboldts sog. „Erstem Hauptsatz“ von der Sprache85. Dieser lautet, latent dialektisch: „Durch den selben Act, vermöge welches der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein“86. Das ist der dialektischen Bewegung der Hegelschen Logik, die nach vorn in ihren Grund zurückgeht, durchaus analog. IV. Das Thema der Sprache in der Logik wird besonders in der Wesenslogik grundsätzlich berührt. Ich beziehe mich auf zwei signifikante Textpassagen. 1. Erst im Abschnitt über „Form und Wesen“ kommt Hegel auf die prinzipielle Schwierigkeit einer sprachlichen Darstellung des Wesens zu sprechen: „Das Wesen als solches ist eins mit seiner Reflexion und ununterschieden ihre Bewegung selbst“87. Daher darf das Wesen nicht, wie die normale Vorstellungs- und Sprachgewohnheit zu tun pflegt, zu einem „Substrate […] der Einbildungskraft“ hypo81 Werke 6, 37 (cf. Werke 5, 93, o. zitiert bei Anm. 71); zu dieser These s. nochmals u. IV. 2. Über die Nähe der Struktur des „Ich“ zur Sprache cf. Werke 3, 173 f. Wenn es bei Claus Artur Scheier heißt: „der Begriff schließt sich durch die Mitte des Ich mit der Sprache zusammen“ („Die Sprache und das Wort in Hegels ,Phänomenologie des Geistes‘, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 24 (1982), 95 A. 12), so stehen dahinter die beiden Thesen Hegels von der Sprache als Dasein des reinen Selbst als solchem (cf. Werke 3, 376 u. 478 f.) und vom Ich als Dasein des reinen Begriffs als solchem (cf. Werke 6, 253). 82 Überhaupt ist es in jedem sprachlichen Satz so, daß die Beziehung seiner Wörter untereinander (ihr gegenseitiges aufeinander „Zeigen“) seinen bestimmten Inhalt ausmacht. 83 Hegel: Werke 6, 69. 84 Cf. Iber, Metaphysik (wie o. Anm. 55), 489. 85 Cf. Iber, der sich nicht auf Humboldt bezieht, über den Konstitutionsprozeß des Grundes, der „die Existenz des Grundes nicht schon von vorneherein voraussetzt. Vielmehr ist er erst durch das Zugrundegehen der selbständigen Reflexionsbestimmungen gesetzt und entstanden“ (ebd.). 86 Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1907, VI, 180 u. VII, 60. Der Satz korrigiert ein abstraktes Verständnis von „Autonomie“ von der Sprache her. 87 Hegel: Werke 6, 85.

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stasiert werden88, und es ist zu beachten: das Wesen „hat nicht diese Bewegung in sich, sondern ist sie als der absolute Schein selbst“89. Daß das Wesen Selbstbewegung ist, muß daher gegen die gewohnte Subjekt-Prädikat-Sprache zur Geltung gebracht werden, und Hegel schreibt: „Es ist daher nicht das Wesen, welches sie [sc. die Bewegung] durchläuft; auch ist es nicht dasjenige, von dem sie als einem Ersten anfängt. Dieser Umstand erschwert die Darstellung der Reflexion überhaupt; denn man kann eigentlich nicht sagen, das Wesen geht in sich selbst zurück, das Wesen scheint in sich, weil es nicht vor oder in seiner Bewegung ist und diese keine Grundlage hat, an der sie sich verläuft“90. Das Wesen ist nichts anderes als dieses in sich selbst Zurückgehen bzw. dieses Scheinen in sich91; es ist selber eins mit solchen Bestimmungen. Das Wesen als solches ist seine Reflexion und ist „ununterschieden“ deren Bewegung selbst92. Genau diese Selbstbewegung zu sein, hat Hegel am spekulativen Satz demonstriert, was das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteilssatz betrifft. Der spekulative Satz entspricht genau der Logik der Reflexion bzw. ent-spricht, philosophisch begriffen, sprachlich oder sprachlogisch der „Ontologie“ des Wesens, die eigentlich keine Ontologie mehr ist, sondern eine sprachanaloge Bewegung93. Damit ist ersichtlich: das Beispiel einer Darstellung des Wesens ist von Hegel nicht beliebig gewählt, sondern hier spezifisch einschlägig, da für das Wesen die Logik von Aus-dem-Anderen-in-sich-Zurückkehren, d. h. die Reflexionsbewegung, maßgeblich ist und es daher nicht, wie wir es üblicherweise tun und verstehen, als ein zugrundeliegendes Subjekt fixiert werden darf. 2. Auf die Satz-Form als solche war Hegel schon an einer früheren Stelle, in der Anmerkung zu den „Reflexionsbestimmungen“ eingegangen. Da heißt es von diesen: „Sie sind sich auf sich beziehende“ oder auch: „Bestimmtheiten […], welche Beziehungen an sich selbst sind“94. Genau dadurch und insofern „enthalten sie“ nach Hegel die Form des Satzes schon in sich95. Das heißt: ihr Bezogensein auf […] [sc. anderes] kommt ihnen nicht äußerlich zu, mithin nicht so, wie ein Urteil zustande kommt96. Denn bei einem Satz ist es so, „daß […] der Inhalt die Beziehung 88

Cf. Hegel: Werke 6, 81. Hegel: Werke 6, 25. 90 Hegel: Werke 6, 85. Das Gesagte wirft auch ein Licht auf die mehrfach auftauchende Wendung Hegels, die Reflexionsbewegung sei die „Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück“ (Werke 6, 24. 25 u. ö.). 91 Cf. Hegel: Werke 6, 17 u. 23; ähnlich 6, 128. 92 Cf. Hegel: Werke 6, 85. 93 Cf. die Bemerkungen zur zitierten Passage bei Peter Rohs: Form und Grund, Bonn 19823, 140 (=Hegel-Studien Beih. 6). 94 Hegel: Werke 6, 37. 95 Ebd. 96 Das formallogische „Urteil“ entspricht dem Verstand, der sprachliche (spekulative) Satz der Vernunft. 89

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selbst ausmacht“97. Ein Satz wird nämlich nicht äußerlich aus besonderem Subjekt und allgemeinem Prädikat zusammengesetzt98 ; vielmehr legt sich in jedem Satz das Satzsubjekt konkret aus, artikuliert sich, wie z. B. auch die finite Verbform grammatisch oder syntaktisch das Subjekt anzeigt99. Im Urteil hingegen wird der Inhalt der Aussage als eine allgemeine Bestimmtheit genommen, die etwas für sich ist und nur durch die – von ihr unterschiedene – Kopula mit diesem besonderen Subjekt zusammengebracht, d. h. von ihm äußerlich prädiziert wird100. Während jeder Satz eine „bestimmte Beziehung“ ist, setzt das Urteil Subjekt und Prädikat als ursprünglich getrennte (wie Einzelnes und Allgemeines) voraus und setzt sie erst nachträglich zueinander in Beziehung101. Bei der Umformung eines sprachlichen Satzes in ein formallogisches Urteil wird, wie Hegel beispielsweise anführt102, „der bestimmte Inhalt, wenn er […] in einem Zeitworte liegt, in ein Partizip verwandelt“. Dadurch werden aber „die Bestimmung selbst und ihre Beziehung auf ein Subjekt“ unsprachlich getrennt. Das Partizip wird demnach wie ein allgemeines Prädikat behandelt; z. B. statt „der Hund läuft“ gilt dann logisch: „Der Hund ist laufend“ (oder: ein laufender). Von Hegels „Reflexionsbestimmungen“ war zu hören, daß sie eine innere Wahlverwandtschaft zu sprachlichen Sätzen haben: „Den Reflexionsbestimmungen […] als in sich reflektiertem Gesetztsein liegt die Form des Satzes selbst nahe“103. Damit ist gesagt: die sprachliche Form des Satzes entspricht der logischen Form des „Gesetzseins“. Diese „Entsprechung“ von Sprache und Logik104 wird, wie gesagt, in der Wortverwandtschaft von „Setzen“ und „Satz“ abgebildet105. Nun macht die formale Logik aus den Sätzen der Reflexionsbestimmungen so etwas wie „allgemeine Denkgesetze“, wie z. B. den „Satz der Identität“ oder den „Satz des auszuschließenden Widerspruchs“ etc.106, und substituiert diesen abstrakt ein All-Subjekt: „Alles ist mit sich identisch“ etc.107. Diese logische Form von

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Hegel: Werke 6, 37. Cf. ähnlich vom „Ich“: Werke 3, 137 f. Cf. z. B. Hegel: Werke 6, 305. 99 Durch die Bestimmung in 1. / 2. oder 3. Person, den Numerus etc. 100 Dabei wird das „ist“ als „ein Feststehendes betrachtet“, nicht aber im sprachlichen Sinn von „Tätigkeit, Lebendigkeit und Geistigkeit“ (Werke 16, 192). 101 Cf. Hegel: Werke 6, 304. 102 Cf. ebd. 103 S. o. bei Anm.80. 104 Nach Liebrucks ist „Entsprechung“ (cf. Hegel: Werke 6, 551) der höchste Begriff der Hegelschen Logik; cf. Sprache und Bewußtsein, Band 6/3, Frankfurt a.M. 1974, 581; 593 ff.; 629; 632 u. ö. 105 Cf. nochmals die Aussage Werke 6, 32 (zitiert o. bei Anm. 78). 106 Die „Denkgesetze“ der formalen Logik sind die Verkehrung vernünftiger Sätze zu verstandesmäßigen Urteilen. 107 Cf. Hegel: Werke 6, 37. 98

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Sätzen108 hält Hegel einerseits für „etwas Überflüssiges“, weil seine Logik die Reflexionsbestimmungen an und für sich zu betrachten hat und sie dabei soz. „verflüssigt“, d. h. in ihrem dialektisch bewegten Zusammenhang denkt109. Andererseits haben solche formalisierten Sätze „die schiefe Seite“, ein scheinbar fixiertes „Sein“ zum Subjekte zu haben110, an dem die Reflexionsbestimmungen (wie z. B. „Identität“) nur als die Qualität eines Etwas, die es äußerlich „an ihm habe“111, erscheint. So aber werden sie gerade nicht, wie Hegel sagt, „in spekulativem Sinne“ genommen, d. h. im Sinne des spekulativen Satzes. Dann nämlich wäre zu begreifen, daß das Subjekt im Prädikat „in die Identität usf. als in seine Wahrheit und sein Wesen übergegangen“ ist112, und genau das besagt: der Satz wäre als spekulativer Satz begriffen und somit sprachlich gedacht. In diesem Sinne ist Hegels Logik eine sprachliche Logik. Im anderen Falle dagegen gilt abstrakt (ontologisch bzw. formallogisch), „daß Etwas als [sc. fixes] Subjekt in einer solchen Qualität bleibe als seiendes“113. Im Sinne dieser Formulierungen besitzt der sprachlich lebendige Satz mehr logische Wahrheit als das „Urteil“, wenn er denn spekulativ begriffen wird. V. Der wesentliche Sprachbezug der Hegelschen Logik wird grundsätzlich erst an ihrem Ende im Kapitel über Die absolute Idee in großartiger Weise ausgesprochen114 : „Die Logik stellt daher die Selbstbewegung der absoluten Idee nur als das 108

Hegels Formulierung bezieht sich auf die als „allgemeine Denkgesetze“ zu Sätzen formalisierten logischen Axiome, von denen er im letzten Satz des vorhergehenden Absatzes gesprochen hat. Daher muß „diese“ gelesen werden; entsprechend im folgenden Satz. Cf. zu dieser Textstelle z. T. anders Iber: Metaphysik (wie o. Anm. 55), 258 f. u. 263 f. (spekulativer Satz). 109 Hegel: Werke 6, 37. 110 Ebd. 111 Hegel: Werke 6, 38. 112 Ebd. 113 Ebd. Im Sinne des spekulativen Satzes wird das als Subjekt fungierende „Etwas“ gerade „aufgelöst“ (cf. Werke 3, 51 u. 50). Wenn Hegel zum Ende der Anmerkung von den Setzungen der formalen Logik sagt, daß bei ihnen das Moment des Gesetztseins oder ihre Bestimmtheit unbedacht bleibt, „welche sie in den Übergang und in ihre Negation fortreißt“ (Werke 6, 38), so meint das die Dynamik der selbsthaft-eigenen Begriffsbewegung (cf. Werke 3, 49). Ähnlich hat soz. empirisch Heinrich von Kleist „die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ gesehen; cf. dazu Ringleben: Arbeit am Gottesbegriff I, Tübingen 2004, 142 ff. 114 Daß Hegel erst am Ende seiner Wissenschaft der Logik auf diesen Sprachbezug zu sprechen kommt, liegt daran, daß seine Philosophie nicht prinzipien-theoretisch verfaßt (also keine „Ursprungsphilosophie“) ist. Zwar hätte Gott „das unbestrittenste Recht […] , daß mit ihm der Anfang gemacht werde“ (Werke 5, 79), aber das Absolute oder Gott „ist am Anfang nur leeres Wort und nur Sein“ (ebd.), das erst in seiner sprachlichen Entwicklung bzw. Darstellung zu dem werden kann, was es an sich ist. Zu Sprache und Gott cf. Werke 6, 43 und 79.

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ursprüngliche Wort dar, das eine Äußerung ist, aber eine solche, die als Äußeres unmittelbar verschwunden ist, indem sie ist; die Idee ist also nur in dieser Selbstbestimmung, sich zu vernehmen“115. Hegel charakterisiert die logische Idee in einer sprachlichen Weise – nach der ihr eigenen Absolutheit –, und seine Formulierung zielt auf das Wesen der Sprache. Die Idee ist als solche in vollkommener Reinheit nur sie selbst, und ist „in das Scheinen in einer Formbestimmtheit noch nicht eingetreten“116. Dies „noch nicht“ erinnert an die berühmte Formulierung aus der Einleitung in die Logik vom Reich der Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist: „Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“117. Dasselbe wird hier am Ende der Logik mit einer Anspielung auf Joh 1,1 – 3 als das „ursprüngliche Wort“ bezeichnet, weil es der Ursprung von allem anderen ist118, und dies in seiner eigenen Unmittelbarkeit für sich. Wie jedes Wort nur im dialektischen Zugleich von Erklingen und wieder Verklingen seiner Tongestalt ist, was es ist119, so handelt es sich auch beim ursprünglichen Wort der Logik um eine Äußerung, die, indem sie ist, unmittelbar wieder in sich zurückgeht120. Das ursprüngliche Wort ist da nur in den (menschlichen) Wörtern der Logik und aus ihnen sich in sich zurücknehmend. Jede Kategorie der Wissenschaft der Logik tritt auf und löst sich wieder auf, und die Idee will darin letztlich nur „sich“ vernehmen. Dies absolute 115

Hegel: Werke 6, 550. Nach Liebrucks „das Schlüsselwort der Hegelschen Logik“; er betont, daß dieser Satz logisch nur vor dem Hintergrund der ganzen Wesenslogik verständlich wird (Sprache und Bewußtsein (wie o. Anm. 104), 591 u. 586). Schon in der Phänomenologie hatte Hegel ähnlich bezüglich des „ewigen Wesens“ formuliert: „Das Wesen schaut nur sich selbst in seinem Fürsichsein an; […] das Fürsichsein […] ist das Wissen des Wesens seiner selbst; es ist das Wort, das ausgesprochen den Aussprechenden entäußert […], aber ebenso unmittelbar vernommen ist, und nur dieses Sichselbstvernehmen ist das Dasein des Wortes“ (Werke 3, 559). 116 Hegel: Werke 6, 550. Von dieser Reinheit spricht auch das zweimalige „nur“ im Ausgangszitat. 117 Hegel: Werke 5, 44; cf. auch 18, 25 und Röm 1, 20. Hegel redet von der Möglichkeit, sich so ausdrücken zu können, wegen der Sprachlichkeit seiner Logik; demnach wären auch die ewigen Wesensbestimmungen Gottes (in sich und vor der Schöpfung) sprachliche Gedanken, deren Inbegriff der (ewige) Logos ist. Dem o. Zitierten entspricht die Aussage, daß die Logik als ganze „die unmittelbare Darstellung der Selbstbestimmung Gottes zum Sein“ ist (Werke 6, 405; cf. 17, 419). 118 Auch der Anfang des Johannes-Evangeliums denkt den schöpferischen Gott intern als sprachlich (k|cor); cf. dazu Ringleben: Das philosophische Evangelium, Tübingen 2014, 11 – 39. Es ist also nicht zufällig, daß Hegel sich in der Phänomenologie zur Erklärung des spekulativen Satzes auf Sätze über Gott bezieht (cf. Werke 3, 26 f. 59. 553; 8, 320 (§ 169 Anm.); 16, 192) – zumal ich nachweisen konnte, daß er den spekulativen Satz gerade an den Anfangsversen des Johannes-Evangeliums entdeckt hat (cf. Werke 1, 373 f). 119 Cf. das Zitat o. in Anm. 1. 120 Hegel: Werke 6, 549 ist entsprechend davon die Rede, daß die absolute Idee um der Unmittelbarkeit ihrer objektiven Identität mit sich willen die Form einer „Rückkehr zum Leben“ ebensosehr wieder aufgehoben hat.

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Wort existiert in einem Unterschied von sich, den es zugleich wieder aufhebt121; es ist nur als Selbstunterschied bzw., wie Hegel sagt, als „die Selbstbewegung“ (der absoluten Idee)122. Daß die logische Idee in ihrer Äußerung sogleich wieder verschwunden ist (bzw. sich zurückgenommen hat)123, besagt also ihre absolute Selbstbezüglichkeit als reine Idee124. Mit dem sprachlichen Terminus des SichVernehmens125 bezeichnet Hegel hier die Selbstdurchsichtigkeit des reinen Gedankens126, die m|gsir mo^seyr. Es ist also festzustellen, daß Hegel die Logik als reine „Äußerung“ bzw. Artikulation der absoluten Idee versteht, die darin sprachverwandt ist127.

121 Im Anschluß an die o. Anm. 115 zitierte Stelle Werke 3, 559 heißt es weiter: „So daß die Unterschiede, die gemacht sind, ebenso unmittelbar aufgelöst, als sie gemacht, und ebenso unmittelbar gemacht, als sie aufgelöst sind, und das Wahre und Wirkliche eben diese in sich kreisende Bewegung ist“. 122 Ludovicus De Vos formuliert treffend, man könne sagen, „das Wort werde nicht zum wirklichen Urteil, sondern bleibe nur Begriff“ (Hegels Wissenschaft der Logik: Die absolute Idee. Einleitung und Kommentar, Bonn 1983, 47). Cf. auch Enzyklopädie § 567 über den absoluten Geist in der „Sphäre des reinen Gedankens“, welcher „in dieser ewigen Sphäre […] nur sich selbst als seinen Sohn erzeugt, ebenso in dieser ursprünglichen Identität mit diesem Unterschiedenen bleibt, als diese Bestimmung, das von dem allgemeinen Wesen Unterschiedene zu sein, sich ewig aufhebt“ (Werke 10, 375; § 567). 123 So wird logisch der Sachverhalt begriffen, daß „die Denkformen […] zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt“ sind (Werke 5, 20), d. h. zunächst ein dort soz. verborgenes Dasein haben. In der logischen Darstellung kommt das so zur Geltung, daß die Logik Hegels kein stabiles Gerüst von Kategorien erstellt, sondern jede im Nacheinander des Lesevollzugs, der dem des Aufgeschriebenen folgt, sich wieder aufhebt, indem sie zugleich in der Idee „zeitlos vergangen“ ist (cf. Werke 6, 13). 124 Indem die eigene Äußerung der absoluten Idee selber „als Äußeres unmittelbar verschwunden ist“, bleibt sie verborgen in den Gegenständen der Realphilosophie: dem Sich-insich-Zurückziehen der Idee entspricht unmittelbar das „Freigelassenwerden“ beispielsweise der Natur (cf. Werke 6, 573 u. 217; cf. 401 u. 3, 164; 8, 393 (§ 244)). Zum „Entlassen“: Werke 6, 119 u. Rohs (wie o. Anm. 93), 249 f. 125 De Vos macht in: Hegels Wissenschaft der Logik (wie o. Anm. 122) darauf aufmerksam, daß dieser Terminus sonst in Hegels Logik nicht auftritt, berücksichtigt aber nicht das Vorkommen einer „vernehmenden Vernunft“ (Werke 3, 376 [Sprache] und 559 [Wort]). Die Formel von der vernehmenden Vernunft findet sich – wohl im Anschluß an Johann Georg Hamann – bei Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit I (1784), Buch 4, Kap. 4, in: Sämmtliche Werke, Band 13, hg. von Bernhard Suphan, 144 f. Sprachphilosophisch hat sie August Ferdinand Bernhardi: Sprachlehre, Berlin 1801, 38. Am Ursprung steht die Rede des Aristoteles vom moOr als dejtij|m (Met. 4, 7; 1072b 22), die Hegel (Werke 10, 395) zitiert. 126 Cf. Hegel: Werke 6, 550. 127 Liebrucks redet von der absoluten Idee als „ansichseiender Sprache“ (Sprache und Bewußtsein, wie o. Anm. 104, 582); dieses Verhältnis wird von De Vos unterbestimmt, wenn er die Rede vom „ursprünglichen Wort“ als „bildlich“ oder „vorstellungsmäßig“ auffaßt (Hegels Wissenschaft der Logik, wie o. Anm. 122, 47 u. 48).

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VI. Ich versuche, den Ertrag der bisherigen Beobachtungen zu Hegels Enzyklopädie und Wissenschaft der Logik zusammenzufassen und philosophisch einzuschätzen. Es ist deutlich geworden: Hegels Logik als eine des Werdens statt des „Seins“ hat eine spezifische Nähe zur Bewegtheit von in sich über sich hinausweisenden Sätzen. So sagt er (bezüglich der Dialektik des Eins und des Vielen): „daß die Wahrheit […] in [sc. einzelnen] Sätzen ausgedrückt in einer unangemessenen Form erscheint, daß [sc. hingegen] diese Wahrheit nur als ein Werden, als ein Prozeß, […] nicht als das Sein, wie es in einem Satze als ruhige Einheit gesetzt ist, zu fassen und auszudrücken ist“128. Auch und gerade bei seiner Kritik am (zumal als Urteil verstandenen) Einzelsatz demonstriert Hegel immer wieder den wirklichen Logos an der lebendigen Sprache im Gegensatz zu den Formalisierungen der gewöhnlichen Logik. So stellt HansGeorg Gadamer fest: daß „die Dialektik Hegels in Wahrheit dem spekulativen Geiste der Sprache [folgt]“129. Das kommt in einer zweifachen Weise zur Geltung. Einerseits gewinnt Hegel auffallend häufig an der lebendigen Bewegung der wirklichen Sprache deren logischen Gehalt130, andererseits erhebt die spekulative Analyse allererst den Logos des Satzes zur Ausdrücklichkeit131. In jedem Fall läßt sich nicht bestreiten: Hegels Logik ist wesentlich sprachbezogen. Genauer heißt das: sie ist sprachlich, indem sie mit der Sprache gegen die Sprache (sc. in Gestalt nur einzelner Sätze) denkt. So ist sie in bestimmter Negation auf die natürliche Sprache und die formale Logik bezogen132. In diesem Sinne kann man sagen: im Zentrum stehe für Hegel nicht die Sprache selber, sondern das Logische der Sprache133. Ob es sich bei der Wissenschaft der Logik im Ganzen um eine „sprachliche Logik“ handelt, entscheidet sich daran, inwieweit man den „spekulativen Satz“ als ein sprachliches Phänomen ansieht. Er ist jedenfalls darin wirklich sprachlich, daß er die lebendige interne Bewegung von Sätzen zur Geltung und Darstellung bringt. Der philosophisch begriffene Satz ist in dem Sinne echt (oder eigentlich) sprachlich,

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Hegel: Werke 5, 193. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 19754, 444. 130 Es geht um die Denkbestimmungen in jedem Satz (Werke 5, 22). 131 So spricht Gadamer von den „Produktionen des logischen Instinktes in der Hülle der Worte, Satzformen und Sätze“ (Hegel und die antike Dialektik; in: Ders.: Gesammelte Werke 3, Tübingen 1987, 27 (UTB 2115); cf. auch Hegels Rede vom „logischen Instinkt der Sprache“ (ebd. 26; cf. o. bei Anm. 17 u. 20). 132 Cf. Hegel: Werke 3, 60 und Hegel über Philosophie im Verhältnis zur Sprache des gemeinen Lebens (und deren Ausdrücke): Werke 6, 406. Zu „bestimmter Negation“ und Sprache cf. Simon: Das Problem der Sprache, wie o. Anm. 5, 194 f. 133 Bodammer: Hegels Deutung, wie o. Anm. 5, 221. 129

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daß er die Wahrheit sprachlicher Rede als solcher begreift – anstatt sie zu Modellsätzen einer unsprachlichen Logik zu formalisieren134. Entscheidend wichtig ist dabei nun Folgendes: Auch der begriffene Konflikt zwischen Urteilssatz und spekulativem Satz135, „diese entgegengesetzte Bewegung muß ausgesprochen werden; […] dies Zurückgehen des Begriffs in sich muß dargestellt sein“136. „Darstellung“ meint bei Hegel das „Aussprechen“ des denkenden Wissens137. Eben auch darin ist die Wissenschaft der Logik noch einmal unhintergehbar sprachlich138. Ihre Sprachlichkeit hängt sodann damit zusammen, daß sie zuletzt und im Ganzen eine Logik des Begriffs ist. Denn wie die Einzelwörter nicht als vereinzelte lexikalische Vokabeln, sondern erst im ganzen Satzgefüge zu ihrer sprachlichen Wahrheit gelangen139, so die einzelnen logischen Denkbestimmungen bei Hegel erst im Zusammenhang ihres „Begriffs“140, d. h. des in ihnen zu sich kommenden Geistes: „Der Satz soll ausdrücken, was das Wahre ist, aber wesentlich ist es Subjekt; […] die dialektische Bewegung, dieser sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang“141. Entsprechend redet Hegel auch vom „sich bewegenden und seine Bestimmungen in sich zurücknehmenden Begriff“142. Entsprechendes gilt schließlich vom spekulativen „Urteil“. Auch wenn ein Satz grammatisch Subjekt und Prädikat enthält, so ist er darum noch kein Urteil im Sinne von Hegels Logik143. Ein solches ist erst wahr, wenn es ein sprachlich gedachtes Urteil ist, wie es der spekulative Satz darstellt, also als „in sich dialektisch“144.

134 Daß das Spekulative notwendig sprachlich ist, unterstreicht Bodammer, ebd. 238. Cf. auch Werner Marx: Absolute Reflexion und Sprache, Frankfurt a.M. 1967 (=Wissenschaft und Gegenwart, Bd. 38). 135 Es handelt sich um den „Konflikt der Form eines Satzes überhaupt und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs“ (Hegel: Werke 3, 59; cf. 60 über den „philosophischen Satz“). 136 Hegel: Werke 3, 61. 137 Hegel: Werke 5, 78; cf. Werke 3, 71 f. und o. Anm. 41. 138 Zu Sprache und Denken cf. Bodammer: Hegels Deutung, 238; zur sprachlichen Gestalt der Logik: ebd. 236. 139 Zu dieser Dialektik cf. Liebrucks: „Der Weg vom einzelnen Wort zum Satz war immer schon der Weg vom Satz zum einzelnen Wort“ (Sprache und Bewußtsein, Band 2, Frankfurt a.M. 1965, 330): Cf. auch o. bei Anm. 99. 140 Cf. Hegel: Werke 5, 30. 141 Hegel: Werke 3, 61. 142 Hegel: Werke 3, 57. 143 Cf. Hegel: Werke 6, 305. Zum bloß grammatischen Subjekt cf. ebd. 268. 144 Hegel: Werke 6, 268. Von der „dialektischen Bewegung des Urteils“ ist ebd. 272 die Rede. Zum subjektiven Mißverständnis des Urteils cf. Enzyklopädie § 167 und Werke 6, 304.

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Literatur Bernhardi, August Ferdinand: Sprachlehre, Berlin 1801. Bodammer, Theodor: Hegels Deutung der Sprache, Hamburg 1969. De Vos, Ludovicus: Hegels Wissenschaft der Logik: Die absolute Idee. Einleitung und Kommentar, Bonn 1983. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 19754. Gadamer, Hans-Georg: Hegel und die antike Dialektik; in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3, Tübingen 1987 (UTB 2115). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, hg. von Karl Markus Michel u. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1970 ff. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit I (1784), in: Sämmtliche Werke, Band 13, hg. von Bernhard Suphan. Hoffmann, Thomas Sören: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831)“, in: Tilmann Borsche (Hg.): Klassiker der Sprachphilosophie, München 1996, 257 – 273. Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1907. Iber, Christian: Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den ersten beiden Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin / New York 1990, Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein, Band 6/1, Frankfurt a.M. / Bern 1974. Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein, Band 6/3, Frankfurt a.M. 1974. Marx, Werner: Absolute Reflexion und Sprache, Frankfurt a.M. 1967 (= Wissenschaft und Gegenwart, Bd. 38). Ringleben, Joachim: Das philosophische Evangelium, Tübingen 2014. Rohs, Peter: Form und Grund (= Hegel-Studien Beih. 6), Bonn 19823. Scheier, Claus Artur: Die Sprache und das Wort in Hegels ,Phänomenologie des Geistes‘, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 24 (1982). Simon, Josef: Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart / Berlin u. a. 1966 (span. Übers: El problema de lenguaje en Hegel, 1982). Theunissen, Michael: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik (stw, Bd. 314), Frankfurt a.M. 1980. Wohlfart, Günter: Der spekulative Satz, Berlin 1981.

Hegel und die idealistischen Auffassungen der Differentialrechnung* Hernán Pringe (Santiago de Chile)** In diesem Aufsatz beschäftige ich mich mit Hegels Auffassung der Differentialrechnung und seiner Lehre des Unendlichen, nach der das Unendlichkleine die qualitative Bestimmtheit des Quantitativen sei1. Mein Ziel ist es, zu zeigen, daß die Hegelsche Interpretation des Differentials mit der Philosophie eines anderen Autors in engem Zusammenhang steht, der ebenfalls die Bedeutung des mathematischen Unendlichen für die Konstitution der Wirklichkeit hervorgehoben hat: Salomon Maimon. Nachdem ich Hegels Standpunkt dargestellt habe, werde ich das Verhältnis zwischen beiden idealistischen Differentialauffassungen bestimmen. Zum Schluß werde ich kurz den Einfluß beider idealistischer Interpretationen auf die neukantianische Philosophie Hermann Cohens skizzieren2. I. In der Wissenschaft der Logik, und zwar in der ersten Anmerkung zum dritten Moment der quantitativen Unendlichkeit, legt Hegel seine philosophische Interpretation des mathematischen Unendlichen vor. Hegel behauptet, daß das wahrhafte Unendliche dem mathematischen Unendlichen zugrunde liegt und daß „es viel höher steht als das gewöhnlich so genannte metaphysische Unendliche, von dem

* Diese Arbeit ist Teil des regulären CONICYT/FONDECYT-Projekts Nr. 1190965. ** Das Projekt, das diese Veröffentlichung möglich machte, wurde durch das „Horizon 2020“-Forschungsprogramm der Europäischen Union mit dem Marie Skłodowska-Curie-Stipendium unterstüzt (Fördervertrag: 777786). 1 Ich danke Nicolás Trujillo und Wolfhart Totschnig ganz herzlich für die deutsche Übersetzung meines Vortrags „Hegel y el cálculo infinitesimal“, auf dem der vorliegende Text beruht. 2 Antonio Moretto und Michael Wolff haben zwar sehr detaillierte Analyse von Hegels Deutung der Infinitesimalrechnung geliefert, aber sie betrachten weder ihr Verhältnis zu Maimon noch zu der Philosophie des Marburger Neukantianismus. S. Antonio Moretto: Hegel e la mathematica dello infinito, Turin 1984; Antonio Moretto: Quaestioni di filosofia della matematica nella „Scienza della Logica“ di Hegel. „Die Lehre vom Sein“ del 1831, Trento 1988; Michael Wolff: „Hegel und Cauchy. Eine Untersuchung zur Philosophie und Geschichte der Mathematik“, in: R. P. Horstmann / M. J. Petry (Hg.): Hegels Philosophie der Natur, Stuttgart 1986, 197, 263.

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aus die Einwürfe gegen ersteres gemacht werden“3. Das wahrhafte Unendliche kann im Unendlichkleinen der Differentialrechnung gefunden werden, wenn der Sinn des Differentialkoeffizienten dy/dx richtig begriffen wird. Laut der üblichen Bestimmung ist das Unendlichkleine jene Größe, in bezug auf welche es keine kleinere geben kann. Hegel bemerkt aber, daß eine Größe in der Mathematik immer vermehrt oder vermindert werden kann. Deshalb erfordert die übliche Bestimmung einerseits, daß das Unendlichkleine ein Quantum sei, weil es Größe besitzt, und andererseits, daß es nicht ein Quantum sei, weil es nicht vermindert werden kann. Hegel versucht diesen Widerspruch dadurch aufzulösen, daß er zeigt, daß das unendliche Quantum „nicht mehr irgendein endliches Quantum [ist], nicht eine Größenbestimmtheit, die ein Dasein als Quantum hätte, sondern es ist einfach und daher nur als Moment; es ist eine Größenbestimmtheit in qualitativer Form; seine Unendlichkeit ist, als eine qualitative Bestimmtheit zu sein“4.

Der Differentialkoeffizient zeigt sich als qualitative Bestimmtheit des Quantitativen, und seine Struktur ist jene einer Beziehung, deren Momente in wesentlicher Einheit bestehen, so daß sich die Bedeutung jedes Moments in seinem Verhältnis zu dem anderen Moment erschöpft. Hegel analysiert die verschiedenen Weisen, auf welche ein Quantum als Moment in eine Beziehung eintreten kann. Dabei stellt er eine Stufenfolge vor, in der die Momente der Beziehung ihre Unabhängigkeit allmählich verlieren, bis sie die Beziehung einer unendlichen Größe erreichen. Der unterste Grad der Beziehung zwischen Quanta ist eine rationale Zahl5. Eine rationale Zahl, z. B. 2/7, kann als ein Quotient zweier ganzer Zahlen dargestellt werden: 2 und 7. In der rationalen Zahl gelten nun die ganzen Zahlen „nur nach ihrer Bestimmtheit gegeneinander“6. Das heißt, nur die Beziehung zwischen 2 und 7 ist von Wichtigkeit und nicht jede ganze Zahl als Quantum. Daher kann man die rationale Zahl auch durch unendlich viele andere Brüche ausdrücken, sofern das Verhältnis zwischen Zähler und Nenner sich nicht ändert, wie 4/14, 6/21, usw.7 Die ganzen Zahlen des geordneten Paares, das die rationale Zahl ausdrückt – z. B. (2,7) –, sind nicht mehr „gleichgültig“ gegeneinander. Jede Zahl steht in einer notwendigen Beziehung zur anderen, und „sie haben somit, nach dieser Seite, das Moment der Unendlichkeit an ihnen“8. Trotzdem ist dieser Ausdruck der Unendlichkeit noch unvollkommen, da sowohl der Zähler als auch der Nenner irgendeines Bruchs, der die rationale Zahl ausdrückt, aus dem Verhältnis genommen werden und deshalb als gleichgültiges Quantum 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik I, in: ders: Werke in 20 Bänden, Band 5, hg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969, 280. 4 Hegel: Wissenschaft der Logik I, 285 5 Hegel verwendet den Ausdruck gebrochene Zahl. Ebd. 6 Hegel: Wissenschaft der Logik I, 286. 7 Eine rationale Zahl kann als eine Äquivalenzklasse dargestellt werden. 8 Ebd.

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gelten kann. Das Verhältnis selbst ist für den Zähler und den Nenner des Bruchs etwas Äußerliches und Gleichgültiges. Darüber hinaus ist die Beziehung derselben, d. h. die rationale Zahl selbst, ein Quantum. Hegel erklärt, daß die Bezeichnung durch Buchstaben die nächste Stufe der Allgemeinheit ist, auf welche die Zahlen erhoben werden. Die Bezeichnung der rationalen Zahl durch den Bruch a/b scheint ein geeigneter Ausdruck des Unendlichen zu sein, weil weder „a“ noch „b“ eine besondere Geltung bzw. einen besonderen Wert außerhalb der Beziehung selbst hat. Aber obwohl a und b unbestimmte Größen sind, drücken diese Symbole auf jeden Fall endliche Quanta aus. Daher bleibt im allgemeinen ihr Bezug auf eine bestimmte Zahl erhalten, selbst außerhalb der Beziehung a/b. Hegel unterscheidet zwischen zwei Ausdrücken derselben rationalen Zahl. In einem dieser Ausdrücke fehlt das Moment des Unendlichen der Beziehung. Dieser Ausdruck enthält vielmehr eine schlechte Unendlichkeit. Tatsächlich kann die durch den Bruch 2/7 ausgedrückte rationale Zahl auch als 0,285714[…] ausgedrückt werden. In diesem Fall wird die Zahl als eine unendliche Summe in der Form „2×10-1 + 8×10-2 + 5×10-3 +…“ ausgedrückt. Diese Unendlichkeit ist aber die schlechte Unendlichkeit des Progresses. In dem Ausdruck 2/7 bestimmen sich die Teile der Beziehung gegeneinander, und die Zahl wird dadurch genau dargestellt. Im Gegensatz dazu sind die Glieder einer unendlichen Summe immer unvollständig und die Summe ist nie, was sie sein soll. Die Beziehung der rationalen Zahl wird durch den Dezimalausdruck als bloße Summe ausgedrückt. Dadurch werden die Momente der Beziehung bloße Glieder eines Aggregats. Vielmehr ist die sogenannte endliche Summe oder der endliche Ausdruck einer Reihe (in unserem Beispiel 2/7) ihr wahrhafter unendlicher Ausdruck, da der Ausdruck in der Tat eine Beziehung darstellt, die an sich die Bestimmtheit der Unendlichkeit enthält. Hingegen ist die unendliche Reihe die schlechte Unendlichkeit, „weil das, was die Reihe ausdrücken soll, ein Sollen bleibt, und was sie ausdrückt, mit einem Jenseits, das nicht verschwindet, behaftet und verschieden von dem ist, was ausgedrückt werden soll.“ 9 Hegel behauptet mit Spinoza, daß das Unendliche einer Reihe das Unendliche der Einbildungskraft ist, wohingegen das der Summe der Reihe das Unendliche des Denkens ist. Oder, wie ein anderes Beispiel Hegels illustriert, während die Einbildungskraft sich die Reihe 1 + a + a2 + a3 + … darstellt, begreift das Denken ihre Summe als 1/(1 – a)10. Diese Summe ist „wirklich, nicht nur was die Reihe in ihren vorhandenen Gliedern ist, sondern noch dazu, was ihr mangelt, was sie nur sein soll“11. Infolgedessen besteht der grundlegende Unterschied zwischen beiden Perspektiven darin, daß „[d]ie Einbildung beim Quantum als solchem stehen [bleibt] und nicht auf die qualitative Beziehung [reflektiert]“12. 9

Hegel: Wissenschaft der Logik I, 289. a muss kleiner als 1 sein. 11 Hegel: Wissenschaft der Logik I, 292. 12 Hegel: Wissenschaft der Logik I, 293.

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Wie wir bisher gesehen haben, sind die Momente der Beziehung in Ausdrücken wie 2/7 oder a/b noch unvollkommen bestimmt. Zähler und Nenner sind in beiden Fällen bestimmte Quanta, und die Beziehung ist nicht wesentlich für sie, denn sie bleiben auch außerhalb der Beziehung das, was sie sind. Darüber hinaus bildet die Beziehung selbst auch eine Anzahl. Eine höhere Form der Bestimmung der Momente einer Beziehung findet sich zum Beispiel in einer Funktion der Form y2 = px. Die Beziehung x/y ist hier nicht ein fester Quotient, sondern die veränderliche Größe y/p. Hegel zeigt, daß „das Verhältnis einer Größe zur Potenz nicht ein Quantum, sondern wesentlich qualitatives Verhältnis [ist]“13. Dennoch behalten x und y immer noch die Bedeutung von Quanta. Erst wenn das Quantum wirklich vollendet und zu einem qualitativen Dasein umgewandelt wird, verschwindet diese Eigenschaft. Erst dann wird das Quantum nicht nur als dieses oder jenes Quantum aufgehoben, sondern als Quantum überhaupt. Und dies ist genau der Fall des „Differentialkoeffizienten“ dy/dx. Laut Hegel kann die Mathematik in der Differential- und Integralrechnung nicht „den Begriff umgehen.“ Die Mathematik bildet in der Betrachtung des Unendlichkleinen jene begriffliche Struktur nach, die Hegel mit seiner Beschreibung der Beziehung zwischen Sein und Nichts darstellt. Hegel behauptet, daß die unendlichkleinen Größen „in ihrem Verschwinden sind, nicht vor ihrem Verschwinden, denn alsdann sind sie endliche Größen, nicht nach ihrem Verschwinden, denn alsdann sind sie nichts“14. In der verschwindenden Größe zeigt sich nicht mehr und nicht weniger als die Einheit von Sein und Nichts. Das Werden erweist sich als ihre Wahrheit. Hegel erklärt, daß es Newton war, der diese Eigenschaft des Unendlichkleinen am genauesten bestimmt hat. In seinen Principia hat Newton gezeigt, daß die unendlich-kleinen Größen nicht unteilbar, d. h. nicht letzte Größen sind. Vielmehr sind sie verschwindende teilbare Größen, die sich in letzten Verhältnissen finden. Newton sagt: „And similarly the ultimate ratio of vanishing quantities is to be understood not as the ratio of quantities before they vanish or after they have vanished, but the ratio with which they vanish. Likewise, also, the first ratio of nascent quantities is the ratio with which they begin to exist [or come into being] […]. It can also be contended that if the ultimate ratios of vanishing quantities are given, their ultimate magnitudes will also be given; and thus every quantity will consist of indivisibles, contrary to what Euclid had proved concerning incommensurables in the tenth book of his Elements. But this objection is based on a false hypothesis. Those ultimate ratios with which quantities vanish are not actually ratios of ultimate quantities, but limits which the ratios of quantities decreasing without limit are continually approaching, and which they can approach so closely that their difference is less than any given quantity, but which they can never exceed and can never reach before the quantities are decreased indefinitely“15. 13

Hegel: Wissenschaft der Logik I, 294. Hegel: Wissenschaft der Logik I, 110 – 111. 15 Sir Isaac Newton: Principia, Book I, Lemma XI, Scholium, hg. von Cohen, I. Bernard / Whitman, Anne / Budenz, Julia, Oakland 1999, 88 – 89. 14

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Hegel faßt diese Bemerkungen Newtons so auf, daß die besagte letzte Beziehung zwischen Größen diejenige ist, die den Charakter des Quantums endlich verloren hat. In diesem Fall wird eine qualitative Beziehung erhalten, deren Seiten nur „qualitative Quantitätsmomente“ sind16. Darum lehnt, wie Hegel hervorhebt, Newton es ausdrücklich ab, die verschwindenden Größen als unteilbare zu begreifen, weil sie außerhalb der Beziehung nichts sind. In der letzten Beziehung wird jede „verhältnislose Bestimmung“, d. h. jede Bestimmung der Seiten als außerhalb der Beziehung bestehende Quanta, entfernt. Der Ausdruck dy/dx muß somit als ein unteilbares Zeichen betrachtet werden, weil „dy“ und „dx“ nichts außerhalb oder jenseits ihrer wechselseitigen Beziehung sind und ihr ganzer Sinn in derselben erschöpft ist. Die Seiten der Beziehung sind als Quanta Nullen, aber sie sind nicht qualitative Nullen. Vielmehr sind sie bloße Momente der Beziehung. Einerseits betont Hegel, daß die Differentiale dy und dx nur im Zusammenhang der Beziehung, in die sie eingefügt sind, Bedeutung haben. Andererseits behauptet er, daß solche verschwindenden Größen erzeugende Größen oder Prinzipien sind. Hegel stützt sich hierbei noch einmal auf die Newtonsche Formulierung des Problems. Newton bezeichnet jede veränderliche endliche Quantität bekanntlich als fließende Größe, die Veränderungsgeschwindigkeit oder Schnelligkeit der fließenden Größe als Fluxion und das infinitesimale oder momentane Inkrement der Fluxion als Moment. Also verhalten sich die Momente der fließenden Größen zu einander wie ihre Fluxionen. Newton behauptet, daß man darauf achten muß, die endlichen Teilchen nicht als Momente zu betrachten. Sie sind eher von den Momenten erzeugte Größen. Die Momente sind deshalb die „nascent beginnings of finite magnitudes”17. Hegel kritisiert Newton aber dafür, daß er das Moment als ein Inkrement versteht. Darum stellt Newton das Moment fälschlicherweise als ein Quantum dar. Hegel behauptet, „daß die Formen selbst von Inkrementen usf. innerhalb der Kategorie des unmittelbaren Quantums und des erwähnten stetigen Fortgangs fallen; und vielmehr sind die Vorstellungen von Inkrement, Zuwachs, Zunahme des x um dx oder i usf. als das in den Methoden vorhandene Grundübel anzusehen, als das bleibende Hindernis, aus der Vorstellung des gewöhnlichen Quantums die Bestimmung des qualitativen Quantitätsmoments rein herauszuheben.“18 16

Hegel: Wissenschaft der Logik I, 299. Newton: Principia, Book II, Lemma II, 293. 18 Hegel: Wissenschaft der Logik I, 301. „In vollkommensten Gegensatze nun zu Hegel“ behauptet Schwarz, „daß die Vorstellung des Increments, insofern sie als Überleitung zu dem Begriffe des Differentials dienen soll, sehr wesentliche Vorzüge hat, wie denn auch keine der Methoden, welche in der Entwickelungsgeschichte des höheren Calcüls eine hervorragende Rolle gespielt haben, faktisch ihrer zu entbehren vermag.“ Hermann Schwarz: Versuch einer Philosophie der Mathematik, verbunden mit einer Kritik der Aufstellungen Hegel’s über den Zweck und die Natur der höheren Analysis, Halle 1853, 108. Gegen Schwarz meint Liebrucks, daß „Hegel […] nur darauf aufmerksam [macht], daß mit der Vorstellung der unendlich 17

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Nichtsdestoweniger gehört, so Hegel, der Newtonsche Begriff des Moments, als das unendliche erzeugende Prinzip der endlichen Größe, zur „Philosophie des wahrhaften Begriffs“. Das erzeugende Prinzip des Endlichen ist nicht das schlechte Unendliche einer zu unendlich-kleinen Größen fortschreitenden Reihe, sondern das wahrhafte Unendliche einer qualitativen Beziehung, die die Differentiale als ihre Momente innehat19. So behauptet Hegel: „[d]as Quantum wird hier von sich selbst unterschieden, wie es als ein Produkt oder Daseiendes, und wie es in seinem Werden, in seinem Anfange und Prinzip, d. h. wie es in seinem Begriffe oder, was hier dasselbe ist, in seiner qualitativen Bestimmung ist.“20

Das Quantum als Daseiendes ist ein Produkt, dessen Erzeugungsgesetz nichts anderes als sein Begriff ist, der in der Mathematik als ein Differential ausgedrückt wird. Daher bemerkt Hegel: „Diese Reinigung des quantitativen Verhältnisses ist insofern nichts anderes, als wenn ein empirisches Dasein begriffen wird. Dies wird hierdurch so über sich selbst erhoben, daß sein Begriff dieselben Bestimmungen enthält als es selbst, aber in ihrer Wesentlichkeit und in die Einheit des Begriffes gefaßt, worin sie ihr gleichgültiges, begriffloses Bestehen verloren haben.“21

Die Hegelsche Auffassung des Differentials als erzeugendes Prinzip der endlichen Größe findet meines Erachtens einen wichtigen Vorläufer in der Philosophie Salomon Maimons, obwohl Hegel ihn nicht erwähnt. Ich werde nun die Philosophie Maimons erörtern, um sodann die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen beiden Philosophen hinsichtlich der Auffassung des Differentials aufzuzeigen22. II. Maimon versteht das Differential als das Entstehungsgesetz des Sinnlichen. Er behauptet: „Sie [d. h. die Differentiale] sind aber sowohl in der Mathematik als Philosophie bloße Ideen, die keine Objekte, sondern die Entstehungsart der Objekte, vorstellen: d. h. sie sind bloß Grenzbegriffe, welchen man sich immer nähern, die man aber niemals erreichen kann.

kleinen Inkremente oder Dekremente die Vorstellung selbst verschwindet.“ Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein 6/1, Frankfurt am Main 1974, 654. 19 Vgl. John L. Bell: The continuous and the infinitesimal in mathematics and philosophy, Milan 2006, 134: „Newton’s conception of generative or variable magnitudes also receives Hegel’s endorsement.“ 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Marco Giovanelli behauptet, daß Hegels Deutung der Differentialrechnung klarer als Maimons Lehre ist. S. Marco Giovanelli: Reality and Negation – Kant’s Principle of Anticipations of Perception, Dordrecht 2011, 138.

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Sie entstehen durch einen steten Regressus oder Verminderung des Bewußtseins einer Anschauung bis ins Unendliche.“23

Sowohl Maimon als auch Hegel verstehen die mathematische Operation der Differenzierung als einen Reduktionsprozess einer endlichen Größe auf „das qualitative Verhältnis ihrer Quantitätsbestimmungen.“24 Der Grenzübergang, der sich in der Differenzierung einer Funktion stattfindet, ist der mathematische Ausdruck eines Prozesses, der es ermöglicht, jene uns unbekannte intellektuelle Regel zu erreichen, nach der die empirische Vorstellung entsteht. Genauso wie Hegel sieht Maimon in der Differenzierung nicht nur die Negation des Endlichen, sondern auch eine positive Bedeutung, nämlich die Feststellung der qualitativen Bestimmung des Quantitativen. Als Ergebnis der Reduktion des sinnlichen Gegenstandes auf seine Differentiale kommen laut Maimon „die Ideen, worin zuletzt die Wahrnehmung aufgelöst werden muß“25, heraus. Zur Erklärung der Entstehung des Sinnlichen greift Maimon auf die Newtonsche Methode der Fluxionen zurück26. Newtons Fluxionen entsprechen Maimons Differential des Gegenstandes, während der Gegenstand selbst als das durch das Differential Entstandene mit Newtons fließender Größe übereinstimmt. Laut Maimon entspricht die Beziehung, die die Philosophie zwischen dem Empirischen und ihrem Entstehungsgesetz herstellt, jener, die in der Mathematik zwischen einer fließenden Größe und ihrer Fluxion besteht. Die empirische Vorstellung ist das Produkt einer Synthese, so wie eine bestimmte fließende Größe durch ihre Fluxion ermittelt werden kann. Hierbei betont Maimon, daß ein Differential eine Idee ist, insofern sie „eine Methode [ist], einen Übergang von der Vorstellung oder dem Begriffe eines Dinges zum Dinge selbst zu finden“27. Für Maimon ist die Aufgabe des Verstandes die Verbindung des Mannigfaltigen zu einer Einheit mittels seiner Subsumtion unter Begriffe. Aber diese Aufgabe ist nur dadurch möglich, daß das Mannigfaltige als das Produkt einer Spontaneität dargestellt wird, so daß die gesuchte Vereinheitlichung nur durch die Angabe der Entstehungsregel des Mannigfaltigen erreicht wird: „Der Verstand kann kein Objekt (außer den Formen der Urteile, die keine Objekte sind) anders als fließend denken. Denn da das Geschäft des Verstandes nichts anders als Denken, d. h. Einheit im Mannigfaltigen hervorzubringen, ist; so kann er sich kein Objekt denken, 23

Salomon Maimon: Versuch über die Transcendentalphilosophie, 21 Fußnote. Hegel: Wissenschaft der Logik I, 303. 25 Maimon: Versuch, 115. 26 „I don’t here consider Mathematical Quantities as composed of Parts extremely small, but as generated by a continual motion. Lines are described, and by describing are generated, not by any opposition of Parts, but by a continual motion of Points. Surfaces are generated by the motion of Lines, Solids by the motion of Surfaces, Angles by the Rotation of their Legs, Time by a continual flux, and so in the rest. These Geneses are founded upon Nature, and are every Day seen in the motion of Bodies.“ Sir Isaac Newton: The Mathematical Works, 141. 27 Maimon: Versuch, 198. 24

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als bloß dadurch, daß er die Regel oder die Art seiner Entstehung angibt: denn nur dadurch kann das Mannigfaltige desselben unter der Einheit der Regel gebracht werden, folglich kann er kein Objekt als schon entstanden, sondern bloß als entstehend d. h. fließend denken.“28

Also, während die Einbildungskraft sich den Gegenstand als schon entstanden vorstellt, denkt der Verstand ihn aufgrund des Differentials als etwas Entstehendes: „Eben so wie wir in der höhern Mathematik aus den Differentialen verschiedener Größen, die Verhältnisse dieser Größen selbst heraus bringen, so bringt auch der Verstand (freilich auf eine dunkle Weise) aus den Realverhältnissen der Differentialen verschiedener Qualitäten, die Realverhältnisse dieser Qualitäten selbst, heraus. Wenn man also urteilt: Feuer schmelzt das Wachs; so beziehet sich dieses Urteil nicht auf Feuer und Wachs als Objekte der Anschauung, sondern auf ihre Elemente, die vom Verstande im Verhältnisse von Ursache und Wirkung zu einander gedacht werden.“29

Indem der Verstand die Differentiale der Feuerwärme und des Flüssigkeitsgrades des Wachs durch die Kategorie der Kausalität denkt, stellt er eine funktionsmäßige Abhängigkeit zwischen der Temperatur des ersteren und dem Aggregatzustand des letzteren fest. Folglich wird die Regel der Entstehung der Feuerwärme (d. h. die Veränderung seiner Temperatur) mit der entsprechenden Regel des Wachses (d. h. der Veränderung ihres Aggregatzustandes) in Beziehung gebracht. Auf diese Weise verbindet der Verstand die Vorstellungen von Feuer und Wachs als Ursache und Wirkung. Feuer und Wachs werden damit als notwendige Momente einer Beziehung betrachtet und nicht als Elemente, die bloß zufälligerweise verbunden sind30. Man könnte mit Hegel behaupten, daß in diesem Beispiel das Entstehen des Feuers das Vergehen des Wachses ist. Die Wahrheit beider zeigt sich als ihr Werden. Wir haben es mit einem „begreiflichen Dasein“ zu tun, wie Hegel bei der Erreichung des qualitativen Prinzips des Quantitativen, d. h. des Differentials, behauptet. Maimon formuliert mit seiner Theorie der Differentiale Kants Erkenntnislehre neu. Die Sinnlichkeit liefert den Stoff der Erkenntnis, aber nicht, wie Kant gedacht hat, weil sie ihn passiv empfängt. Das, was wir „sinnliches Datum“ nennen, ist eher das Produkt einer Spontaneität, die aber nach einer uns unbekannten Regel handelt. Das von der Sinnlichkeit Gegebene ist nicht als solches Objekt des Bewußtseins. Vielmehr entsteht das Bewußtsein als Ergebnis einer Synthese der Einbildungskraft, die die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung hervorbringt. Schließlich wendet der Verstand seine Kategorien auf die Differentiale an und bestimmt damit die Verbindungen der Erscheinungen, deren Entstehungsregel von solchen Diffe28

Maimon: Versuch, 23 – 24. Maimon: Versuch, 193. Die Kategorien sind Regeln der Entstehungsart der Objekte. Maimon: Versuch, 152. 30 Mit der Theorie der Differentiale versucht Maimon, die Schwierigkeiten des Kantischen Schematismus zu überwinden. Ich werde aber auf diese Frage hier nicht eingehen. Siehe Hernán Pringe: „La teoría de los diferenciales de Salomon Maimon, la pregunta quid juris y la posibilidad de la metafísica como ciencia“, in: Anales del Seminario de Historia de la Filosofía 33.1 (2016), 81 – 102. 29

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rentialen ausgedrückt wird31. Vom Standpunkt unserer endlichen Subjektivität ist die „subjektive“ Ordnung der „Gemütsoperationen“32 folgende: Sinnlichkeit (Empfindung), Anschauung, Verstandesbegriffe und schließlich Vernunftideen, mit denen das gesamte System der Verstandesbegriffe gesucht wird. Nähmen wir aber den Standpunkt eines unendlichen Intellekts ein, würden die Sinnlichkeit und die Anschauung aus der vorigen Ordnung verschwinden, weil ein solcher Verstand sich der Entstehungsregel des von uns so genannten Gegebenen unmittelbar bewußt wäre. Die Ordnung, die sich von diesem anderen Standpunkt aus ergibt und die Maimon als eine „objektive“ Ordnung bezeichnet, wäre also: Verstandesideen (Differentiale), Verstandesbegriffe, Vernunftideen33. Aufgrund dieses doppelten Standpunkts bezüglich der Gemütsoperationen versteht Maimon das Differential nicht nur als Grundlage der Anschauung, sondern auch, in mehreren Passagen seines Versuchs, als ihren Bestandteil. In diesem Sinne behauptet Maimon, daß die Differentiale „bestimmte Einheiten“ sind, so daß aus ihrem „sukzessiven Hinzutun“ eine endliche Größe entspringt34. So schließen die sinnlichen Vorstellungen sich mit den folgenden zusammen, bis sie den Grad erreichen, bei dem sie uns bewußt werden, genauso wie es mit den sukzessiven momentanen Geschwindigkeiten in einer beschleunigten Bewegung geschieht, die „nicht verschwindet, sondern sich immer zu der folgenden gesellt, woraus eine immer vermehrte Geschwindigkeit entsteht“35. Allerdings ist diese Zusammensetzung des Endlichen aus dem Unendlichkleinen noch eine verschwommene Vorstellung, die zum subjektiven Standpunkt der Gemütsoperationen gehört. Vom objektiven Standpunkt aus ist das Differential hingegen kein Bestandteil des Sinnlichen, sondern vielmehr seine Entstehungsregel. Maimon stimmt daher mit Hegels Philosophie des „wahrhaften Begriffs“ darin überein, daß er die Vorstellung des Differentials als Quantum ablehnt und dessen Vorstellung als Regel verteidigt. Für Hegel bedeutet das Differential als Quantum die schlechte Unendlichkeit des Verstandes, und nur als Verhältnis entspricht das Differential der wahrhaften Unendlichkeit der Vernunft. Maimon versucht eine ähnliche Erklärung, indem er den Unterschied zwischen den beiden Auffassungen des Differential auf den Unterschied zwischen der subjektiven und der objektiven Ordnung der Gemütsoperationen zurückführt.

31 „Die Sinnlichkeit also liefert die Differentiale zu einem bestimmten Bewußtsein; die Einbildungskraft bringt aus diesen ein endliches (bestimmtes) Objekt der Anschauung heraus; der Verstand bringt aus dem Verhältnisse dieser verschiedenen Differentiale, welche seine Objekte sind, das Verhältnis der aus ihnen entspringenden sinnlichen Objekte heraus.“ Maimon: Versuch, 23. 32 Maimon: Versuch, 49. VT, 203 – 204. 33 Maimon: Versuch, 50. 34 Maimon: Versuch, 22, Fußnote. 35 Ebd.

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III. Hegel interpretiert das Differential als das unendliche qualitative Prinzip, das das quantitative Endliche erzeugt. Diese Auffassung des Differentials stützt sich auf die Lehre Newtons und findet einen bemerkenswerten Vorläufer in der Philosophie Maimons. Darüber hinaus wird diese idealistische Interpretation der Differentialrechnung in der neukantianischen Philosophie der Marburger Schule wieder aufgenommen. Die Neukantianer beschäftigten sich mit dem Problem der Beziehung zwischen Mathematik und Naturwissenschaft. Insbesondere heben sie den erzeugenden Charakter des Qualitativen im Gebiet der Erfahrung hervor. Hinsichtlich des empirischen Gebrauchs der Mathematik in der Physik behauptet Hegel: „Aber die Mathematik vermag überhaupt nicht Gröbenbestimmungen der Physik zu beweisen, insofern sie Gesetze sind, welche die qualitative Natur der Momente zum Grunde haben; aus dem einfachen Grunde, weil diese Wissenschaft nicht Philosophie ist, nicht vom Begriffe ausgeht und das Qualitative daher, insofern es nicht lemmatischerweise aus der Erfahrung aufgenommen wird, auber ihrer Sphäre liegt.“36

Wir haben gesehen, wie die philosophische Interpretation der Differentialrechnung ihre begriffliche Struktur enthüllt. Sie zeigt nämlich, daß das eigentliche Objekt der Infinitesimalrechnung nichts anderes ist als die qualitative Beziehung, die allen Quanta zugrunde liegt. Wie wir gesehen haben, ist dies genau das, was geschieht, wenn man das empirische Dasein begreift. Hegel betont, daß diese Auffassung nicht bedeutet, daß die Mathematik Beweise für die Existenz von Entitäten und physikalischen Gesetzen liefern kann, was Newton übrigens zuweilen beabsichtigte37. Insbesondere müssen die den physikalischen Größen zugrundeliegenden qualitativen Beziehungen aus der Erfahrung entnommen werden. Die Gesetze der Physik sind empirisch, und die Mathematik kann sie a priori nicht herleiten. Maimon behauptet ebenfalls, daß die Differentiale empirischer Objekte nicht unabhängig von der Erfahrung bestimmt werden können. Allerdings besteht der Fortschritt der Wissenschaft gerade darin, daß sie sich ihnen allmählich annähert, d. h. daß sie zur Vorstellung des Entstehungsgesetzes des Empirischen fortschreitet, oder, was dasselbe ist, zu seiner rein begrifflichen Vorstellung. Hermann Cohen wird die Maimonsche Reduktion der physikalischen Objekte auf ihre Differentiale wiederaufnehmen, auch wenn er behauptet, daß der Zusammenhang zwischen seinem Denken und demjenigen Maimons überschätzt worden sei. Cohen wird zudem die Hegelsche Interpretation des Differentials als eine qualitative Beziehung verteidigen, zugleich aber darauf hinweisen, daß sein Ausgangspunkt bei der Erörterung von dessen Verwendung in der angewandten Mathematik nicht die Erfahrung, sondern die Wissenschaft ist. So erklärt Cohen in 36 37

Hegel: Wissenschaft der Logik I, 321. Ebd.

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seinem Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte ausdrücklich gegen Hegel: „Dagegen haben wir nun gesehen, daß die Mathematik die Qualität nicht aus der Erfahrung aufgenommen hat, noch aufnehmen konnte, und dennoch dieselbe nicht schlechthin von der Philosophie des Begriffs zu empfangen hatte. Die Qualität als Realität gedacht, ist zugleich ein Beispiel für den Unterschied von sogenannter Begriffs-Philosophie und Erkenntniskritik. Nicht vom Begriffe, jedoch vom Grundsatze muß ausgegangen werden. Diesen jedoch legt die Wissenschaft dar.“38

Anhand der sogenannten transzendentalen Methode wird Cohen die qualitative Beziehung, die Maimon und Hegel als das eigentliche Objekt der Differentialrechnung sahen, zur Grundlage dessen machen, was die Neukantianer der Marburger Schule Erkenntniskritik nennen39. Diese Lehre wird einen neuen Versuch der philosophischen Aneignung der Differentialrechnung darstellen. Die Erörterung dieses Versuchs muß aber einem anderen Anlaß vorbehalten bleiben. Literatur Bell, John L.: The continuous and the infinitesimal in mathematics and philosophy, Milan 2006. Cohen, Hermann: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, in: ders: Werke, hg. von Helmut Holzhey, Bd. 5, Hildesheim / Zürich / New York 1984, (I-VII u. 1 – 162) Giovanelli, Marco: Reality and Negation – Kant’s Principle of Anticipations of Perception, Dordrecht 2011. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik I, in: ders: Werke in 20 Bänden, Band 5, hg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1969. Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein 6/1. Der menschliche Begriff, Frankfurt am Main 1974. Maimon, Salomon: Versuch über die Transcendentalphilosophie, Hamburg 2004. Moretto, Antonio: Hegel e la mathematica dello infinito, Turin 1984. Moretto, Antonio: Quaestioni di filosofia della matematica nella „Scienza della Logica“ di Hegel. „Die Lehre vom Sein“ del 1831, Trento 1988. Newton, Sir Isaac: The Principia. Mathematical Principles of Natural Philosophy, hg. von Cohen, I. Bernard / Whitman, Anne / Budenz, Julia, Oakland 1999. Newton, Sir Isaac: The Mathematical Works of Isaac Newton, hg. von D. T. Whiteside, New York 1964. 38

Hermann Cohen: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, in: ders: Werke, hg. von Helmut Holzhey, Bd. 5, Hildesheim / Zürich / New York 1984, (I-VII u. 1 – 162),119. 39 Siehe Giovanelli: Reality and Negation, 162 ss.

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Pringe, Hernán: „La teoría de los diferenciales de Salomon Maimon, la pregunta quid juris y la posibilidad de la metafísica como ciencia“, in: Anales del Seminario de Historia de la Filosofía 33.1 (2016), 81 – 102. Schwarz, Hermann: Versuch einer Philosophie der Mathematik, verbunden mit einer Kritik der Aufstellungen Hegel’s über den Zweck und die Natur der höheren Analysis, Halle 1853. Wolff, Michael: „Hegel und Cauchy. Eine Untersuchung zur Philosophie und Geschichte der Mathematik“, in: R. P. Horstmann / M. J. Petry (Hg.): Hegels Philosophie der Natur, Stuttgart 1986, 197 – 263.

Der Schluß der Notwendigkeit: Ein onto-epistemologischer Ansatz Agemir Bavaresco (Porto Alegre) Einleitung Bei Hegel hat der Schluß eine doppelte Funktion: er umfaßt die Form der Begründung wie ebenso die des Verstehens, er besitzt mit anderen Worten eine ontologische und eine epistemologische Dimension. Der Schluß erschließt die Beziehung auf die Grundlage des Wissens, die sich im Urteil ausspricht, wie ebenso den Realgrund der Dinge. Der Schluß ist insofern die logische Form, mittels derer das Verstehen und Denken als Erkenntnis des Realen innerhalb der logischen Entwicklung des Begriffs zur Geltung gebracht wird. Der Schluß begründet also und erschließt zugleich die Dinge, wie denn das Ziel der Logik des Schlusses der Aufweis des Weges ist, auf dem eine Sache in ihrem Begriff erkannt werden kann: es handelt sich um die epistemologische (erkenntnistheoretische) Funktion des Begriffs, um ein begreifendes Denken. Der Schluß ist der Prozeß des Begründens und Verstehens dessen, was Hegel im Zuge der Entfaltung der drei Formen des Schlusses darstellt: Dasein, Reflexion und Notwendigkeit. Der Schluß ist eine Beziehung zwischen der differenten Form und der Einheit des Inhaltes des Begriffs. Vor diesem Hintergrund ist der Schluß weniger als Beziehung zwischen Urteilen und Propositionen, vielmehr als fortgesetzte Bewegung des Begriffs zu begreifen. Die logischen Elemente, die den Schluß ausmachen, sind dieselben wie die des Begriffs und der Momente des Urteils, nämlich das Einzelne, das Besondere und das Allgemeine. „Das Wesentliche des Gleichen [des Syllogismus] ist die Einheit der Extreme, des Mittelbegriffs, der diese vereint, sowie des Fundaments, das diese trägt“1. Die jeweilige Rolle, die der Mittelbegriff im Schluß spielt, ist dabei maßgeblich für die Unterscheidung der drei Typen des Schlusses. In diesem Sinne existieren drei verschiedene Arten der Vermittlung des Mittelbegriffs im Schluß, die sich wie folgt darstellen lassen: a) die Vermittlung ist unmittelbar und kontingent im Schluß des Daseins; b) sie ist reflektierend im Schluß der Reflexion; sowie zuletzt c) notwendig im Schluß der Notwendigkeit. Hierbei muß darauf hingewiesen werden, daß die Handlungen des Begründens und Verstehens im Schluß eine Entwicklung durchlaufen, die auch erklärt, wie es kommt, daß die Handlungen des Begründens und Verstehens im Schluß des Daseins 1 Übersetzung nach Federico Orsini: A Teoria Hegeliana do Silogismo. Tradução e Comentário, Porto Alegre 2016, § 3, 25 (im Folgenden zitiert als Orsini: Teoria).

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und der Reflexion noch defizitär sind. Im Schluß der Notwendigkeit erreichen das Begründen und das Verstehen dann die vollkommene begriffliche Einheit2. Stellen wir nun aber die interne Logik der drei Hegelschen Schlüsse in ihren Grundzügen vor: den Schluß des Daseins, der Reflexion und der Notwendigkeit. 1. Der Schluß des Daseins: Die drei Momente des Begriffs manifestieren sich zunächst als Einzelheit in einem singulären Objekt, in welchem zugleich eine Inhärenz mannigfaltiger Bestimmtheiten gegeben ist; anschließend tritt die Besonderheit auf, in welcher eine dieser Bestimmtheiten herausgehoben wird; schließlich wird die Besonderheit mittels Abstraktion zur Allgemeinheit erhoben. Das Schließen hebt eine Besonderheit heraus, die als Allgemeines eines Einzelnen aufgestellt wird – so in dem Beispiel: „Diese Rose ist rot. Nun ist Rot eine Farbe. Also ist die Rose etwas Farbiges“3. Von einem formal-logischen Standpunkt aus ist dieser Schluß korrekt, von einem inhaltlichen Standpunkt hingegen kontingent. Die Tatsache der Wahl der Farbe ,Rot‘ als eines besonderen Inhalts ist etwas Kontingentes, um nicht zu sagen Zufälliges, da die Wahl eines anderen inhaltlichen Merkmals wie z. B. ,dornig‘ oder ,duftend‘ denkbar wäre. Die Wahl der ,Farbe‘ rot als allgemeine Bestimmtheit ist zunächst etwas Gleichgültiges, da genauso etwa der Duft als alternative Wahl eine Rolle hätte spielen können. Der Schluß des Daseins weist daher Mängel auf, insofern in ihm ein Subjekt (ein Einzelnes) nicht in seinem ganzen Umfang verstanden geschweige denn begründet wird. Der Mittelbegriff ist hier eine begrifflose Eigenschaft, da anstelle seiner jeder andere, auch ein entgegengesetzter Mittelbegriff treten kann. So ist „die Beziehung zwischen dem Resultat (Konklusion) und der Vermittlung des Schlusses demzufolge kontingent und nicht notwendigerweise konform mit dem Inhalt“4. 2. Der Schluß der Reflexion: Im Reflexionsschluß ist das gerade besprochene Verhältnis der unmittelbaren Kontingenz zwischen dem Resultat (Konklusion) und der Vermittlung des Schlusses überwunden, auch wenn weiterhin Defizite bestehen. „Im Schluß der Reflexion sind die Einzelnen als Vertreter einer bestimmten Gattung über den Mittelbegriff des Schlusses ausgewiesen“5. Im Reflexionsschluß verweisen die drei Formen dieses Schlusses (Schluß der Allheit, der Analogie und der Induktion) auf eine jeweils weitere Bestimmung. Der Mittelbegriff des Schlusses umfaßt die Beziehung der Einzelheit und der Allgemeinheit. Die Begründung des 2 Christian Iber: Seminário a Lógica do Conceito de Hegel: A doutrina hegeliana do conceito, do juízo e do silogismo II, Porto Alegre 2015, 2 – 3 (im folgenden zitiert als Iber: Lógica). 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik, in: Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe (zitiert = TW), Redaktion von E. Moldenhauer und K. Michel, Band 8, Frankfurt am Main 1969 ff. (im folgenden abgekürzt als Kurztitel mit Angabe des Paragraphen, hier: Enz. § 183, Zusatz). 4 Iber: Lógica, 3. 5 Iber: Lógica, 4

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Einzelnen oder der Einzelheit ist eine allgemeine Bestimmung, was freilich in einen circulus vitiosus mutiert. Der Grund der Erklärungskraft des Schlusses der Allheit liegt in einem bestimmten Einzelnen (Beispiel: Sämtliche Metalle sind elektrische Leiter. Gold ist ein Metall. Deshalb ist Gold ein elektrischer Leiter); im Schluß der Induktion ist der Mittelbegriff in einigen bestimmten Einzelnen enthalten (Gold ist Metall, Kupfer ist Metall etc.; Gold ist ein Leiter, Kupfer ist ein Leiter etc.; deswegen: Alle Metalle sind Leiter); im Schluß der Analogie ist der Mittelbegriff hingegen in sämtlichen Individuen derselben Gattung enthalten6. Von den drei Formen des Schlusses der Reflexion ist es das Allgemeine, von dem das – allerdings noch nicht explizite – Fundament der nachfolgenden Bestimmung des Einzelnen ausgeht. 3. Der Schluß der Notwendigkeit: Hegel kritisiert sämtliche vorherigen Formen des Schlusses und ist zugleich darum bemüht, deren Defizite zu beheben. Ein Objekt zu verstehen, setzt einen Lernprozeß entsprechend seinem Inhalt, das heißt entsprechend seinem Begriff voraus. Der Begriff ist die allgemeine Bestimmung, die nicht länger ausschließlich eine Beschreibung des Objekts ist, vielmehr die Grundlage zur Rekonstruktion des wahren Objekts bildet7. Da im Schluß der Notwendigkeit die Bestimmung des Allgemeinen auftritt, gibt es eine Verbindung zwischen dem Begriff und dem Schluß. Das Allgemeine ist die Grundlage und zugleich die Erschließung des Objekts gemäß seinem Begriff. Wenn im Schluß der Notwendigkeit das begriffliche Denken das Objekt in sich befaßt, so bleibt die Frage, wie die Bestimmungen eines Objekts im Ausgang von seinem Begriff begründet werden können. I. Schluß der Notwendigkeit: Struktur und Figuren (Enz. I, §§ 191 – 193)8 Im Schluß des Daseins ist die Begründung kontingent; im Schluß der Reflexion ist das Begründen eine Beziehung in fehlerhafter Zirkularität; im Schluß der Notwendigkeit stützt sich das Begründen auf das Erfassen eines Objekts gemäß seinem Begriff. Hegel behandelt die Lehre vom Schluß auf detaillierte Art und Weise im ersten Abschnitt der Lehre vom Begriff. Hier beschränken wir uns darauf, den Schluß der Notwendigkeit mittels dreier Paragraphen zur Logik vorzustellen, die sich in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften finden: §§ 191, 192 e 193. § 191 – Die drei Figuren: Unter einem formellen Gesichtspunkt verfügt der Schluß der Notwendigkeit über das Allgemeine als Mittelbegriff (S – A – P), bzw. 6 Die Erde hat Bewohner; Der Mond ist eine Erde; Also hat der Mond Bewohner. Siehe: Hegel: Enz. § 190, Zusatz) 7 Iber: Lógica, 5. 8 Im folgenden benutzen wir die Abkürzung „Enz.“ für das Wort Enzyklopädie.

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das Allgemeine ist jetzt an und für sich gesetzt, während sich der Mittelbegriff als vollständiger Grund der syllogistischen Beziehung erweist. Der Schluß der Notwendigkeit besitzt drei Figuren: 1. Kategorischer Schluß: das Besondere ist eine bestimmte, die Vermittlung herstellende Art. (Maior, B-A): Das Metall besitzt eine allgemeine Bestimmung in elektrischer Leitfähigkeit; (Minor, E-B): Kupfer ist wesentlich ein Metall; (Conclusio, E-A): Kupfer ist wesentlich ein elektrischer Leiter.

2. Hypothetischer Syllogismus: das Einzelne ist ebensowohl vermittelnd als auch vermittelt. (Maior): Wenn A, dann auch B. (Minor): Nun ist A, (Conclusio): Also ist B.

3. Disjunktiver Schluß: Das vermittelnde Allgemeine ist als Totalität seiner Besonderungen gesetzt, und als vermitteltes ist es als ausschließendes besonderes Einzelnes gesetzt. (Maior): A ist entweder B oder C oder D: Ein Werk der Dichtkunst gehört entweder zur Gattung der Lyrik, des Epos oder des Dramas. (Minor): A ist nun aber B: So gehört dieses Werk der Dichtkunst zur Lyrik. (Conlusio): Also ist dieses Werk weder ein Epos noch ein Drama9.

§ 192 – Das Endresultat des Schlusses ist die Aufhebung seiner zunächst vorausgesetzten Unterschiede, bzw. es ist die Aufhebung dieser Unterschiede im Sinne der Negation einer Selbständigkeit dieser Unterschiede. Die Vermittlung der Unterschiede durch die verschiedenen Formen des Schlusses geschieht durch das Allgemeine, das als ihre Identität gesetzt ist. In einem Zusatz erläutert Hegel, wie die gewöhnliche Logik in der Lehre vom Schluß verfahren ist. Er qualifiziert jene Logik als dualistisch, da sie die Bestimmungen der Subjektivität und der Objektivität in sich aufnimmt, ohne diese jedoch als beide im Begriff verankert aufzuzeigen. Der ausschließlich formalen Subjektivität (Begriff, Urteil und Schluß) fehlt es an Objektivität. Für Hegel ist die Subjektivität dagegen „dialektisch, sie durchbricht ihre Grenze und öffnet sich mittels des Schlusses für die Objektivität“10. § 193 – Vom Epistemologischen zum Ontologischen: Hegel beschließt die Darstellung des Schlusses mit einer ontologischen These: „Diese Realisierung des Begriffs […] ist das Objekt“. Er warnt dabei davor, den Übergang vom Begriff zum Objekt im Sinne der Form der Vorstellung zu verstehen. Das Objekt ist ein Un9 Christian Iber: „Conceito, juízo e silogismo: Introdução à lógica do conceito de Hegel“, in: Revista Opinião Filosófica 03/02 (2012), 15 f.; Orsini: Teoria, 208; 235. 10 Eig. Übersetz. nach id. § 192, Zusatz, TW 8/345.

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mittelbares und dem Subjekt auch unmittelbar entgegengesetzt. Das Objekt ist darin zugleich ein „in sich unbestimmtes Ganzes“. Dieses Objekt besitzt in sich selbst den Unterschied, so daß es sich in seinem selbständigen und konkreten Dasein vereinzelt11. Das Problem dabei ist, wie sich der Übergang vom Begriff zum Objekt erklären läßt. Hegel greift auf einige Passagen der Logik zurück und unterstreicht, daß „wie allenthalben die spekulative Identität nicht jene triviale“ sei, in welcher „Begriff und Objekt an sich identisch“ seien12. Es handelt sich weder darum, die Identität des Begriffs und des Objekts in der Form der Vorstellung zu betrachten, noch sie im Modus eines unmittelbaren Wissens zu suchen. Hegel bezieht sich zur weiteren Erläuterung der spekulativen Identität von Sein und Begriff auf den ontologischen Gottesbeweis bei Anselm, Descartes und Spinoza. Er zeigt dabei, daß die genannten Autoren auf dem Niveau des unmittelbaren Wissens verbleiben, auf welchem die Einheit als lediglich vorausgesetzt erscheinen muß, d. h. eine abstrakte Identität bleibt13. Hegel beschließt so den Übergang vom subjektiven Begriff zur Objektivität durch die Vermittlung des nur Unmittelbaren14. II. Notwendigkeit der Vermittlung des Inhalts und der Form Der Schluß der Notwendigkeit drückt die allgemeine Einzelheit des Begriffs im Sinne der Formen der Identität der Identität und der Nicht-Identität aus, so Jarczyk. Nun ist das Allgemeine der Mittelbegriff des Schlusses der Notwendigkeit. Das globale Schema des Schlusses des Daseins, E-B-A, korrespondiert dagegen der abstrakten Besonderheit der setzenden Reflexion; der Schluß der Reflexion, B-E-A, korrespondiert der Einzelheit der äußeren Reflexion; der Schluß der Notwendigkeit, E-A-B, der Allgemeinheit der bestimmenden Reflexion. Bevor nunmehr der Schluß der Notwendigkeit näher beleuchtet werden soll, geben wir zunächst eine globale Übersicht über die drei Gattungen des Schlusses nach Jarczyk wieder, die die Verbindung, die Zirkularität und die grundlegende Einheit der drei Arten illustrieren sollen15 : Die Form des syllogistischen Dreischritts ist dieselbe, soll heißen, daß deren Kreislauf mit der Einzelheit sowohl beginnt als auch endet. Der erste Schluß hat die Differenz (Besonderheit) als Mittelbegriff, der zweite die Einzelheit und der dritte die Einheit (Allgemeinheit). In jedem Fall hat sich die Vermittlung im Sinne der Einheit der Unterschiede zu erfüllen, das heißt als Identität der Identität und des 11

Hegel: Enz., § 193, Anm. Hegel: Enz., § 193, Anm. 13 Hegel: Enz., 330 – 331. 14 Cf. Hegel: Enz., § 198 ss. 15 Gwendoline Jarcyk: Système et Liberté dans la Logique de Hegel, Paris 1980, 124 (im folgenden zitiert als Jarcyk: Système). 12

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Agemir Bavaresco

Schlußform überhaupt

Bestimmtheit des Verhältnisses zwischen Einzelnem und Allgemeinem

Dialektisches Moment

Entsprechung zum Aufbau der Logik

Schluß des Daseins

E - B - A

A

Setzende Reflexion

Sein

Reflexionsschluß

B - E - A

B

Äußere Reflexion

Wesen

Schluß der Notwendigkeit

E - A - B

E

Bestimmende Reflexion

Begriff

Unterschiedes zu verwirklichen. In den Schlüssen des Daseins und der Reflexion verblieb die Form stets im Schatten des Inhalts, woraus ihr Formalismus entstand. Die Bewegung der Reflexion leitete uns dennoch zu einer progressiven Bestimmung der noch immer abstrakten Terme, was uns dazu brachte, den Inhalt in Beziehung auf seine Form zu privilegieren. Die Bewegung des Inneren des Inhalts (Mittelbegriff) und das Äußere der Form (Extreme) führen zuletzt zur Aufhebung der Form in der Objektivität16. Im Schluß der Notwendigkeit ist der Mittelbegriff das Gattungsallgemeine, das sich besondert und vereinzelt. Folglich steht dieser nicht mehr für irgendeine zufällig gewählte Eigenschaft, wie es im Schluß des Daseins der Fall war, noch soll die Gesamtheit der Einzelnen ein Wesen ausmachen wie im Schluß der Reflexion. Der Mittelbegriff des Schlusses der Notwendigkeit ist nun die notwendige Form eines gedachten Inhalts, soll heißen, die Identifikation der Extreme im Begriff des Objekts. Im Schluß der Notwendigkeit gehören die partikulären Eigenschaften einer Gattung zum Allgemeinbegriff des Objekts. Damit realisiert die Logik des Schlusses die Übereinstimmung zwischen der Form und des Begriffs als Subjektivität der ersten Sektion17. Der kategorische Schluß ist nach dem Schema E-B-A gebaut, und keines seiner Extreme drückt mehr eine unmittelbare und abstrakte Bestimmung aus (wie im 16 Siehe Seiten 16 – 18, in: Agemir Bavaresco: „Silogismo Hegeliano e Inferencialismo em Brandom“, in: Revista Cognitio 13.1 (2012), 11 – 24. 17 Eig. Übersetz. nach Christian Iber: Seminário a Lógica do Conceito de Hegel: A doutrina hegeliana do conceito, do juízo e do silogismo II. Resumo: C. O silogismo da necessidade. a. O silogismo categórico, Porto Alegre, 1 (im folgenden zitiert als Iber: Lógica II); Federico Orsini macht diesbezüglich zwei Beobachtungen: Erstens, die gesamte Logik des Schlusses befindet sich auf dem logischen Niveau des Begriffs. Da der Begriff aber ausschließlich als Entwicklung in sich existiert, drücken die Gattungen des Schlusses den Begriff auf mehr oder minder adäquate Weise aus. Zweitens, obwohl die Lehre vom Schluß eine unbestreitbare Entwicklung durch dessen drei Gattungen hindurch aufweist, fehlt weiterhin der Begriffsschluß, der sich in keiner der zehn Figuren des Schluß der Subjektivität finden läßt, sondern ausschließlich durch die drei Schlüsse der Philosophie am Ende der Enzyklopädie geliefert wird.

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Schema des Schlusses des Daseins der Fall); vielmehr produzieren alle eine Bewegung der Konkretion hin zu einer reflexiven Totalität, oder besser: zu einer reflexiven Identität. Von seinem Ausgangspunkt her bleibt der kategorische Schluß in seiner Unmittelbarkeit der inhaltlichen Einheit äußerlich. Dennoch ist die Unmittelbarkeit hier bereits einer Bewegung der Vermittlung ausgesetzt, die sie dazu bringt, sich der Kontingenz und der formellen Äußerlichkeit zu entziehen. In diesem Schluß wird ein Subjekt mit seinem Prädikat über die Substanz zusammengeschlossen, die als objektives Allgemeines und spezifische Differenz zum Begriff erhoben worden ist. Der Mittelbegriff ist hier die wesentliche Natur des Einzelnen, und das Allgemeine ist die spezifische Differenz der Gattung. Beispiel: E – B: Gold ist ein Metall. B – A: Metalle sind elektrische Leiter. E – A: Daher ist Gold ein elektrischer Leiter.

So läßt sich festhalten, daß „kategorisch jener Schluß ist, in welchem die allgemeine Eigenschaft eines Einzelnen durch die spezifische Differenz der Gattung so bestimmt ist, daß sie als notwendige Eigenschaft dieses einzelnen Exemplars der Gattung dargestellt ist“18. Im kategorischen Schluß beginnt das Denken mit der Objektivität, die Form mit dem gedachten Inhalt übereinzustimmen. In diesem Schluß subsumiert das Gattungsallgemeine mannigfaltiges Einzelnes und erlaubt die Feststellung, daß das Allgemeine in den Einzelnen gegenwärtig ist. Nichtsdestotrotz erklärt der Schluß der Notwendigkeit noch keineswegs, wie dies geschieht: in welchem Maße etwa Gold eine bestimmte Art Metall ist und wie in dem Gattungsallgemeinen die Eigenschaft der Leitfähigkeit enthalten ist. „Der kategorische Schluß kann den Anspruch einer Begründung der notwendigen Vereinigung des einzelnen Subjekts mit einer allgemeinen Eigenschaft mittels des Gattungsallgemeinen keinesfalls retten“19. Es gibt einen Mangel im kategorischen Schluß, in welchem die Beziehung der Extreme auf den Mittelbegriff ein faktisches Moment enthält, das eben im hypothetischen Schluß erklärt und bereinigt werden muß. Der hypothetische Schluß überwindet diese nach wie vor zwischen Form und Inhalt, zwischen Vermitteltem und Vermittlung, zwischen unmittelbar Einzelnem (Dasein) und vermittelndem Allgemeinem (Gattung) bestehende Äußerlichkeit. Jedes einzelne der Elemente konstituiert nunmehr das Reale in seiner allgemeinen Einzelheit. Die Unterscheidung der Bestimmungen als Momente (A-E-B) des Begriffs ist hier, wie es scheint, nicht entscheidend, was sich so darstellt: „Wenn A ist, dann ist B. Nun aber ist A. Also ist B“.

18 19

Eig. Übers. nach Iber: Lógica II, 2. Iber: Lógica II, 2.

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Das hypothetische Urteil thematisiert die notwendige Beziehung zwischen A und B, das heißt einen identischen Inhalt, der A und B zugrunde liegt. Der Beweis dieser notwendigen Beziehung ist, daß A als Bedingung von B existiert und dieses durch das Sein von A vermittelt ist. Der hypothetische Schluß beinhaltet der Form nach somit das, was im kategorischen Schluß nur ein vorausgesetzter substantieller Inhalt war. Das in sich notwendige Bedingungsverhältnis zwischen A und B ist dabei durch die unmittelbare Gegebenheit des Seins von A bedingt. Der hypothetische Schluß basiert auf einer Bedingung (dem Sein von A), die er nicht erklärt. Kraft der Gegebenheit von A als Mittelbegriff aber ist es möglich, daß sich sowohl der Inhalt als auch die Form wie folgt zusammenschließen: B ist zugleich AB, wie auch A zugleich AB ist. Daraus folgt, daß aus der vermittelnden (A) und vermittelten (B) Identität ein identischer Inhalt deriviert. Der hypothetische und der kategorische Schluß heben insoweit den Gegensatz zwischen dem gedachten Inhalt und der manifesten Form auf, das heißt die logische Form zeigt die notwendige Beziehung des gedachten Inhalts auf, wodurch diese verständlich wird. Die vollendete Form des Schlusse ist der disjunktive20. Der disjunktive Schluß beschließt nun die Redintegration der unmittelbaren Äußerlichkeit in die Vermittlung. Der Mittelbegriff ist nicht einfach ein abstrakter Gattungsbegriff, sondern die Realität des Besonderen und des Einzelnen. Die syllogistische Form, die zunächst aus der Opposition zwischen Inhalt und Form, Vermittelndem und Vermitteltem, Subjektivität und Objektivität bestand, ist insoweit aufgehoben. Der gesamte syllogistische Prozeß hat keine andere Bedeutung als die der unbedingten Erfüllung21 des Mittelbegriffs und der Redintegration der formalen Äußerlichkeit der Extreme. Der disjunktive Schluß gewährleistet die Weiterentwicklung der Subjektivität zur Objektivität. Dieser Schluß bezeichnet das Ende der „Subjektivität“ im Sinne des ersten Abschnitts der „subjektiven Logik“ oder der Lehre vom Begriff. Es handelt sich um die Entfaltung der bislang noch von ihrem Ausdruck getrennten Innerlichkeit in der unmittelbaren Äußerlichkeit, der „Objektivität“. Der Begriff in seiner vollendeten Form ist die Identität des Inneren und des Äußeren. Die Vermittlung vollendet sich in der Unmittelbarkeit des Seins als eines konkreten Allgemeinen. Es handelt sich um den Begriff in seiner Objektivität, das heißt die Realisierung der Subjektivität in der Form der objektiven Andersheit. Somit verschwindet die syllogistische Form des Formalismus des Verstandes, und der Inhalt 20

Iber: Lógica II, 1 – 2; für Federico Orsini ist der disjunktive Schluß eine vollendete Form der Subjektivität, allerdings nicht in der gesamten Logik. Die vollendete Form des Schlusses ist der dreifache Schluß der Philosophie am Ende der Enzyklopädie. 21 Der Gedanke ist dabei, daß je mehr die Extreme des Schlusses durch den Mittelbegriff miteinander verbunden sind, sie auch als desto rationaler miteinander verbunden scheinen. ,Erfüllung‘ ist der Prozeß, im dem der Mittelbegriff sämtliche Bestimmungen des Begriffs aus sich entwickelt (durch die Deduktion der drei Arten des Schlusses), wohlwissend, daß dieser Prozeß den Mittelbegriff in ein ,allgemein objektives‘ Konstrukt transformiert. Auf diese Art und Weise sind die Extreme vereint, während sie Momente des Mittelbegriffs sind.

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gibt sich durch die Form des Schlusses als solcher der Vernunft zu erkennen, was unmittelbar seiner reellen Selbstvermittlung entspricht machte22. Der disjunktive Schluß präsentiert sich nun anhand der dritten möglichen Form des formalen Syllogismus: E-A-B, was der der grundlegenden Figur des Schlusses der Notwendigkeit (E-A-B) korrespondiert. Hier sind die Extreme der Einzelheit und der Besonderheit lediglich Unterschiede der Form eines identischen Inhalts einer einzelnen Sache, aus deren Besonderheit ihre Allgemeinheit, das heißt ihr Begriff erschlossen wird,. Das Defizit des Mittelbegriffs ist überwunden, da dieser die Gattung als Einheit von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit ist, soll heißen der Mittelbegriff und das Gattungsallgemeine, das die Art in die Konjunktion mit hineinbezieht : „A ist sowohl B, als auch C als auch D“, wie in der Disjunktion „A ist B, C oder D“. Der disjunktive Schluß manifestiert sich also wie folgt: „A ist entweder B, C oder D, nun aber ist A B; folglich ist A weder C noch D. Oder auch: A ist entweder B, C oder D, nun aber ist A weder C noch D; folglich ist es B.“

Das Gattungsallgemeine als Prinzip und Fundament der ausschließenden Disjunktion des Besonderen („entweder – oder“) ist dazu in der Lage, sämtliche umfaßten partikularen Spezies festzuhalten. Dies bedeutet, daß das Gattungsallgemeine diese zusammenhält und den Inhalt der begrifflichen Vollkommenheit ausmacht. Die Allgemeinheit der Gattung „A“ erweist sich sowohl in den Prämissen als auch in der Konklusion als Subjekt, wobei die erste Prämisse besagt, daß das Allgemeine die Gesamtheit sämtlicher Besonderen ist: A ist B, C oder D. Die zweite Prämisse besagt, daß das Allgemeine ein Einzelnes ist, das viele dieser Besonderen ausschließt: A ist weder C noch D. Die Konklusion folgert, daß das als Einzelnes bestimmte Allgemeine eine besondere Art ist: A ist B. Das Allgemeine nimmt den Platz des Subjekts ein, insofern es die Synthese des Allgemeinen, des Besonderen sowie des Einzelnen ist. Im disjunktiven Schluß wird das Gattungsallgemeine ,poetische Kunst‘ als Singular einer bestimmten Art (Lyrik) vermittelt. Das Vermittelnde ist derweilen das Allgemeine der Gattung, das zur selben Zeit sämtliche Spezies inkludiert, eines als Singular auserwählt und andere Arten ausschließt, wie im nachfolgenden Beispiel nach Enz. § 177: „Ein Werk poetischer Kunst ist entweder Lyrik, Epos oder Drama. Dieses Werk poetischer Kunst da ist weder Epos noch Drama. Folglich ist es Lyrik“. 22

Jarcyk: Système, 132 – 133.

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Hier ist die Einheit gesetzt, das heißt die Wahrheit des Schlusses der Notwendigkeit. Die Allgemeinheit als Mittelbegriff nimmt konkrete Züge an, was sich in der Tatsache zeigt, daß sie die abstrakte Bestimmtheit des Schlusses des Daseins und der Reflexion überwindet. Nun enthält der Mittelbegriff das Besondere und das vermittelnde Einzelne. Zugleich überwindet dieser die getrennten Extreme bzw. den Unterschied zwischen Vermittelndem und dem Vermitteltem. Insofern wird im Vermittelnden alles vermittelt, begründet und dargestellt. Im disjunktiven Schluß tritt also das Gattungsallgemeine gleichzeitig sowohl als allgemein (Gattung) als auch als einzeln (Art der Gattung) hervor. Die Form ist identisch mit dem Inhalt, das heißt, daß die Form des Schlusses über einen ihr adäquaten gedachten Inhalt verfügt, wo der gedachte Inhalt eine ihr korrespondierenden Form hat. So umfaßt der Begriff des Objekts in dessen Einheit jene aus seiner besonderen Identität erschlossenen Unterschiede23. Den Hegelschen Schluß rekonstruierend, war unser Ziel, die Art und Weise, wie Hegel die Überwindung der in dem klassisch-aristotelischen Schluß ausgedrückten Verstandeslogik durchführt, offenzulegen. Es ging uns dabei nicht bloß um die Rekonstruktion der technischen Seite der drei syllogistischen Figuren. Wir haben die Figuren und deren Entwicklungen lediglich in groben Zügen und mit dem Ziel dargestellt, die Arbeit des Begriffs in der dialektisch-spekulativen Bewegung der Vermittlung bzw. des inferentiellen Prozesses zugänglicher zu machen. Die Syllogismen schließen von vermittelnden Begriffen aus, soll heißen, von einem Mittelbegriff, von dem aus jeder Mittelbegriff die Rolle der Vermittlung oder Inferenz übernimmt. Gegen Ende der Behandlung der Schlußlogik gelangt Hegel dann zum Übergang aus dem Schluß zur Objektivität. Dieser Übergang ist ein Thema, das viele Interpretationen und Forschungsdebatten ausgelöst hat, handelt es sich hier doch darum, zu verstehen, ob der Begriff die Objektivität formieren kann oder nicht. Am Ende des Schlusses der Notwendigkeit verschwindet der Formalismus der Syllogistik bzw. das Moment der Subjektivität des Syllogismus. Unterschiedliche Formen des Schließens in ihrer formalen und subjektiven Spielart sind zuvor als defizitär dargestellt worden, das heißt der Begriff hatte sich nur als abstrakte, noch nicht als konkrete Vermittlung der Extreme erwiesen. Nun aber ist der Formalismus des Schluß eben durch die konkrete Vermittlung der Extreme verschwunden, da der Mittelbegriff jetzt die Extreme umfassend miteinander zu vereinen in der Lage ist. Durch die Vermittlung sind zuletzt die gegeneinander isolierten Extreme verschwunden, insofern sie in den Mittelbegriff selbst eingegangen sind. So ist das Ergebnis des Prozesses des Schlusses der Begriff in seiner konkreten Unmittelbarkeit, worin sich die Vermittlung vollendet und der Begriff seine Entfaltung sowohl im Erkenntnissubjekt, das die Objektivität erkennt, wie als Realität findet. Im Schluß der Notwendigkeit wurde das Objekt in seiner besonderen Bestimmtheit mittels des Allgemeinbegriffs schließend erfaßt, das heißt, daß der Begriff sich in 23

Eig. Übersetz. nach Iber: Lógica II, 2 – 4.

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der objektiven Realität verwirklicht und sich, wie Hegel sagt, in Objektivität transformiert24. III. Der Schluß der Notwendigkeit oder „Alles ist ein Schluß“ Hegel These lautet: „Alles ist ein Syllogismus“ (Enz. I, § 181 Anm.). Es handelt sich hier um ein Schlagwort von umfassender Bedeutung unter ontologischem wie auch unter epistemologischem Aspekt. Immerhin erlaubt der Schluß, daß sich zugleich alles Reale wie auch die formale Struktur der Objektivität verstehen lassen. Der Zweck des Schlusses ist es, aufzuzeigen, daß der Begriff objektiv ist, das heißt, daß das Denken mittels des Erkenntnissubjekts den gedachten Inhalt bestimmt und dieser objektiv wird. Dennoch handelt es sich weiterhin um eine begriffliche Aneignung des Objekts, mithin um eine Aktivität des Denkens, in welcher der Inhalt durch die Rechtfertigungen dargestellt wird, die ein Objekt der entsprechenden Art konstitutieren. Für Iber handelt es sich um objektive Gedanken, die den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt beibehalten, dies jedoch noch auf dem Niveau des Gedankens selbst. Am Ende des ersten Abschnitts (der Subjektivität) bzw. beim Übergang zum zweiten Abschnitt (der Objektivität) ergeben sich zahlreiche mögliche Interpretationen hinsichtlich der These, daß „alles ein Schluß“ ist, oder besser gesagt, wie man vom Schluß her den Übergang von Subjektivität zu Objektivität kann. 1. Objektivität als etwas dem Denken Äußeres Am Ende der Lehre vom Schluß stellt Hegel das Objektivwerden des Begriffs dar, was bedeutet, daß der Begriff das Niveau oder die Form des Denkens behalten muß, wenn er sich objektiviert25. In diesem Zusammenhang wurden einige Strukturen nach dem vollständigen Schluß präsentiert, wie z. B. das Sonnensystem, der Chemismus, der Organismus und der objektive Geist. An dieser Stelle erweitert Hegel die r Objektivität des Denkens im Denkens durch eine Verwirklichung des Denkens. Dies geschieht außerhalb des Denkens, so Christian Iber26. Nach der Interpretation Ibers hinsichtlich des Übergangs des Schlusses zur Objektivität handelt es sich um die Erschaffung einer realen Objektivität außerhalb des 24

Iber: Lógica II, 4 – 5. Die Position Ibers behauptet, daß die Objektivität ein Umfeld außerhalb des Denkens und somit außerhalb des Begriffs bezeichnet. Diese Position aber vergißt zu erwähnen, daß die Ambition des Hegelschen Systems die der Rechtfertigung der These ist, daß keinerlei Objektivität „außerhalb des Gedankens“ existiert. Wenn Hegel eine abstrakte Äußerlichkeit der Objektivität einräumen würde, wäre sein Idealismus ein Idealismus der Subjektivität. 26 Iber: Lógica II, 5. 25

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Denkens und nicht lediglich um die Objektivität des Denkens27. Iber kritisiert diesen Übergang, da es sich um einen unzulässige metabasis eis allo genos handele, die auch in Hegels These zu erkennen sei: „Daß Verstand, Vernunft in der Welt ist, sagt dasselbe, was der Ausdruck ,objektiver Gedanke’ enthält“28. Mit anderen Worten handele es sich hier um eine Ableitung der realen Objektivität aus dem Begriff, um die These, daß „der Begriff als ontologisches Subjekt objektiv die Wirklichkeit regiert und so der eigentliche Motor der Wirklichkeit ist“29. Auf diese Weise kommt die Lehre vom Schluß der Begriffslogik auf Hegels Habilitationsthese aus dem Jahre 1801 zurück, in der es heißt: „Syllogismus est principium idealismi“ – will sagen eines „ein Idealismus, der dem Beweis Vernünftigkeit der Wirklichkeit verpflichtet ist“30. Nach Iber macht Hegel die philosophische Voraussetzung, daß die gesamte Realität auf den Begriff zurückgeführt werden kann, das heißt, daß alle Bereiche der Wirklichkeit als Systeme der Totalität oder Schlüsse verstanden werden können, wie z. B. der mechanische, chemische und teleologische Prozeß31, die Organizität des Lebens32, das Sonnensystem oder auch der Staat33. Diese Prozesse werden als schlußförmige Triaden aufgefaßt, in denen die drei Begriffe – die Einzelheit, die Allgemeinheit und die Besonderheit – die Vermittlung der Extreme strukturieren. „Allein in dieser Hinsicht macht die ontologisch interpretierte Form des Schlusses – ,alle Dinge sind ein Syllogismus’ – im allgemeinen Sinn. Hegel gebraucht bzw. mißbraucht die Denkform des Schlusses als systematische Rechtfertigung der Wirklichkeit als vernünftig“34, kritisiert Iber. 2. Vom Schluß der Notwendigkeit zum Schluß des Begriffs Für Orsini fällt der Übergang von der Subjektivität zur Objektivität nicht mit dem Übergang der Logik zur Natur zusammen, da der erstere sich noch im Inneren des logischen Elements befindet35. Was den Übergang der Logik zur Natur betrifft, so handelt es sich weder um einen Übergang oder eine zeitliche Priorität, noch auch um einen Schöpfungsakt im wörtlichen Sinne eines Wesens, das das Universum aus dem Nichts erschüfe und es nach Art des Gottes der Theisten regierte. Der Schlüssel zum Verständnis des ,Übergangs‘ von der Idee zur Natur – und darüber hinaus zur 27 Dies bedeutet, die zwei Typen der Objektivität voneinander getrennt zu halten. Auf diese Art und Weise, mit der Unterscheidung zwischen Sein und Denken im Hinterkopf, kommt man auf jenen Gesichtspunkt zurück, den Hegel zu überwinden vorgibt. 28 Hegel: Enz. § 24 Anm. 29 Cf. Iber: Lógica II, 5. 30 Ebd. 31 Hegel: Enz. § 198. 32 Hegel: Enz. § 342, Zusatz. 33 Hegel: Enz. § 198. 34 Eig. Übersetz. nach Iber: Lógica II, 5. 35 Orsini: Teoria, 246 – 251.

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Einsicht in die Grenze der Vorstellung vom ,Übergang‘ – wird eben durch jene drei Syllogismen der Philosophie geliefert. Am Ende der Vorstellung seines Buches über die Hegelsche Theorie des Schlusses erläutert Orsini zwei Hypothesen bezüglich des „Schlusses des Begriffs“36. Ihm zufolge ist der Schluß des Begriffs im Schluß der „Subjektivität“ noch nicht realisiert worden. Um die Gründe dieses Mangels zu klären, rekonstruiert er die Meinungen Schäfers und Fusellis. Für Schäfer besteht ein Unterschied zwischen dem konkreten Allgemeinen des Schlusses der Notwendigkeit und jenem der absoluten Idee. Im konkreten Allgemeinen besteht die Idee ausschließlich im erfüllten Mittelbegriff, wohingegen „sich das konkrete Allgemeine im dialektischen Schluß der absoluten Idee in sämtlichen Termen als Totalität der Begriffsbestimmungen konfiguriert“37. Dies bedeutet, daß in der absoluten Idee nicht mehr ein erfüllter Mittelbegriff vorhanden wäre, sondern stattdessen eine dreifache Konfiguration gemäß den Begriffsbestimmungen (Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit), in welchen er in jedem der entsprechenden Terme des Schlusses variieren könne. Der Unterschied zwischen dem Schluß der Notwendigkeit und dem Begriff, der zuletzt die absolute Idee wäre, ist, daß die Vermittlung im ersten Fall weiterhin aus abstrakten Momenten und derene Zusammensetzung erfolgte ist, während im zweiten Fall sämtliche Momente der Vermittlung von vornherein konkret sind38. Die Untersuchung Fusellis weist darauf hin, daß im Objektivitätskapitel der Wissenschaft der Logik syllogistische Strukturen entstehen, die nicht auf die zehn Figuren des Schlusses im Sinne der subjektiven Logik reduzierbar sind. Für den Autor aktualisieren die drei Schlüsse, die sich in der Idee der Philosophie in den letzten drei Paragraphen der Enzyklopädie von 1830 (§§ 575 – 577) finden, den sich artikulierten Begriff von Idee – Natur – Geist. Diese drei Schlüsse überwinden die Figuren die Schlußarten aus der Begriffslogik39. Auf Grundlage der Ergebnisse Schäfers und Fusellis schlußfolgert Orsini zuletzt, daß „die Funktion eines idealen „Begriffsschlusses“ diejenige eines Grenzbegriffs hinsichtlich der Schlußlehre dahingehend sei, daß so klargestellt werde, daß diese nicht das ganze Denken Hegels in Beziehung auf den Schluß ausschöpft“40. Für McTaggart ist der Übergang des Logischen in das Objektive bei Hegel Ausdruck dafür, daß die absolute Idee oder das Denken nicht sich selbst genügend sei, da es einer Idee des Lebens und des Erkennens bedarf, um zur eigenen Einheit zu gelangen. McTaggart verteidigt Hegels Position, insofern dieser nicht zwischen Unmittelbarem und Gedanken unterscheidet, da jeder Gedanken zugleich Vermittlung ist bzw. der Gedanke, sobald er unmittelbar wird, eines Objekts bedarf, das er nur von außen erhalten kann. Wenn er den Übergang der Logik zur Natur behandelt, 36

Orsini: Teoria, 20 – 22. Eig. Übersetz. nach Iber: Lógica II, 20. 38 Iber: Lógica II, 21. 39 Iber: Lógica II, 21. 40 Iber: Lógica II, 21 – 22.

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erklärt McTaggart, daß der Geist, insofern dieser das Ziel des dialektischen Prozesses ausmacht, zugleich dessen logisches Fundament ist. Der Schluß Logik – Natur – Geist verdeutlicht, daß das erkannte Resultat selbst jene Grundlage ist, die von Beginn des dialektischen Prozesses an präsent ist. Entsprechend widerspricht McTaggart auch jenen, die der „Dialektik einen ontologischen Wert zu verleihen wollen, wonach [Hegel] beansprucht habe, sämtliche Erfahrungstatsachen aus der Natur des reinen Denkens habe entnehmen wollen“; vielmehr sind für Hegel „die Folgerungen nicht ausschließlich von ihren Prämissen abhängig […], sondern auch von der Konklusion, die von Beginn an implizit gegenwärtig gewesen“ sei41. Wir haben es hier mit unterschiedlichen Meinungen hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Denken und der Objektivität bei Hegel zu tun. In unserer eigenen Untersuchung der Schlußlehre von einem onto-epistemologischen Ansatz aus verstehen wir, daß der Schluß zugleich der Erkenntnis wie auch Grundlegung der Objektivität dient. Im Blick auf diese Position fügen wir hinsichtlich des Übergangs der Logik zur Objektivität zuletzt zwei Momente des Diskurses an, die als Strukturen in der Hegelschen Logik auftreten. Auf einer ersten Stufe, der der Logik, entfalten sich die logischen Begriffe in einer auto-produktiven Genesis, sie werden auseinander deduziert. Auf einer zweiten Stufe verlieren die Begriffe ihren reinen Charakter und bestimmen sich dadurch, daß sie einander gegenübertreten und ein kategoriales Netzwerk ausbilden, in dem sich die Realphilosophie artikuliert. Aus dieser zweiten Perspektive heraus findet der Übergang von der Logik zur Objektivität in der Überwindung des Widerstands statt, den die Erfahrungsgegenstände der Anstrengung des Begriffs zu ihrer begrifflichen entgegensetzen. Dies bedeutet zugleich eine Erklärung der zugrundliegenden Prinzipien, die sowohl die objektive Konstitution als auch die subjektive Erkenntnis offensichtlich dem Denken entgegengesetzter Objekte strukturieren. In dieser Perspektive erschließt sich die Hegelsche Philosophie als Projekt einer begrifflichen Übersetzung der Realität durch eine schlußlogische Vermittlung, und dies sowohl in einem epistemologischen als auch in einem ontologischen Sinne42.

Literatur Bavaresco, A.; Costa, Danilo Vaz-Curado: „Transição da lógica à filosofia real em Hegel“, in: Cognitio 15,2 (2014), 243 – 256. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik, in: Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe, Redaktion vom E. Moldenhauer und K. Michel. Band 8. Frankfurt am Main, 1969 ff. 41 McTaggart, John Ellis: „Do verdadeiro sentido da dialética de Hegel. Tradução de Danilo Vaz Curado Ribeiro de Menezes Costa“, in: Problemata: Revista Internacional de Filosofia 4,1 (2013), 332. 42 Agemir Bavaresco / Danilo Costa Vaz-Curado: „Transição da lógica à filosofia real em Hegel“, in: Cognitio 15,2 (2014), 254.

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Hegel, G. W. F.: Enciclopédia das Ciências Filosóficas – em compêndio (1830). Vol. I – A Ciência da Lógica, tradução de Paulo Meneses, São Paulo 1995. Iber, Christian: Seminário a Lógica do Conceito de Hegel: A doutrina hegeliana do conceito, do juízo e do silogismo II. Porto Alegre. Iber, Christian: Seminário a Lógica do Conceito de Hegel: A doutrina hegeliana do conceito, do juízo e do silogismo II. Resumo: C. O silogismo da necessidade. a. O silogismo categórico, Porto Alegre. Iber, Christian: „Conceito, juízo e silogismo: Introdução à lógica do conceito de Hegel“, in: Revista Opinião Filosófica 03,02 (2012), 4 – 16. Jarcyk, Gwendoline: Système et Liberté dans la Logique de Hegel, Paris 1980. McTaggart, John Ellis: „Do verdadeiro sentido da dialética de Hegel“, tradução de Danilo Vaz Curado Ribeiro de Menezes Costa, in: Problemata: Revista Internacional de Filosofia 4,1 (2013), 315 – 333; siehe auch: http://dx.doi.org/10.7443/. Orsini, Federico: A Teoria Hegeliana do Silogismo, Tradução e Comentário, Porto Alegre 2016.

Die schlußlogische Einheit der Philosophie. Zu Hegels spekulativ-enzyklopädischer Syllogistik Pedro Sepúlveda Zambrano (Valparaíso) Wenn Hegels Denkweg in seiner Gesamtheit betrachtet wird, ist es möglich, in ihm zwei große Entwicklungsphasen zu unterscheiden, die sich ihrem Inhalt und ihrer Darstellungsform nach durch unterschiedliche Einteilungen, Formen der Vermittlung und innere Übergänge voneinander unterscheiden. Eine solche Gedankentotalität manifestiert jeweils einen spekulativ-enzyklopädischen Sinn, aus dem sich auch ihre Entwicklungslogik ergibt, bis sie sich zuletzt als konkreter Ausdruck der Idee zu erkennen gibt. Diese Gedankentotalität zeigte sich in der ersten Phase des Hegelschen Denkens in einer vorenzyklopädischen Weise, um im Laufe der Vertiefung dieses Denkweges schließlich in eine enzyklopädische Phase zu münden. Dadurch wurde eine umfassende Neugründung der Philosophie im Sinne eines umfassenden Zusammenschließens des Logischen, des Natürlichen und des Geistigen vollzogen, deren letzte Form als absoluter Geist entfaltet werden wird. Das Programm einer Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften erfüllt in diesem Sinne die Funktion eines universalen Horizonts, der den gesamten Inhalt jenes Denkweges in sich selbst enthält, und auf diese Weise werden Hegels vormalige Bemühungen im Modus eines „Systems der Idee“ als Totalität der drei wissenschaftlichen Systeme integriert. Sie wurden auf jenem Weg zu ihrer letztgültigen Form geführt, d. h. in die Form der drei großen „Systeme der enzyklopädischen Wissenschaften“ – das System der Logik, der Natur und des Geistes – übersetzt. Im Kontext dieser fundamentalen Struktur konstituiert sich dann auch der Begriff des absoluten Geistes auf dem Höhepunkt bzw. in der letzten „schlußlogischen Einheit“ der Entfaltung der Idee und daher in dem mächtigsten Moment der Selbstbestimmung des Ganzen überhaupt. Das Verständnis dieses Hauptgedankens in spekulativer Hinsicht erfordert freilich, jede der übrigen Teilungen der Enzyklopädie als „fließende Momente“ begreifen zu können. Die Antwort auf diese Herausforderung lag tatsächlich in nichts anderem als wiederum in der Natur des spekulativen Denkens bzw. in der Herstellung einer absoluten Form für einen ebenso absoluten Inhalt. Das Denken als absolute Form ist im Sinne Hegels ein unendliches Denken, da es sich selbst wie auch den Inhalt bestimmt. Auf diese Weise erscheinen nun die Fragen, wie und in welcher Form der Begriff des unendlichen Denkens zum Leitmotiv von Hegels Philosophie werden konnte und insbesondere, welchen Denkweg

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Hegel genommen hat, um zu einer schlußlogischen Konzeption der Philosophie zu gelangen, in der die Idee der Philosophie die letzte Bestimmung des absoluten Geistes und dieser Geist die definitive schlußlogische Einheit des enzyklopädischen Wissens sein wird. Die Beantwortung dieser Frage sollte sich aus den Hauptformationen jener syllogistischen Konzeption innerhalb der enzyklopädischen Denkphase ergeben. I. Die Entstehung des Geistes Die enzyklopädisch-spekulative Denkphase Hegels beginnt um 1800. Hegel war somit die Hälfte seines Lebens auf der Suche nach dem „System der Wissenschaft“1. Diese Zeit zeigt zunächst auf, daß das, was am Anfang stand, bloße Grundsätze waren, danach unvollendete Fragmente und schließlich Essays über die verschiedenen Systemformen. Diese Suche führte dann zu der Idee eines Systems der Wissenschaft als geistigem Überblick im Zeichen der Notwendigkeit einer ständigen Aktualisierung und Systematisierung. Die Aufgabenstellung dieses Beitrags setzt also mit der Zeit ein, in der „das Ideal des Jünglingsalters“ sich in den Modus der systematisch-logischen Spekulation verwandelt. Innerhalb dieser Denkphase erschienen die drei Jenaer Systementwürfe als ein erstes systematisierendes Moment. Der junge Privatdozent vollzieht hier die erste große Vereinigung seiner früheren Arbeiten zu einem „System der spekulativen Philosophie“, in dem sich schon die ersten Skizzen jener Inhalte finden, die das projektierte System enthalten wird2. Alle diese Inhalte erlangen hier die spekulative Form, indem sie in das bewegliche Kontinuum des wirklichen Erkennens eintreten. Im Prinzip enthält ein solches Erkennen den Charakter einer „absoluten Einheit“ innerhalb der fließenden Momente des Begriffs, und dennoch ist es hier wichtig, daß die spezifische Form der besagten Momente schon den Begriff des Geistes als spekulatives Vorbild hat. Der Geist tritt zunächst einmal als das Eine der Einzelheit und der Vielheit auf, das sich durch sich selbst als „lebendige[r] Geist des Volkes“ realisiert bzw. als die „absolute[] Totalität“, die in sich beide Seiten des EinzelnenAllgemeinen-Gegensatzes zusammenschließt3. Die Allgemeinheit manifestiert sich nun als das Einzelne und nimmt darum die Form des Bewußtseins oder der ersten Existenz des Geistes an. Diese Existenz wird sich als ein aus dem Volksgeiste geborenes Moment erkennen, wenn sich jenes Moment auch von solchem Geiste befreit, um sich später mit ihm wieder zu vereinigen. So wird der Unterschied zwischen beiden in sich aufgehoben werden; das Allgemeine existiert als das Be1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830) [= Enzyklopädie], Hamburg 1991, XXII f. 2 Wie Walter Jaeschke darlegt, wurde Hegels Begriff des Geistes ab „1803 kontinuierlich ausgearbeitet“, und dieser Begriff hat „das gedankliche Fundament seiner Zuwendung zur Philosophiegeschichte“ angeboten. Vgl. Walter Jaeschke: Hegel Handbuch. Leben – Werk – Schule [= Handbuch], Stuttgart/Weimar 2010, 478. 3 G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke [= GW], Bd. 6, 270 – 271.

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wußtsein, und insoweit partizipiert das Bewußtsein zugleich an dem Allgemeinen als dem manifestierenden Wissen. Schon in dieser Zeit betrachtet Hegel die Logik als „de[n] erste[n] Theil der Philosophie“, und am Ende ihrer Darstellung offenbart sie sich als die Systematisierung des „Geist[s] als Idee“4. Dies impliziert auch die Idee einer logischen Entfaltung, die sich von der abstrakten Identität bis hin zur „absoluten Substanz“ der Idee entwickelt. Diese Idee aber, sofern sie „das absolute Seyn, der Äther“ ist, eröffnet sodann die Sphäre der Naturphilosophie, sie trennt sich absolut von sich selbst, sie wird so „das Einsseyn“, welches als „das Verborgene“ zugrunde gegangen ist. Die Idee formiert sich nun als die „Einzelheit“ des „numerische[n] Eins“, worin das Verborgene im Geiste als das lebendige Zurücknehmen seiner selbst entsteht. Diese wesentliche Dynamik der Systemteile, in welcher die Idee in der Natur zerfällt, aber im Geiste die absolute reelle Einheit ist, wird Hegel bis zum Ende seines Philosophierens hin beibehalten. Im Zweiten Systementwurf taucht der Begriff des absoluten Geistes zum ersten Mal auf, obwohl er sich hier mit dem Begriff der absoluten Idee noch fusioniert findet – beide sind hier zugleich die letzte Selbstbestimmung des Logischen. Aber trotzdem ist es immer noch möglich, eine Reihe von Details in diesem Text zu entdecken, die das spätere Verhältnis beider Begriffe zu erklären erlaubt. Einerseits wurde der absolute Geist nur als die Beziehung konzipiert, welche sich zu dem Anderen unter dem Modus einer „differente[n] Einheit“ verhalte, bzw. als eine kontinuierliche Entfaltung, die als Totalität einheitlich ist, sich aber simultan auch als Selbstdifferenzierung bewegt. Diese Bewegung einer unterscheidenden Vereinigung ist das Wissen überhaupt, deren bestimmteste Form die Idee genannt worden ist5. Solches Wissen erfordert eine divergente Verknüpfung des Selbsts und des Anderen, die den Charakter einer konkreten – nicht figurativen – Beziehung zwischen beiden aufhebt. Insoweit wird sich der Geist als derjenige aufzeigen, der das Andere seiner selbst wirklich erkennen kann, und dadurch werden die verschiedenen Modi des Geistes in ihrer „allgemeinen Einheit“ bestimmt werden. In den Beilagen des siebten Bandes von Hegels Gesammelten Werken gibt es noch ein bemerkenswertes Dokument, um die Systemkonzeption dieser Zeit richtig zu verstehen. Die sogenannten Zwei Anmerkungen zum System beweisen, daß die Philosophie bei Hegel in dieser Zeit wesentlich als „Metaphysik“ gilt, welche von der Logik noch getrennt bleibt. Die erste „Anmerkung“ etabliert zusammengefaßt die folgende These: Die Organisation der Philosophie als System besteht darin, daß sie „selbst nichts als der Ausdruck dieser ihrer Idee“ sei6. Der erste Satz, der die Idee der Philosophie begründet, ist also, daß der Anfang des Systems in dem Inhalt der Idee selbst gemacht werden müsse. Nur so kann die Philosophie „das absolute Erkennen“ sein, wodurch sie und ihr Objekt nicht mehr von einem Dritten abhän4

Ebd. 268. Hegel: GW 7, 169 – 173. 6 Ebd. 343.

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gen, sondern das Erkennen und das Objekt sind nun Momente des absolut Einen. Damit stellt die Idee der Philosophie ihren eigenen anfänglichen „Schein“ dar, und durch ihre Entwicklung beweist sie sodann, daß sie selbst am Anfang wie auch am Ende ihres Wissensweges „ein und dasselbe“ ist7. Eine solche Idee ist dann die des absoluten Erkennens, das anfänglich seine eigene Trennung zwischen Schein und Wesen darlegt und das in seiner Entfaltung aufgehoben wird. Durch diese Aufhebung „des einen durch den andern“ wird die Idee in sich selbst vollkommen sein. Mit der Etablierung dieses Aufhebungsmodus der Idee fängt die zweite Anmerkung an, und mit ihr erscheint zugleich eines der Grundmotive des Hegelschen Denkens als solches, nämlich, daß die Philosophie in sich dartun muß, was das Letzte genauso wie das Erste ihrer Entwicklung ist oder, was dasselbe ist, sie stellt die Überwindung der philosophischen Form der „Trennung“ zwischen dem Erkennen und dem Objekte dar. In diesem Punkt spricht Hegel wörtlich über den Geist als „absolute[n] Geist“8, und dieser Begriff des Geistes wird nun als die Formel der Aufhebung der Kantischen Philosophie und ihrer wiederhergestellten Trennung gelten. Der absolute Geist ist also das wirkliche Überwinden der Fixierung des Getrennten und der Vorstellung, die das Unbewegte hypostasiert hat. Die Idee der Philosophie bei Hegel wird somit die Vernichtung jener Trennung sein, und in diesem Vernichten werden das Erkennen wie auch das Objekt des Erkennens – sowie die Form und der Inhalt – dasselbe sein. Eine solche Überwindung impliziert im Grunde genommen, wie Hegel es hier erklärt, daß zunächst „der Gegensatz die Einheit selbst ist“ und wir selbst „die Einheit als Gegensatz setzen“. Das absolute Erkennen der Philosophie ist demzufolge das lebendige Bedürfnis des „Setzen[s] des Gegensatzes als Einheit“ zu begründen, deren erste Aufgabe nichts mehr als das Aufheben des Unterschieds des Erkennens und des Objekts ist9. Der dritte Systementwurf wurde parallel mit der Phänomenologie des Geistes geschrieben. Dies impliziert, daß der Anfang und das Ende des projizierten Systems gleichzeitig verfaßt wurden. Endlich ist es hier möglich über die Beziehung zwischen der Freiheit und dem systematischen Wissen als der „absoluten Negativität“ von beiden nachzudenken. Der Geist ist nun die Vereinigung des Wissens und des Seins als „Intelligenz“10, und darum ist das Allgemeine das in sich selbst Negative, das die Einzelheit schlechthin hervorbringt. Das Negative ist also das Hauptattribut des logischen Wissens, deren Freiheit in dieser konkret-allgemeinen Bewegung liegt, die den Isolationszustand der lokalen Unterschiede auflöst. In diesem Sinne ist das logische Wissen die befreiende Einheit der Teile – als Teile des Ganzen. Das logische Erkennen ist deshalb als die sich selbst als Begriff und Realität diffe7

„die Philosophie enthält wesentlich nur Eine Idee“. Ebd. 344. „daß der Geist des Subjects, des Menschen, als Geist der absolute Geist ist“. Ebd. 345. 9 Ebd. 346. 10 Vgl. dazu die Definition der Intelligenz als „u n m i t t e l b a r e Vereinigung des Seyns, und des Sehens“ in dem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre bei Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften [= GA], Bd. I,4, 196. 8

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renziernde Macht zu definieren, indem der Begriff den Unterschied zwischen beiden überwindet, womit er sich zur lebendigen Totalität konkretisiert, in der die Freiheit des Logischen als die Aufhebung der isolierten Endlichkeit zur Geltung bringt. Darum erfüllt die Idee nun eine Identitätsfunktion, welche als die freieste Macht der Selbstbestimmung betrachtet werden kann. Das Wissen erreicht hier zum ersten Mal die Formel der Dreifachheit des Erkennens des absoluten Geistes – als die Anschauung der Kunst, die Vorstellung der Religion und der Begriff der Philosophie11. In der Kunst wird die Identifizierung des Wissens und der Wahrheit unmittelbar sein, und deswegen ermangelt sie noch einer gemeinen Beziehung des Einzelnen mit dem Allgemeinen, um Gottes Selbstbewußtsein zu sein. Die Erfüllung einer solchen gemeinen und internen Beziehung zwischen beiden kann aber erst als das Werk der „geoffenbarten Religion“ gelten. Deren vorgestelltes Wissen kann jedoch wiederum nur als ein gewisser „Vertreter“ der unendlichen Einheit des absoluten Geistes betrachtet werden. Die wahre Darstellung seiner Selbsteinsicht wird einzig und allein in „der geduldigen Arbeit des Begriffs“ zu finden sein. Ausschließlich in der spekulativen Philosophie entfaltet sich das höchste Zusammenschließen des enzyklopädischen Wissens als die syllogistische Tätigkeit der Hauptmomente des Systems der Wissenschaft12. Damit wurde es auch möglich, mit der Darstellung des projektierten Systems zu beginnen; deren sogenannter „Erster Teil“ erschien dort zunächst als die Konzeption des Weges des Wissens, der zur höchsten Manifestation des Geistes und insoweit zur Gestaltung eines absoluten Wissens führt. II. Vom absoluten Wissen zum spekulativen Anfang des Systems Die Struktur des absoluten Geistes wurde im Jahre 1806/07 in phänomenologischer Gestalt zur Darstellung gebracht. Das Wissen des Geistes entspricht hier der Reihe von Gestaltungen des Bewußtseins, die jenes Wissen als das Absolute leitet. In der letzten dieser Gestaltungen hatte die phänomenologische Wissenschaft die einleitende Aufgabe, den Leser mit dem spekulativen Denken vertraut zu machen. Auf dieser Basis wird es ersichtlich, daß die Phänomenologie von ihrem Ende aus geschrieben worden ist, bzw. als der Verfasser die spekulativ-syllogistische Konzeption seines Systems schon vor Augen hatte. Spekulatives Denken setzt zuerst die Auflösung des Anfang-Ende-Gegensatzes des Systems voraus, somit wird es auch 11

Vgl. Dieter Henrich: „Absoluter Geist und Logik des Endlichen“, in: Hegel-Studien, Bd. 20, Bonn 1980, 103 – 118. 12 Hegel: GW 8, 286. Vgl. dazu das Ziel der spekulativen Philosophie als Darstellung der Subjektivität, d. h. als „Wissen des Geistes von sich“, und die „spekulativ-syllogistische“ Bedeutung der Subjektivität als Entfaltung des Begriffs in seine Bestimmungen und die Rückkehr zu seiner selbstbezüglichen Einheit“ bei Klaus Düsing: „Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik“ [= Syllogistik], in: D. Henrich (Hg.): Hegels Wissenschaft der Logik. Formation und Rekonstruktion, Bd. 16, Internationale Hegel-Vereinigung, Stuttgart 1986, 15 – 38, 20.

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plausibel, daß ein Moment der Darstellung zugleich Anfang und Ergebnis sein kann – dies Moment ist selbst ein Resultat der phänomenologischen Abhandlung und geschieht nur, wenn die Formen des sich selbst erscheinenden Geistes als Totalität rekonstruiert worden sind. Die Phänomenologie als einleitendes Werk handelt von einer geschichtlichen Synopse, welche die Aufhebung des entzweienden Wissens des Bewußtseins erzählt und deren Schluß die Erreichung der Wahrheit im spekulativen Sinne ist. Die Bedeutung der Wahrheit als Totalität besteht hier darin, daß die spekulative Identifizierung nur am Ende des Prozesses der Gestaltung des Bewußtseins erscheinen kann. Die bestimmte Form dieses Resultats ist die Totalisierung, die den spekulativ-logischen Sinn des vorbestimmten Weges ergibt. Am Ende der Darstellung konstituiert der Fortgang des spekulativen Wissens des Geistes selbst das Absolute – das spekulative Bewußtsein macht den Anfang der logischen Darstellung des Systems aus. Einerseits besitzt diese Erläuterung eine Form, die mit dem substantiellen Inhalt übereinstimmt, andererseits betrachtet sie die Unterschiede des Inhalts als Bestimmungen der negativen Einheit der Idee selbst, deren höchste systematische Form die des absoluten Geistes sein wird. Das bedeutet, daß sich diese begriffliche Entfaltung als die unendliche Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins bzw. als „Geist“ darstellt13. Am Ende der phänomenologischen Darstellung erreichen wir dann diesen Standpunkt der umfassenden Einheit des Ganzen und die sich damit ergebende Notwendigkeit dieses Ganzen – das System der Totalitätswissenschaften – begrifflich zu betrachten. Genauso erlangen wir hier auch die Idee, daß jene Totalität, die Wahrheit und auch die Freiheit ebenfalls nur als spekulative Totalität oder jenseits von allem verständigen Gegensatz betrachtet werden können. Das Bewußtsein begreift dabei die Notwendigkeit, sich selbst aufzulösen, darüber hinaus muß es über sich selbst hinausgehen, um den Begriff der Wissenschaft erreichen zu können. Auf diesem Wege realisiert sich eine spekulative Totalität über das Bewußtsein, die nur so zu ihrer absoluten Wahrheit gelangt14. Das absolute Wissen ist folglich eine Gestalt des Wissens, die nicht eigentlich in die Sphäre des Bewußtseins gehört, sondern in die des Geistes, wobei dieses Bewußtsein freilich die Existenz jenes Geistes ist, der nun „an und für sich“ betrachtet werden muß. Das bedeutet, daß sich diese begriffliche Betrachtung nicht nur in bezug auf ein jenseits von ihm gesetztes Objekt realisiert, sondern sie stellt sich als die spekulative Subjekt-Objekt-Einheit dar. Diese unendliche Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins ist der „Begriff des Geistes“ oder die Vernunft in spekulativer Hinsicht. Sofern sich der Geist im Fremden erkennt, wird darin die systematisch konkreteste Einheit des Wissens hervorgebracht. Der Begriff einer spekulativen Idee entwickelt sich so zum substantiellen Inhalt des Geistes und 13

Hegel: Phänomenologie des Geistes [= Phänomenologie], Hamburg 1988, 528 – 529. In diesem Sinne hält Hegel Reinholds Lektüre von Kants Philosophie, durch welche diese „als eine Theorie des Bewußtseins, [die] unter dem Namen Vorstellungsvermögen[s], aufgefaßt worden ist“, für richtig. Vgl. Hegel: Enzyklopädie, 345. 14

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damit zu der prinzipiellen Grundlage aller enzyklopädischen Philosophie15. Kurz gesagt geht es hier darum, daß die Vernunft als die unendlich objektivierende Macht und deshalb auch als „absolute Freiheit“ zu betrachten ist. Das „Ziel des Geistes“ liegt darin, daß er seine eigene Existenz in dieser Freiheit der unendlichen Vernunft vollzieht und somit seine „objektive Erfüllung“ herstellt16. Das Vorankommen des Geistes ist daher zuerst der Fortschritt seines eigenen Wissens, und dieses sich entwickelnde Wissen hat dementsprechend das Vernünftige als tiefe „Gehalte und Zweck[e]“. Eine solche geistige Vertiefung des Wissens geschieht aber nur in einer negativen Art und Weise, d. h. durch die Aufhebung innerhalb des unmittelbar erscheinenden Ersten – des sinnlichen Wissens. Diese Vergeistigung des Wissens besteht aus einem kontinuierlichen Überwinden der getrennten Erscheinung, oder, was dasselbe ist, durch dieses progressive Wissen erreicht der Geist seine Erfüllung in der Einheit des Selbsts und der Erscheinung, und insoweit kann er sich selbst als das Absolute bzw. als das „Sich-Begreifen“ in der „Freiheit seines Wissens“ annehmen. Das Wissen der Idee ist zuletzt das Wissen vom Geiste, und mithin erläutert diese Wissenschaft das spekulative Wissen als ein Sich-zusammen-Schließen, das sich als eine interne Lebendigkeit des Geistes erfährt. Die negativ-unendliche Einheit der Idee ist also die über sich selbst hinausgehende absolute Tiefe, die sich in das Andere seiner selbst entläßt – d.i. in die Natur. Und aus diesem Anderen, indem sie „Eins-mit-ihm“ gewesen ist, kehrt sie zurück und vertieft sich in diesem Sinne unendlich. Das Systematische in spekulativ-enzyklopädischer Hinsicht stellt darum die lebendige Totalität wieder her und begreift sowohl ihre Unterschiede als auch ihre Vereinigungen als eine Reihe immanenter Beziehungen, welche die Ausdehnung und die absolute Intensität der Idee umfaßt. Auf diese Weise fängt das spekulative Zentrum der enzyklopädischen Darstellung an. Der höchste Modus dieser Darstellung findet sich im absoluten Geiste, dessen letzte schlußlogische Einheit bzw. freieste Sphäre des Erkennens die spekulative Philosophie ist. Auf dem hier rekapitulierten Wege ist die phänomenologische Entwicklung an den Eingang zum System der Wissenschaft gelangt. In der Vorrede der Phänomenologie finden sich Hegels Hinweise, die es erlauben, die spekulative Konzeption des neuen Anfangs richtig zu verstehen. Da es um die „philosophische Wahrheit“ geht, hat Hegel darauf geachtet, daß sie sich nur als begrifflicher Fortgang einer Selbst-Entfaltung der Allgemeinheit erfassen kann, welche sich in sich selbst mit der Besonderheit vereinigt. Die philosophische Wissenschaft existiert darum „wesentlich im Element der Allgemeinheit“17, welche sich in der Sphäre der Geschichte als die „Verschiedenheit philosophischer Systeme“ darlegt. Die systematische 15

Diese Definition der Idee als wahrer Inhalt des Geistes erscheint deutlich in dem zweiten Vorwort der Enzyklopädie: „Das Fundament der wissenschaftlichen Erkenntnis ist der innere Gehalt, die inwohnende Idee und deren im Geiste rege Lebendigkeit“. Ebd. 12. 16 Ebd. 356. 17 Hegel: Phänomenologie, 3.

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Strukturierung der Philosophie ist als das begriffliche „Sich-Herausarbeiten“ des Logos zu betrachten, und somit fand der Eintritt in den „Ernst des Begriffs“ statt18. Die Idee, ein spekulatives System der Totalitätswissenschaften darzustellen, bedeutet also nicht zuletzt, daß die Wahrheit selbst nur durch die rigorose Arbeit des „unterscheidenden Begriff[s]“ erreichbar ist. Diese Arbeit ist selbst nichts anderes als das Produkt der ausführlichen Darstellung der Idee der Philosophie in sich selbst. Die Herausforderung dabei ist das Thema der Bildung des Geistes, und deshalb betrachtet Hegel die Wissenschaft als „die Krone einer Welt des Geistes“, die nicht vollendet sein könne, wenn man nur erst am Anfang dieser neuen Welt stehe. Das projektierte System der Wissenschaft wurde folglich als die begriffliche Darlegung des „aus sich springende[n] Reichtum[s] und sich selbst bestimmende[n] Unterschied[s] der Gestalten“ erfaßt. Hegel begreift hier diese Aufhebung des philosophischen Formalismus als „das Erkennen der absoluten Wirklichkeit“19. „Der Phänomenologe des Geistes“ erhält dabei eine vollständige begriffliche Erkenntnis der Substanz als Subjekt bzw. als das bestimmte Wissen der absoluten Vielfalt der Totalität. Das letzte reale Resultat dieser Erkenntnis ist der Geist in der Weltgeschichte, und die höchste Selbstbestimmung der Totalität wird die Idee der Philosophie als solche sein. Aber die erste spekulativ-logische Bedeutung jenes Subjekts ist bei Hegel nichts anderes als der Begriff selbst. III. Begriff und Urteil Da Hegels Gedanke einer subjektiven Logik den Name der „Lehre vom Begriffe“ bekommen hat, kann man freilich sagen, daß eine vollständige Lehre vom Begriff vor allem den Sinn eines Systems des Subjektiven – als eine Lehre der „Denkformen, in denen uns die Welt erschlossen ist“20 – enthält. Die Subjektivierung des überlieferten logischen Wissens impliziert dann eine Gestalt geistiger Belebung „toter Stoffe“, um das Ziel des Begriffssystems – das wirkliche Erkennen der Wahrheit – zu erreichen. Wenn aber die Wahrheit als die absolute Entfaltung des Subjekts oder des ganzen Begriffs erkannt werden muß, ist dieser folglich auch die Entwicklung des Einen in den Vielen, oder vielmehr ist er „jene absolute Allgemeinheit, die ebenso unmittelbar absolute Vereinzelung ist“21. Eine Logik der Wahrheit hat also den letzten Sinn einer Begriffslogik, insofern der Begriff „die innere Reflexion der Sache“ selbst ist oder, was dann dasselbe ist, die Wahrheit nun die Bedeutung der „Übereinstimmung der objektiven Bestimmtheit mit dem Be-

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Ebd. 6. Ebd. 13. 20 Thomas Sören Hoffmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik [= Propädeutik], Wiesbaden 2012, 359. 21 Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff (1816) [= Lehre vom Begriff], Hamburg 2003, 13. 19

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griff“ einbezieht22. Der Begriff kann deshalb auch als die wahre Identität des Ganzen verstanden werden, insofern er das zusammenschließende Resultat des sich entfaltenden Logos geworden ist; ein solcher Begriff erhebt sich darum selbst in die Idee und somit wird er zur „absolute[n] Form“ bzw. zur „Einheit des Begriffs [selbst] und der Realität“23. Der Begriff klaubt aus der Realität buchstäblich das Wesentliche heraus und drückt es als seine eigenen Bestimmungen aus, indem die Realität selbst als die Totalität der „unterschiedene[n] Bestimmungen“ des Begriffs aufgefaßt wird. Es geht dabei um eine Wissenschaft jener absoluten Form, welche „die Totalität aller Bestimmungen“ des Begriffs behandeln kann24. Dieser Begriff muß als der wahre Begriff der Vernunft erfaßt werden, als „sich durch sich selbst bestimmender Inhalt“ oder, wie Thomas Sören Hoffmann darlegt, als das „Sichmit-sich-Identifizieren“, welches auch ein Sich-von-sich-Differenzieren sein muß25. Diese „selbstbezügliche Einheit“ des Begreifens erkennt sich schließlich als der wahre Geist aller Wirklichkeit. In diesem Sinne hat Hegel die Bestimmungen als Momente des Begriffs – und diese Momente wiederum als „lebendige Bewegungen“ – angesprochen. Das erste Moment des Begriffs ist folglich die „Bewegung des Allgemeinen“, d. h. „die absolute Identität mit sich selbst, […] die unendliche Einheit der Negativität mit sich selbst“26. Insoweit ist das Allgemeine zugleich die sich durch das Negative setzende Beziehung des Begriffs mit sich selbst, oder genauer ausgedrückt, es ist das Einfache, das durch die absolute Negativität zugleich das Reichste ist, insofern dieser allgemeine Begriff „den höchsten Unterschied und Bestimmtheit in sich“ enthält. Der allgemeine Begriff definiert sich nun als die absolute Identität, die dennoch auch seiende Identität ist. Insoweit ist er „das Formierende“, das die Bestimmungen in sich – wie Hegel gern sagt – aufgehoben hat und den Schein damit als Erscheinung des Einen offenbart. Das Hegelsche Allgemeine kann darum „die freie Macht […und] die freie Liebe“ heißen, da es sich selbst schöpferisch bestimmt und sich zu den Differenten wie darin zugleich zu sich selbst verhält. Diese kontinuierliche Selbstdifferenzierung des Begriffs ist die „negative Einheit“ des wahrhaftlebendigen Allgemeinen, d. h. „das reine Selbst der Sache“ oder „die absolute Negativität“27. Da aber das Allgemeine die Totalität des Begriffes in seiner Selbstunterscheidung ist, wird es „unmittelbar ebensosehr Besonderheit als Einzelheit in sich“ sein28. Als diese „schöpferische Macht“ ist der allgemeine Begriff das Unterscheiden als solches, oder vielmehr das „Setzen der Unterschiede selbst“ und darum das Schaffen des Unterscheidens aus sich selbst als das Besondere. 22

Hoffmann: Propädeutik, 361. Hegel: Lehre vom Begriff, 17. 24 Ebd. 52. 25 Hoffmann: Propädeutik, 363. 26 Hegel: Lehre vom Begriff, 33 f. Vgl. Enzyklopädie, § 163. 27 Hoffmann: Propädeutik, 368. 28 Hegel: Lehre vom Begriff, 37. Vgl. Enzyklopädie, § 164.

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Das Besondere ist der bestimmte Begriff, welcher das Allgemeine in sich enthält und sich (und dieses) „durch seine Bestimmtheit“ darstellt. Das Besondere ist demgemäß zuerst die Bestimmtheit und damit auch der Unterschied des allgemeinen Begriffs selbst. Die „Besonderung“ aus dem allgemeinen Begriffe geschieht freilich als die Entlassung des Allgemeinen in alle seine Unterschiede, sofern die unterschiedenen Besonderheiten hier nicht mehr als Bestimmtheiten des Begriffs selbst gelten. Die Wahrheit aller Bestimmungen des Begriffs kann demzufolge nur „in der Einheit mit ihren anderen oder entgegengesetzten [Bestimmungen]“ konzipiert werden29. Das Besondere ist also vor allem „das eigene immanente Moment des Allgemeinen“, und insoweit bestimmt sich der allgemeine Begriff als bestimmtes Besonderes. Es handelt sich schließlich um die Idee selbst, den adäquaten Begriff, der die unterschiedenen Bestimmtheiten in sich trägt. Man kann nunmehr sagen, daß jene Bestimmtheiten jetzt immanente Momente jenes Begriffs sind, und deshalb ist hier der Begriff als solcher „das Konkrete“, d. h. die „innige Totalität“ aller Kategorien und Reflexionsbestimmungen schlechthin30. Der bestimmte bzw. besondere Begriff ist also das bestimmte Allgemeine, d.i. „die sich auf sich selbst beziehende Bestimmtheit“, welche zugleich auch die gesetzte Negativität ist. Eine solche Bestimmtheit ist aber auch das Einzelne, welches der begrifflichen Behandlungsweise nach „Individualität und Persönlichkeit“ ist31. Schließlich ist das Einzelne die „Rückkehr“ des Begriffs zu sich selbst und gleichzeitig die „ursprüngliche Teilung seiner“ selbst. Insoweit fällt der Begriff nun in dem „Außersichsein“ als Urteil auseinander. Das Urteil ist die nächste Realisierung des Begriffs als seine innere „Diremtion“ und als das Setzen des Anderen seiner selbst. Da aber diese sich als Diremtion entfaltende Einheit des Begriffs eben „die ursprüngliche Teilung des ursprünglich Einen“ ist32, findet man in der Urteilslehre noch kein vollendetes schlußlogisches Verständnis des Begriffs. Aber trotzdem ist hier zunächst das Subjekt im Verhältnis auf etwas ihm Äußeres bestimmt, und durch die Funktion des Prädikates ist es auch „für den Einfluss anderer Dinge offen“33. Dieses Eintreten des Begriffs in die Äußerlichkeit ist nichts anderes als die „Kontinuation“ des Einzelnen im Allgemeinen, welche als die freie Einheit des Begriffs – oder als Zweck des Urteils selbst – gelten kann. Auf diese Weise „monstriert“ das Urteil zuerst nur, was in dem 29

Hegel: Lehre vom Begriff, 38 – 40. Infolgedessen konnte Hegel zu dem Schluß kommen, daß dieser Begriff „nur mit dem Geiste aufgefaßt werden [kann], dessen Eigentum nicht nur, sondern dessen reines Selbst er ist“. Ebd. 52. 31 Ebd. 54 f. Das Einzelne wurde in der Propädeutik von Thomas Sören Hoffmann als „die gesetzte Einheit des Allgemeinen und des Besonderen“ – und daher auch als „die vollendete Realisierung des Allgemeinen“ – definiert. Diese Definition sollte aber zuerst als Resultat der eigenen frei-affirmierenden „Selbstdifferenzierung“ des Logos verstanden werden. Vgl. Hoffmann: Propädeutik, 372 – 373. 32 Hegel: Lehre vom Begriff, 60. Vgl. Enzyklopädie, § 166. 33 Hegel: Lehre vom Begriff, 63 f. 30

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Begriff schon anwesend war, nämlich die Identität und das Setzen jener Identität durch die Verknüpfung der Extreme des Urteils. In der ersten Form des Urteils nun ist das Subjekt kaum mehr als ein unmittelbares Einzelnes und das Prädikat lediglich ein abstraktes Allgemeines. Die drei Formen dieses daseienden Urteils sind das positive, das negative und das unendliche Urteil. Ein positives Urteil besteht zunächst darin, daß die gesetzte Beziehung noch „keine Vermittlung oder Negation“ beinhaltet, und darum sind beide Seiten auch noch abstrakte Bestimmungen34. Dieses Urteil impliziert jedoch vor allem die Vereinzelung des Allgemeinen, in der das Allgemeine sich mit dem Einzelnen zusammenschließt. Diese abstrakte Allgemeinheit ist als Prädikat eine bloße Bestimmtheit – d. h. nur „Ein Moment der Totalität“ der Bestimmtheiten. Daher schließt sich diese Bestimmtheit von den anderen Bestimmtheiten aus, und somit ist auch – die Allgemeinheit selbst – ein „Abstrakt-Einzelnes“. Durch diese „Wechselbestimmung“ des Subjekts und des Prädikats wird jenes Allgemeine, sofern es noch eine Bestimmung des Subjekts ist, zum Einzelnen übergehen, und beide vereinigen sich nun in dem Besonderen. Diese abstrakte Vereinigung hat aber noch keine innere Vermittlung erzeugt; eine solche positive Beziehung wird demzufolge ihre Wahrheit nur in der Negation seiner Unmittelbarkeit behalten. Das negative Urteil vollzieht sodann die Vermittlung der Bestimmungen, und damit ist die Beziehung keine bloß positiv-gegebene Vereinigung mehr, sondern sie ist eine Kontinuität der sich zueinander verhaltenden Extreme. Diese Bestimmung erreicht die „absolut flüssige Kontinuität des Begriffs“, und damit wird auch die Abstraktion und Äußerlichkeit des Prädikates negiert – ein Beispiel dafür ist das Urteil: „die Rose ist nicht rot“. Die Allgemeinheit, die in diesem Fall die rote Farbe ist, enthält schon die Besonderheit der Negation, und darum erscheint in dem negativen Urteil „das Vermittelnde“ als jene Negation der Bestimmungen des Einzelnen und des Allgemeinen. Das Einzelne des Subjektes besitzt nun die Besonderheit als Negation der abstrakten Bestimmtheit des Prädikates. Eine solche Negation bewegt sich aber als „unendliche Rückkehr der Einzelheit in sich selbst“, und mit jener unendlichen Rückkehr verschwindet jetzt die Beziehung des Subjekts und des Prädikats als solche. Entsprechend tritt jetzt das unendliche Urteil auf. Diese letzte Form des Daseinsurteils hat zunächst zwei Hauptgestalten – eine negative und eine positive. Die erste Hauptgestalt unterscheidet beide Extreme in einer so abstrakten Art und Weise, daß sie gar keine verständliche Beziehung mehr etablieren kann – ein Beweis dafür ist das Urteil: „der Verstand ist kein Tisch“. Die zweite Hauptform des unendlichen Urteils ist das Positive, womit die Einzelheit in sich reflektiert wird, sie ist nun als die „bestimmte Bestimmtheit“ erfaßt. Das Subjekt dieses Urteils war also am Anfang das unvermittelte Einzelne, welches hier ein gesetztes Einzelnes, sich „in sein[em] Prädikat […] kontinuierend“, geworden ist. Weil aber das Einzelne diesen Vermittlungscharakter seiner Selbstkontinuation gewonnen hat, ist das Einzelne jetzt „ein Zusammenfassen von Unterschieden“, und insoweit ist es ebenso34

Ebd. 68 f. Vgl. Enzyklopädie, § 172.

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sehr ein Allgemeines. Dieses positiv-unendliche Urteil enthält freilich immer noch keinen wirklichen Unterschied in sich selbst, weshalb das Urteil des Daseins nun durch die reflexive, d.i. nicht „unmittelbare[] oder daseiende[] Vermittlung“35, aufgehoben wird. Im Urteil der Reflexion scheint zunächst die Bestimmung des Subjektes in dem Prädikat zu sein, und dieses Erscheinen macht nun das allgemeine Prädikat zu einem Gesetzten bzw. zu einem „Sich-Zusammennehmen“ der Mannigfaltigkeit der Existenz, welches die Unterschiede „in eins“ einschließt36. Eine solche „zusammenfassende Allgemeinheit“ des Prädikates enthält nun eine gewisse „Wesentlichkeit“, in der sich das Dasein zu „Verhältnisbestimmungen“ darlegt, d. h. daß die Bestimmung hier die Kontinuität des Begriffs selbst in den daseienden Unterschieden ausdrückt. Das Subjekt ist unter der genannten Wesentlichkeit des Prädikates zunächst subsumiert, und insofern erfüllt das Reflexionsurteil nicht mehr – wie das Urteil des Daseins – die Funktion der „Inhärenz“, sondern die der Subsumtion. Die drei Formen dieses subsumierenden Urteils sind näher das singuläre, das partikuläre und das universelle Urteil. Das singuläre Urteil erscheint anfänglich als ein „Dieses“, das aber per definitionem weder ein Nicht-Allgemeines noch ein Nicht-Einzelnes sein kann, sondern nur ein negativer Ausdruck des singulären Urteils ist. Diese „Nicht-Einzelheit des Subjektes“ fordert aber das partikuläre Urteil als nächste Stufe der Wahrheit. Die Besonderheit des Dieses wird hier als „das Einige“ bestimmt, welche als das „Einige Diese“ im Subjekt erfaßt wird. Dieser neue Ausdruck enthält jedoch auch die Negation des bloß Einigen – das Urteil „einige Menschen sind glückselig“ z. B. enthält unmittelbar die Folge, daß „einige Menschen nicht glückselig“ sind. Weil aber dieses Einige die Allgemeinheit einbezieht, bestimmt sie dann auch die Besonderheit des Einigen zur Gattung, d. h. sie erweitert sich zur „Allheit“, in der das universelle Urteil existiert. Die Allheit ist darum zunächst die äußerlich-reflexive Form der Allgemeinheit, da sie sich als „Progreß ins Unendliche“ verhält und sich daher als ein „Rückfall“ in die „schlechte Unendlichkeit“, oder, was dasselbe ist, in der Unmöglichkeit einer „innere[n] Identität des Subjektes und des Prädikats“37 etabliert. Dennoch begreift hier diese reflektierte Allgemeinheit die Besonderheit und die Einzelheit in sich, und somit identifiziert sie auch das Subjekt und das Prädikat, da beide in die „Kopula“ zusammengegangen sind. Ein solches identifizierendes Zusammengehen des Subjekts und des Prädikats wurde hier die Gattung genannt, welche sich als die notwendige Natur des Subjektes und des Prädikates dirimiert – als Urteil der Notwendigkeit. Die drei Momente dieses Urteils sind das kategorische, das hypothetische und das disjunktive Urteil. Das Urteil der Notwendigkeit erreicht zuerst die „wesentliche Identität eines substantiellen […] Zusammenhangs“ des Subjektes und des 35

Hoffmann: Propädeutik, 377. Hegel: Lehre vom Begriff, 80 f. Vgl. Enzyklopädie, § 174. 37 Hoffmann: Propädeutik, 378.

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Prädikats, in dem die Unterschiede in der immanenten Einheit des Begriffs als Verhältnis zwischen Gattung und Art existieren. Dieses Verhältnis gilt im kategorischen Urteil als die neue Form der Allgemeinheit, insofern die Gattung nur Gattung ist, wenn sie die Arten in sich selbst erfassen kann und umgekehrt, wie Hegel gern sagt, gilt: „die Art ist Art nur, insofern sie […] in der Gattung eine höhere Allgemeinheit ist“38. In dem notwendigen Charakter dieser Kopula sind nun Subjekt und Prädikat substantiell identisch, und damit ist das Subjekt in dem Prädikat reflektiert. Im hypothetischen Urteil ist hingegen das Sein des Einen (A) das Sein eines Anderen (B), und somit sind hier beide Bestimmtheiten in einem „notwendige[n] Zusammenhang“ zueinander gesetzt. Die Inhalte dieser beiden Bestimmtheiten sind aber immer noch „gleichgültig“ gegeneinander, und das Sein beider hat demzufolge lediglich den Charakter des bloß Möglichen. Das hypothetische Urteil drückt insoweit nicht das Sein der Bestimmtheiten aus, sondern einfach nur die kausale Beziehung beider – Beispiel dafür ist das Urteil: „Wenn A ist, so ist B“. Das Setzen des Zusammenhanges beider Extreme impliziert deswegen, daß sie „das Sein eines Anderen“ bei sich haben. Eine solche Beziehung aber macht in der Begriffssphäre eine „konkrete“ und „gesetzt[e]“ Identität aus. In dieser Identität der Momente ist das Sein die Einheit mit dem Anderen – „und hiermit Allgemeinheit“39. Diese Allgemeinheit des Begriffs bringt daher die konkrete Identität der Bestimmungen zur Geltung, die sich als gesetzte Besonderheiten ergeben haben. Dieses Setzen der Besonderheiten in der konkreten Begriffsallgemeinheit ist dennoch der Anfang des disjunktiven Urteils. Hier ist der Begriff zunächst das Setzen der objektiv-konkreten Allgemeinheit – der Gattung – in der folgenden ausschließenden Form: „A ist entweder B oder C“. Dieser Form nach sind die Extreme unterschiedlich gegeneinander, und auf diese Weise sind die Arten auch bestimmte Unterschiede der Gattung selbst, in welcher die „identische objektive Allgemeinheit“ – als Totalität der Arten – auftreten kann. Somit erscheint hier die Beziehung des Allgemeinen des Subjekts mit seiner Besonderung – A ist z. B. „sowohl B als C“ –, und in diesem „Sowohl-Als auch“ entsteht nun eine „positive Identität“ zwischen den Extremen und der Gattung. Diese Identität selbst gilt aber bei Hegel nicht mehr als eine abstrakte Allgemeinheit, sondern eben als die „immanente und konkrete“ bzw. als die bestimmte Einheit der Arten, wodurch jene Arten nicht mehr gleichgültig gegeneinander sind, sondern jetzt als die immanent-bezogenen Bestimmungen des Begriffs selbst auftreten. Die Gattung ist also eine „bestimmte Allgemeinheit“, welche die konkrete Einheit der „Begriffsmomente“ ist, und damit bewegen sich die Arten als reale Unterschiede jener Momente. Diese „negative Einheit“, die das Subjekt dem Prädikat „abscheidet“, wird hier als unterschieden gesetzt, und dieses Abscheiden – des Einzelnen und des Allgemeinen – gilt nun als der wahre „Begriffsunterschied“. Das Disjunktive ist also dieser wirkliche Unterschied des Begriffs, indem die bestimmte Unterscheidung nur zum Reich des Begriffs gehört. 38 39

Hegel: Lehre vom Begriff, 89 f. Vgl. Enzyklopädie, § 177. Hegel: Lehre vom Begriff, 91 – 92 f.

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Das Urteil des Begriffs beinhaltet so zuletzt „den Gegensatz des Begriffes und seiner Realität und die Vergleichung beider“40. Aber der Begriff selbst ist zuerst ein grundlegendes „Sollen“, welchem die Realität endlich entsprechen kann41. Im assertorischen Begriffsurteil ist deswegen das Subjekt das Sollen eines „selbstständigen Begriffs“, und das Prädikat tritt als die „Beschaffenheit“ des Begriffs auf. Weil aber der Begriff nun das Selbständige ist, wird die Besonderheit der Beschaffenheit zufällig sein, und insoweit wird sie zugleich zur Einzelheit. Die konkrete Allgemeinheit entzweit sich dann „in die Form von Extremen“, wobei das Setzen der innerlichen Kopula schlicht fehlt. Dieses zufällige Entsprechen des Subjektes mit seinem Begriffe liegt in der Form des Oder-Auch-Nicht, und eine solche Zufälligkeit des Subjektes konstituiert den Anfang des problematischen Urteils. Das problematische Urteil realisiert sich als die Verbindung der „objektive[n], konkrete[n] Allgemeinheit“ des Prädikats mit der unmittelbaren zufälligen Einzelheit des Subjektes. Aus diesem problematischen Charakter der Beziehung zwischen dem Begriff und seiner Einzelheit ergibt sich die Zufälligkeit der Entgegensetzung zwischen der subjektiven und der objektiven Natur der Sache. Im Subjekt unterscheiden sich dann das allgemeine Sollen und das auf bestimmte Weise beschaffene Dasein des Dings, weshalb gegen dieses Subjekt „die Negativität des Problematischen“ oder die sogenannte ursprüngliche Teilung des Subjektes auftritt und die „Einheit des Allgemeinen und Besonderen“ fraglich wird. Da aber diese Einheit des Begriffs die Allgemeinheit negiert und sich in die Einzelheit setzt, ist das Subjekt selbst eben das „Gedoppelte […] in Einem“. Ein solches Entgegenstehen ist bei Hegel die Wahrheit des Subjektiven in allen Dingen, und mit diesem Setzen des Problematischen entsteht hier das apodiktische Urteil. Das Sollen und die Beschaffenheit formen nunmehr zugleich das Subjekt des Urteils und dieses Subjekt wie auch das Prädikat integrieren nun denselben Inhalt, nämlich, „die gesetzte konkrete Allgemeinheit“ oder das begriffliche Enthalten des Allgemeinen und des Vereinzelten. Das Allgemeine als solches kontinuiert sich hier als das konkrete Allgemeine, d. h. als die Einheit, die mit „sein[em] Gegenteil“ behaftet und vermittelt wird. In diesem Sinne ist das Allgemeine dieses Urteils das wirkliche „Entsprechen“ des Sollens und des Daseins – ein Beispiel dafür ist das Urteil: „die Handlung so und so beschaffen ist recht“. Das Zerbrechen dieser „unmittelbare[n] Einheit“ in Sollen und Sein wurde jetzt „die Wahrheit derselben“ genannt, aber eine solche ursprüngliche Teilung kann zuletzt als das schlußlogische Zurückkehren in jene Einheit des Begriffs selbst gelten. Jenes ursprüngliche Teilen war so das „absolute Urteil“ aller Wirklichkeit, und sein korrespondierendes Vereinigen konstituiert dann „die konkrete Identität“ des Seins und des Sollens als die „Seele der Sache“ schlechthin. Diese Seele ist die Kopula als solche, die sich selbst in den Bestimmtheiten des Begriffs aufzeigt, insofern sich solche Bestimmtheiten sowohl in der Allgemeinheit als auch in dem Einzelnen reflektieren. Diese ganze „Begriffseinheit“ des Subjekts und des Prädikates ist bei Hegel die absolut-beziehende 40 41

Ebd. 66. Ebd. 98 f. Vgl. Enzyklopädie, § 178.

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Kopula, und damit ist die Einheit des Begriffs „das durch Subjekt und Prädikat Hindurchgehende und Allgemeine“. Da aber der Begriff nun aus dem Urteil wieder hervorgetreten ist, geht das Urteil selbst endlich in die letzte Form der spekulativen Begriffsdarstellung über – d. h. in den Schluß.

IV. Zur spekulativen Schlußlehre Hegel begreift den Schluß zuerst als „die Einheit und Wahrheit“ des Urteils, da in ihm die Bestimmungen des Begriffs und die „bestimmte Einheit derselben gesetzt“ sind, und deshalb ist der Schluß auch als „das Vernünftige“ überhaupt zu betrachten. Aber vielmehr ist bei Hegel „alles Vernünftige […] ein Schluß“, und das bedeutet, daß die Begriffe im Schluß endlich „in ihrer Totalität und Einheit gesetzt“ worden sind42. Darum ist die Allgemeinheit hier keine leere Abstraktion mehr, sondern sie ist nun eine „erfüllte Allgemeinheit“ oder einfach ein bestimmter Begriff, der „sich in sich unterscheidet“ und der sich als die Einheit von „bestimmten Unterschieden“ definiert. In dieser inhaltsvollen Einheit von konkreten Extremen „erhebt“ sich die Vernunft selbst über alle Endlichkeit, und in dieser Erhebung erscheint jetzt der Schluß selbst, in welchem alle Begriffsmomente in ihrer Einheit enthalten sind43. Die drei Formen der spekulativen Schlußlehre sind dann die Formen des Schlusses des Daseins, der Reflexion und der Notwendigkeit. Im Schluß des Daseins sind die Termini zunächst als „einzelne Bestimmtheiten“ aufzufassen, die als unabhängig gegeneinander festgestellt sind, und daher kennt dieser Schluß den „Medius Terminus“ als eine bestimmte Entgegensetzung derselben, bzw. der Schluß hat hier die Mitte als eine „Nichteinheit“ der Extreme. Der Daseinsschluß ist deshalb bloß „formell“, da der Begriff hier nur erst die fixierte Besonderheit und die unmittelbare Vereinigung der abstrakten Momente ist. Die erste Figur dieses formalen Schlusses lautet nämlich E–B–A, worin sich die „Einzelheit […] durch die Besonderheit mit der Allgemeinheit zusammenschließt“44. Die Extreme und die Mitte bleiben nun als verschiedene Momente gegeneinander zurück, aber durch diese Entgegensetzung kann zugleich das Einzelne in das Daseiende heraustreten, und auf diese Weise werden solche Momente in einer äußerlichen Verbindung festgehalten. Das Allgemeine subsumiert hier das Besondere, das Besondere subsumiert seinerseits das Einzelne, und daher subsumiert das Allgemeine auch das Einzelne. In diesem Sinne enthält dieser Schluß ein formales Verhältnis der Bestimmtheiten, in welchem sie „in abgesonderten Prämissen und [in] einen davon verschiedenen Schlußsatz“ getrennt sind – klassisches Beispiel dafür ist der Schluß: „Alle Menschen sind sterblich / Cajus ist ein Mensch / Also ist er sterblich“45. Hier liegt also die spekulative Bedeutung des Hegelschen Satzes: 42

Hegel: Lehre vom Begriff, 104 f. Vgl. Enzyklopädie, § 181. Hoffmann: Propädeutik, 380 f. 44 Hegel: Lehre vom Begriff, 106 f. Vgl. Enzyklopädie, § 183. 45 Hegel: Lehre vom Begriff, 110 f.

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„Alle Dinge sind der Schluß“46 – darin nämlich, daß die objektive Natur der Sache nun nicht mehr in ihrem „an sich“ unmittelbaren Dasein liegt, sondern „in der wesentlichen Einheit“ des spekulativen Schlusses selbst. In diesem formalen Schluß sind dabei alle Momente des Begriffs immer noch unmittelbar gegeneinander – das Allgemeine ist das abstrakte Eine, das Einzelne ist das unbestimmte Mannigfaltige und das Besondere ist „eine einzelne dieser mannigfaltigen Qualitäten“. Die Schlußbestimmungen sind jedoch nicht nur „Inhaltsbestimmungen“, sondern sie sind nun vielmehr Beziehungen schlechthin – d. h. „Formbestimmungen“ der „propositio“ und der „conclusio“. Darum wird das Einzelne durch die Vermittlung der Besonderheit als das Allgemeine bestimmt, und die Einheit selbst wird dann „als die Allgemeinheit der Extreme oder als [die] Mitte“ begriffen. Auf diese Weise tritt die zweite Figur (B–E–A) des abstrakten Schemas des Schlusses auf. Der Schlußsatz enthält hier zuerst die negative Einheit des Einzelnen; das Besondere ist seinerseits das Subjekt und das Allgemeine ist das Prädikat. Das bedeutet im Grunde genommen, daß das Besondere wie auch das Allgemeine „an der Stelle des anderen“ gestanden haben. Darum ist die Allgemeinheit „eine seiner Arten […] durch die Einzelheit“, und die Einzelheit selbst kann insoweit die Besonderheit in dem Allgemeinen aufheben47. Da aber die Termini dieses Schlusses immer noch bloße „unmittelbare Bestimmtheiten“ sind, gelten sie auch als einfache Qualitäten, welche „durch eine zufällige Einzelheit“ vereinigt worden sind. Daher ist dieser Schluß bei Hegel lediglich „ein subjektives, zufälliges Zusammenschließen“, in dem das Verhältnis der Extreme „gleichgültig“ ist, somit können beide Extreme einfach „beliebig“ als Obersatz oder als Untersatz angeschlossen werden. Folgendermaßen gibt es hier eine allgemeine Beziehung als Mitte, in welcher die dritte Figur (E–A–B) des Schlußschemas erscheint. Das Allgemeine ist aber immer noch eine formale Mitte, indem seine Formbestimmungen noch nicht „zu Inhaltsbestimmungen reflektiert“ werden, d. h. sie sind nun, so Hegel, „von ihrer Bestimmtheit abstrahiert“48. Dieses formale Moment der spekulativen Syllogistik besteht also darin, daß in ihm die Beziehung der Termini und die Termini selbst einfach gleichgültig gegeneinander sind, und deshalb ist es hier schließlich auch irrelevant, welcher Teil die Funktion des Subjekts oder des Prädikats erfüllt, damit auch einer von diesen Termini als „propositio major“ oder als „propositio minor“ in den Schluß eingeht. Die Verknüpfung als solche gilt also nur als „die qualitative oder abstrakte Allgemeinheit“ oder als ein gleichgültiges Zusammenschließen, in welches die Extreme noch nicht innerlich einbezogen sind. Mit dieser allgemeinen Abstraktion entsteht am Ende die vierte Figur (A–A–A) des Schlußschemas. Das 46 Ebd. In der enzyklopädischen Schlußlehre von 1830 lautet die neue Formulierung dieses Urteils: „Alles ist ein Schluß“. Hegel: Enzyklopädie, § 181. Vgl. dazu die Bedeutung dieser Formulierung als die Hegelsche Aufhebung des Begriffs der „absolute[n] Substanz“, d. h. daß „ihre Existenz […] wesentlich auf dem in seinen Verhältnissen syllogistisch entfalteten Begriff“ liegt, bei K. Düsing: Syllogistik, 25. 47 Hegel: Lehre vom Begriff, 117. Vgl. Enzyklopädie, § 186. 48 Hegel: Lehre vom Begriff, 120. Vgl. Enzyklopädie, § 187.

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negative Resultat dieser Figur lautet, daß sich das Qualitative im bloßen Quantitativen aufgelöst hat. Aber das positive Resultat davon entsteht genau hier als die hervorbringende Vermittlung, die durch das Wechseln der Mitte hergestellt ist. Jeder Teil kann somit endlich zur Mitte kommen, und die Entstehung dieser wechselseitigen Form der Mitte ist nun die negative Vermittlung, die „durch die konkrete Identität“ der Momente aufgetreten ist – Hegel bezeichnet sie als „die sich auf Vermittlung beziehende Vermittlung oder die Vermittlung der Reflexion“49. Mit diesem Resultat ist der Reflexionsschluß erschienen. In diesem Schluß sind die Termini vor allem in eine vermittelte Beziehung gesetzt, in der jede Bestimmtheit in der anderen „scheint“. Entsprechend fungiert diese Beziehung als eine negative Mitte, in die die Gesamtheit der Bestimmtheiten dadurch eingegangen sind. Jene Mitte wurde hier „die gesetzte Einheit der Extreme“ genannt, indem sie noch nicht „die absolute Identität“ des Begriffs sein kann, aber doch ist sie schon hier die Totalität aller Bestimmungen, oder sie ist die Mitte des Allheitsschlusses. Die Form dieses Schlusses nimmt zuerst das Einzelne als ein unmittelbar Bestehendes ein, und in dieser äußerlichen Gestalt schließt es sich mit der Allgemeinheit zusammen – der folgende Schluß dient als treffendes Beispiel dafür: „Alle Menschen sind sterblich / Nun ist Cajus ein Mensch / Ergo ist Cajus sterblich“50. Der Obersatz hängt hier von dem Untersatz ab, da nur, wenn dieser richtig ist, auch jener als richtig gelten kann; andererseits freilich ist die Conclusio in diesem Schluß schon in der ersten Prämisse vorausgesetzt, und daher wurde dieser Allheitsschluß – wegen dieser Form der „petitio principii“51 – auch „Schein des Schließens“ genannt, dessen Figur (E–B–A) darum zum ersten formalen Schlußschema gehört. Der Schluß der Induktion hingegen steht unter der zweiten Figur A–E–B. Er beruht vor allem auf dem Begriff der Erfahrung, worin sich die Gattung durch die Einzelnen „zu einer allgemeinen Eigenschaft“ konstituiert. Dieser Schluß liegt deshalb in dem „subjektiven Zusammenfasse[n]“ der unmittelbaren Einzelnen in der Gattung selbst. Ein solches Zusammenfassen besteht jedoch nur noch aus einer „äußerliche[n] Reflexion“, da jede Einzelheit als ein geeigneter Fall, welcher der Allgemeinheit adäquat sein soll, überprüft wird. Diese Allgemeinheit wird so als empirischer Fortschritt der Einzelheit ins Unendliche betrachtet, und sie bleibt somit als „eine Aufgabe“ aufgefaßt, oder, was dann dasselbe ist, als ein neuer Rückfall in die „schlechte Unendlichkeit“. In dem Analogieschluß ist endlich die Einzelheit „an sich selbst“ die Allgemeinheit als solche. Aber die allgemeine Natur der Mitte ist hier immer noch unbestimmt, da in ihr die Identität der Einzelnen nur durch die „Ähnlichkeit“ derselben erzeugt wird – mit einem Hegelschen Beispiel erklärt: „Die Erde hat Bewohner / Der Mond ist eine Erde / 49

Hegel: Lehre vom Begriff, 123 f. Vgl. dazu die Definition der konkreten Identität des Begriffs, „die sich zugleich negativ aus sich als ihr Anderes, das sie doch selbst ist, bezieht“, bei K. Düsing: Syllogistik, 23. 50 Hegel: Lehre vom Begriff, 132 f. Vgl. Enzyklopädie, § 190. 51 Hoffmann: Propädeutik, 383.

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Also hat der Mond Bewohner“52. Aber wenn die Mitte selbst ihre äußerliche Verknüpfung aufhebt, bestimmt sie sich endlich als die „an und für sich seiende Allgemeinheit“, welche zur dritten Figur (E–A–B) des Schlußschemas gehört, d. h. zum Schluß der Notwendigkeit. Die drei Formen des Notwendigkeitschlusses sind der kategorische, der hypothetische und der disjunktive Schluß. Der kategorische Schluß hat zunächst die Mitte als „objektive Allgemeinheit“, worin das Subjekt und das Prädikat durch das Subjekt selbst zusammengeschlossen sind. Jenes Subjekt ist zuerst das Allgemeine, in dem der Unterschied in der Formbestimmung des Begriffs als „spezifische Differenz“ angenommen wird. Die Mitte ist hier die „inhaltsvolle Identität ihrer Extreme“, d. h. die Gattung, in welcher die Extreme freilich als selbständig enthalten sind. Diese Identität des Begriffs ist schon ein „inneres Band“ und eine „positive Identität“, die aber noch nicht die Formidentität und die folgende „Negativität ihrer Extreme“ ist. Auf diese Weise haben die Extreme eine „an sich objektive Allgemeinheit“, aber gegeneinander sind sie lediglich gleichgültig. Mit der Überwindung dieser inneren formalen Identität fängt der hypothetische Schluß an: „Wenn A ist, so ist B / nun ist A / Also ist B“53. Die Beziehungsform des Schlusses ist hier „die erfüllte, vermittelnde Einheit“, d. h. die „innere substantielle Identität“, worin die Funktionen der Extreme – entweder als Bedingung oder als Bedingte – einander gleichwertig sind. Die Form der Vermittlung ist nunmehr die „absolute Form“, welche den einzelnen Begriff als „sich auf sich beziehende negative Einheit“ zur Geltung bringt. Diese Negativität der Einheit als das konkret Vermittelnde, so Hegel, ist „die freie Einheit des Begriffs“54. Eine solche negativ-freie Einheit ist das Tätige als solches, welches die ehemalige gleichgültige Identität aufhebt. Auf diese Weise ist aber diese „sich auf sich beziehende Negativität“ auch eine Form der Identität, die allerdings sich in sich selbst unterscheidet, und aus diesem Unterschied ist sie die „sich in sich zusammennehmende Identität“55. Da die Mitte nun jene negative Identität ist, erfüllt der hypothetische Schluß eigentlich die zweite Figur (A–E–B) des Schlusses, wie entsprechend das Disjunktive in der dritten Figur (E–A–B) entstehen kann56. In ihr ist die Mitte „die mit der Form erfüllte Allgemeinheit“, insofern sie zugleich Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit ist. Diese entwickelte Totalität der Begriffsmomente drückt sich in dem folgenden Beispiel aus: „A ist entweder B oder C oder D / A ist aber B / also ist A nicht C noch 52

Hegel: Lehre vom Begriff, 136 f. Ebd. 143. Vgl. Hegel: Enzyklopädie, § 191. 54 Hegel: Lehre vom Begriff, 145. 55 Ebd. 146. 56 Vgl. dazu die Definition dieser dritten Figur – „im Zusammenhang mit den beiden anderen“ – als die wahre Bedeutung des Schlusses, d. h. als „die vermittelte Beziehung von Begriffsbestimmungen“, und die Definition der „wahre[n] Mitte“ als der „bestimmte[n] Totalität der Termini“, welche in ihrer ontologischen Bedeutung zu betrachten ist, oder als „die spontane, reine Aktuosität von spekulativ-syllogistisch entwickelter Selbstvermittlungsstruktur“, bei K. Düsing: Syllogistik, 28 – 31. 53

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D“57. A ist in der ersten Prämisse das Allgemeine der Gattung; in der zweiten Prämisse ist es aber das Besondere oder das Bestimmte einer Art, und im Schlußsatz ist es zugleich das ausschließende Einzelne. Andererseits tritt hier endlich „die Einheit des Vermittelnden und des Vermittelten“ als die wahre Vermittlung auf, und weil die Natur des Schlusses genau „in dem Unterschied gegen seine Extreme“ liegt, ist dort der Schluß selbst zuletzt aufgehoben. Auf diese Weise gewinnt der Begriff in sich selbst eine neue Form der Realität, nämlich diejenige, durch die das „Aufheben der Vermittlung“ erzeugt wird – d. h. die Objektivität. Im Spiegel dieses Ergebnisses ist die wahre Bedeutung der spekulativen Syllogistik erschienen. Jedoch fehlt uns noch sein letzter Schritt, der der wichtigste ist, nämlich die Anwendung dieser spekulativ-syllogistischen Grundlage auf die Beziehung der Hauptbestandteile der enzyklopädischen Philosophie. V. Die schlußlogische Konzeption der enzyklopädischen Philosophie „Die Erkenntnis des Geistes ist – so schreibt Hegel am Anfang des dritten Abschnitts der Enzyklopädie – die konkreteste, darum höchste und schwerste“58. Diese Definition impliziert, daß das „System des Geistes“ sich zunächst in die vorhergehenden Modi des Erkennens einbringen muß, um sich von innen heraus als die inhaltsreichste Form von allen aufzuheben. Das dritte System des enzyklopädischen Wissens – die Philosophie des Geistes – führt damit die vormaligen Anschauungen und Vorstellungen des Absoluten zum „Reich des Begriffs“ ein, und es erreicht das Begreifen des Absoluten in seiner Wahrheit als die „lebendige Einheit des Geistes“. Der Geist ist so zunächst „die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee“, indem sie aus der Natur zurückgekehrt ist. Auf diese Weise ist diese Idee auch die vollständige Subjekt-Objekt-Identität in dem Sinne der absoluten Negativität beider. Ein solcher begrifflicher Zusammenhang verweist auf den spekulativen Sinn der Enzyklopädie als Wissenschaft der Idee, welche durch die drei Systeme gebildet wird, nämlich das System der Logik als „Wissenschaft der Idee an und für sich“, das System der Natur oder „die Wissenschaft der Idee in ihrem Anderssein“ und das System des Geistes als Wissenschaft „der Idee, die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt“59. Der Geist ist infolgedessen am Anfang das, was sich selbstbestimmt in der Manifestation der Handlungen der Erschaffung der Welt erkennt. Deswegen redet „der philosophische Enzyklopädist“ dabei von dem Geist als der „höchste(n) Definition des Absoluten“ und als dem „Drang“ aller „Weltgeschichte“60. Die höchste Bestimmung der Weltgeschichte ist dabei nichts anderes als die Idee der Philosophie überhaupt, in der das Absolute „der Geist“ selbst sein wird, und jener Geist wird 57

Hegel: Lehre vom Begriff, 147 f. Hegel: Enzyklopädie, 311 f. 59 Ebd. 51. 60 Ebd. 314. Vgl. dazu Jaeschke: Handbuch, 268. 58

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erstens die „Beziehung auf sich selbst“ sein – oder die Subjektivität; und zweitens, ist er auch die Realität „einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt“ oder die Objektivität; und drittens ist er schließlich der absolute Geist oder die konkreteste Einheit des enzyklopädischen Wissens, die „in an und für sich seiende[] und ewig sich hervorbringende[] Einheit“ ist61. Denn es handelt sich um einen Geist, der die Bewegung der freien Bestimmung des Logischen offenbaren muß, geht diese Bewegung doch zuerst von dem Logischen selbst zur Natur und von der Natur zum Geiste. Im Umkreis dieses systematischen Fortganges wird aber am Ende des Systems im Begriff des absoluten Geistes dieselbe Leistung erbracht, die der Begriff des absoluten Wissens in der Phänomenologie des Geistes vollzog, d. h. die Bildung des spekulativ-logischen Sinns des zuvor durchlaufenen Fortgangs – in der Phänomenologie in Beziehung auf das Bewußtsein und in der Enzyklopädie in Beziehung auf die Idee. So kann man auch das Verständnis der Prämisse erreichen, daß der Geist sich selbst als Funktion der selbstbestimmten Identität des Begriffs und der Realität erkennt, bzw. als das „Wissen der absoluten Idee“62. Von der Form des Wissens her erscheint die Struktur des letzten Moments des Geistes genau wie im dritten Jenaer Systementwurf, d. h. anfänglich als die Anschauung, die im Blick auf die Idee ein ausdrückliches Zeichen von Schönheit ist. Aus diesem Grunde wurde auch jenes Wissen in der Kunst als der „unmittelbaren Einheit“ der Natur und des Geistes begriffen. Die „schöne Kunst“ der griechischen Welt wurde als absolutes Moment des Geistes betrachtet, insofern sie eben die Beziehung der Religion und der Philosophie unter dem Prinzip der „freien Geistigkeit“ etabliert. Solche Befreiung des Sinnlichen innerhalb des Wissens des Geistes konstituiert den Anfang des vorstellenden Wissens der menschlichen Gemeinschaft, deren vollkommenste Form in der sogenannten „geoffenbarten Religion“ niedergeschrieben wurde. Sie wird darum die Vorstellung des „Sich-Wissens“ des Geistes sein – das Selbstbewußtsein Gottes im Menschen und das Selbstbewußtsein des Menschen in Gott. Diese innere Identifizierung zwischen beiden ist das selbstbewußte vorstellende Sich-Wissen des Geistes63. Jenes Gotteswissen als der Geist erlangt trotzdem das, was die adäquate Darstellung des absoluten Geistes ist, nämlich, den „untrennbaren Zusammenhang des allgemeinen, einfachen und ewigen Geistes in sich selbst“64, der letztendlich die Wahrheit des Ganzen oder der Gegenstand der spekulativen Philosophie ist. Eine absolute Philosophie ist also nicht zuletzt „die Einheit der Kunst und Religion“ und deshalb die tiefste „Bestimmung der Substanz als Subjekt und als Geist“. Die Idee der Philosophie als enzyklopädisches Wissen ist eben so die Realisierung „der konkreten Einheit (des Begriffes)“, die jede einzelne ihrer konkreten Bestimmungen immer wieder de-

61

Hegel: Enzyklopädie, 315. Ebd. 440. 63 Ebd. 447. 64 Ebd. 449 – 450.

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tailliert verfolgt65. Auf diesem Wege ist die spekulative Mitte der enzyklopädischen Philosophie aufgetreten, d. h. die eigentliche Macht der Totalitätsbestimmung des Wissens, die in jener vereinheitlichenden Bewegung der Idee dargestellt ist. Diese Bewegung besitzt die Form der systematischen Befolgung der Bestimmungen bezüglich der drei Themenfelder des enzyklopädischen Systems, und deswegen ist die entschiedene Version dieser Formationen der Idee nichts anderes als die des absoluten Geistes. Die schlußlogische Einheit des absoluten Geistes aber erreicht zugleich seinen eigenen Zenit in der Idee der Philosophie als solcher. Am Ende dieses Weges, den das Denken nimmt, tritt so die wahre schlußlogische Konzeption der enzyklopädischen Philosophie auf. Ihre systematische Syllogistik besteht in den bekannten drei Schlüssen, in denen jedes Moment zugleich Anfang, Vermittlung und Ergebnis ist66. So entfaltet sich die absolute Mitte jener Momente der Wissenschaft wie folgt: das Logische erscheint zunächst als die Philosophie ihrem Begriff nach, und es definiert sich als „die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit“ überhaupt67. Wenn dann das enzyklopädische System sein Ende erreicht, ist das Logische damit zugleich wieder Anfang und „ihr Resultat als das Geistige“, das aus der Erscheinung dargestellt ist. Jene Erscheinung konstituiert nun den ersten enzyklopädischen Schluß (§ 575), worin das Logische der Anfang ist und die Natur die Mitte, „die den Geist mit demselben zusammenschließt“. In diesem ersten enzyklopädischen Schluß (L–N–G) schließen sich seine Momente nicht zusammen, als ob sie nur selbständige Andere gegeneinander wären. Die Vermittlung solcher Momente erfüllt hier vielmehr die Form des Übergehens – somit haben sie „den Bewegungsmodus der seinslogischen Kategorien“68. Der wichtigste Gewinn dieses Schlusses ist der Begriff des Geistes selbst, indem er nun „seinen bestimmten Inhalt“ erkennen kann. Aber immerhin liegt die Grenze dieses Schlusses in dem äußeren Übergehen vom Logischen zum Geistigen, weil der Geist „die Wahrheit [nur] als Jenseits seiner“ selbst denken darf69. Mit der Aufhebung dieses ersten Schlusses fängt der zweite enzyklopädische Schluß (§ 576) an, in dem der Geist diesmal die Mitte ist, der die Natur „mit dem Logischen zusammenschließt“ (N–G–L)70. Der Vermittlungsweg hat nun nicht mehr die frühere Form der Notwendigkeit, sondern die der im subjektiven Erkennen hervorbringenden Freiheit; in dieser zweiten Gestaltung des enzyklopädischen 65

Dieses Problem ist in der Anmerkung zu dem § 573 der Enzyklopädie wie folgt behandelt worden: „indem die Philosophie es allerdings mit der Einheit überhaupt, aber nicht mit der abstrakten, der bloßen Identität und dem leeren Absoluten, sondern mit der konkreten Einheit (dem Begriffe) zu tun und in ihrem ganzen Verlaufe ganz allein es damit zu tun hat, – daß jede Stufe des Fortgangs eine eigentümliche Bestimmung dieser konkreten Einheit ist, und die tiefste und letzte der Bestimmungen der Einheit die des absoluten Geistes ist“. Ebd. 459. 66 Vgl. Jaeschke: Handbuch, 268. 67 Hegel: Enzyklopädie, 462. 68 Jaeschke: Handbuch, 269. 69 Hoffmann: Propädeutik, 493. 70 Hegel: Enzyklopädie, 462.

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Syllogismus hebt der Geist endlich die erste Form seines Erkennens auf. Er bewegt sich nun als die Reflexion jenes Moments innerhalb der Anderen und als die nachfolgende Erscheinung des Gesetzten in dem Entgegengesetzten. Trotz allem wird erst im letzten enzyklopädischen Schluß die wahre spekulative Idee des philosophischen Systems auftreten. Der dritte Schluß der Enzyklopädie (§577) zeigt sich hier abschließend als „die Idee der Philosophie“.71 Das Logische entzweit sich als „das Absolut-Allgemeine“ in Geist und Natur (G–L–N), und diese Formel kann gewiss auf den disjunktiven Schluß der Notwendigkeit in der Logik bezogen werden, insofern dieser Schluß auch das Allgemeine als die disjunktive Vermittlung hat (E–A–B)72. Die Extreme werden nun endlich als Manifestationen des „Sich-Urteilen[s] der Idee“ bestimmt, wodurch das lebendige Erkennen des Logischen „sich ewig als absoluter Geist betätigt“73. Hier liegt darum die wahre schlußlogische Konzeption der enzyklopädischen Philosophie bei Hegel, nämlich daß die drei enzyklopädischen Schlüsse in dem letzten in das Eine vereinigt worden sind, was im Grunde genommen bedeutet, daß die unendliche Tätigkeit des Logischen sich als das absolute Zusammenschließen der Idee verhält, und daß die ewige Tätigkeit der Idee sich als die übergreifende Einheit des absoluten Geistes bzw. als philosophische Wissenschaft unendlich erzeugt – oder als die sich ewig als absoluten Geist betätigende Idee. Die enzyklopädische Denkphase beendet so ihre logisch-systematische Darstellung der Totalität des Wissens mit dem „Bild des Systems“, das die spekulativenzyklopädische Syllogistik ausmacht. In der Philosophiegeschichte entspricht dem ersten enzyklopädischen Schluß der Standpunkt der Metaphysik, dessen vollkommene Form die „Philosophie der Substanz“ darstellt; seine Mitte ist die Natur, und die Form des Erkennens gilt als die „äußere Erscheinung des Wahren“ oder, was dasselbe ist, als der objektiv-enzyklopädische Schluß74. Da der zweite Schluß den „einzelne[n] Geist“ als Mitte setzt, hat er die Form der „inneren Erscheinung des Wahren“ – oder des subjektiv-enzyklopädischen Schlusses – insoweit entspricht er dem Standpunkt der „Philosophie des Subjektes“ – d. h. des Empirismus und der kritischen Philosophie. Der dritte Schluß, weil er das Logische als die absolute Mitte und das Subjekt wie auch die Substanz als Manifestationen der Idee setzt und sich somit auch als „Selbstdisjunktionen des Wahren“ begreift, entspricht dann dem höchsten Moment des spekulativ-enzyklopädischen Wissens. Dieses wahrste Moment ist „die absolute Beziehungsmacht“ und damit auch der absolut-enzyklopädische Schluß, welcher die wahre Idee der Philosophie bei Hegel darstellt, nämlich die der „Philosophie des freien Selbsts“. Kurz zusammengefaßt: die Gestaltung des enzyklopädischen Systems der spekulativen Wissenschaften konstituierte sich als der prinzipielle Horizont von Hegels 71

Ebd. 463. Vgl. Jaeschke: Handbuch, 270. 73 Hegel: Enzyklopädie, 463. 74 Hoffmann: Propädeutik, 494.

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Denkweg im Laufe der Zeit und daher in der Methode, die jenes Totalitätsdenken zu vollziehen erlaubt. In der Entfaltung der verschiedenen Dimensionen des spekulativen Erkennens erreichen wir am Ende den Begriff des enzyklopädischen Systems selbst als den begrifflichen Ausdruck des „Erkennenskontinuums“, in dem das unendliche bzw. freie Denken die „kontinuierliche Eigenbestimmtheit“ des Inhaltes oder die „Ursprungslebendigkeit der Vernunft“ wirklich in sich hat75. Unter diesen Umständen kann man freilich sagen, daß die Funktion der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften für den Denkweg Hegels bildlich gesprochen als ein „schwarzes Loch“ vorgestellt werden kann, in dessen Innerem alle früheren Formen der Totalität des Denkens integriert worden sind. Die Ausdehnung der logischen, natürlichen und geistigen Elemente der Enzyklopädie kann daher umgekehrt auch als eine riesige „Gammastrahlenexplosion“ einer gigantischen Supernova vorgestellt werden. Die Erinnerungskanäle dieser Explosion erstrecken sich von den Jugendtexten über Religion und Politik zu den esoterischen und exoterischen Jenaer Arbeiten, und somit dehnen sie sich vollständig über den Kosmos der Phänomenologie des Geistes, der Wissenschaft der Logik und der Grundlinien der Philosophie des Rechts aus bis zur Erfüllung des gesamten Horizonts dieses Autors mit den sogenannten Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik, die Naturphilosophie, den subjektiven Geist, das Recht, die Weltgeschichte, die Kunst, die Religion und die Philosophiegeschichte. Die Herausforderung, die schlußlogische Einheit dieser Totalität der Themenfelder wieder darzustellen, wird den „Geist“ einer Philosophie, die sich selbst als Totalitätswissenschaft begriff, in verschiedenen – und nicht nur in „spekulativ-syllogistischen“ – Arten zu rekonstruieren erlauben. Auf diesem Wege wird sich, zusammen mit dem Schleier der alten Gespenste, die neuerliche Erscheinung eines neuen Momentes des absoluten Geistes ergeben, und mithin wird die „Eule der Minerva“ mit der erscheinenden Dämmerung ihren unendlichen Flug wieder beginnen76.

Literatur Düsing, Klaus: „Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik“, in: D. Henrich (Hg.): Hegels Wissenschaft der Logik. Formation und Rekonstruktion, Bd. 16, Internationale Hegel-Vereinigung, Stuttgart 1986, 15 – 38. Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I,4: Werke 1797 – 1798, H. Gliwitzky / R. Lauth (Hg.), Stuttgart 1970. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1969. 75

Ebd. 30 – 33. Für die Korrektur dieses Beitrags dankt der Verfasser Marion Lensing und Herrn Professor Thomas S. Hoffmann sehr herzlich. . 76

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Pedro Sepúlveda Zambrano

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Systementwürfe I, Bd. 6, K. Düsing / H. Kimmerle (Hg.), Düsseldorf 1975. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Systementwürfe II, Bd. 7, R.-P. Horstmann / J. H. Trede (Hg.), Bonn-Bad Godesberg 1971. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Systementwürfe III, Bd. 8, R.-P. Horstmann / J. H. Trede (Hg.), Düsseldorf 1976. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), F. Nicolin / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1991. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, H.-F. Wessels / H. Clairmont (Hg.), Hamburg 1988. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff (1816), H.-J. Gawoll (Hg.), Hamburg 2003. Henrich, Dieter: „Absoluter Geist und Logik des Endlichen“, in: Hegel-Studien, Bd. 20, Bonn 1980, 103 – 118. Hoffmann, Thomas Sören: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2012. Jaeschke, Walter: Hegel Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart/Weimar 2010.

Die Frage nach der Natur in Hegels Enzyklopädie. Natur als Schwelle, Natur als Verborgenheit Ettore Barbagallo (Kaiserslautern) I. Einleitung. Topologische Frage und Frage nach der Seinsweise Den zwei Teilen des Untertitels meines Beitrags (Natur als Schwelle, Natur als Verborgenheit) entsprechen zwei Fragen, die den Hintergrund unserer Überlegungen bilden werden und sich nicht mit direkten oder definitorischen Antworten auflösen lassen. Diese zwei Fragen lauten: 1. „Wo ist die Natur verortet?“ und 2. „Was ist die Natur?“. Die erste ist eine topologische Frage und ich stelle sie absichtlich der zweiten (der Frage nach der Seinsweise der Natur) voran, weil das uns erlauben kann, ein neues Licht auf Hegels Naturkonzept und also auch auf die Frage nach der Seinsweise der Natur zu werfen. Was heißt zuerst, eine topologische Frage aufzuwerfen? Und wohin führt eine Topologie der Natur? II. Die topologische Frage nach den drei Schlüssen der Philosophie. Erscheinung und Wirklichkeit des Absoluten Der Weg zur Antwort auf die Frage nach der Topologie der Natur läßt sich in der letzten Abteilung der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften finden, und zwar dort, wo die drei Schlüsse der Philosophie dargestellt werden. Diese Schlüsse, die eigentlich die Form eines dreifachen Systems von Schlüssen haben, machen „das Vernünftige überhaupt in seiner entwickelten, wirklichen Totalität“1 aus, indem in ihnen und durch sie der Begriff „vollständig realisiert [ist] als ein Kreis der Vermittlung“2. Sie artikulieren das enzyklopädische Begreifen der Totalität und zeichnen nicht nur die zirkuläre Gestaltung des Programms der Enzyklopädie aus, sondern vollenden diese Gestaltung und machen sie zu einer spiralförmigen Gestaltung, in der das Fortschreiten zugleich ein Zurückgehen zum Anfang ist. Denn die drei Schlüsse befinden sich gerade an dem Punkt, wo das Ende oder das „Re-

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Heidelberg 1817. Mitgeschrieben von F. A. Good, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 11, hg. von Karen Gloy, Hamburg 1992, 165. 2 Ebd. 164.

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sultat“3 der Enzyklopädie (die Philosophie als „die sich denkende Idee“, die „wissende Wahrheit“4 und die Krone des Geistigen) sich mit dem Anfang (dem Abstrakt-Logischen) verbindet und mit ihm zurückvermittelt. Der Anfang, in den die enzyklopädische Wissenschaft am Ende zurückgegangen ist, ist nicht mehr der unbefangene Anfang, d. h. das Logische als noch abstraktes Allgemeines, als „der Begriff nur an sich“ und als „ein Unmittelbares“, sondern „die im konkreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit“5. Wenn die bewährte6 und bewahrheitete Wirklichkeit (1mtek]weia7) des Logischen und des Geistigen erst durch das System aller drei Schlüsse des enzyklopädischen Programms und insbesondere im dritten Schluß vollbracht und zum Ausdruck gebracht wird, dann heißt das – wie sich später deutlicher zeigen wird –, daß die ersten zwei Schlüsse für sich genommen nur die „Erscheinung“8 des Logischen und des Geistigen ausmachen. Sie sind, mit anderen Worten, eine einseitige Perspektive auf die Totalität der dialektischen Bewegung der Idee, der Natur und des Geistes oder, 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), unter Mitarbeit von Udo Rameil hg. v. Wolfgang Bonsiepen u. HansChristian Lucas, Hamburg 1992, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 20, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg 1968 ff. Im folgenden abgekürzt als GW, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier: GW 20, 569. 4 Ebd. 5 Ebd. Diese konkrete Allgemeinheit und die spiralförmige Gestaltung der Prozessualität des Inhalts machen den tiefen Kern des Enzyklopädischen im Hegels System aus: Eine philosophische Enzyklopädie gründet darin, daß das Fortschreiten des Wissens zugleich eine Rückkehr zum Anfang und somit die Vertiefung und Begründung des Anfangs darstellt. Hier lohnt es sich, den gesamten Paragraphen 574 anzuführen, in dem Hegel vom Standpunkt des Endes und des Resultats her die dialektische Bewegung der Methode und des Inhalts des Enzyklopädischen konturiert: „Dieser Begriff der Philosophie ist die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit (§ 236), das Logische mit der Bedeutung, daß es die im konkreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist. Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren Anfang zurückgegangen und das Logische so ihr Resultat als das Geistige, daß es aus dem voraussetzenden Urteilen, worin der Begriff nur an sich und der Anfang ein Unmittelbares war, hiermit aus der Erscheinung, die es darin an ihm hatte, in sein reines Prinzip zugleich als in sein Element sich erhoben hat“ (ebd.). 6 Für eine gründliche Erörterung des Begriffs der Bewährung in Hegels Philosophie und insbes. in Verbindung mit dem Abschluß der Enzyklopädie und den drei Schlüssen der Philosophie s. Nicolas Füzesi: Hegels drei Schlüsse, Freiburg/München 2004. 7 Zu Hegels dialektischer Umdeutung der Aristotelischen metaphysischen Grundbegriffe von 1mtek]weia und 1m]qceia s. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1819 und 1820/21, hg. von Klaus Grotsch, Hamburg 2016, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 30, 1, ebd. 104 – 105, 344, und Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 3. Griechische Philosophie. II. Plato bis Proklos, hg. von Pierre Garniron u. Walter Jaeschke, Hamburg 1996, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 8, ebd. Im folgenden abgekürzt als Nachschriften und Manuskripte, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier: Nachschriften und Manuskripte 8, 69 – 73. 8 Hegel: GW 20, 569.

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was dasselbe ist, ein endlicher Standpunkt des Absoluten auf sich selbst, welches sich als Absolutes noch bewähren muß bzw. in den noch offenen realen Prozeß der Selbstbewährung verstrickt ist. Damit sich der Geist zum absoluten Standpunkt auf die Totalität und also zum absoluten Wissen (dritter Schluß) erhebt, muß die erste Erscheinungsweise des Absoluten in die zweite sowie die zweite in die dritte aufgehoben werden – wobei der dritte Schluß eigentlich nicht mehr nur eine Erscheinungsweise des Absoluten verkörpert, sondern dessen Selbstbewährung darstellt und die Aufhebung der Erscheinung in die Wirklichkeit des Logischen zur Ausführung bringt. Die Art und Weise dieser Bewährung des Logischen durch die allmähliche Aufhebung seiner Erscheinungen definiert die Spezifizität der drei syllogistischen Prozesse, deren jeder also eine notwendige Weise der Selbstvermittlung des Absoluten beschreibt und zeichnet. 1. Erster Schluß. Die Natur als Schwelle und Transzendenz Diese drei dialektischen Vermittlungsweisen unterscheiden sich voneinander darin, welcher der drei Termini (das Logische, die Natur und der Geist) jeweils als Mitte des Schlusses fungiert. Der erste Schluß (§ 575) als „erste Erscheinung“9 des Absoluten, in der die Natur die Funktion der Mitte übernimmt, hat „das Logische zum Grunde als Ausgangspunkt“10. Das andere Extrem ist der Geist, den die Natur mit dem Logischen „zusammenschließt“11. Die Natur steht also „zwischen dem Geiste und seinem Wesen“12 und die synthetische Formel dieses Schlusses lautet demgemäß: „Das Logische wird13 zur Natur und die Natur zum Geiste“14. Dieser erste Schluß, den wir als Schluß der Natur als Schwelle oder Schluß der Transzendenz bezeichnen wollen, stellt also nicht das immanent-logische, sondern das transzendent-logische und somit reale Werden des Absoluten dar, weil hier die Idee nicht mehr bei sich selbst bleibt und sich in ihrer logischen Immanenz entwickelt, sondern sich selbst transzendiert, über sich hinausgeht und zur Andersheit ihrer selbst wird. Diese Andersheit der Idee oder „die Idee in der Form des Andersseins“15 ist eben die Natur, die der erste Schluß als „negatives Moment“ und „Durchgangspunkt“16 zwischen dem Logischen und dem Geist kennzeichnet und die wir als Schwelle interpretieren wollen. Wir werden weiter unten genauer erklären, was mit diesem Begriff gemeint ist. Zunächst sei vorweggenommen, daß hier der Begriff ,Schwelle‘ auf die topologische Stellung der Natur hinweist und in 9

Ebd. Ebd. 11 Ebd. 570. 12 Ebd. 13 Kursivierung von mir. 14 Ebd. 15 Ebd. 237. 16 Ebd. 570. 10

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einem ganz spezifischen Sinne zu verstehen ist: Nach dieser Bedeutung lassen sich der Geist (als Mitte im zweiten Schluß) und die absolute Idee (als Mitte im dritten Schluß) nicht als Schwelle interpretieren. 2. Zweiter Schluß. Unvollkommene Humanisierung der Andersheit der Natur Im zweiten Schluß (§ 576) wird die „Erscheinung“ des ersten Schlusses „insoweit aufgehoben, als dieser [der zweite Schluß] bereits der Standpunkt des Geistes selbst ist, welcher das Vermittelnde des Prozesses ist, die Natur voraussetzt und sie mit dem Logischen zusammenschließt“17. Der Geist, der hier als Mitte auftritt, ist der endliche Geist, welcher sowohl in der Gestalt des subjektiven als auch in der des objektiven Geistes18 die Natur nicht absolut setzt, sondern noch als gegebene und vorgefundene Andersheit voraussetzt und mit dem Logischen aktiv vermittelt. Wie sich erst im Folgenden genauer ergeben wird, vollzieht sich diese aktive Vermittlung als eine solche humanisierende Idealisierung und Aufhebung der Andersheit der Natur, die dadurch bedingt ist, daß der Geist die Natur als „ein von ihm Unabhängiges, ein unmittelbar Vorhandenes, vom Geiste nicht Gesetztes, sondern nur Vorausgesetztes“19 erkennt. Demgemäß kennzeichnen wir diesen zweiten Schluß als Schluß des Voraussetzens bzw. endlichen Setzens der Natur und somit auch als Schluß der unvollkommenen Humanisierung der Natur. 3. Dritter Schluß. Vollkommene Humanisierung der Andersheit der Natur Als Schluß der vollkommenen Humanisierung der Natur oder Schluß des absoluten Geistes interpretieren wir den dritten Schluß der Philosophie (§577), welcher auf den schon zitierten Paragraphen 574 verweist, indem er nicht mehr das sich noch zu bewährende und zu bewahrheitende abstrakte Logische enthält, sondern „das Logische mit der Bedeutung, daß es die im konkreten Inhalte als in seiner 17

Ebd. Im letzten Teil des Paragraphen 576 schreibt Hegel, daß im zweiten Schluß die Wissenschaft „als ein subjektives Erkennen“ erscheint (ebd.). Unseres Erachtens ist das jedoch nicht so zu interpretieren, daß dieser Schluß den Geist nur als subjektiven thematisiert und daß darin der objektive Geist keinen Platz findet. Hegels Bemerkung beschränkt sich auf die Charakterisierung der Wissenschaft und wenn man die letzten drei Paragraphen der Enzyklopädie, welche die drei Schlüsse der Philosophie exponieren, miteinander vergleicht, liegt es nahe, daß Hegel in jedem dieser Paragraphen den jeweiligen theoretischen Status der Wissenschaft oder des Erkennens beleuchten will. 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen (1830), in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986 ff. Im folgenden abgekürzt Werke, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier: Werke 10, 31. 18

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Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist“20. Diese absolute Bewährung des Logischen, worin die Vollkommenheit der idealisierenden Humanisierung der Natur besteht, tritt im dritten Schluß als absolutes Wissen auf, und zwar als „die Idee der Philosophie, welche die sich wissende Vernunft, das Absolut-Allgemeine zu ihrer Mitte hat, die sich in Geist und Natur entzweit“21. Vom Standpunkt der sich wissenden Vernunft zeigen sich der Geist und die Natur als Entzweiungsformen des Absolut-Allgemeinen und somit in ihrer dialektisch-prozessualen Endwahrheit: Der erste ist der „Prozeß der subjektiven Tätigkeit der Idee“22, die zweite der „Prozeß der an sich, objektiv, seienden Idee“23. Beide Prozesse lassen sich nicht durch den Verstand oder irgendeine Form der Wissenschaft als subjektiven Erkennens erfassen, sondern erst durch die Vernunft im absoluten Wissen begreifen, und zwar anhand der syllogistischen Vermittlungsweisen, die am Ende der Enzyklopädie ausformuliert werden. Diesen Zusammenhang zwischen einerseits den zwei Prozessen, in die sich die sich wissende Vernunft entzweit, und andererseits den Schlüssen der Philosophie stellt Hegel explizit heraus, indem er schreibt: „Das Sich-Urteilen der Idee in die beiden Erscheinungen (§§ 575/6) bestimmt dieselben als ihre (der sich wissenden Vernunft) Manifestationen“24. Das anfängliche Sich-urteilen der Idee in die zwei Erscheinungen, die in den Paragraphen 575 und 576 in syllogistischer Form entfaltet werden, und das Sich-entzweien der sich wissenden Vernunft am Ende der Entwicklung entsprechen sich dialektisch einander. In dieser Entsprechung von Anfang und Ende oder von Anfang und Resultat besteht nichts anderes als die schon oben angesprochene spiralförmige Bewegung des enzyklopädischen Programms: Aufgrund dieser Bewegung ist nämlich die „Wissenschaft […] in ihren Anfang zurückgegangen“ und „das Logische [ist] so ihr Resultat als das Geistige, daß es aus dem voraussetzenden Urteilen, worin der Begriff nur an sich und der Anfang ein Unmittelbares war, hiermit aus der Erscheinung, die es darin an ihm hatte, in sein reines Prinzip zugleich als in sein Element sich erhoben hat“25. Der Anfang der Wissenschaft, d. h. der Philosophie, die sich am Ende als „die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit“26 und „die sich wissende Vernunft“27 bewährt, besteht nun darin, daß die Idee sich „in die beiden Erscheinungen (§§ 575/ 6)“28 urteilt, d. h. auf zweierlei Weise erscheint und sich somit als Wesen dieser Erscheinungen konstituiert. Hegels Verweis in Klammern auf die Paragraphen 575 20

Hegel: GW 20, 569. Ebd. 570. 22 Ebd. 23 Ebd. 570 – 571. 24 Ebd. 571. 25 Ebd. 569. 26 Ebd. 27 Ebd. 570. 28 Ebd. 571.

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und 576, in denen der erste und der zweite Schluß exponiert werden, macht deutlich, daß die Schlüsse der Philosophie keine bloßen subjektiv-intellektuellen Vorgänge sind, sondern ein Sich-urteilen der Idee selbst in ihre Erscheinungen. Diese stehen zwar zuerst im Plural und bilden somit zwei verschiedene Formen des Sichurteilens der Idee. Sie sind allerdings zugleich auf eine ursprüngliche Form des Erscheinens (Singularform), welches – wie wir sehen werden – nichts anderes als die Natur ist und von der Idee als von seinem Wesen getrennt ist. Eine solche Trennung zwischen Wesen und Erscheinen und die Distanzierung des Erscheinens von der Idee („der Abfall der Idee von sich selbst“29) impliziert das Verborgenwerden des Wesens hinter seinem Erscheinen und seinen Erscheinungsformen und eröffnet somit das Reich der realen Endlichkeit der Welt. Denn das hier angesprochene Erscheinen ist nicht mehr die immanent-logische Erscheinung bzw. die Erscheinung als wesenslogische Kategorie, welche schon immer in der Idee ist und in der Idee festgehalten und aufbewahrt wird. Es geht vielmehr um die Urform der Erscheinung als Andersheit, die aus der Idee ,frei entlassen‘30 wird, sich als Andersheit „relativ gegen diese Idee“31 konstituiert und somit die Absolutheit der Idee verbirgt und verdunkelt. Dieses transzendent-logische Erscheinen als Außerhalbder-Idee-sein und Verborgenheit der Idee macht den Urwiderspruch aus, der das Werden der ersten zwei Schlüsse in Gang setzt: 1) das reale Werden, in dem die Natur (das Urerscheinen) als Mitte zwischen der Idee und dem Geist auftritt – das „Logische wird zur Natur und die Natur zum Geiste“32 – und 2) das ideelle Werden, in dem der endliche Geist sich in der Natur (dem Urerscheinen) wiederfindet, diese als Andersheit aufhebt, idealisiert, humanisiert und mit dem Logischen vermittelt. Die zwei verbergenden Erscheinungen, die sich in den ersten zwei Schlüssen bzw. als die ersten zwei Schlüsse sich entfalten, erweisen sich im dritten Schluß als Manifestationen „der sich wissenden Vernunft“33, oder – wie sich später ergeben wird – als Momente der Offenbarung des absoluten Geistes. Erst wenn die zwei Erscheinungen der Idee als Manifestationen der sich wissenden Vernunft und des absoluten Wissens bestimmt werden, kann sich die Idee in sich vereinigen und ihre realen Prozesse der Natur und des Geistes (d. h. die zwei Extreme des dritten Schlusses) können sich in ihrer Übereinstimmung miteinander zeigen und so durch die Vermittlung der sich wissenden Vernunft miteinander zusammengeschlossen werden: „Das Sich-Urteilen der Idee in die beiden Erscheinungen (§ 575/6) bestimmt dieselben als ihre (der sich wissenden Vernunft) Manifestationen, und es vereinigt sich in ihr, daß die Natur der Sache, der Begriff, es ist, die sich fortbewegt und entwickelt, und diese Bewe-

29

Ebd. 237. Ebd. 231. 31 Ebd. 237. 32 Ebd. 570. 33 Ebd. 571. 30

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gung ebensosehr die Tätigkeit des Erkennens ist, die ewige an und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt“34.

Die Einheit von Natur und Geist als Selbstvereinigung der Idee, in der die zwei Erscheinungen als Manifestationen des absoluten Logischen oder des sich offenbarenden Geistigen bestimmt sind, ist erst möglich, weil die Bewegung der Sache selbst ein und dasselbe mit der Bewegung des Erkennens ist. Diese Entsprechung des Objektiven und des Subjektiven gründet darin, daß der Begriff es ist, der die Natur der Sache ausmacht und somit das Innere sowohl der Natur als auch des Geistes konstituiert. Der Begriff als Inneres der Erscheinungswelt ist aber zunächst in der und durch die Natur verborgen, nicht also manifestiert. Gerade aus diesem Grund sind die Natur und der endliche Geist, d. h. das Reich der Endlichkeit schlechthin, zuerst Erscheinungen und nicht Manifestationen der Idee, obwohl Erscheinung und Manifestation nicht so abstrakt entgegenzusetzen sind, weil in Wahrheit das Urerscheinen selbst an sich oder für uns schon Manifestieren ist. Wir wollen nun eingehender zeigen, inwiefern die erste verbergende Erscheinung der Idee, d. h. die Natur, als Schwelle aufzufassen ist und warum diese ihre Schwellenfunktion ihre topologische Stellung im System bildet. Die eben vorgenommene Darstellung der letzten Paragraphen der Enzyklopädie deckt selbstverständlich nicht alle Aspekte und Facetten der drei Schlüsse der Philosophie und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Viele Fragen bleiben in dieser Hinsicht offen, wie etwa: Was ist die systematisch-theoretische Funktion und der eigentliche Sinn dieser drei Schlüsse, welche die wichtige Aufgabe des Abschlusses der Enzyklopädie erfüllen müssen? Worauf deuten sie hin? Entsprechen sie den drei Teilen der Enzyklopädie oder vielleicht denen des gesamten Systems der Philosophie? Oder verkörpern sie vielmehr drei alternative Darstellungsweisen des Systems? Das Ziel dieses Betrags ist natürlich nicht, diese und andere ähnliche Fragen eingehend zu beantworten, sondern der topologischen und der ontologischen Frage nach der Natur nachzugehen. Ein kurzer Blick auf die Hegelforschung der letzten Jahrzehnte würde außerdem deutlich zeigen, daß die drei Schlüsse der Philosophie und die letzten Paragraphen der Enzyklopädie Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen sind, die zu sehr unterschiedlichen und oft einander widersprechenden Ergebnissen geführt haben. Und hier kann nicht der Ort sein, auf die verschiedenen Interpretationsrichtungen einzugehen. Wir wollen vielmehr einen eigenen Interpretationsvorschlag vorlegen, welcher die letzten Paragraphen der Enzyklopädie mit der Einleitung der Philosophie des Geistes sowie mit einigen Stellen aus dem Ende der Logik, der Naturphilosophie und der Phänomenologie des Geistes verknüpft und somit versucht, die drei Schlüsse vor dem Hintergrund des Begriffs des Geistes und der Hegelschen Grundauffassung des Geistes als Offenbarung und Freiheit zu deuten. Viele Aspekte unserer Interpretation der drei Schlüsse sind eigentlich mehr oder weniger implizit in der Darstellung enthalten, die wir vorge-

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Ebd.

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nommen haben. An dieser Stelle gilt es nun, das schon Gesagte auf einem neuen Niveau zu wiederholen und mithin zu vertiefen und weiterzuentwickeln. III. Das Absolute als Selbstverwirklichung und Selbstoffenbarung Wie wir gesehen haben, läßt sich der dritte Schluß nicht als Erscheinung des Absoluten ansehen, denn vielmehr vollbringt er die Aufhebung der zwei Erscheinungsformen (§§ 575 – 576) des Absoluten und stellt „die ewige an und für sich seiende Idee“ dar, welche „sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt“35. Dementsprechend haben wir den dritten Schluß Schluß des absoluten Geistes genannt. Noch einfacher ausgedrückt können wir ihn als Schluß des Absoluten definieren, insofern er das Absolute nicht als abstraktes Allgemeines – Prinzip, Substanz, causa prima, Ich usw. – auffaßt, sondern als das, was sich erst am Ende der dreifachen syllogistischen Prozessualität als bewährte Allgemeinheit erweist bzw. erst als Resultat der Aufhebung der ersten zwei Erscheinungen sich selbst als Absolutes „betätigt, erzeugt und genießt“36. Geistesgeschichtlich betrachtet offenbart sich das Absolute erst auf dem Höhepunkt der Geschichte als „der denkende Geist der Weltgeschichte“37, welcher die „Beschränktheiten der besonderen Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abstreift, […] seine konkrete Allgemeinheit [erfasst] und sich […] zum Wissen des absoluten Geistes [erhebt], als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich ist und die Notwendigkeit, Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind“38.

Die Notwendigkeit des Logischen, die Natur und die Geschichtlichkeit des endlichen Geistes sind nichts anderes als Momente der abschließenden Offenbarung oder Selbstoffenbarung des Absoluten im absoluten Wissens der Philosophie. Zugleich ist es so, daß auch philosophiesystematisch betrachtet das Absolute erst am Ende der „schon vollbracht[en]“39 Entwicklung der Kunst, der Religion und der Philosophie als resultierender Rückblick sich konstituiert, welcher „am Schluß [seinen] eigenen Begriff erfaßt, d. i. nur auf [sein] Wissen zurücksieht“40. Dieses sowohl geschichtliche als auch systematische Sichoffenbaren am Ende der geschichtlichen und geistigen Entwicklung als Resultat seines eigenen Werdens ist nicht bloß eine formelle Eigenschaft des Absoluten neben seinem Inhalt (das Absolute etwa als Sein, Gott, Liebe, Substanz, Ich, Natur usw.), sondern umfaßt und 35

Ebd. Ebd. 37 Ebd. 530. 38 Ebd. 39 Ebd. 555. 40 Ebd. 36

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vereinigt durch und durch seine Form und seinen Inhalt in eins: Das Absolute als das Wahre und das Ganze „ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein“41. Das Absolute ist nicht einfach, d. h. es läßt sich nicht als Sein bzw. als Seiendes charakterisieren, auch nicht als ein an sich bestimmtes Wesen hinter der Erscheinung. Es ist vielmehr als ein solches Wesen zu begreifen, das nur insofern ist, als es erscheint und sich manifestiert, oder als ein solches Inneres, das sich äußern und in das Äußere umschlagen muß. Der Inhalt des Absoluten ist nicht ein Vorausgesetztes, das in der Reinheit der Innerlichkeit als Vorkonstituiertes existiere, sondern er macht sich und wird zu dem, was er ist, erst dadurch, daß er ins Offene geht und ins Äußere der Form hinaustritt. Wenn wir demzufolge das Absolute als wechselseitige Bedingtheit der Momente des Wesens und der Erscheinung, des Inneren und des Äußeren, des Inhalts und der Form, des Verborgen- und des Manifestiertseins auszeichnen, ist das allerdings nicht bloß als Einheit dieser Momente zu verstehen – denn dies hieße, noch in der Sphäre der Wesenslogik und also des Verstandes zu bleiben. Der begriffslogischen Auffassung zufolge geht es darum, jene wechselseitige Bedingtheit der Momente des Absoluten als Werden bzw. Sichselbstwerden zu begreifen: prozessuelle Vorwärts- und Rückwärtsbewegung des Inhalts, der sich in das Äußere der Form anteflektiert und der Form, die sich in das Innere des Inhalts retroflektiert. Das Resultat, das hier als retroflektiertes Produkt des Werdens des Inhalts und der Form bestimmt wird, ist mithin nicht der abstrakte t]kor42 (allgemeiner Zweck) oder „das nackte Resultat“ als „der Leichnam, der sie [die Tendenz] hinter sich gelassen“43 hat, sondern das Resultat „zusammen mit seinem Werden“44, und zwar, mit einem Wort, „Ausführung“45: 1m]qceia als produktive Tätigkeit, die bei und in ihrem Produkt (5qcom) erhalten bleibt. All das läßt sich auch einfach dadurch ausdrücken, indem man sagt: „Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten“46. Denn der Geist „ist nicht ein Ruhendes, sondern vielmehr das absolut Unruhige, die reine Tätigkeit, […] nicht ein vor seinem Erscheinen schon fertiges, mit sich selber hinter dem Berge der Erscheinungen haltendes Wesen, sondern nur 41 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, neu hg. von HansFriedrich Wessels u. Heinrich Clairmont, Hamburg 2011, nach dem Text: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, ebd. Im folgenden abgekürzt als PhdG, mit Angabe der Seitenzahl, hier: PhdG, 15. 42 S. dazu in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Hegels inszenierte Gigantomachie zwischen Platon als Vertreter des allgemeinen Zwecks, der Idee (eWdor), des Allgemeinen überhaupt, des Begriffs nur an sich, und Aristoteles als Vertreter der Wirklichkeit, der Tätigkeit der Verwirklichung (1m]qceia), der Negativität als Prinzips der Subjektivität (Nachschriften und Manuskripte, 8, 68 – 70). 43 Hegel: PhdG, 5. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Hegel: GW 20, 382.

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durch die bestimmten Formen seines notwendigen Sichoffenbarens in Wahrheit wirklich […]“47. Die Grundseinsweise des Absoluten ist es, Geist zu sein, weil sein Sichselbstwerden sich als Sichoffenbaren und Wirklichwerden (Selbstverwirklichung) vollzieht. Die Offenbarung oder, allgemeiner ausgedrückt, die „Manifestation“ macht die „Bestimmtheit des Geistes“48 überhaupt. Denn der Geist „ist nicht irgendeine Bestimmtheit oder Inhalt, dessen Äußerung oder Äußerlichkeit nur davon unterschiedene Form wäre; so daß er nicht etwas offenbart, sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst“49. Der Geist ist nicht etwas bzw. „ein vor seinem Erscheinen schon fertiges, mit sich selber hinter dem Berge der Erscheinungen haltendes Wesen“50, das sich dann in der Äußerlichkeit äußert und offenbart. Noch offenbart er einfach etwas als einen fertigen innerlichen Inhalt (eine Wahrheit, eine Bedeutung, einen Sachverhalt, einen Gedanken usw.). Der Geist ist Offenbarung, weil sein Sein vollständig in sein Werden (Ausführung) kollabiert und sich in die Prozessualität des Sichoffenbarens auflöst: Er ist, mit anderen Worten, Sichselbstwerden durch das und als Sichselbstoffenbaren. Das heißt aber auch, daß die Offenbarung nicht einfach ein Prozeß- oder ein Bewegungstyp unter anderen ist: Als das Wesen des Absoluten definierend, bringt sie den absoluten Begriff zur Manifestation, welcher – wie gesehen – „die Natur der Sache [ist], […] die sich fortbewegt und entwickelt, und diese Bewegung ebensosehr die Tätigkeit des Erkennens ist“51. IV. Die Frage nach der Seinsweise der Natur und die drei Offenbarungsweisen des Geistes. Natur als Verborgenheit des Begriffs Daß das Sichoffenbaren des Geistes den allen Dingen immanenten absoluten Begriff zutage bringt, heißt allerdings nicht, daß es eine univoke Seinsweise des Absoluten beschreibt. Das Sichoffenbaren hat hingegen „drei unterschiedene Formen“52, die nach unserem Interpretationsvorschlag den drei Schlüssen der Philosophie entsprechen. Der Paragraph 384 der Philosophie des Geistes bietet einen Überblick über die drei Offenbarungsweisen des Geistes: „Das Offenbaren, welches als das Offenbaren der abstrakten Idee unmittelbarer Übergang, Werden der Natur ist, ist als Offenbaren des Geistes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur

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Hegel: Werke 10, 12. Hegel: GW 20, 382. 49 Ebd. 50 Hegel: Werke 10, 12. 51 Hegel: GW 20, 571. 52 Hegel: Werke 10, 30. 48

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ist. Das Offenbaren im Begriffe ist Erschaffen derselben als seines Seins, in welchem er die Affirmation und Wahrheit seiner Freiheit sich gibt“53.

Um das hier zu Denkende adäquat zu erfassen, gilt es, diesen drei Offenbarungsweisen des Geistes nachzugehen. 1. Erste Offenbarungsweise des Geistes. Transzendenz- und Erscheinungsfeld Die erste Offenbarungsform, die dem ersten Schluß der Philosophie, d. h. dem von uns umbenannten Schluß der Natur als Schwelle oder Schluß der Transzendenz, entspricht, ist „das Offenbaren der abstrakten Idee“54 oder des an sich seienden Geistes als Abstrakt-Logischen. Hegel charakterisiert dieses erste Offenbaren auch als „Werden der Natur“55 und eben in dieser Bestimmung befindet sich unseres Erachtens der Schwellencharakter der Natur. Das Werden der Natur umfasst, vermittelt und verknotet die beiden Pole miteinander, die im ersten Schluß der Philosophie als Extreme auftreten, das Abstrakt-Logische und den Geist, und weist somit einen zweideutigen Wesenszug auf: Das Werden der Natur ist nämlich zugleich Werden des Logischen zur Natur und Werden der Natur zum Geist und ermöglicht bzw. bedingt damit das Werden des Logischen zum Geist: „Das Logische wird zur Natur und die Natur zum Geiste“56. Dieses Werden über die Natur als „Durchgangspunkt“57 und als Schwelle fängt also als Offenbaren der abstrakten Idee an, welches ein widersprüchliches Offenbaren ist, weil es – wie wir zu zeigen haben – Offenbarung in der Weise des Erscheinens, des Verbergens und also des Nichtoffenbarens ist. Um diesen widersprüchlichen Wesenszug des Offenbarens der Idee und daher dessen Charakterisierung als Erscheinen und Verbergen zu verstehen, muß man den genauen spekulativen Wendepunkt in den Blick nehmen, an dem dieser Widerspruch, der das Werden der Natur entfacht, entsteht. Er wurzelt im „Umschlagen der Idee in die Unmittelbarkeit äußerlichen und vereinzelten Daseins“58, und zwar im Werden der Idee zur Natur. Dieses Werden läßt sich Hegel zufolge als ein Akt der Freiheit der Idee schildern, welche „in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschließt, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen“59. In der absoluten Immanenz der logischen Totalität ist die Andersheit als Moment der Besonderheit des Begriffs schon immer negiert, aufgehoben und aufbewahrt. Die 53

Hegel: GW 20, 382. Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd. 570. 57 Ebd. 58 Hegel: Werke 10, 30. 59 Hegel: GW 20, 231. 54

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immanent-logische oder einfach immanente Andersheit ist somit keine absolute, sondern nur eine relative Andersheit der Idee, eben weil sie als schon immer aufgehoben gesetzt wird: Das Setzen der Andersheit in der Idee deckt sich unmittelbar mit dem Aufheben derselben. Aber gerade auf dem Höhepunkt ihrer immanenten logischen Entwicklung entschließt sich die Idee, sich als Andersheit ihrer selbst frei aus sich zu entlassen: Die Idee offenbart sich, indem sie sich in der Dualität der entlassenden und der entlassenen Idee verdoppelt, sich selbst transzendiert, d. h. über sich und ihre logische Immanenz hinausgeht, in das ihr äußerliche Dasein umschlägt und mithin die „Form des Andersseins“60 gegen sich selbst annimmt. In dieser entäußerten Form ist die sich transzendierende und sich offenbarende Idee „das Negative ihrer selbst“61 und also „sich äußerlich“62 oder, wie wir das auch deuten können: Sie ist das Transzendente ihrer selbst und somit sich transzendent. Aufgrund dieser Selbstrekursivität des Äußerlich- und Transzendentseins der Idee als Natur ist Letztere „nicht äußerlich nur relativ gegen diese Idee (und gegen die subjektive Existenz derselben, den Geist), sondern die Äußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist“63. Anders ausgedrückt, haben wir es hier mit einer absoluten Andersheit zu tun, in dem Sinne, daß sie eine nicht schon immer negierte und aufgehobene, sondern eine noch nicht aufgehobene und somit noch aufzuhebende Andersheit konstituiert. Das Sichtranszendieren der Idee in die Andersheit ihrer selbst setzt diese Andersheit nicht als schon gegeben und vorkonstituiert voraus, sondern ist vielmehr schöpferische Konstitution der Andersheit des Anderen. Das Über-sich-hinausgegangen-sein und die Selbsttranszendenz der Idee fallen also unmittelbar mit dem Heraustreten der Andersheit aus der Totalität des Logischen zusammen. In dieser immer wieder aufzuhebenden transzendenten Andersheit, die „die Form der Unmittelbarkeit, des Seins außer der Idee“64 hat, besteht die Natur als Schwelle, d. h. als Erschließung eines Transzendenzfeldes, welches sich durch den Akt der Selbsttranszendierung der Idee konstituiert hat. Wie es naheliegt, handelt es sich dabei nicht um die Transzendenz der Idee gegenüber der Welt, sondern umgekehrt um die Transzendenz der Erscheinungswelt über die absolut immanente Totalität des Kºcos: Transzendenz bedeutet hier Herausgetreten-sein bzw. Hinausgegangensein der Natur aus der bzw. über die Totalität des Logischen. Dieses transzendente Dasein der Andersheit als Nicht-mehr-in-der-Idee-sein oder Außerhalb-der-Totalität-sein macht also das Transzendenzfeld der Natur aus und kennzeichnet das widersprüchliche Offenbaren der abstrakten Idee: Denn eben beim Sichtranszendieren zieht sich die Idee in den Hintergrund zurück, um Raum 60

Ebd. 237. Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Hegel: Werke 10, 30. 61

Die Frage nach der Natur in Hegels Enzyklopädie

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für die transzendente Andersheit der Natur zu schaffen. Ursprünglich offenbart sich also die Idee in der Natur in der Weise des Sichzurückziehens und Sichverbergens. Aber die Natur ist gerade diese Entzogenheit und Verborgenheit der Idee, weil „das Innere der Natur nichts anderes als das Allgemeine ist“65, d. h. der absolute Begriff, der „die Natur der Sache“66 ausmacht. Darin liegt zugleich die Bestimmung der Natur als Erscheinen der Idee in Raum und Zeit und somit als Konstitution eines Erscheinungsfeldes, welches im Transzendenzfeld wurzelt und Offenbaren der Idee in der Weise der Entzogenheit, der Verborgenheit und also des Nichtoffenbarens ist. Erscheinen bedeutet hier: Geworfensein der Idee in Raum und Zeit, welche „Ausdehnungen, Vielheiten“67 sind, d. h. „ein Außer-sich-Gehen, ein Strömen […], das aber nicht ins Entgegengesetzte, in die Qualität oder das Eins übergeht, sondern als Außersichkommen ein perennierendes Selbstproduzieren ihrer Einheit sind“68. Wir können dementsprechend dieses Außersichgehen in Raum und Zeit als rein quantitatives Erscheinen interpretieren und dieses als unbestimmtes und als anonym-asubjektives Erscheinen kennzeichnen, weil es nicht nur kein Erscheinen-von-etwas (als Qualität und Eins) ist, sondern auch kein Erscheinen-für-jemanden bzw. kein Erscheinen eines Objekts für ein Subjekt oder eines Gegenstandes für ein Bewußtsein ist. Wie schon gesagt, ist dieses unbestimmte, anonym-asubjektive Erscheinen das Offenbaren der abstrakten Idee im Transzendenzfeld der absoluten Andersheit der Natur, und zwar, mit anderen Worten, es ist ein Sichoffenbaren, das aber zugleich ein Sichverbergen der Idee ist: der Widerspruch des Offenbarens als Nichtoffenbarens. Daß die Idee erscheint und in Raum und Zeit geworfen ist, heißt nun nichts anderes, als daß sie sich in der Weise der Entzogenheit und der Verborgenheit offenbart. 2. Zweite Offenbarungsweise des Geistes. Un-Verborgenheit des Begriffs im Manifestationsfeld Diese Offenbarung der Idee als Werden des Logischen zur Natur geht durch die Schwelle der Natur hindurch in das Werden der Natur zum Geist über. Denn die Natur, insofern sie Transzendenz- und Erscheinungsfeld, also Entzogenheit und Verborgenheit der Idee ist, ist – wie schon gesehen – „der unaufgelöste Widerspruch“69 und kann nicht bei sich selbst bleiben oder bei ihrer absoluten Andersheit verharren. Als unaufgelöster Widerspruch ist die Natur also Werden zum Geist und 65 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen (1830), in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 9, ebd. 23. 66 Hegel: GW 20, 571. 67 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832), neu hg. von Hans-Jürgen Gawoll, Hamburg 2008, nach dem Text: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 21, ebd. 197. 68 Ebd. 69 Hegel: GW 20, 237.

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eben darin liegt ihre Bestimmtheit, Schwelle des Werdens der Idee zum Geist und der Selbstoffenbarung des Geistes zu sein: „Die Idee oder der in der Natur schlafende ansichseiende Geist hebt deshalb die Äußerlichkeit, Vereinzelung und Unmittelbarkeit der Natur auf, schafft sich ein seiner Innerlichkeit und Allgemeinheit gemäßes Dasein und wird dadurch der in sich reflektierte, für sich seiende, selbstbewußte, erwachte Geist oder der Geist als solcher. – Hiermit ist die zweite Form der Offenbarung des Geistes gegeben“70.

Die zweite Offenbarungsweise des Geistes entspricht dem zweiten Schluß der Philosophie, den wir als Schluß des Voraussetzens bzw. endlichen Setzens der Natur oder Schluß der unvollkommenen Humanisierung der Natur bezeichnet haben. Diese Humanisierung macht den Kern des „Offenbaren[s] des Geistes, der frei ist“71 aus, gerade weil sie die Freiheit des Geistes, d. h. „die absolute Negativität des Begriffes als Identität mit sich“72 zur Manifestation bringt und in die Tat umsetzt. Die Freiheit läßt sich demgemäß nicht als abstrakte Eigenschaft des Geistes definieren, die er unabhängig vom seinem Tätigsein besäße, sondern besteht in nichts anderem als in der oben beschriebenen 1m]qceia als Ausführung, Vollzug, verwirklichender Tätigkeit des Resultats, das erst durch sein Werden zutage und zustande kommt. Dementsprechend vollzieht sich die Freiheit erst als Negation bzw. humanisierende Aufhebung der Andersheit („Äußerlichkeit, Vereinzelung und Unmittelbarkeit“73) der Natur, und zwar durch die schöpferische Konstitution eines weltlichen Daseins, das mit der „Innerlichkeit und Allgemeinheit“74 des Geistes, d. h. mit dem Begriffs-Lógos übereinstimmt, der in der Natur verborgen ist. Mit anderen Worten: Der endliche Geist bemüht sich ständig, sich eine der Rationalität seines Begriffs angemessene äußerliche Realität zu schaffen und zu geben und versucht damit, seine „Endlichkeit“75 bzw. die „Unangemessenheit des Begriffs und der Realität“76 zu überwinden. Obwohl diese Überwindung der Endlichkeit, das Begreifen des Geistes und die Humanisierung der Natur in der Erscheinung des zweiten Schlusses noch ein Versuch bzw. ein unvollkommenes Streben bleiben müssen, ist schon in diesem Tätigsein des Geistes das Hegel zufolge richtige Wahrheitskonzept am Werk, welches alle nicht spekulativen (realistischen, subjektivistischen, empiristischen, phänomenalistischen) Vorstellungen der Wahrheit überwindet. Denn im Rahmen der Selbstoffenbarung und der negativen Macht der Freiheit des Geistes ist die Wahrheit nicht abstrakt-verstandesmäßig als aqh|tgr und adaequatio, sondern vernunftgemäß-dialektisch als !-k^heia zu verstehen: UnVerborgenheit als aufhebende Negation (!-) der k^hg, d. h. der Vergessenheit und 70

Hegel: Werke 10, 30. Hegel: GW 20, 382. 72 Ebd. 73 Hegel: Werke 10, 30. 74 Hegel: GW 20, 383. 75 Ebd. 76 Ebd. 71

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des Verborgenseins des Begriffs-Lógos im Transzendenzfeld der Andersheit der Natur. Das Ins-Offene-gehen des Geistes ist zugleich Ins-Offene-gehen des Begriffs, denn in der Selbstoffenbarung des Geistes zeigen und manifestieren sich alle Seienden als das, was sie in Wahrheit bzw. in der Idee und ihrem Begriff nach sind. Das Seiende wird durch das Licht der Selbstoffenbarung des Geistes durchsichtig bzw. intelligibel und somit als das gesetzt, was es in Wahrheit ist. Nicht nur verbergen die Seienden den Begriff, sondern insofern sie durch die negative Macht und die verwirklichende Tätigkeit (1m]qceia) des Geistes in ihrer Wahrheit (!-k^heia) gesetzt werden, enthüllen und manifestieren sie den Begriff-Lógos zugleich. Die Selbstoffenbarung des Geistes konstituiert mithin ein Feld der Manifestation der Seienden in ihrer Wahrheit und Durchsichtigkeit. Dieses Manifestationsfeld stellt die Aufhebung der Undurchsichtigkeit und Unintelligibilität dar, die dem Transzendenzund Erscheinungsfeld der Andersheit der Natur gehören. Die Wahrheit als !-k^heia ist nun der Prozeß des Wahrwerdens im Manifestationsfeld des Geistes, in dem die äußerliche Realität der Andersheit idealisiert, durchsichtig gemacht und also humanisiert wird, sodaß sie dem Begriff nicht mehr widerspricht, sondern ihm angemessen und mit ihm in Übereinstimmung ist. Ein solches Wahr- und Durchsichtigmachen geschieht durch alle theoretischen und praktischen Formen des Tätigseins des subjektiven und objektiven Geistes in der Welt, etwa beim Fühlen und Empfinden der Natur und der Seienden in der Seele, beim Wissen der Seienden im Bewußtsein, beim Nennen und Benennen der Seienden in der Sprache, beim Auffassen der Seienden in der Wahrnehmung und dem Verstand, beim Verarbeiten und Formen der Dinge in der Arbeit und letztendlich bei der „Organisation“77 aller Seienden der Natur und aller menschlichen Verhältnisse der Weltgeschichte im „Geisterreich“78. Wie schon betont sind wir aber noch im Bereich der Endlichkeit des Geistes, denn diese zweite Offenbarungsweise ist zwar schon „Setzen der Natur als seiner Welt“79 bzw. als Welt des Geistes, aber dieses Setzen bleibt noch „ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist“80. Die Freiheit des Geistes ist wesentlich Andersheitssetzung und Negativität als Abstraktionsmacht. Dies vollzieht sich hier allerdings noch als endliche Andersheitssetzung und somit als nicht absolute Negativität des Freiseins: Das Setzen der Andersheit ist ein Voraussetzen bzw. wird noch als Voraussetzen gewußt und so richtet sich die Negativität eben auf ein vorausgesetztes, d. h. gegebenes und vorgefundenes Anderes. Die Andersheit des Anderen wird also noch als absolut gedacht und erfahren, d. h. als schon immer vorhandene Realität der raumzeitlichen Erscheinungswelt, die zwar zu humanisieren ist, die aber der humanisierenden 77

Hegel: PhdG, 531. Ebd. 530. 79 Hegel: GW 20, 382. 80 Ebd. 78

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Tätigkeit als absolutes Ansichsein vorausgeht. So betrachtet ist die absolute Andersheit der Welt bzw. der Natur nicht als Manifestation des ansichseienden Geistes oder des verborgenen Begriffs-Lógos erkannt: „Der erwachende Geist erkennt hier noch nicht seine Einheit mit dem in der Natur verborgenen an sich seienden Geiste, steht daher zur Natur in äußerlicher Beziehung, erscheint nicht als alles in allem, sondern nur als die eine Seite des Verhältnisses […]“81. Die Natur, welche humanisiert und als Welt des Geistes gesetzt werden soll, ist noch ein Äußerliches und Fremdes dem Geist gegenüber, d. h. sie wird noch als absolut Gegebenes und Vorgefundenes vorausgesetzt. Der Geist ist also noch endlich, weil er nicht erkennt, daß die Natur in Wahrheit nichts anderes ist als verborgener ansichseiender Geist bzw. immanenter Begriff. Mit anderen Worten: Der Geist erkennt sich selbst noch nicht als Wahrheit der Natur, d. h. als Verwirklichung der der Natur immanenten Rationalität des Begriffs und betrachtet sich nur als „eine Seite des Verhältnisses“82 zwischen sich selbst und der Natur. Der endliche Geist erkennt sich nicht „als alles in allem“83, und zwar als Absolutes und als Ganzes des Prozesses des Wahr- und Wirklichwerdens, sondern sieht sich nur als Moment eines Ganzen an, das über ihn hinausgeht und ihm vorausgeht. Somit bleibt die Andersheit des Anderen „noch ein von ihm Unabhängiges, ein unmittelbar Vorhandenes, vom Geiste nicht Gesetztes, sondern nur Vorausgesetztes, also ein solches, dessen Gesetztwerden dem reflektierenden Denken vorhergeht“84. 3. Dritte Offenbarungsweise des Geistes. Verklärung der Schranke zum Mittel Die dritte Offenbarungsweise des Geistes, die sich auf den dritten Schluß der Philosophie – den Schluß der vollkommenen Humanisierung der Natur oder Schluß des absoluten Geistes – zurückführen läßt, ist das „Offenbaren im Begriffe“85, in dem das Setzen der Natur als Welt des Geistes nicht mehr als Voraussetzen betrachtet wird, sondern als „Erschaffen derselben [Welt] als seines Seins, in welchem er die Affirmation und Wahrheit seiner Freiheit sich gibt“86. In der Erscheinung des zweiten Schlusses und also in der Selbstoffenbarung des endlichen Geistes wird die Natur „noch nicht als nur durch den unendlichen Geist bestehend, als seine Schöpfung begriffen“87. Die Natur, die als absolute Transzendenz und Andersheit, d. h. als Gegebenheit vorausgesetzt wird, bestimmt sich als

81

Hegel: Werke 10, 30. Ebd. 83 Ebd. 84 Ebd. 31. 85 Hegel: GW 20, 382. 86 Ebd. 87 Hegel: Werke 10, 31. 82

Die Frage nach der Natur in Hegels Enzyklopädie

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„Schranke“88 gegen den Geist und dieser „ist eben durch diese Schranke endlicher Geist. – Diese Schranke wird nun vom absoluten Wissen aufgehoben, welches die dritte und höchste Form der Offenbarung des Geistes ist“89. Das absolute Wissen ist nichts anderes als Wissen der Freiheit als absoluter Negativität, welche als unendliche Andersheitssetzung und Aufhebungskraft die zu negierende und aufzuhebende Andersheit nicht mehr als absolut Gegebenes voraussetzt, sondern als vom Geist selbst erschaffen, aktiv und schöpferisch gesetzt erkennt. Das Setzen der absoluten Freiheit des Geistes ist also nicht mehr „das Vorfinden einer Welt als einer vorausgesetzten“, sondern das „Erzeugen derselben als eines von ihm Gesetzten“ und damit „die Befreiung von ihr und in ihr“90 : Der Geist befreit sich von der Transzendenz und der absoluten Andersheit der Natur in der Natur oder, anders ausgedrückt: Die Freiheit als absolute Negativität, die das Andere aktiv setzt, um es zu negieren und aufzuheben, ist „nicht bloß eine außerhalb des Anderen, sondern eine im Anderen errungene Unabhängigkeit vom Anderen [und] kommt nicht durch die Flucht vor dem Anderen, sondern durch dessen Überwindung zur Wirklichkeit“91. Diese Selbstverwirklichung der Freiheit in der Welt und im Reich der Endlichkeit kann also nicht die Bedeutung haben, daß die Andersheit der Natur in einem nie abgeschlossenen und schlecht-unendlichen Ablauf des Sollens unablässig zu überwinden ist oder gar vernichtet werden soll. Die negierende Aufhebung durch die Freiheit des absoluten Geistes ist nicht gegen die Andersheit als solche gerichtet, sondern gegen den Schein ihrer Gegebenheit, Vorgefundenheit und Vorausgesetztheit und erst aus diesem Grund kann sich die Freiheit als vollkommene Humanisierung der Natur erfüllen. In dieser humanisierenden Idealisierung und der Durchsichtigmachung, die im Selbstoffenbaren des absoluten Geistes zustande kommen, wird die Andersheit der Natur nicht getilgt und beseitigt, sondern als immer wieder aufzuhebende Andersheit aufbewahrt: Sie ist immer wieder aufzuheben und kann zugleich vollkommen aufgehoben werden in dem Sinne, daß sie im Reich der Unendlichkeit und des absoluten Geistes in ihrer Wahrheit manifestiert wird und vom verbergenden anonym-asubjektiven Erscheinen der Idee in die enthüllende Manifestation des verborgenen Begriffs übergeht. Damit werden die Entzogenheit und Verborgenheit des Begriffs-Lógos im Transzendenz- und Erscheinungsfeld zur Un-Verborgenheit (!-k^heia) des Manifestationsfeldes verklärt. Die Aufhebung der Andersheit des Anderen im dritten Schluß und in der dritten Offenbarungsweise des Geistes kommt also nicht einer vernichtenden Negation der Natur gleich, sondern besteht darin, daß das Andere „vollkommen aufhört, eine Schranke für ihn [den Geist] zu sein, und nur als das Mittel erscheint, durch welches der Geist […] zur absoluten Einheit […] seines Begriffs und seiner Wirklichkeit

88

Ebd. Ebd. 90 Hegel: GW 20, 384. 91 Hegel: Werke 10, 26. 89

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gelangt“92. Die Schranke ist ein fremdes und zufälliges Hindernis, das von außen her in das Leben des Geistes einbricht, ihm im Weg steht und seiner Selbstoffenbarung bzw. der Selbstverwirklichung seiner Freiheit einen blinden und stumpfen Widerstand entgegensetzt. Im absoluten Wissen wird jede Schranke als Mittel erkannt bzw. zum Mittel verklärt und idealisiert: Das Mittel ist nämlich die nicht intellektuell-vorausgesetzte, sondern rational-gesetzte bzw. dialektisch-erschaffene Andersheit, welche in das Geisterreich und daher in das Offenbarungs- und Manifestationsfeld des absoluten Geistes aufgenommen, einverleibt und integriert werden kann. Die Andersheit als Mittel ist die Schwelle, der plastische Durchgangs- und Vermittlungspunkt, der im ersten Schluß der Philosophie „zwischen dem Geiste und seinem Wesen steht“93. Dieser dialektische Transferpunkt – die Mitte als Mittel und Schwelle – „trennt sie [den Geist und sein Wesen] zwar nicht zu Extremen endlicher Abstraktion, noch [trennt er] sich von ihnen zu einem Selbständigen, das als Anderes nur Andere zusammenschlösse“94. Wir können Hegels Schilderung des Verhältnisses der drei Termini im ersten Schluß vom Standpunkt des dritten Schlusses und des absoluten Wissens folgendermaßen auslegen: Die Schwelle ist nicht etwas Selbständiges, Separates und Getrenntes von den Polen, die sie miteinander dialektisch vermittelt. Die Natur als Schwelle ist nicht die vorausgesetzte Transzendenz eines vorgefundenen Gegebenen, eines absolut Anderen, das in absoluter Fremdheit aller Termini der Vermittlung „nur Andere zusammenschlösse“95. Sie ist hingegen einerseits durch die Idee, andererseits durch den absoluten Geist dialektisch gesetzt und erschaffen und somit ist sie ihrer Seinsweise nach sowohl Idee als auch Geist: Die Natur als Schwelle ist Idee in der Form des Andersseins (entzogener und verborgener Begriff) und zugleich Geist als schlafender bzw. an sich seiender Geist. In dieser ihrer Stellung im System (Zwischensein zwischen Idee und Geist, das aber sowohl am Sein der Idee als auch am Sein des Geistes partizipiert) erschöpft sich die Seinsweise der Natur als Verborgenheit des Begriffs-Lógos und liegt die daraus hervorgehende Notwendigkeit der immerwährenden Bewegung der Un-Verborgenheit (!-k^heia) und des Werdens des Logischen zum Geistigen. Literatur Füzesi, Nicolas: Hegels drei Schlüsse, Freiburg/München 2004. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 3. Griechische Philosophie. II. Plato bis Proklos, hg. von Pierre Garniron u. Walter Jaeschke, Hamburg 1996, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 8, Hamburg 1983 ff. 92

Ebd. 31. Hegel: GW 20, 570. 94 Ebd. 95 Ebd. 93

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen (1830), in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 9, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen (1830), in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), unter Mitarbeit von Udo Rameil hg. v. Wolfgang Bonsiepen u. HansChristian Lucas, Hamburg 1992, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 20. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Heidelberg 1817. Mitgeschrieben von F. A. Good, hg. von Karen Gloy, Hamburg 1992, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 11. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832), neu hg. von Hans-Jürgen Gawoll, Hamburg 2008, nach dem Text: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 21. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, neu hg. von Hans-Friedrich Wessels u. Heinrich Clairmont, Hamburg 2011, nach dem Text: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1819 und 1820/21, hg. von Klaus Grotsch, Hamburg 2016, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 30.

III. Geistphilosophie

Aristotelische und Kantische Anstöße in der subjektiven Konstituierung des Geistes bei Hegel Hardy Neumann (Valparaíso) I. Zur Hinführung Laut Hegel ist es nicht möglich, daß sich die Philosophie im „freie[n] Reich des Gedankens“1 ohne die nötige Ruhe für das „innere Leben des Geistes“ 2 entwickelt. Sie befreit sich aber in ihren periodischen (Wieder)Anfängen nicht selbst von den gewaltigen und langwierigen Aufgaben, wie es der göttliche Appell bei Parmenides wqe½ d] se p\mta puh]shai3 bzw. die Kartesische methodische Anweisung, „alles von den ersten Grundlagen an neu zu beginnen“4, fordert. Man darf sagen, daß sich bei Hegel diese Tendenz in betonter Form in der Philosophie des Geistes verwirklicht, die als solche das alte griechische Gebot, welches selbst geistig ist, cm_hi seaut|m, „erkenne dich selbst“5, in sich trägt. Die Erkenntnis des Geistes ist auch als eine Aufgabe zu begreifen. Aber die Herausforderungen, die diese erkenntnishafte Aufgabe nach sich zieht, werden weder durch eine „bloße Selbsterkenntnis“6 übernommen, die den Geist objektivieren würde, noch durch eine schlichte Reflexion. Das Vorhaben des Geistes erfüllt

1

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. v. Wolfgang Bonsiepen u. Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg 1968 ff. Im folgenden abgekürzt als GW, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier: Werke 10, 399. 2 Hegel: Werke 10, 400. 3 Die Aufforderung des Parmenides, das „der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterlich Herz“ ()kghe_gr eqjujk]or !tqel³r Htoq) (DK, Fr. 1, 29) zu erfahren, gliedert sich an einen Grundzug der Philosophie an, denn diese ist „wie das Universum rund in sich […]“ (Werke 10, 405). 4 Genauer: A primis fundamentis denuo inchoandum si quid aliquando firmum et mansurum cupiam in scientiis stabilire (Descartes: Med. I AT VII, 17). 5 Hegel macht auf diesen Satz ausdrücklich aufmerksam. Vgl. Werke 10, 9. Im gleichen Sinne: Heraklit: DK, Fr. 101. Ferner Platon: Protagoras, 343b. 6 Hegel: Werke 10, 9.

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Hardy Neumann

sich eher durch seine Selbstsubjektivierung7. Daraus folgt, daß die Idee der Selbstbezüglichkeit als Leitfaden des (Selbst)Begreifens des Geistes in dessen sukzessiven Phasen dienen kann, insofern in sie die erforderlichen Momente eingegliedert werden, in welchen sich die selbstbezogene und selbstreferierende Aufgabe auch im Modus der Entäußerung darstellt. Während sich der Geist in der Natur als etwas von ihm Unterschiedenes verhält, wobei er gleichermaßen auf die Natur als etwas hinweist, was ihn entäußert, versuchen Gegenstand und Begriff dagegen, in den unterschiedlichen Sphären seiner subjektiven Konstituierung, gemäß der Unterschiedlichkeit ihrer Seinsmodi, Identität zu erlangen. Nur im erkenntnishaften Vorgehen mit sich selbst kommt der Geist dazu, sich als das, was er ist, zu bestimmen und zu konstituieren. Der Geist besteht „nicht in eine[r] substantiale[n] geistige[n] Wirklichkeit, der zusätzlich ein Wissen zugeschrieben werden könnte“8. Der Geist ist Begriff, der „den Begriff zu seinem Daseyn hat“9, und dadurch, daß er das Dasein als Begriff hat, hat er sich selbst in ihm10. Die Formel „Erkenntnis des Geistes“ ist „stets als genitivus subiectivus et obiectivus zu lesen; es ist der Geist, der erkennt und erkannt wird“11. Die selbstbegreifende, erkenntnishafte Leistung des Geistes führt also wesentlich auf das philosophische Projekt Hegels zurück, das in der Erkenntnis „des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst des Geistes“12 besteht. In der Selbsterkenntnis des Geistes findet seine eigene Verwirklichung statt. Nur durch einen Selbstvollzug hebt der Geist seine bloßen subjektiven Gestalten auf; doch gilt auch umgekehrt, daß erst die Selbstverwirklichung des Geistes seine eigene Erkenntnis ausmacht. Ein solcher Prozess ist von Schwierigkeiten nicht befreit. In den vom Geist erfahrbaren Gegensätzen geht es darum, die prädikativen Bestimmungen, die dem Geist zugeschrieben werden, zugleich in „Realisierungen der Bestimmungen im Objekt“13 zu verwandeln. In der 7 Die Erkenntnis des Geistes ist nach Hegel die schwerste. In einem ähnlichen Sinne hatte Kant gesagt, die Selbsterkenntnis der Vernunft sei das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte (vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A XI). 8 „Es gibt nicht eine substantiale geistige Wirklichkeit, der zusätzlich ein Wissen zugeschrieben werden könnte“ (Walter Jaeschke: Hegel Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart / Weimar 20102, 351). 9 Hegel: Werke 9, 537. 10 Oder, wie Jaeschke sagt: „Geist ist das Begreifende und das Begriffene“ (Walter Jaeschke: „Heidelberger und Berliner Vorlesungen“ (1816 – 1831), in: Hegel Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart-Weimar 20102, 351. Bereits in der Zeit seiner Lehrtätigkeit am Gymnasium in Nürnberg notierte Hegel: „Das Begriffene, und dies heißt das aus der Dialektik hervorgehende Spekulative, ist allein das Philosophische in der Form des Begriffs“ (Werke 4, 416). 11 Andreas Arndt / Walter Jaeschke: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785 – 1845, München 2012, 632. 12 Hegel: Werke 10, 9. 13 Franz Hespe: „Hegels Philosophie des subjektiven Geistes im enzyklopädischen System“, in: Hegels enzyklopädisches System der Philosophie. Von der Wissenschaft der Logik

Anstöße in der subjektiven Konstituierung des Geistes bei Hegel

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philosophischen Erkenntnis des Geistes hat man es mit der „konkretesten, entwickeltsten Form zu tun, zu welcher die Idee in der Verwirklichung ihrer selbst gelangt“14. Hegel erklärt deutlich, daß „auch der endliche oder subjektive Geist – nicht bloß der absolute – als eine Verwirklichung der Idee gefaßt werden“15 muß. Die Aufforderung der Selbsterkenntnis wird dem Geist nicht äußerlich gegeben, da „[a]lles Tun des Geistes […]“, auch seine subjektive Verwirklichung, „nur ein Erfassen seiner selbst“16 ist, und zwar dergestalt, daß „der Zweck aller wahrhaften Wissenschaft nur der ist, daß der Geist in allem, was im Himmel und auf der Erden ist, sich selbst erkenne“17. „Der zur Selbsterkenntnis treibende Gott [der delphische Gott ist gemeint] ist vielmehr nichts anderes als das eigene absolute Gesetz des Geistes“18. Die höchste mögliche Definition des Absoluten, daß „das Absolute der Geist“19 ist, prägt tiefgründig jede Bildung und jede Philosophie, die darum bemüht ist, den Sinn dieser Definition zu finden und zu begreifen20. Wir streben in dieser Arbeit danach, zu verifizieren, wie und inwieweit einige Ideen von Aristoteles und Kant Anstöße darstellen, die dazu beitragen, den Geist als Realisierung des Selbstwissens aufzufassen, und zwar derart, daß erst in diesem Wissen der Geist von selbst zur echten Verwirklichung seines Selbst wird. II. Aristotelische Anstöße Die Geistphilosophie als zweiter Teil der Realphilosophie stellt die positive Entäußerung der Idee in ihrem Rückgang zu sich selbst dar, indem sie durch die Natur bereichert wird, da der „Geist […] die Natur zu seiner Voraussetzung“ hat21. In der Enzyklopädie erhält die subjektive und endliche Entwicklung des Geistes eine anthropologische, phänomenologische und psychologische Behandlung22. Diese erkenntnishaften, selbstbestimmenden Zugangsweisen tragen auch partiell zu zur Philosophie des absoluten Geistes, hg. von Hans-Christian Lucas, Burkhard Tuschling, Ulrich Vogel, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 223. 14 Hegel: Werke 10, 9. 15 Ebda. 16 Hegel: Werke 10, 9 – 10. 17 Ebda. 18 „Die vom delphischen Apollo an die Griechen ergangene Aufforderung zur Selbsterkenntnis hat daher nicht den Sinn eines von einer fremden Macht äußerlich an den menschlichen Geist gerichteten Gebots; der zur Selbsterkenntnis treibende Gott ist vielmehr nichts anderes als das eigene absolute Gesetz des Geistes. Alles Tun des Geistes ist deshalb nur ein Erfassen seiner selbst, und der Zweck aller wahrhaften Wissenschaft ist nur der, daß der Geist in allem, was im Himmel und auf Erden ist, sich selbst erkenne“ (Werke 10, 9 – 10). 19 Hegel: Werke 10, 29. 20 Vgl. Hegel: Werke 10, 29. 21 Hegel: Werke 10, 17. 22 §§ 377 – 482.

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einer Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen“23 bei. Doch sie integrieren sich zuletzt in ein höheres Ziel, nämlich in die Erkenntnis „des Wesens selbst des Geistes“24, wie wir es bereits angedeutet hatten. Die Philosophie des Geistes hat für Hegel ein näheres wesentliches Ziel: „den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen“25. Die sotto voce-Invektive dieses Satzes gegen Jacobi26 hebt durch einen Kontrast die Würde und ständige Aktualität der Aristotelischen Philosophie zum Geist heraus, denn diese Philosophie ist in der Lage, das empirische Konstituens des Wirklichen „mit der begrifflichen Bestimmung dieser Wirklichkeit“27 – wie Bourgeois dies formuliert – zu versöhnen. Von Anfang an ist hier eine entscheidende Verbindung im Spiel, die uns von nun an begleiten wird. Es geht um das schwierige Erlangen der Einheit von Erfahrung und Begriff bzw. von Empfinden und Wissen als Kernproblem für das eigene Wiederfinden des Geistes. Sollte es dennoch möglich sein, „den Sinn jener Aristotelischen Bücher“28 über den Geist „wieder aufzuschließen“29, dann kann dies nur in Anlehnung an dieses wesentliche Ziel geschehen. In diesem Zusammenhang ist die rationelle Psychologie oder die Pneumatologie30 aufgrund ihres Status als abstrakte Verstandesmetaphysik in der Behandlung des Geistes einseitig vorgegangen. Die empirische Wissenschaft hat ihrerseits die „spekulative Betrachtung“31 verbannt. Beide Umstände ermöglichen es, die höchst spekulative Qualität des Aristoteles herauszuheben: „Die Bücher des Aristoteles über die Seele“ – pointiert Hegel – „mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben sind deswegen noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand“32. Das spekulative Interesse, das Hegel bei dem Stagiriten sieht, schließt sich u. a. an seinen eigenen Versuch an, die substantialistische Auffassung der Seele aufzulösen33. Hegel

23

Hegel: Werke 10, 9. Ebda. 25 Hegel: Werke 10, 11. 26 Dazu Myriam Bienenstock: „Vom Erkennen und Empfinden der Seele. Zu Hegels Lektüre von Aristoteles“, in: Hegels enzyklopädisches System der Philosophie, a.a.O. 207. 27 Bernard Bourgeois: G. W. F. Hegel: Encyclopédie des Sciences Philosophiques. III: Philosophie de l’Esprit, hg. v. B. Bourgeois, Paris 1988, 86. Zitiert von Bienenstock: a.a.O., 220 (Kursivierung des Verfassers). 28 Hegel: Werke 10, 11. 29 Ebda. 30 Sie betrifft „die metaphysische Natur der Seele, nämlich des Geistes als eines Dinges (Werke 8, 100). 31 Hegel: Werke, 10, 11. 32 Ebda. 33 In der Wissenschaft der Logik wird in dieser Richtung gesagt: „Aber auch ihr [der Anthropologie] muß jene Metaphysik fremd bleiben, worin diese Form der Unmittelbarkeit zu einem Seelending […] gleich wird“ (Werke 6, 495). 24

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versucht dieses dinghafte Konzept durch die so genannte Aktuosität34 des Geistes zu ersetzen35. Dadurch knüpft er an Aristoteles an36, wie dies bereits bei Leibniz geschehen war37. Tatsächlich wird die Seele als Ding gefaßt, wenn nach ihrem Sitz, ihrer Bestimmung in Raum und Zeit oder nach dem Modus ihrer unvergänglichen Existenz gefragt wird. Wie Hegel plastisch in der Wissenschaft der Logik ausdrückt, 34 Darum ist im Zusatz zum § 34 zu lesen: „Der Geist ist Tätigkeit in dem Sinn, in welchem schon die Scholastiker von Gott sagten, er sei absolute Aktuosität. Indem nun aber der Geist tätig ist, so liegt darin, daß er sich äußert. Man hat deshalb den Geist nicht als ein prozeßloses ens zu betrachten, wie solches in der alten Metaphysik geschehen, welche die prozeßlose Innerlichkeit des Geistes von seiner Äußerlichkeit trennte. Der Geist ist wesentlich in seiner konkreten Wirklichkeit, in seiner Energie zu betrachten, und zwar so, daß die Äußerungen derselben als durch seine Innerlichkeit bestimmt erkannt werden“ (Werke 8, 101). Der Begriff Aktuosität ist ein Terminus scholastischen Ursprungs, der mindestens partiell den 1m]qceiaBegriff des Aristoteles umwandelt. Tatsächlich ist Hegel sich dieses Ursprungs bewußt, denn er pointiert im Zusatz zum § 34 in dem Vorbegriff der Enzyklopädie: „Der Geist ist Tätigkeit in dem Sinn, in welchem schon die Scholastiker von Gott sagten, er sei absolute Aktuosität“. Hegel setzt die actuositas gerade in Bezug zu der Verknüpfung von Geist und Leben im Umlauf, denn das Leben ist der Hauptnenner für jeden Seelentypus bzw. für die höheren Stadien seiner Entwicklung. Gott ist, z. B., nicht nur Akt, der der Modus ist, wie Aristoteles den he|r aufgefaßt hatte, sondern vor allem – so könnte man dies ausdrücken – „reines Agieren“. 35 Thomas S. Hoffmann macht darauf aufmerksam, daß sich „aus der Vorlesungsnachschrift zur Logik und Metaphysik von 1781 erhellt, daß Hegel ,[…] zwischen der Seele als ein[em] Ding‘ und dem ,Geist in seiner Wahrheit, d. h. in seiner Tätigkeit‘ unterschied“ (vgl. Hoffmann: „Totalität und Prädikation“, in: G. W. F. Hegel. Der Vorbegriff zur Wissenschaft der Logik in der Enzyklopädie von 1830, hg. von A. Denker, A. Sell und H. Zaborowski, Freiburg / München, 2010, 139). 36 In diesem Sinne hebt Hegel hinsichtlich des Aristoteles folgendes hervor: „Es ist schon bemerkt, daß seine Lehre von der Seele das sogenannte Metaphysische weniger behandelt und mehr die Weise ihrer Tätigkeit. In der Lehre von der Seele dürfen wir bei Aristoteles nicht erwarten, eine Metaphysik von der Seele zu finden. Denn jenes sogenannte metaphysische Betrachten setzt die Seele eigentlich als ein Ding und betrachtet sie, z. B. was sie für ein Ding, ob sie ein einfaches usf. sei. Mit solchen abstrakten Bestimmungen beschäftigt sich der konkrete spekulative Geist des Aristoteles nicht; er ist weit davon entfernt. Im allgemeinen sind es ebenso eine Reihe fortgehender Bestimmungen, die nicht als ein Ganzes nach der Notwendigkeit sind zusammengeeint; jedes in seiner Sphäre ist aber ebenso richtig als tief gefaßt“ (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 19, 199). 37 „Sed vis activa actum quendam sive 1mtek]weiam continet atque inter facultatem agendi actionemque ipsam media est, et conatum involvit; atque ita per se ipsam in operationem fertur; nec auxiliis indiget, sed sola sublatione impedimenti“ (Leibniz, G.W.: De primae philosophiae Emendatione et de notione substantiae. G. IV, 469). In einem Brief an De Volder sagt Leibniz, daß die Seele etwas lebendiges und aktuös ist: „[…] anima vero aliquod vivum et actuosum“ (G. II, 184). Hegel schreibt seinerseits dazu: „Gott ist Subjektivität, Tätigkeit, unendliche Aktuosität“ (Werke 9, 25). Der Ausdruck ist auch bei Spinoza als Adjektiv zu finden: „Attributa Dei alia sunt, quae actuosam ejus essentiam explicant, alia, quae quidem nihil actionis, sed ejus modum existendi exponant“ (Spinoza, Cogitata metaphysica, cap. XI, appendix, i 275, hervorgehoben vom Verfasser). In der Ethik liest man ebenso: „Deinde propositione 34. partis 1. ostendimus Dei potentiam nihil esse praeterquam Dei actuosam essentiam; adeoque tam nobis impossibile est concipere Deum non agere II 106 quam Deum non esse“ (Kursivierung des Verfassers).

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ist die Seele im „System der Monaden“38 ein Atom, „das als Dunst aus der Kaffeetasse aufsteige“39 und durch „glückliche Umstände fähig [sei] sich zur Seele zu entwickeln“40. Darum zeigen in diesem Bereich die Ideen „älterer Philosophie vom Begriff der Seele oder des Denkens, z. B. die wahrhaft spekulativen Ideen des Aristoteles“41 einen tieferen Sinn. In dieser Beziehung äußert Hegel eine komplementäre These, in welcher sich beiläufig erneut die übliche Opposition zwischen einer bloß empirischen und einer spekulativen Hinsicht zeigt. Dies geschieht dadurch, daß Hegel erläutert, daß dasjenige, was Gegenstand der gewöhnlichen empirischen Psychologie ist, „um die Wissenschaft des Geistes zu sein, nicht empirisch zu Werke gehen, sondern wissenschaftlich gefaßt werden muß“42. Ist aber von der Philosophie des subjektiven Geistes und ihren Disziplinen (Pneumatologie, Anthropologie und Psychologie) die Rede, so kommt als beinahe exklusive Quelle insbesondere De anima in Frage. Diesbezüglich wird die Metaphysik häufig ausgeblendet. Wenn man auf sie überhaupt rekurriert, geschieht dies, indem man schnell auf das Buch Lambda zugreift. Freilich ist dies darauf zurückzuführen, daß es zweifellos schwer ist, dem änigmatischen, grandiosen, kommentarlosen Finale des berühmten Zitats des Kapitels 7 im Lambda zu widerstehen. Dieses Buch wird gewöhnlich mit einer Sonderstellung versehen, weil in ihm die Aristotelische „Ontotheologie des sich selbst denkenden göttlichen Geistes“43 dargestellt sei. Für Hegel würde diese Ontotheologie einerseits „den höchsten Punkt in Aristoteles’ Philosophie“44 repräsentieren. Andererseits sei dort nichts weniger als „der Höhepunkt nicht nur des antiken, sondern des philosophischen Denkens überhaupt“45 sichtbar. Diese Idee harmonisiert nun mit der Hegelschen Interpretation des Aristoteles und den Aristotelischen Behauptungen, die zum Stützpunkt der Auffassung der Idee bei Hegel dienen46. Meines Erachtens sollte sie mit der The38

Hegel: Werke 6, 494. Ebda. 40 Ebda. 41 Hegel: Werke 6, 491 – 492. 42 Hegel: Werke 6, 496. 43 Tobias Dangel: Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles, Berlin / Boston 2013, 26. 44 Ebda. 45 Ebda. 46 In dieser interpretativen Richtung bewegt sich auch Krämer: „Es sind verschiedene Gründe, die das Buch Lambda der Metaphysik von jeher in das Zentrum des AristotelesVerständnisses gerückt habe: das Ganze der Aristotelischen „ersten Philosophie“ wird hier am ehesten greifbar; die philosophische Theologie des Aristoteles, das Gipfelstu¨ ck seines Systems, tritt hier ein einziges Mal zusammenhängend hervor; und ihr Kerngedanke, die Formulierung des göttlichen Selbstbewußtseins, scheint innerhalb der antiken Philosophie am weitesten auf die philosophische Thematik der Neuzeit vorauszuweisen und insofern den höchsten Punkt zu bezeichnen, den die Philosophie der Alten überhaupt erreicht hat“ (Hans Joachim Krämer: „Zur geschichtlichen Stellung der Aristotelischen Metaphysik“, in: KantStudien 58 (1967), 313). Um seine Position zu untermauern, zitiert Dangel auch Karen Gloy: „Die Substanz ist als Subjekt zu bestimmen. Eine Interpretation des XII. Buches von Aristo39

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matisierung des Weges selbst ergänzt werden, der im Durchgang der Konstituierung des Wissens als Konstituierung des Geistes vollzogen wird. Ich denke, daß diese Ergänzung sich mit Hilfe der zwei ersten Kapitel aus Metaphysik Alpha durchführen läßt. Dabei folgen wir Hegel selbst; nicht freilich, weil er sich mit diesem Buch direkt beschäftigt hätte, sondern weil eben auch dort der Sinn und „die Manier“ – wie Hegel sagt – „des Aristotelischen Philosophierens“47, d. h. seines hohen spekulativen Geistes, zur Sprache kommen. Metaphysik A1 stellt die These auf: p\mter %mhqypoi toO eQd]mai aq]comtai v}sei, „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen“48. Das könnte manchem Leser kontrafaktisch erscheinen bzw. nicht in Übereinstimmung mit seinen alltäglichen Erfahrungen stehen. Aber diese Aussage ist weit davon entfernt, festzustellen, daß Menschen Erkenntnis erwerben. Der Satz ist auch nicht das Portal für eine Erkenntnistheorie ad hoc. Der Satz bekräftigt eher die natürliche Tendenz zum Wissen als bestimmendes Merkmal des Seins selbst des Menschen. Eine solche Bestimmung beinhaltet keine Begrenzung. Stattdessen hebt sie die menschliche Verfassung selbst als Tendenz zu einem verstandesmäßigen Begreifen all dessen hervor, was ist, insofern es ist, und das sich in dem im höchsten Sinne Erkennbaren vervollständigt (B toO l\kista 1pistgtoO). Der Mensch bestimmt sich in seinem Wesen so wie die übrigen Naturdinge (v}sei emta), indem er sein 5qcom erfüllt. Auch wenn die Rede von einer Bestimmung ein Oxymoron nahelegt, soll dieses 5qcom im Menschen als offene Bestimmung zu dem Universellen, das sich im Wissen selbst bewahrheitet, gefaßt werden. Das natürliche Streben nach Wissen ist zwar keine Definition des Menschen, sie ist aber doch ein proprium, ein Udiom, verstanden als Eigentümlichkeit eines Dinges, die seinem Wesen folgt und die dieses Wesen zu erkennen gibt, ohne daß sich dabei Wesen und proprium identifizieren ließen. Ein typisches Beispiel, das auf Porphyrius zurückgeht49, ist die Fähigkeit im Menschen zu lachen. Aristoteles gibt seinerseits als Beispiel die Fähigkeit an, die Grammatik zu erlernen50. Dagegen – sagt Aristoteles – sei es klar, „daß von dem, was auch auf etwas anderes zutreffen kann, nichts anstelle der Sache ausgesagt werden kann. Denn es ist nicht notwendig, dass, wenn etwas schläft, dies ein Mensch ist“51, womit der Unterschied zu den üblichen Bedeutungen von „Eigentümlichkeit“ deutlich wird. Auch wenn der allgemeingültige Charakter dieses Strebens nach Wissen mittels des universellen Quantors (p\mter) bekannt gegeben wird, ist eigentlich im Text das teles’ Metaphysik“, in: Zeitschrift fu¨ r philosophische Forschung 37 (1983), 515 – 543, bes. 515 – 517; und Klaus Oehler: „Der höchste Punkt der antiken Philosophie“, in: ders.: Der Unbewegte Beweger des Aristoteles, Frankfurt a. M. 1984, 99 – 116. 47 Hegel: Werke 19, 145. 48 Aristoteles: Met. A 980a 21. 49 Einleitung in die Kategorien, CAG 4.1; c 4. 50 Vgl. Aristoteles: Top. I, 5 102a 18 – 19. 51 Ebda.

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Adverb v}sei das Wort, das diese Tendenz endgültig bekräftigt. Das Streben des Menschen nach Wissen ist dadurch universell, daß es im Sinne des erläuterten Udiom bzw. proprium natürlich ist. Da demzufolge die Behauptung kein 5mdonom ist, d. h. keine anerkannte Meinung, „die entweder von allen oder den meisten oder den bekanntesten und anerkanntesten für richtig gehalten“52 wird, und da sie noch weniger die schlichte Konstatierung eines Sachverhalts ist, wie schon gesagt wurde, versucht Aristoteles sie „phänomenologisch“ zu untermauern, indem er auf ein Zeichen zurückgreift (sgle?om). Ein Zeichen wird besser und früher erkannt, als dasjenige, wovon es ein Zeichen ist. Es ist, könnte man mit Hegel sagen, eine vermittelnde Unmittelbarkeit des Unmittelbaren. Es ist eben für Aristoteles „die Freude an den Sinneswahrnehmungen“ (s^le?om dû B t_m aQsh^seym !c\pgsir), ein „kennzeichnender“ Beweis der universellen Tendenz zum Wissen. Diese Freude leitet sich nicht primär aus dem Nutzen der Sinne im praktischen Leben ab. Sie kommt aus dem Empfinden als Empfinden her (ut sic). Und wenngleich jeder Sinn Erkenntnis vermittelt, vollzieht der Gesichtssinn diese Vermittlung auf eine intensivere und vollkommenere Weise. Daraus folgt, daß auch in ihm die !c\pgsir höher als in den übrigen Sinnen und proportional zu diesem Höheren ihres eigenen Freiheitsgrades ist. Der Gesichtssinn weist bei aller organischen Abhängigkeit stärker als die übrigen Sinne Überwindungsindizien bezüglich der eigenen materiellen Begrenzung auf. Darum ist er in seinem Kompetenzbereich ein freierer Sinn, der zugleich auf ungebundenere Weise ausgeübt wird. Dies besagt dann aber, daß die von Aristoteles gezogene Konsequenz es mit sich bringt, daß das Wissen, bereits in seiner sinnlichen Stufe von Ungebundenheit und demnach – noch relevanter – von Freiheit geprägt ist. So verstanden, geht es in Met. A1 nicht um eine schlichte Klassifizierung unterschiedlicher Wissensformen. Die Passage gibt vielmehr die genetische Vervollkommnung des Wissens zu erkennen, das zu seinem Gipfel voranschreitet. Die unterschiedlichen Wissensmomente sind die verschiedenen Formen, in denen etwas stets Eines – das Wissen – Zufälligkeit und Partikularität allmählich überwindet, mit denen es in der Empfindung (aUshgsir) und in der Erfahrung (1lpeiq_a) sowie nachträglich – jeweils in vollkommenerer Weise – in der Kunst (t]wmg) und in der Wissenschaft (1pist^lg) erscheint. Und zwar, weil in den letzten Stadien die Universalität und die Notwendigkeit des Wissens erlangt werden. Freilich ist die letzte Stufe der Skala die Weisheit (sov_a), die als solche die höchste Wissenschaft ist (tµm l\kista 5pist^lgm) (982 b). In seiner Argumentation weist Aristoteles auf die Grundzüge der Weisheit (sov_a) als Spekulation über die ersten Prinzipien und Ursachen hin. Da sie heyq_a ist, ist sie keine poietische (produktive) Wissenschaft (oq poigtij^). Aus diesem Grund ist sie eine Art der Einsicht (B toia}tg vq|mgsir), die nicht zum Nutzen (wqe_am Bt]qam) errichtet ist. Darum taucht sie nur auf, wenn zum einen die notwendigen Bedürfnisse (t!maccjaia) und zum anderen die (angenehmere) Lebens52

Aristoteles: Top. I, 1, 100b 23 ff.

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führung abgesichert sind. Aufgrund dieser Grundmerkmale betrachtet Aristoteles die Weisheit als Eigentum des he|r selbst (982 b 30). Sie ist aber nicht nur eine dem he|r zugehörende Wissenschaft. Die Weisheit handelt dergestalt von dem he|r, daß er sich selbst in diesem Wissen besitzt, das von ihm weiß. Beide Aspekte verwandeln diese Wissenschaft in das ehrwürdigste Wissen von allen (tiliyt\tg) (983a 5 u. ff.). Weil ein Wissen höher und ehrwürdiger ist, sofern es an und für sich gilt, deshalb ist solches Wissen nicht nur nutzlos, sondern es ist zugleich als einziges von allen frei. Und obgleich menschliches Leben in vielfältigen Aspekten Züge von Sklaverei aufweist, kommt es dem Menschen zu, diesem Wissen nachzugehen, denn es sei „für den Menschen unziemlich, nicht die ihm angemessene Wissenschaft zu suchen“ (982 b 31 – 32). So stellt sich einerseits der höchste Grad heraus, in welchem die Freiheit erscheint. Es zeigt sich aber andererseits, daß auf diesem Niveau ein Attribut der Sinnlichkeit wiedergefunden wird, das Aristoteles unter Rekurs auf den Gesichtssinn als Zeichen der höchstrangigen Freude und als Ausdruck der Selbständigkeit des Empfindens bezeichnet hatte. Für Hegel wird sich im Anschluß die Aufgabe stellen, die Freiheit als Prädikat des Wissens – mit Einschluß des sinnlichen Wissens – in das zu verwandeln, was innerlich das Wissen selbst konstituiert, und zwar, als bestimmender und endgültiger Status des Geistes, im Anklang an den Hegelschen Grundgedanken, daß „das Wesen des Geistes […] formell die Freiheit“53 ist. Dank des Strebens nach Wissen hat der Mensch an dem Akt des Verstehens bzw. des Begreifens teil, der im he|r fortwährend und vollkommen ist. Das dem he|r Entsprechende ist das stets noetisch vollzogene theoretische Leben. „Denn die Verwirklichung der Vernunft ist Leben, jener [Gott] aber ist die Verwirklichung“ (A c±q moO 1m]qceia fy^, 1je?mor d³ B 1m]qceia)54. In Met., 1023 b32 sagt Aristoteles von dem Menschen, dem Pferd und dem he|r, alle seien Lebewesen (ûpamta f`a). Das Leben ist also ein gemeinschaftlicher Wesenszug und gemeinschaftliches Wesensgut. Wenn freilich im Menschen immer noch zwischen dem Empfinden und dem Wissen ein Hiatus besteht, dann sollte es diesen im he|r nicht mehr geben. Damit diese Trennung aufgehoben wird, sollte der Akt des Verstehens des he|r noetisch und empfindsam in einem sein. D. h., der he|r sollte sich in gewisser Weise selbst in der Handlung des Verstehens von sich selbst begreifen, indem er in diesem Akt sich selbst berührt. Gibt es etwas Ähnliches bei Kant, das sich auf Hegel projizieren könnte? Im nächsten Abschnitt wenden wir uns nun dieser Frage zu. III. Kantische Anstöße Im § 55 der Enzyklopädie würdigt Hegel die Einführung eines Grundsatzes Kants für das reflektierende Urteil, der mit einem anschauenden bzw. intuitiven 53 54

Hegel: Werke 10, 25. Aristoteles: Met. 1072b 26 – 27.

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Verstand verbunden ist55. In ihrer Handlung, die von dem Besonderem zum Universalen geht, bedarf die Urteilskraft eines eminent funktionellen Prinzips, das „die Möglichkeit der systematischen Unterordnung derselben [der empirischen Prinzipien] untereinander begründen soll“56. Dieser fundierende Charakter verbietet es, ihn aus der Erfahrung entnehmen zu wollen. Dementsprechend ist er ein transzendentales Prinzip, das Kant mit einem nicht-menschlichen Verstand korreliert, nämlich „zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen“57. Im § 75 der Kritik der Urteilskraft wird dazu noch die hypothetische Existenz eines Prinzips als eines bloß möglichen Gegenstandes des Denkens behauptet, in welchem die kausale Verkettung unter der Idee eines Zwecks realiter gegeben wäre. Drückte man dies mit einer „dogmatischen“ Formel aus, so würde man behaupten: „Es ist ein Gott“58. Meines Erachtens war diese Möglichkeit bereits von Kant in der Kritik der reinen Vernunft unter der Gestalt des ens realisimmum, d.i. des Inbegriffs aller Realität, erstmalig in den Blick genommen worden. Dieser Inbegriff steht seinerseits in Zusammenhang mit dem so genannten Grundsatz der durchgängigen Bestimmung59. Ein solcher Grundsatz verlangt, daß jedem Ding nicht nur de facto ein Prädikat zukommt, sondern daß ihm, unter allen möglichen Prädikaten der Dinge, eines notwendig zukommen muß60. Der Grundsatz betrachtet „jedes Ding in Verhältnis auf die gesamte Möglichkeit“ (A 572, B 600). Die durchgängige Bestimmung des Existierenden betrifft nicht nur ein faktisches Prädikat, sondern alle noch nicht verliehenen Prädikate und die Bestimmungen, die nur als mögliche Prädikate gelten. Die durchgängige Bestimmung ist „folglich ein Begriff, den wir niemals in concreto seiner Totalität nach darstellen können“61. Darum kann der Grundsatz nur in einer Idee seinen Sitz haben62, sofern diese Idee auf Vollständigkeit achtet und es erfordert, die Gesamtheit der Prädikate der Dinge durchzugehen. Im Anklang an die obigen Ausführungen zu Aristoteles ist hier sehr wichtig zu betonen, daß der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung in der Transzendentalphilosophie Kants auch ein gültiger Grundsatz für alle Gegenstände der Sinnlichkeit ist. Er wird zugleich für „ein transzendentales Prinzip der Möglichkeit der Dinge überhaupt“ gehalten (A 582, B 610). Aber eine unkritische Vernunft setzt nicht nur voraus, daß die gesamte Realität sich aus einer höchsten und einzigen Realität ableitet. Gleichzeitig nimmt sie an, daß sogar die höchste Realität „in

55

Hegel: Werke 8, 139. Kant: AA V, 180. 57 Ebda. 58 Kant: AA V, 399. 59 Kant: A 571, B 599. 60 Vgl. Kant: A 572, B 600. 61 Kant: A 573, B 601. 62 Vgl. Kant: A 573, B 601. 56

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einem besonderen Urwesen“ (A 581, B 609) enthalten ist. Es gilt zu fragen, wo diese Annahme herkommt. Folgendes läßt sich sagen: Sofern wir zu der Auffassung kommen, daß die Realität in einem Urwesen enthalten ist, werden wir dazu geführt, sie in einem bestimmten Subjekt zu finden63. In einer entscheidenden Anmerkung zu A 583, B 611 der Kritik der reinen Vernunft faßt Kant dieses Verfahren und seine Realisierungsgrade zusammen: die erste Phase der Subreption ist die Realisierung. In dieser Stufe wird das Ideal des höchsten Wesens in einen Gegenstand umgewandelt. Ihr folgt die Hypostasierung als die Verkörperung der höchsten Realitäten in einem Seienden. Da aber die zu realisierenden Eigenschaften keine Grenze kennen, wird dieses Seiende in ein ursprüngliches Wesen von eminenter Realität umgestaltet, in welchem die gesamten Eigenschaften ohne Begrenzung enthalten sind. Endlich wird das Ideal in eine einzelne Realität, die Verstand, Wille und transzendentale Freiheit besitzt, transformiert64. Das Ideal wird sogar personifiziert65. In Konkordanz mit dieser Bestimmung hat Kant den individuellen Charakter dieses Seienden festgesetzt: „nur in diesem einzigen Falle wird ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt, und als die Vorstellung von einem Individuum erkannt“66. Nun, trotz der in der Vernunft beheimateten Subreption wird von Kant der Status dieser Realität nicht zu bloßen fiktionalen oder illusorischen Momenten herabgesetzt. Die erkenntnistheoretische Funktion des Inbegriffs aller Realität läßt sich zeigen, wenn man sieht, daß die Kategorien eine einheitliche und endliche Synthesis der Erfahrung leisten. Anders ausgedrückt: Die Erfahrung ist endliche Erfahrung des Endlichen. Darum ist das Zentrum der transzendentalen Hypostasierung die Transformation dieser endlich einheitlichen Erfahrung in eine „einige allbefassende Erfahrung“67. Auf der Basis dieser allumfassenden Erfahrung ist ein individuelles Ding zu finden, das „alle empirische Realität in sich enthält“68. Es handelt sich dabei um eine von dem Wissen selbst geforderte Bedingung, die auf Vollständigkeit der Erfahrung achtet. Und wenngleich diese durch jede Vernunftidee befördert wird, verstärkt sich dieses Anstreben, wenn es um das Ideal der reinen Vernunft 63

Vgl. Kant: A 580, B 608. Diese drei Charaktere erscheinen nicht in der Kritik der reinen Vernunft, aber doch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Ak. IV, 406 – 463) als Grundzüge des rationalen Wesens. Darüber hinaus liest man im Opus postumum: „Das was gedacht aber nicht in der Wahrnehmung gegeben werden kann (cogitabile, non dabile) ist eine bloße Idee und betrifft es ein Maximum so ist es ein Ideal. Das höchste Ideal als Person (deren nur eine einzige seyn kann) ist Gott“ (AA XXI, 30). 65 „Dieses Ideal des allerrealsten Wesens wird also, ob es zwar eine bloße Vorstellung ist, zuerst realisiert, d. i. zum Objekt gemacht, darauf hypostasiert, endlich durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft zur Vollendung der Einheit sogar personifiziert“ (A 583, B 611, Anmerkung). 66 Kant: A 576, B 604. 67 Kant: A 582, B 610. 68 Ebda. 64

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geht. Obwohl dieses als „bloßer Gegenstand in der Idee“69 gegeben wird, ist es für die Konstituierung der Wissenschaft, als einheitliche und systematische Erfahrung verstanden, absolut notwendig. Das kann prinzipiell nur die Konstellation des Ideen-Ideals (ens realissimum) leisten. Für Kant gilt: jede Idee ist systematisierend und allbefassend; nur so besteht sowohl für ihn als auch für Hegel wissenschaftliches Wissen: Wissen-schaft. Mit der philosophischen Sprache Kants weist Hegel nun im § 49 der Enzyklopädie, so wie er es auch in der Wissenschaft der Logik getan hat, direkt auf den „Inbegriff aller Realitäten“ hin. Hegel weiß, besonders in seiner Projektion auf den eigenen spekulativen Idealismus, den von Kant unternommenen Versuch zu würdigen, Anschauung und Verstand zu vereinigen. Darum ehrt Hegel die Einführung eines anschauenden Verstandes. Damit habe Kant „sogar [den] Gedanke[n] der Idee“ ausgedrückt70 und spekulativ gezeigt71. Dennoch ist für Hegel diese Bemühung bloß formal. Hegel ist der Auffassung, daß die charakteristischen Begrenzungen eines Begriffs und eines Grundsatzes dieser Art durch einen spekulativen Begriff bzw. durch eine genuin gedachte Idee zu überwinden sind. In dieser Hinsicht wird dann der Hiatus zwischen Begriff und sinnlicher Anschauung aufgelöst, wenn eine erläuternde Brücke geschlagen wird, mittels derer gezeigt wird, daß die zunächst zwei entgegengesetzten Pole eigentlich zwei Momente der Idee sind. Um dies schwerpunktartig aufzuzeigen, darf man als „Formalanzeige“ auf den § 85 der Enzyklopädie zugreifen. Nicht nur das Sein, sondern „die logischen Bestimmungen können als Definitionen des Absoluten“72 betrachtet werden. Sie vollenden sich mit der „Rückkehr aus der Differenz zur einfachen Beziehung auf sich“73. Hegel wird das im § 385 so ausdrücken: „Die Entwicklung des Geistes ist, daß er I. in der Form der Beziehung auf sich selbst ist, innerhalb seiner ihm die ideelle Totalität der Idee [wird], d.i. daß das, was sein Begriff ist, für ihn wird und ihm sein Sein dies ist, bei sich, d. i., frei zu sein – subjektiver Geist“74. Damit wird der zu sich zurückgehende Weg als ein sich auf sich selbst beziehender Weg des Geistes konzipiert. Dieser Weg wird durch die durchgängige Bestimmung beschritten. Laut Hegel hat Kant diese spekulative Möglichkeit durchschaut; er hat es aber nicht gewagt, sie zu verwirklichen, obgleich er gesehen hat, daß dieses transzendentale Paradigma „den Inhalt und nicht nur die logische Form“ betrifft75. Bei Kant und Hegel läßt sich von einem regressiven Weg sprechen. Was Kant anbelangt, führt dieser Weg von der Erkenntnis als einer gegebenen Erkennt69

Kant: A 669, B 697. Hegel: Werke 8, 140. 71 Hegel: Werke 8, 140. 72 Hegel: Werke 8, 181. 73 Ebda. 74 Hegel: Werke 10, 32 75 Kant: A 572, B 600.

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nis bis zur ursprünglich-synthetischen Einheit des Bewußtseins, welche jede Phänomen-Erkenntnis fundiert, begleitet und vereinigt. Mit der Einführung des Ideals der reinen Vernunft ist Kant sogar in dieser Vereinigungsaufgabe noch weiter vorangekommen. Damit hat Kant in der Perspektive Hegels hinsichtlich des Bewußtseins mit dem Subjektivismus nicht gebrochen. Hinsichtlich des Ideals war Kant auf dem richtigen Weg, doch die kritische Grenzziehung hat ihn gehindert, diesen Weg einzuschlagen. Bei Hegel darf ebenfalls von einem Rückgang die Rede sein, nämlich von einem Rückgang des Geistes aus seiner Entäußerung bis zu seiner vollen „Er-Innerung“. Doch geschieht dies nun, indem beide Termini ihren Gegensatz aufgeben – derart, daß man von nun an von einer absoluten Einheit des Geistes (innerlich und äußerlich, wirklich und ideell) sprechen darf. IV. Abschließende Bemerkungen In Met. A1 hat Aristoteles gezeigt, daß Empfindung und Erfahrung die konstituierenden Bedingungen von Kunst und Wissenschaft sind. Gleiches gilt wiederum auf einem höheren Niveau, damit die Weisheit sich konstituieren kann, weil es ohne Empfindung kein Wissen als sov_a geben kann. Denn es zeigt sich, daß, „wenn eine bestimmte Wahrnehmung ausbleibt, notwendig auch ein bestimmtes Wissen ausbleibt“ (eU tir aUshgsir 1jk]koipem, !m\cjg ja· 1pist^lgm tim± 1jkekoip]mai)76. In dieser Hinsicht gilt der Aristoteles fälschlicherweise zugeschriebene Grundsatz nihil est in intellectu quod prius non fuerit in sensu. Es handelt sich dabei um einen Gedanken, der bei Aristoteles ungenügend ist und den Hegel umkehren wird77. Die Weisheit ist nur die höchste Form des Wissens bei Aristoteles. Hegel hat alle diese Formen in der Idee vereinigt.78 Verweilen wir kurz bei diesem letzten Wort (Idee). 76

Aristoteles: Anal. Post., 81a 38 – 39. „Es ist ein alter Satz, der dem Aristoteles fälschlicherweise so zugeschrieben zu werden pflegt, als ob damit der Standpunkt seiner Philosophie ausgedrückt sein sollte: ,nihil est in intellectu quod prius non fuerit in sensu‘, es ist nichts im Denken, was nicht im Sinne, in der Erfahrung gewesen. Es ist nur für einen Mißverstand zu achten, wenn die spekulative Philosophie diesen Satz nicht zugeben wollte. Aber umgekehrt wird sie ebenso behaupten: ,nihil est in sensu quod non fuerit in intellectu‘, in dem ganz allgemeinen Sinne, daß der moOr und in tieferer Bestimmung der Geist die Ursache der Welt ist, und in dem näheren (s. § 2), daß das rechtliche, sittliche, religiöse Gefühl ein Gefühl und damit eine Erfahrung von solchem Inhalte ist, der seine Wurzel und seinen Sitz nur im Denken hat“ (Werke 9, 51 – 52). 78 Zur Hegelschen Bemühung, den nachträglich künstlichen und theoretisierenden Unterschied als konstitutives Moment der Philosophie Hegels zu durchbrechen, siehe Héctor Ferreiro: „El idealismo absoluto como superación de la dicotomía realismo-idealismo“, in: En busca del idealismo, N. Lerussi / M. J. Solé (Hg.), Bs. Aires 2016. Der Aristotelische Gedankengang des gegenseitigen Treffens von Sinnlichkeit und Denken spricht für den Hegelschen Versuch, mit seinem absoluten Idealismus, den Unterschied von Sein und Denken zu überwinden. An Aristoteles anknüpfend, laut der Interpretation, die wir hier angeführt haben, schreibt Ferreiro: „Correlacionadas por Hegel, pues, no con exterioridad e interioridad o con objetividad y subjetividad, sino, respectivamente, con singularidad y universalidad, sensibilidad e inteligibilidad ya no se excluyen mutuamente: lo sensible puede mediarse en lo universal y lo universal contraerse hasta lo sensible“ (a.a.O. 209). 77

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Nicht sov_a, sondern eQd]mai ist der Ausdruck, mit dem die natürliche Tendenz des Menschen zum Wissen gekennzeichnet wird. Es ist zu beachten, daß der Infinitiv eQd]mai zunächst kein bestimmtes Wissen nennt79. EQd]mai ist das Infinitivperfekt des Zeitwortes oWda, das wortgetreu „etwas gesehen haben“ heißt, eine Bedeutung, die in der Perspektive des Wissens auf den zurücksehenden Blick des Geistes hinweist. Wer „bereits“ gesehen hat, ist bei Hegel der Geist selbst, er ist es aber zugleich als der einzige, der schon sich gesehen hat. Aber das Wort verweist auch auf den intentionalen Terminus des Sehens: das eWdor bzw. eben die Qd]a als das bereits Gesehene. Wenn Hegel in seinen Ästhetikvorlesungen von der Musik spricht, gibt er an, daß das Gesicht wie schon das Gehör, ein theoretischer Sinn ist80. Der Gesichtssinn hat „zu den Gegenständen ein rein theoretisches Verhältnis“, was „vermittels des Lichtes, dieser gleichsam immateriellen Materie“81, geschieht. Eigentlich ist das Licht nicht immateriell, doch die philosophische Anwendung Hegels dieses Gedankens stimmt mit den Attributen überein, die Aristoteles in Met. A1 dem Gesichtssinn indirekt zuschreibt. Wir erinnern uns: aufgrund seiner relativen Unabhängigkeit der materialen Bedingungen ist der Gesichtssinn der objektivste unter allen Sinnen. Sein Gegenpol ist der taktile Sinn (Tastsinn), der immer eigentlich Kon-takt (Be-rührung) ist. In diesem Zusammenhang besteht die Objektivität darin, daß das Subjekt bei der Erfassung seines Gegenstandes sich nicht verändert. Der Tastsinn ist der am wenigsten objektive Sinn, weil er seine Identität gegenüber dem Objekt gleichsam abgibt, so wie dann, wenn man etwas Kaltes fühlt, der Tastsinn selbst kalt wird. Da hier die Objektivität an der Unabhängigkeit hinsichtlich des Gegenstandes gemessen wird, wiederholt sich und steigert sich diese Charakteristik, wenn es um die theoretische Erkenntnis geht. Dessen ungeachtet ist es paradox, daß Aristoteles von dem he|r sagt, daß auch bei ihm ein hice_m zum Vorschein kommt. Dieses (Sich)Tasten ist aber nicht mehr materiell, wie dies bei der Sinnlichkeit der Fall ist82. Jedoch sollte man nicht die Materialität ausschließen, weil in der Erfassungsform von sich selbst der Geist alles begreifen muß bzw. bereits alles begriffen hat, sogar alles Materielle, und zwar in seinen seelischen Formen. Die seelische Form schließt den menschlichen Leib mit ein: „Denn durch den Tastsinn bezieht sich das Subjekt, als sinnlich Einzelnes, bloß auf das sinnlich Einzelne und dessen Schwere, Härte, Weiche, materiellen Widerstand“83. Das Kunstwerk spielt in diesem Bereich phänomenologisch eine paradigmatische Rolle, 79 „eQd]mai, c’est connaitre, au sens vulgaire, savoir en général“ (Aristote: La Métaphysique. Nouvelle édition entièrement refondue, avec commentaire par J. Tricot, Paris / Vrin 1966, 2, 1). 80 Vgl. auch Hermann Drüe: Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß von H. Drüe, A. Gethmann-Siefert, C. Kackenesch, W. Neuser und H. Schnädelbach, Frankfurt am Main 2000, 225. 81 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Werke 14, 255 – 256. 82 In Wahrheit kann sie nicht bloß materiell sein, da bei der Erfassung des Dinges ebenfalls eine Form am Werke ist. Die zu ergreifende Sache ist von Anfang an über seine eigene Verschlossenheit in der Materie hinaus. 83 Hegel: Werke 14, 255.

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denn es ist „ist nichts bloß Sinnliches, sondern der Geist als im Sinnlichen erscheinend“.84 Aristoteles bemerkt, daß der Nous, in Ergreifung des Denkbaren, durch let\kgxir (transumptio) sich selbst denkt. Bei der Erläuterung dieses Sachverhalts fügt Aristoteles hinzu, daß dies berührend und denkend geschieht (mogt¹r c±q c_cmetai hicc\mym ja· mo_m): Es handelt sich dabei nicht um zwei Momente: ein Berühren und dann noch ein Denken. Das hicc\meim85 ist der Modus, in welchem sich das Denken selbst als seine ermöglichende Bedingung ausführt. Doch kommt dieses Aristotelische Motiv selten zu Wort. Vermutlich fürchtet man, daß der Rekurs auf ein aus der Empfindung genommenes Bild – das Berühren – den immateriellen Charakter deformieren würde, der dem Denken in seinem noetischen Vollzug eigen ist. Ich bin anderer Auffassung: Der Reichtum und die Leistung des Berührens besteht eben darin, daß es immer Kontakt (cum-tactu) ist. Es gibt kein reines oder bloßes Berühren, in welchem der Vollzieher, in seinem Vollzug, von der Affizierung frei oder neutral verbleibt. Ist das Denken ein hicc\meim, so ergibt sich daraus, daß, wenn das Denken denkt, es selbst vom Denken notwendigerweise berührt wird. Auch Kant bringt seinerseits für Hegel ein Element bei, das in Aristoteles schwer zu finden ist, nämlich die Spontaneität. Eine Vorstellungkraft, die in der Lage wäre, sich selbst Gegenstände zu geben, wäre eine absolute Spontaneität. So würde sie im Akt der Vorstellung selbst ihre Gegenstände hervorbringen86. Dem § 574 der Enzyklopädie zufolge ist der Begriff der Philosophie die Idee, deren Tätigkeit das Denken ist. In dieser Tätigkeit fällt ihr Vollzug als „die sich denkende Idee“87 auf sich zurück. Die sich daraus ergebende Wahrheit ist „die wissende Wahrheit“88. Dieser Gedankengang erinnert an den § 236, in dem gesagt wird, daß die Einheit „der subjektiven und der objektiven Idee“ „die absolute und alle Wahrheit“ ist. Das, was in dieser und aus dieser Wahrheit gewußt wird, ist „die im konkreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit“89. In diesem Sinne hat der § 573 diesen Gedankengang vorweggenommen: „diese Bewegung, welche die Philosophie ist, findet sich schon vollbracht, indem sie am Schluß ihren eigenen Begriff erfaßt, d.i. nur auf ihr Wissen zurücksieht“. Wenn der zum Begriff gewordene Geist der Philosophie zurücksieht, weiß er (so wie es bei Aristoteles in der Ausbildung des Wissens der Fall war), daß seine partiellen Momente nie abgesonderte Einhei84

Vgl. ebda.: „Denn durch den Tastsinn bezieht sich das Subjekt, als sinnlich Einzelnes, bloß auf das sinnlich Einzelne und dessen Schwere, Härte, Weiche, materiellen Widerstand; das Kunstwerk aber ist nichts bloß Sinnliches, sondern der Geist als im Sinnlichen erscheinend“. 85 „Le verbe hicc\meim – erklärt Tricot – a le sens de toucher, apprehénder immediatement par l’intuition, et il est a peu près synonyme du mot let\kgxir […]“ (Aristote: La métaphysique 682, 1; Vgl. ferner Met. IX 1051b 24). 86 Vgl. Kant: KrV B145. 87 Hegel: Werke 10, 393. 88 Ebda. 89 Ebda.

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ten waren bzw. sein konnten. Darum gilt jetzt auch: nihil est in sensu quod prius non fuerit in intellectu. Es handelt sich dabei um einen unverständlichen Satz für die Mereologie des Verstandes. Dieser Satz hat aber für das spekulative Denken einen grundlegenden Sinn. Denn damit soll gesagt sein, daß alle Gestaltungen, die „nach“ der Sinnlichkeit kommen, eigentlich schon in ihren nachträglichen und höheren Formen und durch diese antizipiert worden waren. Antizipation besagt hier: erst in der „Zukunft“ ihrer Realisierungen werden sie, was sie sind, und zwar, in der höheren und eminenten Gestalt des vollen Wissens. Laut Hegel findet sich bei Aristoteles die anschließende Idee: „Daß das Denken das Denken des Denkens sei, das absolute Denken, ,oder daß die Vernunft sich selbst begreift’ und in ihrer Freiheit bei sich selbst ist“90. Als Hegel diese Aristotelische Idee des göttlichen Nous zum Denken selbst als absolutes Denken des Absoluten überträgt, zeigt er zugleich, daß die höchste Form des (geistigen) Lebens die Freiheit ist. Eben an diesen philosophischen Familienähnlichkeiten beteiligt sich Kant, indem er, mit Blick auf ein absolutes Denken des Absoluten, einem intuitiven bzw. anschauenden, selbsttätigen Verstand die Tür offenstehen läßt. Der hypothetische Rückgriff auf einen intuitiven Verstand ist somit nicht bloß funktionalistisch und instrumentell, um bei den Phänomenen die Rhapsodie zu vermeiden und die Erkenntnis der Gegenstände in Einklang zu bringen. Vielmehr erscheint dort eine für den absoluten Idealismus allesentscheidende These: Die Sinnlichkeit, weit davon entfernt, ein fremdes Element im absoluten Wissen zu sein, wird eher zu seiner Bedingung und Notwendigkeit. Obwohl die Empfindung im Geist „dumpf webt“91, sagt Hegel in Aristotelischer Manier – „alles ist in der Empfindung“92. Dieser Sachverhalt ist von entscheidender Bedeutung. Eines von den Problemen, die Hegel Kant vorhält, liegt gerade im Bereich der Sinnlichkeit. Mit Wurzeln in der Dissertatio führt Kant (erst in der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft) aus, daß „die Lehre von der Sinnlichkeit nun zugleich die Lehre von den Noumena im negativen Verstande“93 sei. Das ist (bzw. sei) eine Lehre „von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß […]“94. Kant ließ zudem diesbezüglich eine Möglichkeit offen, als er andeutete: „man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, daß sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei“95. Die Dinge werden als Erscheinungen erkannt, sofern sie „Gegenstand“ einer sinnlichen Anschauung sind. Hegel kehrt die Lehre der Sinnlichkeit als die Lehre der Noumena im negativen Verstande um und definiert sie 90

Hegel: Werke 3, 399. Hegel: Werke 10, 97: „Die Empfindung ist die Form des dumpfen Webens des Geistes […]“. 92 Ebda. 93 Kant: B 307. 94 Ebda. 95 Kant: A 254, B 310. 91

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neu, indem er auf eine andere Anschauung zurückgreift: die des Geistes. Der Geist fängt gänzlich mit der Idee an, obwohl nicht als Idee, weil diese sich in der subjektiven Geistphilosophie nicht als solche entfaltet hat. Aber der Geist erkennt sich allmählich in der Entwicklung der Idee, indem er sich zurück– und auf sich selbst bezieht. Die Idee, wie wir schon bei Aristoteles gesehen hatten, kann nur aus der Sinnlichkeit selbst konkret werden. Sie wächst mit und samt allen Stadien des Wissens zusammen. Das ist eben die wortgetreue Bedeutung des Adjektivs „konkret“ („concrescere“, „cum-crescere“). Hegel hat – in der Sprache Kants ausgedrückt – assertorisch behauptet, was Kant bloß problematisch (d. h. als möglich) angenommen hat. Literatur Aristoteles: La Métaphysique. Nouvelle édition entièrement refondue, avec commentaire par J. Tricot. Paris / Vrin 1966. Aristoteles: Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz. Mit Gliederungen, Registern und Bibliographie hg. von Héctor Carvallo und Ernesto Grassi, Hamburg 1966. Aristoteles: Analytica Posteriora. Organon, Bd. 3/4: Erste Analytik / Zweite Analytik, gr.-dt., hg., übers. und erl. von H. G. Zekl, Hamburg 1998. Aristoteles: Topik, übers. und erl. von T. Wagner und Ch. Rapp, Stuttgart 2004. Arndt, Andreas / Jaeschke, Walter: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785 – 1845, München 2012. Dangel, Tobias: Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles. Berlin / Boston 2013. Denker, A. / Sell A. / Zaborowski, H. (Hg.): G. W. F. Hegel. Der Vorbegriff zur Wissenschaft der Logik in der Enzyklopädie von 1830, Freiburg / München 2010. Descartes, René: Oeuvres de Descartes, ed. Charles Adam / Paul Tannery, Vol. VII., Paris 1898 – 1910. De Spinoza, Baruch: Opera, hg. von Carl Gebhardt, Heidelberg 1925. Diels, Hermann / Kranz, Walter: Die Fragmente der Vorsokratiker. Erster Band, Hildesheim 1961. Drüe, Hermann: Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß von H. Drüe, A. Gethmann-Siefert, C. Kackenesch, W. Neuser und H. Schnädelbach, Frankfurt am Main 2000. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970. Jaeschke, Walter: Hegel Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart / Weimar 20102. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. von J. Timmermann. Mit einer Bibliographie von H. Klemme, Hamburg 1988. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1900 ff.

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Krämer, Hans Joachim: „Zur geschichtlichen Stellung der Aristotelischen Metaphysik“, in: Kant-Studien 58 (1967). Leibniz, G. W.: Philosophische Schriften, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1875 – 1890. Lerussi, N. / Solé, M. J. (Hg.): En busca del idealismo, Bs. Aires 2016. Lucas, Hans Christian / Tuschling, Burkhard / Vogel, Ulrich: Hegels enzyklopädisches System der Philosophie. Von der „Wissenschaft der Logik“ zur Philosophie des absoluten Geistes, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004.

Natur, Geist und Bildung. Zu den normativen Implikationen einer spekulativen Anthropologie Christian Hofmann (Hagen) Das Verhältnis des Menschen zur Natur und zum Leben scheint immer mehr dem Primat der Machbarkeit unterworfen zu sein, und es erweist sich immer mehr als problematisch, daß das Verhältnis zur Natur v. a. diesem Primat unterliegt. Zweifellos hat der Mensch schon von Anfang an die Erde in seinem Sinne umgestaltet, doch hat er hierin mit der Industrialisierung und schließlich mit den Mitteln der Atom- und Gentechnik eine ganz neue Dimension der Naturbeherrschung erreicht. Dies veranlaßte einige Autoren bereits dazu, die gegenwärtige geologische Epoche mit dem Namen „Anthropozän“ zu belegen, da der Einfluß des Menschen eben auch aus geologischer Sicht zu einem wesentlichen Einflußfaktor geworden sei1. Dieser enorme menschliche Einfluß auf die Natur ist in seinen Effekten z. T. nicht direkt intendiert (sondern auch der Gleichgültigkeit geschuldet), wie in vielen Fällen der Umweltzerstörung oder -verschmutzung (z. B. beim Artensterben oder bei der Vermüllung der Ozeane). Andere Formen der Einflußnahme sind von den jeweiligen Akteuren hingegen durchaus intendiert, wie etwa die gentechnologischen Eingriffe der sogenannten „synthetischen Biologie“, die bewußt künstliche Organismen schaffen möchte und damit völlig unabsehbare Folgen in Kauf nimmt. Als Beispiel dafür, inwieweit der Mensch auch in seine eigene Natur eingreift, mag der im November 2018 bekannt gewordene Fall dienen, daß ein chinesischer Forscher Gen-Manipulationen an menschlichen Babys durchgeführt haben soll2. Dahinter scheint nun die (Cartesische) Vorstellung zu stehen, daß wir als menschliche Subjekte mit der Natur – unserer eigenen Natur eingeschlossen – (als der bloßen res extensa) beliebig verfahren und sie also vollständig als Objekt unserer Willkür betrachten dürfen. Dafür hingegen, daß wir uns demgegenüber in unserem Handeln auch in Bezug auf die Natur im Sinne einer vernünftig qualifizierten Freiheit beschränken müssen, kann man freilich ethische Gründe anführen. Jedoch geht das ethische Urteil hier möglicherweise am Kern des Problems vorbei, 1

Vgl. hierzu Jürgen Manemann: Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld 2014. 2 Vgl. etwa den Bericht von Michael Lange: „Medizinische Nebenwirkungen nichts ausgeschlossen“, in: Deutschlandfunk, 28. 11. 2018, online unter: https://www.deutschlandfunk. de/genmanipulierte-babys-medizinische-nebenwirkungen-nicht.1773.de.html?dram:article_id= 434397 (zuletzt eingesehen am 16. 06. 2019).

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wenn es nicht auch eine grundlegende Reflexion über das Verhältnis von Freiheit und Leben – oder allgemeiner noch: über das Verhältnis von Geist und Natur – einbezieht. Allgemeiner ist das zuletzt genannte Verhältnis, da die Natur eben auch Nicht-Lebendiges, Anorganisches, und der Geist – auch wenn er gleichwohl in seinem Wesen auf Freiheit hin ausgerichtet ist – unfreie Aspekte beinhaltet. Dieses Verhältnis zeigt sich allein am und für den Menschen, da dieser das einzige bekannte Freiheitswesen ist. Dabei ist er zugleich immer auch als lebendiges, natürliches Freiheitswesen zu denken, das sich – anders als andere Lebewesen – zum Leben und zur Natur in ein Verhältnis setzen kann. Die folgende Erörterung beginnt deshalb mit einer Reflexion auf den Begriff des Menschen. Dabei geht es um Aspekte, die in die Philosophische Anthropologie, ebenso aber auch in die Philosophie des Geistes und die Ethik (v. a. im Sinne einer integrativen Bioethik) gehören. Ausgangspunkt hierfür ist eine bestimmte anthropologische Perspektive, nämlich die einer spekulativen Anthropologie, die für den Menschen, wie ich zu zeigen versuche, eine Bildungsaufgabe und gewisse normative (oder näher: ethische) Konsequenzen impliziert. Diese Konsequenzen betreffen dann nicht nur das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen, sondern auch zur Natur im Allgemeinen. Ausgangspunkt für die Herausbildung der „Philosophischen Anthropologie“ als eigener Disziplin in den 20er Jahren war die Erfahrung, daß der moderne Mensch sich, in den Worten Max Schelers, „völlig und restlos problematisch geworden“3 war. Die Philosophische Anthropologie ist damit von vornherein eine „Krisendisziplin”4, sie antwortet (auch vor dem geschichtlichen Hintergrund des Ersten Weltkriegs) auf die Umbrüche und Krisen der Moderne, v. a. im Hinblick auf die Naturalisierung des Menschenbildes und die Relativierung alter Gewißheiten. Zu den damaligen Krisen sind freilich noch weitere hinzugekommen, wobei es mir hier um die „Krise“ im Verhältnis von Geist und Natur geht – denn die eingangs angesprochenen Beispiele weisen diesbezüglich m. E. ebenfalls auf eine Störung oder Entfremdung hin, zu der die ökologische Krise ebenso gehört wie eine menschliche Selbstentfremdung5. Zu überwinden ist diese Entfremdung freilich nicht, indem man die Differenz von „Geist“ und „Natur“ einebnet und den Menschen bloß als Naturwesen betrachtet, denn dadurch würde man der Verfaßtheit des Menschen als eines Geistwesens nicht gerecht, zudem könnten auf dieser Grundlage eigentlich 3

Vgl. Max Scheler: „Philosophische Weltanschauung“, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Manfred Frings, Bd. 9 (Späte Schriften), Bonn 20083, 73 – 182, hier: 120: „Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos ,problematisch‘ geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist; zugleich aber auch weiß, daß er es nicht weiß.“ 4 Vgl. Oswald Schwemmer: Art. „Anthropologie“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Stuttgart / Weimar 20052, 153 – 157, hier: 153. 5 Vgl. hierzu Vittorio Hösle: Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, München 1991.

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ethische Forderungen an den Menschen gar nicht begründet werden6. Oswald Schwemmer etwa fordert deshalb von der „Wissenschaft vom Menschen“, daß sie einerseits als „eine ökologische Wissenschaft von der solidarischen Existenzform des Menschen“ (als eines Lebewesens unter anderen Lebewesen) zu denken ist, daß sie andererseits aber auf dem „Sondercharakter des Geistes“ besteht7. Hierfür nun scheint mir eine spekulative Anthropologie wichtige Grundlagen zu liefern, da sie den Menschen einerseits in den Naturzusammenhang zu integrieren vermag, ihn andererseits aber doch v. a. als die Naturordnung transzendierendes Vernunftwesen begreift, das allein aufgrund dieser Vernunftbegabung zu einem ethischen Verhältnis (auch in Bezug auf die Natur) verpflichtet ist. Dabei gehe ich von einer an Kant und Hegel anknüpfenden spekulativen Anthropologie aus, die sich durch ihren zentralen Vernunftbezug von den Ansätzen der modernen Philosophischen Anthropologie, wie sie v. a. von Scheler, Plessner und Gehlen begründet und ausgearbeitet wurden, unterscheidet. Auch von diesen Ansätzen her kann der Mensch zwar als dialektisches Geist-Natur-Wesen gefaßt werden, nämlich als ein natürliches Lebewesen, das als „weltoffenes“ und „exzentrisches“ Geist- und Kulturwesen zugleich über die Natur hinaus ist und das insofern (auch im Zeitalter der nachdarwinschen Biologie) eine „Sonderstellung“ hat, die es qualitativ von allen anderen Lebewesen unterscheidet8. Jedoch werden Geist und Kultur und eine entsprechende Bildungsaufgabe bei Gehlen und Plessner vornehmlich nur von ihrer „kompensatorischen“ Funktion her erklärt, die die ursprüngliche Schwäche des „Mängelwesens“ Mensch ausgleichen solle9. Damit wird noch nicht der mit dieser Bildungsaufgabe verbundene eigentliche Sollensanspruch erfaßt, der sich mit den Vernunftkonzeptionen Kants und Hegels begründen läßt10.

6 Man kann deshalb sagen, daß ein anthropologischer Naturalismus nicht etwa auf einen ethischen Naturalismus, sondern vielmehr auf einen „deontischen Nihilismus“ hinausläuft, denn: „Eine durchgängig naturalistische Anthropologie würde die Tatsache unerklärbar machen, dass überhaupt etwas sein soll“ (Geert Keil: „Anthropologischer und ethischer Naturalismus“, in: Bernd Goebel / Anna Maria Hauk / Gerhard Kruip (Hg.): Probleme des Naturalismus. Philosophische Beiträge, Paderborn 2005, 65 – 100, hier: 92). 7 Oswald Schwemmer: Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1997, 21 f. 8 Vgl. Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, 7 – 71, hier: 31 ff.; Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 19652, 288 ff. 9 Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt a.M. 19719, 9 ff.; vgl. auch Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 309 ff. 10 In den Worten Odo Marquards: Gehlens Anthropologie „weiß […] zwar zu begründen, warum der Mensch kein Tier ist, nicht aber, warum er kein Unmensch sein dürfe“ (Marquard: „Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ,Anthropologie‘ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts“, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde u. a. (Hg.): Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel / Stuttgart 1965, 209 – 239, hier: 220).

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I. Spekulative Anthropologie und Bildung 1. Kant An das geistige Wesen ist nach Kant immer schon ein normativer Anspruch gerichtet, der darin besteht, andere geistige Wesen (oder „Vernunftwesen“) und sich selbst in ihrer Würde zu achten11, aber auch die eigenen geistigen Anlagen zur Entfaltung zu bringen und zu kultivieren12. Dies wird von Kant freilich nicht in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, sondern in seiner Ethik begründet. Praktische Philosophie als „Metaphysik der Sitten“ kann ihm zufolge „nicht auf Anthropologie gegründet […] werden“13, insofern letztere nicht a priori aus praktischer Vernunft heraus, sondern empirisch vorgeht. Die „pragmatische“ Anthropologie unterscheidet Kant zwar von einer bloß „physiologischen“; dabei behandle erstere jedoch nur „subjective […] Bedingungen der A u s f ü h r u n g der Gesetze“ der praktischen Vernunft „in der menschlichen Natur, die Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Erziehung […]) und dergleichen andere sich auf Erfahrung gründende Lehren“14. Sie beziehe sich zwar darauf, was der Mensch, „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“15. Dieses Sollen selbst sei aber nicht anthropologisch, sondern ethisch zu begründen, Anthropologie ist demnach bei Kant der Ethik nachgeordnet. Jedoch entwirft seine transzendentalphilosophische Ethik, wie man vielleicht sagen kann, im Grunde selbst bereits eine „Anthropologie“, indem sie den Menschen nicht bloß als empirisches, der Naturordnung angehörendes Lebewesen (homo phaenomenon) denkt, sondern immer auch als ein Vernunftwesen (homo noumenon), an das sich von vornherein bestimmte Forderungen der praktischen Vernunft richten. Was der Mensch an sich ist, kann nach Kant also nicht rein empirisch erkannt, sondern muß von der praktischen Vernunft und somit vom Freiheitsbegriff her verstanden werden. Den Begriff einer „spekulativen Anthropologie“ bei Kant möchte ich in diesem Sinne verstehen. Mit dem auf diese Weise nicht empirisch-deskriptiv, sondern vielmehr spekulativ – und das heißt hier eben gerade auch normativ – verstandenen menschlichen Sein (als dem Sein des Vernunftwesens) ist somit bereits ein Sollen verknüpft (und eben weil es sich hier um ein „Sein“ handelt, das von Anfang an selbst normativ bestimmt ist, liegt hier auch kein „SeinSollens-Fehlschluß“ oder naturalistischer Fehlschluß vor). Dieses Sollen ist nun nicht bloß (wie etwa bei Gehlen) mit dem Zweck der Selbsterhaltung begründet, 11 Vgl. v. a. die Menschheits- oder Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs in Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. Im folgenden AA, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier: AA IV, 385 – 463, hier: 429. 12 Die „eigene Vollkommenheit“ ist ein menschlicher Zweck, der zugleich Pflicht ist (vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: AA VI, 203 – 549, hier: 386 f.). 13 Vgl. Kant: AA VI, 217. 14 Ebd. 15 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: AA VII, 117 – 332, hier: 119.

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sondern mit der selbstzweckhaften Realisierung der menschlichen Vernunftnatur. Die Bildungsaufgabe und die mit ihr verbundenen normativen Konsequenzen bestehen also nicht um der Notwendigkeit (der bloßen Selbsterhaltung), sondern um der Freiheit willen. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist nicht bloß ein Gebot der Klugheit, sondern eine ethische Pflicht gegen sich selbst! Vor diesem Hintergrund heißt es in §19 der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten: „Der Anbau (cultura) seiner Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte) als Mittel zu allerlei möglichen Zwecken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst. – Der Mensch ist es sich selbst (als einem Vernunftwesen) schuldig, die Naturanlage und Vermögen, von denen seine Vernunft dereinst Gebrauch machen kann, nicht unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen, sondern […] seine Vermögen […] anzubauen und in pragmatischer Rücksicht ein dem Zweck seines Daseins angemessener Mensch zu sein.“16

„Zweck seines Daseins“ aber ist das Streben nach Vollkommenheit im Sinne der Realisierung seiner Vernunftnatur. So impliziert Kants Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen im Grunde eine Pflicht zur Bildung. Dabei wird eben auch die „Cultur der Leibeskräfte“, also des eigenen Körpers, erwähnt – auch die „fortdauernde absichtliche Belebung des Thieres am Menschen“, wie Kant schreibt, ist (wenn auch freilich eine weite und Spielräumen der Willkür offenstehende) „Pflicht des Menschen gegen sich selbst“17. Aber auch die ethische Einschränkung der Willkürfreiheit in Bezug auf andere Lebewesen oder die Natur überhaupt – und somit etwa Verbote der Mißhandlung von Tieren – sind bei Kant letztlich in dieser Pflicht des Menschen gegen sich selbst begründet18. Die Natur und nicht-menschliche Lebewesen sind demnach nicht an sich wertvoll und schützenswert, sondern nur um des Menschen oder genauer noch „um der Moralität willen“19. Direkte Pflichten kann es nach Kant nur Wesen gegenüber geben, die zur Moralität fähig sind – da über diese Fähigkeit aber nur Menschen verfügen, Tiere jedoch nicht, kann es „i n A n s e h u n g “ der letzteren nur indirekte Pflichten geben20. Grausamkeit in Bezug auf andere Lebewesen läßt den Menschen verrohen und steht insofern seiner Verpflichtung zur Selbstkultivierung und somit zur Ausbildung von Humanität und Moralität entgegen. Anders als zeitgenössische „Tierrechtler“ meinen, können „vernunftlose Tiere“ keine „Personen“ oder „Rechtssubjekte“ sein, sondern bleiben – rechtlich betrachtet – bloße „Sachen“, mit denen man an sich, wie Kant gleich zu Beginn seiner Anthropologie bemerkt, „nach Belieben schalten und walten kann“21. Einzuschränken ist dieses „Belieben“ aber eben um der Moralität und des menschlichen Selbstverhältnisses 16

Kant: AA VI, 444 f. Vgl. ebd. 18 Vgl. ebd. 443 (Tugendlehre, § 17); hierzu auch Heike Baranzke: Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik, Würzburg 2002, 199 – 222. 19 Vgl. ebd. 217. 20 Vgl. Kant: AA VI, 443 f. (Tugendlehre, §§ 16 f.). 21 Kant: AA VII, 127. 17

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willen, das in nichtmenschlichen Lebewesen zwar keine Träger von Würde und Rechten, aber durchaus „Objekte spezifischer Fürsorgeverpflichtungen“22 anerkennen kann bzw. muß. Kants Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen impliziert also indirekt ethische Konsequenzen auch in Bezug auf die Natur. Das Verhältnis des Vernunftwesens zur Natur und somit auch sein ethisches Verhältnis in Bezug auf diese bleiben in Kants dualistischer Perspektive allerdings durch eine abstrakte Trennung charakterisiert. Der abstrakte Dualismus von Geist und Natur aber, so O. Schwemmer, „verstellt nicht nur den Blick auf die Welt […], sondern verdeckt auch die Sicht auf den Menschen selbst“23. Eine Überwindung des Dualismus, speziell hinsichtlich des Verhältnisses von Vernunft bzw. Freiheit einerseits und Natur bzw. Leben andererseits, ist in Kants Philosophie zwar z. T. schon angelegt (v. a. im Organismus-Begriff der Kritik der Urteilskraft), wird von ihr aber noch nicht abschließend vollzogen24. Der spekulative Organismus-Begriff sowie Hegels Philosophie des Geistes bieten nun die Möglichkeit, zu einer (im dialektischen Sinne) monistischen Perspektive überzugehen, in welcher gleichwohl die Stellung der Vernunft gewahrt bleibt25. Auf diese Weise können sowohl der (nicht nur Kantische, sondern v. a. auch Cartesische) Dualismus als auch ein naturalistischer Monismus (und entsprechende reduktionistische Menschenbilder, wie sie etwa in gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Debatten oftmals vorherrschen), zurückgewiesen werden. Damit werden zwei Probleme vermieden – nämlich zum einen das Problem, Geist und Natur unvermittelt nebeneinander stehen zu lassen, ohne angeben zu können, wie deren Beziehung und Einheit begriffen werden kann (das klassische Leib-Seele-Problem), zum anderen das Problem, Geist ganz in die Naturordnung aufzulösen, ihn auf natürliche Grundlagen zu reduzieren und somit das eigentlich Geistige zu verfehlen (das Problem des Reduktionismus)26. Während Kant das Verdienst gebührt, die Begriffe der Autonomie, der praktischen Vernunft und der Freiheit – in Abgrenzung zum Bereich der „Natur“ und gegen den Naturalismus – überhaupt erst begründet zu haben, läßt sich mit Hegel eine den Freiheitsbegriff weiterentwickelnde dialek-

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Baranzke: Würde der Kreatur?, 321. Schwemmer: Die kulturelle Existenz des Menschen, 21. 24 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, in: AA V, 165 – 544; hierzu auch Thomas Khurana: Das Leben der Freiheit. Form und Wirklichkeit der Autonomie, Berlin 2017. 25 Wichtig in diesem Zusammenhang ist freilich auch Schellings Naturphilosophie, auf die hier aber nicht eingegangen werden kann. 26 Ein Ausweg aus dem Dilemma von Dualismus und Physikalismus kann auch im Rückgriff auf den Aristotelischen Hylemorphismus aufgezeigt werden, auf den sich Hegel explizit bezieht. Vgl. in diesem Sinne für eine aktuelle Anknüpfung an das Aristotelische Modell Marcus Knaup: Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg / München 2012. 23

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tische Einheit von „Freiheit“ und „Natur“ denken, die deren Differenz in den Geist selbst hineinnimmt27. 2. Hegel Auch in Bezug auf Hegel verstehe ich den Begriff einer „spekulativen Anthropologie“ in einem sehr weiten Sinne – ich beziehe mich damit nicht allein auf den schmalen Systemteil, der zu Beginn von Hegels Philosophie des subjektiven Geistes den Übergang von der Natur zum Geist markiert28, sondern ich beziehe diesen Begriff auf Hegels Philosophie des Geistes überhaupt. Mit Hegel läßt sich die schon mit Kant angesprochene umfassende Bildungsaufgabe zwar nicht als ethische Pflicht, aber als das an den Geist – und somit an den Menschen, als des einzigen bekannten geistigen Wesens – gerichtete „absolute Gebot“ der Selbsterkenntnis verstehen29. Diese Formulierung vom „absoluten Gebot“ erinnert durchaus an den kategorischen Imperativ, den Kant zumindest an einer Stelle in der Grundlegung ebenfalls als ein solches bezeichnet30. Und auch wenn es vielleicht nicht ganz zutreffend ist, Hegels Philosophie des Geistes überhaupt (mit Adriaan Peperzak) schon als „Fundamentalethik“ zu bezeichnen31, so sind mit ihr doch unleugbar immer schon bestimmte normative Gehalte verknüpft. Denn bei der zu leistenden Selbsterkenntnis, die sich erst in der Entwicklung der geistigen Möglichkeiten realisiert, handelt es sich um einen Prozeß, der ebenso theoretisch wie praktisch zu bestimmen und der an dem Telos verwirklichter Freiheit orientiert ist. Geist muß sich zu dem, was er an sich ist, erst noch machen, er muß sich hierfür aus seiner Befangenheit an die Natur schrittweise herausarbeiten32. Für Hegel besteht insofern „ein intrinsischer Zusammenhang von Bildung und Freiheit“33 – wobei Geist, im 27

Da in Hegels dialektischem Monismus die „Natur“ im Geist aufgeboben wird und somit ein untergeordnetes Moment bleibt, ist es m. E. irreführend, hierbei mit McDowell von einem „Naturalismus der zweiten Natur“ zu sprechen (vgl. John McDowell: Geist und Welt, Berlin 20124, 104 – 111) oder auch mit Khurana von einem „Naturalismus, der sich zugleich als Idealismus versteht“ (Khurana: Das Leben der Freiheit, 518, Fn. 10). Dagegen erscheint mir Keils Warnung plausibel: „Es ist wie in der theoretischen Philosophie auch in der praktischen nicht hilfreich, den Begriff des Naturalismus so weit und undeutlich zu verwenden, dass als Nichtnaturalisten nur Strohmänner übrig bleiben“ (Keil: „Anthropologischer und ethischer Naturalismus“, 99 f.; vgl. auch ebd. 89 f.). 28 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. d. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Im folgenden GW, mit Angabe des Bandes und der Seiten- bzw. Paragraphenzahl hier: GW XX, §§ 388 – 412. 29 Vgl. Hegel: GW XX, § 377. 30 Vgl. Kant: AA IV, 420. 31 Vgl. Adriaan T. Peperzak: „The Foundation of Ethics according to Hegel“, in: International Philosophical Quaterly XXIII.4 (1983), 349 – 366. 32 Vgl. Hegel: GW XX, § 387. 33 Vgl. Andreas Braune / Jiri Chotasˇ / Klaus Vieweg / Folko Zander (Hg.): Freiheit und Bildung bei Hegel, Würzburg 2013, 7.

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Sinne jenes „absoluten Gebots“ gleichsam zur Bildung verpflichtet ist. Diese Verpflichtung zur Bildung – die für Hegel, im Unterschied zu Kant, allerdings nicht moralisch, sondern von der Selbstverwirklichung des Begriffs her zu verstehen ist – bezieht sich insofern auf das Verhältnis des Geistes zu sich selbst, aber auch auf sein Verhältnis zur Natur. Dabei geht Hegel eben u. a. darin über Kant hinaus, daß er die Beziehung von Geist und Natur nicht dualistisch denkt, sondern als dialektischen Zusammenhang. Die allgemeine Idee muß sich im Raum der Natur besondern, um als geistige Einzelheit zu sich selbst zurückkehren34 und dabei auch die Anerkennung anderer Einzelheit vollziehen zu können. Der Mensch ist als Geistwesen kein abstraktes Vernunftwesen, sondern ein in der Natur und der geschichtlich-empirischen Welt (und somit unter den Bedingungen von Raum und Zeit) inkorporiertes und individualisiertes Vernunftwesen, das – obwohl der Geist sich schließlich auf diesem Boden (als absoluter Geist) zu „wahrhafter Unendlichkeit“ zu erheben vermag – durch seine Gewordenheit und Endlichkeit (seine Natalität und Sterblichkeit) charakterisiert ist und das sich, um leben und handeln zu können, immer schon auf bestimmte empirische (natürliche und soziale) Lebenszusammenhänge einlassen muß. Geist ist somit nicht einfach das „Andere“ der Natur (so wie die Natur „die Idee in der Form des A n d e r s s e y n s “ ist35), sondern die aufgehobene Natur, wobei er immer auch an seine natürliche Grundlage gebunden bleibt. Er ist somit nicht durch einen abstrakten Gegensatz zur Natur bestimmt, sondern durch ein konkretes Verhältnis, in das er sich selbst in Bezug auf diese setzt, so daß er sich von dieser unterscheidet und gleichzeitig mit ihr verbunden bleibt. Erst durch die Entgegensetzung zur Natur gelangt Geist zu sich selbst, doch erst indem er die Natur als zwar aufgehobenes aber nichtsdestotrotz notwendiges Moment seiner selbst erkennt, erkennt er sich selbst in seiner eigenen Gewordenheit. So versteht Hegel den Geist in seiner frühesten Stufe als „natürliche Seele“, die noch in einer ganz unmittelbaren Einheit mit der Natur lebt. Die Seele ist das Organisationsprinzip des Lebendigen, das die innere Zweckmäßigkeit stiftende Moment des Organismus36; das Lebendige wird von Hegel dabei als Idee gefaßt, als Einheit von Seele und Leib37. Vor diesem Hintergrund sind alle körperlichen und seelischen Funktionen als Momente einer geistigen Einheit zu begreifen38. Die Seele verbindet das Körperlich-Materielle zu einem lebendigen Ganzen und ist zugleich das einheitsstiftende Bezugszentrum jeglicher Welterfahrung. Die Natur selbst ist hier deshalb „als Seelenbestimmung des Geistes zu fassen, als Moment seiner 34

Vgl. Thomas S. Hoffmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 20122, 400 ff. 35 Vgl. Hegel: GW XX, § 247. 36 Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik. Bd. 2: Die subjective Logik, in: GW XII, hier: 182 – 184. 37 Vgl. Hegel: GW XX, § 216. 38 Vgl. ebd. §§ 379 f.

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Idealität“39. Die Natur ist insofern im Geist „aufgehoben“, der Geist durchdringt alle Momente der seelisch-leiblichen Einheit, wenn auch zunächst noch unbewußt40. Dabei gilt für Hegel: „Die Bestimmungen und Stufen des Geistes […] sind wesentlich nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höhern Entwicklungsstufen. Es geschieht dadurch, daß an einer niedrigern, abstractern Bestimmung das Höhere sich schon empirisch vorhanden zeigt, wie z. B. in der Empfindung alles höhere Geistige als Inhalt oder Bestimmtheit.“41

Von der unbewußten, unmittelbaren Einheit der „natürlichen Seele“ muß sich der Geist freilich noch in einem langen Bildungsweg zur Selbsterkenntnis befreien. Freiheit verwirklicht sich erst in der Vernunft autonomer Subjekte, doch ist diese erst das Resultat einer langen Entwicklung, welche in allen ihren Momenten zu berücksichtigen ist. Die lebendige Natur ist eine notwendige Bedingung dieser Entwicklung. Unser jeweiliger Leib – d. h. „die Natur, die wir selbst sind“42 – ist für uns dabei nicht bloß irgendein äußerlich gegebenes Erkenntnisobjekt neben anderen, sondern er ist das Medium, in dem wir uns als Subjekt überhaupt erst entfalten. Auch als denkende Wesen sind wir nicht abstrakt von unserem Leib und der Außenwelt geschieden – wie bei Descartes oder in dem von Putnam geschilderten Szenario des „Gehirns im Tank“ – , sondern wir sind immer schon auf unseren Leib bezogen, über den wir wiederum in Beziehung zu einer natürlichen Umwelt stehen. Das seelische Empfinden drückt sich von Anfang an im Leib aus, der Geist „ve r l e i b l i c h t “ sich selbst, wie Hegel schreibt43. Hierhin gehört z. B., daß einen Erregung oder Zorn rot oder bleich werden läßt, seelischer Kummer auf den Magen schlägt, die Empfindung von Trauer einem Tränen in die Augen treibt, traumatische Erfahrungen ihren Niederschlag in körperlichen Symptomen (wie z. B. Schwindel oder Herzrasen) finden können usw.44 Gleichzeitig ist der Leib „die M i t t e “, durch die das innere Empfinden mit der Außenwelt verbunden ist45. So schreibt auch Jürgen Manemann in seiner Kritik des Anthropozäns (wenn auch hier nicht mit Bezug auf Hegel): 39 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes. Sommersemester 1825. Nachschrift Karl Gustav Julius von Griesheim, in: GW 25.1, 145 – 548, hier: 204. 40 Vgl. Christian Hofmann: „Weltseele oder passiver nous? Zur allgemeinen Substanz des subjektiven Geistes“, in: Hegel-Jahrbuch 2018, 267 – 271, hier: 267. 41 Hegel: GW XX, § 380. 42 Gernot Böhme: Gut Mensch sein: Anthropologie als Proto-Ethik, Zug 2016, 23. Vgl. jetzt auch ders.: Leib: die Natur, die wir selbst sind, Berlin 2019. 43 Vgl. Hegel: GW XX, § 401. 44 Vgl. auch Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes. Sommersemester 1822. Nachschrift Heinrich Gustav Hotho, in: GW 25.1, 1 – 144, hier: 58 ff.; Dirk Stederoth: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Ein komparatorischer Kommentar, Berlin 2001, 175 ff. 45 Vgl. Hegel: „Sekundäre Überlieferung, Zusätze aus Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, hg. von Dr. Ludwig Boumann, Berlin 1845“, in: GW 25.2, 919 – 1018, hier: 1057.

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„In seiner Leiblichkeit ist der Mensch mit seiner Umwelt unmittelbar verbunden. […] Dieses Verbundensein ist zugleich auch ein Ausgeliefertsein. Durch den Leib werden Ereignisse ins Gedächtnis geritzt, ist der Mensch ein In-Geschichten-Verstrickter. Der Mensch ist deshalb in seiner Leiblichkeit mehr als Information und Gene, nämlich Gedächtnis.“46

Das Gedächtnis nennt Hegel wiederum den „Mechanismus der Intelligenz“47 und er spricht in diesem Zusammenhang von dem „nächtlichen Schacht“ der Intelligenz, in dem „eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen“ zunächst „b ew u ß t l o s a u f b ew a h r t “ sei48, um erst durch Erinnerung und Gedächtnis ins Bewußtsein zu treten. Das Gedächtnis ist dabei mit der „Gewohnheit“ verknüpft49, welche Hegel auch als „zweite Natur“ bezeichnet, in welcher der Mensch unfrei und frei zugleich sei, da er einerseits noch durch die Natur bestimmt werde, andererseits diese Naturbestimmtheit bereits als Moment des Geistes gesetzt sei, als „eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit“, wie sie die menschliche Physiognomie überhaupt charakterisiert und wie sie sich näher u. a. als Geschicklichkeit ausdrückt50. Man denke z. B. an einen geübten Musiker, dessen Hand selbst gleichsam im richtigen Moment genau „weiß“, wie sie eine Saite anschlagen muß, um einen bestimmten Ton in einer bestimmten Nuance hervorzurufen. Doch natürlich steckt dieses Wissen nicht in der Hand als physischem Objekt, sondern in dem Geist, der sich auch in ihr „verleiblicht“. Da die Entwicklung des Geistes insofern untrennbar mit der leiblichen Dimension verbunden bleibt, gehört zur Bildung auch eine Aneignung des eigenen Leibes. Hegel spricht diesbezüglich in seiner Rechtsphilosophie von der „Ausbildung“ und der In-Besitznahme des eigenen Körpers und Geistes, durch die der Mensch diese erst als „das Eigentum seiner selbst und gegen andere“ erfahre51. Bleiben wir aber zunächst bei der leiblichen Dimension als solcher: diese hat der Mensch freilich mit nichtmenschlichen Organismen gemein. Das Tier (und erst recht natürlich die Pflanze) bleibt dabei für den Menschen etwas „Fremdes“, insofern es eben nicht geistig ist. So heißt es in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte etwa über den „Thierdienst“ der altägyptischen Religion (man denke etwa an den Gott Anubis, der mit einem Hundekopf versehen ist, oder an die Löwengestalt der Sphinx): 46

Manemann: Kritik des Anthropozäns, 103. Hegel: GW XX, § 410 Anm., 416. 48 Ebd. § 453. 49 Das Gedächtnis und die Erinnerung sind „[d]ie entwickelte und im Geistigen als solchem bethätigte Gewohnheit“ (ebd. § 410 Anm., 418). 50 Vgl. ebd. 416 ff. „Zum menschlichen Ausdruck gehört“ dabei für Hegel „z. B. die aufrechte Gestalt überhaupt, die Bildung insbesondere der Hand, als des absoluten Werkzeugs, des Mundes, Lachen, Weinen u.s.w. und der über das Ganze ausgegossene geistige Ton“ (ebd. § 411 Anm.). 51 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: ders.: GW XIV.1, § 57. 47

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„[W[ir sehen nun, daß die Aegypter, denen der Gedanke, das Fürsichsein des Geistes für sich ein Verschlossenes bleibt, daß sie sympatisirt haben nicht mit der freien geistigen Seele, sondern mit der in das Leben eingeschlossen Bleibenden. […] der Aegypter […] hat die Lebendigkeit des Thiers, das Wunderbare des Instincts aufgefaßt und an dises sich gehalten. dise thierhafte Zweckmäßigkeit und Gescheutheit, dises zusammen ist für uns ein Unbegreifliches, denn der Mensch mag die Thiere betrachten, sich hinein imaginiren, so kann er sich nicht vorstellen, wie es in der Seele dises Thiers aussieht, und kann in sie sich nicht hinein phantasieren.“52

Dennoch ist das Tier in seiner Lebendigkeit (jedenfalls in bestimmten Grenzen) auch etwas Vertrautes. Mit Aristoteles gesprochen enthält die menschliche Seele eben nicht bloß das vernünftige, sondern auch das vegetabilische und das animalische Element – auch wenn diese beim Menschen über das Denken vermittelt sind. Und auch wenn der nichtmenschliche (tierische) Organismus sich nicht zum Geist weiterentwickelt – und insofern für den Geist eben fremd bleiben muß –, betont Thomas Khurana mit Kant und Hegel, daß sich dessen Aktivität bereits als „Selbstkonstitution“ bzw. „Selbstproduktion“ bestimmen läßt53. Hegel, der hier explizit an Kants Theorie der teleologischen Urteilskraft sowie an Aristoteles anknüpft54, spricht sogar von der „S u b j e c t iv i t ä t “ auch des tierischen Organismus55 – und gewissermaßen können bei ihm die „Stufen des Organischen“ (Plessner) als „Stufen der Verwirklichung von Subjektivität“ verstanden werden56. Mit diesem Verständnis eines sich selbst konstituierenden Organismus als Subjektivität wird freilich über eine bloß naturwissenschaftliche Perspektive auf das Lebendige hinausgegangen, die gerade von aller Subjektivität (und inneren Zweckmäßigkeit des Organismus) abstrahieren muß57. Während die empirische Naturwissenschaft ihren Gegenstand immer schon im Sinne der Quantifizierbarkeit, technischen Handhabbarkeit und Objektivierbarkeit präformiert, denkt die spekulative Naturphilosophie überhaupt eine „Befreiung der Natur“58, welche sich einer

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Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Wintersemester 1822/23, Nachschrift Heinrich Gustav Hotho, in: ders.: GW XXVII, hier: 256 f. 53 Vgl. Khurana: Das Leben der Freiheit, z. B. 11, 22. 54 Vgl. Hegel: GW XX, § 360 Anm. 55 Vgl. ebd. § 350. 56 Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart / Weimar 20102, 344. 57 Vgl. Hösle: Philosophie der ökologischen Krise, 61. Auch Kant geht mit seiner Theorie des Organismus, die eine Hypothese der reflektierenden Urteilskraft bleibt, über die Bestimmung der Natur als empirischen Erkenntnisgegenstand hinaus; seine Perspektive ist hier also „spekulativ“. 58 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Natur. Wintersemester 1821/22, Nachschrift Boris von Uexküll, in: ders.: GW XXIV.1, 183 – 470, hier: 200. Vgl. hierzu näher Thomas S. Hoffmann: Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, 396 – 447.

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solchen Präformierung enthält und die Naturgegenstände auch in ihrer Unzugänglichkeit, Fremdheit und Alogizität als solche beläßt59. Dies gilt nicht erst für den lebendigen Organismus, jedoch wird mit dessen „Subjektivität“ nun ein weiterer wesentlicher logischer Schritt auf dem Weg zum Geist hin vollzogen. Die Begriffe des „Lebens“ bzw. der „lebendigen Natur“ sind dabei als Reflexionsbegriffe zu denken60, die wir erst dann wirklich verstehen, wenn wir uns selbst in unserer Natürlichkeit und Lebendigkeit mit einbeziehen, wenn wir das Leben also aus der „Binnenperspektive“ betrachten61. Subjektivität ist nicht reduzierbar auf bloß Objektives, sie bleibt letztlich etwas Unverfügbares, NichtIdentisches, das sich der Verdinglichung (der Objektivierung, z. B. durch die Reduktion auf bestimmte Gensequenzen) entzieht. Hans Jonas spricht in diesem Sinne sogar von der „Freiheit“ des Lebendigen überhaupt. Dies mag zunächst überzogen erscheinen, denn das „bloß Lebendige“ ist natürlich nicht „frei“ im Sinne des autonomen Subjekts; dennoch aber ist in ihm (aufgrund seiner „Subjektivität“ als Organismus), so Jonas, bereits der Keim der Freiheit angelegt62. Diesen Gedanken vom „Freiheitskeim“, der in jedem Organismus anzutreffen sei, muß man vielleicht insofern relativieren, als hier der qualitative (also grundsätzliche und nicht bloß graduelle) Unterschied zwischen dem Geistwesen und dem bloß natürlichen Lebewesen unter den Tisch zu fallen droht. Wenn es also einerseits richtig ist festzuhalten, daß wir mit allen Lebewesen eine Art Grunddisposition der Subjektivität teilen und daß wir durch diese Gemeinsamkeit auch mit allen Lebewesen verbunden sind, bleibt gleichzeitig im Auge zu behalten, daß nur der Mensch ein Bewußtsein der Freiheit zu entwickeln und somit Subjektivität auch als Geist zu verwirklichen vermag, während sich für die „bloße Natur“ und das „bloß Lebendige“ hier eine unüberwindbare Grenze zeigt. Der „holistische“ Gedanke einer „Normativität“ des Lebens, den z. B. Jonas vertritt, kann aber durchaus mit dem Prinzip der freien Selbstbestimmung in dem Konzept einer integrativen Bioethik zusammengedacht werden63 – und hierfür läßt sich m. E. sehr gut an Hegel anschließen, da er einen dialektischen Monismus denkt, der von Anfang bis Ende auf die Verwirklichung von Freiheit hin ausgerichtet ist.

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Vgl. Hoffmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 404 f. Vgl. Khurana: Das Leben der Freiheit, 8. 61 Vgl. Thomas S. Hoffmann: „Praktische Philosophie als integratives Denken. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen mit besonderer Rücksicht auf die Bioethik“, in: Ante Cˇ ovic´ / ders. (Hg.): Integrative Bioethik. Beiträge des 1. Südosteuropäischen Bioethik-Forums, Mali Losˇinj 2005, Sankt Augustin 2007, 13 – 25, hier: 23; ders.: „Integrative Bioethik“, in: Michael Fuchs / Max Gottschlich (Hg.): Ansätze der Bioethik, Freiburg 2019, 161 – 191, hier: 182. 62 Vgl. hierzu Marcus Knaup: „Ein neues Naturdenken als Grundlage für die Ethik. Zur Aktualität von Hans Jonas“, in: Imago Hominis 21.4 (2014), 287 – 302, hier: 296. 63 Vgl. hierzu Hoffmann: „Integrative Bioethik“, hier v. a.: 173, 181 ff. 60

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II. Normative Konsequenzen (in Beziehung auf die allgemeine Natur) Welche normativen Konsequenzen aber folgen aus dieser Bestimmung des Menschen als „Geist“ und somit als „aufgehobene Natur“? Erstens ergibt sich aus dem an den Geist ergehenden „absoluten Gebot“ die Aufgabe der Bildung, die tendenziell eine gestaltende Kultivierung des Gegebenen und seiner selbst und somit zunächst eine Befreiung von den Bindungen an die Natur intendiert. Geist ist dabei zur Anerkennung anderen Geistes verpflichtet; die kulturelle und soziale Welt ist so zu gestalten, daß eine freie Entwicklung aller geistigen Wesen möglich wird. Diese normative Konsequenz ist vor dem Hintergrund der kantischen Konzeption des Menschen als eines natürlichen Vernunftwesens wohl relativ unstrittig. Über Kant hinaus kann mit Hegel die menschliche Person dann als eine psychosomatische Einheit verstanden werden, die nicht durch eine abstrakte Spaltung von „Vernunft“ und „Natur“ charakterisiert bleibt und die als Ganze genommen anzuerkennen ist. „Würde“ ist vom Vernunftwesen her begründet, aber der Mensch ist halt immer ein konkretes Individuum, d. h. nicht bloß ein abstraktes Vernunftwesen, sondern auch ein empirisch (etwa geschichtlichkulturell und körperlich) bestimmtes Wesen64. Zu fragen ist aber auch nach dem ethischen Verhältnis des Geistes in Bezug auf die Natur im Allgemeinen bzw. danach, worin die Aufgabe der Bildung in Bezug auf diese besteht? Ethische Konsequenzen in Bezug auf die Natur hat Hegel selbst aus seinem Geistbegriff freilich nicht gezogen. Das bedeutet aber nicht, daß es nicht möglich ist, solche vor dem Hintergrund seines Philosophierens zu formulieren. In dieser Hinsicht ergibt sich aus dem Geistbegriff zweitens, daß die Bildung sich zugleich auch der Natur als ihrer eigenen substantiellen Grundlage bewußt bleiben und auch diese als solche (in gewisser Weise) „anerkennen“ muß; sie darf diese nicht verleugnen, wenn sie nicht bloß zu einem entfremdeten Geist gelangen möchte, der sich seiner eigenen Wurzeln nicht bewußt ist. Die Normativität erwächst hierbei nicht aus der Natur selbst, sondern aus dem Verhältnis, in das sich der Geist zu dieser setzt, indem er sich selbst als hervorgegangen aus der Natur begreift. Dabei erkennt der Geist seine Verbundenheit mit der Natur, die zugleich über einen grundlegenden Unterschied vermittelt ist. Bildung meint dann einerseits das Herausarbeiten aus der Natur, der Geist ist somit als Negativität gegen die Natur zu verstehen, andererseits soll aber auch eine gewisse „Versöhnung“ mit der Natur intendiert werden, in der der Geist bei sich selbst sein kann – auch und gerade weil er sich zuvor von der Natur emanzipiert hat. Dabei gehört zur Bildung das Moment der Entfremdung unauflöslich hinzu, denn wenn uns das Gegebene nicht fremd wird, entwickeln wir zu diesem auch kein 64 Dies weiß natürlich auch Kant, aber Hegel verfügt im Unterschied zu diesem auch über die nötigen begrifflich-systematischen Mittel, um dem Verhältnis von Geist und Natur wirklich gerecht zu werden.

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gebildetes Verhältnis65. Die Aufhebung der Entfremdung kann freilich nicht in einem „Zurück zur Natur“ (Rousseau), einem „Frieden mit der Natur“ (MeyerAbich)66 oder einer neuen „Verzauberung der Natur“ (McDowell)67 bestehen, da der Mensch eben kein reines Natur-, sondern vielmehr ein Geistwesen ist; dabei ist er zudem in seiner Lebenserhaltung einerseits auf die Natur angewiesen und wird andererseits von dieser selbst bedroht. Mit dem für unsere Suppe bestimmten Blumenkohl und mit den Raubtieren und Bakterien, die uns überfallen, werden wir in der Regel wohl nicht einfach so „Frieden“ schließen wollen. Ziel kann hier also nicht eine endgültige harmonische Beziehung zur Natur sein, sondern vielmehr ein dialektisches Denken der Natur, das diese in ihrem So-Sein beläßt. Hegel selbst spricht (in naturphilosophischer Hinsicht) von einer solchen „Versöhnung des Geistes mit der Natur“, die darin bestehe, „die Natur der Natur“ (und somit das Verhältnis des Geistes zur Natur) zu kennen68. Geschichtlich gesehen tritt die Notwendigkeit eines ethischen Verhältnisses zur Natur erst dann ins allgemeine Bewußtsein, wenn die durch technische Naturbeherrschung erlangte Verfügungsgewalt über die Natur einen bestimmten Grad erreicht hat. So stellte sich eigentlich erst mit der Moderne, nämlich ab Beginn der Industrialisierung und verstärkt seit dem 20. Jahrhundert, die Frage nach ethischen Implikationen der menschlichen Weltgestaltung und Bildung in Bezug auf das Verhältnis zur Natur, da die wissenschaftlich-technische Aneignung der Natur zu bis dahin ungeahnten Dimensionen der Naturbeherrschung und -zerstörung geführt hat69. Dies erst markiert etwa den Ausgangspunkt von Hans Jonas‘ „Verantwortungsethik“, die sich als ethischer Neuansatz im Zeitalter der „technologischen Zivilisation“ versteht, der den Menschen als weltoffenes und zugleich als umwelteingebundenes Wesen denkt, um ihn so wieder in den Gesamtzusammenhang der Natur zu integrieren70. So schreibt Jonas:

65 Vgl. Karl Löwith: „Hegels Begriff von Bildung“, in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Stichweh, Bd. 5 (Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert – Max Weber), Stuttgart 1988, 221 – 238, hier: 232 ff. 66 Vgl. hierzu auch Hoffmann: Philosophische Physiologie, 245 f., Fn. 16. 67 Vgl. McDowell: Geist und Welt, 110: „Ich behaupte, daß wir die Natur teilweise verzaubert lassen können, ohne daß das einem Rückfall in einen vorwissenschaftlichen Aberglauben oder in einen zügellosen Platonismus gleichkäme. Dazu muß es uns nur gelingen, den Gedanken der zweiten Natur zurückzugewinnen.“ 68 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Natur. Wintersemester 1819/20, Nachschrift Johann Rudolf Ringier, in: GW XXIV.1, 1 – 181, hier: 181: „Das resultat der Naturphilosophie ist: daß indem man die Natur der Natur kennt so ist das Versöhnung des Geistes mit der Natur.“ 69 Vgl. auch Otfried Höffe: Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt, Frankfurt a.M. 1993. 70 Vgl. hierzu Gerald Hartung: „Organismus und Umwelt. Hans Jonas‘ Ansatz zu einer Philosophie der menschlichen Umwelt“, in: ders. u. a. (Hg.): Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik. Zur Aktualität von Hans Jonas, Freiburg / München 2013, 75 – 99.

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„Die Pflicht, die stets bestand, wird akut und konkret mit dem Wachstum menschlicher Macht durch die Technik, die der ganzen Lebenswohnung hier auf Erden gefährlich wird.“71

In dem Maße also, wie die Verfügungsgewalt über die Natur wächst, nimmt auch die ethische Verantwortung in Bezug auf diese zu. Angesichts des massiv gestiegenen menschlichen Einflusses auf die Umwelt seit der Industrialisierung wurde für das gegenwärtige Erdzeitalter, wie eingangs erwähnt, der Begriff „Anthropozän“ geprägt. Dieser Begriff, der freilich umstritten ist, wird z. T. auch in einem ideologischen Sinne verwendet, um, so Jürgen Manemann, die forcierte „Hominisierung der Welt“, d. h. „die Aneignung der Welt durch den Menschen für eigene Zwekke“72, nicht bloß zu beschreiben, sondern selbst zum Programm zu erheben. Manemann hält (mit einer Unterscheidung Plessners) einer solchen Ideologie der „Hominisierung“ eine „Humanisierung des Menschen“ entgegen – eine „Philosophie der Menschwerdung“, die gerade nicht bei einer einseitigen Herrschaft des Menschen über die Natur verharrt (wie sie sich heute z. B. in der „synthetischen Biologie“ auslebt), sondern diese auf eine neue humanökologische Einbettung des Menschen in die Natur hin überwindet73. Der Mensch darf sich demnach nicht bloß als ein einflußreicher Faktor innerhalb der Naturordnung verstehen, sondern er muß sich auch als ein diese transzendierendes Vernunftwesen begreifen, dem gerade aufgrund seiner Handlungsfreiheit und Macht Verantwortung zukommt, auch in Bezug auf die Natur. Er muß die Natur, so Manemann, auch als etwas begreifen, das ihm nicht einfach nur als Material der Gestaltung gegeben ist, sondern das ihm in seiner Ganzheit auch unverfügbar ist, da er selbst ein Teil derselben ist und von ihr abhängt. In eine solche Richtung kann vielleicht auch die vor dem Hintergrund der hegelschen Anthropologie vorgeschlagene Bildungsperspektive weisen – nämlich im Sinne einer integrativen Bioethik, die den Menschen nicht bloß als abstraktes Subjekt, sondern auch in seiner natürlichen Lebendigkeit und zugleich vor dem Gesamtzusammenhang des Lebens und der allgemeinen Natur versteht. Dazu seien hier zum Schluß noch zwei Stellen bei Hegel kurz angesprochen: In einem von Ludwig Boumann übermittelten „Zusatz“ zu § 410 der Enzyklopädie heißt es in Bezug auf das Verhältnis zum Leib: ich muß „meinem Leibe sein Recht widerfahren lassen“, mich „den Gesetzen meines leiblichen Organismus

71 Hans Jonas: Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung, Frankfurt a.M. 1988, 59. 72 Manemann: Kritik des Anthropozäns, 13. 73 Vgl. ebd. 13, 23, 109 ff. Manemann unterscheidet seine „neue“ explizit von der „bisherigen“ Humanökologie; während es letzterer bloß darum gehe, „den Menschen in die Welt einzupassen“, halte erstere an der Besonderheit des „Humanum“ und an einem „normative[n] Begriff von Kultur“ fest (vgl. ebd. 114 – 116).

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gemäß“ verhalten, nur dann bin ich in meinem Körper frei74. Diese Perspektive läßt sich vielleicht auf das Verhältnis zur Natur als ganzer hin erweitern75, denn durch seinen Leib befindet sich der Mensch in einem ständigen Austausch nicht bloß mit seiner eigenen, individuellen, sondern auch mit der allgemeinen Natur (durch Atmung, Nahrungsaufnahme, Stoffwechsel usw.).76 Da der Mensch als Teil der Naturordnung von dieser abhängt (und z. B. auf saubere Luft und sauberes Trinkwasser angewiesen ist), ist er nur dann wirklich frei in der Natur, wenn er auch dieser „ihr Recht widerfahren läßt“, indem er nachhaltig mit ihr umgeht. Umweltverschmutzung – etwa im Hinblick auf Luft, Ozeane, Nahrungskreisläufe usw. – ist deshalb schon aus Klugheitsgründen zu vermeiden. Im Abschnitt über die „Besitznahme“ in den Grundlinien (§ 56) führt Hegel zudem den Gedanken einer Dialektik der „Formierung“ an: Hierunter gehört auch „das Formiren des Organischen“ und somit die Inbesitznahme der Naturdinge, z. B. durch „Bearbeitung der Erde, Cultur der Pflanzen, Bezähmen, Füttern und Hegen der Thiere“77. Hierdurch greift der Mensch freilich in die Natur ein, gestaltet sie in seinem Sinne um. Jedoch kann Hegel zufolge auch der bewußte Verzicht auf Eingriffe in die Natur (z. B. der Verzicht auf das Töten von Wildtieren bei der Jagd) als eine Weise der „Formierung“ – d. h. der Gestaltung und Aneignung – verstanden werden. So heißt es in der Nachschrift Hothos zu eben jenem §56 der Grundlinien: „Schone ich das Wild, so ist dieß auch eine Weise der Formirung, denn es ist ein Benehmen in Rücksicht auf die Gegenstände, wodurch sie erhalten werden.“78 Der Verzicht auf die Jagd dient hier also der Erhaltung des Bestands der Wildtiere, der wiederum im Interesse des Menschen liegt. Der Mensch wirkt durch sein Handeln (bzw. durch den bewußten Verzicht auf ein den Bestand gefährdendes Handeln) „formierend“ auf den Bestand der Tiere ein. Dieser Gedanke ließe sich noch auf eine weitere Ebene übertragen: das Schützen von Tierarten und ganzer Ökosysteme etwa durch das Einrichten von Naturschutzgebieten kann als Weise der „Formierung“ und somit der bewußten Aneignung der Natur durch den Menschen gesehen werden! Eine solche „Aneignung“ 74

Hegel: GW XXV.2, 1057. Vgl. auch folgende Formulierung in der Nachschrift Hothos von 1822 (GW XXV.1, 87): „Der Geist muß die Leiblichkeit befriedigen, weil er sie sich, da er innig mit ihr verbunden ist, nicht darf zur Feindin machen.“ 75 Hierfür kann möglicherweise die stoische Oikeiosis-Lehre nach wie vor wichtige Anknüpfungspunkte liefern. Unabhängig davon betont aber auch Hegel, daß Geist von vornherein auf das Ganze der Natur bezogen ist, denn letzterer gründet (als „natürliche Seele“) zunächst in einer unmittelbaren Einheit mit der Natur, aus der er sich erst schrittweise zu sich selbst hervor arbeiten muß, an die er gleichwohl – als aufgehobenes Moment – aber auch gebunden bleibt (vgl. hierzu Hofmann: „Weltseele oder passiver nous?“, 270 f.). 76 Vgl. Knaup: „Ein neues Naturdenken als Grundlage für die Ethik“, 294. 77 Hegel: GW XIV.1, § 56 Anm. 78 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. Wintersemester 1822/23, Nachschrift Heinrich Gustav Hotho, in: GW XXVI.2, 767 – 1043, hier: 822; vgl. auch Hegels handschriftliche Notizen zu § 56 in GW XIV.2, 431.

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wäre nicht zu verwechseln mit der Ideologie des „Anthropozäns“, die Manemann kritisiert, da der Mensch hierdurch eben keinen Freibrief erhält, die Natur restlos der eigenen Willkür zu unterstellen, sondern vielmehr die Aufgabe hat, verantwortlich mit ihr umzugehen. Es handelt sich also um eine Formierung oder Aneignung, die der Natur (bzw. bestimmten Bereichen oder Ausschnitten derselben) „Freiräume“ läßt, in die der Mensch nicht eingreift, um ihr so eine vom Menschen ungehinderte Entfaltung zu ermöglichen. Der Schutz der Natur wäre aber möglicherweise nicht allein aufgrund unserer Abhängigkeit von dieser aus Klugheitsgründen zu fordern, sondern auch aufgrund unserer Verbundenheit mit der Natur bzw. dem Lebendigen, da wir geistige Wesen sind, für die das Verhältnis zur Natur konstitutiv ist, die die Natur als ihre eigene Grundlage erkennen und die auch in dieser Beziehung bei sich selbst sein wollen. Das ethische Verhältnis zur Natur läßt sich somit (wie schon bei Kant) in der Humanität begründen, aber die Humanität ist zugleich in ihrer Verbindung mit der Natur zu sehen. Aus einer dialektischen Bildungsperspektive heraus läßt sich diese Verantwortung und der bewußte Verzicht auf die Unterwerfung der Natur als Ausdruck einer Freiheit und Humanität verstehen, die einen bloß instrumentellen Umgang mit der (allgemeinen und eigenen) Natur überwindet und in der sich die Bildung im Verhältnis zur Natur erst vollendet. Gemeint ist damit natürlich kein Verzicht auf die Nutzung der Natur überhaupt (dies wäre dem Menschen als Naturwesen ja auch gar nicht möglich), sondern vielmehr eine Integration dieser Nutzung in einer höheren normativen Perspektive, welche auch dem „Eigenrecht“ der Natur gerecht zu werden versucht, indem sie die Natur bzw. das Leben nicht allein unter dem Herrschaftsaspekt betrachtet79. Was dies konkret bedeuten könnte, kann hier nicht weiter untersucht werden, es geht mir hier nur darum zu zeigen, daß allgemein die Notwendigkeit eines solchen Perspektivwechsels im Verhältnis des Geistes zur Natur aus der mit einer spekulativen Anthropologie verbundenen Bildungsaufgabe begründet werden kann. Dies meint freilich keinen Übergang von einer „anthropozentrischen“ zu einer „physiozentrischen“ Perspektive, sondern vielmehr eine Integration des Standpunkts der Physis (und des Bios) in einem spekulativen Denken, das als solches notwendigerweise „anthropozentrisch“ (oder „logozentrisch“) sein muß.

79

Vgl. auch Peter Koslowski: „Ökonomie und Ökologie. Natur als ethischer und ökonomischer Wert“, in: Friedrich Rapp (Hg.): Neue Ethik der Technik? Philosophische Kontroversen, Wiesbaden 1993, 179 – 193, hier: 186 ff. Für den Hinweis auf Koslowski und für konstruktive Rückmeldungen zu dem vorliegenden Aufsatz danke ich Marcus Knaup und Klaus Honrath.

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Der Hegelsche Geist und das Problem der gesellschaftlichen Wirklichkeit Luis Eduardo Gama (Bogotá) I. Die folgenden Überlegungen gehen auf das Unbehagen zurück, das die Lektüre des Buches Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit von John Searle in mir ausgelöst hat. Wie man vielleicht noch in Erinnerung hat, ist es das Vorhaben dieses Textes, der Bildung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nachzugehen, wozu sich Searle fragt, auf welche Art und Weise „gesellschaftliche Tatsachen“ möglich sind und was ihre Grundstruktur ist. Gesellschaftliche Tatsachen sind objektive Tatsachen, wie etwa „Ich bin kolumbianischer Staatsbürger“, „Ich habe einen Einhundert-Dollar-Schein“ oder „Ich bin Eigentümer einer Wohnung“. Diese Tatsachen erfordern, um zu existieren, daß es menschliche Institutionen gibt (Geld, Eigentum etc.) oder zumindest eine menschliche Vereinbarung bezüglich ihrer Existenz. Ich werde mich nicht mit den Details dieser Fragestellung aufhalten. Für das Folgende ist es mir lediglich wichtig, hervorzuheben, daß Searle sich vornimmt, seine soziale Ontologie aus einer allgemeineren Ontologie abzuleiten, die er unkritisch hinnimmt: eine auf der Atomtheorie der Materie und der Evolutionstheorie der Biologie basierende Ontologie der physischen oder natürlichen Welt1. Die unverrückbare Voraussetzung seiner Untersuchung ist also die Behauptung, daß die Welt aus Materieteilchen besteht, die in kausalen Systemen organisiert sind; daß einige dieser Systeme lebendige Systeme sind, die sich durch natürliche Selektion fortentwickeln, und daß einige von ihnen schließlich Nervenstrukturen hervorgebracht haben, die eines Bewußtseins fähig sind2. Zum Bewußtsein gehört Intentionalität, das heißt die Fähigkeit des Geistes, sich von einem selbst verschiedene Gegenstände und Sachverhalte vorzustellen. Indem Searle auf einige Merkmale der Intentionalität zurückgreift, die er ausfindig macht, wie etwa die Fähigkeit der Zuweisung von Funktionen (das heißt der Fähigkeit, Gegenständen Verwendungen und Funktionen zu geben, die ihnen nicht inhärent sind) und indem er an das ,biologische Urphänomen‘ der kollektiven Intentionalität appelliert3, das heißt an die Tatsache, daß wir als Menschen Zustände wie Glaubensüberzeugungen, Wünsche 1

John R. Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Hamburg 1997, 15 (Orig. The construction of social reality, New York 1995). 2 Ebd. 16. 3 Ebd. 34.

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und Absichten teilen, verfügt Searle über alle theoretischen Elemente, um zu zeigen, wie von Molekülen und Materieteilchen der natürlichen Welt ausgehend, Menschen in der Lage sind, gesellschaftliche Tatsachen, Institutionen und sonstige Bestandteile der sozialen Wirklichkeit zu schaffen. Ich klammere viele zentrale Aspekte dieser Analyse aus, z. B. die Rolle von Regeln und symbolischer Sprache in der Bildung der Institutionen besagter Wirklichkeit, aber das Besprochene genügt mir, um meinen Punkt deutlich zu machen, nämlich, daß für Searle die soziale Wirklichkeit vom Menschen aus strikt natürlichen Entitäten konstruiert wird (physikalischen, chemischen oder biologischen), denen man – vermöge gewisser ebenfalls biologischer Fähigkeiten der Individuen oder menschlichen Gruppen – gewisse Funktionen zugewiesen hat, die von allen anerkannt sind4. Das Modell ist das des Geldes: Was ist Geld? Ein physisches Stück Papier, dem spezifische Funktionen zugewiesen wurden (des Tauschwerts, eines Statussymbols etc.), die dem Objekt selbst nicht inhärent sind, die aber, wenn sie von einem Kollektiv anerkannt werden, gesellschaftliche Tatsachen schaffen, die nach und nach eine spezifische soziale Wirklichkeit bilden. In anderen Komplexitätsgraden sei derselbe generative Prozeß die Grundlage von sozialen Phänomenen wie Kunst oder Nationalstaaten, die offensichtlich der sozialen Welt zugehörige Bereiche sind. Wenn ich mehr Raum hätte, würde ich weit Ausführlicheres gegen diesen überkomplizierten, nahezu fantastischen theoretischen Apparat sagen, den Searle immer weiter verkompliziert, indem er seiner Ontologie in dem Maße neue Zutaten hinzufügt, wie er komplexere Entitäten der sozialen Welt erklären muß. Ich bin jedoch nicht in der Lage, hier diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Mein Unbehagen mit diesen Argumenten rührt nicht nur von dem verschlungenen Theoriekonstrukt her, das Searle nach und nach fast willkürlich ohne oder fast ohne jegliche phänomenologische Evidenz erdenkt. Mein Unbehagen kommt bereits lange davor bei den Fragen auf, die seine Analyse motivieren. Searle sagt, daß ihn schon lange Angelegenheiten neugierig gemacht haben, wie etwa, daß dieses Stück Papier, das ich in der Tasche habe, als Geld gilt und mir dazu nützt, Sachen zu kaufen. Also wird vorgeschlagen, zu analysieren, auf welche Weise das Stück Papier als Geld konstituiert wurde, auf welche Weise die natürliche Welt gesellschaftliche Wirklichkeit geworden ist. Was mich nun an all dem am neugierigsten macht, ist, daß Searle diese Angelegenheiten neugierig machen. Ich möchte wissen, was für ein verstiegener Kopf dazu fähig ist, sich solche weit hergeholten und kontrafaktischen Fragen zu stellen. Denn tatsächlich ist der unmittelbarste Beweis, den unsere konkrete soziale Praxis liefert, daß diese sogenannten ,sozialen Tatsachen‘ niemals – oder nur in sehr künstlichen Situationen – das Gefühl der Fremdheit erwecken, an dem Searle angesichts dieser Tatsachen leidet. Im Laufe eines gewöhnlichen Tages benutze ich Geld und andere soziale Gegenstände (Ausweise, Ampeln), erfülle meine Bürgerpflichten, folge den etablierten gesellschaftlichen Gebräuchen usw. auf spontanste und unmittelbarste Art und Weise, ohne daß sich die soziale Wirk4

Ebd. 51.

Der Hegelsche Geist und das Problem der gesellschaftlichen Wirklichkeit

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lichkeit, die sie definieren, als fragwürdig oder staunenswert erweisen würde. Selbstverständlich kann man entgegnen, daß es zur Aufgabe des Philosophen gehört, das Fremde zu erkennen, das in dem wohnt, was vertraut und bekannt scheint, aber mein Punkt ist, daß Searles Fragen gerade das nicht tun. Sie erkennen nicht das wahrhaft Seltsame an den sozialen Phänomenen, sondern verfremden sie auf mutwillige und erzwungene Weise. Was mir in anderen Worten an der sogenannten sozialen Realität philosophisch problematisch erscheint, ist nicht so sehr die Frage, wie sie konstituiert wurde, sondern gerade die Tatsache, daß wir uns diese Fragen über ihre Bildung oder Genese nie stellen. Anders gesagt ist das philosophisch Relevante und des Fragens Würdige hier die Tatsache, daß die soziale Wirklichkeit vor mir als etwas Verständliches und Vertrautes erscheint. Das Befremdliche ist, daß sie kein Befremden erregt. II. Ich möchte die folgende Überlegung also ausgehend von dieser Distanzierung zu Searle entwickeln. Was mich neugierig macht, ist – ich wiederhole – nicht die Frage, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit von natürlichen Tatsachen aus konstruiert wird, oder in Searles Worten, wie wir die soziale Ontologie in die Grundontologie der physischen Welt integrieren, sondern wie die evidente Tatsache der Vertrautheit und Nähe zu verstehen ist, mit der wir in der sozialen Welt in unseren alltäglichen Verrichtungen zurechtkommen. Die Darstellung, die ich geben möchte, beansprucht ebenfalls, ontologisch zu sein, jedoch in einem anderen Sinn als bei Searle. Dieser entfaltet „soziale Ontologie“ in dem Sinne, daß nach der Existenz der Tatsachen gefragt wird (konkret nach der Weise, auf die soziale Tatsachen dazu gelangen, zu existieren); hier werden wir soziale Ontologie entfalten, insofern wir uns nach der Seinsweise der sozialen Welt fragen, das heißt, nicht nach den Bildungen ihrer punktuellen Tatsachen, sondern nach der Art und Weise, wie diese, als ein Ganzes, immer in unserer Erfahrung in der Art eines Hintergrundes erscheint, der uns vertraut und bedeutsam vorkommt. Diese Bedeutung des Ausdrucks Ontologie hat zwar ihren unmittelbarsten Vorgänger in der Welt-Ontologie, die Heidegger in den ersten Kapiteln von Sein und Zeit darlegt, kann aber auf einen früheren Ansatz zurückgeführt werden, der sich bei Hegel findet und den dieser unter dem Begriff des Geistes zusammenbringt. Was ich mir im Folgenden vornehme, ist, diesen Begriff zu analysieren und anschließend, im Licht dieser Analyse, Elemente zu verknüpfen, die die Natur und Seinsweise der sozialen Welt beleuchten. Gleichzeitig werden von der Ontologie aus, die sich so allmählich entschleiert, die Grenzen einer Analyse wie der von Searle ersichtlich werden. An der Stelle des zitierten Werks, an der Searle seine Vorstellung der kollektiven Intentionalität darlegt, erklärt er den Widerstand der Philosophen gegen diese mit der Tatsache, daß es natürlicher scheinen kann, zu denken, daß die Intentionalität

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ein Phänomen ist, das nur in den Köpfen der Individuen existiert5. Philosophen fürchten, so geht sein Argument weiter, daß, indem man die kollektive Intentionalität verteidigt, sie sich auf etwas wie den ,Hegelschen Weltgeist‘ festlegen, das heißt, ,eine unplausibles kollektives Bewußtsein‘ oder ein ,über den Individuen schwebender Superverstand‘. Ich erwähne diese Stelle, nicht etwa, weil es mich interessieren würde, jetzt dieses Argument zu überprüfen, sondern weil sie sich als paradigmatisch erweist für die Art und Weise, in der gewisse Philosophen die Hegelsche Idee des Geistes völlig verzerren, indem sie sie mit einem metaphysischen universellen Verstand gleichsetzen, der den individuellen Bewußtseinen fremd oder zumindest von ihnen getrennt ist. Um diese Fehlinterpretation zu entkräften, möchte ich an den anfänglichen, oben skizzierten Ansatz erinnern, nämlich an die These, daß der Geist nichts anderes sei als der Name, den Hegel der sozialen Realität als intelligibler Sinntotalität gibt, eine Totalität die nicht als eine über den Individuen schwebende Schicht zu verstehen ist, sondern als der jenem Inneren, aus dem sich die menschliche Praxis entfaltet, am nächsten gelegene Kontext. Selbstverständlich ersparen wir uns, indem wir die gesellschaftliche Welt so betrachten, die Fragen ernst zu nehmen, die Searles Analyse antreiben: in der Tat ist die Frage nach der Art und Weise, auf die gesellschaftliche Tatsachen, ausgehend von der physischen Welt, erzeugt werden allzu forciert, angesichts der phänomenologischen Evidenz und der Unmittelbarkeit, mit der diese vergeistigte, soziale Welt in unserer Erfahrung erscheint. Aber auch wenn wir die lächerlichste Version des Geistes (als schwebenden Superverstand) eliminieren und eher müßige Fragen vermeiden, wirft diese Idee andere Unklarheiten auf, die wir zu erkunden beginnen müssen. An einer Stelle der Enzyklopädie behauptet Hegel: „Der Geist ist nicht ein Ruhendes, sondern vielmehr das absolut Unruhige, die reine Tätigkeit, das Negieren oder die Idealität aller festen Verstandesbestimmungen, – nicht abstrakt einfach, sondern in seiner Einfachheit zugleich ein Sich-von-sich-selbst-unterscheiden, – nicht ein vor seinem Erscheinen schon fertiges, mit sich selber hinter dem Berge der Erscheinungen haltendes Wesen, sondern nur durch die bestimmten Formen seines notwendigen Sichoffenbarens in Wahrheit wirklich“6.

Es handelt sich um einen Abschnitt mit einer ausnehmend spekulativen Sprache, der mit äußerster Aufmerksamkeit auseinandergenommen werden muß. Das erste, was hier hervorsticht, ist der nicht substantielle oder dingliche Charakter des Geistes: dieser ist keine ruhende Essenz, die bereits fertig und konstituiert hinter den Phänomenen liegt. Aber der Abschnitt verharrt nicht bei einer nur negativen Charakterisierung des Geistes. Dieser wird als reine Tätigkeit und Unruhe betrachtet, eine Tätigkeit, die ihn für die ,festen Verstandesbestimmungen‘ ungreifbar macht, die aber außerdem mit seinem notwendigen In-Erscheinung-Treten zu tun hat. Was können diese ,positiven‘ Charakterisierungen meinen? Ich schlage vor, daß wir 5

Vgl. Ebd. 35. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, in ders.: Werke in 20 Bänden, Band 10, hg. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986. Im folgenden Werke mit Angabe des Bandes und Paragraph; hier: Werke 10, § 378 Z. 6

Der Hegelsche Geist und das Problem der gesellschaftlichen Wirklichkeit

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diese Passage in Verbindung unter meiner eingangs genannten Hypothese beleuchten, derzufolge „Geist“ die gesellschaftliche Wirklichkeit als intelligible und unmittelbare Sinntotalität bezeichnet. Wie ist es zu verstehen, daß Geist eine Totalität von Intelligibilität und zugleich ,reine Tätigkeit‘ und ,Sichoffenbaren‘ sein soll? Um das zu beantworten, werde ich von einer Gedankenübung ausgehend einen Umweg machen. Stellen wir uns vor, daß wir ein Porträt der sozialen Welt in ihrem gegenwärtigen Zustand vor uns haben. Auf diesem Bild würden zweifelsohne nicht nur die sogenannten sozialen Gegenstände auftauchen (eine Vorlesung, der Whisky, den ich mit Freunden gemeinsam trinke, der Ausweis, der mich identifiziert, Kunstwerke etc.) sondern auch die stillschweigenden oder ausdrücklichen Normen, die das gesellschaftliche Zusammenleben regulieren und natürlich die sogenannten Institutionen. Was machen wir mit diesem Porträt der sozialen Welt? Ich möchte drei Alternativen identifizieren. Die erste ist die von Searle. Dieser sieht auf diesem Porträt eine Menge von dort präsenten und gegebenen Tatsachen, die jedoch, so denkt er, auf irgendeine Weise aus Elementen der physikalischen und biologischen Welt (die für ihn so etwas wie die primäre Wirklichkeit wäre) gebildet worden sein müssen. In anderen Worten ist es die Absicht Searles, dieses Porträt der sozialen Welt mit den gleichen rationalen Kategorien intelligibel zu machen, die dazu dienen, die natürliche Welt zu bestimmen. Diese Kategorien sind keine anderen als die, die Hegel im zitierten Ausschnitt in klarer Anspielung auf die kantischen Kategorien ,feste Verstandesbestimmungen‘ nennt. Dies stimmt überein mit dem Primat, den Searle der Kategorie der Kausalität zugesteht: diese bestimmt nicht nur die natürliche Welt, sondern auch den Schritt von dieser zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und schließlich die Verhältnisse, die im Inneren letzterer erzeugt werden, ihre Veränderung und Beweglichkeit. Für Searle kann die gesellschaftliche Welt, auch inmitten ihrer unleugbaren Veränderungen, als eine eher starre Struktur von kausalen Bestimmungen (physikalischer und biologischer Natur) bestimmt werden, die ihr eine gewisse Festigkeit und Stabilität verleihen. Eine erste Alternative gegenüber dem eingefrorenen Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit möchte ich hier die kulturalistische und hermeneutische Alternative nennen. In dem Porträt der sozialen Welt betrachtet der Hermeneutiker nicht lediglich eine Menge oder ein Aggregat punktueller Tatsachen, die sich aus ihren natürlichen Bestandteilen ableiten lassen, sondern ahnt eine offene Sinntotalität. Die gesellschaftliche Welt zerfällt so nicht in diskrete Tatsachen, sondern sie wird als ein Sinnzusammenhang aufgefaßt, als eine Verflechtung von Bedeutsamkeit, die das Medium ist, in dem sich die gesellschaftliche Praxis der Menschen entfaltet. Für den Hermeneutiker wäre es widersinnig, diese Welt mit den bestimmenden Kategorien der natürlichen Welt als einziger Ressource zu definieren. Natürlich gibt es eine physische und materielle Komponente der gesellschaftlichen Wirklichkeit: die Institutionen konkretisieren sich in Gebäuden aus Ziegelsteinen oder in Dokumenten aus Papier, aber das Sein der sozialen Welt auf diese Bestimmungen zu reduzieren, heißt zu übersehen, daß das Wesentliche derselben darin liegt, einen Sinn-

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horizont zu konstituieren, innerhalb dessen das menschliche Handeln alleine seine volle Bedeutsamkeit erlangt. – Warum fasse ich das Blinzeln, das dieses Mädchen vor mir macht, als ein Zwinkern auf? Searle würde darauf antworten, indem er alle biologischen und kausalen Operationen des Bewußtseins beschreibt, die eine rein natürliche Bewegung (das Blinzeln) zu einer sozialen Tatsache machen (ein Zwinkern). Für die Hermeneutik ist diese deskriptive Arbeit eher irrelevant. Für sie ist das Zwinkern Zwinkern und nicht Blinzeln, weil es in einem sozialen Kontext verortet ist (sagen wir, weil ich in einer Bar und nicht in einer Augenarztpraxis bin), der ein Bedeutungsgeflecht mit sich bringt, das mir unmittelbar vertraut ist und dank dessen ich besagte Handlung – beinah ohne Furcht, mich zu irren – als eine sinnhafte Handlung, die mir nicht gleichgültig ist (wie das Blinzeln), sondern die mich anspricht und eine bestimmte Antwort von mir verlangt, verstehe. Darüber hinaus berücksichtigt die hermeneutische Lesart des Bildes der gesellschaftlichen Wirklichkeit auch die Beweglichkeit und die Veränderung, die dieser inhärent ist. Nur, daß diese Beweglichkeit nicht mehr schlicht von den biologischen Operationen aus verstanden werden, die nach und nach die den sozialen Gegenständen zugewiesenen Funktionen modifizieren, sodaß neue Bedeutungen eingeführt werden, sondern sie hat grundsätzlicher mit der den sozialen Welten eigenen zeitlichen und historischen Natur zu tun, derentwegen die Sinnhorizonte, die diese verkörpern, sich ständig verschieben und ihren Raum modifizieren. Es ist stets möglich, daß in einer anderen Kultur oder Epoche ein Blinzeln niemals ein Zwinkern bedeutet hat oder daß in der Zukunft das Zwinkern etwas anderes bedeutet. Die zweite Alternative zum statischen Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist die eigentlich hegelianische. Sie besteht darin, dieses Porträt als vergeistigte Welt, als Geist, zu betrachten. Die soziale Welt als Geist aufzufassen, heißt sie weder als ein bloßes Aggregat objektiver Tatsachen anzusehen, noch sie einfach als eine bewegliche Totalität von Bedeutungsverhältnissen zu begreifen. Gegenüber der ersten Option haben wir schon gesehen, daß Hegel der Auffassung ist, daß es sich bei der Bestimmung einer stets in Bewegung und Veränderung befindlichen sozialen Wirklichkeit um eine unangemessene Verwendung der Kategorien handelt, die bei der Bestimmung der natürlichen – stabilen und festen – Welt gut funktionieren. Man könnte also meinen, daß die zweite Möglichkeit sich an das was Hegel denkt anpaßt und daß die ,ruhelose Tätigkeit‘ und die ,Abwesenheit von Ruhe‘, die Hegel zufolge dem Geist eignen, sich sehr gut unter der historischen Veränderlichkeit der Sinnhorizonte, die aller menschlichen Kultur eigen ist, untergebracht werden können. Dennoch erschöpft diese zeitliche Beweglichkeit der sozialen Welt, die die Hermeneutik vertritt, nicht die Tätigkeit und Unruhe des Geistes. Wenn wir den zitierten Abschnitt aufmerksam lesen, sehen wir, daß diese Tätigkeit mit einem Sich-Manifestieren (Offenbaren) oder Sich-selbst-Manifestieren des Geistes zu tun hat, mit einer Manifestation, die nicht verstanden werden darf, als ob etwas Gegebenes, wenn auch Verborgenes, sich plötzlich an der Oberfläche der sozialen Wirklichkeit entschleiern würde. Ich möchte, indem ich auf das Mittel des Porträts der gesellschaftlichen Welt zurückgreife, dieses Sichmanifestieren des Geistes fol-

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gendermaßen erklären. Wenn Hegel das Bild dieser Welt betrachtet, möchte er nicht nur die Sinntotalität erfassen, die sich da zeigt, er möchte vor allem die Totalität als erscheinend, sich manifestierend oder offenbarend ansehen. Daß die soziale Wirklichkeit Manifestation sein soll, daß sie sich in jedem Moment als erscheinend oder auftauchend zeigen soll, ist, was Hegel Geist nennt. Nochmals: Geist ist kein Etwas, keine verborgene Essenz, die anschließend in Erscheinung tritt, Geist ist der Name für die gesellschaftliche Wirklichkeit als Totalität von Bedeutsamkeit, die sich ständig manifestiert. Die hermeneutische Version der sozialen Wirklichkeit erfaßt gut die dieser inhärente Beweglichkeit, bestimmt sie aber nur als ein Driften und eine Beweglichkeit, die sozusagen horizontal geschehen, das heißt im Verlauf des geschichtlichen Wandels. Für Hegel dagegen ist die soziale Wirklichkeit nicht nur im horizontalen und historischen Sinn bestimmt, sondern sie ist von einer ontologischen und tiefen Beweglichkeit gekennzeichnet, um sie irgendwie zu benennen. Diese ontologische Beweglicheit bedeutet, daß sie sich stets ereignet, daß sie in jedem Moment zu ihrem Sein gelangt oder, in anderen Worten, daß ihr Sein untrennbar ist von ihrem Sich-Ereignen oder ihrem Sich-Manifestieren. Um meinen Rückgriff auf das Porträt fortzuführen: Wenn Hegel das eingefrorene Bild der sozialen Welt sieht, zerlegt er sie nicht in punktuelle, objektive Tatsachen, aber er beschränkt sich auch nicht darauf, sie holistisch in einer Bedeutungstotalität zu erfassen; was er vielmehr vorschlägt, ist, diese relationale Totalität sehr wohl zu sehen, sie jedoch als sich in jedem Augenblick selbst hervorbringend aufzufassen, als Teil einer Prozessualität, durch die sie Sekunde um Sekunde ins Sein kommt und dann nicht so sehr als ein gemaltes und eingefrorenes Bild, sondern als Teil einer Art ununterbrochenen Projektion. Hierauf bezieht es sich, wenn in der zitierten Passage gesagt wird, daß der Geist nicht fertig ist, bevor er sich manifestiert, sondern erst durch seine Manifestation wirklich wird, in gleicher Weise wie ein projiziertes Bild vor der Projektion nichts ist, keinerlei Sein hat. Wir müssen diese erste Annäherung an den Geist noch viel weiter präzisieren. Es ist jedoch besser, sich nicht allzusehr von dem Bild der Projektion, das zu Mißverständnissen führen kann, leiten zu lassen. In der Tat kann es dazu führen, so etwas wie einen ,Projektor’ anzunehmen, aus dem der Sinnhorizont der gesellschaftlichen Welt auftaucht, und so würde man so etwas wie eine primäre Essenz, verborgen hinter den Erscheinungen, neu auflegen. All das ist Hegel jedoch fremd. Wie wir an der Textstelle der Enzyklopädie lesen, spricht er nicht einfach vom Offenbaren des Geistes, sondern von seinem ,Sich-Offenbaren‘. Damit weist er darauf hin, daß Geist nicht bloße Projektion ist, sondern auch den Ort umfaßt, von dem aus projiziert wird, daß er nicht nur Öffnung eines Sinn-Raumes für die menschliche Praxis ist, sondern zugleich den Punkt, von dem aus diese Öffnung stattfindet, einschließt. All das hoffe ich, wie gesagt, gleich näher bestimmen zu können. Zunächst wollte ich lediglich zeigen, daß entgegen der Auffassung Searles kaum eine antisubstanzialistischere oder antiessenzialistischere Konzeption der gesellschaftlichen Wirklichkeit als diese zu finden ist. Hier wird die soziale Realität als ein Ganzes von Sinnverhältnissen angesehen, aber diese Verhältnisse beruhen

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nicht auf einem vorausgehenden Grund, einer ewigen Essenz oder einem Telos der sozialen und historischen Welt, die ihre primäre Wahrheit bildet; zudem verkörpern diese Verhältnisse nichts Substanzielles, sondern sind nur – haben lediglich Sein –, indem sie manifestiert, eingehalten, in der konkreten Welt der Praxis vollzogen werden, so wie die Sitten der Völker weder auf zeitlosen Grundlagen beruhen noch auf einer unveränderlichen menschlichen Natur, aber auch nicht auf den Verhaltenskodizes, sondern tatsächliche Wirklichkeit sind und besitzen, insofern sie befolgt und eingehalten werden. III. Lassen wir also das Hilfsmittel des Porträts hinter uns, das mir dazu gedient hat, Hegels Ansatz gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit sowohl des Standpunkts Searles als auch einer möglichen hermeneutischen Lesart derselben abzugrenzen. Um diese Idee genauer zu fassen, möchte ich mich nun auf diese ,reine Tätigkeit‘ des Geistes konzentrieren, die seine Selbst- Manifestation ist. In dem Abschnitt, den wir erläutert haben, ist zu lesen, daß der Geist nur durch die ,bestimmten Formen seines Sichoffenbarens‘ wirklich wird. Das Neue, das ich jetzt hervorhebe, ist die Erwähnung der ,bestimmten Formen‘, die dem Geist in seinem Sich-Manifestieren folgt. Die Wirklichkeit als Geist aufzufassen, haben wir gehört, bedeutet sie als eine Totalität von Sinnverhältnissen aufzufassen, die kein Bestehen an sich haben, sondern die nur wirklich wirksam werden, indem sie in der Praxis, Augenblick für Augenblick, manifestiert und verwirklicht werden. Was uns Hegel nun sagt, ist, daß diese Manifestation nicht irgendwie geschieht, sondern bestimmten Formen der Verwirklichung folgt. In derselben Passage wurde zuvor darauf hingewiesen, daß die reine Tätigkeit des Geistes als das ,Negieren oder die Idealität der festen Verstandesbestimmungen‘ angesehen werden kann. Was ist damit gemeint? Wir gelangen hier zu einem Schlüsselgedanken der ganzen Hegelschen Philosophie: die Idee der Negativität, die, wenn sie in Bezug auf die Tätigkeit des Geistes gebraucht wird, den Namen Idealität annimmt. Nochmals können wir beginnen, zu zeigen, was das nicht bedeutet. Daß der Geist, das heißt, das aktive Sich-Manifestieren des Sinns, einen negativen Charakter hat, impliziert, daß er nicht positiv ist. Positiv ist die Wirklichkeit, die sich als fest und abgeschlossen zeigt, als Aggregat von Daten und Tatsachen, die einfach da stehen (positum), um vom menschlichen Verstand aufgefaßt zu werden, der sie auf feste Bestimmungen zurückführt. So gesehen ist die Negativität oder Idealität des Geistes nichts Anderes als eine andere Weise, auf die Prozessualität der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verweisen, die Idee, daß, was in ihr Festigkeit und Ruhe zu sein scheint, nur Sein hat, indem es in der Welt wirksam wird. Soweit gibt es nichts Neues. Aber Hegel gibt uns genauere Hinweise darüber, wie diese Idealität zu verstehen ist. In der dem § 381 der Enzyklopädie zugehörigen Anmerkung fragt Hegel nach der spezifischen Bestimmung des Geistes, die ihn beispielsweise von der bloßen Natur unterscheidet, und behauptet, daß diese die Idealität ist, das heißt, das ,Aufheben des Andersseins der Idee‘, ein

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Aufheben, das als „aus ihrem Anderen in sich Zurückkehren und Zurückgekehrtsein derselben“ charakterisiert werden kann.7 Erneut stehen wir vor einer äußerst komplexen Textstelle, die wir sorgfältig erläutern müssen. Erstens wird der Geist hier zur Idee ins Verhältnis gesetzt. Ich kann hier nicht in der Diskussion dieses Begriffs in die Tiefe gehen. Aber für unsere Zwecke genügt es, darauf hinzuweisen, daß Idee sich auf die Rationalität bezieht, die dem Sinngefüge inhärent ist, das, wie wir gesehen haben, für Hegel die ganze soziale Wirklichkeit durchzieht und so intelligibel macht. Die soziale Welt, sagten wir, zeigt sich der Erfahrung nicht als ein Chaos unzusammenhängender und eigensinniger Tatsachen, sondern in Sinnnetzen oder -konfigurationen, die sie für die menschliche Erfahrung bedeutsam machen. Hegel meint, daß diese Sinnkonfigurationen in relationale Verhältnisse gefügt sind und daß es die Arbeit der Philosophie ist, diese sichtbar zu machen. Wir sprechen hier von Begriffskomplexen wie Einheit/Vielheit, Endlichkeit/Unendlichkeit, Schein/Wesen, Ursache/Wirkung usw., mittels derer das philosophische Denken versucht hat, die rationale Struktur zu enthüllen, die das ganze Reich des Seienden gliedert und insbesondere die soziale Wirklichkeit. Was Hegel nun Idee nennt, ist kein neuer rationaler Begriff, sondern das gesamte Netz all dieser begrifflichen Bestimmungen, gesponnen in notwendigen Beziehungen wechselseitiger Bedingtheit, die sie selbst herstellen. Die Hegelsche Idee, die Rationalität, die alles Seiende beherrscht, ist weder eine grundlegende Vernunft, noch eine, die sich auf eine Menge fester Prinzipien oder absoluter Katgeorien reduzieren ließe, sondern ein bewegliches Gewebe rationaler Verhältnisse, die um bestimmte Bezugspunkte herum verlaufen (Hegel nennt sie begriffliche Bestimmtheiten), die an sich selbst nichts bedeuten und Sinn nur in ständigem Bezug zu anderen erzeugen. In der Wissenschaft der Logik nimmt sich Hegel die Herkulesaufgabe vor, die Gesamtheit dieser rationalen Verhältnisse zu enthüllen, die zwischen den verschiedenen begrifflichen Bestimmtheiten oder Kategorien hergestellt werden. Die Logik bietet so eine Art Landkarte der zugrundeliegenden rationalen und beweglichen Struktur und bestimmt alle möglichen Sinnkonfigurationen, die die konkrete Wirklichkeit annehemen kann, das heißt, sie bietet eine Kartographie des ganzen Seinsraums, der zugleich der Raum des Denkbaren ist. Geist ist nun nicht die Idee, sondern die „sich selbst wissende wirkliche Idee“8. Das heißt, Geist ist die gesellschaftliche Wirklichkeit von ihrem intelligiblen Aspekt aus gesehen, aufgefaßt in dem, was von ihr Inkarnation und Verkörperung der Idee in der tatsächlichen und konkreten Wirklichkeit ist. Nehmen wir als Beispiel eine Institution der sozialen Welt: die Familie. Diese, wie jeder Aspekt der gesellschaftlichen Wirklicheit, zeigt sich als eine sinnhafte und intelligible Institution (wir können ihre Strukturen erkennen, ihre geschichtliche Entwicklung nachvollziehen, ihre Funktion im gesellschaftlichen Ganzen deutlich machen usw.). Es ist Aufgabe des Sozialwissenschaftlers, dieses Sinnfeld in seiner empirischen Kon7 8

Hegel: Werke 10, § 381 Z. Hegel: Werke 10, § 379 Z.

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kretion und Veränderlichkeit zu bestimmen; Aufgabe des Philosophen (im Hegelschen Sinn) ist es, seine logische Struktur offenzulegen: die Kategorien der Idee und die begrifflichen Verhältnisse zwischen ihnen auszumachen, die in diesem besonderen Sinnraum im Spiel sind, und damit nicht so sehr das definitive Wesen dieser Institution, sondern ihre Verbindung zu anderen Institutionen, ihren Ort im organischen Ganzen des Sozialen zu bestimmen. – Dazu möchte ich gern zwei Bemerkungen machen. Erstens, keine Institution, kein Phänomenbereich der sozialen Welt kann die Totalität des logischen Raums der Idee verkörpern, konkretisieren oder in die Tat umsetzen. Das heißt, sicher ist sich Hegel darin, daß in jeglichem Bereich der gesellschaftlichen Welt, so beschränkt dieser auch sein mag, einige der begrifflichen Verhältnisse, die zum gesamten Raum des Denkbaren gehören, präsent oder wirksam werden, indem sie den Sinn dessen bestimmen, was sich dort zeigt, aber sie stellen nur einen Bruchteil des gesamten Territoriums dar. In anderen Worten betrifft die logische Idee als Totalität nur das abstrakte Territorium, das der Philosoph glaubt, in seiner gesamten Ausdehnung in der Logik kartographiert zu haben. Aber beim Übertritt in den Bereich des tatsächlichen Wirklichen, in die natürliche Welt und in die konkrete gesellschaftliche Welt, verwirklicht sich diese Idee nur teilweise. Wichtig ist, zu behalten, daß Hegel dem reinen Reich der logischen Idee nicht mehr Wirklichkeit zuspricht als dem konkreten Reich des Geistes. Umgekehrt: Geist ist die Wahrheit der Idee9, letztere wird nur als das einfache Insichsein10 der Vernunft bestimmt, dem Leben und Beweglichkeit fehlt, das zu Sein und Existenz nur gelangt, indem es ins Konkrete eingeht und Bedeutungsbereiche für das Wirkliche bestimmt. Die zweite Bemerkung ist teilweise aus dem Vorangegangenen abzuleiten. Wenn die Idee nicht die Fülle ihrer begrifflichen Verhältnisse in der sozialen Welt verwirklicht, so liegt dies grundsätzlich an ihrem kontingenten, historischen und endlichen Charakter. In diesem Zusammenhang denkt Hegel zwar, daß die soziale Wirklichkeit rational ist, daß sich in ihr Gestalten der Idee errichten und Existenz erhalten, welche sie mit Bedeutung versehen. Daß sie aber auf diese Weise rational ist, bedeutet nicht, daß sie nicht von unzähligen Feldern von Irrationalität durchdrungen, nicht der Kontingenz und dem Zufall unterworfen ist und grund- und sinnlose Ereignisse in sich enthält. Wenn wir hier gesagt haben, daß Geist die soziale Wirklichkeit in ihrem Aspekt der sich manifestierenden Bedeutungskonfiguration darstellt, so implizierte diese Formulierung, daß sich dieses Sinngefüge mit dem Nicht-Sinn verflicht, daß alle Erfahrung der gesellschaftlichen Welt stets mit Andersheit und Undurchsichtigkeit konfrontiert wird, die sich nicht ohne Weiteres in die gewohnte Bedeutungsgliederung integrieren lassen, mit Singularitäten, die jeder Form von Universalität widerstehen. Dieser Umstand erfordert keine 9 „Der an und für sich seiende Geist ist nicht das bloße Resultat der Natur, sondern in Wahrheit sein eigenes Resultat; er bringt sich selber aus den Voraussetzungen, die er sich macht, aus der logischen Idee und der äußeren Natur hervor und ist die Wahrheit sowohl jener als dieser“ (Werke 10, § 381 Z, 24). 10 Ebd. 18.

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weitere Begründung als die phänomenologische Evidenz, die uns unsere konkrete Erfahrung der sozialen Welt bietet. Die Phänomenologie des Geistes kann so gelesen werden: das heißt, nicht jede Etappe als eine immer höhere Entfaltung der der Welt innewohnenden Vernunft zu sehen, sondern als eine neuerliche Konfrontation mit einem Anderssein, das in wechselnden Gestalten immer in den bereits gewonnenen Sinnrahmen einbricht und ihn destabilisiert. Auch in der Rechtsphilosophie erwähnt Hegel Phänomene, die nicht mehr in den verwirklichten Raum der Idee in der gesellschaftlichen Wirklichkeit passen, aber durchaus noch existieren können, wie die Sklaverei. Die menschliche Erfahrung bezeugt also im Medium des Wirklichen die unüberwindliche Gegenwart des Kontingenten, des Unlogischen, des Irrationalen, Nicht-Notwendigen. Natürlich ist es nicht das Interesse des Philosophen bei der bequemen Feststellung dieser Kontingenz zu verharren; seine Arbeit besteht darin, mit ihr umzugehen, inmitten des Zufälligen und irreduzibel Singulären, das immer im Wirklichen erscheint, die Spuren des Geistes, die Idee in ihrer Konkretisierung zu suchen und zu identifizieren. Deshalb weist er darauf hin, daß das genuin philosophische Wissen über die soziale Welt nicht darin besteht, das Individuum oder die Gesellschaft in dem zu erkennen, was an ihnen besonders oder idiosynkratisch ist, sondern allein darin, was an ihnen Geist ist11. Nirgends jedoch deutet Hegel auch nur an, daß diese Kontingenz völlig überwunden und von der Idee absorbiert werden könnte. Das wäre der Anspruch der Logik in ihrer reinen Form, aber in dieser Reinheit treten die begrifflichen Bestimmtheiten im Tatsächlichen der konkreten Wirklichkeit nie auf. Der Standpunkt des Absoluten, einer von Kontingenz gereinigten absolut rationalen Totalität, stellt keine reale Möglichkeit für die menschliche Erfahrung dar12. Diese bewegt sich stets inmitten einer sozialen Wirklichkeit, die Geist ist, aber ein nur endlicher Geist13, und dieser wird unvermeidlich vom Einbruch des Sinnlosen bedroht. Hegel ist also kein ,starker Korrelationist‘ in dem Sinne, daß er das Sein gänzlich mit dem Denken identifizieren würde. Gegen das Bild eines Hegel, der eine absolute und von der Welt getrennte Rationalität befürwortet, eines Hegel der nur die Wirklichkeit des reinen Denkens verteidigt, muß man auf jenem Hegel bestehen, der sich an den Bereich der Erfahrung und der konkreten sozialen Wirklichkeit als dem einzig wahren hält, einen Bereich der Erfahrung, der unweigerlich von bloßem Geschehen und fehlender Notwendigkeit durchzogen ist. Wenn Geist nun die tatsächliche Verwirklichung der Idee ist, wie findet dann diese Verwirklichung statt? Wie oben gezeigt wurde, geschieht dies für Hegel in der 11

Vgl. Hegel: Werke 10, § 378. Es stimmt zwar, daß Hegel von der Kunst und der Religion als absoluten Erfahrungen spricht, aber hier impliziert das Absolute, daß sie nicht mehr von der Geschichte bedingt sind, was nicht bedeutet, daß sie nicht bedingt und daher der Kontingenz unterworfen sind: die Kunst ist vom sinnlichen Material bedingt und die Religion von jener willkürlichen Denkweise, die bloße Repräsentation ist. 13 „Der Geist hat folglich hier noch eine Schranke an der Natur und ist eben durch diese Schranke endlicher Geist“ (Hegel: Werke 10, § 384 Z, 31). 12

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Weise einer ,Aufhebung des Andersseins‘, als eine ,Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit‘ der Idee. Wir müssen dies weniger spekulativ verstehen. Das Problem kann so gesehen werden: daß die Tätigkeit des Geistes die Überwindung des Andersseins der Idee ist, heißt, daß dieser nur manifestiert wird, daß es nur Vergeistigung der sozialen Wirklichkeit gibt, wenn die sozialen Phänomene nicht als singuläre Äußerlichkeiten in Erscheinung treten – als für den in der sozialen Welt projizierten Sinn undurchdringliche Instanzen, sondern sich alle vermeintliche entfremdende Äußerlichkeit als Teil der Entfaltung dieser Bedeutsamkeit des Geistes zeigen kann. Auf einer elementaren Stufe findet diese Überwindung des Fremden, die die Rückkehr zur Innerlichkeit der Idee beinhaltet, immer statt, auch wenn wir uns dessen nicht bewußt sind. Wenn ich zwei Stücke Holz als gleich wahrnehme (das Beispiel Platons), manifestiert sich bereits Geist. Mein Bewußtsein hat die Zerstreuung und Atomisierung zweier singulärer Gegenstände überwunden und hat sie in der Einheit eines einzigen Begriffs vereint. Gerade diese Manifestation des Geistes kann man in komplexeren sozialen Erfahrungen finden: wenn ich ein anderes Individuum nicht als reine, der meinen fremde Singularität, sondern als Teil eines Wir oder einer Gemeinschaft erkenne, dann wird der Geist dort verwirklicht, wird dort die soziale Wirklichkeit idealisiert. Dagegen ist kein Geist in Erfahrungen, in denen die Entfremdung und die Fremdheit vorherrschen, wie es heute etwa, sagen wir, angesichts gewisser Produktionen zeitgenössischer Kunst, geschehen kann oder gegenüber der muslimischen Kultur und Religion. Wenig vergeistigte Gesellschaften leben in Entwurzelung und Zerstreuung ohne vereinigende Zentren. Andererseits geschieht nicht alle Vereinigung im Zeichen des Geistes, das heißt als genuine Verwirklichung der Idee: die Vereinigung aller Völker und Kulturen unter dem Konsumimperium und der Globalisierung des Kapitals erzeugt nur eine falsche Universalität, die nicht den wahren rationalen Verhältnissen des Begriffs entspricht. Im Gegenteil: mit jeder genuinen Verwirklichung des Geistes wird die anfangs ungastlich scheinende Wirklichkeit angeeignet, idealisiert und in den ihr inhärenten rationalen Achsen offenbart. Deshalb sagt Hegel, daß alles Tun des Geistes nur ,ein Auffassen seiner selbst’ oder ein ,Sichwissen der Idee‘ ist, das heißt, eine umfassendere Entfaltung des Sinnraums ist, dank dessen die Welt vertrauter und die Zugehörigkeit des Menschen zu ihr tiefer wird. IV. Selbstverständlich wurde die Tätigkeit des Geistes, Idealisierung oder Negativität, hier sehr frei beschrieben, und dabei wurde die filigrane Dialektik und die mühevolle spekulative Darstellung der Texte Hegels ausgespart. Ich glaube jedoch eine ziemlich plausible Version seines Herangehens an das Thema „Geist“ dargelegt zu haben. Wie dem auch sei, das Anliegen hier ist nicht detailliert die Hegelsche Philosophie vorzustellen, sondern sich der Thematik des Geistes zu bedienen, um über das Problem der sozialen Wirklichkeit nachzudenken. Deshalb möchte ich

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zum Abschluß auf drei Aspekte hinweisen, die wir im Hinblick auf dieses Problem in der Hegelschen Reflexion hervorheben können. (i) Der erste betrifft die Rolle des individuellen Bewußtseins in dieser ganzen Fragestellung. Mir scheint, daß aus dem Gesagten der Eindruck entstanden sein kann, daß der Sinn im Prozeß der Manifestation des Geistes mit einer Gewalt aufgezwungen wird, die alle Individualität überwältigt. Diese Auffassung muß richtig gestellt werden. – Erstens muß darauf hingewiesen werden, daß das menschliche Bewußtsein Hegel zufolge an der Sphäre des Geistes teilhat. Wenn die Tätigkeit des Geistes die Aufhebung des Andersseins ist, so findet dies in der Tat vornehmlich im menschlichen Denken statt. Für Tiere ist die Wirklichkeit immer singulär und äußerlich; für das menschliche Denken nicht: das Tier kommt von einer Empfindung, die ihm die ganze Seele ausfüllt, zur nächsten gleichgearteten, aber darin geht es nur von einer Singularität zur nächsten über. Nur der Mensch erhebt sich über die Singularität der Empfindung zur Universalität des Denkens14, und diese Erhebung findet nicht nur im eigentlich geistigen Denken statt, sondern auch in einfachen Erfahrungen wie der bloßen Wahrnehmung (zweier Stücke Holz) oder dem elementarsten Gebrauch von Sprache. Man kann also behaupten, daß alle menschlichen Tätigkeiten, von den einfachsten und dem Anschein nach nur physiologischen oder organischen (wie Wahrnehmung, Essen, Kopulation) bis hin zu den komplexesten geistigen Ausführungen (die Philosophie auf ihrem Höhepunkt) Manifestationen des Geistes sind, Idealisierung im Sinne der Überwindung des Fremden ist, indem es in den Sinnrahmen der menschlichen Welt eingeschlossen wird. – Aber es geht nicht einfach darum, daß das individuelle Bewußtsein zum Sichmanifestieren des Geistes gehört, sondern es geht vor allem darum, daß diese Manifestation – das heißt, die Enthüllung der Rationalität der sozialen Welt – nur dank des menschlichen Bewußtseins möglich ist. Das bedeutet nicht, daß das Bewußtsein die Grundlage der sozialen Wirklichkeit sein soll, wie es bei Searle der Fall sein könnte. Was hier vorliegt, ist eher ein zyklisches Verhältnis: das menschliche Bewußtsein modelliert nach und nach in seiner Erfahrung die soziale Welt, erzeugt nach und nach die Praktiken und designt die Institutionen, die die soziale Wirklichkeit als ein Ganzes gemeinsamen Sinnes gliedern, aber das ist nur möglich, weil es schon Bereichen der Bedeutsamkeit angehört, die ihm als Orientierung in dieser Aufgabe der Gestaltung des Sozialen dienen. In anderen Worten ausgedrückt manifestiert sich Geist dank der menschlichen Erfahrung, aber die Erfahrung ist nur möglich, weil sie im Medium des Geistes stattfindet. Dies ist die große Lektion der Phänomenologie des Geistes. Hegel beschreibt darin alle Erfahrung als ein Mit-Sinn-Versehen verschiedener Instanzen von Andersheit, aber dies geschieht nicht willkürlich oder durch den magischen biologischen Effekt der kollektiven Intentionalität, sondern als Folge der Verzweiflung des Bewußtseins, das die aktuelle Sinnwelt zusammenbrechen sieht und genötigt ist, die Wirklichkeit auszuloten, um neue Adern der

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Hegel: Werke 10, § 381 Z, 25.

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Rationalität zu erkennen, die es ihr erlauben, den Sinn neu zusammenzusetzen, so daß das, was fremd schien, integriert wird. (ii) Der zweite Aspekt hat mit dem Verhältnis zwischen Natur und Geist zu tun. Da wir fast nicht von der natürlichen Welt gesprochen haben, könnte man meinen, daß wir sie aus dem Geist ausgeschlossen haben, womit ein Dualismus rehabilitiert sein könnte, den Ansätze wie derjenige Searles gerade zu überwinden versuchen. Diesbezüglich behauptet Hegel: „Der Geist hat für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit und damit deren absolut Erstes er ist“15. Versuchen wir das zu verstehen. – Der Satz impliziert zunächst eine gewisse Unabhängigkeit oder Differenz der Natur in Bezug auf den Geist. Die Natur verschwindet nicht: sie lebt als das, woraus der Geist hervorgeht. Der Geist ist insofern lediglich Prozeß der Aufhebung seines Andersseins, aber das heißt, daß er immer das Anderssein benötigt, um sein zu können. Eine der Quellen dieses Andersseins ist die Natur. Dies bedeutet, daß die Natur die Voraus-setzung des Geistes ist. Es handelt sich nicht um eine Voraussetzung, die die soziale Welt danach hinter sich läßt, sondern um eine, die diese, um zu sein, ständig benötigt, deshalb sagt Hegel, daß der Geist Identität ist, „nur als Zurückkommen aus der Natur“16. Daß die Natur Voraussetzung der sozialen Wirklichkeit ist, bedeutet auf diese Weise nicht nach Art Searles, daß diese von der natürlichen Welt aus konstruiert würde (physiologische Zustände, Organismen, materielle Elemente usw.). Gemeint ist, daß es gesellschaftliche Wirklichkeit nur aufgrund der Tatsache gibt, daß ständig Spannungen vereinigt und aufgehoben werden, die in der natürlichen Welt hervorgebracht werden oder aufkommen, deren Kennzeichen die Zerstreuung ist: dies geschieht auf der grundlegenden Ebene der Wahrnehmung, wo die isolierten Elemente von Farben und Formen zum Gegenstand mit Bedeutung werden. Oder auf einer höheren Ebene in der Wissenschaft, wo einzelne, verstreute Phänomene unter ein und demselben universellen Gesetz vereint werden. – Aber es ist nicht nur so, daß die Natur, die Voraus-setzung der gesellschaftlichen Welt ist. In dem Satz steht danach, daß Geist ,die Wahrheit der Natur‘ ist. Das heißt, daß es nur von der Warte des Geistes, dem Bereich der verwirklichten Idee aus, möglich ist, die der Natur innewohnende Rationalität zu enthüllen, ihre genuine Wahrheit, die Tatsache, daß auch sie nach den begrifflichen Bestimmungen der Logik gegliedert ist. Hegel charakterisiert die natürliche Welt als ,Außer-sich-Sein‘ der Idee. Damit weist er darauf hin, daß die Natur auch nach den rationalen Verhältnissen der Idee organisiert ist, daß aber das nur natürliche Seiende davon nichts weiß. Nur von der eigentlich geistigen Tätigkeit aus, die ein gesellschaftliches Tun ist, kann diese Wahrheit des Natürlichen enthüllt werden, die ihm selbst verborgen ist. Hegel nimmt hier eine heute weit verbreitete Fragestellung vorweg: die Idee, daß das, was wir Natur nennen, niemals nur ein einfach gegebener äußerer Gegenstand, sondern weitestgehend eine soziale Konstruktion ist. Es erscheint nicht einfach das Natürliche vor uns, sondern es tritt 15 16

Hegel: Werke 10, § 381. Ebd.

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schon vorgeformt von einer organizistischen, mechanistischen, animistischen etc. Sichtweise vor uns. Searle bemerkt dies nicht. Für ihn stellt die Ontologie der natürlichen Welt eine unversehrte Wahrheit dar. Indem er diese zur Grundlage nimmt, beansprucht er von dort aus die soziale Welt abzuleiten, ohne zu bemerken, daß diese Grundlage in Wirklichkeit durch das bedingt ist, was begründet werden soll. – Schlußendlich vertritt Hegel in bezug auf das Verhältnis von natürlicher Welt und sozialer Welt keine dualistische Position, aber die Ablehnung dieses Dualismus geschieht nicht durch die Verabsolutierung eines der beiden Termini desselben (der Natur), indem dessen Kategorien ausgeweitet werden, bis er das Andere (das Soziale) absorbiert. (iii) Den dritten Aspekt möchte ich nur kurz ansprechen. Was für Hegel letztendlich die als Geist verstandene soziale Wirklichkeit ausmacht, ist, daß mit jeder Manifestation desselben die menschliche Freiheit entfaltet und vergrößert wird. Wenn die Tätigkeit des Geistes die Aufhebung aller Instanzen von Alterität und Entfremdung ist, die der Erfahrung erscheinen, so versteht es sich von selbst, daß besagte Tätigkeit für die Menschen die Befreiung von feindseligen Mächten bedeutet, die den Raum der Bedeutsamkeit einschränken und begrenzen, in dessen Inneren allein die historischen Subjekte und Völker die Grundorientierungen für ihre Lebenspraxis und geschichtliche Existenz finden. Mit diesem Element der Freiheit verleiht Hegel seiner Theorie des Geistes einen normativen Aspekt, der als Kriterium dient, um Bewertungen machen und Hierarchien zwischen verschiedenen Gestalten der sozialen Welt aufstellen zu können, je nach dem in ihnen verwirklichten Maß an Freiheit. Die Theorie schließt so ein kritisches und emanzipatorisches Element mit ein, das mir bedauerlicherweise im Ansatz Searles abwesend zu sein scheint, denn im Hinblick auf die soziale Welt wollen wir nicht nur wissen, was ist oder wie es konstituiert wird, sondern vor allem, was sein sollte17. Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III, in: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1997. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1997 [Werke]. Searle, John: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, Hamburg, 1997.

17 Der Verfasser dankt Herrn Florentin Jaeger herzlich für seine Hilfe bei der Übersetzung des vorliegenden Beitrags ins Deutsche.

Ethos und Sittlichkeit. Hegels kleine Philosophie der Gewohnheit Jakub Kloc-Konkołowicz (Warschau) Der Begriff der Gewohnheit gewann in der modernen europäischen Philosophie seine entscheidende Stellung vor allem im Rahmen der bahnbrechenden Abhandlung Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand von David Hume. Hume sieht in dem Phänomen der Gewohnheit die Quelle der notwendigen Verbindung der dem Gemüt erscheinenden Phänomene und damit auch die Quelle der Kategorie der Kausalität. Die Verknüpfung der Erscheinungen innerhalb des Ursache-Wirkung-Schemas erweist sich als Effekt der Gewohnheit, durch welche, aufgrund der bisher immer aufeinander folgenden Erscheinungen, die Idee ihrer notwendigen Verknüpfung als ,Ursache‘ und ,Wirkung‘ entsteht. Dadurch zeigt sich im Bereich des Theoretischen die Vernunft als Sklavin – diesmal nicht der Leidenschaften (wie im Bereich des Praktischen), sondern des gewohnten Ganges der Dinge. Wenn nun Hegel in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften – genauer gesagt: im Rahmen der dort entwickelten Anthropologie – die Idee der Gewohnheit aufgreift, so tut er dies, um das Phänomen der Gewohnheit, sowohl im praktischen, wie auch im theoretischen Sinne, als den Weg zur Etablierung der Freiheit des Geistes zu deuten. In diesem Beitrag werde ich es versuchen, die Rolle der gelernten Automatismen des Geistes zu rekonstruieren und den Sinn der Integration dieser Automatismen in dem breiteren Kontext der Freiheit bei Hegel zu entziffern. Es wird mich vor allem interessieren, aus welchen Gründen Hegel den Begriff der Gewohnheit, welcher typischerweise sowohl in der philosophischen Tradition, wie auch in der tagtäglichen Erfahrung, eher mit der Seite der Notwendigkeit und Unfreiheit des menschlichen Selbst verknüpft wird, als ein Mittel der Befreiung dieses Selbst interpretiert. In dem ersten Teil des Beitrags skizziere ich den Widerspruch zwischen den zwei modernen Konzepten: der Gewohnheit, die auf der Seite der Notwendigkeit steht, und der als Autonomie verstandenen Freiheit. In dem zweiten Teil rekonstruiere ich die wichtigsten Einsichten Hegels in die befreiende Wirkung der Automatismen des menschlichen Verhaltens. Im letzten Teil werde ich es versuchen, das so rekonstruierte Konzept der Gewohnheit in Verbindung mit dem allgemeinen Hegelschen Begriff der Sittlichkeit zu setzen und die Bedeutung dieser Verbindung für das Hegelsche Konzept einer in der Welt realisierten Freiheit aufzuzeigen.

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I. Automaton versus Autonomie Die Gewohnheit definiert Duden als die „durch häufige und stete Wiederholung selbstverständlich gewordene Handlung, Haltung, Eigenheit; etwas oft nur noch mechanisch oder unbewußt Ausgeführtes“1. Auch das bewährte Wörterbuch der philosophischen Begriffe legt diesen Begriff vor allem durch den Bezug auf die „Stetigkeit (Kontinuität)“ aus und präzisiert ihn durch einen anderen Begriff, nämlich Gewöhnung, welche es – vor allem im Bereich der Psychologie – folgendermaßen definiert: „Bereitschaft zu routinemäßigem Verhalten, die durch häufige Wiederholung erlernt oder auf andere Weise mitverursacht wurde […]“2. Dabei verweisen die Verfasser des Wörterbuchs auf die griechische Kategorie des „Ethos“ und erinnern daran, daß mehrere Denker, u. a. Augustinus und Pascal, in dem Kontext des Gewohnheitsbegriffs von der „zweiten Natur“ (secunda natura) des Menschen sprechen3. Die angeführten Definitionen der Gewohnheit zeichnen sich vor allem durch die Hervorhebung folgender Elemente aus: Stetigkeit, Routinemäßigkeit und Wiederholung. Die Gewohnheit wird als Effekt der Einübung gedeutet und als ein Verhalten aufgefaßt, das sich mehr oder weniger unbewußt manifestiert. Wie wir in den Definitionen gesehen haben – und was wir auch in der gewöhnlichen Erfahrung immer wieder bestätigt sehen – hat Gewohnheit etwas Mechanisches, Automatisiertes an sich. Wenn ich morgens meine Armbanduhr umbinde, tue ich es ohne länger darüber nachzudenken und ohne einen bewußten, präzisen Vorsatz in mir feststellen zu können. Trotzdem tue ich es völlig bewußt; deswegen scheint hier das Element der Routinemäßigkeit solcher Akte als ihrer „Unbewußtheit“ viel zutreffender zu sein. Dadurch unterscheiden sich eben Gewohnheit und instinktive Reaktion: Gewohnheit gehört, als Folge der Einübung und Wiederholung, dem Bereich des Psychologischen und nicht des Physiologischen an. Als weitgehend automatisierte Befolgung einer Regel bildet sie – eben als Befolgung einer Regel – einen Bestandteil der Kultur und nicht der Natur. Deswegen bilden die Gewohnheiten eines Volkes oder einer sozialen Gruppe ein Phänomen, das nicht mehr rein subjektiver Natur ist und das zum Gegenstand der anthropologischen oder kulturwissenschaftlichen Untersuchung werden kann. Auch wenn die subjektive Gewohnheit, vor allem durch ihre Wiederholbarkeit, den natürlichen Prozessen ähnelt, wird sie oft, sehr zutreffend, als secunda, und nicht als prima natura des Menschen geschildert. In dieser psychologischen, subjektiven Bedeutung erscheint die Gewohnheit auch auf der Bühne der modernen Philosophie, vor allem in den Werken des eingangs schon erwähnten David Hume. Hier avanciert der Begriff der Gewohnheit 1

Siehe: http://www.duden.de/rechtschreibung/Gewohnheit, zuletzt aufgerufen am 16. 04. 2019. 2 Arnim Regenbogen / Uwe Meyer (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 2013, 263. 3 Siehe: Ebd.

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sogar zum Erklärungsgrund der Kategorie der Kausalität, die bekanntlich von Hume auf rein subjektive Weise gedeutet wird: „Durch lange Gewohnheit bildet sich eine solche Geistesrichtung bei ihnen [den Menschen – J.K.-K.] aus, daß sie beim Auftreten der Ursache unmittelbar mit Sicherheit deren gewöhnliche Begleitung erwarten […]“4. „Wenn […] viele gleichförmige Beispiele auftreten und demselben Gegenstand immer dasselbe Ereignis folgt, dann beginnen wir den Begriff von Ursache und Verknüpfung zu bilden. Wir empfinden nun ein neues Gefühl oder einen Eindruck, nämlich eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung im Denken oder der Einbildung zwischen einem Gegenstand und seiner üblichen Begleitung; und dieses Gefühl ist das Urbild jener Vorstellung, das wir suchen [der notwendigen Verknüpfung – J.K.-K.]“5.

Konsequenterweise überträgt Hume seine Analyse auch auf den Bereich des Praktischen und daraus erklärt sich auch seine bekannte Stellung gegenüber dem Problem von Willensfreiheit. Das Prinzip der notwendigen Verknüpfung des bereits Geschehenen scheint auch in dem Bereich des Willens als Erklärungsgrund auszureichen: „Will der Philosoph folgerecht sein, so muß er denselben Gedankengang auf die Handlungen und Willensregungen vernünftiger Wesen anwenden. […] Die inneren Prinzipien und Beweggründe mögen in gleichförmiger Weise wirksam sein, trotz dieser scheinbaren Unregelmäßigkeit; gerade so wie bei Winden, Regen, Wolken und anderen Veränderungen des Wetters angenommen wird […]“6.

Der Begriff der Gewohnheit im erkenntnistheoretischen Kontext, wie ihn Hume rekonstruierte, wurde bekanntlich von Kant rezipiert und spielte für die Entstehung seiner Transzendentalphilosophie wesentliche Rolle (das berühmte ,Erwachen‘ Kants dank Hume aus dem ,dogmatischen Schlummer‘). Wir lesen etwa in Prolegomena: „[Hume – J.K.-K.] bewies unwidersprechlich: daß es der Vernunft gänzlich unmöglich sei, a priori, und aus den Begriffen eine solche Verbindung [der Ursache und Wirkung – J.K.K.] zu denken, denn diese enthält Notwendigkeit; es ist aber gar nicht abzusehen, wie darum, weil etwas ist, etwas anderes notwendiger Weise auch sein müsse […]. Hieraus schloß er, daß die Vernunft […] eine daraus entspringende Notwendigkeit, d.i. Gewohnheit, vor eine objektive aus Einsicht, unterschiebt. […] So übereilt und unrichtig auch seine Folgerung war, so war sie doch wenigstens auf Untersuchung gegründet […]“7.

Damit wird nicht nur die Humesche Analyse der Kausalität referiert, sondern auch die eigene Kantische kritisch-transzendentale Lösung des Problems ange4 David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. und hg. von Raoul Richter, Leipzig 1920, 84. 5 Ebd. 95. 6 Ebd. 104 – 105. 7 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, Bd. III, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, 115 – 116 (Prol AA 8).

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deutet, die sich von der Humeschen klar unterscheidet. Für die Kantische Position ist bekanntlich die Unterscheidung der empirischen Ebene von der apriorischen Ebene der reinen Vernunftbegriffe entscheidend. Da uns hier mehr die praktische Seite des Problems interessiert, so ist jedoch vor allem diejenige Skepsis hervorzuheben, mit welcher Kant der praktischen Form der Gewohnheit – das ist: der Angewöhnung, im Sinne der Einübung in gewisse Handlungsmuster – entgegentritt. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, wie auch in der zweiten Kritik, versucht Kant zu beweisen, daß die Grundbegriffe der Sittenlehre, vor allem: der Begriff der Pflicht, nicht aus der Erfahrung geschöpft sein dürfen: „Denn mit welchem Rechte können wir das, was vielleicht nur unter den zufälligen Bedingungen der Menschheit gültig ist, als allgemeine Vorschrift für jede vernünftige Natur, in unbeschränkte Achtung bringen […]?“8. So setzt sich Kant auch in seiner praktischen Philosophie der Vorstellung Humescher Prägung entgegen, nach welcher erst die durch Erfahrung bestätigte, sich wiederholende Verknüpfung gewisser Handlungen als Quelle der für die Sittenlehre unabdingbaren allgemeinen Notwendigkeit fungieren könnte. Wenn man bedenkt, daß die auf dem Begriff der Gewöhnung basierte, empirische Ethik sich notwendigerweise auf der richtigen Konditionierung des handelnden Subjekts stützen muß, so kann auch die Kantische Distanz gegenüber dem für solche Ethik zentralen Begriff des moralischen Beispiels nicht mehr überraschen. An derselben Stelle der bereits zitierten Grundlegung findet sich die berühmte Bemerkung Kants: „Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler raten, als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte“9. Noch pointierter äußert sich Kant in der Metaphysik der Sitten: „Fertigkeit (habitus) ist eine Leichtigkeit zu handeln und eine subjektive Vollkommenheit der Willkür. – Nicht jede solche Leichtigkeit aber ist eine freie Fertigkeit (habitus libertatis); denn wenn sie Angewohnheit (assuetudo), d.i. durch öfters wiederholte Handlung zur Notwendigkeit gewordene Gleichförmigkeit desselben ist, so ist sie keine aus der Freiheit hervorgehende, mithin auch nicht moralische Fertigkeit“10.

Allgemein läßt sich sagen, daß Kant in seiner Sittenlehre einen Spielraum für die ethische Didaktik übrig läßt, welche die Anleitung für eine stabile sittliche Lebensführung beinhalten soll. Doch die Einbeziehung der Angewöhnung an eine, wenn auch moralisch richtige, Handlungsweise (verstanden als ein Merkmal der Willkür) in die Definition der Tugend lehnt er, wie wir gesehen haben, entschieden ab. Den Grund bildet hier die für die Kantische Ethik entscheidende Gegenüberstellung der moralischen Autonomie und des handlungsbezogenen Automatismus. Zur Autonomie, verstanden als die Unterordnung unter die von der Vernunft gegebenen Gesetze, gehört unausweichlich der bewußte Vorsatz, oder, präziser gesagt: 8

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. IV, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, 36 (GMS AA 29 – 30). 9 Ebd. (GMS AA 30). 10 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. IV, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, 539 (MS AA 49).

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die bewußt zur Grundlage der Handlung angenommene moralische Maxime. Dies setzt die Autonomie in eine klare Entgegensetzung zu jeder Art der angewöhnten und mechanisch ausgeführten Handlung, die zwar auch, wie früher erwähnt, eine Form der Befolgung der Regel bildet, nicht aber eine bewußte, durch klare Entscheidung durchgeführte. Lediglich am Rande kann ich erwähnen, daß wir an dieser Stelle als den philosophischen Gegner nicht nur Hume, sondern auch Leibniz und sein Konzept der Monaden als „geistiger Automata“ vermuten dürfen. Doch trotz der grundsätzlichen Gegenüberstellung der Autonomie und des Automatismus, sollten wir auch bedenken, daß die eingeübten Formen des Handelns, wie oben definiert, auf einem Mechanismus der psychologischen, und nicht mehr der physiologischen Notwendigkeit basieren. Damit dürfen sie doch als die erste Stufe der Handlungsfreiheit angesehen werden. Zwar wehrt sich Kant vehement dagegen, diesen „komparativen“, psychologischen Begriff der Freiheit für ihre vollständige Gestalt zu halten (er beschreibt sie bekanntlich als „Freiheit des Bratenwenders“11). Trotzdem ist es ihm völlig klar, daß der vollkommene Begriff der Freiheit als Autonomie nicht nur den Begriff der transzendentalen Freiheit (verstanden als die Fähigkeit, unabhängig von den vorhergehenden Ursachen eine kausale Kette in der Welt zu initiieren), sondern auch die rudimentäre Fähigkeit des handelnden Subjekts impliziert, sich zunächst überhaupt von den direkten, physiologischen Reize zu distanzieren. II. Automatismen der Seele als die rohe Form der Freiheit Damit gelangen wir zur Hegelschen Einschätzung der Gewohnheit als der Vorbedingung der bewußten Freiheit, so wie er diesen Begriff in dem anthropologischen Teil seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften herausarbeitet. Zwar bezieht sich Hegel auf die früher erwähnte Karriere des Gewohnheitsbegriffs in dem Empirismus Humescher Prägung an einer anderen Stelle äußerst kritisch – „tiefer kann man im Denken nicht herunterkommen“12, so Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie – doch seine Einschätzung der Rolle

11 In einem für unsere Zwecke prägnanten Zitat (auch weil hier auf den Leibnizschen Begriff der „geistigen Automata“ verwiesen wird) schreibt Kant Folgendes: „[…] Man mag nun das Subjekt, in welchem dieser Ablauf geschieht, automaton materiale, da das Maschinenwesen durch Materie, oder mit Leibnizen spirituale, da es durch Vorstellungen betrieben wird, nennen, und wenn die Freiheit unseres Willens keine andere als die letztere (etwa die psychologische und komparative, nicht transzendentale, d.i. absolute zugleich) wäre, so würde sie im Grunde nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“ (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. IV, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, 222 (KpV AA 174)). 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971, Bd. 20, 279.

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der Gewohnheit für die Entwicklung und Etablierung der Freiheit scheint viel positiver auszufallen, als das bei Kant der Fall ist. Im § 410 der Enzyklopädie beschreibt Hegel die Gewohnheit als denjenigen Umstand, „daß die Seele sich zum abstrakten allgemeinen Sein macht und das Besondere der Gefühle (auch des Bewußtseins) zu einer nur seienden Bestimmung an ihr reduziert […]“13. Die so definierte Gewohnheit zeigt sich damit als eine Tätigkeit der Seele, dank welcher sie „den Inhalt […] in Besitz“ nimmt und sich in eigenen Bestimmungen – die sie „empfindungs- und bewußtlos“ an sich hat – bewegt. „Sie [die Seele] ist insofern frei von ihnen [von den eigenen Bestimmungen – J.K.-K.]“14. Schon in dieser allgemeinen Hegelschen Deskription der Gewohnheit rückt ihre freisetzende Wirkung in den Vordergrund15. Die Seele wird hier nicht mehr durch vereinzelte, bunte und sich ständig verändernde Reize affiziert und absorbiert, sondern sie setzt sich in ein Verhältnis zu sich selbst und zu einer „eigen gewordenen allgemeinen Weise des Tuns“16. Damit entwickelt sich einerseits das Selbstgefühl der Seele, welches dank der Distanzierung von den Reizen die Seele früher völlig absorbierenden Reize möglich wird, und andererseits die Freiheit, die aus der Befolgung der internalisierten Regeln resultiert. Daß die Befolgung der Regeln und ihre Internalisierung die rudimentäre Vorbedingung der menschlichen Freiheit bildet, ist eine Einsicht Hegels, die viele philosophische und psychologische Konzepte des XX. Jahrhunderts vorausahnt. Um also Distanz zu den eigenen Bedürfnissen und Begierden zu gewinnen, muß sich der menschliche Geist an seine Operationsformen gewöhnen und sie bis zu einem gewissen Automatismus erlernen. Dies erfolgt laut Hegel in drei Schritten. Erstens: durch die „Abhärtung gegen äußerliche Empfindungen“17 (also Dasjenige, was wir als Distanzierung von den unmittelbaren, verschiedenartigen Reizen beschrieben haben). Zweitens: durch die „Gleichgültigkeit gegen die Befriedigung: die Begierden, Triebe werden durch die Gewohnheit ihrer Befriedigung abgestumpft; dies ist die vernünftige Befreiung von denselben […]“18. Um uns eines Beispiels zu bedienen: wenn ich durstig werde, ergreife ich nicht den ersten sich 13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971, 183. 14 Ebd. 15 So auch Jun-Ho Won, der schreibt: „Die Bildung der Gewohnheit ist beinahe einem Kampf zu vergleichen, in dem die Seele von ihrer Natürlichkeit, d. h. von ihrer Abhängigkeit von den natürlichen wie unmittelbaren Affekten, befreit wird“ (Jun-Ho Won: Hegels Begriff der politischen Gesinnung. Zutrauen, Patriotismus und Vertrauen, Würzburg 2002, 93. Siehe auch das ganze Kapitel 3.1.1 „Negativität der Gewohnheit: Befreiung von natürlichen und unmittelbaren Affekten“ in dem zitierten Werk von Jun-Ho Won). 16 Hegel: Enzyklopädie, 188. 17 Ebd. 185. 18 Ebd.

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anbietenden Trunk, sondern ich warte gerne, bis ich mir einen guten Tee vorbereiten kann. Es bleibt noch der dritte Schritt: „In der Gewohnheit als Geschicklichkeit“ muß sie „als ein subjektiver Zweck in der Leiblichkeit geltend gemacht“19 werden. „In der Geschicklichkeit“ wird „die Leiblichkeit durchgängig und zum Instrumente gemacht […]“20. Um auf das Beispiel wieder zu rekurrieren: das Vorbereiten eines guten Tees erfordert auch gewisse Geschicklichkeit, die ich inzwischen – als leidenschaftlicher Teetrinker – gemeistert habe und gewohnheitsmäßig, ohne einzelne Schritte zu überdenken, ausführe. Diese kleine Hegelsche Philosophie der Gewohnheit markiert den Übergang von der „fühlenden“ zu der „wirklichen Seele“. Indem die Seele durch ihre Gewohnheiten die erste Natur durch die „zweite Natur“ (secunda natura) ersetzt21, wird sie von der Gegebenheit der ,ersten‘ Natur weitgehend befreit und befindet sich auf dem Weg zum Selbstbewußtsein und zur Vernunft. Dieser Weg wird vor allem, wie wir gerade gesehen haben, durch die allmähliche Beherrschung der Leiblichkeit markiert. Zwar ist laut Hegel, der hier wieder viele späteren Diskussionen vorwegnimmt, „die individuelle Seele an sich schon körperlich abgeschlossen […]“22 und der Körper „gehört […] zu meiner Idee […]“23, dennoch „kann die Seele bei dieser unmittelbaren Einheit mit ihrem Leibe nicht stehenbleiben“24. Der Mensch muß in Besitz des eigenen Leibes kommen, damit der Leib als die „Mitte“ zwischen dem Ich und der Außenwelt fungieren kann25. Diese Besitznahme des Leibes durch die Seele, die in der Umgestaltung des Leibes in einen „gefügigen und geschickten Werkzeug“26 besteht, wird durch die Einübung des Leibes in gewisse wiederholbare Handlungen, kurz: wie schon angedeutet, durch das Erlernen gewisser Geschicklichkeiten und Fertigkeiten erreicht. Da Hegel selbst die Rolle der Gewohnheit für das Selbstgefühl mit der Rolle des Gedächtnisses für die Intelligenz vergleicht27, so können wir metaphorisch sagen, daß die Gewohnheiten – und die auf ihnen basierten Fertigkeiten – das Gedächtnis des Leibes bilden. An dieser Stelle nennt Hegel viele interessante Beispiele der Gewohnheiten: beginnend mit den sehr rudimentären Phänomenen, wie das aufrechte Stehen („der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur so lange, als er es bewußtlos will […]“28), durch kulturbedingte Fertigkeiten, wie etwa das Schreiben („Ist uns […] die Tätigkeit des Schreibens zur Gewohnheit geworden, dann hat unser Selbst sich 19

Ebd. Ebd. 186. 21 Siehe: Ebd. 184. 22 Ebd. 189. 23 Ebd. 24 Ebd. 190. 25 Siehe: Ebd. 26 Ebd. 27 Siehe: Ebd. 184. 28 Ebd. 186. 20

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aller betrefflichen Einzelheiten so vollständig bemeistert […], daß dieselben uns als Einzelheiten nicht mehr gegenwärtig sind und wir nur deren Allgemeines im Auge behalten“29), bis auf solche Grenzphänomene der menschlichen Existenz, wie der Tod. „Der Mensch stirbt auch aus Gewohnheit […]“30, bemerkt Hegel in einem Zusatz zum § 151 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, was wir keineswegs ,Heideggerisch‘ auslegen sollen, etwa in dem Sinne: In der gewohnheitsmäßigen Welt stirbt immer nur ,das Man‘. Vielmehr geht es darum, daß bei dem an die Welt und ihren Gang völlig angewöhnten, nicht mehr sich diesem Gang pathetisch widersetzenden Menschen, allmählich die „Interesselosigkeit“ eintritt, die zu einer, metaphorisch gesagt, Auflösung des Selbst in der umgebenden Welt und folglich zu einem „geistigen oder physischen Tod“31 führt. In dieser stark metaphorischen Bemerkung klingt einerseits die schon erwähnte „Interesselosigkeit“ des Selbst, die sich der Einübung und Wiederholung verdankt; es wird hier aber gleichzeitig, zwar auf eine extreme Weise, ein Phänomen angedeutet, dem ich den bald folgenden, letzten Teil des Beitrags widmen möchte: das Phänomen der Gewöhnung des Subjekts an seine sittliche Welt. Ich habe eingangs angedeutet, daß die Merkmale der Routinemäßigkeit und Wiederholbarkeit die gewohnheitsmäßigen Handlungen viel zutreffender beschreiben, als ihre angebliche Unbewußtheit. Hegel schwankt diesbezüglich in seiner Beschreibungen, indem er sich ab und zu des Prädikats ,unbewußt‘ in Bezug auf die Gewohnheiten bedient. In einem höchst interessanten und prägnanten mündlichen Kommentar beschreibt er die gleichsam paradoxe – mit Hinblick auf die Bewußtheit oder Unbewußtheit solcher Handlungen – Struktur der Gewohnheiten: „So sehen wir folglich, daß in der Gewohnheit unser Bewußtsein zu gleicher Zeit in der Sache gegenwärtig, für dieselbe interessiert und umgekehrt doch von ihr abwesend, gegen sie gleichgültig ist, – daß unser Selbst […] ihnen somit die Gestalt eines Mechanischen, einer bloßen Naturwirkung gibt.“32

Diese Bemerkung erlaubt es uns auch zu erklären, wieso der Mensch sogar zum Sklaven seiner Gewohnheiten werden kann. So sehr wir, Hegel folgend, die freisetzende Wirkung der Gewohnheit hervorheben, so sehr müssen wir auch bedenken, daß sie die „von der Seele gesetzte, zweite Natur,– aber doch immer eine Natur“33 bleibt. Deswegen ist für Hegel diese Form der Befreiung des Geistes eine noch sehr rudimentäre Gestalt seiner Freiheit; in der Gewohnheit steht der Mensch immer noch unter der Naturbestimmtheit und insofern gilt er weiterhin als unfrei; dennoch 29

Ebd. 191. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971, 302. 31 Vgl.: Ebd. 32 Hegel: Enzyklopädie, 191. 33 Ebd. 189. 30

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macht er durch die Übung, die Angewöhnung und das Erlernen der Mechanismen seiner Tätigkeiten einen entscheidenden Schritt in Richtung der völlig befreiten Geistigkeit34. III. Gewohnheit, Ethos und Sittlichkeit Wir haben gesehen, wie sich die fühlende Seele durch das „Meistern“ ihrer Aktivitäten in eine durch sich selbst beherrschte Instanz verwandelt, für welche eigene Handlungen und Verhaltensweisen zu einem von ihr unterschiedenen Besitz werden. Das Erlernen der gewohnheitsmäßigen Automatismen der Seele bildet den Weg zu ihrer Befreiung aus dem Umfang der Natur, in welche sie zunächst völlig versunken ist. Da es sich hier aber noch nicht um das selbstbewußte Subjekt handelt, kann die so erlangte Befreiung nur als die Präfiguration der höheren Formen der Freiheit erscheinen, welche erst im Bereich des objektiven Geistes zur Verwirklichung kommen. Nicht überraschenderweise greift deswegen Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts auf das Thema der Gewohnheit zurück. An einer wichtigen, wenn auch nicht detailliert ausgeführten Stelle seiner Grundlinien (§ 151) setzt Hegel folgende Begriffe und kurze Bemerkungen in eine Reihe: „Sitte – G¢or – die Alten wußten nichts vom Gewissen – Riemer35: G¢or ion.36 5¢or – Gewohnheit, Gebrauch – (vorzüglich Wohnung bei Herodot) Herkommen des Menschen – Sitte – ob von Sitz? – Gewohnheit, Charakter, Miene […]“37. Was hier hervorsticht, ist nicht nur die von Hegel behauptete Verwandtschaft der Sittlichkeit mit dem antiken Ethosbegriff und ihre Verknüpfung mit dem Begriff der Gewohnheit. Wichtig scheint hier auch das Konzept des konkreten Ortes zu sein, an welchem bestimmte Sitten ,zuhause‘ sind – signalisiert durch Begriffe wie ,Sitz‘ oder ,Wohnung‘. Es geht nicht um die von Hegel nahegelegte Strukturähnlichkeit der Etymologie des Gewohnheitsbegriffes im Griechischen und im Deutschen (im Griechischen: Ethos als Sitz und als Sitte; im Deutschen: Wohnung – Gewohnheit). Vor allem geht es darum, daß hier eine sachliche Verbindung vermutet wird. Um es präziser zu formulieren: die Überlegung Hegels bezieht sich zunächst offenbar darauf, daß be34 Siehe dazu folgende Bemerkung von Henning Ottmann: „,Gewohnheit‘ bedeutet dabei für Hegel wie für Aristoteles nicht nur eine Mechanisierung des Verhaltens. Wie Funkes subtile Begriffsgeschichte deutlich zeigt, bleibt Hegels Phänomenologie der ,Gewohnheit‘ zwischen Natur und vollbewußter Freiheit angesiedelt; die Gewohnheit wird weder als nichtnatürliche, erlernte Befreiung von der Natur einseitig zu einem völligen Bei-Sich-Sein des Geistes verklärt noch als mechanische Notwendigkeit abgewertet“. (Henning Ottmann: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Bd. I, Berlin / New York 1977, 306, Fußnote 348). 35 Gemeint ist Friedrich Wilhelm Riemer, der Verfasser des Griechisch-deutschen HandWörterbuches für Anfänger und Freunde der griechischen Sprache, aus welchem Hegel die Übersetzung von Ethos übernimmt. 36 Ionisch. 37 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, 302.

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stimmte Gewohnheiten (Sitten) immer am konkreten Ort erlernt und eingeübt werden, den die Menschen bewohnen und aus dem sie herkommen. Aber gemeint ist hier noch mehr: die Welt des Geistes, als die Welt einer wirklichen, realisierten Freiheit (und eben nicht einer sich lediglich im Gewissen manifestierenden Freiheit), ist eine aus diesem Geiste erschaffene Welt, die der Mensch bewohnt und nur in ihr seine Freiheit wahrnehmen kann. Diese Deutung korrespondiert mit einigen Bemerkungen, die Hegel schon in seiner Jenaer Periode formuliert hat, wo er mehrmals das „allgemeine abstrakte Anerkanntsein“ der Personen – das er mit dem geltenden Recht identifiziert – als die „unmittelbare Wirklichkeit“38 dieser Personen beschreibt. Diese aus dem Elemente des Rechts geschöpfte ,geistige Welt‘ tritt an die Stelle der ersten Natur und ersetzt sie. Da sie zur zweiten Natur, zur secunda natura des Menschen werden kann, erklärt sich eben daraus, daß wir uns als rechtliche Personen an unser allgemeines, abstraktes Anerkanntsein angewöhnen. Wir gehen etwa nachts auf die Straße und sind überzeugt, nichts darf uns passieren. Wir betrachten diese dank dem Recht sichere Welt als wäre sie die natürliche Welt. Sobald sich die Gewohnheit auf dem sozialen Niveau in die Sittlichkeit verwandelt, handelt es sich also nicht mehr um die individuelle, sondern um die soziale ,zweite Natur‘, die wir alle als Rechtsgenossen bewohnen. Auf der Ebene der modernen Sittlichkeit analysiert Hegel folglich die Gewohnheit vor allem als die Angewöhnung des bewußten Individuums an die allgemeinen Regeln, objektiven Institutionen und sozialen Praktiken. Wären wir im Bereich des Anthropologischen nicht dazu fähig, einfache Regeln des Verhaltens und Handelns zu befolgen, wäre es uns auch unmöglich, an den überindividuellen, geregelten Strukturen und Praktiken des Geistes teilzunehmen. Hegel legt hier den Akzent vor allem darauf, daß diese objektiven Strukturen und Praktiken des Geistes dem Individuum nicht äußerlich, fremd und bedrohlich sind, sondern daß sie das ,Zuhause‘ seiner realisierten, wirklichen Freiheit bilden. Deswegen wird die Gewohnheit vor allem als das Gegenstück der Willkür, sowohl auf dem praktischen, wie auch auf dem theoretischen Gebiet thematisiert. Wie auf der rudimentären Ebene der Seele, so gibt es auch hier bestimmte Ausdrucksformen und erlernbare Praktiken des Geistes, die es möglich machen, daß der Geist seine wirkliche Freiheit erlangt. In diesem Kontext ist etwa die Hegelsche Apologie der sozialen Konventionen zu verstehen, wo das Sich-Anpassen des Individuums an bestimmte gesellschaftliche Praktiken nicht als Ausdruck seines Opportunismus, sondern vielmehr als Signatur seiner jetzt intersubjektiv verstandenen Vernünftigkeit zu deuten ist39. Die Gewohnheit gewinnt aber innerhalb der Philosophie der Sittlichkeit, wie wir gesehen haben, eine noch stärkere Bedeutung: so wie sie auf dem früheren Niveau der Anthropologie für das Entstehen des Selbstgefühls der Seele verantwortlich war, so soll sie hier dazu beitragen, daß die objektiven Institutionen des Geistes dem selbstbewußten Individuum nicht als fremd und äußerlich, sondern als 38 Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hg. von Rolf-Peter Horstmann, Hamburg 1987, 204 – 205. 39 Vgl.: Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, 349.

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seine Institutionen gelten können. Damit ermöglicht die Gewohnheit, in ihrer komplexeren Gestalt als erlernte Konvention oder als geübte soziale Praxis, die Auffassung der Freiheit nicht als eines bloßen Postulats, sondern als des wirklichen Inhalts der intersubjektiv angelegten, sittlichen Welt. Polemisierte Hegel in der Enzyklopädie mit der Deutung der Gewohnheit als der Signatur der Unfreiheit, so versucht er in den Grundlinien den romantischen Verdammungstiraden gegen die soziale Anpassung entgegenzuwirken, indem er den vernünftigen Gehalt der Konventionen und geteilten Praktiken herausarbeitet (so etwa der Mode, der kulinarischen Gewohnheiten, etc.). „Alles Partikulare wird insofern ein Gesellschaftliches; in der Art der Kleidung, in der Zeit des Essens liegt eine gewisse Konvenienz, die man annehmen muß, weil es in diesen Dingen […] am klügsten ist, darin wie andere zu verfahren“.40

Aus dieser kurzen Rekonstruktion der Hegelschen Auffassung der Gewohnheit dürfen wir nun schlußfolgern, daß Hegel der Gewohnheit wichtige Funktionen zuschreibt, die auf verschiedenen Ebenen der Entwicklung des Geistes erfüllt werden. Auf dem anthropologischen Niveau dient die Rehabilitierung der Gewohnheit ihrer stärkeren, als es etwa in der Kantisch gesinnten Moralphilosophie der Fall war, Reintegration in die Entwicklung der bewußten Handlungsautonomie. Die allmählich erlangte Distanzierung der Seele gegenüber den Reizen und Begierden ist also dasjenige, was die Gewohnheit in Bezug auf die Freiheit, metaphorisch gesagt, ,von unten‘ her leistet. Aber die Gewohnheit rundet auch die als Autonomie konzipierte Freiheit ,von oben‘ ab, indem sie eine Brücke zwischen dem individuellen Gewissen und der objektiven Realität der Institutionen und sozialen Praktiken bildet. Dadurch spielt der Begriff der Gewohnheit eine wesentliche Rolle in dem Versuch Hegels, seine Aristotelisch gesinnte Praxis- und Institutionenlehre mit der durch Kant markierten ,kopernikanischen Wende‘, d. h. mit der Einführung der Freiheit und Autonomie des Selbstbewußtseins als des Prinzips der Moderne, zu versöhnen. Die eingeübte und zur Gewohnheit gewordene Teilnahme an den objektiven Institutionen und Praktiken des Geistes bildet somit die notwendige Bedingung der wirklichen Realisierung der individuellen Freiheit in der Welt. Die Rehabilitierung der Gewohnheit bei Hegel dient nicht nur der Reintegration der individuellen Natur in den Bereich der Autonomie, sondern auch der Reintegration des autonomen Subjekts in die Welt der objektiven Sittlichkeit.

Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971, Bd. 7. 40

Ebd.

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971, Bd. 10. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971, Bd. 20. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hg. von Rolf-Peter Horstmann, Hamburg 1987. Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. und hg. von Raoul Richter, Leipzig 1920. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, Bd. IV. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, Bd. IV. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, Bd. IV. Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders.: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, Bd. III. Ottmann, Henning: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Bd. I, Berlin / New York 1977. Regenbogen, Arnim / Meyer, Uwe (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 2013. Won, Jun-Ho: Hegels Begriff der politischen Gesinnung. Zutrauen, Patriotismus und Vertrauen, Würzburg 2002.

Normativität und Moralitätskritik in Hegels Lehre vom objektiven Geist Markus Rothhaar (Hagen) I. Einleitung Es gehört zu den populären Gemeinplätzen der Philosophiegeschichtsschreibung, daß Hegels Lehre vom objektiven Geist eine bloße Affirmation bestehender Verhältnisse darstelle. Indem Hegel die These vertrete, daß der Geist sich in den Strukturen des Staates und der Gesellschaft wiedererkenne, verleihe er den Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen der Wirklichkeit den Segen vermeintlicher Vernünftigkeit. Darum gebe es bei Hegel keinen Raum für eine normative Beurteilung der gegebenen rechtlichen, sittlichen und ökonomischen Verhältnisse, d. h. für eine Beurteilung, die die gegebenen Verhältnisse am Maßstab des Richtigen und Falschen mißt. Um diesen Gemeinplatz zu untermauern, wird nicht selten auch Hegels Kritik der „Moralität“ als Kronzeuge angeführt; so schreibt etwa Ernst Tugendhat, der hier stellvertretend für viele stehen kann: „Die Möglichkeit eines selbstverantwortlichen, kritischen Verhältnisses zum Gemeinwesen, zum Staat wird von Hegel nicht zugelassen, vielmehr hören wir: die bestehenden Gesetze haben eine absolute Autorität; was vom Individuum zu tun ist, steht in einem Gemeinwesen fest; das eigene Gewissen des Einzelnen hat zu verschwinden, und an die Stelle der Reflexion tritt das Vertrauen; das ist es, was Hegel mit der Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit meint.“1 Ziel dieses Aufsatzes ist es, demgegenüber zum einen zu zeigen, daß Hegels Kritik der „Moralität“ keineswegs darauf abzielt, die Möglichkeit normativer Bewertungen von Handlungen oder Institutionen zu verwerfen. Vielmehr geht es, wie sich zeigen läßt, bei der Moralitätskritik um die Kritik an einer bestimmten, nämlich subjektivistischen Form von Normativität. Damit taucht zweitens zugleich die Frage auf, welche Rolle die Normativität in Hegels Konzeption des „objektiven Geistes“ überhaupt spielt. Diese Frage wiederum läßt sich nur beantworten, indem die verschiedenen Formen von Normativität, wie sie die Stufen der Entwicklung des objektiven Geistes präsentieren, herausgearbeitet werden. Der Moralitätskritik kommt dabei insofern eine zentrale Rolle zu, als darin eben eine Form von Normativität thematisch wird, die sich selbst im Gegensatz zu demjenigen versteht, was Hegel als „sittliche Verhältnisse“ begreift. 1

Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a.M. 19894, 349.

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Daß der Vorwurf, Hegel verwerfe grundsätzlich jede Form normativer Urteile über reale politische, ökonomische und soziale Verhältnisse zu kurz greift, zeigt sich bereits daran, daß er selbst immer wieder sehr dezidiert normative Urteile fällt, etwa über die Sklaverei oder das römische Familienrecht2. Immer wieder findet sich der Aufweis immanenter Widersprüche, so eben in der Darstellung der „Moralität“ oder der „Bürgerlichen Gesellschaft“, die diese Figurationen des objektiven Geistes über sich hinaustreiben – im Fall der Moralität eben in die Sittlichkeit und im Fall der „Bürgerlichen Gesellschaft“ zu Korporationen und zum Staat. Natürlich kommt hier zunächst einmal Hegels Methode der immanenten Kritik zum Tragen, die aus der Phänomenologie oder der Logik bekannt ist: Eine bestimmte Position erweist sich genau dann als unhaltbar und kommt in ihrer Unhaltbarkeit zur Darstellung, wenn sie für sich betrachtet und absolut gesetzt wird. Die Phänomenologie des Geistes etwa bietet eine Abfolge von Konstellationen möglicher Subjekt-Objektund Subjekt-Subjekt-Verhältnisse, die genau dann in sich zusammenbrechen, wenn sie als das letzte oder einzige derartige Verhältnis gedacht werden statt in ihrer Bezüglichkeit zum Absoluten gesehen zu werden, als dessen Moment sie sich erweisen lassen. In dieser Hinsicht ist Hegels Methode, die sich auch in der Lehre vom objektiven Geist findet, immer kritisch. Genügt dieser allgemeine Verweis auf die Methode der immanenten Kritik nun aber, um die spezifischen Fragestellung einer Philosophie des „objektiven Geistes“ angemessen zu beschreiben – eines Teils des philosophischen Systems immerhin, der sich mit der menschlichen Praxis befaßt, die als solche immer auch normativ in dem Sinn ist, daß Handlungen, Handlungsmotive und Institutionen als richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen bewertet und beurteilt werden? Hier kommt offenbar noch etwas dazu, das sich etwa in Hegels kritischen Äußerungen zur Sklaverei, zur Moralität oder zu den Widersprüchen der Bürgerlichen Gesellschaft manifestiert. Diese stehen zumindest mit ihrer rhetorischen Schärfe in einer klaren Spannung zu einer „immanenten Kritik“, etwa am abstrakten Recht, bei der lediglich aufgezeigt wird, daß und warum das abstrakte Recht über sich hinausweist. Ist „Kritik“ in der Theorie des objektiven Geistes also nur um eine gewissermaßen rein deskriptive „immanente Kritik“ bestimmter Formen von Recht und Gesellschaftlichkeit? Oder gibt es noch eine andere Ebene der Kritik politischer, gesellschaftlicher etc. Entwicklungen, Strukturen und Denkweisen? Und wenn ja, in welchem

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So schon in der Einleitung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“: „[…] das römische Familienrecht, die Sklaverei usf. tut auch sehr geringen Forderungen der Vernunft kein Genüge“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in ders.: Werke in 20 Bänden, Band 7, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986, § 3, 41) und noch einmal deutlicher im Sittlichkeitskapitel: „Das Sklavenverhältnis der römischen Kinder ist eine der diese Gesetzgebung befleckendsten Institutionen, und diese Kränkung der Sittlichkeit in ihrem innersten und zartesten Leben ist eins der wichtigsten Momente, den weltgeschichtlichen Charakter der Römer und ihre Richtung auf den Rechtsformalismus zu verstehen.“ (Hegel: Grundlinien, § 175, 327).

Normativität und Moralitätskritik in Hegels Lehre vom objektiven Geist

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Sinn gibt es diese Ebene dann und von welchem Punkt aus wird sie überhaupt denkbar? Eine Antwort auf diese Frage führt direkt zu der grundlegenderen Frage, was die Lehre vom objektiven Geist eigentlich ist. Grundsätzlich kann man darauf antworten: Es handelt sich um eine Theorie des Willens und indem es sich um eine Theorie des Willens handelt, notwendig auch um eine Theorie der Normativität, da unser Handeln und Wollen grundlegend von der Frage nach richtigem und falschem Handeln und Leben geprägt ist. In welcher Hinsicht ist die Lehre vom objektiven Geist aber eine Theorie des Willens und damit der Normativität? Ist sie eine normative Theorie, eine politische Philosophie, eine Sozialphilosophie, eine Metaethik oder vielleicht in bestimmter Hinsicht alles zugleich? Ich möchte im Folgenden die These vertreten, daß Hegels Lehre vom objektiven Geist eine dialektische Theorie der Normativität ist, die man in gewisser Weise als eine „meta-normative“ Theorie oder sogar, wenn der Begriff nicht bereits so stark festgelegt wäre, als eine „metaethische“ Theorie3 beschreiben könnte. Im Mittelpunkt dieser Normativitätstheorie steht als Fluchtpunkt der Gedanke der sittlichen Freiheit. Dieser kann, wie ich zeigen will, unterboten und/oder verfehlt werden und in dieser Hinsicht sind dann auch normative Urteile über Handlungen, Gesellschaften, rechtliche Regelungen, politische Ziele etc. möglich. Diese Urteile werden aber nicht von „jenseits“ der sittlichen Praxis gefällt, sondern ergeben sich aus ihr selbst. Das soll in drei Schritten gezeigt werden. Im ersten Schritt möchte ich den Grundgedanken der Theorie des „objektiven Geistes“ anhand des „Abstrakten Rechts“ herausarbeiten. Im zweiten Schritt werde ich Hegels Moralitätskritik genauer unter die Lupe nehmen, um dann im dritten Schritt Hegels Begriff der sittlichen Freiheit zumindest skizzenhaft zu erläutern. Dazu wird es erforderlich sein, nicht alleine die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften heranzuziehen, deren Lehre vom objektiven Geist nach Hegels eigener Aussage lediglich eine Kurzfassung der Grundlinien der Philosophie des Rechts darstellt4, sondern auch die Grundlinien selbst, sowie die Phänomenologie des Geistes.

3 Vgl. für eine konsequente Rekonstruktion der Hegelschen Rechtsphilosophie als „Metaethik“ Sebastian Ostritsch: Hegels Rechtsphilosophie als Metaethik, Paderborn 2014. Problematisch ist die Anwendung des Begriffs auf Hegels Lehre vom objektiven Geist allerdings insofern, als in der zeitgenössischen Philosophie unter dem Titel „Metaethik“ zumeist Fragen wie diejenige verhandelt werden, ob Ethik „kognitivistisch“ oder „non-kognitivistisch“ zu verstehen sei. Diese Art von Fragen interessiert Hegel nur am Rande, so daß vielleicht der Begriff einer „Metatheorie der Normativität“ weniger mißverständlich wäre. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil, in: ders.: Werke in 20 Bänden, Band 10, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986, § 487, 306.

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II. Der Grundgedanke der Theorie des objektiven Geistes anhand des „Abstrakten Rechts“ Die Theorie des objektiven Geistes ist zunächst eine Theorie des Willens, d. h. des Geistes als praktischer Geist, des Geistes in der praktischen Einstellung zur Welt, wobei „Praxis“ wiederum gekennzeichnet ist durch Freiheit, d. h. durch eine bestimmte Form der Bezugnahme des Geistes auf sich selbst. Zweitens ist die Theorie des objektiven Geistes aber auch dadurch charakterisiert, daß das Verhältnis von Einzelheit und Allgemeinheit in der Dimension der Praxis in Rede steht. Der Boden, auf dem die Lehre vom objektiven Geist steht, ist eine Pluralität von individuellen Subjekten, die gleichwohl alle auf ein Allgemeines, die Subjektivität oder den Geist selbst, bezogen bleiben. Von dieser Ausgangslage her, stellt sich in der Theorie des objektiven Geistes die Frage, wie eine Pluralität von Individuen zugleich Allgemeines sein kann, und zwar ein Allgemeines, das nicht gegen die Einzelheit und Besonderheit steht, sondern gerade in der Pluralität der individuellen Subjekte seine Wirklichkeit besitzt und umgekehrt. „Sein kann“ meint dabei nicht eine bloße Denkmöglichkeit, sondern die Wirklichkeit der vermittelten Struktur von Einzelheit und Allgemeinheit. Das bedeutet wiederum, daß die Wirklichkeit des Allgemeinen nur die Form bestimmter, tatsächlich existierender Bezogenheiten der individuellen Subjekte aufeinander haben kann, die als solche aber über jedes einzelne Subjekt hinausweisen. In diesem Sinn ist die Theorie des objektiven Geistes überhaupt erst „objektiv“ und nimmt die Formen der Wirtschaftsphilosophie, der Rechtsphilosophie, der Staatsphilosophie, der Sozialphilosophie und der Ethik an. Wirtschaft, Gesellschaft, Recht, Staat, Moral und Sittlichkeit sind die Formen der Wirklichkeit des Allgemeinen unter der Bedingung einer Pluralität freier individueller Subjekte. Die Grundfigur der Theorie des objektiven Geistes ist dementsprechend immer einer Figur der Vermittlung von freier individueller Subjektivität und Allgemeinheit, wobei beide Seiten selbst Geist sind. In §436 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften heißt es: „Das allgemeine Selbstbewußtsein ist das affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst.“5 und in §483 beschreibt Hegel den Ausgangspunkt der Lehre vom objektiven Geist als „das Verhältnis von einzelnen zu einzelnen Willen, welche ein Selbstbewußtsein ihrer als verschiedener und partikulärer sind; diese Seite macht das äußerliche Material für das Dasein des Willens aus.“6 Das heißt aber, daß Individuen nicht nur unterschieden sind, sondern auch ein Bewußtsein ihrer Verschiedenheit haben. Zugleich haben sie aber auch ein Bewußtsein ihrer grundlegenden Freiheit und Gleichheit. Beides hängt insofern zusammen, als die Subjekte sich statt auf einzelne Inhalte zu beziehen, immer auch auf die Freiheit selbst als ihr Grundcharakteristikum beziehen können. In dieser Hinsicht besteht also eine grundlegende ontologische Gleichheit aller Subjekte. 5 6

Hegel: Enzyklopädie. Dritter Teil, § 436, 226. Hegel: Enzyklopädie. Dritter Teil, § 483, 303.

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Die zentrale Aufgabe der Lehre vom objektiven Geist besteht deshalb darin, eine Theorie der Freiheit zu entwickeln, bei der Freiheit nicht in Abgrenzung gegenüber dem Anderen besteht, sondern in Gemeinschaft mit Anderen verwirklicht wird. Wir haben es also bei der Lehre des objektiven Geistes mit einer logisch-dialektischen Entfaltung des Freiheitsbegriffs zu tun, die auf ihren verschiedenen Stufen jeweils einer bestimmten Konzeption davon korrespondiert, was Normativität ausmacht. In diesem Sinn kann man Hegels Lehre des objektiven Geistes durchaus als das lesen, was heute mit einem beliebten Schlagwort als „Metaethik“ bezeichnet wird. Die Lehre vom objektiven Geist ist nichts weniger als eine kritische Rekonstruktion der verschiedenen Möglichkeiten, Normativität zu denken und zu verwirklichen. Diese Möglichkeiten werden entsprechend der Hegelschen Methode in ihrem logischdialektischen Zusammenhang entfaltet. Die erste Stufe dieser Entfaltung ist nun bekanntlich dasjenige, was Hegel das „Abstrakte Recht“ nennt. Um zu verstehen, welche Form der Normativität Hegel dabei im Blick hat, ist es sinnvoll, sich zu verdeutlichen, was am „Abstrakten Recht“ eigentlich „abstrakt“ ist. Dabei zeigt sich, daß diese Stufe des Rechts primär in der Hinsicht „abstrakt“ ist, daß es Sachenrecht ist. Im Rahmen des abstrakten Rechts findet die von Kant und Locke bekannte „ursprüngliche Besitzergreifung“ statt, die ein Recht des „äußeren Mein und Dein“ entsprechend dem Privatrecht der Kantischen Rechtslehre hervorbringt. Dies konstituiert ein Verhältnis des individuellen Willens zu einer Sache, einem Ding oder Gegenstand, das zunächst so beschaffen ist, als ob es kein anderes Individuum geben würde. Andere Individuen kommen hier nur als Wesen in den Blick, mit denen man um Dinge konkurriert, sich über Besitzverhältnisse an Dingen einigen kann und Dinge durch Verträge tauschen kann. Auch die grundlegenden Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit etc. sind hier alleine durch das Eigentums- oder Sachrecht geschützt: Sie werden nach dem Vorbild des Besitzrechts konstruiert als ausschließende Verfügung über diejenigen Güter, die in die eigene Freiheitssphäre gehören. Dem entspricht auf der Ebene des Freiheitsbegriffs ein Verständnis von Freiheit als freier Wirksamkeit in der Außenwelt, das schließlich eine „Aufteilung“ der gesamten verfügbaren Güter in einzelne, endlich-begrenzte Freiheitssphären erforderlich macht, wie wir sie im klassischen Liberalismus bei Locke, Kant und Fichte finden. Der Freiheitsbegriff ist hier also ein strikt negativer: Freiheit wird verstanden qua Abgrenzung der eigenen Freiheits- und Verfügungssphäre gegen die der anderen. Andere Subjekte kommen damit nur in den Blick als mögliche Konkurrenten um die Verfügung über ein bestimmtes Gut. Ansonsten sind die Subjekte aber gegeneinander gleichgültig und ebendies macht das Moment der „Abstraktheit“ am „abstrakten Recht“ aus. Trotz dieser eingeschränkten Perspektive stellt das „abstrakte Recht“ freilich eine bestimmte grundlegende Möglichkeit dar, institutionell gefaßte und damit „wirkliche“ Freiheit zu realisieren. Es ist insofern ein möglicher Modus der Verwirklichung von Normativität unter den Bedingungen einer Pluralität individueller, freier Subjekte. Die Freiheit bleibt hier allerdings insofern defizitär, als sie im doppelten Sinn äußerlich ist: Sie ist erstens Bezug von freien Subjekten auf äußere

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Gegenstände („Sachen“), bei der die Selbstbezüglichkeit der Subjektivität ausgeblendet bleibt. Dem korrespondiert zweitens die Äußerlichkeit des Bezugs der Subjekte aufeinander, indem ihre Beziehung lediglich über die Sachen vermittelt ist und darum auch lediglich in einer Abgrenzung von Freiheitssphären gegeneinander besteht. Eine positive Beziehung der Subjekte aufeinander, in Form eines „Bei-sichSeins-im-Anderen“ kommt hier (noch) nicht vor. Das „Allgemeine“ bleibt dementsprechend auf dieser Ebene ebenso abstrakt: es handelt sich um objektivrechtliche Regelungen, die nur in der Hinsicht „allgemein“ sind, daß sie einfach für alle Personen gleichermaßen gelten. Trotz aller Abstraktheit und Einseitigkeit, stellt das „Abstrakte Recht“ also nichts weniger dar als ein mögliches Grundmodell von Normativität. Das heißt: ein mögliches Grundmodell, wie sich das praktische Verhältnis von Allgemeinheit und Einzelheit unter den Bedingungen einer Pluralität von individuellen Subjekten darstellen kann. III. Hegels Kritik der Moralität An das „Abstrakte Recht“ schließt das Normativitätsmodell der „Moralität“ an. Deren Ausganspunkt ist das Auseinanderfallen von objektivem Recht und subjektivem Willen. In diesem Auseinanderfallen kommt aber überhaupt erst der Wille zu einem Bewußtsein seiner selbst als Wille. Durch diese Reflexion des Willens in sich selbst durchschneidet die Subjektivität dabei gewissermaßen ihre Beziehung zum äußeren Gegenstand, der vom Subjekt besessenen Sache. Die äußeren Gegenstände werden für die Subjektivität gleichsam „irrelevant“; sie sind nicht mehr bedeutsam für die Freiheit, die nun ganz als etwas Innerliches und gleichsam Weltloses verstanden wird, dessen Existenz in seiner reinen Selbstbezüglichkeit besteht. Damit haben wir es auf der Ebene der Moralität mit einem grundlegend neuen Freiheitsbegriff zu tun: Freiheit wird nun nicht mehr verstanden als ausschließende Verfügungsgewalt über Sachen, sondern als die reine Selbstbestimmung des Willens: eine Selbstbestimmung, die insofern „rein“ sein soll, als sie durch keinerlei Vorgaben oder Bedingungen der Natur, der Gesellschaft, des Leibes, der Geschichte gebunden ist bzw. ihrerseits bestimmt wäre. Der subjektive, gleichwohl aber noch individuelle Wille wird so zur letzten Legitimationsinstanz der Normativität. Damit wird dann auch ein Konflikt zwischen Recht und Freiheit denkbar, der im „Abstrakten Recht“ noch nicht denkbar war, denn das Recht muß sich nach diesem Freiheitsverständnis entweder vor dem subjektiven Willen als der alleinigen Legitimationsquelle jeglicher Normativität rechtfertigen lassen oder es gilt dem subjektiven Willen als etwas zu Verwerfendes7. Das Moralitätskapitel zerfällt nun sowohl in der Lehre des objektiven Geistes der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, als auch in den Grundlinien der 7 Vgl. Hegels Aussage in den Grundlinien der Philosophie des Rechts: „Das Recht des subjektiven Willens ist, daß das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde […]“ (Hegel: Grundlinien, § 132, 245).

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Philosophie des Rechts in zwei deutlich unterscheidbare Teile: Zum einen ist es über weite Strecken eine handlungstheoretische Erörterung8, bei der die Klärung von Begriffen wie „Vorsatz“, „Absicht“, „Handlung“ selbst, „Schuld“ etc. im Mittelpunkt steht. Dabei geht es um nichts anderes als eine Vertiefung und Erweiterung der Begrifflichkeiten und Praktiken des Rechts um das Thema der Intentionalität bzw. der „mens rea“ (während es im „Abstrakten Recht“ nur um den „actus reus“ geht). Diese Vertiefung wird notwendig, um im Recht selbst der sich entfaltenden, reflexiven Subjektivität gerecht zu werden, weshalb ihre Resultate dann auch in den weiteren Entfaltungsstufen des objektiven Geistes Gültigkeit behalten (also auch in einem auf Sittlichkeit abhebenden Rechtssystem). Geistes- und rechtsgeschichtlich hat diese Entwicklung ihre augenfällige Parallele in der „Entdeckung“ von Intention und Vorsatz im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtsdenken. Zweitens haben wir es aber auch mit einer grundlegenden Erörterung der Begriffe des „Guten“ und des „Bösen“ zu tun.9 Hier zeigt sich dann wieder der meta-ethische Charakter der Lehre vom objektiven Geist, und hier wird der Ton Hegels dann auch deutlich kritisch. Fünf Stufen sind bei dieser Kritik der Moralität in der Enzyklopädie und den Grundlinien der Philosophie des Rechts identifizierbar: (1) Der Wille ist sich seiner selbst bewußt, aber das als jeweils partikularer, besonderer Wille eines von den anderen Subjekten, ebenso wie von allen Sachen unterschiedenen Subjekts10. Dieser Wille geht auf seine Verwirklichung und diese Verwirklichung erfolgt in Form einer Verwirklichung selbst gesetzter Zwecke. Anders als im „Abstrakten Recht“ bezieht der Wille sich also, indem er sich auf die Außenwelt bezieht, nicht mehr auf von ihm unterschiedene Dinge, sondern auf seine eigenen Zwecke und damit auf sich selbst. Der letzte Zweck, der dabei hinter allen anderen Zwecken steht, ist das eigene Wohl bzw. die eigene Glückseligkeit als besonderes Subjekt. Worin das Wohl besteht und wodurch es konkret verwirklicht wird, gehört dabei wieder in die Sphäre des Besonderen; es ist für jedes individuelle Subjekt anders. Dieses Modell der Praxis kann sicherlich ohne Probleme mit gewissen (trivialen) Formen des Eudämonismus und des Hedonismus identifiziert werden. (2) Im zweiten Schritt macht sich gegen die Fixierung auf das je besondere individuelle Wohl das Allgemeine dadurch geltend, daß das individuelle Subjekt reflexiv einsieht, daß die unter (1) beschriebene Struktur für alle individuellen 8

Den handlungstheoretischen Charakter von Hegels Erörterungen zur Moralität betont beispielsweise Michael Quante (Michael Quante: Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Berlin 2011, 196 – 230). 9 So auch Herbert Schnädelbach, der dies folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Das Moralische (,Le Moral‘) ist die Bezeichnung der Ebene, auf der die Unterscheidung zwischen dem Moralisch Guten und dem Moralisch Bösen überhaupt erst möglich ist.“ (Herbert Schnädelbach: Zweite Abteilung: Der objektive Geist, in: Hermann Drüe et al. (Hrsg.): Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, Frankfurt a.M. 20163, 300). 10 Hegel: Enzyklopädie. Dritter Teil, § 503, 312.

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Subjekte gilt. Diese Einsicht bleibt allerdings wiederum insofern „abstrakt“ als es sich lediglich um eine Allgemeinheit der bloßen Vergleichung handelt. Gleichwohl führt diese bereits dazu, daß nun für das einzelne Subjekt das Wohl aller Subjekte – das „allgemeine Wohl“ – zum Zweck des eigenen Handelns wird11. Damit entsteht eine neue Form von Normativität, die sich unschwer in bestimmten Formen des Eudämonismus, aber durchaus auch im Utilitarismus wiederfinden läßt. Entscheidend ist, daß schon bei dieser Form der Normativität der Gegensatz von „Gut“ und „Böse“ im moralischen Sinn auftaucht. Es geht hier nicht mehr um „gut für p“ oder „schlecht für q“ wie noch auf der vorigen Stufe, sondern um „gut“ und „böse“ als Charakteristika des Willens eines Subjekts: Das „Gute“ wird dabei verstanden als das allgemeine Wohl und „gut“ ist derjenige Wille, der es anstrebt. Damit etabliert sich eine neue Form von normativem Denken, die sich von den vorigen Formen grundlegend unterscheidet, die lediglich den Unterschied zwischen „Recht“ und „Unrecht“ als Eigenschaften von Handlungen kannte, nicht aber „gut“ und „böse“ als Charakteristika des Wollens12. (3) Im dritten Schritt verschärft sich diese Konstellation noch, und zwar dadurch, daß zwei gravierende Widersprüche im Gedanken des individuellen Anstrebens des „allgemeinen Wohls“ deutlich werden. Beide Widersprüche liegen darin begründet, daß das „allgemeine Wohl“ einerseits die Verwirklichung der besonderen „Zwecke“ und „Wohle“ der individuellen Subjekte sein soll; andererseits soll jedes Subjekt sich aber die Verwirklichung der besonderen Zwecke aller Subjekte zum primären Zweck setzen. Das bedeutet aber, daß die Verwirklichung des allgemeinen Wohls für das einzelne Subjekt zur Pflicht13 wird. Diese Verwirklichung ist aber alleine schon deshalb unmöglich, weil die besonderen Zwecke miteinander kollidieren können. Für die Pflicht heißt das, daß sie als etwas gedacht wird, das der Einzelne erfüllen soll, das er aber zugleich doch nicht erfüllen kann, weil es unmöglich ist, alle besonderen Zwecke in Einklang zu bringen und zur Geltung kommen zu lassen14. Des weiteren führt jene Konstellation aber auch zu einem Widerspruch in der Struktur der Verfolgung von Zwecken selbst: das einzelne Subjekt hat die Pflicht statt seines eigenen Wohls das „allgemeine Wohl“ als Zweck anstreben, das aber doch wieder nichts anderes sein soll als die Summe aller individuellen „Wohle“, die nun aber gerade nicht mehr von den Individuen angestrebt werden sollen. Die Pflicht ist hier also bereits als etwas Allgemeines gedacht, das sich als solches gerade nicht aus dem Anstreben des eigenen Wohls, also nicht aus einem materiellen Zweck ergibt. Sie existiert nicht wegen der materiellen Zwecke, deren Ver11

Hegel: Grundlinien, § 130, 243 f. Hegel: Grundlinien, § 132, 245. 13 Hegel führt dazu aus: „Indem die Besonderheit von dem Guten unterschieden ist, und in den subjektiven Willen fällt, so hat das Gute zunächst nur die Bestimmung der allgemeinen, abstrakten Wesentlichkeit – der Pflicht; um dieser ihrer Bestimmung willen soll die Pflicht um der Pflicht willen getan werden.“ (Hegel: Grundlinien, § 133, 250). 14 Hegel: Enzyklopädie. Dritter Teil, § 508, 315. 12

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wirklichung sie zum Gegenstand hat, sondern alleine um ihrer selbst willen. Zugleich soll sie aber die Verwirklichung der materiellen Zwecke der individuellen Subjekte zum Gegenstand haben. Damit entsteht eine unauflösbare Spannung zwischen der Begründung der Pflicht zur Verwirklichung des allgemeinen Wohls und dem Inhalt dieser Pflicht. Beide weisen in völlig unterschiedliche Richtungen und implizieren einen völlig unterschiedlichen Begriff von „Allgemeinheit“. In der philosophischen Debatte der Gegenwart finden wir dieses Modell der Normativität im Grunde genommen in allen zeitgenössischen Versuchen, ein formales Universalisierbarkeitskriterium mit materialen Gehalten zu verknüpfen. Also etwa in Richard M. Hares Präferenzutilitarismus15 oder in Thomas M. Scanlons Gedanken der „reasonable rejection“16. Alle diese Modelle scheitern aber letztlich an dem eben skizzierten Grundwiderspruch. (4) Aus diesem Widerspruch in der metaethischen Konstellation einer „Pflicht zur Verwirklichung des allgemeinen Wohls“ führt viertens nur der Schritt heraus, den prominent Kant gegangen ist: nämlich die individuellen, materialen Zwecke ganz aus der Gleichung zu streichen und folglich das Gute nicht mehr in der materialen Allgemeinheit des Wohls, sondern in der rein formalen Allgemeinheit der Widerspruchsfreiheit zu verorten. Dieser Schritt hat dann allerdings wieder zur Folge, daß der Pflicht ihr materialer Gehalt und ihre materiale Ausrichtung abhanden kommt: es gibt nun zwar eine unbedingte und reine, aus der Struktur der Subjektivität folgende Pflicht. Aber es gibt eine systematische Leerstelle bei der Frage, wozu diese Pflicht über die bloße Übereinstimmung mit sich selbst hinaus überhaupt noch verpflichtet. Bei diesem Problem setzt denn auch Hegels notorische Kritik am Kantischen „Formalismus“ in der Ethik an. Nach dieser Kritik fordere die Kantische (und übrigens auch die Fichtesche) Ethik letztlich nur Allgemeinheit und Übereinstimmung mit sich selbst; diese Übereinstimmung mit sich selbst sei aber gleichgültig gegenüber allen Inhalten, so daß sich mit ihr beispielsweise ebensosehr ein Verbot des Diebstahls wie eine allgemeine Erlaubnis des Diebstahls begründen lasse17. Diese Kant-Kritik ist ihrerseits vielfach kritisiert worden; sie scheint mir im Kern aber zutreffend zu sein, was man sich leicht anhand des Diebstahls verdeutlichen kann. Dabei soll einmal von einer Situation ausgegangen werden, in der ein Subjekt stiehlt, um sich zu bereichern. Wird die Frage nach der Zulässigkeit dieses Diebstahls nun in moralischer Hinsicht, d. h. anhand des Kategorischen Imperativs geprüft, so wird man feststellen, daß die Maxime, dann zu stehlen, wenn man sich bereichern möchte, nicht widerspruchsfrei verallgemeinerbar ist. Denn der Dieb würde ja das Eigentum eines anderen Subjekts mißachten, um den gestohlenen Gegenstand in sein Eigentum zu bringen. Er würde also eine Institution, hier die des 15 Vgl. Richard Mervyn Hare: Moral Thinking: Its Levels, Method, and Point, Oxford / New York 1981. 16 Vgl. Thomas Michael Scanlon: What We Owe to Each Other, Cambridge (Mass.) 1998. 17 Hegel: Grundlinien, § 135, 253.

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Eigentums, zugleich verletzen und in Anspruch nehmen, was offenkundig widersprüchlich ist. Anderes würde aber für einen hypothetischen „Proudhonschen Dieb“ gelten, der nicht stiehlt, um sich selbst das Gestohlene anzueignen, sondern um die Institution des Eigentums selbst zu Fall zu bringen. Diesem könnte keinerlei Selbstwiderspruch für den Fall einer Verallgemeinerung seiner Handlungsmaxime nachgewiesen werden. Schon dieses recht einfache Gedankenexperiment zeigt, daß Hegels Formalismus-Kritik tatsächlich Bestand hat. (5) Das Normativitätsmodell der „Moralität“ vollzieht angesichts dieser Problematik schließlich in einem fünften Schritt seine nächste Volte. Gerade weil das Allgemeine auf der im allerweitesten Sinn „Kantischen“ Ebene keinen materialen Gehalt mehr hat, sondern rein formalen Charakter besitzt, läßt es sich nun wiederum mit beliebigen, idiosynkratischen Inhalten füllen. Das Besondere macht sich am formal Allgemeinen gleichsam „durch die Hintertür“ wieder geltend, indem irgendein Inhalt, der irgendeinem individuellen Subjekt wichtig oder bedeutsam erscheint, zum Fluchtpunkt moralischer Forderungen erhoben wird. Hegel analysiert diese Konstellation der Moralität in der Phänomenologie des Geistes ausführlich unter dem bezeichnenden Titel: „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels“18. Indem nun aber das Allgemeine mit einem beliebigen idiosynkratischen Inhalt gefüllt wird, tritt nun zugleich der idiosynkratische Inhalt mit dem Anspruch auf, das moralisch einzig Richtige, unbedingt Verpflichtende für alle zu sein. Es wird ihm von der Subjektivität gewissermaßen die Form der Allgemeinheit und Unbedingtheit verliehen; diese Form der Allgemeinheit und Unbedingtheit steht aber in einem vollkommenen Widerspruch zu der nach wie vor bestehenden Partikularität und Arbitrarität des Inhalts. Gleichwohl soll die gesamte Welt nach den Vorgaben dieses partikularen und arbiträren Inhalts umgestaltet werden, da er ja eben mit dem Anspruch der Unbedingtheit und Allgemeinheit auftritt. An diesem Widerspruch scheitert diese Form der Moralität schließlich. Aktuelle Beispiele für eine solche Denkweise findet man etwa in aktuellen philosophischen Gender- und Queer-Theorien à la Judith Butler19 oder allgemeiner gesprochen in den meisten Formen der sogenannten „Identitätspolitik“. Daneben gibt es eine weitere Variante des besagten Normativitätsmodells, die in vielen Hinsichten sogar problematischer ist. Bei ihr wird aus der Inhaltslosigkeit der formalen Allgemeinheit der Subjektivität die Forderung hergeleitet, daß jegliche Besonderheit, Partikularität oder Bestimmtheit keinen Bestand haben dürfe. In dieser Variante wird also das inhaltslose, unbestimmte, abstrakte Allgemeine gegen Besonderheit und Bestimmtheit in Anschlag gebracht. Bestimmtheit und Besonderheit müssen demnach da, wo sie noch existieren oder sich neu formieren sofort zum Verschwinden gebracht werden. Dementsprechend beruft sich diese Variante 18

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in ders.: Werke in 20 Bänden, Band 3, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986, 275 ff. 19 Vgl. etwa Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 2003.

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der Moralitätsnormativität üblicherweise auf das Prinzip der Gleichheit bzw. das Prinzip einer strikt egalitaristisch verstandenen „Gerechtigkeit“. Dabei ist mit Gleichheit aber nicht alleine die formale Gleichheit vor dem Gesetz oder die Gleichheit hinsichtlich unbedingt geltender Abwehrrechte gemeint, sondern eine Gleichheit in jeder formalen und jeder materialen Hinsicht. Jegliche Differenz und Besonderheit, vor allem jede partikulare sittliche Bindung, hat vor dieser umfassenden, bestimmungslosen Gleichheit zu verschwinden. Hegel hat diese Stufe der Moralität in dem berühmten Kapitel der Phänomenologie „Die absolute Freiheit und der Schrecken“20 eingehend analysiert. In ihrer aktuellsten politisch-philosophischen Variante findet man eine solche Position etwa in den Diskursen zur Migrationsfrage bzw. zum „Multikulturalismus“. Hier ist bei vielen Theoretikern21, ebenso wie in einem recht großen Teil der veröffentlichten Meinung westlicher Länder, insbesondere Deutschlands, immer wieder die Auffassung zu finden, daß alleine die Existenz von Staatsgrenzen, daß alleine der Unterschied zwischen allgemeinen Menschenrechten und nur für Staatsbürger geltenden Bürgerrechten oder daß alleine die Existenz von Nationalstaaten, die sich als die staatliche Organisationsform einer bestimmten, von anderen Nationen unterschiedenen Nation begreifen, mit dem Gedanken universeller Menschenrechte und Menschenwürde unvereinbar seien. Schon der bloße Gedanke, daß es überhaupt unterschiedliche kulturelle Identitäten gibt, gilt den Vertretern einer solchen Position oft bereits als faschismusverdächtiger „Kulturalismus“, als „Rassismus ohne Rassen“ oder – um einen Begriff aus der aktuellen deutschen Debatte zu verwenden – als „Menschenfeindlickeit“. Begründet wird ein solcher Vorwurf damit, daß jede partikulare sittliche Bindung bzw. jede partikulare institutionelle Ordnung immer eine ganze Reihe von Menschen ausschließen würden und damit „gegen Menschen“ gerichtet sei. Dabei ist der erste Teil der Behauptung natürlich richtig: Freundschaft exkludiert immer diejenigen, mit denen man nicht befreundet ist. Ehe exkludiert immer diejenigen, mit denen man nicht verheiratet ist. Nationalstaaten exkludieren immer diejenigen, die nicht Teil der Nation sind. Daß das aber überhaupt als moralischer Vorwurf erhoben wird, enthüllt, welcher Gedanke hinter dieser Position steht: Der Gedanke nämlich, daß alles, was nicht in einem strikten Sinn für alle Menschen überhaupt gilt, eben darum von vorneherein moralisch falsch und unzulässig sei und darum zerschlagen werden müsse. Dementsprechend plädieren die Vertreter solcher Positionen denn auch in der Regel für die Negation von Staatsgrenzen und Nationalstaaten mit dem Ziel, daß „Staaten“ allenfalls noch eine Art beliebiger, neutraler Verwaltungseinheiten für unverbunden nebeneinanderher lebende, austauschbare, geschichts- und bindungslose Individuen darstellen sollen. 20

Hegel: Phänomenologie, 431 – 441. Vgl. in der Migrationsethik exemplarisch die Position von Joseph Carens: The Ethics of Immigration, Oxford 2013, der alle Institutionen, insbesondere Staatsgrenzen, die einen Unterschied zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern realisieren, als unmoralisch ablehnt. 21

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Es gibt daneben freilich noch eine abgemilderte Subvariante dieser Position, die ich hier nur der Vollständigkeit halber erwähnen möchte. Nach dieser Variante dürfen Bestimmtheit und Besonderheit zwar existieren; das aber nur als die jederzeit rücknehmbare, schon in sich nichtige Setzung einer für sich genommen unbestimmten, welt- und körperlosen Subjektivität. Auch letzteres findet man etwa in aktuellen „Gender“-Debatten, in denen das Geschlecht als ein bloßes „soziales Konstrukt“ beschrieben wird, das als solches dann vom einzelnen Subjekt vermeintlich beliebig zurückgewiesen, affirmiert oder „umkonstruiert“ werden kann. Ähnliches gilt aus der Perspektive der „Moralisten“ im Hinblick auf kulturelle und religiöse Identitäten, die den „Moralisten“ nur unter der Bedingung als normativ akzeptabel gelten, daß sie von den Trägern jener Identitäten als prinzipiell nichtig und politisch-gesellschaftlich irrelevant zugestanden werden (so schon im „politischen Liberalismus“ à la John Rawls22). Dementsprechend werden Bestimmtheit und Besonderheit hier zwar nicht vollständig negiert, aber gleichwohl bekämpft, sobald sie politische oder gesellschaftliche Wirklichkeit zu erlangen „drohen“. Der Allgemeinheits- und Unbedingtheitsanspruch, mit dem entweder ein beliebiger idiosynkratischer Inhalt oder aber – in der zweiten Variante und ihrer Subvariante – das Anliegen der Negation aller besonderen sittlichen Bindungen und Identitäten nun versehen sind, führt unvermeidlich in eine Haltung, die heute oft nicht unzutreffend als „Gutmenschentum“ oder „Moralisieren“ bezeichnet wird. Sie zeigt sich vordringlich im Umgang mit Individuen, die anderer Auffassung sind als der „Moralist“: Da seine Auffassung aus seiner Perspektive einen Anspruch der Unbedingtheit und Allgemeinheit besitzt, kann derjenige der anderer Auffassung ist, nicht mehr als Vertreter einer legitimen anderen Meinung betrachtet werden. Denn wenn er von der Meinung des „Guten“ abweicht, dann kann das ja nur daran liegen, daß der Dissident ein unmoralischer, ein böser Mensch ist. Das Böse aber darf natürlich mit allen Mitteln bekämpft werden. Das beginnt mit sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung und geht über Denunziation, Diffamierung, Arbeitsplatzverlust und finanzielle Benachteiligungen bis hin zu Sachbeschädigung und körperlicher Gewalt im Namen des einzig „Guten“. Darin zeigt sich dann auch schon der grundlegende Unterschied zwischen dem, was Hegel „Moralität“ nennt und wahrer Tugendhaftigkeit, denn ein tugendhafter Mensch würde all das anderen Menschen sicherlich nicht antun. Hegel weist dementsprechend in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ ganz zutreffend daraufhin, daß der Satz „Der (gute) Zweck heiligt die (bösen) Mittel“ nicht ein Nebeneffekt des Moralismus ist, sondern seinen eigentlichen systematischen Kern ausmache: „In dem abstrakten Guten ist der Unterschied von gut und böse und alle wirklichen Pflichten verschwunden; deswegen bloß das Gute wollen und bei einer Handlung eine gute Absicht haben, dies ist so vielmehr das Böse.“23 Weder im Rahmen des „abstrakten Rechts“, noch im Rahmen der Sittlichkeit wäre ein solches Auseinanderfallen von 22 23

Vgl. John Rawls: Politischer Liberalismus, Frankfurt a.M. 2003. Hegel: Grundlinien, § 140, 271.

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„gutem Zweck“ und „bösen Mitteln“ denkbar, geschweige denn ein Legitimieren von „bösen Mitteln“ mit einem „guten Zweck“. Einzig und alleine im Normativitätsmodell der „Moralität“ ist dergleichen denkbar. Darin aber, daß es im Rahmen des Normativitätsmodells der Moralität möglich ist, böse Mittel für legitim und moralisch gerechtfertigt zu halten, erweist sich schließlich das Böse selbst als die wahre Natur des Normativitätsmodells der „Moralität“. Vor diesem Hintergrund wird denn auch deutlich, worin die eigentliche Stoßrichtung von Hegels Kritik der Moralität liegt: es handelt sich keineswegs um eine pauschale Kritik an Normativität als solcher oder an so etwas wie „Sollen“ oder „Pflicht“. Vielmehr geht es um eine meta-normative Kritik an einem bestimmten Modell von Normativität und einem bestimmten Verständnis von „Pflicht“. In diesem Sinn schreibt auch Schnädelbach: „Für Hegel schafft die Formalismus-These die Entlastung von der Aufgabe, im Feld der Moralität eine ethische Pflichtenlehre zu entwickeln; dies geschieht tatsächlich erst im Kapitel „Die Sittlichkeit“ […] und so ist es unzutreffend zu behaupten, bei Hegel fehle die Ethik: Sie ist nur nicht im Kapitel „Die Moralität“ zu finden.“24 Das Grundproblem der skizzierten Konstellationen des Normativitätsmodells der „Moralität“ liegt offenkundig darin, daß der „Moralität“ eine genuine Dimension von Intersubjektivität fehlt. Das Allgemeine wird hier nur aus der Perspektive des isolierten Subjekts bzw. aus der Perspektive einer nicht-situierten, abstraktallgemeinen, identitätslosen „Subjektivität als solcher“ greifbar, nicht aber von der Intersubjektivität her. Das gilt sowohl für den Fall, daß der idiosynkratische Zweck eines Einzelnen zum vermeintlich Allgemeinen erhoben wird, als auch für den Fall, daß die Negation jeder Bestimmtheit, jeder besonderen Bindung zum zentralen Zweck der Moral erhoben wird. In beiden Fällen gilt die bindungslose, alles aus sich selbst hervorbringende Subjektivität als der letzte Bezugspunkt der Normativität. Im ersten Fall, indem das Besondere gänzlich unvermittelt als Allgemeines gesetzt wird. Im zweiten Fall, indem die Allgemeinheit der subjektiven Selbstbezüglichkeit in einem Gegensatz zur jeglicher Besonderheit und Bestimmtheit gedacht wird, so daß jede Bestimmtheit und jede partikulare soziale und/oder tradierte Bindung vermeintlich zerstört werden müssen, um dem (abstrakten) „Guten“ Wirklichkeit zu verschaffen. Hinter beidem steht mithin ein Begriff von Freiheit, bei dem Freiheit verstanden wird als die reine, negative Selbstbezüglichkeit einer gerade darum unbestimmten, vermeintlich „allgemeinen“ Subjektivität. „Frei“ ist nach diesem Verständnis von Freiheit nur derjenige, der sich aus allen Bindungen löst und alle Bestimmtheiten, die ihn als konkretes Subjekt ausmachen könnten, negiert. Dieses vermeintlich „freie“ Subjekt ist dann gewissermaßen eine tabula rasa, die es selbst mit beliebigen Inhalten füllen kann; das aber so, daß letztlich keiner dieser Inhalte es wirklich als das ausmacht, was es ist. 24

Schnädelbach: Der objektive Geist, 301.

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IV. Hegels Begriff der sittlichen Freiheit Damit wird nun aber auch schon deutlich, worin die Alternative zu einem solchen Modell von Normativität besteht: Darin nämlich, die vielfältigen intersubjektiven Bindungen, in denen Menschen immer schon stehen und in denen sie sich aufeinander beziehen, als dasjenige zu verstehen, was einem Subjekt seine individuelle Bestimmtheit – modern gesprochen: seine „Identität“ – erst gibt. Wenn das der Fall ist, kann Freiheit verstanden werden als eine positive Verwirklichung seiner selbst im Bezug auf konkrete andere Subjekte, die ihre Freiheit ebenso nur im Bezug auf andere konkrete Subjekte verwirklichen können. Dieses Modell von Normativität ist es, das Hegel „Sittlichkeit“ nennt. Ich möchte das Normativitätsmodell der Sittlichkeit, über das natürlich noch viel mehr zu sagen wäre, kurz am Beispiel der Freundschaft erläutern, bevor ich zu meinen abschließenden Bemerkungen komme. Ich wähle damit ein Beispiel, das bei Hegel explizit gar nicht vorkommt, aber eben dadurch den Vorteil hat, nicht – wie etwa Liebe, Familie, Korporation und Staat – durch Vormeinungen und eine lange Interpretationsgeschichte belastet zu sein. Die Freundschaft verdeutlicht den Gedanken des „Beisich-Seins-im Anderen“ zudem sogar geradezu in exemplarischer Weise. Nehmen wir also an, Peter und Paul sind seit der Schulzeit gute Freunde. Aus der Perspektive von Peter bedeutet das, daß er ein wichtiges Moment seiner personalen Identität aus dem Umstand bezieht, auf Paul in der Weise der Freundschaft bezogen zu sein. Paul wiederum bezieht ebenso ein wichtiges Moment seiner personalen Identität aus dem Umstand, mit Peter befreundet zu sein. Indem Peter sich also auf Paul als seinen Freund bezieht, bezieht er sich vermittelt wiederum auf sich selbst. Wichtig ist dabei, daß dasjenige Moment von Peters personaler Identität, das darin besteht „Freund von Paul“ zu sein in dieser Rückbeziehung überhaupt erst konstituiert wird. Das bedeutet, daß die Beziehung der Freundschaft immer mindestens zweiseitig sein muß. Würde Paul den Peter nicht ebenso als Freund betrachten und behandeln wie Peter den Paul als Freund betrachtet und behandelt, dann würde Peter sich nicht in der Freundschaft mit Paul auf sich selbst beziehen und umgekehrt. Eine einseitige Freundschaft, die nur von einer der beiden Personen ausgehen würde, wäre dementsprechend überhaupt keine Freundschaft, sondern lediglich ein subjektives Gefühl einer der beiden Personen. Niemand kann Freundschaft, Liebe, Nationalbewußtsein oder Gruppensolidarität für sich alleine realisieren. Das bedeutet aber – und dieser Punkt ist in Abgrenzung zum Normativitätsmodell der Moralität zentral –, daß eine soziale Beziehung wie die Freundschaft überhaupt nur als intersubjektive existieren kann. Das Sein sittlicher Beziehungen ist dementsprechend ein Sein, das über das einzelne Subjekt mit seiner formalen Selbstbezüglichkeit immer schon hinausgeht. Der Selbstbezug des Subjekts ist also auf der Stufe der Sittlichkeit nicht mehr formaler und darum unmittelbarer Selbstbezug, sondern Selbstbezug, der sich über den Bezug zu einem anderen Subjekt vermittelt, für das ebendies auch gilt. Dadurch gewinnt der wechselseitige Bezug dann auch materiale Gehalte, nämlich diejenigen wechselseitigen Verpflichtungen,

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die sich aus der inneren Logik der Freundschaftsbeziehung ergeben. Wenn es für sittliche Beziehungen und Bindungen aber charakteristisch ist, daß sie nur als intersubjektiv überhaupt existieren, dann gilt zweierlei: Erstens sind die zwei oder mehr Subjekte, die in einer sittlichen Beziehung zueinander stehen, die Teile eines umfassenderen Ganzen; das aber so, daß jeder von ihnen dieses Ganze in sich begreift. Freundschaft, Liebe etc. machen aus den Individuen eine neue Einheit, die es aber nur gibt, soweit alle Beteiligten diese Beziehungen anerkennen und leben. Gemeinsam verwirklichen sie ein Drittes, das sie beide als Individuen übersteigt, in dem sie aber zugleich erhalten bleiben und ihre eigentliche Wirklichkeit als diejenigen gewinnen, die sie sind. Damit verändert sich das Verhältnis von Allgemeinheit und Individualität grundlegend: die verschiedenen Subjekte sind nicht mehr „besondere“ Subjekte, die als solche im Gegensatz zum Allgemeinen stehen, das dadurch dann auch ein abstraktes Allgemeines wäre. Vielmehr werden sie nun zu im Hegelschen Sinn „Einzelnen“, d. h. Individuen, die ihre personale Identität gerade dem Umstand verdanken, Momente eines Allgemeinen zu sein, das aber wiederum ohne sie nicht existieren würde. In diesem Sinn redet Hegel dann – vielleicht etwas mißverständlich, weil es eine Hypostasierung der Anerkennungsrelation zu einer Art „Supersubjekt“ nahelegen könnte – von den sittlichen Verhältnissen als der „Substantialität oder [dem] allgemeinen Wesen der Individuen.“25 Zweitens ergibt sich auf der Stufe der Sittlichkeit ein neuer Begriff von Pflicht. „Pflicht“ hat nun nicht mehr den bloß formalen Gehalt einer Übereinstimmung der Subjektivität mit sich selbst, sondern es gibt nun materiale Pflichten der Individuen, die aus denjenigen sittlichen Beziehungen resultieren, durch die sich ihre personale Identität konstituiert. Im Fall der Freundschaft wäre das z. B. schon eine so einfache Pflicht wie diejenige, dem Freund bei einem Umzug zu helfen. Wichtig ist dabei, daß die Erfüllung der entsprechenden Pflichten zugleich die Verwirklichung der sittlichen Beziehung (und damit des Allgemeinen) selbst ist. Eine andere Wirklichkeit als diese weisen die sittlichen Beziehungen nicht auf: Wenn Peter seinem Freund Paul nicht beim Umzug hilft, sondern lieber ins Kino geht, dann hat die Freundschaft zwischen beiden keine Wirklichkeit. Sie existiert „in Wirklichkeit“ (im doppelten Sinn des Wortes genommen) überhaupt nicht. Das bedeutet drittens, daß Freiheit nun nicht mehr die Form der Herrschaft über Gegenstände hat (wie im „Abstrakten Recht“), aber auch nicht darin besteht, sich beliebige subjektive Zwecke zu setzen und diese zu verwirklichen (wie in der „Moralität“). Denn es ist ja gerade die Pointe der sittlichen Beziehungen, daß ihr Sein intersubjektiven Charakter besitzt. Damit können sie nur gemeinsam verwirklicht werden. Niemand kann eine Freundschaft, eine Ehe, eine kulturelle oder religiöse Gemeinschaft, eine Nation oder eine kulturelle Identität alleine verwirklichen. Da die sittlichen Beziehungen aber in ihrer Gesamtheit konstitutiv für die personale Identität eines Individuums sind, kann dieses auch sich selbst nur dadurch 25

Hegel: Grundlinien, § 145, 294.

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verwirklichen, daß es die Pflichten lebt, die sich aus den entsprechenden Beziehungen ergeben. Würde Peter etwa versuchen, in der Freundschaft mit Paul nur seine eigenen Interessen auf Kosten von Paul zu verwirklichen, dann gäbe es die Freundschaft zwischen beiden nicht. Weder Paul, noch Peter könnten dann ihr Selbstverständnis als Individuen aus der Freundschaft beziehen. Nur gemeinsam können Peter und Paul ihre Freundschaft verwirklichen und da sie das, was sie sind, nur in ihrer Freundschaft sind, besteht Selbstbestimmung für Peter und Paul darin, eben das zu tun, was ihre Freundschaft fordert. Freiheit im eigentlichen Sinn von Selbstbestimmung ist dementsprechend überhaupt nur in Gemeinschaften möglich. Eine Freiheit, die wie die Vertreter der Normativitätskonzeption der „Moralität“ meinen, vor der Gemeinschaft gegeben wäre oder sich gegen sie verwirklichen ließe, gibt es nicht. V. Schlußfolgerungen Das Normativitätsmodell der Sittlichkeit bildet in Hegels Konzeption die letzte und unüberbietbare Form der Normativität, da erst die Sittlichkeit eine nicht-defizitäre Vermittlung von besonderem Willen und Allgemeinheit darstellt. Insofern eröffnet sie die Möglichkeit einer intersubjektiv vermittelten Freiheit, d. h. einer Freiheit, die sowohl über die vergegenständlichte Freiheitform des Eigentums, als auch über die rein subjektivistisch verstandene Freiheit der „Moralität“ hinausweist. Die Sittlichkeit ist damit die Antwort auf die Grundfrage der Lehre des objektiven Geistes, wie eine Pluralität von Individuen ein Allgemeines sein kann, ohne daß Freiheit und Pluralität in einem „abstrakten Allgemeinen“ verschwinden, das durch Vergleichung oder durch Absehen von aller Besonderheit hervorgebracht würde. Alle vorangehenden Stufen des objektiven Geistes können ebendies nicht leisten. Sie können daher nur jeweils in der Hinsicht Geltung beanspruchen, in der sie in einem Bezug auf die Sittlichkeit stehen. Für das „Abstrakte Recht“ bedeutet das etwa, daß es lediglich einen bestimmten Teilaspekt des Rechts in einem bestehenden, sittlich geordneten Staat abdeckt: denjenigen Teil nämlich, der die Abgrenzung der Herrschaft über äußere Gegenstände zwischen den Subjekten regelt. Sittliche Bedeutung gewinnt diese Abgrenzung von Freiheitssphären aber nur und erst in der Sittlichkeitsfigur der „Bürgerlichen Gesellschaft“ und schließlich in der des Staates. Ein Staat, der in Abweichung davon versuchen würde, die rechtlichen und institutionellen Beziehungen zwischen Subjekten insgesamt nach dem Muster des Eigentumsrechts zu gestalten, würde eben dadurch die verwirklichte Freiheit verfehlen. In ähnlicher Weise hat die Moralität in der Hinsicht einen Platz im sittlichen Staat, sofern sie überhaupt erst das Prinzip der Subjektivität in seiner Relevanz für normative Fragen zur Geltung bringt. Das geschieht zum einen in dem Sinn, daß die Moral das Recht um die Begrifflichkeiten des Vorsatzes, der Intention, der Schuld, der Verantwortung etc. ergänzt und vertieft. Zum anderen, indem erst im Rahmen der Moral der legitime Anspruch formulierbar wird, daß Gesetze und Institutionen gegenüber der Subjektivität reflexiv rechtfertigbar sein müssen.

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Von der verwirklichten, nicht-defizitären Freiheit der Sittlichkeit her ergibt sich insofern die Möglichkeit, Gesetze, Institutionen und politische Ideen auch normativ zu beurteilen, d. h. als richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen zu bewerten. Vom Maßstab der Sittlichkeit her gedacht erscheinen beispielsweise einerseits Gesetze, Institutionen und politische Ideen als problematisch, bei denen versucht wird, „Abstraktes Recht“ und „Moralität“ aus ihren Bezügen zur Sittlichkeit herauszulösen. Das ist etwa der Fall, wenn versucht wird, eine der oben geschilderten verfehlten Formen der „Moralität“, eine Art „Moralismus“, zum Maßstab der gesellschaftlichen Praxis und des Rechts zu machen. Die Kritik daran müßte darauf abheben, daß ein solcher Versuch auf einer defizitären Konzeption der Grundlagen von Normativität beruht und deshalb nicht zum Prinzip des politischen und gesellschaftlichen Handelns gemacht werden sollte. Andererseits müßte Kritik aber auch da greifen, wo die legitimen Ansprüche freier Subjektivität mißachtet werden. Das wäre etwa der Fall, wenn die Abgrenzung der Freiheitssphären durch das Recht negiert würde, wenn (wie bei der von Hegel konsequent kritisierten Sklaverei) fundamentale Ungleichheiten vor dem Gesetz eingeführt oder wenn das Schuldund Verantwortungsprinzip aus dem Recht gestrichen würde. Auch solche Unterfangen könnten mit Fug und Recht als etwas kritisiert werden, das dem Gedanken der intersubjektiv vermittelten Freiheit widerspricht und daher in einem sittlichen Staat bzw. einem sittlichen Rechtssystem nicht geschehen sollte. Literatur Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 2003. Carens, Joseph: The Ethics of Immigration, Oxford 2013. Hare, Richard Mervyn: Moral Thinking: Its Levels, Method, and Point, Oxford / New York 1981. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil, in: ders.: Werke in 20 Bänden, Band 10, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: ders.: Werke in 20 Bänden, Band 7, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke in 20 Bänden, Band 3, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986. Ostritsch, Sebastian: Hegels Rechtsphilosophie als Metaethik, Paderborn 2014. Quante, Michael: Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Berlin 2011. Rawls, John: Politischer Liberalismus, Frankfurt a.M. 2003. Scanlon, Thomas Michael: What We Owe to Each Other, Cambridge (Mass.) 1998.

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Schnädelbach, Herbert: Zweite Abteilung: Der objektive Geist, in: Drüe, Hermann et al.: Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, Frankfurt a.M. 20163. Tugendhat. Ernst: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a.M. 19894.

Subjektive Wurzeln der Rechtsnormen. Die Matrix der institutionellen Welt bei Hegel Esteban Mizrahi (Buenos Aires) I. Einleitung Das Phänomen, daß Bürger in ihrem täglichen Verhalten die Normen und Regeln nicht befolgen, auf deren grundsätzliche Geltung sie sich – im Sinne des Gebrauchs öffentlicher Vernunft – geeinigt haben, könnte eine Art „Anomie“ genannt werden. Nimmt man die Geltung dieser Definition an, dann würde hier mit „Anomie“ vor allem ein Mißverhältnis von zwei verschiedenen Ebenen des Verhaltens dem Recht gegenüber bezeichnet. Auf der einen Ebene werden Rechtsnormen als öffentlich geltende Verhaltensregeln akzeptiert, auf der anderen reichen diese Normen nicht aus, um ein entsprechendes öffentliches Verhalten auch zu motivieren, das sich, ganz im Gegenteil dazu, an anderen, unformulierten Verhaltensregeln orientiert. Da sich aber im modernen Rechtsstaat der souveräne Wille gerade durch Rechtsnormen ausdrückt, lautet die Frage nun: Warum ist die grundsätzliche Bejahung des Rechts nicht zureichende, um eine gesellschaftliche Realität zu errichten, in der die Bürger in ihrem öffentlichen Verhalten ihre persönlichen Interessen soweit zurückstellen, daß eine umfassende Herrschaft des Rechts gewährleistet ist? Oder anders formuliert: Wie ist es möglich, daß die beanspruchte Vereinigung von praktischer Vernunft und souveränem Willen – ein Postulat, das von Rousseau verkündet, von der Französischen Revolution umgesetzt und von Kant formalisiert wurde – scheitern kann? Mit diesem Problem sieht auch Hegel sich konfrontiert, wenn er auf die Frage des positiven Rechts kommt – das Phänomen der „Anomie“ stellt dabei nur eine Facette dieses komplexen Problems dar. Um eine Antwort auf die hier gestellte Frage zu finden, muß man nach der subjektiven Grundlage der Rechtsnormativität suchen, also nach den subjektiven Wurzeln des positiven Rechts. Dazu gilt es, Hegels Berliner Enzyklopädie genauer zu betrachten, in der – so die These des folgenden Beitrags – Hegel die subjektive Matrix der institutionellen Welt herausstellt. Die Unterscheidung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Geist spielt in Hegels Werk eine doppelte Rolle: Zum einen entspricht sie den systematischen Anforderungen seiner Philosophie, zum anderen ist sie für das Verständnis der subjektiven Wurzeln, die eine Staatsverfassung auf Basis des positiven Rechts ermöglichen, unerläßlich. Subjektiver Selbstvollzug ist Voraussetzung für die for-

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melle wie materielle Wirksamkeit von Rechtsnormen. Diese Subjektivität ermöglicht die Etablierung einer Gesetzgebung mit intersubjektiver Bedeutung, in der der Rechtsstaat Wirklichkeit erlangt. Hegel weicht von der gesamten Tradition der Rechtsphilosophie insofern ab, als er Rechtsinstitute nicht auf die Natur, einen Gesellschaftsvertrag oder auf historische Gegebenheiten zu gründen versucht, sondern sie von den Erfordernissen einer vernünftigen Willensstruktur ableitet. In diesem Aufsatz möchte ich die zentrale Rolle von zwei subjektiven Fähigkeiten in Hegels Auffassung des positiven Rechts beleuchten: Intelligenz im Allgemeinen und Erinnerung im Besonderen. Diese beiden subjektiven Fähigkeiten sind die Voraussetzung dafür, daß Rechtsnormen von den Bürgern mit innerer Überzeugung befolgt werden können, weil eine entsprechende Gesinnung und nicht ein mehr oder weniger willkürlicher Machtakt die Quelle ihrer Wirksamkeit ist. Deshalb erlangt die Person als allgemeine Gestalt, die auf objektive Weise individuelle Rechte und Pflichten artikuliert, nur in der Sittlichkeit Wert und Anerkennung. II. Das positive Recht In § 3 der Rechtsphilosophie1 erklärt Hegel, daß das Recht in Form und Inhalt positiv sei: „Das Recht ist positiv überhaupt a) durch die Form, in einem Staate Gültigkeit zu haben, und diese gesetzliche Autorität ist das Prinzip für die Kenntnis desselben, die positive Rechtswissenschaft.“ Aber anders als später im Positivismus gilt Hegel dieses Kriterium weder als das einzige noch als das wichtigste. Im Gegenteil, er betont sofort, daß es vor allem der Inhalt sei, der das Recht positiv mache: „Dem Inhalte nach erhält dies Recht ein positives Element a) durch den besonderen Nationalcharakter eines Volkes, die Stufe seiner geschichtlichen Entwicklung und den Zusammenhang aller der Verhältnisse, die der Naturnotwendigkeit angehören; b) durch die Notwendigkeit, daß ein System eines gesetzlichen Rechts die Anwendung des allgemeinen Begriffes auf die besondere von außen sich gebende Beschaffenheit der Gegenstände und Fälle enthalten muß – eine Anwendung, die nicht mehr spekulatives Denken und Entwicklung des Begriffes, sondern Subsumtion des Verstandes ist; c) durch die für die Entscheidung in der Wirklichkeit erforderlichen letzten Bestimmungen.“2 In seinen Heidelberger Vorlesungen über Rechtsphilosophie von 1817/183 erklärt Hegel, daß das Recht durch seine Form positiv werde, wenn es in einem Staat 1 Georg Wilhelm Friederich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Rph), in: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu edierte Ausgabe, hg. von Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus, Frankfurt/M. 1971. 2 Hegel: Rph § 3. 3 Georg Wilhelm Friederich Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19), Karl-Heinz Ilting (Hg.): Stuttgart 1983. [Heidelberger Vorlesungen = VRph 17/18 und Berliner Vorlesungen = VRph 18/19].

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Gültigkeit besitze und als Autorität anerkannt werde. Die Anerkennung durch die Bürger bilde das zentrale Element, das das Recht formal positiv mache. Diese Anerkennung kann jedoch verschiedene Gründe haben. Rechtsnormen können aus Furcht anerkannt werden, aus Zwang, aus Glauben oder aus Zutrauen, oder sie werden aus vernünftigen Gründen als rechtsgültige Verhaltensregeln beachtet. Aus einer rein formellen Perspektive betrachtet, sei es irrelevant, aus welchen Gründen eine als Staat organisierte Gemeinde Rechtsnormen als gültig anerkenne4. Ganz wesentlich dagegen sei die Tatsache, daß die Bürger des Staates die Rechtsnormen beachten. Andernfalls gebe es weder einen Staat noch positives Recht. In bezug auf den Inhalt des Rechts argumentiert Hegel, daß eine Gesetzgebung generell aus einer Mischung aus Urteilen und Festlegungen bestehe, die teils vernünftig, teils zufällig und willkürlich seien. Dies entspreche dem Bedürfnis, das Recht an sich zum positiven Recht zu machen, wodurch es Wirklichkeit erlange. Dabei spielen in dieser äußeren Sphäre die besonderen Existenzbedingungen jeder Nation, in deren Handlungskontext das Vernunftsrecht angewendet werden müße, eine entscheidende Rolle5. Da das positive Recht sowohl eine Form als auch Inhalt besitzt, kündigt Hegel in der Einleitung zur Rechtsphilosophie – getreu seiner expositorischen Methode – an, daß er das Thema im dritten Teil seines Werks behandeln werde, in dem es um die Sittlichkeit geht. In diesem Teil werden das abstrakte Recht, das Naturrecht beziehungsweise das Recht an sich zu positivem Recht6. Und so findet sich erst in § 211 dafür die erste Definition: „Was an sich Recht ist, ist in seinem objektiven Dasein gesetzt, d.i. durch den Gedanken für das Bewußtsein bestimmt und als das, was Recht ist und gilt, bekannt, das Gesetz; und das Recht ist durch diese Bestimmung positives Recht überhaupt“7. Hegel zufolge bezeichnet positives Recht die Existenz von Gesetzen, die von den Mitgliedern der Gemeinschaft öffentlich als rechtskräftig anerkannt werden. Das Problem besteht nun darin, herauszufinden, um welche Art Anerkennung es sich handelt. Eine rein abstrakte Akzeptanz, die nicht zur Anwendung geregelter Verhaltensweisen führt, reicht auf keinen Fall aus. Es bedarf eines Gedankens als Ergebnis der subjektiven Aktivität der Gemeinschaftsmitglieder, in der das Bewußtsein für die Gültigkeit und Autorität des Gesetzes entstanden ist. Aus demselben Grund besteht die Anerkennung nicht aus einer lediglich irrationalen Akzeptanz irgendeiner Gesetzgebung. Sie ist nur möglich, indem eine Rechtsstruktur angenommen wird, die eine kohärente Artikulation aller auf abstrakte, durch das Ver4

Hegel: VRph 17/18 § 1 A. Hegel: VRph 17/18 § 1 A und VRph 18/19 § 2. 6 Hegel: Rph § 3 A. 7 Hegel: Rph § 211. Eine ähnliche Definition steht bereits in den Berliner Vorlesungen über Rechtsphilosophie von 1818/1819: „Was an sich Recht ist, muß zuerst für das Bewußtsein vorhanden und bekannt gemacht werden, -das Gesetz, das ebenso als an und für sich Gültiges vorausgesetzt ist, als es nur gilt, insofern es als solches, welches allgemeine Macht hat, zur öffentlichen Kenntnis gebracht ist“, Hegel: VRph 18/19, § 104. 5

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nunftsrecht bestätigten Bestimmungen darstellt, das heißt jenen Rechtsbestimmungen, die sich aus der Entfaltung des Personbegriffs ergeben. Der Hegelsche Begriff des positiven Rechts beinhaltet also zwei einander komplementäre Ansprüche: den Anspruch der konkreten Faktizität und den Anspruch der vernünftigen Geltung. Wegen des Faktizitätsanspruchs lehnt Hegel die Idee einer rein formalen Verfassung ab, die nicht wirklich an das praktische Verhalten der Bürger im allgemeinen anschließe. Dies bedeutet aber nicht gleichzeitig die Anerkennung einer jeden Norm als legitim, die von beliebigen Machthabern gesetzt wird. Aufgrund des Rationalitätsanspruchs können nur jene Rechtsnormen als legitim anerkannt werden, die sich aus der zugrundeliegenden semantischen Artikulation der Rechtskategorien als vernünftig ergeben. Das heißt: als notwendige Deduktion gemäß dem Personbegriff. Wenn man rekursiv analysiert, welche Normen in einem wirklichen Gesetzbuch enthalten sein sollten, scheinen es nach Hegel nur diejenigen zu sein, die sich aus der semantischen Artikulation von Rechtskategorien ergeben, welche die Universalität der Person bzw. Anspruchs der Erhaltung von Personalität als solche voraussetzen. Denn es reicht nicht aus, daß die Normen nach den geltenden Rechtsmechanismen sanktioniert werden, um sie als vernünftig anzusehen. Eine apriorische Analyse ihrer Geltungsbedingungen vorzunehmen, reicht freilich ebenfalls nicht aus, um ihre wirkliche Geltung innerhalb der Sphäre des positiven Rechts nachzuweisen, weil nicht zu erwarten ist, daß ausgehend von der systematischen Entfaltung eines philosophischen Rechts ein wirkliches Gesetzbuch entstehen wird. In einem wirklichen Gesetzbuch finden sich nicht zuletzt Rechte und Pflichten, die das Ergebnis eines geschichtlichen Kampfes um Anerkennung sind. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Hegel das Rationalitätsmoment bei der Ausarbeitung eines wahren Gesetzbuches ignoriert, ohne das die entsprechende Rechtsordnung nicht mehr als gültig angesehen werden kann. Das für Hegel ausschlaggebende Kriterium ist vielmehr, wie bereits unterstrichen, der Personbegriff8. Wenn die Normen einer Rechtsordnung mit der Personenverwirklichung im Widerspruch stehen, fehlt dieser Rechtsordnung jede Gültigkeit und Legitimität. Die Tatsache, daß die Universalität des Personbegriffs die Legitimationsquelle aller Rechtsbestimmungen ist, erlaubt es, Einschränkungen für das Handeln des einzelnen Bürgers zu formulieren. Was es zum Beispiel verbietet, ein menschliches Wesen einer Nutzenabwägung zu opfern oder es als bloßes Mittel zu einem bestimmten Zweck zu benutzen, ist nicht seine irreduzible Individualität, sondern im 8

Hegel wendet dasselbe Kriterium auf die Sittlichkeit an. Laut Axel Honneth ist der Hegelsche Begriff der Sittlichkeit keine bloße Beschreibung vorgefundener Lebensformen. Es handele sich dabei statt dessen um eine normative Rekonstruktion der Lebensformen, die den allgemeinen Werten und Idealen moderner Gesellschaften zur Verwirklichung verhelfen. Deshalb werde alles, was den normativen Erfordernissen widerspreche, gar nicht für berechtigt gehalten. Siehe Axel Honneth: Das Recht der Freiheit, Berlin 2011, 26. Und im Zentrum dieser Werte und Ideale steht ohne Zweifel die Verwirklichung des Personbegriffes. In diesem Sinne gilt das positive Recht als die rechtliche Gestaltung der Sittlichkeit.

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Gegenteil seine immanente Universalität als Person. Da der freie Wille ein Universale sei, das in jeder selbstbewußten Person instantiiert ist9, erkennt er sich im Willen des anderen und anerkennt deshalb auch den Anderen, weshalb das Rechtsgebot gilt: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“ (Rph § 36). Der Hegelsche Personbegriff bezieht sich so gesehen nicht primär auf das Individuum, sondern auf die Interaktion, die durch die gegenseitige Anerkennung die Entstehung der Individualität als solche ermöglicht. Anders als Fichte, der eine intersubjektive Anerkennung als ein praktisches Apriori gedacht hat, schlägt Hegel die wirkliche Interaktion zwischen freien Subjekten als Ausgangspunkt für den Aufbau der Sphäre der Anerkennung vor10. Deshalb entwickelt sich die Sittlichkeit in Hegels Theorie der sozialen Institutionen nur in einem intersubjektiven Anerkennungszusammenhang und konkretisiert sich in Rechtsnormen, deren Vernünftigkeit die Allgemeinheit der Person als solche zum Ausdruck bringt11. III. Die Verwirklichung der Person Der Personbegriff wird im ersten Teil der Rechtsphilosophie ausführlich analysiert. In diesem Werk beleuchtet Hegel systematisch die Rechtsbestimmungen, die den Bereich des objektiven Geistes gestalten. „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.“12 Was hier jedoch als Ursprung beschrieben wird, ist das Ergebnis einer vorangegangenen Entwicklung. Von einem umfassenden Gesichtspunkt aus zeigt Hegel, daß dieser Ursprung aus einer subjektiven Entwicklung des Geistes entspringe, die 9

Siehe Michael Quante: Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Frankfurt a. M. 2011, 314. 10 Oder wie Thomas Sören Hoffmann bemerkt: „Hegels Alternative zu Fichte gestaltet sich anders: Sie betrifft die Frage einer wirklichen Individuation von Freiheit im Sein, nicht nur in ihrem Bilde, betrifft die Frage eines Sich-Verstehens der Freiheit in äußerem Dasein, die Frage der Möglichkeit eines äußeren Selbstverständlichen, das unter keinem moralischen oder Instrumentalitäts-Vorbehalt steht.“ Thomas Sören Hoffmann: „Staat der Freiheit – freier Staat. Deduktion, Imagination und Begriff objektiver Freiheit bei Fichte und Hegel“ in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 2 (2004), 240. 11 Hierzu erklärt John Russon: „Nur unsere vorherige Verpflichtung zu unserer gegenseitigen Rechenschaftspflicht wird das Prinzip des Gehorchens gesetzter Gesetze selbst zu etwas machen, dem wir selbst verantwortlich sind. Anders ausgedrückt, das Befolgen von Gesetzen kann nicht durch das Erlassen von Gesetzen bewirkt werden. Postuliertes Recht ruht also auf dem Boden des nicht-postulierten Rechts. Nach dem Gesetz zu leben heißt, an einer Welt teilzuhaben, in der das Handeln Sinn ergibt. Gesetzestreue Handlungen sprechen für sich selbst, denn sie sind Inszenierungen eines Wertesystems – eines Bedeutungssystems –, das den Mitgliedern des Rechtsstaats gemeinsam ist.“ John Russon: Infinite Phenomenology: The Lessons of Hegel’s Science of Experience, Evanston 2016, 213 – 214. 12 Hegel: Rph, § 4.

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in der Idee des freien Geistes gipfelt. Freilich entwickelt sich der subjektive Geist auf drei Ebenen: als Seele in der Anthropologie, als Bewußtsein in der Phänomenologie und als Geist in der Psychologie. Aber die letzte Stufe des subjektiven Geistes, nämlich der freie Geist, ist lediglich ein vorübergehendes Stadium auf dem Weg zur Objektivität. Wenn diese Gestalt nötig ist, dann ist es noch nötiger, sie aufzuheben, denn es handelt sich um nichts anderes als eine lediglich subjektive Verwirklichung des Geistes13. In diesem Sinne ist diese Gestalt rein formal, und mit diesem Formalismus beginnt die Entwicklung des objektiven Geistes, das heißt, sie beginnt mit der Selbstreferenz des eigenen Willens des Individuums: „Der an und für sich freie Wille, wie er in seinem abstrakten Begriffe ist, ist in der Bestimmtheit der Unmittelbarkeit. Nach dieser ist er seine gegen die Realität negative, nur sich abstrakt auf sich beziehende Wirklichkeit in sich einzelner Wille eines Subjekts.“14 Dieser Formalismus ergibt sich aus der Entwicklung des freien Geistes, mit der die Überwindung der Spaltung zwischen theoretischem und praktischem Geist einhergeht. Damit wird auch die Unterscheidung zwischen Denken und Willen aufgehoben: „Der wirkliche freie Wille ist die Einheit des theoretischen und praktischen Geistes; freier Wille, der für sich als freier Wille ist, indem der Formalismus, die Zufälligkeit und Beschränktheit des bisherigen praktischen Inhalts sich aufgehoben hat.“15 Hegel zufolge sind Denken und Wille nicht unterschiedliche Fähigkeiten des Menschen, sondern je nach Zusammenhang verschiedene Vollzugsformen ein und derselben Fähigkeit16. 13 Diesbezüglich merkt Héctor Ferreiro an, daß „der freie Geist die Subjektivität ist, die sich selbst als allgemeine Form erkennt und zugleich – auch wenn das dem gesunden Menschenverstand widersprüchlich erscheint – als bestimmtes, das heißt, als einzelnes und freies Subjekt.“ Héctor Ferreiro: „Reconstrucción del sistema de la voluntad en la filosofía de Hegel”, in: Revista Latinoamericana de Filosofía, Vol. XXXV, N82 (2009), 357. 14 Hegel: Rph § 34. Ebenfalls nachzulesen in den Berliner Vorlesungen: „Der freie Wille, wie er zuerst in seinem abstrakten Begriff ist, ist in der Bestimmtheit der Unmittelbarkeit oder des unmittelbaren Daseins. Nach dieser ist der Wille teils – als die gegen die Realität negative, nur sich auf sich beziehende Wirklichkeit – einzelner und abstrakt freier Wille eines Individuums; teils ist er auch nach seinem weiteren Inhalt besonderer Wille; teils hat er – als ausschließend – diesen Inhalt als eine äußere, unmittelbar vorgefundene Welt sich gegenüber.“ Hegel: VRph 18/19 § 17. 15 Georg Wilhelm Friederich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Enz), in: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu edierte Ausgabe, hg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1971, § 481. 16 Laut Quante setzt sich Hegel in den einleitenden Absätzen der Rechtsphilosophie auf drei verschiedenen, miteinander verbundenen Ebenen mit der Willensstruktur auseinander. Die erste Ebene sei die Begriffsstruktur des Willens, wobei der Wille als ein Universale zu verstehen sei. Die zweite Ebene sei das Selbstbewußtsein des Individuums und sein Wissen um seine Freiheit. Dieses Selbstbewußtsein liefere die „Begriffsmomente“ des Willens qua „Vorstellung“ (§ 4). Die dritte Ebene der Hegelschen Analyse schließlich sei die Ebene, auf der ethische, soziale und politische Institutionen als „Gestaltungen“ (§ 32) des freien Willens

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Hegel erklärt, daß der gesunde Menschenverstand nicht in der Lage sei, Denken und Wille als Eins zu betrachten. Normalerweise werden Denken und Willen als zwei unterschiedliche menschliche Fähigkeiten wahrgenommen. Diese Wahrnehmung ist jedoch falsch: Selbst der ungebildetste Mensch hat nur insoweit einen Willen, als er denken kann, was dagegen keinem Tier zukommt, weil kein Tier einen Willen hat.17 Hegel behauptet: „Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens: das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben.“18 Indem er sich selbst Dasein gibt, erreicht der freie Wille seine erste Bestimmung und wird zur Person. Deswegen findet die Person ihre Selbstverwirklichung nur im Bereich der Sittlichkeit, denn: „In dieser Identität des allgemeinen und besonderen Willens fällt somit Pflicht und Recht in Eins, und der Mensch hat durch das Sittliche insofern Rechte, als er Pflichten, und Pflichten, insofern er Rechte hat.“19 Hegel betont, daß die Sittlichkeit Personen hervorbringe und selbst wiederum von Personen hergestellt werde. Diese Auffassung findet sich zusammengefaßt in § 514 der Berliner Enzyklopädie: „Die frei sich wissende Substanz, in welcher das absolute Sollen ebenso sehr Sein ist, hat als Geist eines Volkes Wirklichkeit. Die abstrakte Diremtion dieses Geistes ist die Vereinzelung in Personen, von deren Selbständigkeit er die innere Macht und Notwendigkeit ist. Die Person aber weiß als denkende Intelligenz jene Substanz als ihr eigenes Wesen, hört in dieser Gesinnung auf, Akzidens derselben zu sein, schaut sie als ihren absoluten Endzweck in der Wirklichkeit sowohl als erreichtes Diesseits an, als sie denselben durch ihre Tätigkeit hervorbringt, aber als etwas, das vielmehr schlechthin ist; so vollbringt sie ohne die wählende Reflexion ihre Pflicht als das Ihrige und als Seiendes und hat in dieser Notwendigkeit sich selbst und ihre wirkliche Freiheit.“20 wahrgenommen würden. Außerdem weist Quante darauf hin, daß es sich hierbei zwar um das Ergebnis der Entwicklung des subjektiven Geistes handele, jedoch zweierlei vorausgesetzt werde: Erstens werde vorausgesetzt, daß mit dem Willen (oder ganz allgemein mit absichtsvollem Handeln) die reine Kausalität bereits aufgehoben sei und zweitens werde davon ausgegangen, daß die Analyse auf das Selbstbewußtsein oder den denkenden Willen beschränkt sei – elementarere Formen von absichtsvollem Handeln würden hier nicht untersucht. Siehe Quante: Die Wirklichkeit des Geistes, 313 – 314. Für eine detailliertere und systematischere Betrachtung des Willensbegriffs in Hegels Gesamtwerk, siehe Ferreiro: „Reconstrucción del sistema de la voluntad en la filosofía de Hegel“. 17 Richard Dien Winfield bemerkt: „Wenn das Wollen stets ein Handeln auf der Grundlage eines Gutes oder eines Willensprinzips nach sich zöge, könnten nur denkende, sprechende Wesen einen Willen haben.“ Richard Dien Winfield: „The Psychology of Will and the Deduction of Right. Rethinking Hegel’s Theory of Practical Intelligence“, in: Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, hg. von David S. Stern, Albany 2013, 203. 18 Hegel: Rph § 4 Z. 19 Hegel: Rph § 155. 20 Hegel: Enz § 514.

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In der Moderne gelten Recht und Moral als ausdifferenzierte Wissens- und Handlungssysteme. Von ihrer jeweils einseitigen Perspektive bzw. abstrakten Denkweise aus könnte man sich die Verwirklichung der Personalität vorstellen, als ob sie ein Prozeß wäre, der vor allem von der Entwicklung des Selbsts und der natürlichen Ausstattung des Menschen abhängt, und dementsprechend die Pflichten auffassen, als ob sie etwas wären, worüber man nachdenken soll, bevor man ihnen nachkommt. Soziale Zugehörigkeit würde in dem Fall vom Individuum als eine kontingente Gegebenheit empfunden, die direkt von seinem Willen abhängt. Im Gegensatz zu den neuzeitlichen Vertragstheoretikern, die eine solche Position vertreten, vertritt Hegel den Standpunkt, daß Personen als solche keine natürlichen Einheiten sind, sondern das Resultat einer abstrakten Diremtion des Volksgeistes. Hegel hat überzeugend gezeigt, daß die Bereiche des „abstrakten Rechts“ und der „Moralität“ zwar objektiv sind, aber trotzdem nur als abstrakte Momente konkreter ethischen Beziehungen betrachtet werden müssen21. Der Hegelsche Gedankenweg entspricht daher einer Umkehrung des Wegs, der sich in den modernen Vertragstheorien findet: Es handelt sich nicht um im Naturzustand lebende Menschen, die durch einen Vertrag freiwillig in eine Rechtsordnung übergehen, sondern um die Sittlichkeit, die sich selbst in Personen vereinzelt. Laut Hegel ist der Staat ein sittliches Gemeinwesen, aus dem Personen hervorgehen, und nicht eine Ansammlung von Personen, die sich zu einer Gesellschaft zusammenschließen. Aus dieser Perspektive betrachtet wird die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Personen nicht als etwas empfunden, das aufgebaut werden muß – so als existierte die Gesellschaft gar nicht – als etwas, das im deontologischen Sinne „sein sollte“, sondern als erreichter Endzweck, der ist und der kraft der Aktivität der Personen immer sein wird22. 21

„Objektiv“ heißt hier, wie Ludwig Siep bemerkt, zweierlei: Einerseits, daß soziale Realität und Normen nicht auf Handlungen, Absichten oder Interessen der Individuen reduzierbar sind; andererseits, daß die Gesetze und Normen von Gesellschaft und Staat nicht bloße Konventionen sind, sondern notwendige Bestimmungen der Vernunft, die sich erst historisch entwickeln. Siehe Ludwig Siep: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels. Aufsätze 1997 – 2009, München 2010, 197 ff. 22 Gegen Ernst Tugendhat argumentiert Quante: „Hegel geht es nicht primär um den Nachweis, daß die Geltungsansprüche der Sittlichkeit die Geltungsansprüche der Moralität dominieren sollten, sondern in erster Linie darum aufzuzeigen, daß sich jede moralische Argumentation auf vorausgesetzte sittliche Prämissen stützen muss.“ Quante: Die Wirklichkeit des Geistes, 287. Deshalb, so Quante, sei Hegel kein Feind der Moralität, sofern darunter die Fähigkeit zur rationalen Prüfung von Normen sowie Wert- und Sinnvorgaben verstanden werde. Hingegen werde von ihm der Standpunkt der Moral abgelehnt, sofern darunter der philosophische Anspruch verstanden werde, eine der gelebten Sittlichkeit gegenüber externe Begründung als notwendige Bedingung dafür anzusehen, daß eine funktionierende und sich bewährende soziale Praxis als gut begründet gelten könne. Siehe Quante: Die Wirklichkeit des Geistes, 297. In dieselbe Richtung geht Robert Pippin mit seiner Interpretation, nach der Hegel „die kantianischen und auch die egoist-rationalen Vorstellungen der praktischen Vernunft ablehnt und zu zeigen versucht, daß das, was man aus vernünftigen Gründen tut, nicht getan werden kann, ohne die Formen des institutionellen Lebens zu berücksichtigen, die konkret definieren, was angemessenes Selbstverständnis und erfolgreiche Rechtfertigung

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Darüber hinaus wissen die einzelnen Personen – und das ist ein Kernpunkt dieses Beitrages –, daß sie nicht ein bloßes Akzidens der sittlichen Substanz sind. Die einzelnen Personen empfinden sich nicht als zufälliges Attribut, von dem es gleichgültig ist, ob es existiert oder nicht. Sie sind davon überzeugt, daß die Sittlichkeit ihr höchstes Ziel ist. Daher wird in der Sittlichkeit das abstrakte Recht zum positiven Recht, denn das Recht erhält in diesem Bereich die Gültigkeit für das Rechtsbewußtsein der Gemeinschaftsmitglieder, die sich als Personen im Recht anerkennen: „Das Vernünftige als solches, das Gesetz kann der Begriff genannt werden; aber es hat in dem einzelnen Subjekt, in der Intelligenz der einzelnen sein Dasein.“23 Deshalb ermöglicht nur ein allgemeines Rechtsbewußtsein die Geltung der Rechtsnormen; dieses Bewußtsein entspringt der inneren Überzeugung der Menschen, daß Gesetze etwas sind, was aus dem Individuum eine Person macht und somit die Möglichkeitsbedingung der Verwirklichung der Person in ihrer Allgemeinheit darstellt: „Die Gesinnung der Individuen ist das Wissen der Substanz und der Identität aller ihrer Interessen mit dem Ganzen; und daß die anderen Einzelnen gegenseitig sich nicht nur in dieser Identität wissen und wirklich sind, ist das Vertrauen, – die wahrhafte, sittliche Gesinnung.“24 Es ist also plausibel zu interpretieren, daß eine solche Gesinnung kein Ergebnis irrationaler oder emotionaler Zuschreibung zu irgendeiner kollektiven Identität ist, sondern daß sie sich in der Person eben deswegen bildet, weil Personen im eigentlichen Sinne Instanzen der „denkenden Intelligenz“ sind. IV. Intelligenz und Erinnerung Was bedeutet der Hegelsche Begriff von denkender Intelligenz? Welche Rolle spielt Intelligenz in der Gestaltung eines Subjekts? Die systematische Auseinandersetzung mit der Intelligenz findet sich in Hegels Werk in den Paragraphen 440 bis 468 der Enzyklopädie, also in den Absätzen, in denen der theoretische Geist innerhalb der Psychologie abgehandelt wird.25 In der Abhandlung wird eine Entsind.“ Robert Pippin: „Hegel and Institutional Rationality“, in: The Southern Journal of Philosophy (2001) Vol. XXXIX, 19. Deshalb, so Pippin, sei das, was Hegel als „bewegende Kraft“ bezeichne, nicht allein das Produkt der reinen praktischen Vernunft, sondern des sittlichen Wesens. Siehe Pippin: „Hegel and Institutional Rationality“, 8. 23 Hegel: VRph, 17/18 § 69 A. 24 Hegel: Enz, § 515. 25 In Bezug auf die Entwicklung der Hegelschen Psychologie und seine Auslegung von Intelligenz im Besonderen folge ich der Interpretation von Ferreiro. Hegel denkt seine Erkenntnistheorie nicht in Form einer Dialektik zwischen Rezeptivität und Spontaneität, zwischen Außenwelt und menschlichem Geist, zwischen world und mind, sondern als kontinuierlichen Übergang von der bloßen Unterschiedslosigkeit zur vollkommenen Differenzierung und Bestimmung. Siehe Héctor Ferreiro: „Hegels Theorie der Intelligenz als Grundlegung der Unmöglichkeit des Unvernünftigen“, in: Asmuth, Ch. / Neuffer, S. G. (Hg.): Irrationalität, Würzburg 2015, 73 – 74. In diesem Sinne betrachtet Ferreiro Interpretationen, die bei Hegel

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wicklung der Intelligenz beschrieben, die mit der Anschauung beginnt, mit den drei Phasen der Vorstellung (Erinnerung – Einbildungskraft – Gedächtnis) fortschreitet und mit dem Denken endet. Durch letzteres erfolgt ein Übergang zur praktischen Vernunft. Hegel definiert den Willen wie folgt: „Die Intelligenz, sich wissend als das Bestimmende des Inhalts, der ebenso der ihrige, als er als seiend bestimmt ist, ist Wille.“26 Nach der Gleichsetzung von Denken und Wille, mit der Hegels Abhandlung über die Intelligenz schließt, ist es nun wichtig, die zentralen Punkte der Entwicklung noch einmal zu betrachten, um die subjektiven Wurzeln der Normgeltung aufzuzeigen. Zunächst identifiziert die denkende Intelligenz etwas an Hand des Namens: „Es ist in Namen, daß wir denken“27, schreibt Hegel. Durch das Eintreten in die Welt der Sprache trennt die Intelligenz die Vorstellung vom Bild. Die Anschauung ist Zeichen, wenn das Bild seine Bedeutung durch etwas erhält, das sich gänzlich von dem Wahrgenommenen unterscheidet28. Hegel erklärt: „Sie [die Anschauung] ist ein Bild, das eine selbständige Vorstellung der Intelligenz als Seele in sich empfangen hat, seine Bedeutung. Diese Anschauung ist das Zeichen.“29 Und weiter: „Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solchen Tieres noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung.“30 Demzufolge setzt die Sprache die Unabhängigkeit der Namen von den Bildern voraus, aber auch die Tätigkeit des Ichs als ein leeres Band, die ganze Reihen von Namen zusammenführt und innerhalb der Subjektivität in einer festen Ordnung festhält31. Hier greift Hegel Kants Position in Bezug auf die transzendentale Apperzeption auf, gibt dabei aber dem „Ich denke“, das „alle meine Vorstellungen begleiten

einen Dualismus zwischen world und mind postulieren, als unzulänglich. Ein solcher Dualismus, selbst in der abgeschwächten Version von John McDowell, lässt keine plausible Korrelation zwischen Psychologie und Logik zu. Siehe John McDowell: Mind and World, Cambridge 1994. 26 Hegel: Enz § 468. 27 Hegel: Enz § 462 A. 28 Ferreiro zufolge sei es im Akt des Symbolisierens und des Bezeichnens, wo die Intelligenz die anfängliche Korrelation der logischen Bestimmungen der Einzelheit zu den theoretischen Formen der Anschauung und des Bildes aufhebt. Siehe Héctor Ferreiro: „La relación entre lenguaje y pensamiento en el sistema hegeliano“, in: Oliva Mendoza, C. (Hg.): Hegel, ciencia, experiencia y fenomenología, México 2011, 26. 29 Hegel: Enz § 458. 30 Hegel: Enz § 462 A. 31 Diesbezüglich schreibt Hegel: „Ich, welches dies abstrakte Sein ist, ist als Subjektivität zugleich die Macht der verschiedenen Namen, das leere Band, welches Reihen derselben in sich befestigt und in fester Ordnung behält.“ Hegel: Enz, § 463.

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können“ muß, eine neue Bedeutung32. Der springende Punkt ist jedoch hier, daß nur dann Zeichen produziert werden können, wenn die Bilder da sind. In diesem Sinne ist Intelligenz vor allem die Kraft, die eine einmalige Anschauung unter ein bereits verinnerlichtes Bild subsumiert; was seinerseits die spontane Tätigkeit des Ichs voraussetzt, das Bilder durch Erinnerung verallgemeinert. Die Erinnerung ist die erste Stufe auf der Ebene der Vorstellung. Mit Hilfe der Erinnerung bildet die Intelligenz in ihrer Innerlichkeit den Inhalt des Gefühls, das heißt, die Intelligenz trennt das Material der Anschauung von seinem natürlichen Zusammenhang und schreibt ihm einen eigenen Ort und eine eigene Zeit zu. So wird der Inhalt zu einem vom äußeren Raum und der äußeren Zeit isolierten Bild und geht in die Allgemeinheit des Ichs ein33. Die nächste Stufe ist die Einbildungskraft. Auf sehr poetische Weise versucht Hegel zu zeigen, daß es der Intelligenz mit Hilfe der Einbildungskraft gelinge, „den Bilderschatz“ mit der hellen Klarheit der Gegenwart von der „nächtlichen Dunkelheit, in welcher diese verborgen sind“, zu trennen34. Die Erinnerung bewahrt diese verinnerlichten Bilder im dunklen Schacht der Vergangenheit auf. Sie liegen außerhalb des Bewußtseins. Es sind sinnliche Bilder, keine figurativen, vorgefertigten Bilder, sondern Bilder ohne Bedeutung, sinnliches Material im Urzustand, Bilder, die schlummern, bis die Einbildungskraft sie ans Licht der Gegenwart holt. Aus diesem Grund kann die Intelligenz sich nur Bilder vorstellen, die sie selbst unbewußt aufbewahrt35. Hegel vertritt die These: „Nie32 Jere O’Neill Surber merkt an, daß sich „mehrere von Hegels auffälligsten Abweichungen von Kants Behandlung der Vorstellung aus der Tatsache erklären, daß Hegel Kants Ansatz in dem Sinne deutet, daß dieser linguistische Überlegungen erfordert, um seine Kohärenz zu sichern. Das heißt, ohne die ,Äußerung‘ der Intelligenz durch Bedeutung und Sprache bleibt Kants Auslegung der Vorstellung rein subjektiv und unfähig, ihr selbstgesetztes Ziel zu erreichen, nämlich die Objektivität von Erkenntnis und Denken; und damit durch the metacritical challenge gefährdet.“ Jere O’Neill Surber: „Hegel’s Linguistic Thought in the Philosopy of Subjective Spirit Between Kant and the ,Metacritics‘“, in: Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, hg. von David S. Stern, Albany 2013, 188. 33 Wie Hegel erklärt: „Als die Anschauung zunächst erinnernd, setzt die Intelligenz den Inhalt des Gefühls in ihre Innerlichkeit, in ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit. So ist er aa) Bild, von seiner ersten Unmittelbarkeit und abstrakten Einzelheit gegen anderes befreit, als in die Allgemeinheit des Ich überhaupt aufgenommen.“ Hegel: Enz, § 452. 34 Wie ganz deutlich in der Berliner Enzyklopädie steht: „Die Intelligenz als diesen nächtlichen Schacht, in welchem eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen aufbewahrt ist, ohne daß sie im Bewußtsein wären, zu fassen, ist einerseits die allgemeine Forderung, den Begriff als konkret.“ Hegel: Enz, § 453. 35 In bezug auf die unbewußte Eigenschaft der verinnerlichten Bilder sowie auf viele andere Aspekte der subjektiven Struktur der Hegelschen Psychologie argumentiert Winfield auf interessante Weise gegen die Reduktion des Geistes auf Bewußtsein und die übliche Assoziation zwischen Bewußtsein und diskursiven Fähigkeiten oder sprachlichen Begabungen. Winfield geht es mit seinen Argumenten hauptsächlich darum zu zeigen, daß für Hegel viele Aspekte der Subjektivität nichts mit Begriffen oder Sprache zu tun haben. Siehe Richard Dien Winfield: Hegel and Mind: Rethinking Philosophical Psychology, Houndmills / Basingstoke / Hampshire 2010, besonders Kap. 4, 5 und 6.

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mand weiß, welche unendliche Menge von Bildern der Vergangenheit in ihm schlummert; zufälligerweise erwachen sie wohl dann und wann, aber man kann sich, wie man sagt, nicht auf sie besinnen.“36 Es sind jedoch letztlich diese Bilder, die das Denken ermöglichen, weil die Intelligenz sich selbst als Bestimmende ihres Inhaltes erkennen kann, das heißt als Wille, indem sie fähig ist, diese aufbewahrten Bilder zu äußern und sie so zu denken. Der freie Geist gipfelt, wie wir gesehen haben, in dem Bewußtsein des Geistes, der sich selbst in seiner Einzelheit als frei, das heißt, als freies Individuum, erkennt. Die historische Entwicklung der Idee der persönlichen Freiheit findet in der gesellschaftlichen und politischen Welt statt, in der der Geist sich objektiviert und eine ihm gemäße institutionelle Ordnung errichtet. Der Weg der Einrichtung einer Rechtsordnung jedoch, in der die Personen ihre Rechte und Pflichten ausüben können, weil sie einander wechselseitig als frei anerkennen, erfordert viel mehr als eine eindeutige Formulierung eines vernünftigen Handlungsprinzips wie der Kantschen Definition des Rechts: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.”37 Zusätzlich zu diesem formalen Prinzip braucht es ein materielles Prinzip, um das Reich des Rechts mit intersubjektiver Bedeutung zu verwirklichen: die Existenz verinnerlichter, gemeinsamer Bilder, die von Personen bedeutungsvoll aufgerufen werden können, um das Zusammenleben zu ermöglichen. Diese endlose Menge an schlummernden Bildern verleiht der Sittlichkeit ihre Materie, deren Form aus der Entwicklung von persönlicher Freiheit entsteht. In Hegels Worten ausgedrückt: „In dieser für das Bewußtsein der Intelligenz gesetzt mit der Bestimmung als geltende Macht, ist er [der Inhalt] das Gesetz – befreit von der Unreinheit und Zufälligkeit, die er im praktischen Gefühle und in dem Triebe hat, und gleichfalls nicht mehr in deren Form, sondern in seiner Allgemeinheit dem subjektiven Willen eingebildet, als dessen Gewohnheit, Sinnesart und Charakter, ist er als Sitte.“38 V. Schlußbemerkung Hegel zufolge ermöglicht die subjektive Aktivität der Intelligenz, die grundlegenden Gesetze des positiven Rechts nicht nur als reziproke Einschränkung der individuellen Freiheit zu verstehen, sondern auch als absoluten Endzweck und allgemeines Werk der Einzelnen, die zugleich „die Substanz ihres darin freien Wollens und ihrer Gesinnung“39 sind.

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Hegel: Enz, § 453 Z. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: Werke, Bd. 8, hg. von Weischedel, Frankfurt/M. 1977, Einleitung § C. 38 Hegel: Enz, § 485. 39 Hegel: Enz, § 538. 37

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Eine auf positivem Recht ruhende Gesetzgebung, die sich nach dem Prinzip der allgemeinen Geltung des Personprinzips organisiert, setzt subjektive Denkprozesse voraus, die dazu befähigen, Gesetze nicht nur als zu befolgende Vorschriften aufzufassen, sondern sie als Normen zur Regelung des Zusammenlebens zu verstehen, die mit den tiefsten Überzeugungen derjenigen Individuen übereinstimmen, deren Verhalten reguliert wird. In diesem Sinne spielen Erinnerung und Intelligenz eine unverzichtbare Rolle bei der Entstehung von gemeinsamen Bildern, die ein Gemeinschaftsleben ermöglichen. Wenn jedoch der Rechtsstaat diese subjektiven Wurzeln hat, die gemeinsame sinnliche vorbegriffliche Bilder für das Zusammenleben hervorbringen, dann bleiben die Probleme unserer multikulturellen Gesellschaft, deren Angehörige im Allgemeinen keine gemeinsamen Bilder besitzen, ungelöst. Das Hegelsche Konzept des positiven Rechts ist vielleicht zu anspruchsvoll, um in unseren modernen multikulturellen Gesellschaften das Recht zu denken.

Literatur Ferreiro, H.: „Reconstrucción del sistema de la voluntad en la filosofía de Hegel“, in: Revista Latinoamericana de Filosofía, Vol. XXXV N8 2 (Primavera 2009), 331 – 361. Ferreiro, H.: „La relación entre lenguaje y pensamiento en el sistema hegeliano“, in: Oliva Mendoza, C. (comp.): Hegel, ciencia, experiencia y fenomenología, Universidad Nacional Autónoma de México, México 2011, 21 – 33. Ferreiro, H.: „Hegels Theorie der Intelligenz als Grundlegung der Unmöglichkeit des Unvernünftigen“, in: Asmuth, Ch. / Neuffer, S. G. (Hg.): Irrationalität, Würzburg 2015, 71 – 81. Hegel, G. W. F. (Rph): Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu edierte Ausgabe, Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus (Hg.), Frankfurt/M. 1971. Hegel, G. W. F. (Enz): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu edierte Ausgabe. Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus (Hg.), Frankfurt/M. 1971. Hegel, G. W. F. (VRph 17/18 und VRph 18/19): Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19), K.-H. Ilting (Hg.), Stuttgart 1983. Hoffmann, Th. S.: „Staat der Freiheit – freier Staat. Deduktion, Imagination und Begriff objektiver Freiheit bei Fichte und Hegel“ in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 2, 2004, 221 – 248. Honneth, A.: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011. Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, in: Werke, Weischedel (Hg.), 12 Bände, Frankfurt a. M. 1977. McDowell, J.: Mind and World, Cambridge 1994.

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O’Neill Surber, J.: „Hegel’s Linguistic Thought in the Philosopy of Subjective Spirit Between Kant and the ,Metacritics‘“, in: Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, hg. von David Stern, Albany, 2013, 181 – 200. Pippin, R.: „Hegel and Institutional Rationality“, in: The Southern Journal of Philosophy (2001) Vol. XXXIX, 1 – 25. Quante, M.: Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Frankfurt a. M. 2011. Russon, J.: Infinite Phenomenology: The Lessons of Hegel’s Science of Experience, Evanston 2016. Siep, L.: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels. Aufsätze 1997 – 2009, München 2010. Winfield, R. D.: Hegel and Mind: Rethinking Philosophical Psychology, Houndmills / Basingstoke / Hampshire 2010. Winfield, R. D.: „The Psychology of Will and the Deduction of Right. Rethinking Hegel’s Theory of Practical Intelligence“ in: Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, hg. von David S. Stern, Albany 2013, 201 – 221.

Wenn der Geist zum Künstler wird. Politik und Kunst in Hegels konkretem Wissen1 Philipp Schaller (Wien) I. Hegel als Bezugspunkt des Fragens nach Politik und Kunst. Eine Einleitung In Hegels Denken stellt sich die klassische philosophische Frage nach dem Verhältnis des Guten zum Schönen als eine, deren Beantwortung die Form der Darstellung eines bestimmten Übergangs annimmt. Es zu begreifen, bedeutet für Hegel, sich klarzumachen, daß und wie sich die soziale und politische Wirklichkeit, die in einem Gemeinwesen als objektiver Geist besteht, zu einem Wissen ihrer selbst erhebt, wie also dieser objektive zum absoluten Geist wird. Dies geschieht zunächst, wenn auch nicht endgültig, in der Kunst. Das SittlichGute ist demnach als die jeweils konkrete Organisation des Zusammenlebens von Menschen zu begreifen. Das Schöne indessen ist nichts anderes als die erste Form des Wissens, welches das diese Organisation erzeugende Wesen, der Geist, von sich erlangt. Denn wie alles reale Wissen des Geistes überhaupt zunächst ein unmittelbares ist und somit auf Anschauung beruht2, ist auch sein Selbstbewußtsein zunächst notwendig so beschaffen. Daß er sich selbst als die sittliche Wirklichkeit, als welche er existiert, zum Wissensinhalt wird, geschieht daher durch eine Tätigkeit, die in der sinnlichen Anschauung werkt und schafft: die Kunst. Ist diese epistemologische Aufgabe der Kunst erkannt, ist aber eben damit auch schon eingesehen, daß sie ihr nur vorübergehend zukommt beziehungsweise kam. Denn als sie erfüllend stellt die Kunst sich nur für das spekulative Denken dar, mithin für die Philosophie. Sie stellt die übergeordnete und überhaupt höchste Form dar, in welcher der Geist von etwas und in letzter Konsequenz auch von sich selbst weiß. Anders als jene, welche der Geist in der Selbstanschauung als dem Resultat der künstlerischen Tätigkeit hat, ist die Form dieser Selbstbeziehung keine unmittelbare, sondern eine durch die Tätigkeit des Begriffs vermittelte. Die Kunst wird in 1 Für die Ermöglichung dieses Textes danke ich dem Institut für Philosophie der Universität Wien, besonders Gertrud Wachter und Matthew Ratcliffe. 2 Vgl. hierzu die §§ 445 – 468 des Dritten Teils der Enzyklopädie, welche die Darstellung des theoretischen Geistes enthalten: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986 ff., im folgenden abgekürzt als Werke mit Angabe von Band und Seitenzahl, hier: Werke 10, 240 – 287.

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der philosophischen Ästhetik durch das Denken als eine bereits überschrittene Stufe begriffen, eine der letzten jenes Gangs, auf welchem das Absolute, der Geist, zum Wissen seiner selbst gelangt. Ihr Wesen, ein notwendiges erzeugendes Moment auf dem Weg zur Wahrheit gewesen zu sein, stellt sich erst im geistigen Rückblick dar, wenn sie ihre Aufgabe bereits erfüllt hat, den Übergang vom objektiven Dasein des Geistes als politischer Wirklichkeit zu seinem Sich-Wissen zu stiften. Was Hegel der Ästhetik damit zu denken zumutet, ist nicht wenig: „Die Vermittlung zwischen Politik, Kunst und Philosophie durch eine Philosophie der Kunst oder eine Ästhetik ist Bestandteil seines Systems“, bemerkt etwa Paul de Man. Sie sei es in dem tiefgreifenden Sinn, daß „der Übergang von der politischen zur geistigen Wirklichkeit – der Übergang, mit Hegel zu sprechen, vom objektiven zum absoluten Geist – mit Notwendigkeit über die Kunst und damit über die Ästhetik als der kritischen Reflexion auf die Kunst verläuft.“3 Diese Bemerkung zeugt von der Attraktivität, welche dem System, dessen Grundriß Hegel in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften vorgelegt hat, bei Lesern und Leserinnen zukommt, die sich dieser „kritischen Reflexion auf die Kunst“ verschrieben haben, etwa in Form der Literaturkritik. So bot sich die Beobachtung, daß sich gerade mit Hegel dafür argumentieren ließ, Kunstund Literaturkritik sei notwendig zugleich eine Form der Kritik der bestehenden politischen Wirklichkeit, führt de Man zur Verteidigung der Dekonstruktion an, also der von ihm unterstützten Philosophie Derridas. Diese wurde besonders von Marxistischer Seite vielfach wegen ihrer Beschränkung auf die Beschäftigung mit Texten getadelt, da hierüber die Auseinandersetzung mit den bestehenden politischen Institutionen und realen Verhältnissen versäumt werde. Inanspruchnahmen wie diese reihen sich freilich bereits in eine längere Geschichte der Auseinandersetzung mit Hegels Ästhetik ein und sind so nur ein Beispiel unter mehreren für deren fortdauernde Aktualität. Die Liste philosophischer Versuche, dem Wesen der Kunst nachzuspüren, die nicht ohne Stellungnahme zu Hegels Urteil in dieser Sache auskommen, ist endlos. Was in de Mans Fall aber auf besonders eindringliche Weise hervortritt, ist die Frage nach der Bedeutung des Überordnungsverhältnisses, in welchem bei Hegel die Kunst und ihre philosophische Betrachtung zur Politik stehen. De Mans Bezugnahme auf die Entwicklung des Verhältnisses der Praxis zur Poiesis, der Politik zur Kunst, der Moralphilosophie zur Ästhetik, wie sie in der Hochphase der klassischen deutschen Philosophie von Immanuel Kant bis Hegel stattgefunden hat, bemüht sich um die Herausarbeitung bestimmter gegenläufiger Tendenzen, deren Aufweis er für besonders bedeutsam erachtet. Die eine besteht in einer Schärfung des Bewußtseins davon, wie sich die Bereiche der Politik, der Ästhetik und der Erkenntnis dergestalt voneinander unterscheiden und trennen, daß eine Vereinigung, in welcher sich die zwischen ihnen bestehenden Widersprüche auflösten, kein Ziel berechtigter Erwartungen darstellt. 3 Paul de Man: „Hegel über das Erhabene“, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. v. Christoph Menke, Frankfurt 1993, 59 – 79, 61 f.

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Gerade in dieser Bestrebung sieht de Man wertvolles kritisches Potenzial. An der anderen Tendenz, dem auf besagtes Ziel zustrebenden Bemühen, das Getrennte und Sich-Trennende unter einer von der Ästhetik zu stiftenden harmonischen Einheit vollends zu versöhnen, beargwöhnt de Man ein Prinzip, dem rückblickend auch jene so bedenklichen Folgen entspringen konnten, die nun, nach den Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts, offen zu Tage liegen: In der Ausrichtung auf das Ziel einer Vereinigung des Getrennten pflegten die großen Ideologien der jüngeren Geschichte rücksichtslos zu glätten, was der jeweiligen Gestalt, die diese Vereinigung jeweils haben sollte, nicht entsprach. Das nüchterne und heilsame Bewußtsein für Widersprüche und Unvereinbarkeiten zeigt sich für de Man etwa in Kants transzendentalphilosophischem Ansatz – tatsächlich macht Kants Ästhetik gegenüber der philosophischen Tradition die gründliche Verschiedenheit der Bereiche des Guten und des Schönen geltend und behält sie stets im Blick, um beide einander nur unter strengen Vorbehalten anzunähern. Es spiegle sich aber auch in Hegels Systemaufriß der dialektischen Ausdifferenzierung der Stufen des Geistes. Insbesondere ist es dessen vieldiskutierte, eingangs angedeutete Auffassung, daß die Kunst etwas Vergangenes sei, woran de Man die philosophische Aufmerksamkeit auf die unüberwindliche Trennung der Bereiche festmacht. Dabei vertritt er sogar die durchaus nicht unumstrittene Lesart, daß nach Hegels Verständnis die Kunst nicht etwa erst mit einem bestimmten geschichtlichen Stand der Entwicklung des Geistes, sondern immer schon nur als eine vergangene Form seines Selbstbewußtseins auftrete4. Den Impetus zu jener Vereinigung, deren verlockende Vorstellung solche Gefahr des Missbrauchs birgt, will de Man dort am Werk sehen, wo Politik und Kunst, Moral und Ästhetik eher durch rhetorische Figuren aufeinander bezogen werden als im Rahmen der gründlichen Entfaltung einer philosophischen Fragestellung. Diese Vorgehensweise erblickt er etwa in Friedrich Schillers exzessivem Gebrauch des Chiasmus. Dabei handelt es sich um eine rhetorische Figur, welche Gegensatzpaare in einer sprachlichen Struktur vereinigt und zwar durch eine Art Kreuzstellung der den Satz bildenden Teile. Schiller bedient sich dieser Figur in der Tat sehr oft, wenn er in seiner Auseinandersetzung mit Kant die von diesem so scharf getrennten Bereiche von Moral und Ästhetik wieder näher zusammenbringt, um die Unverzichtbarkeit der Kunst für das Gelingen jener Erziehung zu betonen, welche die Moralität der menschlichen Gesinnung und damit auch des Handelns zum Zweck hat. Sie ist ständig präsent, wenn er in seiner Antwort auf Kants Denken das Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit, Geist und Natur, Pflicht und Neigung noch einmal neu bestimmt und dabei die Kunst auch als unverzichtbares Werkzeug bei der Herausbildung funktionierender politischer Verhältnisse vorstellt, das heißt: eines Staates, welcher von seinen Bürgern die Erfüllung des Gesetzes nicht nur 4 Deutungen von Hegels These des Vergangenheitscharakters der Kunst im Allgemeinen behandelt Thomas Sören Hoffmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004, 440 – 444, der anders als de Man nicht zu dem Schluß kommt, sie wäre immer schon und nicht nur für uns etwas Vergangenes.

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fordert, sondern sie aufgrund einer vorangegangenen ästhetischen Erziehung auch erwarten kann. In de Mans Darstellung erscheint Schiller als jemand, der das durch Kants philosophische Vorgehensweise erlangte Bewußtsein des Auseinanderklaffens der fraglichen Sphären mit rhetorischen Mitteln trübt, indem er die verführerische, aber wohl trügerische Aussicht auf eine Harmonie beschwört, in welcher politisches Handeln und künstlerisches Schaffen miteinander stehen könnten. Wieder ist fraglich, wie berechtigt diese Einschätzung ist. So gibt es durchaus Interpretationen, die Schillers Werk nicht darauf zu reduzieren bereit sind, sondern ihm in seiner Auseinandersetzung mit Kant jenseits seiner Vorliebe für bestimmte rhetorische Figuren einen eigenständigen und durchaus beachtenswerten philosophischen Standpunkt zusprechen5. An diesem Streitpunkt läßt sich sehr rasch die volle Brisanz der Thematik, des Verhältnisses von Politik und Kunst, verdeutlichen und konkretisieren. Denn de Man führt zum Schluß jenes Vortrages, in dem er seine Ansichten zu Schiller und dessen Verhältnis zu Kant kundtut, eine Stelle aus einem Roman von Joseph Goebbels an, worin der eine bloße Masse zum Staatsvolk formende Führer mit einem Künstler verglichen wird. Freilich räumt er ein, daß es sich dabei um ein „kraßes Mißverständnis“ von Schillers Konzept des ästhetischen Staates handle. Zugleich betont er aber, daß die Überlegung gleichwohl demselben „Prinzip“6 folge, unter dem auch dieser schon Kants Philosophie mißverstanden hätte, als er die Kunst, die dem Zweck der Erziehung der Menschen für das Leben im idealen Staat dienen könne, zur massentauglichen Vermittlung der moralphilosophischen Erkenntnisse vorschlug. Die spätere Entdeckung von de Mans eigener kulturpolitischer Kollaboration mit dem Nationalsozialismus während der Zeit der Besetzung Belgiens, in der er selbst dem Propagandaminister des Dritten Reichs willfahren hatte, hat seinen Umgang mit dieser philosophischen Thematik posthum mit einem nicht geringen Glaubwürdigkeitsproblem belastet7. Das Erfordernis, sich mit dem Verhältnis von Politik und Kunst beziehungsweise philosophischer Ästhetik zu befassen, wird indessen dadurch nur noch stärker unterstrichen. Das Verständnis von Hegels eigener Fassung dieses Verhältnisses ist eng an das auch seines Umgangs mit den erwähnten Vorgängern in Behandlung dieser Frage gebunden. Einer der Hörer von de Mans Vortrag über Kant und Schiller, Meyer Howard Abrams, brachte Hegel denn auch gleich ins Spiel, wohl um die eben erfolgte Gegenüberstellung des leichtfertigen Dichters mit der strengen und 5 Der bekannteste ist Frederick Beiser: Schiller as Philosopher. A Re-Examination, Oxford / New York 2008, 164. 6 P. de Man: „Kant and Schiller“, in: ders.: Aesthetic Ideology, hg. von Andrzej Warminski, Minneapolis / London, 19972, 129 – 162, hier bes. 154 ff. [Übersetzungen der zitierten Stellen von mir, P.S.]. 7 Sowohl zur Schwierigkeit des Umgangs mit de Mans Werk als auch zu seiner HegelDeutung siehe das Nachwort „,Unglückliches Bewußtsein‘ Literatur und Kritik bei Paul de Man“, in: P. de Man: Ideologie des Ästhetischen, 265 – 299.

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gründlichen philosophischen Tradition auf die Probe zu stellen. Er warf in der anschließenden Diskussion8 die Frage auf, inwieweit nicht Schiller gerade mit den Briefen über die ästhetische Erziehung von 1793 in besonderer Weise Wegbereiter Hegels sei. Während Abrams einräumen mußte, daß sich Schillers Konzeption des Chiasmus von Kant, Fichte und Hegel darin unterscheidet, daß die Vermittlung der Gegensätze darin keine wirklich dialektische ist – ihr fehlt das Moment der Negation –, war de Man genötigt zuzugestehen, daß sich andere Aspekte bei dem Dichter betonen ließen, unter denen er Hegel näherstünde als dessen Kollegen vom Fach. In der Tat dürfte die angemessene Einschätzung der gleichzeitigen Nähe und Ferne Hegels zu Schiller auf zwei Faktoren beruhen. Denn Schiller fordert, was mit Hegels Anspruch zusammentrifft, ein Ganzes ein, worin die bei Kant in weitgehender Trennung und Entgegensetzung verbleibenden Bereiche von Moral beziehungsweise Politik und Kunst in der konkreten Einheit menschlicher Wirklichkeit zusammenfinden. Zugleich trägt er aber gewiß nicht maßgeblich zur Ausbildung jener dialektischen Methode bei, welche diese Einheit im Zuge einer systematischen philosophischen Darstellung der Wirklichkeit beziehungsweise des Geistes auch tatsächlich aufzuweisen erlaubt. Hegels neue Bestimmung des bei Kant kürzlich erst in vormals unbekannter Trennschärfe gefaßten Verhältnisses von Moral und Ästhetik ist vorrangig aus der Entwicklung heraus zu begreifen, die das philosophische Denken bei Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling genommen hatte. Beide greifen zentrale Einsichten von Kants transzendentalem Ansatz auf, um dessen kritisch ermittelte Grenzen des Erkennens sogleich wieder zu überschreiten. Hatte bei Kant der Grenzbegriff des Dings an sich das Unbedingte mangels möglicher Anschauung der Erkenntnis grundsätzlich entzogen, halten Fichte und ihm folgend Schelling es mit einem Grundsatz und einer in dessen Ausführung angewandten intellektuellen Anschauung, die Kants Beschränkung gegenstandslos macht. In den von ihnen entworfenen idealistischen Systemen wird die dialektische Negation und Vermittlung zum Prinzip der Selbsterzeugung und Selbsterkenntnis eines Absoluten, das als Inbegriff geistiger Akte ein ich- oder selbsthaftes Wesen hat. Fichte entwickelt seine Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/ 95 im Ausgang von einem Absoluten Ich als dessen Selbstbestimmung zu einem Ganzen, das sich gegen kein es bedingendes Außen mehr konstituiert, sondern zu diesem Ziel durch die Setzung sowohl seiner selbst als auch seines eigenen Gegensatzes fortschreitet9. Schelling unternimmt dann in seinem System des transzendentalen Idealismus von 1800 den entscheidenden Schritt im Vorfeld von Hegels Kunstphilosophie. Anders als Fichte faßt Schelling das Absolute als eine Einheit, die gegenüber jenen inneren Entgegensetzungen, durch welche es das Wissen 8 Diese Diskussion ist in der angeführten englischen Veröffentlichung des Vortrags diesem angehängt. 9 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., Bd. I, 2, 255 ff.

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von sich selbst zustande bringt, gleichsam erhaben bleibt, und entwirft das Zu-SichKommen seiner als Intelligenz als eine doppelte und komplementäre Bewegung: Die universelle Intelligenz erkennt sich als bewußtlos tätige und objektive oder als Natur, die erst auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung so etwas wie Selbstbewußtsein erreicht. Ebenso erkennt sie sich aber auch als die subjektive und bewußte eines Ichs, das sich seiner selbst in der eigenen geistigen Tätigkeit als dasjenige bewußt ist, was die als Natur erkennbare objektive Wirklichkeit allererst erzeugt. Naturund Transzendentalphilosophie, Realismus und Idealismus werden so zu den zwei einander ergänzenden Teilen des Systems. In der erwähnten Schrift, welche, wie der Titel anzeigt, den zweiten, ideellen Teil des Systems ausführen soll, deduziert Schelling auf einer der letzten Stufen der Entwicklung sowohl das Recht als auch den Begriff der Geschichte, also den Bereich der Politik, um im allerletzten Abschnitt mit einer „Philosophie der Kunst“ zu enden. Das Kunstschaffen wird von Schelling zu jener Form, in welcher sich durch „jene absolute Vereinigung“ der „beiden Tätigkeiten“, nämlich der bewußten und der bewußtlosen, die bislang „in einer unendlichen Entgegensetzung“ waren, das „Absolute“ bekundet, das er ihnen als das „Unbekannte“ voraussetzt und „welches den allgemeinen Grund der prästabilierten Harmonie zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen enthält.“ Schelling deutet den unbegreiflichen Anteil am Gelingen des Aktes poetischer Produktion, der üblicherweise, so auch bei Kant, dem Genie zugeschrieben wird, als Bestätigung jenes Begriffs vom Absoluten, der seiner Systemkonzeption zugrunde liegt. Er unternimmt dies im gegenüberstellenden Vergleich mit dem, was die Intelligenz in ihrer vorangegangenen Bestimmung als praktische – also sie in ihrer Freiheit – ausmachte. Wie beim Handeln das Schicksal als „dunkle unbekannte Gewalt […] zu dem Stückwerk der Freiheit das Vollendete, oder das Objektive hinzubringt“, so wird auch „mit dem dunkeln Begriff des Genies bezeichnet“, „was zu keinem Bewußtsein gelangen kann, und nur aus dem Produkt widerstrahlt“, weil es „selbst entgegen der Freiheit zu dem, was mit Bewußtsein und Absicht begonnen war, das Absichtslose hinzubringt.“ Die „Intelligenz […] wird sich durch jene Vereinigung selbst überrascht und beglückt fühlen, d. h. sie gleichsam als freiwillige Gunst einer höheren Natur ansehen, die das Unmögliche durch sie möglich gemacht hat.“10 So groß die Nähe zu Hegels systematischer Erfassung und Bestimmung der Kunst hier bereits ist, läßt sich vor diesem Hintergrund ebenso benennen, worin diese sich von derjenigen Schellings wesentlich unterscheidet. Denn Hegel verwirft Schellings Vorstellung von einem Absoluten, das, der Trennung von Subjekt und Objekt vorausliegend, durch die Kunsterfahrung bestätigt würde als etwas, „was zu keinem Bewußtsein gelangen kann, und nur aus dem Produkt widerstrahlt“. Ähnlich 10 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des Transscendentalen Idealismus (1800), in: ders.: Schelling Werke, hg. v. Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen und Hermann Krings, Stuttgart 1976 ff., Bd. 9, 1, 452 ff. bzw. 312 ff.

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wie bei Schelling erhebt sich das Absolute, der Geist, in Hegels systematischer Darstellung in der Folge seiner Selbstverwirklichung in Recht und Geschichte zur Selbsterkenntnis. In dieser, welche durch die Formen von Anschauung, Vorstellung und Denken, also der Kunst, der Religion und schließlich der Philosophie erfolgt, erweist er sich aber nicht als eine sich dem Bewußtsein entziehende und gleichsam uneinholbare Voraussetzung. Er ist vielmehr der Prozeß des sich durch die Gegensätze und ihre Vermittlung hervorbringenden Wissens der Wirklichkeit von sich selbst. Wenn dieser Prozeß vollkommen durchlaufen und an sein Ende gelangt ist, gibt es kein anderes Absolutes mehr als eben dieses reine Selbstbewußtsein des Geistes. Dementsprechend anders fällt, wie sich zeigen wird, in Hegels Darstellung auch die Betrachtung des Kunstschaffens und des Genies sowie die Deutung der damit verbundenen Vorstellung aus, in diesen bezeuge sich eine höhere, dem Bewußtsein transzendente Wesenheit. Aus dem Widerspruch zwischen dem Pathos, das den Künstler beseelt und als höhere Gunst aus dessen Produkt strahlt, und seinem Selbstbewußtsein als Werkschaffender, der darüber zugleich Meister bleibt, wird Hegel den notwendigen dialektischen Fortschritt des Geistes über die Kunst hinaus erweisen, der zuletzt zu dem Resultat seiner Selbsterkenntnis in der ihm wahrhaft angemessenen Form des Begriffs führt. So erfolgt Hegels enzyklopädischer Systemaufriß in der Überzeugung, denjenigen Ansatz zur Ausführung zu bringen, durch den das Ziel des nachkantischen Bestrebens erst vollgültig erreicht wird: das Denken über den mit Kant erreichten Stand hinaus – und die Philosophie in ihre endgültige Form als System des Wissens vom Absoluten überzuführen. Im folgenden soll speziell mit Blick auf das Verhältnis von praktischer Philosophie und Ästhetik ein Grundverständnis von Hegels Anspruch erarbeitet werden, die auf dieses Ziel vorausweisenden Gedanken, wie sie bereits bei Kant selbst angelegt sind, in ihrer vollen Tragweite entwickelt zu haben. Was Schiller angeht, wird er von Hegel dabei gleichsam als Zeuge aufgerufen, der auf dem Standpunkt des noch in den Entgegensetzungen verbleibenden Kantischen Denkens das sich geltend machende Bedürfnis nach einem Ausweg aus diesen artikuliert, ohne daß dessen Befriedigung auf dem Boden dieses Denkens erreicht werden könnte. Die folgenden Betrachtungen werden die Behandlung der Kunst gegen Ende des Dritten Teils der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse auf die zu Beginn des Ersten Teils erfolgte Auseinandersetzung mit der „Kritischen Philosophie“ beziehen. Obschon Hegels eigene Anfänge als Kantianer zur Zeit der Ausarbeitung ihrer drei Fassungen von 1817, 1827 und 1830 weiter zurückliegen, nimmt die Auseinandersetzung mit Kant im Vergleich zur Phänomenologie des Geistes von 1807 eine recht explizite Form an. Fällt die Behandlung der Kunst darin auch knapp aus, bietet die Enzyklopädie doch den Vorteil, so konzipiert zu sein, daß Hegel beides, sowohl die Kritik, die er eingangs gegen frühere philosophische Ansätze wendet, als auch allfällige Zugeständnisse einer Verbundenheit seines ei-

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genen mit ihnen, in der späteren Darstellung der philosophischen Themenbereiche bewährt. Bezieht man Hegels Bewertung von Kants Denken, zumal die Würdigung dessen, worin er ihm verpflichtet ist, auf die spätere Behandlung der Kunst, dann wird deutlich, wie gerade Kants Umgang mit dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik und Schillers Anknüpfung daran den Anstoß zu einer neuen Beantwortung der wesentlichen Fragen der Philosophie überhaupt gegeben haben, die in systematischer Form erfolgte. Hegels Anspruch besteht darin, in einer umfassenden und ganzheitlichen dialektischen Vermittlung der Gegensätze, wegen deren Fixierung Kants Denken seiner Einschätzung nach abstrakt bleibt, die Selbsterkenntnis des Geistes als deren konkrete Einheit darzustellen. Gerade der Zusammenhang, der sich im Übergang zur höchsten Stufe dieses Ganzen zwischen Politik und Kunst ergibt, gewährt einen Einblick darein, wie Hegel in der Auseinandersetzung mit Kant auf die Fährte seines eigenen Denkens gelangte. Um dies zu verdeutlichen, kommen zuerst Stellen aus der Kritik der Urteilskraft in Betracht, in denen Kant in seiner zurückhaltenden Zusammenführung von Ethik und Ästhetik die konkrete Ausübung von Freiheit als politischer Macht zum Beispiel der Vereinigung von Sinnlichem und Übersinnlichem wählt, sofern sie durch Versinnbildlichung des letzteren erfolgt. Dieser im Grunde künstlerische Akt wird zwar bei Kant selbst schon als die Tätigkeit eines Geistes verstanden, jedoch als die eines Geistes, der anders als der Hegelsche auf eine ästhetische Bedeutung beschränkt bleibt. Daran anschließen wird sich ein Blick auf Hegels Auseinandersetzung mit Kants „Kritischer Philosophie“ im Ersten Teil der Enzyklopädie, insbesondere der Dritten Kritik. Zuletzt soll Hegels Behandlung der Kunst im Dritten Teil der Enzyklopädie in Augenschein genommen werden. II. Der Geistbegriff in Kants Ästhetik Das Hauptaugenmerk der folgenden Betrachtungen liegt auf Kants und Hegels jeweiliger Bestimmung des Verhältnisses, welches der Wille, das Handeln und der Bereich des Normativen zum Schönen unterhalten. Dabei bestehen schon markante Unterschiede darin, wie beide Denker diese Bereiche jeweils für sich betrachten. Anders als Hegel erachtet Kant es nicht nur für möglich, sondern gar für erforderlich, sich in einem grundlegenden Zugang unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt eines Moralbegriffs mit dem Handeln zu befassen, während Fragen des Rechts und des Staates, im Grunde die gesamte geschichtliche Dimension, ausgeblendet bleiben. Seine Ästhetik präsentiert sich über weite Strecken als Explikation des Urteils über das Schöne, sofern es die Naturformen zum Bezugsgegenstand hat. Erst gegen Ende seiner Ausführungen wendet er sich der Kunst zu. In Hegels Ästhetik begegnet man dagegen einer Philosophie der Kunst. Mag sich auch zeigen lassen, daß es sich bei der Ansicht, Hegel habe mit dem Naturschönen

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überhaupt nichts anzufangen gewußt, um ein Vorurteil handelt11, ändert dies nichts an seiner untergeordneten Bedeutung. Das ist nicht verwunderlich, bedenkt man, daß Hegels System die Wirklichkeit insgesamt, einschließlich der Natur, als das ZuSich-Kommen eines Geistes darstellt, der so wie jener, den Kant in seiner Kunsttheorie auftreten läßt, mehrere Momente vereint, bei ihm aber eben nicht auf eine ästhetische Bedeutung beschränkt bleibt, sondern eine absolute erhält. Es ist auch die Erörterung des Naturschönen, in der Kant nach erfolgter Abgrenzung eine vorsichtige Beziehung zwischen dem Sittlich-Guten der praktischen Philosophie und dem interesselosen Wohlgefallen am Schönen herstellt12. In den Gedanken über das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten ist das Kunstschöne dann bereits miteinbezogen. Bei Schiller, der sich unter gewißen Vorbehalten den Grundsätzen von Kants Philosophie verpflichtet weiß, liegen die Dinge ähnlich. Er beschwört – und dies auf sehr pathetische Weise – die Beziehung, die der Vertreter einer moralischen Gesinnung zur Natur unterhält13, bestimmt aber auch eigens das Verhältnis des Kunstschönen zur Moral und zur Politik, sofern erstere in letztere zur Wirkung gelangen muß. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen bemühen die Erfahrungen mit dem terreur im Gefolge der französischen Revolution als aktuellen Anlaß, um ein Problem zu kennzeichnen, welches das Erfordernis dieser Erziehung einsichtig werden läßt: Da faktisch keine solchen politischen Verhältnisse entstanden sind, wie sie unter den ursprünglichen Idealen der Revolution hätten entstehen müssen – übereinstimmend mit dem, was Kant als die Folge des Handelns aus einer sittlichen Gesinnung bestimmt hatte –, muß der Grund im nichtgelingenden Übergang vom Sein zum Sollen, von der bestehenden Wirklichkeit zum verwirklichten Ideal liegen14. Nach Schiller braucht es folglich eine Instanz, die diesen Übergang in einer gelingenden Weise bewerkstelligt. Zwar hätten die unbedingten Forderungen des Moralgesetzes Vorrang, doch dürfe der physischen Existenz, den Forderungen dessen, was bereits besteht, moralisch beurteilt aber noch ungenügend ist, nicht ganz Abbruch getan werden: Darum entwirft Schiller ein Konzept der Erziehung menschlicher Sinnlichkeit, in der die Kunst und ihr Schein eine entscheidende Rolle 11 Vgl. dazu Karsten Berr: Hegels Bestimmung des Naturschönen, Dissertation, Hagen 2009, 1 – 9. 12 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900 ff. Im folgenden mit AA abgekürzt und mit Bandangabe in lateinischen Ziffern angegeben, hier: AA V, 298 – 303. 13 Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, in: ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, hg. von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, Weimar 1962, 413 – 503, 428. 14 Friedrich von Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Philosophische Schriften. Erster Teil, 309 – 412, hier besonders der Dritte Brief und die folgenden, 313 ff.

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spielen. Hegel wird insbesondere auch in seiner Auseinandersetzung mit Kant jedes Sollen zurückweisen, das der gewachsenen Wirklichkeit als unvermittelt-abstrakte Forderung gegenübersteht. Indessen vollzieht Kant selbst in seiner Ästhetik schon einen Schritt in Hegels Sinne zur Konkretisierung des Freiheitsgedankens. Im vielbeachteten 59. § der Kritik der Urteilskraft führt Kant ein doppeltes Beispiel für das Symbolisieren an. Diese für das künstlerische Schaffen so wesentliche Tätigkeit bezieht sich hier auf eine jener Vernunftideen, die nach Kant nur als praktische auch objektive Realität erhalten. Es ist die Kausalität aus Freiheit, das Handeln aus freiem Willen, das symbolisiert wird. Unter dem Bedürfnis, sie sinnlich darzustellen, kommt sie aber nicht wie in Kants Moralmetaphysik unter Abstraktion von den bestimmten Verhältnissen in Betracht, in denen sie immer schon steht. Sie wird in einer der möglichen Formen ihrer konkreten geschichtlichen Verwirklichung angesprochen. So ist sie in einem politischen Gemeinwesen entweder auf die eine oder auf eine andere Weise wirksam. Ihre Ausübung läßt sich dementsprechend auch auf zwei Weisen symbolisch darstellen: „So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn, zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Causalität zu reflectieren.“15

Das Bedürfnis nach sinnlicher Darstellung kann zugleich auch als das Bedürfnis gesehen werden, sich eine konkrete Vorstellung von etwas zu machen, das als isolierter Begriff abstrakt bliebe. Eine sinnliche Anschauung zu einem solchen zu geben, bedeutet schon, ihn näher zu bestimmen oder zu konkretisieren. So ist es auch, wenn ein herrschender Wille durch ein Symbol dargestellt werden soll: Es kann wohl kein Symbol geben, das Freiheit ganz unbestimmt oder abstrakt vorstellig machte, also nicht zugleich auch schon einen konkreten Charakter ihrer Ausübung unter den realen Bedingungen menschlicher Existenz. Unter diesen ist Freiheit schließlich immer etwas sehr Konkretes – in Form ihrer Ausübung vonseiten der Staatsmacht oft konkreter, als man sich das wünscht. In dem Bestreben, Bilder zu finden, die das, was selbst nicht sinnlich gegeben ist, zur Darstellung bringen und ansprechbar machen, drückt sich demnach ein Bedürfnis aus, das von philosophischem Interesse ist. Denn diesem Bedürfnis entspricht etwas innerhalb der menschlichen Vermögen, etwas Ursprüngliches: ein Prinzip; und Kants kritischer Philosophie geht es gerade um eine Bestimmung der sinnlichen und intellektuellen Vermögen. Das Prinzip, das die Befriedigung dieses Bedürfnisses bedingt, wurde von Kant schon in § 49 eingeführt. Es erlaubt die sinnliche Darstellung von Übersinnlichem, mithin von Ideen. Kant verleiht ihm in Anlehnung an den Sprachgebrauch die Bezeichnung „Geist“, allerdings unter einer Einschränkung. Er beruft sich darauf, daß man sowohl von Menschen – nach Kants 15

Kant: AA V, 352.

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eigenem Beispiel „von einem Frauenzimmer“ – als auch von menschlichen Erzeugnissen und Tätigkeiten wie Gedichten oder Unterhaltungen sagt, sie hätten Geist oder es mangle ihnen an diesem, und er stellt fest: „Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Princip im Gemüthe.“16 Geist ist nach Kant also erstens etwas, das man Menschen im Hinblick auf bestimmte Tätigkeiten zuschreibt, die sie bewußt und vorsätzlich vollziehen, und zwar dann, wenn dieser Vollzug eine bestimmte Form annimmt oder eine bestimmte Eigenschaft erkennen läßt. Zweitens attestiert man Geist aber auch dem, was sich als objektiver Ausdruck dieser Tätigkeit verdankt. Es wäre gar nicht möglich, eine Gesprächspartnerin oder Dichterin als geistreiche Person zu bezeichnen, wenn es keine Unterhaltung oder kein durch ihre künstlerische Tätigkeit arrangiertes Objekt gäbe: das Gedicht, in dem und durch das dieses ihr Gemüt belebende Prinzip, der dem Werk innewohnende Geist, zu uns spricht. Schließlich kann in einem dritten Moment der intersubjektiven Mitteilung nur darum geurteilt werden, daß die Künstlerin Geist hat und ihr Werk von solchem zeugt, weil durch letzteres auch unser Gemüt belebt wird, das heißt: weil es uns begeistert. Wenn auch Unterhaltungen geistreich sein können oder nicht, ist das belebende Prinzip wohl nicht auf künstlerische Genies beschränkt: Es gibt Menschen, die niemals ein Bild malen, ein Theater- oder Musikstück schreiben beziehungsweise komponieren oder eine Skulptur bilden werden und auch im Zwiegespräch noch tödlich langweilen können, die aber in einer größeren geselligen Runde plötzlich aufblühen, sich beleben, ganz unerwartete Assoziationen herstellen und witzige Einwürfe machen. Zugleich deckt der weitgefaßte Geistbegriff auch die Unterscheidung zwischen Genius und Virtuose ab: Wer sich vorrangig in unmittelbarer Interaktion mit anderen belebt, die Geselligkeit als Raum des Schaffens und die Einsamkeit nur als den des Übens erfährt, wird wohl eher Schauspielerin als Dramendichterin, Orchestermusiker statt Komponist. Gewiß ist aber wohl, daß, wenn schöne Kunst, wie Kant in § 46 verlautbart hatte, stets Kunst des Genies ist und Geist „zu den Vermögen des Gemüths“ gehört, „welche das Genie ausmachen“, diese Lebhaftigkeit besonders ausgeprägt sein muß im Gemüt derer, die große Werke schaffen. Sie stellt sich bei ihnen gerade auch dann ein, wenn andere körperlich abwesend und nur geistig anwesend sind. Der Geist hat also wesentlich Anteil am Vorstellbarmachen von Übersinnlichem. Das versteht sich daraus, daß Kant ihn als „das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen“ bestimmt. Eine Idee ist nach Kants Auffassung ein Begriff, der „die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt“17, zu der es der sinnlichen Anschauung bedarf. Nun unterscheidet er aber von dieser „Vernunftidee“, die „ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann“, die ästhetische Idee als „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat 16 17

Kant: AA V, 313. Kant: Kritik der reinen Vernunft, AA III, 250 bzw. A 320, B 377.

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sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“18 Läßt das Finden von Symbolen wie in Kants Beispiel von der Handmühle, die den despotisch geführten Staat versinnbildlicht, einen gewißen Witz oder ésprit erkennen, also so etwas wie Geist, dann ist nicht gleich zu sehen, inwiefern es auf eine ästhetische Idee bezogen ist. Hier wird die Ausübung der Freiheit und damit eine Vernunftidee versinnbildlicht. Indessen erklärt Kant anhand einer bestimmten Kunstform, nämlich der Dichtung, daß künstlerisches Schaffen auf Vernunftideen bezogen sein kann: „Der Dichter“, sagt er, „wagt es, Vernunftideen“ wie jene der Ewigkeit oder die von Himmel und Hölle „zu versinnlichen“19. Gleich im Anschluß führt er Beispiele dafür an, wie etwas wenigstens dem Beispiel nach aus der Erfahrung Bekanntes, etwa gewiße Laster wie der Neid oder auch spezielle Fähigkeiten wie die Liebe, von der künstlerisch zu Werke gehenden Einbildungskraft in einer Weise dargestellt werden, welche nach dem Vorbild der Vernunft und ihrer Ideen alle Erfahrung überschreitet. Dazu bemerkt er noch, es sei „eigentlich die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann.“ Es scheint sich also in beiden Fällen von Ideen um zwei verschiedene Weisen der Beziehung auf dasselbe Übersinnliche zu handeln. Demnach hieße dies: Das Reflektieren darüber, wie es ist, in einem bestimmten Staat zu leben, geht von der entsprechenden Erfahrung aus, führt aber über diese hinaus und folgt somit einer ästhetischen Idee. Im Zuge des auf diese Idee gerichteten Tuns des künstlerisch zu Werke gehenden Geistes kann es auch zur Symbolisierung von Vernunftideen wie jener der Freiheit kommen. Kants Erklärung der Befähigung des Schönen, als Symbol des Sittlich-Guten zu dienen, beruht im Grunde auf der Möglichkeit einer gewissen Übereinstimmung des Subjektiven und des Objektiven. Das übersinnliche Innere findet sich im sinnlichen Außen wieder. Darauf beruht die gesamte „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“, also der Geschmacksurteile über das Schöne nicht nur der Kunst, sondern auch der Natur. Solange es aber um das Naturschöne und das Erhabene geht, setzt ihre Erklärung auf der Seite des Subjekts als übersinnliches Vermögen nur die Vernunft voraus. Geist kommt erst ins Spiel, wenn sich die Übereinstimmung einer bewußten Gestaltung des Außen verdankt. In der Erörterung der symbolischen Darstellung des Guten durch das Schöne erklärt Kant nun auch die Urteilskraft im ästhetischen Urteilen auf „etwas“ bezogen, das zugleich inner- wie auch außerhalb des Subjekts ist und „in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden wird.“ Dieses „etwas“ sei mit dem Grunde der Freiheit, nämlich dem „Übersinnlichen“ verknüpft. Der Geschmack als ein Vermögen der Urteilskraft, die zwischen dem Verstand steht, der die Sinnenwelt erkennt, und der Vernunft, die sie nach dem Moralgesetz gestaltet, wird von Kant in § 59 seiner Dritten Kritik als jenes der subjektiven 18 19

Kant: AA V, 314. Ebd.

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Vermögen bestimmt, das ein wenig über die strenge Grenze, die dem Erkennen an den sinnlichen Erscheinungen gezogen ist, „hinaussieht“ auf das „Intelligibele“20 – eine Grenze, über die hinaus kein Anschauen und damit eigentlich kein Erkennen mehr möglich ist. Im Geschmacksurteil über das Schöne ist uns, wenn auch nur augenblicklich und vorübergehend, als hätten wir das sich entziehende übersinnliche Objekt selbst eingeholt, das den sinnlichen Erscheinungen zugrunde liegt.

III. Hegels Auseinandersetzung mit Kant im Ersten Teil der Enzyklopädie Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften erteilt in doppelter Weise Auskunft darüber, wie sich die von Hegel zur spekulativen Wissenschaft erhobene zu Kants „Kritische[r] Philosophie“ verhält. Sie tut dies einmal expressis verbis, wenn sie im Ersten Teil, im „Vorbegriff“ zur „Wissenschaft der Logik“ die „Zweite Stellung des Gedankens zur Objektivität“ behandelt. Sie tut es aber konsequenter Weise auch in all ihren Teilen – in der Durchführung des von ihr vorweg entwickelten Philosophiebegriffs in Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Dabei ist es speziell die letztere, in deren Aufbau sich Hegels explizite Hinweise auf jene Stellen von Kants Denken widerspiegeln, an denen dieses sich ansatzweise schon zu einem wahrhaft spekulativen Denken erhebt. In seiner knappen Wiedergabe sieht Hegel die Kritische Philosophie an dem scheitern, was er selbst zu leisten beansprucht. Kant führe zwar, um dadurch sowohl die rationalistische Metaphysik als auch den Empirismus zu überwinden, das reine Denken als eines ins Treffen, das seinen Inhalt nicht einfach empfange, sondern selbst bestimme, doch verfehle er es gerade, diesen Inhalt der von ihm als ursprünglich aufgewiesenen Denkbestimmungen aus deren Verhältnis zueinander zu entwickeln. Stattdessen betrachte er sie nur „nach dem Gegensatz von Subjektivität und Objektivität überhaupt.“ Dabei werde, was innerhalb der Erfahrung das Objektive ausmachen solle – die besagten apriorischen Denkbestimmungen in ihrer Notwendigkeit und Allgemeinheit im Gegensatz zu den zufälligen Anschauungen und Wahrnehmungsinhalten –, zuletzt wieder in die Subjektivität zurückgenommen. Denn diese schließe „das Gesamte der Erfahrung“ ein, der als Objekt und Gegensatz „nichts gegenüber bleibt als das Ding-an-sich.“21 Von diesem hält Hegel fest, daß es im Grunde auch nur durch das Denken und das Ich erzeugt sei: Von jedweder Bestimmung des Gegenstandes abstrahierend, erschaffe es ein „als Jenseits“ bestimmtes „Abstraktum“, worin das Ich aber, wie Hegel behauptet, nur „die leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstande macht.“22 Weil damit – so resümiert Hegel Kants Transzendentale Analytik – alle inhaltliche Bestimmung aufseiten der letztlich doch nur subjektiv bedingten Erfahrungserkenntnisse zu liegen 20

Kant: AA V, 353. Hegel: Werke 8, 113. 22 Hegel: Werke 8, 121.

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kommt, hat es das Erkennen, zumal da das Unbedingte als das Bezugsobjekt jedweder Wahrheit nur das schlechthin Bestimmungslose wäre, lediglich mit Erscheinungen und Unwahrem zu tun. Während die „Kantische Kritik“ für Hegel mit diesem Resultat in Fragen des Erkennens „bloß ein subjektiver (platter) Idealismus [ist], der sich nicht auf den Inhalt einläßt, nur die abstrakten Formen der Subjektivität vor sich hat, und zwar einseitigerweise bei der ersteren, der Subjektivität, als letzter schlechthin affirmativer Bestimmung stehen bleibt“, sei – wie Hegel mit Blick auf Kants Transzendentale Dialektik bemerkt – von der „zweite[n] Seite der Vernunftkritik“ diesbezüglich doch noch etwas mehr zumindest angezeigt. Denn es „kommt der Inhalt der Kategorien wenigstens nach einigen Bestimmungen zur Sprache“23, wo die Vernunft diese in transzendenter Weise nicht auf die Erfahrung, sondern auf ihr eigenes Objekt, das Ding an sich oder das Unbedingte, anzuwenden sucht. Der einseitige Formalismus der Subjektivität wird so ein wenig ausgeglichen. So findet Hegel denn manches an Kants Auseinandersetzung mit der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie hervorzuheben, was bei aller Unzulänglichkeit seines Umgangs mit diesen Themen wenigstens auf die verabsäumte Entwicklung des Inhalts der reinen Denkbestimmungen vorausweise. Dazu gehöre etwa, daß „der Widerspruch, der am Vernünftigen durch die Verstandesbestimmungen gesetzt wird, wesentlich und notwendig ist“24. Wo Kants Kritik der Gottesbeweise zuletzt lediglich auf Mißverständnissen beruhe, lasse sich daraus immerhin indirekt die Bedeutung der Negation einsehen, die dem Denken wesentlich ist, sofern der Geist in seinem Gang das „Erheben des Denkens über das Sinnliche“ vollzieht als den „Sprung, der mit Abbrechung der Reihen des Sinnlichen ins Übersinnliche gemacht werde“25. Der Vorwurf des „Formalismus“, also des Verkennens der inhaltlichen Tiefe des philosophischen Fragens, trifft auch Kants praktische Philosophie. In praktischen Belangen kann die Vernunft nach Kant, wie Hegel ihn referiert, „imperative, objektive Gesetze der Freiheit geben“, weil sie hier „als der sich selbst und zwar auf allgemeine Weise bestimmende, d. i. denkende Wille gefaßt“ werde. Doch sei, wenn es um dieses Bestimmen durch ein selbstauferlegtes Gesetz gehe, „wieder nichts anderes vorhanden als dieselbe abstrakte Identität des Verstandes, daß kein Widerspruch in dem Bestimmen stattfinde“. So dünn infolge seines Formalismus dieses objektive Bestimmen dessen, „was geschehen soll“, auch bleibe, setzt Kants praktische Vernunft nach Hegel „die allgemeine Bestimmung, das Gute, nicht nur in sich, sondern ist erst eigentlicher praktisch in der Forderung, daß das Gute weltliches Dasein, äußerliche Objektivität habe, d. i. daß der Gedanke nicht bloß subjektiv, sondern objektiv überhaupt sei.“26

23

Hegel: Werke 8, 123 f. Hegel: Werke 8, 126. 25 Hegel: Werke 8, 131. 26 Hegel: Werke 8, 138.

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In der Art und Weise, wie Kant dieses Postulat aufstellt, nach welchem die Objektivität des Guten nicht nur im Sollen oder im eigenen moralischen Urteil, sondern sehr wohl in der Verwirklichung des Moralgesetzes in der äußeren Wirklichkeit bestünde, sieht Hegel die Inkonsequenz beziehungsweise den Widerspruch sich kundtun, in den die kritische Philosophie in Verfolgung ihres Ansatzes gerät und den sie vergeblich zu meistern versucht. Denn sofern Kant fordert, daß die „Idee“ der praktischen Vernunft oder „der absolute Endzweck, das Gute, in der Welt verwirklicht würde, und zwar durch ein Drittes, die diesen Endzweck selbst setzende und realisierende Macht, – Gott“, sieht er durchaus vor, daß die „Gegensätze von Allgemeinheit und Einzelheit, von Subjektivität und Objektivität aufgelöst und für unselbständig und unwahr erklärt sind.“27 Demnach wäre bei Kant selbst schon als Forderung, die das Denken oder die Vernunft erhebt, das aufgestellt, worunter Hegels Darstellung der Philosophie als systematischer und spekulativer Wissenschaft erfolgt: ein nicht äußerlicher, sondern innerer Endzweck der Wirklichkeit – bei Hegel die Idee, im Singular –, in welchem Subjekt und Objekt, Begriff und Realität zur Einheit gelangen. In seinem Formalismus vermag Kant in Hegels Urteil dieser Forderung aber nicht zu genügen. Denn die Einheit, in welcher dies der Fall wäre, beschränke sich bei seinem Vorgänger auf „die Übereinstimmung des Weltzustands und der Weltereignisse mit unserer Moralität“, obschon sie umfassender sein müßte, damit der Gegensatz wirklich überwunden wäre. Während der Endzweck auch in dieser Beschränkung „ein bestimmungsloses Abstraktum ist, […] wird gegen diese Harmonie der Gegensatz, der in ihrem Inhalte als unwahr gesetzt ist, wieder erweckt und behauptet, so daß die Harmonie als ein nur Subjektives bestimmt wird“. Kant widerspreche sich also darin, daß er selbst von „der absoluten Wahrheit“ in Form der Aufhebung der Gegensätze des Subjektiven und Objektiven durch jenes Dritte, den Endzweck beziehungsweise die ihn realisierende Macht Gottes spricht, diesen Endzweck dann aber sogleich wieder „als ein solches“ bestimmt, „das nur sein soll, d. i. das zugleich nicht Realität hat, – als ein Geglaubtes, dem nur subjektive Gewißheit, nicht Wahrheit, d. i. nicht jene der Idee entsprechende Objektivität zukomme.“28 Die kritische Philosophie versuche vergeblich, sich dadurch zu behelfen, daß sie aus der Not eine Tugend macht. Hegel konstatiert: „Wenn dieser Widerspruch dadurch verdeckt zu werden scheint, daß die Realisierung der Idee in die Zeit, in eine Zukunft, wo die Idee auch sei, verlegt wird, so ist solche sinnliche Bedingung wie die Zeit das Gegenteil vielmehr von einer Auflösung des Widerspruchs, und die entsprechende Verstandesvorstellung, der unendliche Progreß, ist unmittelbar nichts als der perennierend gesetzte Widerspruch selbst.“ Die Sache stelle sich bei Kant so dar, daß „soeben das Vereinte für das Wahrhafte erklärt worden ist“, dann aber wieder versichert werde, „daß die beiden Momente, denen in der Vereinigung

27 28

Hegel: Werke 8, 142. Hegel: Werke 8, 142 f.

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als ihrer Wahrheit das Fürsichbestehen abgesprochen worden ist, nur so, wie sie getrennte sind, Wahrheit und Wirklichkeit haben“. Hegel wertet dies gleichsam als den Punkt, an dem Kants Denken über sich selbst hinausweist und dem eigentlichen philosophischen Ansatz das Stichwort gibt. Es zeige sich darin die Widersinnigkeit und Unhaltbarkeit davon, wie Kant in der Anweisung des Erkennens auf bloße Erscheinungen so etwas wie eine natürliche Schranke desselben für etwas Absolutes ausgeben möchte. Um die natürliche Beschränktheit von irgendetwas könne man schließlich nur dann wissen, wenn man es von einem „darüber hinaus“ erhobenen Standpunkt aus zu betrachten vermag, sodaß die Schranke selbst „den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält“29. Jenes Unbedingte, das anders als das Ding an sich nicht jenseits des Bewußtseins ist, sondern in diesem zu sich kommt, ist der Geist. Er erweist sich in Bezug auf die im Bewußtsein auftretenden Gegensätze des Einzelnen und des Allgemeinen, des Subjektiven und Objektiven als das sie aufhebende und zu bloßen Momenten des Wahren machende Dritte, der innere Endzweck des Ganzen, das Absolute oder Gott. Der höhere Standpunkt dieses nicht mehr kritischen, sondern spekulativen Denkens zeichnet sich für Hegel bei Kant aber nicht nur ab, wenn man von den aufweisbaren Mängeln der Ersten und der Zweiten Kritik die Linien weiterzieht bis dahin, wo jene wieder verschwinden. Er ist namentlich in der Dritten Kritik bei Kant selbst angelegt, wo dieser das Übersinnliche, das bisher vorrangig durch die Begriffe des Dings und des Zwecks an sich, der intelligiblen Welt, der Freiheit und des Sittengesetzes bezeichnet worden war, noch einmal unter dem Gesichtspunkt der reflektierenden Urteilskraft betrachtet – und wo er die Begriffe des Lebens und des Geistes in sein kritisches Werk einführt. So erklärt Hegel in seiner Enzyklopädie Kant dafür, daß er das Allgemeine, worin das Denken sich bewegt, wenigstens in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen der Ästhetik und den Zweckbegriffen in der lebendigen Natur nicht abstrakt bleiben läßt, zum Vorgänger in der Anwendung seines eigenen Wissenschaftsbegriffs. In § 55 schreibt er: „Die Kritik der Urteilskraft hat das Ausgezeichnete, daß Kant in ihr die Vorstellung, ja den Gedanken der Idee ausgesprochen hat. Die Vorstellung eines intuitiven Verstandes, innerer Zweckmäßigkeit usf. ist das Allgemeine zugleich als an ihm selbst konkret gedacht. In diesen Vorstellungen allein zeigt daher die Kantische Philosophie sich spekulativ.“30 Anspielend auf seinen eigenen Vorwurf, wonach Kants Denken in seinen anderen kritischen Schriften in den Entgegensetzungen des Verstandesdenkens befangen bleibe, setzt Hegel mit der Bemerkung fort: „Viele, namentlich Schiller, haben an der Idee des Kunstschönen, der konkreten Einheit des Gedankens und der sinnlichen Vorstellung, den Ausweg aus den Ab29 30

Hegel: Werke 8, 144. Hegel: Werke 8, 139 f.

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straktionen des trennenden Verstandes gefunden, – andere an der Anschauung und dem Bewußtsein der Lebendigkeit überhaupt, es sei natürlicher oder intellektueller Lebendigkeit. – Das Kunstprodukt wie die lebendige Individualität sind zwar beschränkt in ihrem Inhalte; aber die auch dem Inhalte nach umfassende Idee stellt Kant in der postulierten Harmonie der Natur oder Notwendigkeit mit dem Zwecke der Freiheit, in dem als realisiert gedachten Endzwecke der Welt auf.“ Hegels eigener Werdegang weist ihn selbst als einen jener Kantianer aus, die diesen Ausweg suchten. Demnach ist die Erwähnung Schillers als die eines Vorgängers auf den Pfaden jener Intuition zu lesen, die bei Kant selbst das Heilmittel gegen das aufspüren will, was an dessen Denken als ungenügend empfunden wird. Daß die Umsetzung dieses Bestrebens bei Schiller Hegels philosophischen Ansprüchen nicht genügt haben wird, versteht sich schon von dem Aufwand der Ausarbeitung einer Logik her, die im folgenden Ersten Teil der Enzyklopädie jene „dem Inhalte nach umfassende Idee“ entfaltet, auf deren Grundlage sich im Zweiten und Dritten Teil die Realphilosophie der Natur und des Geistes darstellen wird lassen. Schiller selbst bekennt schließlich, noch auf dem Boden von Kants kritischer Philosophie zu bleiben31. Sogleich gibt Hegel aber an, warum der auch von anderen schon ersehnte Ausweg aus den Trennungen des Verstandes, solange man noch im Kantischen Ansatz verbleibt, eher im Kunstschönen und im Begriff der lebendigen Natur als in dessen Konzept des Endzwecks erblickt wird. Je ernster es mit dem Verlangen nach der Einheit des Geschiedenen ist, desto weniger wird dieses aus den genannten Gründen Befriedigung finden in Kants Projektion derselben in eine unbestimmte Zukunft. Denn „die Faulheit des Gedankens“ habe „bei dieser höchsten Idee an dem Sollen einen zu leichten Ausweg, gegen die wirkliche Realisierung des Endzwecks an dem Geschiedensein des Begriffs und der Realität festzuhalten. Die Gegenwart hingegen der lebendigen Organisationen und des Kunstschönen zeigt auch für den Sinn und die Anschauung schon die Wirklichkeit des Ideals. Die Kantischen Reflexionen über diese Gegenstände wären daher besonders geeignet, das Bewußtsein in das Fassen und Denken der konkreten Idee einzuführen.“32 Stellt man der „Faulheit des Gedankens“ Hegels Rede von der Arbeit des Begriffs zur Seite, könnte man sagen, daß es die beiden erwähnten Gegenstände sind, in deren Betrachtung Kant zur letzteren anregt – mehr aber auch nicht, da er, wie Hegel gleich im nächsten, dem 56. § anführt, diesen „Gedanke[n] eines anderen Verhältnisses vom Allgemeinen des Verstandes zum Besonderen der Anschauung“ als es in der Behandlung „der theoretischen und praktischen Vernunft zugrunde liegt“, nicht als „das wahrhafte, ja die Wahrheit selbst“ faßt. „Vielmehr wird diese Einheit nur aufgenommen, wie sie in endlichen Erscheinungen zur Existenz kommt, und wird in der Erfahrung aufgezeigt.“ Die Einheit, welche die Kritik der Urteilskraft dem Verhältnis der Gegensätze zugrunde legt, hätte also zur Grundlage der 31 32

Vgl. Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, 309. Hegel: Werke 8, 140.

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Philosophie als systematischer und spekulativer Wissenschaft überhaupt gemacht werden müssen. Indem Kant sie stattdessen bloß in der Erfahrung aufzeigt, bestärkt er sich zuletzt noch in seinem Befangensein im unwahren Denken, das unüberwindliche Gegensätze kennt. Die Erfahrung der Einheit wird, wie Hegel betont, in der ästhetischen Urteilskraft „im Subjekte gewährt“ und zwar durch „das Genie, das Vermögen, ästhetische Ideen zu produzieren, d. i. Vorstellungen der freien Einbildungskraft, die einer Idee dienen und zu denken geben, ohne daß solcher Inhalt in einem Begriffe ausgedrückt wäre oder sich darin ausdrücken ließe,“ und durch „das Geschmacksurteil, das Gefühl der Zusammenstimmung der Anschauungen oder Vorstellungen in ihrer Freiheit zum Verstande in seiner Gesetzmäßigkeit.“ Die teleologische Urteilskraft gelangt nach Hegel indessen bereits dazu, im Zweck nicht mehr „das Verstandesverhältnis von Zweck und Mittel, von Subjektivität und Objektivität“ zu sehen, weil er in den „lebendigen Naturprodukte[n]“ als „der tätige Begriff, das in sich bestimmte und bestimmende Allgemeine“ erfahren werde. Dieses unwahre Verhältnis der praktischen Vernunft ist zwar „in solcher Idee“ bereits „aufgehoben“, nach welcher „im Lebendigen der Zweck in der Materie immanente Bestimmung und Tätigkeit ist und alle Glieder ebenso sich gegenseitig Mittel als Zweck sind“; es wird aber von Kant sogleich wiederhergestellt, wenn „nun doch wieder im Widerspruch hiermit der Zweck für eine Ursache erklärt“ wird, „welche nur als Vorstellung, d. h. als ein Subjektives existiere und tätig sei“33. So trifft Kant auch hier Hegels Vorwurf, daß er den immanenten Zweck zu etwas Subjektivem, zu etwas nur durch uns und für uns Bestehendem erklärt, weil er die darunter befaßte Einheit der Gegensätze noch einmal im Verhältnis zur transzendenten Gegenständlichkeit einer Wirklichkeit an sich denkt. IV. Die Behandlung der Kunst im Dritten Teil der Enzyklopädie In Hegels Konzeption ist es der absolute Geist, der die Einheit der Gegensätze des Subjektiven und des Objektiven zuwege bringt. Schon darin hat dieser etwas mit Kants Geist „in ästhetischer Bedeutung“ gemein. Überdies ist das vereinigende Tun dieses Geistes insofern auch bei Hegel zunächst ein künstlerisches, als er die organisierte Totalität der auch im Denken existierenden Gegensätze zunächst in der Anschauung erzeugt, um sie sich zu vergegenwärtigen. Über dieser Gemeinsamkeit, welche die Herkunft von Hegels eigenem reifen Denken bezeugt, macht sich aber umso deutlicher der eklatante Unterschied des Stellenwerts geltend, den der Geist darin erlangt. In der Phänomenologie des Geistes findet sich ein Satz, der innerhalb von Kants Ästhetik gar keinen Sinn ergeben würde. Hegel stellt dort den Übergang vom Kapitel „Die natürliche Religion“ zum anschließenden Kapitel „Die Kunstreligion“ 33

Hegel: Werke 8, 140.

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durch eine bündige Feststellung her: „Der Geist ist Künstler.“34 Im Rahmen von Kants Ansatz ließen sich allenfalls Aussagen der Art: „Der Künstler hat Geist“ treffen und man wird unabhängig davon, ob man Hegels Einwände gegen Kants Überzeugung, das philosophische Erkennen habe sich in Schranken zu halten, berechtigt findet, wohl einräumen müssen, daß bis heute nicht nur Kant-Forscher mit Sätzen wie diesem zunächst erheblich mehr werden anfangen können. Während Kant seine Einführung des Geistes als eines ästhetischen Prinzips einfach an den allgemeinen Sprachgebrauch anlehnen kann, gehört ein erheblicher Aufwand des Begreifens dazu, um den Sinn von Hegels Äußerung zu erfassen. Hegel hat in seiner Darstellung der Kunst in der Enzyklopädie, wie Helmut Schneider in einem Vergleich der drei verschiedenen Fassungen herausgestellt hat35, auf das Kapitel zur „Kunstreligion“ in der Phänomenologie zurückgegriffen. Dem Zweck der Enzyklopädie entsprechend, als grundrißhafte Darstellung des Systems einen Leitfaden für jene ausführlichere zu bieten, die in den seinen verschiedenen Teilen gewidmeten Vorlesungen erfolgte, sind Hegels Bemerkungen zur Kunst viel knapper gehalten als in dem frühen Werk, das die Erfahrung des sich zum Geist bildenden Bewußtseins ausführlich behandelt hatte. Indessen ist auffällig, daß unter die ausgewählten Stellen, die Hegel in ähnlich lautenden Formulierungen übernimmt, insbesondere auch diejenigen fallen, die von den Ursprüngen seiner eigenen Denkweise in Kants Ästhetik zeugen. Der Schlußabschnitt der Enzyklopädie, die „Dritte Abteilung“ der „Philosophie des Geistes“, die den absoluten Geist behandelt, soll das darstellen, worauf auch nach Kant das sich in und durch Gegensätze bewegende Denken ausgerichtet ist und zustrebt: die höhere Einheit, in der diese zuletzt wieder aufgehoben sind. Bei Kant blieb die im Endzweck der Welt gedachte Einheit unter der Forderung nach der Zusammenstimmung des Weltzustandes mit der Moralität – oder mit dem, was das Sollen objektiv gebietet – eine bloß beschränkte, in dieser Beschränktheit aber dennoch ein „Abstraktum“. Nun muß sich zeigen lassen, wie der Geist die Einheit der Gegensätze zuletzt in einer dergestalt umfassenden und konkreten Weise hervorbringt, daß kein Rückfall mehr in die Abstraktion und in jenes Denken erfolgt, das den Gegensatz nicht zu Momenten aufhebt, sondern absolut setzt. Die Grundlage dafür ist an der Behandlung des subjektiven und des objektiven Geistes in der Ersten und Zweiten Abteilung der „Philosophie des Geistes“ geschaffen worden. Hegel beginnt den Abschnitt über den absoluten Geist damit, daß er die notwendige Bedingung für „das Wissen der absoluten Idee“ angibt, welche darin bestehe, „daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriffe befreit sei, um die dessen würdige Gestalt zu sein.“ Mag also die Intelligenz an sich 34

Hegel: Werke 3, 512. Vgl. Helmut Schneider: „Die Kunst in Hegels Enzyklopädie. Entwicklungsgeschichte und Interpretation der drei Fassungen“, in: Hans-Christian Lucas (Hg.): Hegels enzyklopädisches System der Philosophie: von der „Wissenschaft der Logik“ zur Philosophie des absoluten Geistes, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 381 – 410. 35

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das sein, was schlechthin frei ist, so bedarf sie doch, wie sie sich in der Wirklichkeit findet, einer Befreiung „zu ihrem Begriffe“. Diese befreiende Gestaltung der Wirklichkeit, welche Bedingung des Wissens der höheren Einheit ist, fällt unter das, was in den vorigen Abteilungen der „Philosophie des Geistes“ behandelt worden war: „Der subjektive und der objektive Geist“, ersterer die verschiedenen seelischen Erscheinungen und die theoretischen wie praktischen geistigen Vermögen des Menschen umfassend, letzterer Moral, Recht, Politik oder Staatswesen und Weltgeschichte, „sind als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet.“36 Die Kunst ist, als erste der drei zu betrachtenden Stufen, welche das „Wissen der absoluten Idee“ annimmt, die „Gestalt dieses Wissens […] als unmittelbar“. Das Wissen von der Idee ist also zunächst ein unmittelbares. Darin liege, so Hegel, „das Moment der Endlichkeit der Kunst“. Dieses wird, da der Geist nach einem Wissen von sich, mithin vom Absoluten oder Unendlichen strebt, den Fortgang zu einer höheren Form notwendig machen. Die Kunst als erste Gestalt dieses Wissens ist, wie Hegel in § 556 feststellt, „einerseits ein Zerfallen in ein Werk von äußerlichem gemeinen Dasein, in das dasselbe produzierende und in das anschauende und verehrende Subjekt; andererseits ist sie die konkrete Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes als des Ideals, – der aus dem subjektiven Geiste geborenen konkreten Gestalt, in welcher die natürliche Unmittelbarkeit nur Zeichen der Idee, zu deren Ausdruck so durch den einbildenden Geist verklärt ist, daß die Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt; – die Gestalt der Schönheit.“37 Die Rede ist hier von einem Wissen der absoluten Idee, das sich so gestaltet, daß es in ein Objekt und zwei Subjekte, ein produzierendes und ein rezipierendes, zerfällt: das Werk, einen werkschaffenden Künstler und einen Betrachter, der nicht nur anschaut, sondern auch verehrt. Hier finden sich die drei schon bei Kant angesprochenen Momente des Geistes wieder: Er ist erstens das belebende Prinzip im Gemüt desjenigen, der die Idee durch Anschauungen zur Darstellung zu bringen vermag. Er wird zweitens auch vom Kunstwerk selbst prädiziert, denn die Betrachter schauen und verehren den Geist, der im schaffenden Subjekt wirksam war, schließlich nur in dem reinen Ausdruck, den er sich im Objekt, an dessen schöner Gestalt gegeben hat. Drittens überträgt sich intersubjektiv in dieser Verehrung der Funke der Begeisterung, von der der Künstler beseelt war, auf die Gemeinde. Die abstrakten Kantischen Momente des Geistes sind bei Hegel aber konkretisiert in einer bestimmten Form der politischen Gemeinde und in der Geschichte, welche keine andere als die eigene des Geistes ist38.

36

Hegel: Werke 10, 366. Hegel: Werke 10, 367. 38 Ich danke Sergej Seitz für wertvolle Ergänzungen zu den hier angestellten Überlegungen. 37

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Durch die Rede vom Zerfallen deutet Hegel zugleich einen Mangel in dieser die Gegensätze aufhebenden Einheit an, welche die Kunst als Wissen vom Absoluten oder von der Idee ist. Diese Unzulänglichkeit, die Hegel in der Unmittelbarkeit der Kunst gründen sieht, kommt in den folgenden §§ noch weiter in Betracht. Im 560. § wird er dann noch eine anders begründete „Einseitigkeit“ hinzusetzen, die wiederum dieses Verhältnis von Künstler und Werk betrifft. Wenngleich es zerfällt, ist das Wissen der Kunst eines, worin der absolute Geist eine derart konkrete Gestalt erhalten hat, daß er als Ideal unmittelbar angeschaut wird. Dazu muß „die natürliche Unmittelbarkeit […] so durch den einbildenden Geist verklärt“ worden sein, daß sie „nur Zeichen der Idee“ ist und diese in einer Weise ausdrückt, „daß die Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt“. Der einbildende Geist weiß sich also im Werk in der Form der Anschauung und er kann sich darum auf diese Weise wissen, weil die natürliche Unmittelbarkeit in jener Gestalt, die sie durch die Tätigkeit dieses subjektiven Geistes angenommen hat, nichts anderes als die konkrete, in sich vollkommen bestimmte Idee zu schauen gibt. Der folgende § 557 identifiziert das Ideal oder die konkrete Gestalt, die im Kunstwerk angeschaut wird, mit einem „Gott“, der „bei seiner geistigen zugleich in ihm noch die Bestimmung eines natürlichen Elements oder Daseins [hat].“ Die Rede ist also von den Gottheiten des antiken Griechentums. Sogleich wird deutlich, warum die Unmittelbarkeit, welche die Form des Wissens der Idee in der Kunst ist, dem wahren Wesen des Geistes nicht angemessen ist: Die „Einheit der Natur und des Geistes“, die der Gott „enthält“, ist „die unmittelbare, die Form der Anschauung; somit nicht die geistige Einheit, in welcher das Natürliche nur als Ideelles, Aufgehobenes gesetzt und der geistige Inhalt nur in Beziehung auf sich selbst wäre“. Darum ist es „nicht der absolute Geist, welcher in dies Bewußtsein eintritt.“39 An die Stelle der Unmittelbarkeit, mit der das Wissen des Absoluten in der Kunst gleichwohl seinen Anfang nehmen muß, hat die Vermittlung zu treten, die in der geoffenbarten Religion, also der christlichen, worin Gott auch in seiner Einheit mit der Natur nichts Naturhaftes mehr hat, stattfindet; und in der Philosophie, worin die Natur, die in der Vorstellung der Religion noch ihre Äußerlichkeit behält, als ideell gesetzt und damit aufgehoben wird, sodaß der Geist sich mit sich selbst vermittelt und die höhere oder wahre Unmittelbarkeit erlangt. Wenn in „dies Bewußtsein“, das im Schönen die Idee beziehungsweise Gott anschaut, „nicht der absolute Geist […] eintritt“, dann betrifft dies dessen objektive Seite, also die Art und Weise, wie er sich für sich darstellt und gegenständlich wird. Hegel wirft sogleich auch einen Blick auf die subjektive: „Nach der subjektiven Seite ist die Gemeinde wohl eine sittliche, weil sie ihr Wesen als geistiges weiß und ihr Selbstbewußtsein und Wirklichkeit hierin zur substanziellen Freiheit erhoben ist. Aber behaftet mit der Unmittelbarkeit, ist die Freiheit des Subjekts nur Sitte,

39

Hegel: Werke 10, 367 f.

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ohne die unendliche Reflexion in sich, ohne die subjektive Innerlichkeit des Gewissens“40. Die Kunst als Form des absoluten Geistes oder als Wissen der absoluten Idee kann also nur da auftreten, wo die politische Gemeinde bereits „eine sittliche“ ist: Was die Gemeinde ausmacht und von den Einzelnen als das allgemeine Wesen gewußt wird, aus dem heraus sie sich selbst – zumal auch in ihrem Handeln – verstehen, ist etwas Geistiges: das sie alle verbindende Übersinnliche gemeinsamer moralischer Wertvorstellungen. Die Freiheit des Subjekts liegt genau darin. Bei früheren politischen Gemeinwesen, die das Göttliche noch in etwas anderes, Nicht-Geistiges setzten, bestand sie noch nicht. Doch bleibt sie auch in der sittlichen Gemeinde noch unvollkommen, da sich die Freiheit eben nicht in dieser Unmittelbarkeit erschöpft, in welcher sich das Individuum darum im allgemeinen Wesen der Gemeinde, der sittlichen Substanz, wiedererkennt, weil dieses auch als Geistiges vorgestellt und angeschaut wird. Denn ihre volle Entfaltung und ihr völlig unbeschränktes Dasein entfaltet die Subjektivität nur in der Innerlichkeit der unendlichen Reflexion in sich. Da also die Einheit zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen, in dem er oder sie lebt, nur dann tatsächlich erreicht wird, wenn die Organisation des letzteren dieser Unendlichkeit der Reflexion des Subjekts in sich entspricht – was die kleine griechische Polis nicht leistet –, weist die Reflexion über jene soziale Wirklichkeit hinaus, in welcher das Absolute oder Göttliche beziehungsweise die Idee noch in der Kunst und bloß anschauend erkannt wird. Was den Geist über die Kunst hinaustreibt, ist also die Notwendigkeit der Reflexion, die sich in der Unmittelbarkeit nicht befriedigt findet und dazu einer vermittelten Einheit bedürfte. Obgleich dies auch in der Enzyklopädie deutlich wird, kommt dieser Zusammenhang der Negation und des Übergangs in der Phänomenologie ausführlicher zur Darstellung. Dort wird hervorgehoben, daß die Kunstreligion erst nach dem Untergang der „unmittelbaren Einheit“ auftreten kann, in der „das sittliche Volk […] mit seiner Substanz lebt“, und wenn dieses bereits „im Scheiden von seinem Bestehen“41 begriffen ist. Dazu, daß der Künstler überhaupt dazu fähig wird und das Bedürfnis entwickelt, das allgemeine Wesen dieses Volkes aus sich heraus zu erzeugen und im Kunstwerk hinzustellen, kommt es allein darum, weil das Regewerden der unendlichen Innerlichkeit erstens die Unmittelbarkeit des sittlichen Selbstverständnisses, mit dem sich die Einzelnen als Repräsentanten des Ganzen betrachten, bereits zersetzt, und zweitens speziell im Künstler so weit gediehen ist, daß er dadurch ein entsprechendes Werk überhaupt erst zu entwerfen und auszuführen vermag. Während Hegels bereits angeführte Bezugnahme auf Schiller, der ihm zufolge Kants Verstandesabstraktionen überwinden wollte, Abrams Stellungnahme zu de 40 41

Hegel: Werke 10, 368. Hegel: Werke 3,

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Mans Ausführungen bekräftigt, ließe sich diese Dialektik wiederum für den Punkt anführen, den de Man machen möchte: die Negation, die im epistemologischen Unterordnungsverhältnis der Politik unter die Kunst mitgedacht ist. Denn Schiller stellt im Sechsten Brief Ueber die ästhetische Erziehung dem modernen Staat, worin die Einzelnen wie an Räder eines Uhrwerks gefesselt seien, ohne das mechanische Leben des Ganzen repräsentieren zu können, die „Polypennatur der griechischen Staaten“ gegenüber, in der das Individuum gegebenenfalls Keimzelle des sich wiedererzeugenden Ganzen werden konnte. Eine „höhere Kunst“ wird zur Hoffnungsträgerin, die verlorene Einheit wiederzuerlangen42. Hegel macht dagegen deutlich, daß es gerade der Verlust dieser Einheit ist, der – im Präludieren der modernen Befindlichkeit des Subjekts – die Kunst als eine Art Wieder-Holung des Verlorenen hervorruft. In § 558 erklärt Hegel: „Unter den Gestaltungen ist die menschliche die höchste und wahrhafte, weil nur in ihr der Geist seine Leiblichkeit und hiermit anschaubaren Ausdruck haben kann.“ Kant hatte schon im 17.§ der Kritik der Urteilskraft das Ideal des Schönen ausschließlich der „menschlichen Gestalt“ zugeschrieben und erklärt: „An dieser nun besteht das Ideal in dem Ausdrucke des Sittlichen, ohne welches der Gegenstand nicht allgemein und dazu positiv (nicht bloß negativ in einer schulgerechten Darstellung) gefallen würde. Der sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen, kann zwar nur aus der Erfahrung genommen werden; aber ihre Verbindung mit allem dem, was unsere Vernunft mit dem Sittlich-Guten in der Idee der höchsten Zweckmäßigkeit verknüpft, die Seelengüte, oder Reinigkeit, oder Stärke oder Ruhe u.s.w. in körperlicher Äußerung (als Wirkung des Innern) gleichsam sichtbar zu machen: dazu gehören reine Ideen der Vernunft und große Macht der Einbildungskraft in demjenigen vereinigt, welcher sie nur beurtheilen, vielmehr noch, wer sie darstellen will.“43 Hegel überträgt diese Überlegungen Kants in seine Konzeption des absoluten Geistes und der Kunst. Dabei zieht er jedoch in Betracht, daß das Darstellen-Wollen, von dem Kant hier spricht, ursprünglich ein religiöses Motiv hatte: Die ersten, welche das Bedürfnis hatten, „die große Macht der Einbildungskraft“ dazu einzusetzen, die menschliche Gestalt zur Darstellung des „Sittlich-Guten in der Idee der höchsten Zweckmäßigkeit“ zu benützen, schufen nicht das Bildnis eines Menschen, sondern eines Gottes, in dessen objektiver Anschauung die absolute Idee konkrete Gestalt annimmt44. In Hegels Einschätzung war dieser Gott in Menschengestalt 42

Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, hier: 321 – 328. Kant: AA V, 235. 44 Hegels Bemerkung „gegen das Prinzip der Nachahmung der Natur in der Kunst“ läßt sich auch auf eine Stelle bei Kant beziehen. In § 51 äußert sich Kant, AA V, 322, auch zu „Bildsäulen von Menschen, Göttern, Thieren u. d. gl.“ und behauptet, daß solch „ein bloßes Bildwerk, das lediglich zum Anschauen gemacht ist und für sich selbst gefallen soll, als körperliche Darstellung bloße Nachahmung der Natur ist, doch mit Rücksicht auf ästhetische Ideen“. 43

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nichts anderes als die aus dem Subjekt hervorgebrachte Wiederholung desjenigen Gemeinwesens selbst – das heißt: seines ehedem wirklichen, aber bereits vergangenen Geistes –, worin die Freiheit als Sittlichkeit erstmals realisiert war. Der politische Geist der Freiheit, unter dem ein Staat durch Volksgesetze regiert wurde, sodaß sie allgemein und zugleich in einer vielgestaltigen Organisation verwirklicht war, stellt sich erst dann, wenn diese Unmittelbarkeit seines Wirkens und Bestehens vorüber ist, in der Kunst für sich selbst dar. Hegel spricht schon vorher, in § 556, davon, daß im Kunstwerk die „natürliche Unmittelbarkeit nur Zeichen der Idee“ ist. Zusammen mit der Festlegung auf die menschliche Gestalt verweist das auf zwei Paragraphen des Abschnitts über den subjektiven Geist zurück, einmal § 411 über „Die wirkliche Seele“, wo es von dieser heißt, sie hätte „an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt, die als das Kunstwerk der Seele menschlichen, pathognomischen und physiognomischen Ausdruck hat“45 und ferner auf § 458, der von der Einbildungskraft handelt und einen Unterschied zwischen Zeichen und Symbol konstatiert: „Das Zeichen ist vom Symbol verschieden, einer Anschauung, deren eigene Bestimmtheit ihrem Wesen und Begriffe nach mehr oder weniger der Inhalt ist, den sie als Symbol ausdrückt; beim Zeichen als solchem hingegen geht der eigene Inhalt der Anschauung und der, dessen Zeichen sie ist, einander nichts an. Als bezeichnend beweist daher die Intelligenz eine freiere Willkür und Herrschaft im Gebrauch der Anschauung denn als symbolisierend.“46 Gerade dann, wenn der absolute Geist den menschlichen Körper dazu gebraucht, sich selbst, die absolute Idee, darzustellen – also die Einheit von Begriff und Realität des Geistes, die auf dem Weg seiner subjektiven und objektiven Ausbildung vorbereitet und ermöglicht wurde –, verfährt er nicht symbolisierend. Der Leib dient ihm nicht als Symbol. Dazu müßte der Geist das Objekt wegen seines Eigenwerts erwählen und sich des in der menschlichen Gestalt angeschauten Inhalts darum zur Selbstdarstellung bedienen, weil dieser sich dafür von selbst anbietet. Dessen Eigenständigkeit und die daraus resultierende Distanz beider ist aber nicht der Fall. Der Leib dient dem Geist, welcher Künstler ist, in eben der Form als Zeichen, wie schon der wirklichen Seele. Wie das Innere der Seele in den menschlichen Zügen unmittelbar zur Anschauung kommt, interessiert den Geist, der den menschlichen Körper künstlerisch gestaltet, nicht, was dessen Teile und Glieder, die Brust, der Mund, das Auge, als Symbole bedeuten können, so wenig, wie es den Intellekt, der sich einer Sprache bedient, interessiert, was die Laute, aus denen er Worte, die Striche und Kreise, aus denen er Buchstaben formt, für einen Eigenwert haben. Der Geist, der im Kunstwerk als Gott in Menschengestalt angeschaut und verehrt wird, kann gerade darum als solcher im Körper erscheinen, weil ein unmittelbares Verhältnis zwischen beiden besteht, das dem Geist in seiner 45 46

Hegel: Werke 10, 192. Hegel: Werke 10, 270.

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Willkür volle Freiheit läßt. Dementsprechend wird Hegel alsbald, in § 561 und 562, die klassische Kunst der griechischen Antike, in der sich die Idee in der Anschauung konkret an der menschlichen Gestalt dargestellt hat, von der symbolischen und der romantischen unterscheiden. In § 559 erläutert Hegel, warum die Religion, in welcher der Geist sich selbst durch die schöne Kunst darzustellen und anzuschauen strebt, in eine „unbestimmte Vielgötterei“ führen muß. Er kann „in solcher Einzelheit des Gestaltens“ gar nicht als absoluter, sondern nur als „ein beschränkter Volksgeist“ Gestalt annehmen. In § 560 kommt Hegel schließlich auf die andere „Einseitigkeit“ zu sprechen, die jener der Unmittelbarkeit in der Kunst komplementär ist. In vielsagender Überblendung christlicher Vorstellungsweisen von der Mensch- und Gestaltwerdung des Göttlichen mit der griechischen religiösen Kunst bemerkt er: „Die Einseitigkeit der Unmittelbarkeit an dem Ideale enthält (§ 556) die entgegengesetzte, daß es ein vom Künstler Gemachtes ist. Das Subjekt ist das Formelle der Tätigkeit und das Kunstwerk nur dann Ausdruck des Gottes, wenn kein Zeichen von subjektiver Besonderheit darin, sondern der Gehalt des inwohnenden Geistes sich ohne Beimischung und von deren Zufälligkeit unbefleckt empfangen und herausgeboren hat. Aber indem die Freiheit nur bis zum Denken fortgeht, ist die mit diesem inwohnenden Gehalte erfüllte Tätigkeit, die Begeisterung des Künstlers, wie eine ihm fremde Gewalt als ein unfreies Pathos; das Produzieren hat an ihm selbst die Form natürlicher Unmittelbarkeit, kommt dem Genie als diesem besonderen Subjekte zu – und ist zugleich ein mit technischem Verstande und mechanischen Äußerlichkeiten beschäftigtes Arbeiten. Das Kunstwerk ist daher ebensosehr ein Werk der freien Willkür und der Künstler der Meister des Gottes.“47

Das Kunstwerk oder das Ideal erzeugt eine unmittelbare Anschauung der sittlichen Substanz, die aber den noch weiter reichenden Ansprüchen jener Freiheit nicht genügt, die in dieser politischen Gemeinde entsteht. Zugleich aber läßt es sich vom Standpunkt des Künstlers aus auch als etwas betrachten, das sich einer sehr vermittelten Tätigkeit verdankt. Dafür muß sich der subjektive Geist im Künstler so weit gebildet haben, daß dessen Tätigkeit ganz im Dienst der Darstellung des objektiven Inhalts der Idee durch das Ideal steht. Nichts von seiner zufälligen Existenz darf sich einmischen, sodaß der Vater des Werks wirklich der allgemeine Gott ist und nicht doch ein besonderer Mensch. In der Einheit mit der Unendlichkeit und Allgemeinheit des Denkens besteht schließlich auch die Freiheit des Einzelnen. Doch in der Zeit der Kunstreligion geht die Freiheit eben „nur bis zum Denken“. Sie entfaltet sich noch nicht als das Bei-Sich-Sein im Denken, welchem Bedürfnis der Subjektivität, die ihre Unbeschränktheit in der Unendlichkeit der Reflexion entdeckt, erst die geoffenbarte Religion und Philosophie entsprechen werden. Wäre die Tätigkeit, durch die das Subjekt die Idee zur Darstellung bringt, die des Denkens und Begriffs, dann wäre es nicht nur das „Formelle der Tätigkeit“, sondern würde sich auch im Inhalt selbst wiederfinden. Es könnte den Gehalt, der seine Tätigkeit erfüllt, als aus ihm selbst erzeugten wissen und wäre ganz frei. So aber, als 47

Hegel: Werke 10, 369.

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Künstler, erleidet es die „Begeisterung“ mehr „wie eine ihm fremde Gewalt als ein unfreies Pathos“. Dies unterstreicht der Bezug auf Kants Begriff des Genies als einer „angeborene[n] Gemütsanlage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“48. Denn bei Kant, der einen strikten Gegensatz von Natur und Freiheit behauptet, ist es der Anteil der ersteren, dem es sich verdankt, daß das künstlerische Genie sich keine rationale Rechenschaft darüber geben kann, wodurch es in seiner Kunst mustergültige Maßstäbe setzt. Hegel, für den die Freiheit im Sich-Einbilden des Geistes in den Stoff, die Natur, besteht, muß die Unfreiheit in deren Eigenanteil an der Entstehung des Werks liegen, der in der Kunst als solcher unvermeidlich ist. Ebenfalls bei Kant zu finden ist die anschließende Überlegung, die bei Hegel hier die Form des dialektischen Umschlags der vorangehenden in ihr Gegenteil erhält, daß nämlich das Kunstwerk „ebensosehr ein Werk der freien Willkür und der Künstler“, der soeben noch die Begeisterung durch den göttlichen Gehalt im Pathos allzu natürlich erlitt, „der Meister des Gottes ist“. Denn Kant setzt dem Mißverständnis, die Naturwüchsigkeit der Genieveranlagung erlaube, sich „vom Schulzwange aller Regeln“ loszusagen, entgegen, daß „etwas Mechanisches, welches nach Regeln gefaßt und befolgt werden kann, und also etwas Schulgerechtes“ als „die wesentliche Bedingung der Kunst“49 anzusehen sei. Darin, im Durchgang durch die Schule zu jener Meisterschaft gelangen zu können und zu müssen, die den Künstler dazu befähigt, das Ideal zu schaffen, worin der absolute Geist sich unmittelbar anschaut, liegt der Widerspruch der Kunst. Denn der Künstler ist in seiner Tätigkeit über den so gewußten Gott Meister, wo es doch zum Begriff Gottes gehört, daß alles, auch der ihn darstellende Künstler, in seinem Sein und Tun vielmehr von ihm abhängt50. Die Kunst erweist sich darum, sofern die Philosophie sie Hegel zufolge als eine der Formen des Wissens der absoluten Idee zu betrachten hat, mithin als Ort der höchsten Vereinigung des Getrennten und der Einheit des subjektiven und objektiven Geistes, als etwas, über das der Geist hinaus ist. Sofern sie aber dem Bedürfnis nach dem Ausdruck des politischen Geistes einer Zeit und Gesellschaft entspringt, hindert dieses Vergangensein nicht, daß der Grad ihres Blühens weiterhin anzeigen wird, wie weit die allgemeine Freiheit in einer solchen jeweils gediehen und verwirklicht war.

48

Kant: AA V, 307. Kant: AA V, 310. 50 Hierin spricht sich auch deutlich aus, daß Hegels Denken selbst den Anspruch an sich stellt, daß das philosophische Wissen von Gott nicht erreicht wäre, wenn darin das der Fall wäre, was seiner spekulativen Theologie vorgehalten wurde: Gott vom Menschen abhängig sein zu lassen. Gegen diesen Vorwurf siehe Stephen Houlgate: An Introduction to Hegel. Freedom, Truth and History, Oxford 20062, 252 f. 49

Wenn der Geist zum Künstler wird

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Literatur Beiser, Frederick: Schiller as Philosopher. A Re-Examination, Oxford / New York 2008. Berr, Karsten: Hegels Bestimmung des Naturschönen, Dissertation, Hagen 2009. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986 ff., Bd. 3. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 8. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10. Hoffmann, Thomas Sören: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004. Houlgate, Stephen: An Introduction to Hegel. Freedom, Truth and History. Oxford 22006. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900 ff., Bd. V. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III. de Man, Paul: „Hegel über das Erhabene“, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. v. Christoph Menke, Frankfurt 1993, 59 – 79. de Man, Paul :„Kant and Schiller“, in: ders.: Aesthetic Ideology, hg. von Andrzej Warminski, Minneapolis / London, 21997, 129 – 162. Schiller, Friedrich: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, in: ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, hg. v. Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese Weimar 1962, 413 – 503. Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Philosophische Schriften. Erster Teil, 309 – 412. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: System des Transscendentalen Idealismus (1800), in: ders.: Schelling Werke, hg. v. Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen und Hermann Krings, Stuttgart 1976 ff., Bd. 9, 1. Schneider, Helmut: „Die Kunst in Hegels Enzyklopädie. Entwicklungsgeschichte und Interpretation der drei Fassungen“, in: Hans-Christian Lucas (Hg.): Hegels enzyklopädisches System der Philosophie: von der „Wissenschaft der Logik“ zur Philosophie des absoluten Geistes, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 381 – 410.

Das doppelte Erhabene. Betrachtungen zum Verhältnis von Kunst und Religion in Hegels Philosophie Friedemann Barniske (Neuendettelsau) Einleitung „[V]on einer Kunstreligion, die Völker und Zeitalter beherrscht hatte, habe ich nie etwas vernommen.“1 Mit diesem Satz schleuderte der (zunächst) anonyme Redner über die Religion im Jahre 1799 einen neuen Begriff in die Debatte, um ihn mit seiner Skepsis sogleich wieder zu kassieren. Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) gelang es – bei aller religionstheoretischen Freiheit – nicht, die enge Verbindung von Kunst und Religion in der Geschichte zu identifizieren. Dies mag an seinem ureigenen Interesse gelegen haben, das Religiöse als „eigne Provinz im Gemüthe“2 zu plausibilisieren. Weit weniger Skrupel hatte sein späterer Berliner Antipode Hegel. Diesem scheint der Konnex von ästhetischem und religiösem Bewußtsein nicht nur zum phänomenologischen Grundbestand seines Denkens zu gehören3. Darüber hinaus zeichnet er beide Kultursphären gleichermaßen als Realisationsgestalten eines Selbstbewußtseins des Absoluten aus. Dieser Blickwinkel schlägt sich in Hegels Enzyklopädie wie in den jeweiligen Ausführungen in Ästhetik und Religionsphilosophie nieder. Eine besondere Rolle erwächst in diesem Zusammenhang dem Erhabenen, welches von Hegel – neben dem Schönen – für beide Bereiche namhaft gemacht wird4. Mit dem Erhabenen greift Hegel eine ästhetische Bestimmung auf, der im Rahmen der noch jungen philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert eine außeror1

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) – (Dritte Rede. Über die Bildung zur Religion), hg. von Günter Meckenstock, Berlin / New York 2001, 168. Die Zitation erfolgt nach der Originalpaginierung. 2 Schleiermacher: Reden (Erste Rede. Apologie), 37. 3 Man erinnere sich nur an den Abschnitt über die ,Kunstreligion‘ in der Phänomenologie des Geistes. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970. Im folgenden Werke, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier: Werke 3, 512. 4 Vgl. v. Vf.: Hegels Theorie des Erhabenen. Grenzgänge zwischen Theologie und philosophischer Ästhetik, Tübingen 2019.

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dentliche Karriere beschieden war. Bereits der eigentliche Begründer dieser Disziplin, Alexander Gottlieb Baumgarten (1714 – 1762), zeichnet das Erhabene in die verschiedenen Stufen einer Philosophie der Kunst ein, wobei er bereits den ästhetisch-religiösen Doppelcharakter desselben im Blick hat5. Gleiches gilt für den Oxforder Poetik-Professor und späteren Bischof von London Robert Lowth (1710 – 1787), der in seiner poetologischen Schrifthermeneutik die Figur der Erhabenheit zum Schlüssel seiner Interpretation des hebräischen Psalters erhebt6. Schließlich macht Immanuel Kant – im Anschluß an Edmund Burkes (1729 – 1797) empiristische Umformung des Begriffs und seiner Überführung in den ästhetischen Zweiklang vom Schönen und Erhabenen – letzteres zum Gegenstand einer transzendentalphilosophischen Erörterung7. Im Rahmen seiner dritten Kritik kommt der Begriff erstmals in bewußtseinstheoretischer Hinsicht als besonderes Verhältnis von sinnlicher Anschauung und Vernunftidee im Gemüt zu stehen, wobei gerade die Diskrepanz beider Momente ins Zentrum der Betrachtung rückt. In seiner „Analytik des Erhabenen“8 erörtert Kant die strukturellen Aufbauelemente dieser Form eines ästhetischen Bewußtseins der Paßungenauigkeit von Idee und Sinnlichkeit, ohne jedoch die ästhetischen oder religiösen Gestalten der Erhabenheit in der Geschichte einer eigenen Ordnung zuführen zu wollen. Vielmehr bilden die subjektivitätstheoretischen Implikate des Begriffs den Schwerpunkt der Analyse. Den poetologischen Kontext des Erhabenen holt sodann Friedrich Schiller (1759 – 1805) wieder ein, indem er in seinen Studien die Kantische Strukturbe-

5 Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica, Frankfurt an der Oder 1750 (ND Hildesheim / New York 1970), 181 (§ 300) greift mit Gen 1; Joh 19,30 und 1Kor 15,28 auf biblische Belege als exemplarische Gestalten der Erhabenheit in der Poesie zurück. Vgl. Reinhard Brandt: „Beobachtungen zum Erhabenen bei Kant und Hegel“, in: Christel Fricke (Hg.): Das Recht der Vernunft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 215 – 228, hier: 221; Martin Fritz: Vom Erhabenen. Der Traktat ,Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert (BHTh 160), Tübingen 2011, 246. 6 Robert Lowth: De sacra poesi hebraeorum praelectiones academicae oxonii habitae, London 1753, Oxford 1775 (ND London 1995). Vgl. Martin Fritz: „Von der heiligen Poesie der Hebräer. Eine Relektüre des schrifthermeneutischen Klassikers von Robert Lowth (1710 – 1787)“, in: Kerygma und Dogma 57 (2011), 90 – 111. 7 Vgl. Edmund Burke: Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übersetzt von Friedrich Bassenge, neu eingeleitet und hg. von Werner Strube, Hamburg 19892. 8 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Beilage. Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Mit Einleitungen und Bibliographie hg. von Heiner F. Klemme. Mit Sachanmerkungen von Piero Giordanetti (PhB 507), Hamburg 2009, B74. Vgl. Alessandro Bertinetto: „Negative Darstellung. Das Erhabene bei Kant und Hegel“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 4 (2006) 124 – 151, bes. 124 – 141. Während Kants Bestimmung des Erhabenen eine eingehende Rekonstruktion erfährt, erscheint die Hegelsche Durchführung bei Bertinetto eher als Anhang. Ähnliches gilt für Reinhard Brandt: Beobachtungen. Dieser nimmt Hegels ,Symbolik der Erhabenheit‘ lediglich zum Anlaß, die Kantische Theorie des Erhabenen im Hinblick auf ihre platonischen Motive zu beleuchten.

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schreibung der ästhetischen Erfahrung von Erhabenheit mit deren Bedeutung für das Wesen und die Gestalt der Dichtung verbindet9. Auf diese Weise bereiten beide den Boden für die doppelte Betrachtung des Erhabenen in der Philosophie Hegels, der – nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner Tübinger Studien und der Bibelhermeneutik Johann Gottfried Herders (1744 – 1803) – die genuine Verschränkung von religiöser und ästhetischer Valenz im Begriff der Erhabenheit erneut zur Geltung bringt10. Die ästhetisch-poetologische Dimension des Erhabenen und die religionstheoretische Bedeutung derselben werden in den Rahmen seiner Theorie des Geistes gestellt, um beide Aspekte jeweils ebensosehr am Orte ihres Anderen zu thematisieren. Dergestalt bieten Hegels doppelte Ausführungen zum Erhabenen eine paradigmatische Gestalt der Berührung von Kunst und Religion auf der Ebene des Begriffs wie seiner Realisation in der Geschichte. Im folgenden soll nun das systematische Verhältnis von Kunst und Religion in Hegels Philosophie auf Basis der Distinktion ihrer Vollzugsmodi im Bewußtsein (I.) am Orte der Bestimmung des Erhabenen in Ästhetik (II.) und Religionsphilosophie (III.) beleuchtet werden. Um der religionstheoretischen Schlammschlacht des Jahres 1821/22 aus dem Wege zu gehen, werden durchweg spätere Vorlesungsjahrgänge herangezogen11.

9 Friedrich Schiller: Vom Erhabenen, in: Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 20, Weimar 1962, 171 – 195 (NA 20); ders.: Über das Erhabene (1801), in: Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 21, Weimar 1963, 38 – 54 (NA 21). 10 Johann Gottfried Herder: Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes. 2 Teile, Dessau 1782 – 1783, in: ders.: Schriften zum Alten Testament, hg. von Rudolf Smend, Frankfurt am Main 1993 (= Werke in zehn Bänden, Bd. 5), 661 – 1301. Herder selbst wiederum verweist gleich am Beginn seiner Schrift (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 663) auf De sacra poesi Hebraeorum von Robert Lowth. Vgl. Martin Fritz: Vom Erhabenen, 395. Libera Pisano: „Judentum, Entfremdung, Sprache. Der vergessene Zusammenhang zwischen Mendelssohn und Hegel“, in: Judaica 72/4 (2016), 473 – 510, hier: 487 – 510 macht für Hegel überdies einen direkten Einfluß von Moses Mendelssohn geltend, wobei dessen Sprachtheorie ins Zentrum gestellt wird. Mendelssohn hatte im Jahre 1757 durch eine Rezension die Praelectiones von Robert Lowth in die poetologische Diskussion eingebracht. Vgl. Martin Fritz: Vom Erhabenen, 396; Libera Pisano: Judentum, 482 f. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr, Frankfurt am Main 2004; ders.: Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826 Mitschrift Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter Mitarbeit von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004; ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2. Die bestimmte Religion, neu hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1994 (PhB 460).

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I. Die Vollzugsmodi von Kunst und Religion Um das Verhältnis von Kunst und Religion in Hegels Philosophie angemessen würdigen zu können, bedarf es eines Blickes auf seine Theorie des absoluten Geistes. Diese gliedert sich (Enz1 §§ 453 – 477) bekanntermaßen in „a. Religion der Kunst“12, „b. Die geoffenbarte Religion“13 und „c. Die Philosophie“14. In diesem Zusammenhang sind die drei verschiedenen Modi des Selbstverhältnisses des Geistes auf seiner höchsten Explikationsstufe von entscheidender Bedeutung. Auf der Ebene der Kunst wird sich das Absolute im Modus der sinnlichen Anschauung gegenwärtig15. Die Religion vollzieht sich demgegenüber im Medium der subjektiven Vorstellung und die Philosophie markiert die höchste Stufe des geistigen Selbstverhältnisses des Absoluten in der Weise des Begriffs. Während in der Forschung vor allem der Überschritt von der religiösen Vorstellung zum begrifflichen Denken traktiert wurde16, ist es uns am Orte des Erhabenen um die Relation von ästhetischem und religiösem Bewußtsein zu tun17. Auf diesem Wege allein läßt sich Hegels eigenwillige Praxis einer Erschließung religiöser Phänomene mit Hilfe ästhetischer Bestimmungen wie Schönheit oder Erhabenheit nachvollziehen und ihre innere Legitimität ausweisen. Blickt man in die psychologischen Bestimmungen der Enzyklopädie (1817), so fällt zwar einerseits die gegenüber der Nürnberger Zeit detailliertere Ausführung der entsprechenden Passagen zu Anschauung und Vorstellung ins Auge. Jedoch werden beide nicht gänzlich geschieden. Vielmehr kommen beide Bestimmungen auf einer Ebene zu stehen, auf welcher das bloße Gefühl zum eigentlichen Gegenstandsbewußtsein sublimiert ist18. „Diese Stuffe der Reflexion ist die Vorstellung.“19 12

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), in: ders.: Gesammelte Werke, Hamburg 1968 ff. Im folgenden GW, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier: GW XIII, 241 (Enz1 §§ 456 ff.). 13 Hegel: GW XIII, 243 (Enz1 §§ 465 ff.). 14 Hegel: GW XIII, 245 (Enz1 §§ 472 ff.). 15 Vgl. GW XIII, 241 (Enz1 § 456): „Die unmittelbare Gestalt dieses Wissens ist die der Anschauung und Vorstellung des absoluten Geistes als des Ideals.“ 16 Vgl. Falk Wagner: „Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff – Zur Rekonstruktion des religionsphilosophischen Grundproblems der Hegelschen Philosophie“, in: ders.: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 204 – 232; Friedrich Wilhelm Graf / ders. (Hg.): Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982. 17 Libera Pisano: Judentum, 475 u. ö. markiert den Zusammenhang von Kunst und Religion zwar durchgängig mit dem Begriff der „Religionsästhetik“, ohne jedoch die bewußtseins- und geistphilosophische Fundierung des engen Verhältnisses beider Kultursphären durch Hegel offenlegen zu können. 18 Vgl. Hegel: GW XIII, 209 (Enz1 § 370): „Denn obgleich das Urtheil überhaupt und die Unterscheidung des Bewußtsseyns in ein Subject und Object später ist, als die einfache Empfindung, so wird es doch als das frühere genommen, und die Bestimmtheit der Empfindung von einem selbstständigen äusserlichen oder innerlichen Gegenstande abgeleitet.“

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Dieser weite Begriff der Vorstellung wiederum umfaßt auf seiner grundlegenden Stufe die gegenständliche Wahrnehmung als solche. Letztere ist durch eine komplexe Operation des Bewußtseins gekennzeichnet. In deren Vollzug wird der Gehalt des Gefühls bzw. der Empfindung in Gestalt eines sinnlichen Objekts von der subjektiven Instanz des Empfindens unterschieden, sodaß der Gegenstand des Bewußtseins eigentlich erst generiert wird. Das empfindende Subjekt verknüpft – Kantisch gesprochen – die Mannigfaltigkeit seines eigenen Empfindens einerseits zur Einheit eines Empfundenen. Andererseits bezieht es sich auf dieses solchermaßen Unterschiedene, wobei dem Bezogenen zugleich der Rang eines an sich selbst Bestehenden zugesprochen wird20. Auf diese Weise macht sich das Bewußtsein seinen Gehalt im Modus der gegenständlichen Wahrnehmung vorstellig. „Die vorstellende Thätigkeit der Intelligenz […] setzt […] den Inhalt der Empfindung als ausser sich seyendes; so wirft sie ihn in Raum und Zeit hinaus; und ist anschauend.“21 Von dieser basalen Stufe der sinnlichen Anschauung innerhalb der Vorstellung im weiteren Sinne unterscheidet Hegel eine zweite Explikationsebene. Diese stellt die Subjektivität des Außer-sich-Setzens des sinnlichen Gegenstandes in Rechnung. Indem die unmittelbare Anschauung ihr Objekt auf dem Wege der Verknüpfung einer Mannigfaltigkeit an Sinneseindrücken in Raum und Zeit gewinnt, stellt deren subjektiver Charakter erst den allgemeinen Boden der Gegenständlichkeit bereit. Für das Bewußtsein ist mit dem Überschritt zur Subjektivität des raum-zeitlichen Vorstellens zugleich eine sublimierte Stufe erreicht. „[D]ie Intelligenz setzt […] eben so den Inhalt des Gefühls in ihre Innerlichkeit, in ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit. So ist er Bild und Vorstellung überhaupt, von seiner ersten Unmittelbarkeit und abstracten Einzelnheit gegen anderes befreyt, und damit in die Form der Allgemeinheit des Ich […] aufgenommen.“22 Daraus resultiert für den Begriff der Vorstellung eine Binnendifferenzierung des gegenständlichen Bewußtseins hinsichtlich der Subjektivität und Allgemeinheit seines Gehalts. Während die sinnliche Anschauung an den jeweiligen Kontext der sinnlichen Wahrnehmung „ihres mit aufbewahrten äusserlichen unmittelbaren Raums und Zeit“23 gebunden bleibt, setzt die Sublimation der Vorstellung zum inneren Bilde ein neues Potential des Bewußtseins frei. Mit der Einstellung der Vorstellungsgehalte in die Allgemeinheit der reinen Anschauungsformen geht die Entkoppelung der Wahrnehmungsobjekte von ihrem ursprünglichen Kontext einher. Der Gegenstand wird auf der Stufe der Vorstellung im engeren Sinne auf diese 19

Hegel: GW XIII, 211 (Enz1 § 372). Vgl. Hegels ,Satz des Bewußtseins‘ in der Einleitung der Phänomenologie des Geistes (Werke 3, 76); Ulrich Barth: „Bewußtsein und Geist. Überlegungen zu Hegels frühem Hauptwerk“, in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 191 – 204, hier: 194. 21 Hegel: GW XIII, 211 (Enz1 § 373). 22 Hegel: GW XIII, 211 (Enz1 § 374). 23 Hegel: GW XIII, 211 (Enz1 § 376). 20

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Weise zum freien Material der Imagination, welche der unmittelbaren Präsenz der ursprünglichen Sinneseindrücke samt ihres ersten Zusammenhangs zu entraten vermag. Auf dieser Basis ist das Bewußtsein schließlich als „Phantasie, symbolisierende, allegorisierende oder dichtende Einbildungskraft“24 in der Lage, die Gehalte zu neuen Vorstellungskonfigurationen zu verknüpfen25. Daß wir es freilich weiterhin mit einer Gestalt der sinnlichen Vorstellung zu tun haben, liegt auf der Hand. Das Differenzkriterium für die Unterscheidung von unmittelbarer Anschauung und innerem Bild oder Vorstellung besteht sonach in der raumzeitlichen Gegenwart des Gehalts des Gegenstandsbewußtseins. Die Gebundenheit oder Freiheit vom besonderen Kontext der Wahrnehmung qualifiziert eine sinnliche Vorstellung als Anschauung oder inneres Bild. Davon hebt sich auf einer dritten Explikationsebene schließlich das (begriffliche) Denken ab, dessen Gehalt Hegel in der Enzyklopädie (1817) als „Gedanke“26 oder „Bedeutung“27 bezeichnet. In den Nürnberger Schriften kommt diese höchste Gestalt des bewußten Gegenstandes als „abstrakte[ ] Vorstellung[ ]“28 zu stehen. Insofern ergibt sich für den Vorstellungsbegriff bei Hegel insgesamt ein dreistufiges Modell: a) unmittelbare Anschauung und b) inneres Bild oder Vorstellung markieren die zwei Ebenen der sinnlichen Vorstellung, welcher mit c) der abstrakten Vorstellung oder Bedeutung die Sphäre des Denkens gegenübertritt. Bezogen auf den Unterschied von Kunst und Religion als Modi der Selbstvergegenwärtigung des absoluten Geistes bedeutet dies eine doppelte Konvergenz. Zum einen kommen beide Kultursphären hinsichtlich ihrer – mit der Philosophie gemeinen – Funktion einer Repräsentationsgestalt des Unbedingten selbst überein. Zum anderen greifen ästhetisches wie religiöses Bewußtsein im Zuge dieser Operation auf das Medium der sinnlichen Vorstellung zurück, worin sie sich wesentlich vom begrifflichen Denken der Philosophie abheben. Die Bilder der religiösen Heilsgeschichte des Christentums bewegen sich ebenso sehr auf dem Felde der Sinnlichkeit wie die antike Skulptur. Der Unterschied von unmittelbarer Wahrnehmung und innerer Bildlichkeit der Vorstellung stellt sich in diesem Kontext als weit weniger drastisch denn der Überschritt zum Begriffe dar. Lediglich die Art und Weise des sinnlichen Vorstellungsmodus differiert hinsichtlich der raum-zeitlichen Präsenz des Gegenstandes.

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Hegel: GW XIII, 213 (Enz1 § 377). Vgl. Klaus Düsing: „Hegels Theorie der Einbildungskraft“, in: Franz Hespe / Burkhard Tuschling (Hg.): Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Beiträge zu einer Hegel-Tagung in Marburg 1989, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 297 – 320, hier: 310 – 318. 26 Hegel: GW XIII, 216 (Enz1 § 384). 27 Hegel: GW XIII, 214 (Enz1 § 379). 28 Hegel: Werke 4, 52 (§ 159). Vgl. GW XXVIII/1, 331. 25

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Insofern nimmt es keineswegs wunder, daß Hegel wesentliche Teile seiner Theorie des absoluten Geistes in ihrer materialen Durchführung als Ästhetik und Religionsphilosophie im Rückgriff auf dieselben Bestimmungen konzipieren kann. Einerseits wird die Philosophie der Kunst als Durchmusterung des religionsgeschichtlichen Materials dargeboten. Andererseits erschließt Hegel die Phänomene des religiösen Bewußtseins mit Hilfe ästhetischer Kategorien wie Schönheit oder Erhabenheit. Gerade im Falle der Schönheit stellt er eine Substitution der Kulturfelder in Rechnung, wenn die Religion der Griechen im Modus der Kunst erschienen sei29. Für unseren Zusammenhang der Hegelschen Doppelbestimmung des Erhabenen in Ästhetik und Philosophie der Religion resultiert daraus die Notwendigkeit, die Erschließungskraft dieser Kategorie für beiderlei Kultursphären als Exempel der innigen Verbundenheit dieser Sphären des absoluten Geistes in Rechnung zu stellen, ohne die jeweilige Nuancierung des Begriffs der Erhabenheit aus dem Blick zu verlieren. II. Symbol und ästhetische Erhabenheit Das Erhabene kommt bei Hegel zunächst in den Vorlesungen über die Ästhetik im Rahmen seiner Bestimmung der symbolischen Kunstform zu stehen30. Dieser basalen Stufe der künstlerischen Produktivität liegt die komplexe Struktur des Symbols selbst zugrunde. Letzteres wird als spezifischer Modus der Synthesis von ideellem Gehalt und sinnlichem Ausdruck gefaßt. „[D]as symbol ist die bildliche darstellung einer allgemeinen Vorstellung.“31 Jedoch macht Hegel eine Differenz geltend, insoweit das Symbol über das einfache Zeichen hinausgeht. Während dem bloßen Zeichen der Charakter einer willkürlichen Verknüpfung von Bedeutung und sinnlicher Gestalt eignet32, koinzidieren im Sinnbild beide Momente in partieller

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Vgl. Walter Jaeschke: „Kunst und Religion“, in: Friedrich Wilhelm Graf / Falk Wagner (Hg.): Flucht in den Begriff, 163 – 195, hier: 171. 30 Vgl. Allen Speight: „The Symbolic Form of Art“, in: Birgit Sandkaulen (Hg.): G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (= Klassiker Auslegen, Bd. 40), Berlin / Boston 2018, 73 – 97. Jeong-Im Kwon: Hegels Bestimmung der Kunst. Die Bedeutung der „symbolischen Kunstform“ in Hegels Ästhetik, München 2001; dies.: „Die Metamorphosen der ,Symbolischen Kunstform‘, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.): Phänomen versus System. Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst (= Hegel-Studien Beiheft 34), Bonn 1992, 41 – 89; Brigitte Hilmer: Scheinen des Begriffs. Hegels Logik der Kunst (= Hegel-Deutungen, Bd. 3), Hamburg 1997, 133 – 155. 31 Hegel: GW XXVIII/1, 333. 32 Vgl. Hegel: GW XXVIII/1, 329: „Hier ist vollkommene Zufälligkeit und Willkühr.“ Fiorella Bassan: Immagine e Figurazione. Hegel Warburg, Bataille, Rom 2013, 21 hebt die Arbitrarität des Zeichens im Gegenüber zum eigentlichen Symbol ebenso hervor wie Brigitte Hilmer, Scheinen, 139 – 144; Jeong-Im Kwon: Metamorphosen, 43.

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Weise. „[D]as symbol ist […] solch ein Zeichen, das in seiner Äußerlichkeit zugleich den Gehalt der Vorstellung enthält, welchen es darstellen soll.“33 Eine sinnliche Vorstellung fungiert aufgrund ihrer gegenständlichen Merkmale als bildliche Ausdrucksgestalt für eine abstrakte Bedeutung. „[D]er Löwe ZB ist das Symbol der Stärke. Der Löwe für sich als Löwe ist stark; er enthält in sich selbst das, dessen Bedeutung er erscheinen macht.“34 Nun kommen der sinnlichen Gestalt eines Löwen neben der Stärke noch weitere Attribute zu, die vom symbolisierenden Bewußtsein beiseitegelassen werden. Der Löwe ist nicht nur stark, er hat mitunter auch gelbe Zähne, schlechten Atem oder ähnliches. „[D]as bild enthält in sich noch Mehreres als das, dessen Bedeutung es vorstellen soll. […] [D]as symbol daher ist wesentlich zweideutig.“35 Die Verknüpfung von Sinnlichkeit des Ausdrucks und Idealität der Bedeutung kann am Orte des Symbolischen demnach nur eingeschränkt ins Werk gesetzt werden,36 insofern sich die wahrnehmbare Gestalt der abstrakten Vorstellung als angemessen oder nicht erweist. Der partiellen Angemessenheit beider Momente des Ästhetischen korrespondiert einstweilen eine partielle Unangemessenheit. „Im eigentlich symbolischen ist immer eine Seite, welcher die Bedeutung nicht adaequat ist. […] Im symbol stellt das Bild noch ein Andres vor als die Vorstellung.“37 Sinnliche und abstrakte Vorstellung bleiben auf der Ebene des Symbolischen einander letztlich inkommensurabel. „Der Kreis des Symbolischen ist der Kampf des Geistigen mit dem Sinnlichen.“38 Aus dieser konstitutiven Inkommensurabilität von Bedeutung und Ausdruck auf der symbolischen Stufe des ästhetischen Bewußtseins folgt eine negative Verhältnisbestimmung. Das ästhetische Bewußtsein hat sich im Zuge der symbolischen Durcharbeitung des sinnlichen Materials zum Wissen um die unbedingte Dignität des abstrakten Gehalts seiner selbst emporgebildet. Die Allgemeinheit des Vorstellens selbst ist dem künstlerischen Subjekt als wesentlicher Sinn aufgegangen, demgegenüber die Sphäre der Sinnlichkeit insgesamt dem Verdikt der Bedeutungslosigkeit anheimfällt. Das Ideelle bedarf der Sinnlichkeit eigentlich nicht mehr, um im Bewußtsein rege zu werden. Somit ist die abstrakte Vorstellung als 33

Hegel: GW XXVIII/1, 330. Ebd. 35 Ebd. Vgl. Allen Speight: Symbolic Form, 77 f. 36 Vgl. Terry Pinkard: „Symbolic, Classical and Romantic Art“, in: Stephen Houlgate (Hg.): Hegel and the Arts, Evanston Ill. 2007, 3 – 28, hier 12: „Symbols, in this Hegelian sense, ,hint at‘ something else that the symbol itself cannot quite fully express, and what is being hinted at is the mythically conceived origin of human freedom, the divine ,whole‘ that brings about the existence and sustains the continued lives of the ,minded‘ creatures we are.“ Mit dem Begriff des Göttlichen als eines Ursprungs der menschlichen Freiheit holt Pinkard die absolutheitstheoretische Dimension von Hegels Bestimmung des Symbols sowie seiner ästhetischen Realisationsgestalten in der Religionsgeschichte ein. 37 Hegel: GW XXVIII/1, 332. 38 Hegel: Philosophie der Kunst, 114. Vgl. Alessandro Bertinetto: Darstellung, 145. 34

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„absolute Bedeutung“39 etabliert. Die Bedeutung stellt wesentlich sich selbst vor, um gleichzeitig die sinnliche Vorstellung ihres bisherigen Ranges für das gegenständliche Bewußtsein zu entheben. Die Einsicht in diese Absolutheit des Sinnes und die damit einhergehende Inkommensurabilität von Bedeutung und Gestalt artikuliert sich in ihrem negativen Modus dort, „wo das Geistige für sich hervorgestellt ist, [so] daß das sinnliche Dasein diesem Wesen des Gedankens dienend ist; hier ist die klassische Erhabenheit zu Hause.“40 Den religionsgeschichtlichen Ort dieser Spielart des ästhetischen Bewußtseins einer „eigentlichen Erhabenheit“41 markiert für Hegel die „jüdische[ ] Anschauung“ des Alten Testaments, da hier „die Bedeutung […] als Bewußtes hervorgetreten“42 ist. Das endliche Subjekt reflektiert die Relation von ideeller und sinnlicher Sphäre in Gestalt einer monotheistischen Vorstellung von Gott als dem „Schöpfer“43. Die absolute Bedeutung des ästhetischen Bewußtseins erscheint „als der Gott, der das Eine ist, der im Verhältnis zum Natürlichen und Endlichen die Macht über dasselbe ist, so daß dieses Natürliche […] als negativ gesetzt ist, nicht für sich selbst bestehend“44. Dieses grundlegend negative Verhältnis von absoluter Bedeutsamkeit des Göttlichen und Sinnbedürftigkeit der endlichen Sphäre legt sich in drei Bestimmungen auseinander, die jeweils als Formen der Emanzipation angesichts der unbedingten Dignität der Bedeutung aufzufassen sind. Die erste Emanzipationsgestalt betrifft die Sinnlichkeit als solche. Eingedenk der absoluten Bedeutung „muss [die sinnliche Erscheinung] heruntergesetzt werden 39

Hegel: Philosophie der Kunst, 126. Hegel: Philosophie der Kunst, 115. Vgl. Lambert Zuidervaart: „Art, Religion and the Sublime: After Hegel“, in: The Owl of Minerva 44/1 – 2 (2012) 119 – 142, bes. 123 – 129, der auf Grundlage der Hotho-Ausgabe der Vorlesungen über die Ästhetik (Werke 13 – 15) das Erhabene bei Hegel im Kontext der symbolischen Kunst eher summarisch darstellt. Dabei ringt er offenkundig mit dem ästhetisch-religiösen Doppelcharakter dieser Bestimmung, wenn er das Erhabene am Schnittpunkt von Kunst und Religion verortet, ohne deren Verhältnis näher fassen zu können: „Hegel locates the sublime at the intersection between art and religion“. „Hegel’s fundamental intuition about the sublime [is]: it is where the distinction between art and religion breaks down. But it is also where art and religion break apart“. Lambert Zuidervaart: Art, 124 – 127. 41 Hegel: Philosophie der Kunst, 129 42 Hegel: Philosophie der Kunst, 115. 43 Hegel: Philosophie der Kunst oder Ästhetik, 90. Andreas Arndt: „Wandlungen in Hegels Bild des Judentums“, in: Roderich Barth / Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener (Hg.): Christentum und Judentum. Akten des Interrnationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 (= SchlA, Bd. 24), Berlin / Boston 2012, 417 – 429, hier: 425 sieht dementsprechend in Hegels religionsphilosophischer Bestimmung des Judentums „eine Erhabenheit, die in einem Selbstbewußtsein liegt, das über den Schein der sinnlichen Existenz hinaus ist.“ Daß er diese Einsicht nicht mit der ästhetischen Grundlegung des Begriffs bei Hegel selbst in Verbindung zu bringen vermag, ist sehr verwunderlich. 44 Hegel: Philosophie der Kunst, 129. Vgl. Jeong-Im Kwon: Bestimmung, 171. 40

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zur Form der Endlichkeit, der Bestimmtheit, des Endlichen überhaupt.“45 Insofern das Göttliche nämlich selbst unendlich von der Sphäre endlicher Phänomene geschieden wird, werden diese selbst wiederum erst frei für die Betrachtung seitens des Bewußtseins. Auf diesem Wege gerät das Feld der sinnlichen Vorstellungen allererst für sich in den Blick. Die Endlichkeit der sinnlichen Erscheinungen gestattet trotz ihres konstitutiven Bedeutungsdefizits ihre Erörterung als Gegenstand des (endlichen) Bewußtseins, ohne daß sie weiterhin einer sakralen Bedeutung bedürften. „Es tritt damit ein, daß die Welt entgöttert wird, eine prosaische Welt, nach ihrer Bestimmtheit, Begrenztheit aufgefaßt.“46 Diese entgötterte Welt bringt als Totalität des Endlichen selbiges erst für sich ins Zentrum der Bestimmung und Nutzung durch das menschliche Subjekt. Die profanisierte Welt ist nicht mehr Schauplatz von Theogonien, sondern Gegenstand des wahrnehmenden Bewußtseins. Die Entgötterung der Welt gibt selbige für die menschliche Naturbetrachtung frei47. In gewisser Weise wird damit auf der Stufe des Weltbegriffs der alttestamentlichen Religiosität die technische Indienstnahme der Naturerscheinungen in der Moderne präfiguriert. Die zweite Emanzipation auf der Stufe des Bewußtseins der klassischen Erhabenheit betrifft den Träger dieses Bewußtseins selbst. Die konstitutive Depotenzierung der sinnlichen Erscheinung zur Sphäre der Endlichkeit schließt ebenso sehr den Menschen ein. Diese Freiwerdung des endlichen Subjekts im Angesicht der absoluten Bedeutsamkeit Gottes schlägt sich in der Sinnlichkeit der hebräischen Prosa nieder. Die Reflexion des Bewußtseins auf die Würde der abstrakten Vorstellung läßt den Menschen in seiner natürlichen Sinnlichkeit – selbst im religiösen Kontext – zum Gegenstand des profanen Erzählens geeignet erscheinen48. „Im Hebräischen geht es auf eine natürliche Weise zu; da sind es Menschen, bestimmte Individuen, sie sind begreiflich in ihren Verhältnissen, und was sie tun, ist ein Verständiges, ein sich Gehöriges.“49 Selbst die biblischen Wunderberichte gehören für Hegel auf diese profane Seite der alttestamentlichen Erzählung. „Auf diesem prosaischen Felde können dann Wunder stattfinden, wo sonst das vorhanden ist, was man den natürlichen Gang der Dinge nennt, die Unterbrechung eines solchen Ganges, indem Göttliches als Erscheinung gesetzt wird“50. Die dritte Gestalt der Emanzipation auf der Stufe eigentlicher Erhabenheit betrifft schließlich die Sittlichkeit des endlichen Subjekts in seinem Verhältnis zur absoluten Bedeutung. Die Erfahrung der eigenen Endlichkeit und Sinnbedürftigkeit vermag sich im Subjekt als bewußte Abkehr von der unbedingten Bedeutsamkeit des Schöpfers zu artikulieren. „[M]it der Erhabenheit Gottes ist die Tiefe des 45

Hegel: Philosophie der Kunst oder Ästhetik, 91. Ebd. 47 Vgl. Hegel: GW XXVIII/1, 87; Brigitte Hilmer: Scheinen, 149. 48 Vgl. Brigitte Hilmer: Scheinen, 148. 49 Hegel: Philosophie der Kunst, 129. 50 Hegel: Philosophie der Kunst, 129 f.

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Schmerzes des Menschen verbunden, [sein] Gefühl der subjektiven, moralischen Nichtigkeit.“51 Das Unvermögen der endlichen Kreatur, seinem Schöpfer gerecht zu werden, kondensiert im Festhalten an der eigenen Vergänglichkeit, „eine[r] gewollten Endlichkeit“, die für das hebräische Bewußtsein „das Böse ist“52. Dieses Wissen stellt sich zugleich als Erwachen des Sittlichen im Menschen dar – man denke an die aufgeklärte Interpretation des Sündenfalls (Gen 3) als felix culpa53. Das wesentliche Material des Bewußtseins der eigentlichen Erhabenheit stellt für Hegel jedoch weniger die hebräische Prosa als vielmehr die religiöse Poesie des Alten Testaments dar. Das Wissen um die konstitutive Inkommensurabilität von Bedeutung und sinnlicher Gestalt äußert sich in dichterischer Sprache. „Muster dieser Erhabenheit sind diese große Anzahl von Hymnen, Lobpreisungen Gottes, Psalmen.“54 Das Unvermögen, die Idealität der Bedeutung angemessen ins sinnliche Bild zu setzen, wird selbst zum Gegenstand der ästhetischen Gestaltung gemacht. Dabei bedient sich das hebräische Bewußtsein der Sprache als der flüchtigsten Gestalt von Sinnlichkeit überhaupt. Der sinnliche Aspekt der Gestaltung ist in der Sprache auf sein Minimum reduziert. Auf diesem Wege sucht der grundlegend negative Ausdruck eines absoluten Sinnes auf ein Medium zurückzugreifen, welches der Idealität seines abstrakten Gegenstandes am nächsten kommt.55 Diese Operation erscheint in höchster Potenzierung in der dichterischen Rede von der göttlichen Erschaffung der Welt durch das Wort (Gen 1). „,Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht‘, ein Ausdruck der höchsten Erhabenheit.“56 Damit verweist Hegel auf den locus classicus für die Erhabenheit der hebräischen Poesie. „Dieser Ausdruck wird auch von Longin, der bei der Königin Zenobia in Palmyra [war], angeführt.“57 51

Hegel: Philosophie der Kunst oder Ästhetik, 92. Ebd. 53 Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs, Berlin / New York 1977, 22 – 64 rekonstruiert auf der Basis von Hegels Subjektivitätstheorie dessen eigene Deutung von Gen 3. 54 Hegel: Philosophie der Kunst, 130. 55 Vgl. Hegel: GW XIII, 214 f (Enz1 § 380): „Die Anschauung, die für ein Zeichen gebraucht wird, ist als unmittelbare zunächst eine gegebene und räumliche. Aber indem sie nur als aufgehobene, und die Intelligenz diese ihre Negativität ist, so ist die wahrhaftere Form des Daseyns des Zeichens, die Zeit, – ein Verschwinden, indem es ist, und der Ton ist die erfüllte Aeusserung der sich kund gebenden Innerlichkeit“. 56 Hegel: Philosophie der Kunst, 130. 57 Ebd. Vgl. Longinus: Vom Erhabenen, griech. / dt., hg. / übers. von Otto Schönberger, Stuttgart 1988, 25 – 27 (Kap. 9,9): „Ebenso hat auch der Gesetzgeber der Juden, gewiß nicht der erste beste, weil er die Macht des Göttlichen würdig auffaßte, diese auch sprachlich geoffenbart, indem er gleich am Beginn seiner Gesetze schrieb ,Gott sprach‘ – was? ,Es werde Licht, und es ward Licht; es werde Land und es ward.‘“; Martin Fritz: Vom Erhabenen, 28 – 158. Libera Pisano: Judentum, 487 gibt an: „Während der Stuttgarter Zeit übersetzt Hegel die Abhandlung Peri hypsous (,Über das Erhabene‘) von Pseudo-Longinus“, vgl. GW I, 30 – 32; 77; 111; 372; 414. 52

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In diesem Zusammenhang kommt das göttliche Schöpferwort in doppelter Funktion als Sinnbild 1) absoluter Macht sowie 2) schlechthinniger Entzogenheit des Göttlichen zu stehen. Das flüchtige Medium zur Artikulation eines Sinnes teilt die Subjektivität und Flüchtigkeit desselben der sinnlichen Sphäre mit. Die unbedingte Bedeutsamkeit des Göttlichen wird im Modus einer heiligen Poesie zum Ausdruck gebracht, die ihre eigene Insuffizienz mitführt. Darüber hinaus erfolgt das Lob der Gottheit vor allem über die dichterische Akzentuierung der eigenen Endlichkeit des Psalmbeters, „z. B. der 90. Psalm, ein Gebet des Moses, des Mannes Gottes: ,Herr, du bist unsere Zuflucht für und für etc.‘; den Menschen läßt Gott sterben und ruft ihn wieder zu sich“58. In der hebräischen Poesie wird nicht die absolute Bedeutung selbst ins sprachliche Bild gesetzt. Vielmehr macht die religiöse Dichtung des Alten Testaments gerade die Unmöglichkeit eines adäquaten Ausdrucks des Göttlichen zum Gegenstand der Kunst. Das Bewußtsein der Inkommensurabilität von ideellem Gehalt und sinnlicher Vorstellung wird artikuliert, um solchermaßen die Struktur des Symbolischen selbst zu reflektieren. Die konstitutive Unangemessenheit von Idealität und Sinnlichkeit, welche für das Symbol kennzeichnend war, kommt auf der Stufe der Erhabenheit zu sich. Die ästhetische Erhabenheit ist als Selbstbewußtsein des Symbolischen zugleich dessen Aufhebung. III. Religiöse Erhabenheit Nimmt man die Applikation des Erhabenen auf die Religion in den Blick, fällt sogleich die Apostrophierung einer ganzen Gestalt des religiösen Bewußtseins als „Religion der Erhabenheit“59 ins Auge60. Im Zuge seiner Explikation des alttestamentlichen Monotheismus bzw. des Judentums greift Hegel auf seine Bestimmung des ästhetisch Erhabenen zurück61, um es nach metaphysischem Begriff, Gottes58

Hegel: Philosophie der Kunst, 130. Hegel: Bestimmte Religion, 323. 60 Vgl. Andreas Arndt: „Wandlungen“, bes. 424 – 428; Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 274 – 295 erörtert im wesentlichen Fragen der Disposition in Hegels Darlegung der Bestimmten Religion, wobei die Religion Israels ebenfalls zur Sprache kommt. Vgl. zudem Reinhard Leuze: Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, Göttingen 1975, 169 – 180. Leuzes Darstellung fußt freilich noch auf den alten Ausgaben von Hegels Religionsphilosophie. Überdies ist sie vor allem an materialen Bestimmungen im Sinne der protestantischen Dogmatik – z. B. Weisheit, Eigenschaften Gottes, Schöpfung – orientiert, sodaß der Zusammenhang mit der Philosophie der Kunst oder der Theorie des absoluten Geistes insgesamt nicht eigens thematisiert wird. 61 Andreas Arndt: „Wandlungen“, 423 mit Anm. 49 notiert zwar den engen Konnex zwischen Religionsphilosophie und Ästhetik. Jedoch vermutet er eine Abhängigkeit der ästhetischen Fassung des Erhabenen von den Ausführungen zur ,Religion der Erhabenheit‘, die mit Blick auf die Berliner Vorlesungen in systematischer wie historischer Hinsicht gerade in umgekehrter Richtung zu konstatieren ist. So erfolgt die Erörterung des ästhetisch Erhabenen 59

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gedanke und Kultus zu analysieren. Für unseren Zusammenhang wollen wir uns auf seine Bestimmung der hebräischen Gottesvorstellung konzentrieren. Dort kehrt die absolute Bedeutung ihrem Gehalte nach wieder, welche auf dem Felde der Ästhetik als Exponent des schlechthin Allgemeinen zum Gegenstand einer negativen Ausdruckskultur des Erhabenen gemacht wurde. Jedoch übernimmt Hegel seine ästhetische Fassung der Erhabenheit nicht, ohne die spezifische Struktur der Bedeutung am Orte des Gottesgedankens zu erörtern. Insofern Bedeutung nämlich als solche die Synthesis von Bedeutendem und Bedeutetem in sich begreift – Bedeutung ist immer „Bedeutung von…“ –, kommt der absoluten Bedeutung notwendig die negativitätslogische Struktur von Selbstbewußtsein zu62. „[D]ie Religion der Erhabenheit“ ist deshalb „die Religion des Einen.“63 Indessen wird die unbedingte Bedeutsamkeit des Allgemeinen nicht in der Weise eines starren Prinzips gefaßt. Vielmehr ist die Idealität des Göttlichen in Analogie zum religiösen Bewußtsein im Modus einer selbstbewußten Größe vorgestellt. Die ,absolute Bedeutung‘ des ästhetischen Bewußtseins der Erhabenheit wird als „die absolute Macht, die Weisheit ist“64 zum Gegenstand des religiösen Gemüts. Dergestalt bringt der hebräische Monotheismus die Einheit und Einzigkeit des Göttlichen als einer Instanz zur Geltung, die der Struktur des religiösen Subjekts selbst isomorph ist. Gleichwie dem subjektiven Vorstellen gegenüber die Mannigfaltigkeit der Gegenstände zu bloßen Objekten herabsinkt, wird die Sphäre der Weltgehalte angesichts der Bedeutsamkeit des Schöpfergottes ihres prinzipiellen Wertes entkleidet. Dies bedeutet für die sinnlichen Gehalte des gegenständlichen Bewußtseins, „daß sie nicht mehr für sich gelten in ihrer Unmittelbarkeit, sondern die Macht, die Selbständigkeit ist nur eine; alles andere ist ein nur Gesetztes, ein von dem Einen Abgehaltenes, denn er ist abstrakte Subjektivität.“65 in der Berliner Zeit bereits in der Vorlesung vom Wintersemester 1820/21, während das erste religionsphilosophische Kolleg Hegels überhaupt erst im Sommersemester 1821 stattfindet – wohl als Reaktion auf Schleiermachers Glaubenslehre. Der charakteristische Verweis auf Gen 1 etwa findet sich schon in jenem kunstphilosophischen Kolleg. Vgl. Walter Jaeschke: „Paralipomena Hegeliana zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers“, in: Kurt-Victor Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Teilband 2, Berlin / New York 1985, 1157 – 1169. Zur Durchführung des Erhabenheitsbegriffs in Hegels Ästhetik-Vorlesung von 1820/21 vgl. v. Vf.: „Alttestamentlicher Monotheismus als Religion der Erhabenheit. Überlegungen zu Hegels Sicht der Religionsgeschichte“, in: Jörg Dierken / Arnulf von Scheliha / Sarah Schmidt (Hg.): Reformation und Moderne: Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale), März 2017 (SchlA Bd. 27), Berlin / Boston 2018, 157 – 167, hier: 162 – 166. Ebenso unterstreicht die erstmalige Apostrophierung des Judentums als Religion der Erhabenheit in der Phänomenologie (GW IX, 371) eher das Vorwalten der ästhetischen Perspektivierung dieser Gestalt des Religiösen, wenn Hegel solchermaßen einen Begriff aus der philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts aufgreift. 62 Vgl. Hegel: Bestimmte Religion, 325. 63 Hegel: Bestimmte Religion, 323. 64 Ebd. 65 Hegel: Bestimmte Religion, 323 f.

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Es ist gerade der subjektivitätslogische Charakter des hebräischen Gottesgedankens, der das Moment der Erhabenheit des Absoluten auf religiösem Gebiet zu aktualisieren vermag. Die absolute Bedeutung des ästhetisch Erhabenen findet ihr religionsphänomenologisches Pendant am Orte der personalen Gottesvorstellung des Alten Testaments. Hier gibt das religiöse Subjekt seinem wesentlichen Gehalt eine durch und durch ideelle Form, die erst dem Bewußtsein selbst nach der Seite seiner Allgemeinheit entspricht. Das schlechthin Allgemeine ist „reine Subjektivität“66. Die Einheit Gottes nicht bloß als Einfachheit eines fixen Prinzips, sondern als lebendige Struktur vorgestellt zu haben67, markiert für Hegel die epochale Bedeutung der alttestamentlichen Religion. Dies überwiegt ebenso den möglichen Einwand des religiösen Formalismus einer solchen Bestimmung. „Sie ist auch formell, aber sie ist unendlich wichtig, und es ist kein Wunder, daß das jüdische Volk sich dies so hoch angerechnet hat, daß es den Gott als Einen verehrt. Denn daß er Einer ist, ist der Grund zur absoluten Geistigkeit, der Weg zur Wahrheit.“68 Dergestalt markiert die Religion der Erhabenheit eine entscheidende Stufe des Bewußtseins auf dem Weg, das Absolute „nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“69 Daß diese Subjektivität der absoluten Bedeutung keiner sinnlichen Gestaltung zugänglich sein kann, entspricht wiederum der Erhabenheit als dem Bewußtsein der Inkommensurabilität von Sinn und Sinnlichkeit. Das ästhetische Selbstbewußtsein der Symbolizität kommt als Bildlosigkeit des Göttlichen erneut zum Tragen, um der Würde seines schlechthin ideellen Gehalts gerecht zu werden70. Das religiöse Bewußtsein formuliert das eigene Unvermögen, auf dem Wege der Symbolisierung zu einem angemessenen Ausdruck des absoluten Sinns zu gelangen. Die Gottheit ist reine Subjektivität. „Dieser Eine ist deshalb gestaltlos, denn er ist reine Macht; alles Besondere ist darin als Negatives gesetzt, also als ihm nicht angehörig, als seiner unangemessen, seiner noch nicht würdig.“71 Im alttestamentlichen Bilderverbot reflektiert sich das Symbolisieren des religiösen Bewußtseins in sich selbst, um die Grenze seiner Reichweite zu ermessen. An der Subjektivität der absoluten Bedeutung Gottes strandet – ungeachtet ihrer religionstheoretischen Notwendigkeit – alle Bildung von Sinnbildern, die ihre Uneigentlichkeit nicht als solche sogleich artikulieren. „Es ist also das gestalt- und bildlose Wesen, nach außen nicht auf eine

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Hegel: Bestimmte Religion, 324. Vgl. Bestimmte Religion, 325: „Es liegt darin die Bestimmung der absoluten Wahrheit; es ist noch nicht die Wahrheit als Wahrheit, denn dazu gehört Entwicklung, aber es ist das Prinzip, ihre absolute Übereinstimmung mit sich selbst, die als konkret die Wahrheit ist.“ 68 Hegel: Bestimmte Religion, 325. 69 Hegel: Werke 3, 23. 70 Vgl. Brigitte Hilmer: Scheinen, 151. 71 Hegel: Bestimmte Religion, 325. 67

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natürliche Weise für das Andere, sondern ist nur für den Gedanken, nur für den Geist.“72 Dessen einziges Ausdrucksmedium auf dem Felde der Sinnlichkeit kann wiederum – bei aller Unangemessenheit – allein die Sprache sein. Wenn „alle diese Äußerlichkeit vernichtet“73 ist vor der abstrakten Subjektivität, bleibt das klingendverklingende Wort als Zeichen des Gedankens, um die Gestaltlosigkeit der reinen Idealität anzudeuten. Und so greift Hegel im Kontext der Religionsphilosophie ebenfalls auf (Pseudo-)Longins Würdigung des biblischen fiat lux (Gen 1) zurück, um die Religion der Erhabenheit zu charakterisieren. „Schon Longin, der Grieche, führt die erste Stelle aus dem Buche Mosis an: ,Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht.‘ Es ist dies eine der erhebendsten Stellen.“74 Die Sprache dient – in ihrer sich selbst negierenden Sinnlichkeit75 – einerseits als negativer Ausdruck der abstrakten Subjektivität der unbedingten Bedeutsamkeit des Schöpfers. Andererseits steht dieses ätherische Medium sinnbildlich für die absolute Grenze des religiösen Symbolisierens überhaupt. Das Selbstbewußtsein des Symbolischen tritt in der Religion der Erhabenheit als dessen Selbstvernichtung an der absoluten Bedeutung Gottes auf76. Schluß Fragt man nach dem Zusammenhang von Kunst und Religion für das moderne Bewußtsein, so läßt sich unschwer eine ganze Reihe an Phänomenen der Konvergenz beider Beschreibungsebenen eröffnen – von der gewaltigen Naturerscheinung über den Sakralbau bis zum Ergriffensein im Sinfonie-Konzert. Kunsterleben und religiöse Selbstdeutung befruchten einander fraglos in vielen Bereichen. Für diese innere Affinität bietet gerade das Hegelsche Denken die begrifflichen Mittel der Erschließung dar. Dabei ist weniger an sein an der griechischen Plastik gewonnenes Verständnis des Kunstschönen zu denken als an die ästhetisch-religiöse Bestimmung der Erhabenheit. Letztere repräsentiert in paradigmatischer Weise den gemeinsamen Bezug von Kunst und Religion auf einen unbedingten Sinn, ohne beiderlei Formunterschiede zu nivellieren.

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Ebd. Ebd. 74 Hegel: Bestimmte Religion, 332. 75 Vgl. ebd.: „,Gott sprach‘; es wird von seiner Wirksamkeit gesprochen; diese Wirksamkeit bildlich, äußerlich darzustellen, ist sprechen. Das Wort ist jedoch das Müheloseste; sowie es gesprochen ist, ist es verschwunden.“ 76 Vgl. ebd.: „Die Erhabenheit ist die Idee, die sich äußert, die sich zur Manifestation bringt, aber so, daß sie in diesem Erscheinen an der Realität zugleich sich auch zeigt als erhaben über dieses Erscheinen, über diese Realität, so daß diese Realität zugleich auch als negiert gesetzt ist, so daß die erscheinende Idee erhaben ist über das, woran sie erscheint, so daß die Erscheinung ausgedrückt wird als unangemessen.“ 73

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Am Orte des Erhabenen reflektiert das ästhetische Bewußtsein das ambivalente Verhältnis von abstrakter Bedeutung und sinnlicher Gestalt, um der Inkommensurabilität beider Momente angesichts der wesentlichen Idealität seines Gehalts inne zu werden. Ebenso dient das religiös Erhabene als Signatur für das Wissen um die Subjektivität dieses absoluten Sinns. Die absolute Bedeutung des ästhetischen Bewußtseins kondensiert in der reinen Subjektivität des religiösen Gehalts. Der Doppelcharakter des Erhabenen aktualisiert somit auf der begrifflichen Ebene die innige Berührung von Kunst und Religion, indem eine ästhetische Bestimmung zur Explikation religiöser Phänomene einen maßgeblichen Beitrag zu leisten vermag. Literatur Arndt, Andreas: „Wandlungen in Hegels Bild des Judentums“, in: Roderich Barth / Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener (Hg.): Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 (SchlA Bd. 24), Berlin / Boston 2012, 417 – 429. Barniske, Friedemann: „Alttestamentlicher Monotheismus als Religion der Erhabenheit. Überlegungen zu Hegels Sicht der Religionsgeschichte“, in: Jörg Dierken / Arnulf von Scheliha / Sarah Schmidt (Hg.): Reformation und Moderne: Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale), März 2017 (SchlA Bd. 27), Berlin / Boston 2018, 157 – 167. Barniske, Friedemann: Hegels Theorie des Erhabenen. Grenzgänge zwischen Theologie und philosophischer Ästhetik, Tübingen 2019. Barth, Ulrich: „Bewußtsein und Geist. Überlegungen zu Hegels frühem Hauptwerk“, in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 191 – 204. Bassan, Fiorella: Immagine e Figurazione. Hegel Warburg, Bataille, Rom 2013. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Aesthetica, Frankfurt an der Oder 1750 / ND Hildesheim / New York 1970. Bertinetto, Alessandro: „Negative Darstellung. Das Erhabene bei Kant und Hegel“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 4 (2006) 124 – 151. Brandt, Reinhard: „Beobachtungen zum Erhabenen bei Kant und Hegel“, in: Christel Fricke (Hg.): Das Recht der Vernunft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 215 – 228. Burke, Edmund: Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übersetzt von Friedrich Bassenge. Neu eingeleitet und herausgegeben von Werner Strube, Hamburg 19892. Düsing, Klaus: „Hegels Theorie der Einbildungskraft“, in: Franz Hespe / Burkhard Tuschling (Hg.): Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Beiträge zu einer Hegel-Tagung in Marburg 1989, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 297 – 320. Fritz, Martin: Vom Erhabenen. Der Traktat ,Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert (BHTh 160), Tübingen 2011.

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Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Beilage. Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Mit Einleitungen und Bibliographie hg. von Heiner F. Klemme. Mit Sachanmerkungen von Piero Giordanetti (PhB 507), Hamburg 2009. Kwon, Jeong-Im: „Die Metamorphosen der ,Symbolischen Kunstform‘, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.): Phänomen versus System. Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst (Hegel-Studien Beiheft 34), Bonn 1992, 41 – 89. Kwon, Jeong-Im: Hegels Bestimmung der Kunst. Die Bedeutung der „symbolischen Kunstform“ in Hegels Ästhetik, München 2001. Leuze, Reinhard: Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, Göttingen 1975. Longinus: Vom Erhabenen, griech. / dt. Hg. / übers. von Otto Schönberger, Stuttgart 1988. Lowth, Robert: De sacra poesi hebraeorum praelectiones academicae oxonii habitae, London 1753, Oxford 1775 (ND London 1995). Pinkard, Terry: „Symbolic, Classical and Romantic Art“, in: Stephen Houlgate (Hg.): Hegel and the Arts, Evanston Ill. 2007, 3 – 28. Pisano, Libra: „Judentum, Entfremdung, Sprache. Der vergessene Zusammenhang zwischen Mendelssohn und Hegel“, in: Judaica 72/4 (2016), 473 – 510. Ringleben, Joachim: Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs, Berlin / New York 1977. Schiller, Friedrich: Vom Erhabenen, in: Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 20, Weimar 1962, 171 – 195 (NA 20). Schiller, Friedrich: Über das Erhabene (1801), in: Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 21, Weimar 1963, 38 – 54 (NA 21). Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. von Günter Meckenstock, Berlin / New York 2001. Speight, Allen: „The Symbolic Form of Art“, in: Birgit Sandkaulen (Hg.): G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (Klassiker Auslegen, Bd. 40), Berlin / Boston 2018, 73 – 97. Wagner, Falk: „Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff – Zur Rekonstruktion des religionsphilosophischen Grundproblems der Hegelschen Philosophie“, in: ders.: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 204 – 232. Zuidervaart, Lambert: „Art, Religion and the Sublime: After Hegel“, in: The Owl of Minerva 44/1 – 2 (2012), 119 – 142.

Zur formalen Stimmigkeit der Christologie Hegels in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften Michael Schulz (Bonn) I. Vernunft in der Christologie? Gotthold Ephraim Lessings (1729 – 1781) Unterscheidung zwischen zufälligen Geschichtswahrheiten und allgemeingültigen Vernunftwahrheit entzieht denjenigen Religionen1, die durch geschichtliche Ereignisse konstituiert sind, ihr Recht auf universelle Wahrheitsansprüche, die sie aber generell stellen. Der universelle Wahrheitsanspruch des Christusereignisses, das das Christentum begründet, steht daher zur Disposition. Immanuel Kant (1774 – 1804) rettet den Wahrheitsanspruch des unstrittigen Menschheitsphänomens der Religion deshalb dadurch, daß er es aus der Geschichte in die Grenzen der bloßen bzw. praktischen Vernunft transponiert. Er begründet damit die neue Disziplin der Religionsphilosophie2. Die philosophisch konstruierte Vernunftreligion avanciert zum legitimen „Ausleger“ 3 der konkreten Religionen. Der Christologie weist Kant die Funktion zu, im Kontext einer faktisch von Unmoralität bedrohten Menschheit das moralische Ideal zu illustrieren, das jedoch geltungstheoretisch ganz in der Vernunft gründet4. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) polemisiert gegen derartige Versuche, den Mann aus Nazareth zum Nachhilfelehrer der moralischen Vernunft zu machen5. Trotz anfänglicher Anleihen bei Kants Religionsphilosophie konzipiert Hegel seine Version der neuen 1 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: „Über den Beweis des Geistes und die Kraft“, in: ders., Werke VIII: Theologiekritische Schriften III, Philosophische Schriften, hg. von Herbert G. Göpfert, Darmstadt 1996, 9 – 14, hier: 12. 2 Zur Genese der Religionsphilosophie vgl. Walter Jaeschke: „Religionsphilosophie“, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, Sp. 748 – 763, hier: 748 f. 3 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. VI, Berlin / New York 1914, 1 – 202, hier: 109. 4 Kant: AA VI, 61. Nach anfänglicher Zustimmung zu einer Ethikotheologie in gedanklicher Anlehnung an Kant erkennt Hegel ihre Unvereinbarkeit mit dem positiv-geschichtlichen Charakter des Christentums. Zur frühen Rezeptionsgeschichte der Ethikotheologie Kants und zu ihrer Deutung durch Hegel vgl. Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 39 – 116. 5 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1984, 240, 244.

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Disziplin so, daß er dem positiv-geschichtlichen Charakter der Religionen insgesamt und dem christologisch begründeten Christentum im besonderen gerecht zu werden vermag, ohne dabei das Monopol des philosophischen Arguments aus der Hand zu geben. Gerade weil Hegel die Grenzen der philosophischen Vernunft nicht zu überschreiten beansprucht – er sucht die Vernunft in der Religion6 –, verliert sein Ansatz nicht seine provokative Pointe. In diesem Beitrag wird deshalb die formale Stimmigkeit des trinitarisch-christologischen Zentrums in Hegels Religionsphilosophie rekonstruiert und diskutiert, in der sich die Vernunft zeigen soll. Im Blick auf die erstmalige Publikation der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaft (EPW) vor 200 Jahren, 18177, gefolgt von überarbeiteten Versionen 1827 und 1830, sind vorzugsweise die enzyklopädischen Religions-Paragraphen von Interesse. Selbstverständlich fungieren die vier Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion (1821, 1824, 1827, 1831) ebenso als Referenzgröße. Zu erörtern ist die unterschiedliche religionsphilosophische Verwendung der Begriffsmomente Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, die Hegel in der Wissenschaft der Logik (WL) entwickelt und in der sogenannten kleinen Logik der EPW wiederholt. Insbesondere die Applikation dieser Begriffsbestimmungen auf Christentum und Christologie sind zu überprüfen. Schließlich stellt sich die bekannte Frage, ob und wie die Christologie auch noch in der Begriffsform der Philosophie aufgehoben aufbewahrt bleibt. Diese Frage drängt sich auf, weil sich Hegel zufolge das zentrale, im Glaubensbekenntnis kodifizierte Narrativ des Christentums der religiös-theologischen Form der Vorstellung verdanken soll, die aus der Manifestation des absoluten Geistes „aufeinanderfolgende Erscheinungen“ und einen „Zusammenhang des Geschehens nach endlichen Reflexionsbestimmungen“ macht (EPW 1817 § 465 / 243), wovon die Philosophie, deren Begriff die „Zeit tilgt“8, offenbar absehen kann. II. Die WL als Begründungstheorie der Religionsphilosophie Den Nachweis, daß Vernunft in der Religion zu finden ist, führt Hegel dadurch, daß er das Thema der Religion in sein Gesamtsystem zu integrieren weiß und damit zum Thema der Philosophie macht, was sowohl die Architektur der EPW als auch Aussagen der Vorlesungen über die Philosophie der Religion deutlich erkennen 6

Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 269: Die Philosophie weise in der Religion Wahrheit auf, d. h., „daß Vernunft darin ist.“ 7 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), hg. von Wolfgang Bonsiepen / Klaus Grotsch, Hamburg 2000. Die Nachweise aus der EPW erfolgen im Weiteren direkt im Text; bei der Zahl nach dem Schrägstrich handelt es sich um die Angabe der Seite, auf welcher der vorab genannte Paragraph (§) zu finden ist. Wegen des im Jahr 2017 begangenen 200jährigen Jubiläums der Erstveröffentlichung der EPW von 1817 wird bevorzugt diese Ausgabe herangezogen. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. von Wolfgang Bonsiepen / Reinhard Heede, Hamburg 1980, 429.

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lassen. In den Vorlesungen wird die Religionsphilosophie als „letzte Wissenschaft in der Philosophie“9 bezeichnet, die deshalb „die anderen philosophischen Disziplinen“10 voraussetzt und darum „Resultat“ sei, ein „Resultat von Vordersätzen, die hinter unserem Rücken liegen“11. Den „Standpunkt der Religion“12 setzt Hegel als bewiesen voraus. Diese Auskunft mag überraschen, weil Hegel in den Vorlesungen durchaus optimierte Gottesbeweise anbietet und Religion auch vom menschlichen Standpunkt aus als legitime Form der Wahrheitserkenntnis begründet13. Dennoch ist er offenbar davon überzeugt, daß die begründungstheoretische Hauptlast die WL trägt, was für alle Realphilosophien zu konstatieren ist, als deren „Vorbildner“14 sie fungieren soll. Die Religion muß deshalb auf die WL hin transparent sein. Aber wie sieht diese Transparenz aus, wie weit reicht sie? Hegel bietet in der EPW eine Skizze seiner Religionsphilosophie. Sein enzyklopädisches Handout zum Gebrauch bei Vorlesungen präsentiert die geoffenbarte Religion als zweite Form des absoluten Geistes, vorgeschaltet sind die Abschnitte zur (Religion der) Kunst. Auf die Religion folgen die Paragraphen zur Philosophie15. Vergleicht man Hegels religionsphilosophische Vorlesungen mit der Skizze zur Religion in der EPW16, so zeigen sich markante Unterschiede auf verschiedenen 9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1984, 265. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Vgl. Hegel: Der Begriff der Religion, 309 – 329. 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), hg. von Friedrich Hogemann / Walter Jaeschke, Hamburg 1981, 25. Die konkreten Wissenschaften haben „das Logische oder den Begriff zum inneren Bildner […,] zum Vorbildner“. 15 Vgl. Hegel: EPW 1817: „Der absolute Geist“ §§ 453 – 455 / 240, „Die Kunst der Religion §§ 456 – 464 / 241 – 243, „Die geoffenbarte Religion“ §§ 465 – 471 / 243 – 247, „Die Philosophie“ §§ 472 – 477 / 245 – 247; ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), hg. von Wolfgang Bonsiepen / Hans-Christian Lucas, Hamburg 1989: „Der absolute Geist“ §§ 553 – 555 / 391 – 392, „Die Kunst“ §§ 556 – 563 / 392 – 400, „Die geoffenbarte Religion“ §§ 564 – 571 / 400 – 403, „Die Philosophie“ §§ 572 – 574 / 404 – 534; ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. von Wolfgang Bonsiepen / Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992: „Der absolute Geist“ §§ 553 – 555 / 542 – 543, „Die Kunst“ §§ 556 – 563 / 543 – 549, „Die geoffenbarte Religion“ §§ 564 – 571 / 549 – 554, „Die Philosophie“ §§ 572 – 577 / 554 – 571. Zu Religion und Philosophie in der EPW vgl. den luziden Kommentar von Walter Jaeschke: „Die geoffenbarte Religion (§§ 553 – 571)“ und „Die Philosophie (§§ 572 – 577)“, in: Herbert Schnädelbach (Hg.): Hegels ,Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ (1930). Ein Kommentar zum Systemgrundriß von Hermann Drüe, Annemarie Gethmann-Siefert, Christa Hackenesch, Wolfgang Neuser und Herbert Schnädelbach, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2016, 375 – 466, 466 – 501. 16 Zum Verhältnis der EPW zu den Vorlesungen vgl. Jaeschke: „Die geoffenbarte Religion“, 387 – 388; Reinhard Heede: Die göttliche Idee und ihre Erscheinung in der Religion. Untersuchungen zum Verhältnis von Logik und Religionsphilosophie bei Hegel, Münster 1972, 269 – 349, bes. 307 – 319, 335 – 349.

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Ebenen. Wir blicken zunächst auf die allgemeine Architektonik des religionsphilosophischen Materials. Die EPW verzichtet in ihren Religionsparagraphen auf eine Darstellung des allgemeinen Religionsbegriffs, der bei den Vorlesungen Gegenstand eines ausführlichen ersten Teils ist17. Doch bei der Charakterisierung des absoluten Geistes in der EPW ab 1827 erläutert Hegel in einem Paragraphen, der noch vor denen der Kunst steht, immerhin knapp das Wesen der Religion. Danach hat die Religion einen zweifachen Ursprung, nämlich sowohl im menschlichen Subjekt als auch im absoluten Geist18. Das sagt Hegel ebenso in den Vorlesungen19. In der EPW von 1817 § 453 hingegen bleibt es noch bei allgemeinen Feststellung, daß der „Begriff des Geistes […] seine Realität im Geiste“ hat (§ 453 / 240), womit der Ursprung der Religion – wie der von Kunst und Philosophie – im absoluten Geist zumindest angesagt ist. Nachdem Hegel ab der EPW von 1827 schon einmal seine Religionsdefinition in den einleitenden Paragraphen zum absoluten Geist angeführt hat, bleibt er noch beim religionsphilosophischen Themenkreis und lenkt den Gedankengang auf den „Geist in seiner Gemeinde“ (§ 554 / 391), der das pneumatologisch-ekklesiologische Ende seiner Religionsphilosophie markiert: „Gott als Gemeinde existierend“20. Aber auch in seinen Vorlesungen verweist Hegel im Abschnitt über den Allgemeinbegriff der Religion schon auf diese ekklesiale Ziel des Geistes, weil andernfalls das Thema der Religion gar nicht zur Sprache kommen könnte: Religion impliziert die Selbstvergegenwärtigung Gottes in einer gemeinschaftlichen Form21. In den Vorlesungen präsentiert Hegel nun das Christentum als die vollkommene Darstellung des Religionsbegriffs, während er die Geschichte der Religionen als Versuche und Vorstufen interpretiert, den vorab definierten Begriff der Religion in der Realität zu erreichen. In der Triadik der Gliederung – allgemeiner Religionsbegriff, Religionsgeschichte, Christentum – liegt also eine zentrale These seiner Philosophie der Religionen und des Christentums. Diese Triadik ist auf die WL hin transparent: vor allem auf die drei Momente des Begriffs22 Allgemeinheit (Begriff der Religion), Besonderheit (Religionsgeschichte) und Einzelheit (Christentum), aber auch auf die subjektlogische Abfolge von Begriff, Urteil und Schluß23. Eine triadische Präsentation der Religion bietet die EPW nicht (sie wird aber auch nicht in der Rechtsphilosophie geboten, was an sich naheliegen müßte). Die EPW han17

Vgl. für die Vorlesung von 1827 Hegel: Der Begriff der Religion, 265 – 338. Vgl. Hegel: EPW 1827 § 554 / 391: „Die Religion, wie diese höchste Sphäre im Allgemeinen bezeichnet werden kann, ist eben so sehr als vom Subjecte ausgehend und in demselben sich befindend, als objectiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten.“ 19 Vgl. schon im Manuskript der Vorlesung von 1821: Hegel: Der Begriff der Religion, 95: „Religion [ist] Bewußtsein von Gott überhaupt“, 96: „Der Begriff von Gott führt […] notwendig für sich selbst zur Religion“. 20 Hegel: Die vollendete Religion, 76, 254. 21 Vgl. im Manuskript Hegel: Der Begriff der Religion, 96. 22 Vgl. Hegel: Die subjektive Logik (1816), 32. 23 Vgl. Hegel: Die subjektive Logik (1816), 31; ders.: Der Begriff der Religion, 84 – 92. 18

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delt, von einigen religionsgeschichtlichen Anmerkungen abgesehen, nur von der geoffenbarten Religion, vom Christentum. Ist die Transparenz des religionswissenschaftlichen Materials auf die WL hin also doch nicht entscheidend? Einsichtiger wird der Zusammenhang von Religionsphilosophie und WL, wenn man einzelne Kategorien heranzieht, mit deren Hilfe sich der Standpunkt der Religion begründen läßt und – in Fortsetzung – das christologische Zentrum der vollendeten Religion. III. Die Begründung des religiösen Standpunkts durch Kategorien der WL Die Kategorien, die auf logischer Ebene den absoluten Geist in seiner Beziehung auf den endlichen Menschen vorbilden, sind für Hegel vorzugsweise diejenigen, die traditionell als göttliche Attribute gelten, wie das Unendliche, Absolute und Notwendige, jedoch von sich aus gerade eine Beziehung zum Menschen auszuschließen scheinen und lediglich Thema einer theologia naturalis sind. Deren Nachteil besteht nach Hegel aber gerade darin, Religion nicht in Gott begründen zu können24 – schon eine endliche Schöpfung läßt sich nicht auf ein Unendliches zurückführen, das von sich aus nichts mit Endlichem zu tun haben kann. Sollen Schöpfung und Religion denkbar sein, dann können diese Attribute nicht als im Gegensatz zum Endlichen, Relativen, Zeitlichen (Geschichtlichen) und Kontingenten stehend begriffen werden. Dieser Forderung entspricht Hegel in der WL mittels der Einsicht, nach der man Unendliches nur dann wahrhaft gedacht hat, wenn man es von seinem Gegensatz zum Endlichen befreit und als das „wahrhafte Unendliche“ begreift25. Stünde das Unendliche in einem unversöhnlichen Gegensatz zum Endlichem, dann wäre es durch diesen Gegensatz bestimmt und begrenzt: Wo das Endliche ist, könnte das Unendliche nicht sein. Ein begrenztes Unendliches entlarvt Hegel als endliche Größe. Umgekehrt gewinnt ein Endliches (Relatives, Kontingentes), welches das Unendliche (Absolute, Notwendige) von sich aus gänzlich auszuschließen vermag und sich von jedem Unbedingten unabhängig erklärt, die Qualität einer absoluten Realität, was widersprüchlich ist. Die Wahrheit sowohl des Unendlichen als auch des Endlichen zu denken gelingt daher nur, wenn man dem Unendlichen konzediert, auch im Endlichen bei sich zu sein, und dem Endlichen und Relativen 24

Diesen Nachteil der theologia naturalis erörtert Hegel bereits im Vorlesungsmanuskript von 1821; um den Nachteil aufzuwiegen, bietet Hegel seine Religionsphilosophie an, Hegel: Der Begriff der Religion, 95. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832), hg. von Friedrich Hogemann / Walter Jaeschke, Hamburg 1984, 124. Zum Absoluten, das Hegel als Manifestation und Offenbarung sich selbst gegenüber betrachtet, dessen Äußerungen zugleich ihm innerlich sind, vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/1813), hg. von Friedrich Hogemann / Walter Jaeschke, Hamburg 1978, 375. Das Absolute bildet die Struktur gottinterner Selbstvermittlung vor, die sich aber auch in und als Wirklichkeit zeigt, offenbart: im Modus der Notwendigkeit und Zufälligkeit.

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ins Stammbuch schreibt, nur jeweils als Affirmation des Unendlichen und Absoluten existieren zu können. Die Möglichkeit des religiösen Standpunktes ist damit begründet. Es entspricht dem Unendlichen sich im Endlichen, Zufällig-Kontingenten zu offenbaren. Die Erkenntnis des Endlichen erhebt das Denken zum Unendlichen26. Begründet ist damit auch eine Offenheit des menschlichen Geistes für das Unendliche, das sich deshalb seinerseits im menschlichen Geist zu offenbaren vermag. Christologie ist folglich genauso möglich wie ein Existieren Gottes als Gemeinde. Die Möglichkeit von Christologie und Ekklesiologie hängt jedoch noch an einer weiteren Voraussetzung: daran, daß Unendliches auch als Subjektivität begriffen werden kann, die sich frei dem Menschen offenbart. Logischer Vorbildner der Subjektivität ist der selbstreferentielle Begriff, das Sich-Erfassen, das ein SichOffenbaren einem Anderen gegenüber genauso ermöglicht wie das Erfassen von anderem27. Damit wird einsichtig, daß das Erscheinen des Unendlichen im Endlichen eine rein „naturalistische“ oder mechanisch-willenlose Epiphanie übersteigt, sondern daß die Präsenz des Absoluten im Endlichen als freie Selbstbestimmung und geschichtliche Selbstrealisation des Absoluten zu begreifen ist. Mit dieser Überlegung entwickelt Hegel ein religionsphilosophisches Kriterium, um die Religionsgeschichte zu vermessen. In der Religion ist mehr Vernunft (und Freiheit) zu finden, sobald das Absolute als Subjektivität geglaubt wird. Ein absolutes Subjekt vermag Andersheit in Form von Schöpfung hervorzubringen und sich darin zu offenbaren. Das Maß der Vernunft, das in der Religion zu finden ist, wächst nochmals, wenn die Selbstdarstellung des Absoluten in einer geschichtlichen Wirklichkeit religiös geglaubt und vorgestellt wird, die ihrerseits durch Subjektivität bestimmt und insofern von sich her geschichtlich ist. Pflanzen- und Tierreligionen, erläutert Hegel in der Phänomenologie des Geistes, bewegen sich auf diese subjektive Form göttlicher Selbstpräsentation zu, weil sie Präludien von Selbstreferenz kultisch intonieren28. Am nächsten kommt der Selbstoffenbarung des Absoluten im menschlichen Subjekt die griechische Religion, in deren Zentrum die Götterstatue mit menschlichem Antlitz bzw. Tragödien mit menschlichen Akteuren stehen29. Der Inkarnationsglaube des Christentums erfüllt das religionsphilosophische Kriterium

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Vgl. Hegel: Die Lehre vom Sein (1832), 125: „Es ist die Natur des Endlichen über sich hinauszugehen“, die Natur des Endlichen sei eine Schranke, über die man hinausgehen müsse. Vgl. ders.: Der Begriff der Religion, 185 – 187, 193 – 214. 27 Vgl. Hegel: Die Lehre vom Sein (1832), 14. Die Kategorie des Begriffs ergibt sich aus der Kausalität und Wechselwirkung: die ursprünglich getrennten Ursachen erweisen sich in ihrer Selbigkeit, womit sie zur Kategorie des Selbstbezugs überleiten, der durch den Begriff logisch dargestellt wird. Den Begriff versteht Hegel als „das Reich der Freyheit“ (15), weshalb er ihn als Struktur von Subjektivität auffaßt (30). 28 Hegel: Phänomenologie, 372 f. 29 Hegel: Phänomenologie, 400: Die „Menschwerdung des göttlichen Wesens geht von der Bildsäule aus“.

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in vollendeter Form, weshalb Hegel das Christentun die wahre und vollendete30 oder offenbare/geoffenbarte und absolute31 Religion nennt. Die christologische Zuspitzung der Religion und die Vermittlung der Geist-Gemeinde hängen aber nicht allein vom Gedanken ab, daß sich die eine und einzige absolute Subjektivität zunächst auch nur in einer einzigen menschlichen Subjektivität offenbart32. Hegel beansprucht, darüber hinaus einen inneren Zusammenhang zwischen dem gottinternen Sohn und dem inkarnierten Sohn herzustellen, daß also – theologisch ausgedrückt – der eine trinitätsimmanente Sohn mit dem einen und einzigen heilsökonomischen Sohn identisch ist. IV. Die Begriffsmomente als Strukturprinzip der Philosophie des Christentums Diesen inneren Zusammenhang des göttlichen Logos und des irdischen Jesus beabsichtigt Hegel, sowohl in der EPW als auch in den Vorlesungen zur Religionsphilosophie mittels der drei Begriffsmomente – Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit – aufzuweisen. Diese Begriffsmomente strukturieren die Darstellung des dogmatischen Kernbestands christlicher Religion; Hegel spricht – ähnlich wie in den Vorlesungen über Religionsphilosophie – von drei Sphären oder Elementen, die durch die Begriffsmomente charakterisiert werden (EPW1817 § 466 / 243). Er verwendet die drei Begriffsmomente aber nochmals zur Explikation der immanenten Trinität33. Offenbar kommt es ihm auf diese Verschränkung an, um das Christentum für seine logische Transparenz auszuzeichnen: Der Glaubensbestand des Christentums gründet seiner logischen Struktur nach in der logischen Struktur der Trinität, womit erneut zum Ausdruck gebracht wird, daß die Religion im allgemeinen und das Christentum im besonderen Gott entstammt. Das logische Begriffsmoment der Allgemeinheit bezieht Hegel auf den Vater. In der Allgemeinheit des Vaters nimmt die trinitarische Selbstvermittlung absoluter Subjektivität ihren Ausgangspunkt34. In der Zeugung des Sohnes erkennt Hegel die entscheidende Differenzsetzung, die Besonderheit, die aus der Unmittelbarkeit der 30

Vgl. Hegel: Der Begriff der Religion, 4, 99, 177. Hegel: Phänomenologie, 405; ders., Die vollendete Religion, 179. 32 Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 237: „Im indischen Pantheismus kommen unzählig viele Inkarnationen vor, da ist die Subjektivität, das menschliche Sein nur akzidentelle Form in Gott, sie ist nur Maske […] Gott aber als Geist enthält das Moment der Subjektivität, der Einzigkeit an ihm; seine Erscheinung kann daher auch nur eine einzige sein, nur einmal vorkommen.“ 33 Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 128. In der EPW wird diese logische Unterlegung der immanenten Trinität durch die Begriffsmomente nur daran ersichtlich, daß Hegel den Heiligen Geist mit dem Moment der Einzelheit verbindet (EPW 1817 § 467 / 244). 34 Vgl. Hegel: Der Begriff der Religion, 128: „[…] der abstrakte Gott, der Vater, ist das Allgemeine, das Umfassende, Eine. […] das Andere, der Sohn ist die unendliche Besonderheit, die Erscheinung; das Dritte, der Geist, ist die Einzelheit als solche“. 31

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Allgemeinheit des Vaters herausführt. Im Heiligen Geist wird der absolute Geist „concrete Einzelnheit“ (EPW 1817 § 467 / 244) – wird er, wie die EPW von 1827 ergänzt, „Subjectivität“ (§ 567 / 402). In der WL nennt Hegel die Einzelheit „das Princip der Individualität und Persönlichkeit“35, sie umfaßt die logische Struktur für „Leben, Geist, Gott“36. Wenn das Christentum die immanente Trinität bekennt, dann ratifiziert es damit die philosophisch rekonstruierbare Einsicht, daß der absolute Geist als Subjektivität und Persönlichkeit verstanden werden muß. Freilich ist damit der absolute Geist nur in „der Sphäre des reinen Gedankens“ (EPW 1817 § 467 / 243) erfaßt worden. Es ist der absolute Geist, der „in dieser ewigen Sphäre […] sich selbst […] als seinen Sohn erzeugt“ (EPW 1817 § 467 / 243). Es handle sich aber um „in seiner Manifestation bei sich selbst bleibender, ewiger Inhalt“ (EPW 1827 § 566 / 401). Was dies für das Verständnis der Zeugung des Sohnes besagt, deutet Hegel dadurch an, daß er das „Gesetztwerden“ des Sohnes als eines Anderen in Gott zugleich als „schlechthin aufgehoben“ (EPW 1817 § 467 / 244) betrachtet. Zum Verständnis dieses Aufgehobenseins des Gesetzwerdens drückt sich Hegel seinslogisch aus: das Gesetztwerden ist „ewiges Seyn des Begriffs“ (EPW 1817 § 467 / 244). Damit qualifiziert Hegel die gesetzte und aufgehobene Differenz des Sohnes mittels der Unmittelbarkeit des Seins bzw. des Begriffs, dessen erster Status der Seinsunmittelbarkeit entspricht37. Der Sohnesdifferenz, welche die gottinterne Vermittlung ermöglicht, fehlt daher eine weitergehende Vermittlung. Auch in den Vorlesungen bestätigt Hegel dieses Verständnis der gottimmanenten Sohnesdifferenz, die er als etwas Ideelles – im Unterschied zum Reellen oder als etwas Spielerisches – im Unterschied zum Ernst reeller Differenzen bezeichnet38. Der Status der Sohnesdifferenz entspricht dem Begriff der Religion, der noch auf seine Ausdifferenzierung in der Religionsgeschichte wartet. Obwohl die immanente Trinität die Struktur absoluter Subjektivität im Bereich der Religion vorstellt, kann Hegel sie mit dem Begriff der „Substanz“ (EPW 1817 § 467) qualifizieren, wodurch nochmals die Unmittelbarkeit der trinitarischen Subjektivität in der Sphäre des Allgemeinen oder des Gedankens unterstrichen wird. Das Stenogramm der EWP gibt nicht zu erkennen, daß sich Hegel geradezu als Apologet der Trinität gegen deren Infragestellung durch das Verstandesdenken der Aufklärung versteht. Er zielt auf die Pointe, daß nur derjenige, der Gott trinitarisch denkt, tatsächlich Gott gedacht hat und nichts Endliches oder eine bloße Substanz, die noch nicht Subjekt, also Selbstvermittlung geworden ist39. Sogar die Verwendung des Personbegriffs für Vater, Sohn und Geist, verteidigt Hegel – sofern man unter Person nicht isolierte Individuen, sondern relationales Sein versteht. Wer die 35

Hegel: Die subjektive Logik (1816), 49. Ebd. 37 Hegel: Die Lehre vom Sein (1832), 68: „Das Seyn ist das unbestimmte Unmittelbare“. 38 Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 216: „Es ist dies Unterscheiden nur eine Bewegung, ein Spiel der Liebe mit sich selbst, wo es nicht zur Ernsthaftigkeit des Andersseins, der Trennung und Entzweiung kommt.“ Vgl. ebd. 129, 201, 213, 216. 39 Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 209 f. 36

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Trinität als Persongemeinschaft begreift, erfaßt die Lebendigkeit, den Beziehungsreichtum und die komplexe Persönlichkeit Gottes40. An dieser Stelle wird markant deutlich, wie das Denken der Philosophie Optimierungen im Bereich der Vorstellung zustande bringt, so daß denkerisch optimierte Vorstellungen im Bereich der Religion noch das Verstandesdenken der Philosophie überbieten41. Epistemologisch vorausgesetzt ist dabei, daß die Vorstellung eine Zugangsform zur Wirklichkeit des Geistes darstellt, die durch das philosophische Denken nicht abgelöst wird – nicht, weil die Vorstellung in nicht zu überwindender Weise für die Masse der Menschen den populären Zugang zur Wahrheit gewährt, wie Hegel sich in der Tat auszudrücken vermag42, sondern weil Denken in der Erkenntnisform der Vorstellung wirksam ist. Denken artikuliert sich vorstellend und als Nachdenken über die Vorstellung zu deren Gunsten43. Wie gesagt, Hegel zielt mit jenem eingeschränkten Verständnis der Sohnesdifferenz auf deren Entschränkung und Realisierung. Dies geschieht formal in der Sphäre der „Besonderheit“, im „Urtheil“ (EPW 1817 § 468 / 244), durch die Teilung der Begriffsallgemeinheit, auf deren Ebene die immanente Trinität positioniert ist. Das geschieht inhaltlich zuerst in Gestalt der Schöpfung – durch die Setzung nicht-göttlicher Andersheit. Den Übergang zur Schöpfung beschreibt Hegel geradezu dramatisch als „Zerfallen des ewigen Moments der Vermittlung, des einigen Sohnes, in den selbstständigen Gegensatz“ (EPW 1817 § 468 / 244). Das Zerfallen und die Aufspaltung der Sohnesdifferenz produziert vielfältige Differenzen und Gegensätze, wie den zwischen Natur und Geist. Hegel spielt zudem auf den biblisch überlieferten Sündenfall an; ihn versteht er als sinnenhafte Vorstellung vom menschlichen Geist, der „als das Extrem der in sich seyenden Negativität sich zum Bösen verselbstständigt“ (EPW 1817 § 468 / 244). Das nicht-notwendige, unvernünftige Böse erhält von Hegel also einen metaphysischen Ort in der reellen Differenzsetzung der Schöpfung, die durch das Böse zum nichtseinsollenden Gegensatz zu Gott gesteigert wird. Das Böse fällt damit in die Zuständigkeit des Sohnes, dem ideellen Prototyp von Differenz.

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Hegel: Die vollendete Religion, 210 f. Vgl. den luziden Beitrag von Kazimir Drilo: „Religiöse Vorstellung und philosophische Erkenntnis“, in: Kazimir Drilo / Axel Hutter (Hg.), Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System, Tübingen 2015, 209 – 229, bes. 223 f. 42 Zur „bildungspraktische[n] Aufgabe“ der religiösen Vorstellung vgl. Falk Wagner: „Religion zwischen Religion und Aufhebung. Zum spekulativen Ort von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion“, in: Dieter Henrich / Rolf-Peter Horstmann (Hg.): Hegels Logik der Philosophie. Religion und Philosophie in der Theorie des absoluten Geistes, Stuttgart 1984, 127 – 150, hier: 125. 43 Dazu vgl. den brillanten Aufsatz von Christoph Halbig: „Vorstellung und Denken als epistemologische und als metaphilosophische Kategorien bei Hegel“, in: Kazimir Drilo / Axel Hutter (Hg.): Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System, Tübingen 2015, 157 – 178. 41

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V. „Spekulative Dekoration“ inhaltlicher Übereinstimmung? An dieser markanten Stelle verläßt nun die EPW die Gliederung der religionsphilosophischen Vorlesungen. Während die EPW, aber auch noch die erste religionsphilosophische Vorlesung von 1821 zum Moment der Einzelheit übergehen, um die Christologie zu präsentieren, verbleiben die Vorlesungen ab 1824 mit der Christologie im Bereich der Besonderheit44 und reservieren das Moment der Einzelheit für Geistsendung und Gemeinde45. Immerhin bietet die EPW auch in Verbindung mit der Christologie eine Skizze zur Ekklesiologie, d. h. zur universellen persönlichen Aneignung der Wahrheit Christi mit dem Ziel der „wirkliche[n] Gegenwärtigkeit des an und für sich seyenden Geistes als des allgemeinen“46. Daß die Ekklesiologie in der EPW ausgespart werde, wie Walter Jaeschke behauptet, trifft also nicht zu47. Außerdem fanden wir ekklesiologische Fragmente noch vor den Paragraphen zur Kunst. Freilich könnte man erwarten, daß Hegel ab der zweiten Ausgabe der Enzyklopädie von 1827 die Zuordnungen der Vorlesungen von 1824 ff übernimmt. Aber er tut es nicht. Vom Verdacht einer „spekulativen Dekoration“48 spricht der Herausgeber und hervorragende Kenner der Religionsphilosophie Hegels, Walter Jaeschke, nachdem er die Paragraphen über die geoffenbarte Religion und die religionsphilosophischen Vorlesungen über das Christentum hinsichtlich der Zuordnung der Begriffsmomente miteinander vergleichen hat. Läßt sich dieser Verdacht entkräften? Betrachtet man zunächst nur die inhaltliche Seite der Christologie, so ergeben sich keine Unterschiede zwischen der EPW und den Vorlesungen. In inkarnationstheoretischer Perspektive bezeichnet Hegel den in die Zeitlichkeit versetzten Sohn der ewigen Sphäre als „unmittelbare Concretion“ (EPW 1817 § 469 / 244) bzw. als „sinnliche Existenz des absolut Concreten“ (EPW 1830 § 569 / 552). Diese konkrete sinnliche Existenz des Absoluten spart keine Dimension kontingenter Realität aus, auch nicht den „absoluten Schmerz der Negativität“ (EPW 1817 § 469 / 244), wie Hegel formuliert. Mit dem Ausdruck „in den absoluten Schmerz der Negativität ersterbend“ (ebd.) deutet Hegel an, daß das inkarnierte und sinnliche Existenz gewordene Absolute in den Tod am Kreuz kommt. Durch das Kreuz ist der Tod qualifiziert als Fluchtod der Sünde (Gal 3,13); er ist nicht nur biologisches Faktum, sondern der zugespitzte Gegensatz zum Gott des Lebens und Heils. In den religionsphilosophischen Vorlesungen zitiert Hegel zur Verdeutlichung das von Johann 44 Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 215. Zur Christologie als Teil des zweiten Elements vgl. ebd. 234 – 251. 45 Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 251: „Das dritte Element ist das Element der Gemeinde.“ Zum Bezug der drei „Elemente“ auf die Momente des Begriffs vgl. ebd. 198. 46 Hegel: EPW 1830 § 570 (553); EPW 1817 § 470 (245): Der absolute Geist bewirkt „durch diese [christologische und ekklesiale] Vermittlung sich als innewohnend im Selbstbewußtseyn“ und ist „der wirkliche allgemeine Geist“. 47 Vgl. Walter Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983, 107. 48 Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels, 95.

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Rist 1641 gedichtete lutherische Kirchenlied: „Oh große Not, Gott selbst ist tot. Am Kreuz ist er gestorben.“49 Nach den enzyklopädischen Andeutungen zum Tod Gottes setzt Hegel sofort hinzu, daß die unmittelbare Konkretion des Absoluten auch „ersterbend […] „identisch mit sich“ bleibt und somit als „absolute Rückkehr […] für sich geworden“ (EPW 1817 § 469 / 244) ist. Religiös gesprochen ist mit dieser Rückkehr die Auferstehung Jesu gemeint, die im Glauben der Gemeinde angeeignet werden muß. Zur geoffenbarten Religion gehört konstitutiv ihre menschliche Rezeption – andernfalls hätte keine religionskonstituierende Offenbarung stattgefunden. Zunächst ist Christus „ein anderes und angeschautes“, ist er „an sich seyende Wahrheit“ (EPW § 471 / 245), die man sich aneignet, indem man sich „mit jenem in dem Schmerze der Negativität“ vereint, religiös gesprochen, dem Gekreuzigten nachfolgt und imitiert, um „identisch mit dem Wesen sich zu erkennen“, d. h. identisch mit dem absoluten Geist, den Hegel mit dem Begriff Wesen bezeichnet. Die Bezeichnung des absoluten Geistes als Wesen charakterisiert ihn in seiner abstrakten Allgemeinheit (EPW § 467 / 243), die durch die Vermittlung der christlichen Religion jedoch konkret und einzeln wird, so daß Hegel formulieren kann, daß mit der erwähnten österlichen Rückkehr aus dem Schmerz der Negativität der absolute Geist „allgemeine Einheit der allgemeinen und einzelnen Wesenheit für sich geworden“ ist, was er gleichsetzt mit der „Idee des als ewigen aber lebendigen und wirklichen Geistes“ (EPW 1817 § 469 / 244). Theologisch ausgedrückt, ist die immanente Trinität ökonomische Trinität geworden. VI. Die Differenz-Logik des Sohnes und Einheits-Logik des Gottmenschen Trotz der inhaltlichen Übereinstimmung der Vorlesungen und der EPW bleibt die Frage nach der unterschiedlichen formalen Zuordnung der Christologie zum Begriffsmoment der Besonderheit (Vorlesungen ab 1824) bzw. Einzelheit (EPW). Wegen dieses Unterschieds argumentiert Walter Jaeschke, daß es Hegel nicht gelinge, die in der EPW klar zum Ausdruck gebrachte Einheit des ewigen Sohnes mit dem in die Zeitlichkeit versetzten Sohn philosophisch zu rechtfertigen50. Denn in der immanenten Trinität steht der Sohn für Differenz und Andersheit, für die logische Form des Urteils, das den Begriff unterscheidet, für die Besonderheit, die sich von der Allgemeinheit abgrenzt. In der Zeitlichkeit kommt dem Sohn jedoch eine gegenteilige Funktion zu; er soll jene absolute Rückkehr darstellen, also die Versöhnung vollbringen, d. h. die Einheit in Differenz und Widerspruch setzen, wes49

Hegel: Die vollendete Religion, 249, 358. Nach Jaeschke: Vernunft in der Religion, 327 f., könne Hegel die „Verknüpfung“ des immanente und inkarnierten Sohnes „nicht philosophisch rechtfertigen“; er vermißt den Nachweis einer „strukturellen Einheit“ (325) zwischen immanentem und dem inkarnierten Sohn. 50

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halb er in dieser Perspektive auch unter das Begriffsmoment der Einzelheit fällt, das Hegel als Synthese von Allgemeinheit und Besonderheit konzipiert. Zur Einzelheit des inkarnierten Sohnes ist ebenso die Logik des Übergangs vom christologisch Einen zur gemeindlich-universellen Allheit zu rechnen. Walter Jaeschke meint zwar, sich im gedanklichen Gefälle der philosophischen Christologie Hegels eine Vielzahl von Inkarnationen und Gottmenschen vorstellen zu können51, was dann einleuchten mag, wenn man den Sohn exklusiv als gottinternen Prototyp von Differenz und Besonderheit begreift – eine Vielzahl von Gottmenschen würde die Sohnesdifferenz weiter ausdifferenzieren. Betrachtet man jedoch das Ziel von Differenz und Besonderheit, nämlich die zu sich vermittelte Einheit (s. u.), ergibt sich ein anderes Bild. Jaeschke zeigt sich jedoch davon überzeugt, daß es Hegel mit anderen Argumenten, bei denen die Bestimmung der Einzelheit in Anspruch genommen wird, gelinge, die Einzigkeit des Gottmenschen plausibel zu machen. Die Annahme vieler Inkarnationen würde die christologische Gottmenschlichkeit zu einem Abstraktum und zu einem arthaften Prädikat einiger oder vieler machen – im Sinn eines partikulären Urteils, auf das Hegel im Manuskript in Verbindung mit dem Hinduismus hinweist: Einige wären Gottmenschen, andere nicht52. Auch scheint ihm die calvinische Prädestinationslehre eine derartige Einschränkung zu implizieren. Die Vorstellung von der a priori wirksamen Erwählung bzw. Reprobation einiger53 unterminiert die (soteriologische) Bezogenheit des einen und einzigen Gottmenschen auf alle Menschen. Die Einzigkeit des Gottmenschen lebt von der Logik „Einmal ist allemal; Subjekt muß an Subjekt sich wenden – ohne Wahl“54. Diese Überlegungen, die auf der Logik der Einzelheit des Gottmenschen aufbauen, stehen in Spannung zur Logik der Besonderheit und Pluralität, die den gottimmanenten Sohn bestimmt. Jaeschke macht darauf aufmerksam, daß Hegel bevorzugt vom Gottmenschen spricht und nicht vom menschgewordenen Sohn, da der Titel des Gottmenschen die Einheit von Gott und Menschen ausdrückt, die auf alle übergehen soll, der Sohnestitel hingegen nur auf die Differenz verweist, auch auf die von Gott und Mensch55. Vielleicht können folgende Überlegungen diese offenkundige Schwierigkeit relativieren. Dazu scheint es hilfreich, das zweite Glied der dialektischen Triade – Differenz und Besonderheit – genauer anzuschauen. Offenbar kann Hegel zwei entgegengesetzte Dynamiken mit diesem zweiten Glied verbinden. Zur Besonderung gehört 51

Vgl. Jaeschke: Vernunft in der Religion, 328. Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 49. „[…] im partikulären Urteil – Einige (wie bei den Indern Inkarnationen)“. 53 Hegel: Die vollendete Religion, 49: „nicht Einige auserwählt – calvinisch – hier schlechtes Schicksal“. Vgl. dazu Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels, 98 f., ders.: Die geoffenbarte Religion, 451 f. 54 Hegel: Die vollendete Religion, 49. 55 Vgl. Jaeschke: Vernunft in der Religion, 326 f. 52

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beispielsweise der menschliche Geist, da er den Unterschied zu Gott und Natur steigert56. Die biblische Geschichte vom Sündenfall deutet Hegel als Hinweis auf die Möglichkeit des Geistes, sich sogar in einen Widerspruch zum Schöpfer versetzen zu können57. Obgleich der menschliche Geist also ganz im Zeichen von Differenz und Besonderung steht, markiert er andererseits auch eine neue Einheit mit Gott. Hegel gibt nämlich zu verstehen, daß im Bewußtsein der Entzweiung des Menschen von Gott auch der „Mittelpunkt der Konversion“58 liegt. Er formuliert: Das Böse „ist das Krankmachen und die Quelle der Gesundheit“59. Dem menschlichen Geist kommt in diesem Sinn die Funktion zu, Differenz zu setzen, die er gegebenenfalls durch das Böse zum Widerspruch fortführt. Gleichzeitig bezeichnet der Geist den Ort der Konversion, der Rückkehr zur Einheit mit sich und Gott. In seiner Selbstreferentialität ist der Mensch Gott ähnlich. Andernfalls könnte das menschliche Geistsubjekt mit einer christologischen Rückkehr und Versöhnung, die die Wahrheit des Geistes vorstellig macht, nichts anfangen. Was den Geist des Menschen im besonderen auszeichnet – Differenz und Rückkehr aus ihr – kennzeichnet ebenso die Schöpfung im allgemeinen: Einerseits wird die Welt als das „Andere, als ein Freies, Selbständiges entlassen“60 ; gleichzeitig vollzieht die Welt in ihrer Gesamtheit eine Rückkehr zu Gott: „Das Sein der Welt ist dies, sozusagen nur einen Augenblick das Sein zu haben, aber diese ihre Trennung, Entzweiung von Gott aufzuheben, nur dies zu sein: zurückzukehren in ihren Ursprung“61. Es sieht also so aus, als ob Hegel in das zweite Moment seiner dialektischen Methode zwei gegenläufige Bewegungen einträgt: die Bewegung in die Differenz hinein und wieder aus ihr heraus, die Rückkehr zum Ausgangspunkt. „Der Gegensatz ist das Gedoppelte“, formuliert deswegen Wolfgang Neuser62. Man könnte sogar den Eindruck haben, Hegels Denken orientiert sich an einer Quadruplizität63, nicht an der Triplizität. Aber dieser Eindruck entsteht nur, wenn man die gegenläufigen Dynamiken des zweiten Moments gegeneinander fixiert und somit als 56

Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 217 f. Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 221 – 231. 58 Vgl. Hegel: Die vollendete Religion, 226. 59 Hegel: Die vollendete Religion, 139. 60 Hegel: Die vollendete Religion, 217. 61 Ebd. Einzuräumen ist, daß Hegel an dieser Textstelle die Rückkehr der Welt zu ihrem Ursprung auf den Eintritt „in das Verhältnis des Geistes“ bezieht, „was das dritte Element ist“ (ebd.). Die vermittelnde Bedeutung der Christologie scheint hier übersprungen zu werden, sie wird nicht erwähnt – weil ihre Differenz-Logik nicht zum Gedanken der Rückkehr paßt? 62 Wolfgang Neuser: Natur und Begriff. Zur Theoriekonstitution und Begriffsgeschichte von Newton bis Hegel, Wiesbaden 20172, 230. 63 Vgl. Dale M. Schlitt: Hegel’s Trinitarian Claim. A Critical Reflection, Leiden 1984, 40: „In his development of this notion of method, Hegel flirts briefly with a quadruplicity.“ Dazu Michael Schulz: Sein und Trinität. Systematische Erörterungen zur Religionsphilosophie G.W.F. Hegels im ontologiegeschichtlichen Rückblick auf J. Duns Scotus und I. Kant und die Hegel-Rezeption in der Seinsauslegung und Trinitätstheologie bei W. Pannenberg, E. Jüngel, K. Rahner und H.U. v. Balthasar, St. Ottilien 1997, 201 – 205, 218 – 220, 346 – 350. 57

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selbständige Größen auffaßt. Um den strukturellen Bruch zwischen dem gottimmanenten und gottexternen Sohn zu kitten, ist diese innere Zweiheit des zweiten Moments zu berücksichtigen. Wie sehr sich Hegel dieser Gedoppeltheit des zweiten Moments im Blick auf die Trinität bewußt ist, veranschaulicht seine gedankliche Anknüpfung an die Mystik Jakob Böhmes (1575 – 1624). Hegel versteht Böhme so, daß man die mythische Gestalt Luzifers als den ersten Sohn Gottes begreifen kann, der sein Differentsein in sich „hineinimaginiert“, wie Hegel formuliert64 – der an seinem Differentsein festhält und es so zum Widerspruch gegen seinen göttlichen Ursprung steigert. Deshalb aber muß dieser Sohn Gott verlassen65. Er wird durch einen zweiten Sohn ersetzt. Dieser zweite Sohn ist der Umschlag selbst: Er ist Differenzsetzung und Rückkehr aus der Differenz zugleich. Darum vermag dieser Sohn in Gottes Ewigkeit den Geist der Einheit aus sich hervorgehen zu lassen. Darum vermag der zeitlich gewordene Sohn in die Differenz und Besonderung der Endlichkeit und in den Widerspruch der todbringenden Abkehr von Gott einzugehen und die Einheit des Endlichen mit seinem Ursprung und des gottentfallenen Menschen mit seinem Schöpfer wiederherzustellen, was der logischen Bestimmung der Einzelheit entspricht. Der Sohn ersetzt deswegen aber nicht den die Einzelheit repräsentierenden Geist, weder in Gott noch in der Zeit. Im Manuskript der Vorlesung von 1821 bezeichnet Hegel die Einzelheit Jesu als „nur Eine Seite der Vollendung der dritten Sphäre“66, die andere Seite umfassen folglich Geist und Gemeinde67. Für sich füllt die Christologie die Bestimmung der Einzelheit also gar nicht aus, weshalb die EPW ebenso unter dem Stichwort der Einzelheit das Thema der Gemeinde mit der Christologie verbindet. Im Blick auf die zweifache Dynamik des zweiten Moments der dialektischen Triade kann also verständlich werden, wieso Hegel die Christologie sowohl unter die Bestimmung der Besonderheit als auch unter die der Einzelheit subsumieren kann. Einen strukturellen Bruch muß man deshalb nicht in Hegels Christologie annehmen. Der Verdacht spekulativer Dekoration im Rahmen der Christologie ist mit dieser Überlegung entkräftet. Walter Jaeschke stellt in seinem Kommentar zu 64 Hegel: Die vollendete Religion, 218; vgl. auch ebd. 133, Nachweise zu Böhme ebd. 343 f., auch 330. 65 Hier schließt sich die Frage an, inwieweit die Welt mit diesem abgefallenen Sohn gleichgesetzt werden kann, sei doch der abgefallene Sohn „zum Sein fortgegangen“, wodurch die Andersheit als gesetzt erscheint (ebd. 218). Bekanntlich lassen sich auch andere Belegstellen anführen, die ohne Hinweis auf Luzifer die Welt als Gottes Sohn bezeichnen, gleichzeitig wendet sich Hegel gegen eine Identifikation von Sohn und Welt: Hegel: Die vollendete Religion, 25. Hegels Rekonstruktion der immanenten Trinität, die er philosophisch als absolute Subjektivität begreift, macht seine Annahme des ideellen Sohnes als eines Urbildes nichtgöttlicher Andersheit plausibel. 66 Hegel: Die vollendete Religion, 69. 67 Hegel: Die vollendete Religion, 254; vgl. auch ebd. 76.

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den Religionsparagraphen der EPW auch keineswegs in Frage, daß sich im religionsgeschichtlichen Material der „begriffliche Inhalt“68 identifizieren läßt, wobei eine Variabilität nun eingeräumt scheint.

VII. „Aufgehobene“ Christologie als Geistabkünftigkeit der Philosophie Es bleibt die Frage, ob eine der logischen Zuordnungen, die Hegel im Fall der Christologie vornimmt, den Vorzug verdient? Walter Jaeschke gibt der enzyklopädischen Version den Vorzug, weil sie Christologie und Pneumatologie unter der Rubrik der Einzelheit miteinander verbindet69. Diese Verbindung stellt die Versöhnungsfunktion des Gottmenschen klar heraus, und das in Verbindung mit der Bedeutung von Geist und Gemeinde. Denn ohne Geist-Gemeinde existiert keine Kenntnis vom Leben Jesu und kein Bekenntnis zu Jesus, dem Sohn Gottes. Wie Jaeschke zu Recht anmerkt, wird die Geschichte Jesu als des Versöhners und Gottessohnes immer schon von Menschen erzählt, über die, wie es das NT erzählt, der Geist Gottes ausgegossen ist. Einen Zugang zu Jesus als des Sohnes Gottes gibt es daher nur über die gläubig-ekklesiale Subjektivität, die deshalb zur Einzelheit des Christusereignisses konstitutiv dazu gehört. Hegel überläßt es sogar der pfingstlichen Gemeinde, Jesus als den Sohn Gottes zu identifiziert – daß es „wirklich an dem“70 und an keinem an anderen sei, wie Hegel in der Phänomenologie formuliert. Allerdings stellt sich damit die Frage, ob Hegel an dieser wichtigen christologischen Stelle der Identifikation eines Menschen als des Sohnes Gottes die Zuständigkeit der Philosophie aus der Hand gibt und an die Kirche delegiert. Das aber ist nicht der Fall. Wenngleich sich einerseits die im Geist erfaßte Geschichte Jesu nicht aus dem philosophischen Begriff ableiten läßt und Hegel auch nicht andererseits Philosophie auf einem vorgegebenen Faktum aufbauen kann, so bleibt ihm doch die Möglichkeit, das vorgegebene Christusereignis dadurch zu beglaubigen und zu bewähren, daß er es, wie er im Manuskript der Vorlesung von 1821 skizziert, als Erfüllung und Bewährung der „Idee“ ausweist71, nämlich der Idee von der gottmenschlichen Einheit, deren Wahrheit sich philosophisch darstellen läßt. Hegel bietet eine transzendentale Christologie, die die Kontingenz und Relativität der Geschichte Jesu nicht vorwegnimmt, sondern sich voraussetzt. Philosophie reflektiert und begreift das Bestehende, schon Geschehene; sie produziert nicht die von ihr begriffene Wirklichkeit. Sie geht dem Absoluten nach, daß sich in der 68

Jaeschke: Die geoffenbarte Religion, 437. Vgl. Jaeschke: Vernunft in der Religion, 334. 70 Hegel: Phänomenologie, 405. 71 Hegel: Die vollendete Religion, 81: „Es ist der Geist, die inwohnende Idee, die Christi Sendung beglaubigt hat, und dies ist für die, die glaubten, und für uns in entwickeltem Begriff die Bewährung.“ Wir folgen hier Jaeschke: Vernunft in der Religion, 332. 69

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Geschichte ereignet – zu diesem Ereignis gehört seine freie Annahme im Menschen. Auch deshalb kann Hegel nicht den Glauben an Jesus als des Sohnes Gottes herbeiphilosophieren; er muß ihn voraussetzen. Um aber Lessings Problematisierung der geschichtlich begründeten Religionen aufzugreifen, zielt er auf eine philosophische Bewährung (Beglaubigung) des Glaubens an Jesus den Sohn, der Christologie. Reicht diese Bewährung der Christologie auch in den inneren Bereich der Philosophie selbst hinein? Viele Hinweise Hegels auf den formalen Charakter der Religion geben den gegenteiligen Eindruck, wie seine schon zitierten Bemerkungen zur Vorstellungsform der Religion, die erst dazu führe, den „Momenten seines Lebens“, nämlich denen des absoluten Geistes, „Selbstständigkeit“ zu verleihen und sie zu „endlichen Reflexionsbestimmungen“ (EPW 1817 § 465 / 243) zu machen, deren innerer Zusammenhang der Verstand nicht begreift, sondern nur die über den reflektierenden, analytisch-zergliedernden Verstand hinausgehende Vernunft. Zunächst ist festzuhalten, daß Hegel in der EPW (1830 § 445 / 439) darauf aufmerksam macht, daß zur Totalität des Erkennens alle Tätigkeitsweisen des menschlichen Geistes gehören, in denen zugleich der absolute Geist bei sich im Modus der Andersheit ist. Nur ein Denken, das selber der Vorstellung verhaftet bleibt, trennt Anschauung, Vorstellung und Begriff voneinander, versteht sie als isolierte, für sich bestehende Zugangsweisen zur Realität, die man sogar noch gegeneinander ausspielen könnte72. Diese Überlegung ist auf die anstehende Frage zu applizieren. Läßt sich ein „vernünftiges Vorstellen“ des Religiösen (EPW 1830 § 445 / 442) im Bereich der reinen Philosophie eruieren? Das Vorstellungshafte, für das die Christologie gleich in zweifacher Hinsicht einsteht, als Teil der Religion und als spezifische Präsentation des sich dem Menschen vorstellenden Gottes, besteht in der Philosophie fort in Form einer Voraussetzung, die die Philosophie machen muß und bislang als etwas Selbstverständliches zur Sprache kam: Die Philosophie ist wie die Religion begründet durch den absoluten Geist. Über diesen Geist verfügt die Philosophie nicht73, so wenig wie 72 Entnommen ist dieser Hinweis dem Beitrag von Ch. Halbig: Vorstellung und Denken, 175. Vgl. EPW 1830 § 445 / 441 – 442: Die Momente der „realisirenden Thätigkeit“ des Erkennens „sind Anschauen, Vorstellen, Erinnern u.s.f.; die Thätigkeiten haben keinen andern immanenten Sinn; ihr Zweck allein ist der Begriff des Erkennens. Nur wenn sie isolirt werden, so wird theils vorgestellt, daß sie für anderes als für das Erkennen nützlich seyn, theils die Befriedigung desselben für sich gewähren […]“. „Die wahre Befriedung [im Erkennen, Wissen] aber, giebt man zu, gewähre nur ein von Verstand und Geist durchdrungenes Anschauen, vernünftiges Vorstellen, von Vernunft durchdrungene, Ideen darstellende Productionen der Phantasie u.s.f., d.i. erkennendes Anschauen, Vorstellen u.s.f. Das Wahre, das solcher Befriedigung zugeschrieben wird, liegt darin, daß das Anschauen, Vorstellen u.s.f. nicht isolirt, sondern nur als Moment der Totalität, des Erkennens selbst, vorhanden ist.“ 73 Vgl. K. Drilo: Religiöse Vorstellung, 221 f., 228: Das „Erwecken [des menschlichen Geistes durch Gottes Geist in der Religion] wird spekulativ als das Sich-Bewirken Gottes im Selbstbewusstsein gedacht. Dieses Moment der Unverfügbarkeit Gottes bleibt auch im philosophischen Erkennen erhalten. So kann die religiöse Vorstellung ihr Wichtigstes, die Frei-

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über das Christusereignis. Der absolute Geist ist die Voraussetzung der Philosophie, der Vernunft, mit deren Hilfe sie operiert74 ; die philosophische Vernunft ist begründet durch das geschichtliche Sich-Bewirken des Geistes im menschlichen Selbstbewußtsein, was genauso von der Religion gilt und in der christlichen Theologie Gnade Christi und/oder Wirken des Heiligen Geistes heißt75. Sich dem absoluten Geist verdankend begreift die Philosophie das Ereignis des Gottmenschen als „vernünftiges Vorstellen“ ihrer eigenen Herkünfigkeit vom absoluten Geist. Gemäß der erläuterten Vollständigkeit menschlichen Erkennens in seinen unterschiedlichen Dimensionen bewirkt der absolute Geist im menschlichen Bewußtsein einen Bezug zu derjenigen Vorstellung, in der er sich in seiner Einheit mit dem Menschen selber der Menschheit vorstellt, nämlich im Gottmenschen aus Nazareth, und die Bewegung des Menschen in seinen sinnlich-geistigen Vermögen (Gefühle, Intuition, Anschauung, Vorstellung, Denken) zu ihm, dem absoluten Geist, initiiert. Auf diese Weise gibt der absolute Geist der Philosophie seine im Gottmenschen ein für alle Mal für alle realisierte, gemeindlich erkannte, angeeignete und kultisch vollzogene Einheit mit dem Menschen – eine vorgegebene Realität – zu denken und zu begreifen auf, was ihre Beglaubigung und Bewährung genauso einschließt wie ihre Realisierung im Begriff. In dieser Hinsicht bewahrt die Philosophie auch die Freiheit Gottes, in der zugleich höchste Vernunft zu finden ist, also ein verständlicher und insofern notwendiger Grund dafür, daß Gott den Menschen konstituiert und sich ihm offenbart. Dieser Grund kann nur das Absolute selbst sein, das schon in sich dreieine Selbstmitteilung und Liebe ist – eine Liebe, die in ihrer notwendigen Identität mit sich (und Treue zu sich) gar nicht anders kann (und nichts anderes können will), als an sich Anteil zu geben – im Erkennen als Anschauung, Vorstellung und Denken (Begriff). Hegels Philosophie läßt also die Christologie nicht als überwundene, vorstellungsgebundene Vermittlungsform der gottmenschlichen Einheit zurück. Der Philosoph des absoluten Geistes nimmt ihr Narrativ in eine Philosophie mit, die sich dem unverfügbaren Absoluten und seiner Selbstmitteilung verdankt. Dieses Verständnis von Philosophie enthält erst recht heute eine Provokation.

heit Gottes, auch in der Philosophie wiederfinden und die Philosophie kann an den religiösen Vorstellungsinhalten und Vorstellungsformen teilhaben und wissen, dass sie dabei nichts von ihrer Freiheit einbüßt.“ 74 Vgl. Thomas Sören Hoffmann: „Präsenzformen der Religion in der Phänomenologie des Geistes“, in: ders. (Hg.): Hegel als Schlüsseldenker der modernen Welt. Beiträge zur Deutung der „Phänomenologie des Geistes“ aus Anlaß ihres 200-Jahr-Jubiläums, Hamburg 2009, 308 – 324, hier 322: „Religion ist die Aufhebung des unmittelbaren Autonomieanspruchs der Vernunft […] in das an ihm selbst Autonome, nämlich den absoluten Geist hinein“. 75 Die Identifikation des Sich-Bewirkens des absoluten Geistes im Menschen zwecks Erhebung des Menschen zum Absoluten mit „Gnade“ und „Erlösung“ nimmt vor K. Drilo: Religiöse Vorstellung, 220.

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Literatur Drilo, Kazimir: „Religiöse Vorstellung und philosophische Erkenntnis“, in: Kazimir Drilo / Axel Hutter (Hg.): Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System, Tübingen 2015, 209 – 229. Halbig, Christoph: „Vorstellung und Denken als epistemologische und als metaphilosophische Kategorien bei Hegel“, in: Kazimir Drilo / Axel Hutter (Hg.): Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System, Tübingen 2015, 157 – 178. Heede, Reinhard: Die göttliche Idee und ihre Erscheinung in der Religion. Untersuchungen zum Verhältnis von Logik und Religionsphilosophie bei Hegel, Münster 1972. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/1813), hg. von Friedrich Hogemann / Walter Jaeschke, Hamburg 1978. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, hg. von Wolfgang Bonsiepen / Reinhard Heede, Hamburg 1980. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), hg. von Friedrich Hogemann / Walter Jaeschke, Hamburg 1981. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1984. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1984. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832), hg. von Friedrich Hogemann / Walter Jaeschke, Hamburg 1984. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), hg. von Wolfgang Bonsiepen / Hans-Christian Lucas, Hamburg 1989. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. von Wolfgang Bonsiepen / Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), hg. von Wolfgang Bonsiepen / Klaus Grotsch, Hamburg 2000. Hoffmann, Thomas Sören: „Präsenzformen der Religion in der Phänomenologie des Geistes“, in: ders. (Hg.): Hegel als Schlüsseldenker der modernen Welt. Beiträge zur Deutung der „Phänomenologie des Geistes“ aus Anlaß ihres 200-Jahr-Jubiläums, Hamburg 2009, 308 – 324. Jaeschke, Walter: Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983. Jaeschke, Walter: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986. Jaeschke, Walter:.„Religionsphilosophie“, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, 748 – 763. Jaeschke, Walter: „Die geoffenbarte Religion (§§ 553 – 571)“ / „Die Philosophie (§§ 572 – 577)“, in: Herbert Schnädelbach (Hg.): Hegels ,Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften’ (1930). Ein Kommentar zum Systemgrundriß von Hermann Drüe, Annemarie Gethmann-Siefert, Christa Hackenesch, Wolfgang Neuser und Herbert Schnädelbach, Frankfurt am Main 20163, 375 – 466, 466 – 501.

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Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. VI, Berlin / New York 1914, 1 – 202. Lessing, Gotthold Ephraim Lessing: „Über den Beweis des Geistes und die Kraft“, in: ders., Werke VIII: Theologiekritische Schriften III, Philosophische Schriften, hg. von Herbert G. Göpfert, Darmstadt 1996, 9 – 14. Neuser, Wolfgang: Natur und Begriff. Zur Theoriekonstitution und Begriffsgeschichte von Newton bis Hegel, Wiesbaden 2. Aufl. 2017. Schlitt, Dale M.: Hegel’s Trinitarian Claim. A Critical Reflection, Leiden 1984. Schulz, Michael: Sein und Trinität. Systematische Erörterungen zur Religionsphilosophie G.W.F. Hegels im ontologiegeschichtlichen Rückblick auf J. Duns Scotus und I. Kant und die Hegel-Rezeption in der Seinsauslegung und Trinitätstheologie bei W. Pannenberg, E. Jüngel, K. Rahner und H.U. v. Balthasar, St. Ottilien 1997. Wagner, Falk: „Religion zwischen Religion und Aufhebung. Zum spekulativen Ort von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion“, in: Dieter Henrich / Rolf-Peter Horstmann (Hg.): Hegels Logik der Philosophie. Religion und Philosophie in der Theorie des absoluten Geistes, Stuttgart 1984, 127 – 150.

Hegel edieren. Die bewegte Geschichte der Hegel-Edition Annette Sell (Bochum) Eine Edition ist immer mehr als eine bloß technisch erstellte Ausgabe von Texten. Eine Edition wird in einer bestimmten historischen Situation und von bestimmten Menschen erarbeitet, die in erster Linie ein wissenschaftliches Interesse an dem jeweiligen Autor bzw. der Autorin haben. Neben diesen wissenschaftlichen, historischen, philosophischen und philologischen Aspekten ist eine Edition natürlich auch ein wissenschaftspolitisches und ökonomisches Unternehmen. Daß ein so bedeutender und auch umstrittener Denker wie Hegel auch eine bewegte Geschichte seiner Werke und das heißt eben auch seiner Edition nach sich zieht, verwundert nicht. Die Frage ist, wodurch wurde diese Geschichte bewegt wurde. Es läßt sich sicherlich von verschiedenen Bewegungsimpulsen sprechen. Das Textmaterial ist die Grundlage der Edition. Dieses besteht im Hinblick auf Hegel aus eigenen Manuskripten, Druckerzeugnissen und Vorlesungsnachschriften sowie Diktatmitschriften von Schülern.1 Dieses Material muß gesichtet, editorisch bearbeitet und in ein neues Medium, d. h. ein Buch oder ein Digitalisat überführt werden. Neben dem Material sind die Herausgeber(innen) und Verlage die Akteure einer Editionsgeschichte. Schließlich bedarf es eines Geldgebers, der die finanziellen Mittel für die Bearbeitung der Edition bereitstellt. Somit ist ein Geflecht von vielen Faktoren und Mitspielern für das Erstellen und bestenfalls Gelingen einer Edition aufgespannt. Dieses Geflecht unterliegt dabei stets dem historischen Wandel. Wenn Jacques D’Hondt 1966 Hegel den Denker der lebendigen Geschichte nennt, so spricht er dabei in erster Linie nicht über die Edition der Hegelschen Werke, sondern er stellt mit seinem Werk Hegel, philosophe de l’histoire vivante vor allem Hegels Geschichtsphilosophie dar, die für ihn lebendig ist und bleibt. Daß in seinem Konzept die Vorlesungen, d. h. die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte eine besondere Rolle spielen, um die Lebendigkeit in Hegels Denken und dessen Affinität für das Leben zu demonstrieren, spielt der folgenden Betrachtung in die Karten, da hier ein besonderes Augenmerk auf die Vorlesungen gelegt werden soll, die Hegel vor dem Hintergrund seiner Enzyklopädie der philo-

1 Zur differenzierten Bestimmung des zu edierenden Textmaterials vergleiche die „Editionsprinzipien der Gesammelten Werke“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Frühe Schriften I, Gesammelte Werke Band 1, hg. v. Friedhelm Nicolin und Gisela Schüler, Düsseldorf 1989, 419 – 437, hier: 419.

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sophischen Wissenschaften im Grundrisse gehalten hat.2 An dieser Stelle soll nun aber der Gedanke, daß es sich um eine lebendige, bewegte Geschichte handelt, auch auf eine Geschichte der besonderen Art, nämlich die Geschichte der Hegel-Edition bezogen werden. Es wird sich zeigen, daß auch hier das Adjektiv „lebendig“ nicht fehl am Platze ist. I. Die Geburt der Hegel Edition erfolgt direkt nach Hegels Tod. Da Hegel selbst nur wenige seiner Arbeiten publiziert hat, haben es sich seine Schüler zur Aufgabe gemacht, die Werke ihres Lehrers zu veröffentlichen. Sie gründeten einen „Verein von Freunden des Verewigten“, um eine Gesamtausgabe Hegels zu schaffen.3 Nun war es kein ökonomisches Interesse, welches die Schüler zu diesem ehrgeizigen Vorhaben bewog. Es ging darum, die Hegelsche Philosophie in der Öffentlichkeit stark zu machen und das Hegelsche System in einer Geschlossenheit und Ganzheit darzustellen. Es ist bekannt, daß bei diesem Unternehmen nicht alle Schriften Hegels berücksichtigt wurden. Die für Hegels Denken so wichtige Entwicklungsgeschichte kann und konnte anhand dieser Edition somit nicht erschlossen werden. Für die Betrachtung der Hegel-Edition im 21. Jahrhundert ist an dieser Stelle herauszustellen, daß die Herausgeber dieser Edition der „Freunde des Verewigten“ bereits die Nachschriften der Studenten für ihre Edition verwendet haben. Hegel selbst hat nur wenige seiner Schriften als geschlossene Werke herausgegeben. Dazu zählen Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, Phänomenologie des Geistes, Wissenschaft der Logik, Grundlinien der Philosophie des Rechts und die Enzyklopädie der Wissenschaften im Grundrisse. Da mit diesen systematischen Werken nur ein Teil von Hegels wissenschaftlichen Arbeiten erfaßt ist, nahmen die Herausgeber der sogenannten „Freundesvereinsausgabe“ die Vorlesungsnachschriften bzw. Schülerhefte als Grundlage für einige Bände ihrer Gesamtausgabe. Welche Probleme und Fragen vor allem der Authentizität mit diesem Verfahren gegeben sind, haben die Hegel-Schüler noch nicht überblicken können. Ihre Gesamtausgabe prägte aber die Hegel-Rezeption in besonderem Maße. Die lebendige Geschichte der Hegel-Edition ist hier bereits – wenn man im Bild des natürlich Lebendigen bleibt – von Krankheit geprägt. Die Schüler haben die Disziplinen, die Hegel ausschließlich in seinen Vorlesungen vorstellte, in Form von studentischen Nachschriften editorisch bearbeitet. Das betrifft die Ästhetik, die 2

Jacques D’Hondt: Hegel, philosophe de l’histoire vivante, Paris 1966. Georg Wilhelm Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Berlin 1832 – 1845. Siehe zur „Freundesvereinsausgabe“ auch den Aufsatz von Walter Jaeschke und Christoph Bauer, der einen Überblick über die Edition der Gesammelten Werke Hegels im allgemeinen und über die Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes im besonderen gibt. Walter Jaeschke und Christoph Bauer: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Editionsprojekt der Gesammelten Werke“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62,1 (2014) 41 – 63, hier: 42 – 44. 3

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Religionsphilosophie, die Philosophie der Geschichte, die Geschichte der Philosophie. Das Besondere an der Edition der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse liegt darin, daß den Paragraphen „Zusätze“ nachgestellt wurden, die von dem jeweiligen Herausgeber ebenfalls aus Schülernachschriften zusammengestellt wurden. Diese Textgattung bildet einen bedeutenden Meilenstein auch in der aktuellen bewegten Geschichte der Hegel-Edition und wird weiter unten noch besonders betrachtet. Auch die Grundlinien der Philosophie des Rechts sind mit Zusätzen versehen, die sich aus Vorlesungsnachschriften zusammensetzen. Daß diese Edition der Werke und die Vorlesungsnachschriften, die der „Verein von Freunden“ zusammenstellte, für eine solide Hegelrezeption nicht ausreichte, wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts erkannt. Das Gebot der Verläßlichkeit der Texte sowie die Anforderungen an eine Edition von Vorlesungsnachschriften wurden hier nicht erfüllt. Das Vorhaben, mit der Edition Hegels System darzustellen, führte zu einer verfälschten Auffassung der gesamten Hegelschen Philosophie. Trotz dieser immensen Mängel wurde die Rezeption der Hegelschen Philosophie durch diese Gesamtausgabe geprägt. Inwiefern das heute in gewisser Weise immer noch zutrifft, wird sich weiter unten zeigen. II. Ein erster Schritt im Hinblick auf eine Neuedition wurde mit der Gründung der Zeitschrift „Hegel-Archiv“ im Jahre 1912 durch Georg Lasson (1862 – 1932) gemacht. Diese Zeitschrift existierte aber nur bis 1914. Der Theologe und Philosoph Lasson begann dann mit der ersten kritischen Hegel-Ausgabe. Johannes Hoffmeister (1907 – 1955), Philosoph und Germanist, übernimmt neben Georg Lasson die Herausgabe der Hegel-Ausgabe. Zunächst erscheint die Jenenser Realphilosophie 1931 und 1932 im Felix Meiner Verlag. Damit beginnt eine bis heute dauernde Verbindung der Hegel-Ausgabe mit dem zunächst Leipziger, nun Hamburger Felix Meiner Verlag. Es erscheinen weitere Bände der Hegel-Edition, die von der „Deutschen Gemeinschaft zur Erhaltung und Förderung der Forschung“ (eine Vorläuferin der DFG) finanziert wurden, bis der Zweite Weltkrieg die Arbeit an der Hegel-Ausgabe unterbrach. Zur Geschichte der Hegel-Edition gehört auch die von Hermann Glockner (1896 – 1979) zwischen 1927 und 1940 erstellte Jubiläumsausgabe in 24 Bänden, die ein Neudruck der Freundesvereinsausgabe ist und sowohl die Anordnung von Schriften modifiziert als auch die Heidelberger Enzyklopädie von 1817 aufnimmt. Nach dem Krieg gründete Hoffmeister eine Forschungsstelle in Bonn, und 1957 bewilligte die „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ den Antrag für eine HegelAusgabe. Hoffmeister, der (wie auch Glockner) politisch sicherlich eine umstrittene Person war, ist als ein bedeutender Protagonist der Geschichte der Hegel-Edition anzuerkennen. Besonders seine Ausgabe der Briefe Hegels gilt heute noch als ver-

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bindliche Edition.4 Ab 1958 wurde die Bonner Forschungsstelle als „Hegel-Archiv“ bezeichnet. Der erste Leiter des Hegel-Archivs wurde der Erziehungswissenschaftler Friedhelm Nicolin. Um die Edition der Hegelschen Werke dem wissenschaftlichen Publikum zu vermitteln und ein Publikationsforum für Hegelforschung bereitzustellen, wurde die Zeitschrift Hegel-Studien und die Reihe Beihefte gegründet, deren Herausgeber Friedrich Nicolin und Otto Pöggeler waren.5 Die erste Ausgabe der Hegel-Studien erschien 1961. Im Jahre 1968 wurde auch der erste Band der historisch-kritischen Gesamtausgabe publiziert. Es handelt sich um den Band 4, d. h. die Jenaer Kritischen Schriften, herausgegeben von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler.6 Zeitgleich mit diesem Erscheinungsdatum ist auch die Übersiedlung des Hegel-Archivs von Bonn nach Bochum zu nennen.7 Otto Pöggeler, der ein Schüler Johannes Hoffmeisters war und bei diesem über Hegels Kritik der Romantik8 in Bonn promoviert hat und sich 1964/65 bei Hans-Georg Gadamer in Heidelberg mit einer Arbeit über Hegels Jugendschriften und die Idee einer Phänomenologie des Geistes9 habilitierte, wurde Direktor des Bochumer Hegel-Archivs und neuer Leiter der Hegel-Edition. Er schreibt in seiner Biographie: „In den sechziger Jahren ging es darum einen neuen Ort für das Hegel-Archiv zu finden, das in Bonn keine Chance mehr hatte. Gadamer plädierte für Heidelberg, wo es aber keine Ausstattung gab. Beim Frühstück sagte er mir: ,Wir sind nun Gegner, wollen es aber in fairer Weise sein!‘ Er konnte tolerieren, daß das Hegel-Archiv zwischen dem Münster Joachim Ritters und dem Heidelberg Gadamers, in Bochum, angesiedelt wurde. Für mich war ausschlaggebend, daß die neue Universität den jüngeren Mitarbeitern Habilitationsmöglichkeiten bot, die dann auch genutzt wurden.“10 Bis 1997 (d. h. nach seiner Emeritierung 1994 drei Jahre kommissarisch) hatte Pöggeler dieses Amt, das mit einer Professur an der Ruhr-Universität Bochum verbunden war, inne. Nachdem die Edition zunächst von der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ finanziert wurde, wurde sie ab 1980 von der „RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften“, die heute „Nordrhein-Westfälische 4

Johannes Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bde. I-III, Hamburg 19693 ; Friedhelm Nicolin (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bde. IV/1 und IV/2, Hamburg 1977 bzw. 1981. Eine Neuedition der Briefe ist geplant. Zu Vorüberlegungen zur Briefedition siehe Friedhelm Nicolin: „Hegels Korrespondenz und amtlicher Schriftwechsel. Vorüberlegungen zur historisch kritischen Edition“, in: Hegel-Studien 28, Bonn 1993, 41 – 55. 5 Ab dem Band 36 waren Walter Jaeschke und Ludwig Siep die neuen Herausgeber. Ab dem Band 47 werden die Hegel-Studien sowie die Hegel-Studien Beihefte von Birgit Sandkaulen und Michael Quante herausgegeben. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Kritische Schriften, Gesammelte Werke Band 4, hg. v. Hartmut Buchner und Otto Pöggeler, Hamburg 1968. 7 Otto Pöggeler: „Zwischen Philosophie und Philologie. Das Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum“, in: Jahrbuch der Ruhr-Universität Bochum 1970, 137 – 160. 8 Otto Pöggeler: Hegels Kritik der Romantik, München1999. 9 Teile der Habilitation sind in überarbeiteter Form in dem folgenden Buch aufgenommen. Otto Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, 2., durchgesehene und überarbeitete Auflage, Freiburg/München 1993. 10 Otto Pöggeler: Wege in schwieriger Zeit. Ein Lebensbericht, München 2011, 167.

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Akademie der Wissenschaften und der Künste“ heißt, bis zum 31. 12. 2016 getragen. Diese Zeitspanne in der Geschichte der Hegel-Edition gestaltete sich auf vielen Ebenen sehr bewegt und lebendig. Daß eine Edition ein lebendiges Geflecht von philologischem Fachwissen, philosophisch systematischer Forschung, internationalem Netzwerk und wissenschaftspolitisch und ökonomische bedeutendes Unternehmen ist, läßt sich besonders an der Edition der Gesammelten Werke Hegels zeigen. Das Ziel der Ausgabe war und ist kein geringeres, als alle Schriften und Nachschriften Hegels vollständig zu veröffentlichen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens zu. Die Ausgabe ist dementsprechend chronologisch angeordnet, so daß Hegels Schriften, Manuskripte und Entwürfe von den Anfängen bis zum Spätwerk verfolgt werden können. Die (intern genannte) erste Abteilung umfaßt die Bände 1 bis 22, die vollständig ediert ist und alle Schriften und Manuskripte Hegels enthält. Im Band 1 gibt Heinz Heimsoeth einen Abriß über die Geschichte der Hegel-Edition und stellt die Anlage sowie den Aufbau der Ausgabe dar.11 Dabei geht es in der historischkritischen Ausgabe vor allem darum, Hegels Texte in ihrer authentischen Eigenart zu belassen, d. h. die heute häufig nicht mehr gängige Schreibung einzelner Wörter und grammatikalischer Konstruktionen wird beibehalten. Dieses Vorgehen ist für ein Verständnis der gesamten Philosophie überaus bedeutsam. Abgesehen davon, daß das historische Dokument so authentisch wie möglich als Zeitzeuge erhalten werden sollte, kann eine Modernisierung auch zu semantischen Mißverständnissen führen. In einem textkritischen Apparat am Fuße der jeweiligen Seite werden Lesarten und Konjekturen vermerkt. Nachweise von direkten und indirekten Zitaten sowie bibliographische Angaben zu genannten Werken und Autoren bilden die „Anmerkungen“.12 In den Editorischen Berichten, die in jedem Band enthalten sind, gibt der Herausgeber oder die Herausgeberin Hinweise zur Beschaffenheit des edierten Textmaterials und stellt die Überlieferung des Textes, seine Entstehungsgeschichte, Mitteilungen über frühere Editionen und bei den Vorlesungsnachschriften auch biographische Auskünfte über den jeweiligen Nachschreiber dar. Die Personenverzeichnisse führen alle im Text genannten Personen auf und in der zweiten Abteilung verweisen Literaturverzeichnisse auch auf die im Anhang zitierte Literatur. Diese Hinweise zeigen bereits, mit welchem editorischen Aufwand, philologischer Akribie und philosophischem Sachverstand die Hegelschen Werke auf den Weg gebracht werden. Vor dem Hintergrund dieser Arbeit entwickelte sich in den 70-er und 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts eine neue Hegel-Rezeption, die sich vor allem auf die frühe Phase von Hegels Denken richtete. Durch die editorische Bearbeitung der Schriften und Fragmente der Zeit bis zum Erscheinen der Phänomenologie des Geistes ließ sich Hegels Entwicklung des Systems nun genau 11 Heinz Heimsoeth: „Vorwort“, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Frühe Schriften I, Gesammelte Werke, Band 1, V-XI. 12 Es handelt sich in den Gesammelten Werken Hegels um Anmerkungen, „die kein Kommentar zu sein beanspruchen.“ Jaeschke/Bauer, „Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Editionsprojekt der Gesammelten Werke“, 50.

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verfolgen. Ein neues Bild und neue Streitpunkte, etwa um die Abgeschlossenheit oder Offenheit des Systems, entstanden.13 III. In diese Zeit fällt auch eine bedeutende Episode der bewegten Geschichte der Hegel-Edition durch die Herausgabe der Werke Hegels im Suhrkamp-Verlag. Mit dem Ziel, eine preisgünstige Hegelausgabe auf den Buchmarkt zu bringen, veröffentlichte der damals noch in Frankfurt ansässige Suhrkamp-Verlag 1970 die Theorie Werkausgabe. Der Lektor des Verlages Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer nahmen sich dieses Editionsprojekts an. Die Zeitschrift Der Spiegel Nr. 29 aus dem Jahre 1971 kündigt unter dem Titel „Billiger Hegel“ diese Ausgabe an. Dabei verweist der Text auf einen anderen Spiegel Artikel von 196814, der die historisch-kritische Gesamtausgabe ankündigte. In dem Artikel von 1971 heißt es zu dieser Ausgabe. „Von ihr ist jedoch erst ein Band erschienen, weil die Herausgeber die Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens minuziös rekonstruieren wollen. Bei soviel Textfetischismus vermuten denn auch die Suhrkamp-Editoren zu Recht: ,Die historisch-kritische Gesamtausgabe wird aller Voraussicht nach in diesem Jahrhundert nicht abgeschlossen werden‘.“15 Es ist bekannt, daß sie mit ihrer Prognose hinsichtlich des Abschlusses der Ausgabe Recht hatten. Daß wir es bei der historisch-kritischen Edition mit einem Textfetischismus zu haben, ist allerdings vehement abzulehnen. Die Unzulänglichkeiten der Suhrkamp-Ausgabe sowie die Unverzichtbarkeit einer historisch-kritischen Hegelausgabe – besonders im Hinblick auf die Erschließung des Hegelschen Systems – sind dem Hegelforscher und der Hegelforscherin bekannt. Sicherlich hat die Suhrkamp-Ausgabe, die als Vorlage die Freundesvereinsausgabe hat und sich nicht nur als photomechanischer Abdruck der Jubiläumsausgabe von Hermann Glockner versteht, ihre Meriten und vor allem ihre weitreichende Wirkungsgeschichte. Doch ein solider Überblick über das Hegelsche Denken läßt sich mit dieser Ausgabe nicht gewinnen. Die oben genannte Forschung zur Jenaer Zeit hätte sich mit dieser Ausgabe genauso wenig 13

Repräsentativ für diesen deutschen auch internationalen Forschungsdiskurs seien hier folgende Arbeiten genannt. Rolf-Peter Horstmann: Hegels vorphänomenologische Entwürfe zu einer Philosophie der Subjektivität in Beziehung auf die Kritik an den Prinzipien der Reflexionsphilosophie, Diss. Heidelberg 1968. Heinz Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels ,System der Philosophie‘ in den Jahren 1800 bis 1804, 2. Auflage, Bonn 1970, 1982. Wolfgang Bonsiepen: Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, Hegel-Studien Beiheft 16, Bonn 1977. Dieter Henrich und Klaus Düsing (Hrsg.): Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling, Hegel-Studien Beiheft 20, Bonn 1980. 14 Der Spiegel, Heft 44, Jahrgang 1968, 174 u. 177. 15 Der Spiegel, Heft 29, Jahrgang 1971, 116 f, hier: 116. Daß die Hegel-Edition und vor allem auch die Vorlesungsnachschriften (vornehmlich zur Rechtsphilosophie) ein in im Spiegel häufig dargestelltes Thema sind, bezeugen fünf weitere Artikel: Der Spiegel, Heft 13, Jahrgang 1973, 142 u. 145; Heft 33, Jahrgang 1979, 148; Heft 49, Jahrgang 1979, 229 – 231; Heft 52, Jahrgang 1983, 130 – 132; Heft 6, Jahrgang 1984, 167.

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entwickeln können wie eine Beurteilung des enzyklopädischen Systems. Die „Zusätze“, die den Paragraphen der Enzyklopädie von den jeweiligen Herausgebern der Freundesvereinsausgabe nachgestellt sind, werden editorisch nicht bearbeitet und führen und führten immer wieder zu Mißverständnissen und Fehlinterpretationen. Mit dieser Bestandsaufnahme soll ein weiteres großes Kapitel der bewegten Geschichte der Hegel-Edition aufgeschlagen werden, das mit der Suhrkamp-Ausgabe eben nicht geschrieben werden kann. IV. Dieses Kapitel beginnt mit der Arbeit an der (sogenannten) zweiten Abteilung der historisch-kritischen Hegel-Edition und das heißt personell mit Walter Jaeschke, der 1998 die Leitung der Ausgabe und die Direktion des Hegel-Archivs übernahm. So brach eine neue Ära in der Geschichte der Hegel-Edition an.16 Bis heute ist der Name Walter Jaeschke mit der Ausgabe verknüpft und seine Leistung für die Gesammelten Werke Hegels kann gar nicht hoch genug gepriesen werden. Neben der Vervollständigung der noch fehlenden Bände der ersten Abteilung rückte nun die Edition der Nachschriften zu Hegels Vorlesungen in den Fokus der Arbeit.17 Hiermit sind die Bände 23 bis 30 gemeint, wobei diese jeweils mehrere Teilbände haben. Doch es handelt sich bei der zweiten Abteilung nicht nur um neue Textbände, die editorisch und philologisch zu bearbeiten sind, sondern mit ihnen einhergehend läßt sich eine ganz neue Sicht auf Hegels Wirken und Werk erschließen. Das Programm einer philosophischen Enzyklopädie ist ohne diese Edition der Vorlesungsnachschriften gar nicht zu denken und zu erstellen. Die gedruckte Enzyklopädie in ihren drei Auflagen ist ein „Leitfaden“, der Hegel als Grundlage für seine Vorlesungen in Heidelberg und Berlin diente. In der Vorrede zur dritten Ausgabe der Enzyklopädie von 1830 heißt es: „Doch für den compendiarischen Zweck des Lehrbuchs mußte der Styl gedrängt, formell und abstract gehalten bleiben; es behält seine Bestimmung, erst durch den mündlichen Vortrag die nöthigen Erläuterungen zu erhalten.“18 Durch die Vorlesungen wird ein Verständnis der Enzyklopädie überhaupt erst möglich. Der mündliche Vortrag ist also ein wesentlicher Bestandteil des enzyklopädischen Programms. Hegel hat in den Vorlesungen den Drucktext der Enzyklopädie nicht schlicht paraphrasiert, sondern jede Vorlesung und somit jede Nachschrift hat jeweilige Schwerpunkte und eine eigene Charakte16 Walter Jaeschke: „Eine neue Phase der Hegel-Edition“, in: Hegel-Studien 26, Hamburg 2003, 15 – 33. 17 Zu dem Aufbau und den Prinzipien der Bände 23 bis 30 siehe das Vorwort von Walter Jaeschke im ersten Band der zweiten Abteilung. Walter Jaeschke: Vorwort, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik, Gesammelte Werke Band 23,1, hg. v. Annette Sell, Hamburg 2013, V-VIII. 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Gesammelte Werke, Band 20, unter Mitarbeit von Udo Rameil hg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992, 27.

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ristik. Da es nahezu keine Vorlesungsmanuskripte von Hegel selbst zu diesen Vorlesungen gibt, spielen die Nachschriften der Schüler eine entscheidende Rolle. Die zweite Abteilung der Hegel-Edition enthält die Vorlesungen Hegels in Form von Vorlesungsnachschriften der Studenten. Vor allem die Disziplinen, die nicht in einem systematischen Werk ausgearbeitet sind, fußen auf diesen Vorlesungsnachschriften. Zu nennen sind hier die Ästhetik, die Naturphilosophie, die Philosophie der Weltgeschichte, die Religionsphilosophie und die Geschichte der Philosophie. Die weitreichende Wirkung Hegels ist also besonders seinen Vorlesungen zu verdanken, die er von 1816 bis 1818 in Heidelberg und von 1818 bis zu seinem Tode 1831 in Berlin gehalten hat. Hegels enzyklopädisches System entwickelte sich demnach in Vorlesungen. Diese Tatsache ist bislang in der Hegel-Forschung noch nicht gebührend beachtet worden. Die häufig schematische und starre Darstellung des Hegelschen Systems basiert in erster Linie auf der Lesart der gedruckten Enzyklopädie. In sauber voneinander getrennten Paragraphen stellt Hegel die einzelnen Teile seines Systems dar. Angefangen bei der Logik bis zu den verschiedenen Gestalten des Geistes. Gerade bei der Wissenschaft der Logik ist eine ausschließliche Lektüre der Paragraphen der Enzyklopädie, häufig auch „kleine Logik“ genannt, nicht ausreichend und führt nicht zu einem tieferen Verständnis des Werkes. Erst in den logisch-dialektischen Übergängen, die in Paragraphenform nicht vollständig wiedergeben werden kann, erschließt sich die logische Notwendigkeit des Fortgangs. Da nun alle drei Bände der Nachschriften zu Hegels Logik vorliegen, ist ein weiteres Medium gegeben, um die Hegelsche Logik zu durchdringen. Gerade in den Vorlesungsnachschriften zur Logik zeigt sich Hegels Bemühen um Verständlichkeit. Anschauliche Beispiele und Bilder erläutern häufig das logische Argument. Der Didaktiker Hegel war sehr um das Verständnis der Studenten bemüht. Das gilt nicht nur für seine Logikvorlesungen, sondern für alle anderen Disziplinen auch. Beim Lesen dieser Vorlesungsnachschriften erscheint ein „anderer“ Hegel, der lebendig und anschaulich den jeweiligen Systemteil seinen Studenten vermittelt. In der Edition der Gesammelten Werke sind die Werke, in denen die Vorlesungsnachschriften enthalten sind, in der Reihenfolge des Systems angeordnet. Gesammelte Werke Band 23 Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik Gesammelte Werke Band 24 Vorlesungen über die Philosophie der Natur Gesammelte Werke Band 25 Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes Gesammelte Werke Band 26 Vorlesungen über die Philosophie des Rechts Gesammelte Werke Band 27 Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte Gesammelte Werke Band 28 Vorlesungen über die Philosophie der Kunst Gesammelte Werke Band 29 Vorlesungen über die Philosophie der Religion (und über die Beweise vom Dasein Gottes) Gesammelte Werke Band 30 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie19 19 Außerdem wurde innerhalb der Gesammelten Werke Hegels nun der Katalog von Hegels Bibliothek von Manuela Köppe herausgegeben. Dieser Katalog basiert auf dem 1832 in Berlin

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Die einzelnen Disziplinen bestehen aus jeweils mehreren Teilbänden, je nachdem, was das Textmaterial verlangt. So sind zu der einen Disziplin zahlreiche Nachschriften erhalten, zu der anderen nicht. Daß sich Hegels System in den Vorlesungen entwickelt und diese zum Teil die einzige Quelle für eine Disziplin sind, haben auch bereits die Schüler Hegels erkannt. Doch entspricht deren Edition der Vorlesungsnachschriften nicht den heutigen editorischen Standards und gibt somit zum Teil verfälscht, aber auf jeden Fall unzureichend die jeweilige Disziplin wieder. Als prominentes Beispiel ist hier sicherlich die Edition der Ästhetik zu nennen, die lange Zeit vornehmlich durch die Nachschrift Heinrich Gustav Hothos rezipiert wurde und so wesentliche Aspekte dieser Disziplin unbekannt waren. Die neue Edition der Vorlesungsnachschriften in der zweiten Abteilung verhilft dazu, ein Hegel-Bild, das viele Jahre durch die Freundesvereinsausgabe entstanden ist, zurechtzurücken.20 Dadurch, daß die sprachliche Gestalt der Nachschriften erhalten bleibt und Eingriffe jeweils im textkritischen Apparat vermerkt werden, ist ein hohes Maß an Authentizität gegeben. Grundlage für die Edition der Vorlesungsnachschriften ist jeweils das Kolleg eines Jahrgangs. Sofern zu einem Kolleg mehrere Parallelnachschriften vorliegen, wird die qualitativ beste Nachschrift vom Editor oder von der Editorin ausgewählt und als sogenannter Leittext vollständig abgedruckt. Die Parallelnachschriften desselben Jahrgangs werden dann in einem Variantenapparat verarbeitet. Abweichungen können also nachvollzogen und erkannt werden. Dieses aufwendige Verfahren ermöglicht ein hohes Maß an Authentizität der Vorlesungen, und zugleich ist die Lesbarkeit des Textes gewahrt, die etwa bei einer synoptischen Darstellung erschwert werden würde. Die „Zusätze“ der Edition des „Vereins von Freunden des Verewigten“ werden quellenkritisch behandelt. Wo der jeweilige Herausgeber der Freundesvereinsausgabe ohne direkte Angabe seiner Quelle die „Zusätze“ aus seinem Material zusammenstückelt (Es werden lediglich im Vorwort einige Nachschriften, die für die Erstellung der Zusätze verwendet wurden, genannt.), muß der Editor der Gesammelten Werke versuchen, die Quelle ausfindig zu machen. Im Fall der Vorlesungen über die Logik ist es zum Beispiel gelungen, die Nachschrift von Heinrich Gustav Hotho aus dem Jahre 1823 in den Nachschriften nachzuweisen.21 In der Hegelforschung erfreuen sich die „Zusätze“ einer großen herausgegebenen Versteigerungskatalog. Die zwei Teilbände sind ein wichtiger Baustein für die Hegelforschung und ein Zeichen der umfassenden Lektüre Hegels, die in allen seinen Werken ihren Ausdruck findet. Manuela Köppe (Hg.): Die Bibliothek Georg Wilhelm Friedrich Hegels I, Abteilungen I-III, Gesammelte Werke 31,1, Hamburg 2017; Manuela Köppe (Hg.): Die Bibliothek Georg Wilhelm Friedrich Hegels II, Abteilungen IV-IX, Anhang, Gesammelte Werke 31,2, Hamburg 2017. 20 Siehe hierzu vor allem die Studie von Niklas Hebing: „Textrevisionen in den Nachschriften zu Hegels Ästhetik-Vorlesungen. Ein Forschungsbericht zwischen Werkstattreferat und Editionstheorie“, in: Beihefte zu editio 41, hg. v. Wernfried Hofmeister, Andrea Hofmeister-Winter, Astrid Böhm, Berlin/Boston 2017, 337 – 349. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik, Gesammelte Werke Band 23,3, hg. v. Annette Sell, Hamburg 2017, 812 – 841 (Apparatnotizen).

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Beliebtheit. Das zeigt die Zahl der Zitate, die in Abhandlungen den „Zusätzen“ aus der Suhrkamp-Edition entnommen sind. In der universitären Lehre werden die „Zusätze“ ebenfalls gerne zur Veranschaulichung des Paragraphen hinzugezogen. Nun kann durch die Edition der Vorlesungsnachschriften die Textquelle der „Zusätze“ angegeben werden, sofern die vom Herausgeber verwendeten Nachschriften noch erhalten sind. In den Bänden der zweiten Abteilung der Gesammelten Werke Hegels wird in einem Editorischen Bericht die Entwicklung von Hegels Vorlesungstätigkeit zu der jeweiligen Disziplin rekonstruiert, außerdem wird eine Manuskriptbeschreibung vorgenommen. Der Leser bzw. die Leserin erhält also eine genaue Beschreibung der Vorlesungen und eine akribische Beschreibung des jeweiligen Dokumentes. In einem Anmerkungsteil werden schließlich Hegels Zitate und Anspielungen dokumentiert. So wird vor allem deutlich, aus welchem großen Fundus der Philosophieund Wissenschaftsgeschichte Hegel geschöpft hat, um seine Gedanken zu entwickeln. Durch die philologisch präzise Arbeit entsteht so ein umfassendes Panorama von Hegels Berliner Vorlesungstätigkeit, die ihn berühmt gemacht hat und die einen Großteil seines philosophischen Denkens ausmacht. Daß hinter Hegels enzyklopädischem System viele Jahre Vorlesungstätigkeit stehen, ist also mehr als nur eine historische oder philologische Bemerkung.22 Auch die Beurteilung Hegels als abstrakten, nur schwer zugänglichen Denker kann durch die Vorlesungen revidiert werden. Es zeigt sich, daß sich Hegel eben nicht in ein starres Korsett eines dialektischen Dreischritts zwingen läßt. Die Vorlesung in der schriftlichen Form einer Vorlesungsnachschrift ist als wesentlicher Teil der Hegelschen Philosophie zu verstehen. Diese Textgattung muß in der Hegelforschung Eingang finden, um ein vollständiges Bild des Hegelschen Denkens zu erhalten. Neu gesehen werden muß vor diesem Hintergrund auch Hegels didaktische Bemühung um eine lebendige Veranschaulichung seiner Philosophie. Das zeigt sich auch in den Logikvorlesungen, wo die Didaktik sogar so weit geht, daß Hegel den wesentlichen Fokus auf den „Vorbegriff“ und somit auf die didaktische Hinführung zur eigentlichen Logik legt.23 Der quantitative Umfang der Vorlesungsstunden, die Hegel dem „Vorbegriff“ gewidmet hat, ist beträchtlich. Was ebenfalls in die Hegelrezeption durch die Vorlesungstätigkeit stärker eingehen kann und muß, ist das immense empirische Material, das Hegel gelesen und in seinem Denken und seinen Vorlesungen verarbeitet hat. Das schmale Gerippe der enzyklopädischen Paragraphen gibt nur einen Bruchteil dieser Fülle von wissenschaftsgeschichtlichen, historischen und politischen Fakten wieder. Besonders ist dieser materielle Reichtum bei den Vorlesungen 22 Ein Plädoyer für die Bedeutsamkeit der Vorlesungsnachschriften ist auch in dem Text von Walter Jaeschke und Christoph Bauer zu finden. Siehe: Jaeschke / Bauer: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Editionsprojekt der Gesammelten Werke“, 48 – 50. 23 Vgl. hierzu den Aufsatz von Annette Sell: „Der Vorbegriff der Hegelschen Enzyklopädie in den Vorlesungsnachschriften zur Logik“, in: G.W.F. Hegel: Der „Vorbegriff“ zur Wissenschaft der Logik in der Enzyklopädie von 1830, Bd. 2 der Interpretationen und Quellen, hg. v. Alfred Denker, Annette Sell und Holger Zaborowski, Freiburg/München 2010, 65 – 83.

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über den subjektiven Geist zu sehen, die nun vollständig ediert in drei Bänden vorliegen und ein buntes Panoptikum der psychologischen und anthropologischen Wissenschaften darbieten.24 Die Geschichte der Hegel-Edition wird durch die Vorlesungsnachschriften auf lebendige und innovative Weise bereichert und gilt als unverzichtbar für eine umfassende und solide Hegelrezeption. V. Daß die bewegte, lebendige Geschichte der Hegel-Edition auch einmal an ihr Ende gelangt und der Editionsprozeß in gewisser Weise zu Ende geht oder – um wieder im Bild zu bleiben – stirbt, liegt in der Natur der Sache, daß ein solches Projekt ja auch einmal fertig sein muß. Mit dem 31. 12. 2016 ist die finanzielle Förderung der Hegel-Edition durch die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste beendet worden. Da aber noch einige Bände erarbeitet werden müssen, ist mit einem schnellen Tod der Editionsarbeiten nicht zu rechnen. Erfreulicherweise wird die finanzielle Förderung der Ausgabe durch die „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ fortgeführt. Zu einer lebendigen Geschichte einer Edition im 21. Jahrhundert gehört sicherlich auch, daß neue mediale Konzepte erstellt werden müssen. Diese werden auch bereits entwickelt, und so läßt sich die Geschichte der Hegel-Edition in Zukunft wohl auch weiter fortschreiben. Pirmin Stekeler-Weithofer, dessen beeindruckendes und eindringliches Plädoyer unter dem Titel „Hegel wieder heimisch machen“ sowohl in der Philosophischen Rundschau25 als auch in einem vom Felix-Meiner-Verlag herausgegebenen Katalog anläßlich des 31. Internationalen Hegel-Kongresses in Bochum im Jahre 2016 veröffentlich ist, zeigt die Dringlichkeit der Bewahrung und auch der Fortführung dieses Projektes. Dabei geht es vor allem auch darum anzuerkennen, daß die Edition nicht nur ein Unternehmen für wenige Spezialisten ist, sondern daß das Hegelsche Œuvre als Kulturerbe anerkannt werden muß. „Denn es ist an der Zeit, daß sich Wissenschaft, Philosophie und durchaus die intellektuelle Öffentlichkeit dieses Landes an ihr eigentliches, nachhaltig nicht bloß zu bewahrendes, sondern allererst voll heimisch zu machendes Erbe erinnern und wir am Ende alle lernen, was in unserer Kultur World Heritage ist.“26 Für dieses Ziel sollten auch die vorliegenden Überlegungen werben und die Dringlichkeit einer vollständigen Edition der Vorle24

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, Gesammelte Werke Band 25,1 bis 25,3, hg. v. Christoph Bauer, Hamburg 2008 ff. Siehe auch den von Christoph Bauer verfaßten Teil des Aufsatzes von Jaeschke / Bauer: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Editionsprojekt der Gesammelten Werke“, 53 – 62. 25 Pirmin Stekeler-Weithofer: „Hegel wieder heimisch machen“, in: Philosophische Rundschau 63 (2016) 1, 1 – 14. 26 Pirmin Stekeler-Weithofer: „Hegel wieder heimisch machen. Zur Beendigung des Vorhabens der Düsseldorfer Akademie, Hegels „Gesammelte Werke“ herauszugeben“, in: Hegels Gesammelte Werke. Katalog anläßlich des 31. Internationalen Hegel Kongresses 17. Mai – 20. Mai 2016 in Bochum, Hamburg 2016, 13 – 26, hier: 26.

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sungsnachschriften sowie die wissenschaftliche Notwendigkeit ihrer Rezeption aufzeigen. In Bezug auf Hegels Berliner Vorlesungen über die Weltgeschichte argumentiert der eingangs bereits genannte Jacques D’Hondt ähnlich wie StekelerWeithofer, wobei D’Hondt aber nicht die wirtschaftliche Situation der Hegel-Edition anspricht. Wenn er von dieser gewußt hätte, hätten seine Argumente sicherlich auch auf die Bereitstellung von Ressourcen für die Fertigstellung der Ausgabe gedrängt. „Il s’agira de mettre en valeur une pensée qui intéresse notre époque et nous touche intimement, de défendre un patrimoine et de montrer qu’un héritage culturel n’est pas un ossuaire, mais une source intarissalbe.“27 In diesem Sinne ist Hegels kulturelles Erbe für uns lebendig, wofür es aber des aktuellen Einsatzes bedarf, damit es, um mit Steleker-Weithofers Worten zu reden, auch wieder heimisch wird. Auch aus diesem Grund wurde hier die bewegte Geschichte der Hegel-Edition erzählt. Welche herausragende Rolle für Hegels Programm einer Enzyklopädie die Vorlesungsnachschriften spielen, sollte durch diesen Gang durch die lebendige Geschichte der Hegel-Edition besonders deutlich geworden sein.

Literatur Bonsiepen, Wolfgang: Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, HegelStudien Beiheft 16, Bonn 1977. Der Spiegel, Nachrichtenmagazin, Hamburg, Heft 44, Jahrgang 1968, 174 u. 177; Heft 29, Jahrgang 1971, 116 f; Heft 13, Jahrgang 1973, 142 u. 145; Heft 33, Jahrgang 1979, 148; Heft 49, Jahrgang 1979, 229 – 231; Heft 52, Jahrgang 1983, 130 – 132; Heft 6, Jahrgang 1984, 167. Hebing, Niklas: Textrevisionen in den Nachschriften zu Hegels Ästhetik-Vorlesungen. Ein Forschungsbericht zwischen Werkstattreferat und Editionstheorie, in: Beihefte zu editio 41, hg. v. Wernfried Hofmeister, Andrea Hofmeister-Winter, Astrid Böhm, Berlin/Boston 2017, 337 – 349. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Berlin 1832 – 1845. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Kritische Schriften, Gesammelte Werke Band 4, hg. v. Hartmut Buchner und Otto Pöggeler, Hamburg 1968. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Frühe Schriften I, Gesammelte Werke Band 1, hg. v. Friedhelm Nicolin und Gisela Schüler, Düsseldorf 1989. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Gesammelte Werke Band 20, unter Mitarbeit von Udo Rameil hg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, Gesammelte Werke Band 25,1 bis 25,3, hg. v. Christoph Bauer, Hamburg 2008 ff. 27

Jacques D’Hondt: Hegel, philosophe de l’histoire vivante, 2.

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik, Gesammelte Werke Band 23,1, hg. v. Annette Sell, Hamburg 2013. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik, Gesammelte Werke Band 23,3, hg. v. Annette Sell, Hamburg 2017. Heimsoeth, Heinz: Vorwort, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Frühe Schriften I, Gesammelte Werke, Band 1, V-XI. Henrich, Dieter / Düsing, Klaus (Hg.): Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling, Hegel-Studien Beiheft 20, Bonn 1980. Hoffmeister, Johannes (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bde. I–III, Hamburg 31969. D’Hondt, Jacques: Hegel, philosophe de l’histoire vivante, Paris 1966. Horstmann, Rolf-Peter: Hegels vorphänomenologische Entwürfe zu einer Philosophie der Subjektivität in Beziehung auf die Kritik an den Prinzipien der Reflexionsphilosophie, Diss. Heidelberg 1968. Jaeschke, Walter: „Eine neue Phase der Hegel-Edition“, in: Hegel-Studien 26, Hamburg 2003, 15 – 33. Jaeschke, Walter: Vorwort, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik, Gesammelte Werke Band 23,1, hg. v. Annette Sell, Hamburg 2013, V–VIII. Jaeschke, Walter / Bauer, Christoph: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Editionsprojekt der Gesammelten Werke“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62 Heft 1 (2014) 41 – 63. Kimmerle, Heinz: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels ,System der Philosophie‘ in den Jahren 1800 bis 1804, Bonn 1970, 2. Auflage 1982. Köppe, Manuela (Hg.): Die Bibliothek Georg Wilhelm Friedrich Hegels I, Abteilungen I–III, Gesammelte Werke 31,1, Hamburg 2017. Köppe, Manuela (Hg.): Die Bibliothek Georg Wilhelm Friedrich Hegels II, Abteilungen IV–IX, Anhang, Gesammelte Werke 31,2, Hamburg 2017. Nicolin, Friedhelm (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bde. IV/1 und IV/2, Hamburg 1977 bzw. 1981. Nicolin, Friedhelm: „Hegels Korrespondenz und amtlicher Schriftwechsel. Vorüberlegungen zur historisch kritischen Edition“, in: Hegel-Studien 28, Bonn 1993, 41 – 55. Pöggeler, Otto: „Zwischen Philosophie und Philologie. Das Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum“, in: Jahrbuch der Ruhr-Universität Bochum 1970, 137 – 160. Pöggeler, Otto: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg/München 2., durchgesehene und überarbeitete Auflage 1993. Pöggeler, Otto: Hegels Kritik der Romantik, München 1999. Pöggeler, Otto: Wege in schwieriger Zeit. Ein Lebensbericht, München 2011. Sell, Annette: „Der Vorbegriff der Hegelschen Enzyklopädie in den Vorlesungsnachschriften zur Logik“, in: G.W.F. Hegel: Der „Vorbegriff“ zur Wissenschaft der Logik in der Enzyklopädie von 1830, Bd. 2 der Interpretationen und Quellen, hg. v. Alfred Denker, Annette Sell und Holger Zaborowski, Freiburg/München 2010, 65 – 83.

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Annette Sell

Stekeler-Weithofer, Primin: „Hegel wieder heimisch machen“, in: Philosophische Rundschau 63 (2016) 1, 1 – 14. Stekeler-Weithofer, Pirmin: „Hegel wieder heimisch machen. Zur Beendigung des Vorhabens der Düsseldorfer Akademie, Hegels Gesammelte Werke herauszugeben“, in: Hegels Gesammelte Werke. Katalog anlässlich des 31. Internationalen Hegel Kongresses 17. Mai – 20. Mai 2016 in Bochum, Hamburg 2016, 13 – 26.

Verzeichnis der Autoren Ettore Barbagallo ist Postdoc am Lehrstuhl für Philosophie an der Technischen Universität Kaiserslautern. Er wurde über Hegels Phänomenologie des Geistes und Naturphilosophie promoviert (Leiblichkeit und Andersheit in Hegels Philosophie des Organischen). Aktueller Schwerpunkt seiner Forschung ist eine Philosophie des Leibes und des Bewußtseins im Rahmen eines phänomenologisch-genealogischen Ansatzes und einer narrativen Ethik. Friedemann Barniske studierte Ev. Theologie in Halle a. d. Saale, Jerusalem, Göttingen und Neuendettelsau. 2018 erfolgte die Promotion zum Dr. theol. mit der Arbeit Hegels Theorie des Erhabenen. Seit 2014 ist er wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Religionsphilosophie des Deutschen Idealismus, liberales Luthertum, Grundlegungsfragen der protestantischen Ethik, Rechtsethik. Agemir Bavaresco ist Professor und Koordinator des Postgraduierten-Programms für Philosophie an der Päpstlichen Katholischen Universität von Rio Grande do Sul (PUCRS). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Felder Philosophie der Moderne, Sozialphilosophie sowie die politische Philosophie Brasiliens unter besonderer Berücksichtigung einer Aktualisierung der thematischen Widersprüche von Demokratie und öffentlicher Meinung. Héctor Ferreiro wurde 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert und absolvierte Studien als Postdoc an der Technischen Universität Berlin (2009), der University of Chicago (2010) sowie der Universität Heidelberg (2011). Aktuell ist er Senior Researcher des Nationalen Rats für wissenschaftliche und technologische Forschung (CONICET) in Argentinien und Direktor des Forschungsprogramms für klassische deutsche Philosophie an der Päpstlichen Katholischen Universität von Argentinien (UCA). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Deutschen Idealismus (insbesondere Kant und Hegel), mittelalterlicher und moderner Metaphysik sowie Fragen der modernen und zeitgenössischen Epistemologie. Luis Eduardo Gama Barbosa absolvierte ein Studium der Philosophie an der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá. Seine Promotion in Philosophie erfolgte 2004 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Derzeit ist er Professor am Departamento de Filosofía de la Universidad Nacional de Colombia. Forschungsinteressen: Deutscher Idealismus (Schwerpunkt Hegel), Nietzsche, Heidegger und zeitgenössische hermeneutische Philosophie; Ästhetik, soziale Ontologie, Philosophie der Geisteswissenschaften. Von ihm liegen folgende Bücher vor: Erfahrung, Erinnerung und Text. Über das Gespräch zwischen Gadamer und Hegel und den Grenzen zwischen Dialektik und Hermeneutik (2006); Nietzsche y la hermenéutica contemporánea (2012); La experiencia por venir. Hegel y el saber absoluto (2019). Miguel Giusti ist ordentlicher Professor für Philosophie an der Pontificia Universidad Católica del Perú in Lima und leitet dort eine Forschungsgruppe zur Aktualität von Hegels Denken. Sein Studium der Philosophie absolvierte er an der Universität Tübingen, wo er bei Rüdiger Bubner mit einer Dissertation über Hegels Rechtsphilosophie promoviert wurde. Im Rahmen eines Stipendiums der Alexander-von-Humboldt-Stiftung verbrachte er einen Postdoc-For-

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schungsaufenthalt bei Jürgen Habermas an der Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind Hegels praktische Philosophie und die gegenwärtige Ethik. Thomas Sören Hoffmann studierte Philosophie, Ev. Theologie und Italianistik in Tübingen, Wien und Bonn, wo er 1990 promoviert wurde und sich nach einer Tätigkeit als Assistent bei Josef Simon und Mitarbeiter des Philosophischen Seminars 1999 habilitierte. Nach mehreren Lehrstuhlvertretungen arbeitete er von 2003 bis 2005 in der DFG-Forschergruppe „Kulturübergreifende Bioethik“ an der Ruhr-Universität in Bochum mit. 2005 ernannte ihn die Universität Bonn zum apl. Professor für Philosophie, 2007 verlieh ihm die Universität Oldenburg den Karl Jaspers-Förderpreis. Gastprofessuren führten ihn nach Linz (Österreich) und Mendoza (Argentinien). Seit 2009 leitet Hoffmann das Lehrgebiet Praktische Philosophie (Ethik, Recht, Ökonomie) am Institut für Philosophie der Fernuniversität Hagen, wo er auch als Koordinator des Deutsch-lateinamerikanischen Forschungsnetzwerks FILORED tätig ist. Christian Hofmann studierte Philosophie, Soziologie und Neuere deutsche Literatur an der Universität Bonn und arbeitet seit 2011 für die FernUniversität in Hagen, zunächst als Lehrbeauftragter und seit 2012 in der Online-Betreuung im Bereich der Praktischen Philosophie. 2014 erfolgte seine Promotion in Bonn mit einer Arbeit zu Hegels Theorie der Moderne. 2017/18 arbeitete er zudem als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Seine Forschungsschwerpunkte liegen insbesondere bei der Klassischen deutschen Philosophie (v. a. Hegel) sowie in den Bereichen Ethik und Politische Philosophie. Jakub Kloc-Konkołowicz studierte Philosophie und polnische Philologie im Rahmen des Interdisziplinären Humanistischen Studiums an der Universität Warschau. Er war seit 1999 Mitarbeiter des Lehrstuhls für Sozialphilosophie am Institut für Philosophie dieser Universität. Seine (mit dem Preis des polnischen Premierministers ausgezeichnete) Dissertation hat er zum Thema „Primat der praktischen Vernunft in der klassischen deutschen Philosophie – Kant und Fichte“ geschrieben. 2016 hat er sich mit einem deutschsprachigen Buch „Anerkennung als Verpflichtung“ (Würzburg 2015) an der Fakultät für Philosophie und Soziologie der Universität Warschau habilitiert. Seit 2016 ist er Direktor des Instituts für Philosophie der Universität Warschau. Esteban Mizrahi studierte Philosophie an der Universidad de Buenos Aires (UBA). Im Anschluß absolvierte er als Forschungsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung ein Vertiefungsstudium der Politikwissenschaft und Praktischen Philosophie bei Ludwig Siep in Münster. Aktuell ist er Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie an der Universidad Nacional de La Matanza (UNLaM). Seine Forschungsbereiche umfassen die politische Philosophie, Rechtsphilosophie (insbesondere Straftheorien) sowie die Philosophie des Deutschen Idealismus (Kant und Hegel). Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Problematik von Gerechtigkeit, Recht und Staat. Hardy Neumann lehrt und forscht als Ordinarius für Philosophie an der Pontificia Universidad Católica de Valparaíso (Chile). Er wurde bei Friedrich-Wilhelm von Herrmann an der Universität Freiburg i.Br. promoviert, hat mit Unterstützung der Humboldt-Stiftung wie auch der chilenischen Forschungsförderung (FONDECYT) mehrere Forschungsprojekte – u. a. an der TU Dresden – realisiert und zählt zu den Mitbegründern des deutsch-lateinamerikanischen Forschungsnetzwerks FILORED. Publikationen: Die neue Seinsbestimmung in der reinen theoretischen Philosophie Kants: Das Sein als Position. Duncker & Humblot, Berlin

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2006; zahlreiche Aufsätze zum Gesamtgebiet der Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Hernán Pringe studierte Physik und Philosophie an der Universidad de Buenos Aires (UBA) und wurde an der Universität Dortmund promoviert. Im Anschluß war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Philosophy of Science der University of Pittsburgh tätig sowie an den Universitäten Dortmund und Barcelona. Aktuell arbeitet er als Forscher für den Nationalen Rat für wissenschaftliche und technologische Forschung (CONICET) in Argentinien. Er ist ordentlicher Professor am Institut für Philosophie der Diego Portales-Universität in Santiago de Chile und Koordinator des gemeinsamen Promotionsprogramms für Philosophie zwischen der Universidad Diego Portales und der Universiteit Leiden. Weiterhin ist er Koordinator der Grupo de Estudios Kantianos (FFyL, UBA) und Direktor der Revista de Estudios Kantianos. Joachim Ringleben absolvierte eine Promotion über Hegel und habilitierte sich mit einer Arbeit über Kierkegaard. Er war von 1984 bis 2010 Professor für Systematische Theologie an der Universität Göttingen. Von 2000 bis 2015 war er Abt von Bursfelde und ist seit 1997 o. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Bereiche Gotteslehre, Sprachtheologie (Hamann, Humboldt), Eschatologie, Religionsphilosophie sowie theologische Ästhetik. Markus Rothhaar studierte Philosophie, Geschichte und Biologie an den Universitäten Saarbrücken, Heidelberg und Tübingen. Bis 2019 war er Inhaber der Stiftungsprofessur für Angewandte Ethik mit Schwerpunkt Bioethik an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen systematisch bei den Bereichen Theoretische Ethik, Angewandte Ethik (insbesondere Bioethik) und Rechtsphilosophie und historisch auf dem Gebiet der praktischen Philosophie des Deutschen Idealismus. Gregor Schäfer stellt derzeit an der Universität Basel seine Dissertation zu Hegels Konzept der absoluten Idee in ihrem Verhältnis zu objektivem und absolutem Geist fertig. 2018/19 ist er Gastforscher an der University of Notre Dame. Zu seinen Forschungsinteressen zählen insbesondere der Deutsche Idealismus (Fichte, Hegel, Schelling), Fragestellungen im Bereich spekulativer Metaphysik und des objektiven Idealismus, politische Philosophie, Religionsphilosophie und Ästhetik. Philipp Schaller studierte Philosophie an der Universität Wien, wo er von 2013 – 2017 eine Stelle als Universitätsassistent am Fachbereich für Europäische Philosophie / Continental Philosophy innehatte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Schnittstelle von Ethik und Ästhetik und in der Beschäftigung mit klassischen Begriffen der neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis Hegel, insbesondere jenen des Geistes und der Willensfreiheit. Michael Schulz schloß 1997 eine Dissertation zu Hegels Trinitätsphilosophie ab. 2003 habilitierte er sich und war von 2004 – 2009 Professor für Systematische Theologie in Bonn. Seit 2009 ist er Professor für Religionsphilosophie im Arbeitsbereich „Philosophie und Theologie der Religionen“. Seit 2010 ist er Direktor des Interdisziplinären Lateinamerika-Zentrums. Veröffentlichungen zu Hegel: „Philosophia crucis bei Kant und Hegel“, in: Metaphysik – Metaphysikkritik – Neubegründung der Erkenntnis, hg. v. H. Ferreiro / Th. S. Hoffmann, Berlin 2017, 266 – 278; „La presencia de G. W. F. Hegel en representantes de la filosofía latinoamericana (L. Zea, A. Roig, E. Dussel, I. Ellacuría)“, in: Contrastes, Suplemento 19 (2014), 285 – 309.

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Annette Sell ist apl. Professorin an der Ruhr-Universität Bochum und seit dem Sommersemester 2019 mit der Vertretung des Lehrstuhls für Ethik und Ästhetik an der RUB betraut. Ihre historischen Forschungsschwerpunkte beinhalten die klassische deutsche Philosophie, philosophische Anthropologie und Sozialphilosophie; systematische Forschungsschwerpunkte: der Lebensbegriff in Natur, Gesellschaft und Logik, der Mensch als leibliches und soziales Wesen. Monographien: Martin Heideggers Gang durch Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (Bonn 1998), Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G. W. F. Hegel (Freiburg/München 2. Auflage 2014); Editionen: G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die „Wissenschaft der Logik (Gesammelte Werke, Bände 23,1 – 3). Konrad Utz ist Professor für Philosophie an der Universidade Federal do Ceará in Fortaleza (UFC), Brasilien. Er studierte Katholische Theologie an der Universität Tübingen und wurde 1997 ebenda promoviert. In seiner Forschung befaßt sich Konrad Utz mit Hegel, Kant und Aristoteles sowie den Themenfeldern Dialektik, Freundschaft und Bewußtsein. Weiterhin beschäftigt er sich mit dem Entwurf eines philosophischen Systems aus dem Grundbegriff des Zufalls. Pedro Sepúlveda Zambrano studierte Psychologie an der Universidad de Valparaíso sowie Philosophie an der Pontificia Universidad Católica de Valparaíso in Chile. Im Rahmen des deutsch-lateinamerikanischen Forschungs- und Promotionsnetzwerkes Philosophie (FILORED) wurde er zu dem Thema La unidad en Hegel. Una fenomenología del concepto (Buenos Aires 2018) promoviert. Derzeit ist er Postdoktorand des chilenischen Fonds für wissenschaftliche und technologische Entwicklung FONDECYT. Forschungsschwerpunkte: Die Tradition der Logik innerhalb der Klassischen Deutschen Philosophie, vor allem bei Kant und Hegel.